Geschichte und Zukunft des Urheberrechts II [1 ed.] 9783737011761, 9783847111764

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Geschichte und Zukunft des Urheberrechts II [1 ed.]
 9783737011761, 9783847111764

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Beiträge zu Grundfragen des Rechts

Band 34

Herausgegeben von Stephan Meder

Stephan Meder (Hg.)

Geschichte und Zukunft des Urheberrechts II

Mit 4 Abbildungen

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-5405 ISBN 978-3-7370-1176-1

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Renate Frohne Aequitas: Das Winkelmaß aus Blei, norma plumbea, bei Budé (1508) und die Messlatte aus Blei, regula plumbea/Lesbia regula, bei Lagus (1543) – als Plagiat? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Julia Dreyer Privilegien gegen den Nachdruck zugunsten von Leonhard Thurneysser .

25

David von Mayenburg Dem Plagiator auf der Spur – ein anonymer Carolina-Kommentar von 1614 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Andreas Deutsch »Der verfluchte diebische Bücher-Nachdrucker« – ein rätselhafter Kupferstich von 1723 und seine Hintergründe . . . . . . . . . . . . . . .

67

Thomas Gergen »Hat das Gesuch nicht statt« – Kaiserliche privilegia impressoria für Kölner Kalender vor dem Reichshofrat (1731–1783) . . . . . . . . . . . .

97

Bernd-Rüdiger Kern Postmortaler Urheberrechtsschutz der Opern Lortzings: Drei Verfahren vor den obersten Gerichten des Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Stephan Meder Richard Strauss versus Luigi Denza: Der Kampf um das Urheberrecht an dem Lied funiculì, funiculà . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123

6

Inhalt

Fedor Seifert Das Recht am eigenen Bild: vom Foto des toten Bismarck zur DS-GVO. Zur Geschichte der §§ 22, 23 KUG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Thomas Rüfner Marillen, Marken und Moneten – Friedrich Torberg als Zeuge im Streit um die »Original-Sachertorte« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Alexander Nebrig Das Übersetzungsrecht als Faktor einer multilateralen Literaturgeschichte 169 Christoph-Eric Mecke Rudolf von Jherings Vorstellungen zum rechtlichen Schutz von immateriellen Gütern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189

Anhang Renate Frohne Stimmen des Entsetzens über das, was in den Arenen Roms vorgeführt wurde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Autorenverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

Vorwort

Vom 5. bis 7. September 2019 fand in Hannover die 18. Tagung des Arbeitskreises »Geschichte und Zukunft des Urheberrechts« statt. Referentinnen und Referenten aus Wissenschaft und Praxis erörterten das breite Spektrum urheberrechtlicher Sachverhalte und Entscheidungen. Der vorliegende Band bringt die Ergebnisse der Tagung. Die Beiträge sind überwiegend chronologisch geordnet und behandeln die Geschichte des Urheberrechts in verschiedensten Werkarten. Dabei werfen sie ein Licht auf folgende Fragen: Hat der Humanist Konrad Lagus die Aequitas-Lehre bei seinem Kollegen Budé einfach abgekupfert? Was unterscheidet die Vergabe von Autoren- und Druckerprivilegien im frühneuzeitlichen Florenz von kaiserlichen privilegia impressoria des 18. Jahrhunderts? Wer plagiiert ausgerechnet einen Strafrechtskommentar im 17. Jahrhundert? Worum ging es in der Auseinandersetzung zwischen Richard Strauss und Luigi Denza? Wie entschieden das Reichsoberhandelsgericht und das Reichsgericht in Sachen ungenehmigter Theateraufführungen von Lortzings Opern? Wer streitet sich um die »Original-Sachertorte«, und was hat das Foto des toten Bismarcks mit der DSGVO zu tun? Welche Wirkungen hatte und hat das Übersetzungsrecht auf die Bedingungen des Schreibens und der interlingualen Kreativität? Welche Umbrüche und Wandlungen herrschten bei Rudolf von Jherings Auffassung vom Urheberrecht? Die Beiträge machen deutlich, dass der zu allen Zeiten bestehende Interessenkonflikt zwischen Werkschöpfer, Verwerter und Nutzer sowie zwischen Exklusivitäts- und Zugangsinteressen mit vorgefertigten Schablonen nicht zu lösen ist. Mit einem Blick »zurück nach vorn« liefern sie Anstöße zum Nachdenken über ein künftiges Urheberrecht. Der im Anhang abgedruckte Beitrag »Stimmen des Entsetzens über das, was in den Arenen Roms vorgeführt wurde« von Renate Frohne bildet eine im Herbst 2019 revidierte und gestraffte Fassung eines Vortrags, der bereits auf der Tagung im September 2017 zu Ehren von Manfred Rehbinder gehalten wurde. Für die Unterstützung bei den Redaktionsarbeiten danke ich Frau Svenja Schierloh und Herrn Christoph Sorge. Hannover, im Juni 2020

Stephan Meder

Renate Frohne

Aequitas: Das Winkelmaß aus Blei, norma plumbea, bei Budé (1508) und die Messlatte aus Blei, regula plumbea/Lesbia regula, bei Lagus (1543) – als Plagiat?

1.

Aequitas: Das Winkelmass aus Blei, norma plumbea, bei Budé (1508) und die Messlatte aus Blei, regula plumbea, bei Lagus (1543) – als Plagiat?

Zu den großen Persönlichkeiten des juristischen Humanismus zählt Guillaume Budé/Budaeus (1468–1540).1 Sein Hauptwerk sind die Annotationes … in Pandectas (1508), kein durchgehender Kommentar, sondern im weitesten Sinn geistes- und sprachgeschichtliche Abhandlungen zu einzelnen Begriffen des Digesten-Textes.2 Die uns heute interessierenden Seiten fol. 1 recto und verso gehen von der Rechtsdefinition des römischen Juristen Celsus aus (2. Jh. n. Chr.) Ius est ars boni et aequi (Digesta Buch 1, Titel 1 De iustitia et iure) und behandeln auch den auf Aristoteles zurückgehenden Vergleich der aequitas, griechisch epiéikeia, mit dem in der Antike auf der Insel Lesbos bei bestimmten Bauarbeiten verwendeten Maß aus Blei. Ich übersetze zunächst, leicht gerafft, fol. 1rv aus Budés Annotationes; dann aus Conrad Lagus’ Iuris utriusque traditio methodica fol. 14v D, wo der Autor die aequitas mit einer Messlatte aus Blei vergleicht. Da der gedruckte Lagus-Text auf Aristoteles, jedoch nicht auf Budé verweist, stellen sich Fragen: Ist der Passus fol. 14v D ein Plagiat? Ist die fehlende Quellenangabe dem unvollendeten Zustand des Werkes zuzuschreiben? Gab es um 1500 eine Theorie, derzufolge man bei Rückgriffen wohl wählerisch war?3 1 J. Deflers, in: DNP Suppl. 9 Renaissance – Humanismus; Sp. 807–815. – H. Kerner: Budé, in: TRE; S. 335–338. 2 Die Editio princeps der Annotationes zu den ersten 24 Büchern der Digesten erschien 1508; Nachträge erschienen 1526; die Ausgabe 1527 enthielt die Annotationes zu den ersten und den späteren Büchern; diese vollständige Ausgabe wurde mehrfach nachgedruckt. – Der verkleinerte Reprint der Ausgabe von 1556 erschien 2017 bei »Forgotten Books« und enthält im Anhang einen umfangreichen Index sowie durchgehend in margine genaue Quellenangaben von Jean Thierry de Beauvais/Bellovacus; die grossen Folio-Seiten sind durch die Buchstaben A bis K übersichtlich gegliedert. 3 Vgl. Abschnitt 11.

10

2.

Renate Frohne

Guillaume Budé: Annotationes … in Pandectas (1508); fol. 1rv : Was ist unter aequitas zu verstehen?

– Ius est ars boni et aequi. (Der Kanonist) Accursius sagt zu dieser Stelle, bonum sei das eine, aequum das andere; das verdeutlicht er aber nicht genug.4 Wir glauben hingegen, dass das Thema Aufmerksamkeit verdient und ausführlich behandelt werden muss. – (Der lateinische Grammatiker Aelius) Donatus (4. Jh.) sagt, Recht sei das, was alles Geradeausgehende, recta, und Ungeschmeidige genau abwägt; aequitas sei hingegen das, was viel vom bestehenden Recht aufgibt oder abmildert, anders gesagt: auf viel Recht verzichtet. – (Der Komödiendichter) Terentius (2. Jh. v. Chr.) lässt in den Adelphoe (Die Brüder 1,1) den Vater sagen: »Ich bemühe mich, dass mein Sohn sich mir gegenüber genauso verhält, (wie ich mich ihm gegenüber verhalte). Ich gebe ihm etwas, ich lasse manches durchgehen; ich habe es ja nicht nötig, in allem mein Recht durchzusetzen.« Donat fügt dann erklärend hinzu: Selbst wenn es gelegentlich mal erlaubt oder angebracht wäre, müsse ein Vater nicht hart sein und immer sein Recht durchsetzen. Auch zeige Terenz ja in wunderbarer Weise, dass das jeweils eigene Recht nur im Rahmen einer wirklichen Unvermeidlichkeit gewahrt werden müsse.5 (Der Vater in der Terenz-Komödie verkörpert also nach Aristoteles NE 1137b init., fin. und 1143a21 den gütigen und nachsichtigen Menschen, der nicht in kleinlicher Pedanterie sein Recht so lange verfolgt, bis es zum Unrecht wird). – (Der römische Jurist Salvius) Iulianus (2. Jh.) betont an der Stelle, wo er über die contractus bonae fidei spricht: »Bei solchen Verträgen ist einer dem anderen zu dem verpflichtet, was der andere für den einen ex bono & aequo erfüllen muss, das heißt: nicht allein zu dem, was verordnet ist.«6

4 fol. 76r ABD und 227v K äußert sich Budé abschätzig über Accursius. 5 Soweit Budé fol. 1r C; fol. 14r A ist der Dichter Terenz wieder gemeint mit der Anspielung auf den sprichwörtlich gewordenen Satz: Würden die Menschen aufgrund ihrer Urteilskraft glauben, nichts Menschliches, wie Terenz sagt, sei ihnen fremd, würden von Allen Recht und Billigkeit gepflegt. Der Satz ›Ich bin ein Mensch und sehe nichts Menschliches als mir fremd an‹, homo sum, humani nil a me alienum puto, steht in der Komödie Heautontimorumenos, d. h. Der sich selbst Strafende, im 1. Akt Vers 77. Zu fol. 1r C vgl. Digesta 48,9,5 letztlich wohl auf Terenz zurückgehend: Die väterliche Gewalt muss in Milde, pietas, nicht in Strenge, atrocitas, bestehen. 6 Digesta 44,7,2,3; Codex Iustinianus 4,10,4. – H.U. Hoche: Regel, goldene, in: HistWbPhilo.

Aequitas: Das Winkelmass aus Blei als Plagiat?

3.

11

fol. 1r E: Aristoteles: Nikomachische Ethik 1137b

Im 5. Buch seiner Ethik spricht Aristoteles gedankenreich über die Gerechtigkeit und das Recht und unterscheidet das Recht und das aequum bonumque; mit seinen Worten: »Letzteres ist ein vortrefflicheres/höher stehendes Recht, allerdings nicht das im Gesetz beschriebene, sondern eine Berichtigung des legitimen Rechts, legitimi iuris emendatio, griechisch epanórthosis, eine Neuaufrichtung.«7

fol. 1v F, Zeile 3. Das Recht betrifft das, was am meisten vorkommt (und ist allgemein gefasst); es ist sich selbst seines möglichen Irrtums bewusst, wobei das nicht ein Versagen des Gesetzes oder Gesetzgebers ist, sondern einfach in der Natur der Sache liegt.8 Von der Natur ist es nämlich so eingerichtet worden, dass gar nicht alles, was überhaupt geschieht, mit Gesetzesvorschriften geregelt werden kann. Und dann sagt Aristoteles noch im 3. Buch der Politiká, die rechtmäßig erlassenen Gesetze müssten die höchste Würde besitzen, die Amtsträger (Digesta 1,21,1) – ob einer oder mehrere – eine Befugnis über das, worüber durch ein bestehendes Gesetz keine ausreichende Gewissheit erreicht werden kann. Somit ist das aequum et bonum, to epieikés bei Aristoteles, wie gesagt, eine emendatio iuris scripti, to dikaion bei Aristoteles, insofern es in manchen Fällen anders entscheidet, zu denen bislang kein allgemeines Gesetz erlassen werden konnte.9

4.

fol. 1v G: Das auf der griechischen Insel Lesbos verwendete Winkelmaß aus Blei

Denn natürlich muss ja von unbestimmt vielen Dingen das Winkelmaß ebenfalls unbestimmt sein, quippe indefinitarum rerum indefinita et norma esse debet10, damit, wie bei einem Mauerbau auf der griechischen Insel Lesbos ein bleiernes 7 Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt von Franz Dirlmeier. 1969; S. 119; S. 434 mit ausführlichem Kommentar. – U. Wolf: Aristoteles’ Nikomachische Ethik. 2007 (2); S. 112. 8 Kaser S. 86 III. 1.; S. 87 2.; S. 422 Fn. 13 betr. den Rechtsirrtum. – Digesta 5,3,25,6; 22,6; 1,3,39. ›In der Natur der Sache‹ bedeutet, dass es von veränderlichen Sinnesdingen keine allgemeingültige Definition gibt; vgl. F. Bassenge: Aristoteles. Metaphysik (Übers.). Berlin (Aufbau-Verlag) 1960; Register s.v. Definition: S. 389, 3. Zeile von unten. 9 Dirlmeier (vgl. Anm. 7) S. 422. 10 Indefinitus, unbestimmt, steht bei Budé für a(h)óristos bei Aristoteles; horizo, begrenzen; definitio, Entscheidung bzw. Enderkenntnis, erscheint mittellateinisch auch als diffinitio; vgl. Budé fol. 285r BC; Digesta 50, 17, 202; Codex Iustinianus 6, 38, 2 iuris auctoritate definitum. Lagus schreibt Arist. In V. Moralium dicit infinitae rei infinitam debere esse regulam; d. h. im Unterschied zu dem von Budé verwendeten philosophischen Begriff indefinitus setzt er das negierte Partizip Perfekt Passiv von finire, im Sinn von »unendlich«, wohl nach Tacitus’ Annalen 3,25 legum infinita multitudo. Die Begriffe: norma: allgemein mit »Winkelmaß«

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Renate Frohne

Winkelmaß, norma plumbea, angewendet zu werden pflegt, das der Gestalt, forma, des (nicht orthogon gearbeiteten) Steines angepasst und immer wieder umgeformt werden kann, so auch Bestimmungen bei allfälligen Rechtsunsicherheiten, cum usus venerit, an die Umstände angepasst werden müssen, welche das geschriebene Gesetz des ius strictum entkräften bzw. abändern.

5.

fol. 1v GHJ: Budé verdeutlicht das Gesagte

Mit diesen Worten, sofern wir sie freilich richtig wiedergeben, zeigt Aristoteles, dass die Richter, denen es erlaubt ist ex aequo et bono iudicare (fol. 102r D in bonam partem interpretari et benige iudicare), so vorgehen müssen wie die Bauarbeiter, caementarii et structores, auf der Insel Lesbos ihr Winkelmaß, die Lesbia norma, handhaben; (erstere arbeiten mit den als Füllmaterial zu verwendenden lapides informes, die structores sind für die structurae aequales und inaequales zuständig). Da sie als einzige Arbeiter ein Winkelmaß aus Blei verwenden – nach ihrem Ermessen biegsam und immer neu verformbar –, richten sie die jeweilige Mauer nach diesem Maß so aus, dass sie manchmal, wenn ein roher Stein zum Einbau in ein Mauerwerk vielleicht – so wie er ist – nicht ohne weiteres in Frage kommt, das Winkelmaß nach dem Mauerverlauf biegen und diesem das Maß, nicht jedoch, (wie allgemein üblich), den Mauerverlauf dem Maß anpassen, damit ihr Werk vollendet werden kann. (Das verformte Winkelmaß ›speichert‹ die unregelmäßige Gestalt der Steinoberfläche, erleichtert das Auffinden ungefähr passender Steine für die nächsthöhere Schicht und dient dem Auffangen konkaver und konvexer Unebenheiten; man spricht von pseudoisodomer Bauweise).11

übersetzt; Vorschrift; regula: Balken einer Standwaage; griechisch kanón; perpendiculum: Bleilot; oder einfach nur plumbum; fol. 116v/117r und 125r CD bespricht Budé in verwirrender Fülle die griechischen und lateinischen Begriffe der Bau- und Messtechnik. Heißt es fol. 125r C norma vulgo quadra dicitur, ist damit ein »Geometrisches Quadrat« – vgl. LexMA – gemeint, das nicht flexibel verwendet werden kann. Das rechtwinklige Dreieck mit den Seitenlängen 3, 4, 5 wird fol. 125r beschrieben; flexibel kann ein sog. Winkelhaken sein; vgl. HistWbPhilo ›Norm‹, Sp. 906 I. Vgl. Grimm, Stichworte »Winkelmasz«, »Masz«,«Maszstab«, Sp. 1751 fin. (von Platen) »wo ist ein maszstab, der für alle paszte?« E. Büchel: Regula Lesbia, in: HistWbPhilo. S.J. Apinus (Praeses), J.G. Eckstein (Respondens): Dissertatio Academica de regula Lesbia. 1715; online. 11 Notes on the Nicomachean Ethics of Aristotle by J.A. Stewart. Oxford 1892; I p. 531 betr. den in der jeweils höheren Lage einzusetzenden Stein: which would fit most closely into those of the stones already laid. Hofmann, Hasso: Normen, in: TRE; bes. S. 629–633; id. Norm, in: HistWbPhilo; Sp. 907: »Insgesamt war norma, vor allem in der stehenden Wendung regula et norma, eine im mittelalterlichen Sprachgebrauch eingeschliffene Metapher, was wohl auch damit zusammenhängt, dass in der Bautechnik die verschiedenen Werkzeuge sprachlich zu

Aequitas: Das Winkelmass aus Blei als Plagiat?

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Es folgen ja auch die höchsten Gerichte bisweilen nicht dem ius scriptum12, sondern nicht einmal den praeiudicia ihrer eigenen Urteile, wenn unter Berücksichtigung der Umstände –Zeiten, Personen, Orte und anderer Voraussetzungen die Waagschale mit dem aequum bonumque schwerer wiegt, (mehr Gewicht hat und Zustimmung verdient), praegravante aequi bonique lance.13 Die aequitas bei Budé und Lagus: – Nach Budé 1v J ist die aequitas eine legitimi iuris emendatio unter Berücksichtigung aller Umstände in einem ungewöhnlichen und neu zu entscheidenden Fall. Lagus hebt fol. 235v C die zu berücksichtigenden emotionalen Aspekte der Umstände hervor: Sym- und Antipathien, das Desinteresse der Richter, die Spitzfindigkeiten der Streitenden, die nur Dunkelheit verbreiten und die Wahrheitsfindung erschweren wollen. – Recht und Gerechtigkeit sind nicht Werte an sich; es gilt die ›Goldene Regel‹; vgl. Budé fol. 1v D init. und Lagus fol. 14v D, 2. Zeile des Kapitels De fictione iuris; vgl. Regel, goldene, in: HistWbPhilo. – Über einer accomodatio casibus hat für Lagus die certa ratio zu stehen, um die tranquillitas in der Gemeinschaft zu erhalten; fol. 6r B salus populi suprema lex esto. Bei Budé sind die recto ratio sowie die die Gesellschaft tragenden Tugenden fol. 13v K, 14r A, 17v JK, 18r B besprochen. – Die aequitas erscheint vornehmlich als Milde, benignitas; fol. 18r CD zitiert Budé aber auch das von dem Stoiker Chrysipp entworfene Bild eines Richters, der gegenüber Schuldigen unerbittlich, unbestechlich, sowie dank der Kraft und Majestät von aequitas und veritas schreckenerregend, terrificus, zu sein habe. – Entsprechend dem Sprachgebrauch von ius strictum und rigor iuris ist von aequitas immer im Singular die Rede, mag sie noch so individuell und facettenreich sein; Isokrates verbindet einmal die epiéikeia mit den wohlwolunterscheiden guten Sinn macht, dass aber offenbar für den Bereich praktisch-philosophischer Orientierungen eine vergleichbare Unterscheidung nicht eingeübt werden konnte.« 12 Digesta 4,4,13 perpendendum est praetori, cui potius subveniat; Lukrez 2,1042 aliquid acri iudicio perpendere. 13 Zu praegravante aequi bonique lance: Dieses Bild gründet auf dem von Aristoteles verwendeten Begriff kanón für die Messlatte. Das aus den semitischen Sprachen stammende Kulturwanderwort – im Hebräischen hnq – hat u. a. die Bedeutung ›Balken‹, ›Waagebalken‹. Da die dicht verwobenen Gedanken Budés oft nicht nur an einer Stelle auftauchen, war zu schauen, ob auch dieses Bild von den Waagschalen vielleicht an weiteren Stellen auftaucht und das Textverständnis erleichtert. fol. 77 D erklärt Budé die Begriffe lanx, Schale, und expendere, abwiegen, erwägen: Wie es nötig ist, wenn Dinge abgewogen werden, dass die schwer gefüllte Waagschale zu Boden sinkt, so wird der Geist des Menschen gezwungen, überlegenen und einsichtsvollen Worten zu weichen und deren »Gewicht« anzuerkennen. – Cicero (Tusculanae disputationes 5,51) steht dem Satz praegravante etc. nahe: Jene Waage des Philosophen Kritólaos, der, wenn er in die eine Waagschale die Güter des Geistes legt, in die andere die des Körpers, glaubt, dass die mit den geistigen Gütern gefüllte sich senkt.

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Renate Frohne

lenden Göttinnen der Heiterkeit, den Charitinnen; in der Vulgata ist Psalm 17,2 das hebräische mescharim mit dem Plural aequitates wiedergegeben: Gottes Augen sehen, was recht ist bzw. die Gerechtigkeit/das Gerade; fol 2r A umschreibt Budé das ius strictum als exactius duriusque; es werde von sehr harten Interpreten vertreten, die gleichsam auf ein ius deterius, ein minderwertigeres Recht, bedacht seien und als dessen usurpatores auftreten.

6.

Conrad Lagus: Iuris utriusque traditio methodica (1543); fol. 9r: Die aequitas ist dem rigor iuris vorzuziehen

Die traditio methodica ist das Vermächtnis der relativ kurzen Lehrtätigkeit von Conrad Lagus (~1500–1546). Seiner 1544 bei Oporinus in Basel publizierten Protestatio sind Informationen zu entnehmen: über seine Arbeitsweise und Zielsetzung sowie seine Empörung ob der von ihm nicht genehmigten und seitenweise fehlerhaften Veröffentlichung (1543) einer dem Verleger Egenolff von einem Anonymus zugespielten und angeblich von einem anonymen Studenten gefertigten Mitschrift seiner (Lagus’) dictata, d. h. seiner in Wittenberg ›innerhalb seiner eigenen vier Wände‹ gehaltenen Vorlesungen. Den eigenen Angaben zufolge war diese Lehrtätigkeit, traditio, ganz darauf ausgerichtet, den Studenten eine möglichst umfassende und systematische Einführung in beide Rechte zu vermitteln und damit die Summae des Mittelalters zu ersetzen. Der Umfang der traditio, 530 Folio-Seiten, lässt annehmen, dass die Mitschrift, reportatio – oder die überarbeitete Fassung, redactio (?) –, Lagus’ reifere Vorlesungen wiedergibt. Das Exemplar der Egenolff-Ausgabe in der Bayerischen Staatsbibliothek ist als verkleinerter Nachdruck erhältlich; ISBN 3-226-03436-7. Im ersten Teil seiner traditio methodica, in den Kapiteln über die Ursprünge des Rechts, dessen Verpflichtung sowie über Auslegungen und Korrekturen hat Lagus dem Kapitel De fictione iuris fol. 14v vorgearbeitet, das sich mit der Messlatte aus Blei, regula plumbea, befasst. Die wesentlichen Sätze stehen fol. 9r im Abschnitt B in den Zeilen 5–9; 13–16; 24–26: – Findet man in einem zu entscheidenden Fall einen Grund für eine Milderung des ius scriptum durch die aequitas, dann wird von den Rechtsgelehrten die folgende Regel beachtet bzw. der Maßstab angelegt: Liegt eine aequitas scripta vor sowie der rigor iuris, dann soll im Regelfall die aequitas dem rigor vor-

Aequitas: Das Winkelmass aus Blei als Plagiat?

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gezogen werden, entsprechend dem mit placuit beginnenden Gesetz (Nr. 90) in den Digesta Buch 50, Titel 1 De diversis regulis iuris antiqui.14 – Liegt nur der rigor iuris scripti vor, dann will man nicht, dass der Richter allein wegen seiner individuellen Vorstellung von aequitas vom ius scriptum abweicht, wie es in dem mit prospexit beginnenden Gesetz (Nr. 12 1/2) in den Digesta Buch 90, Titel 9 Qui et a quibus manumissi liberi non fiunt … heißt.15 – Sind im kodifizierten Recht zu einem bestimmten Fall weder die aequitas noch der rigor enthalten, ist es dem Richter erlaubt, vom Ähnlichen zum Ähnlichen zu schreiten und das Recht von Beispielen herzuleiten, entsprechend dem mit non possunt beginnenden Gesetz (Nr. 12) in den Digesta Buch 1, Titel 3 De legibus senatusque consultis et longa consuetudine.16

7.

fol. 14v D: De fictione iuris. Über Recht, das auf einem angenommenen Sachverhalt beruht

Oft wollen die Gesetzgeber und Ausleger der Gesetze – von irgendeiner aequitas dazu bewegt, damit ja nicht irgendein Unschuldiger durch die Härte der Gesetze verletzt wird (Digesta 48,19,5) –, dass Geschehenes als Nicht-Geschehenes, und umgekehrt, gehandhabt wird; und das schreiben sie dann vor. Und da in allen Belangen die ratio iustitiae aequitatisque den Vorzug vor dem ius scriptum verdient, scheuten die Gesetzgeber sich eben nicht, die Gesetze bestimmten Fällen anzupassen17, auch wenn sonst normalerweise das Entgegengesetzte geschehen sollte, damit alle Belange gesetzmäßig erledigt werden und auf der Grundlage einer certa ratio18 der Frieden erhalten bleibt, und nicht – wie es 14 Die gedruckte Quellenangabe: iux. Legem. Placuit. C. de iudiciis, & 1. in omnib. ff. de reg. iur. T. Repgen: Billigkeit, in: DNP 13; Sp. 517–518. 15 ut in 1. prospexit. ff. qui & quib. manu. liberi non fiant. –T. Repgen: a.O. Sp. 519. 16 iuxt. 1. non possunt. ff. d. 11. & S.C. 17 1. Placuit. C. de iudiciis; vgl. Anm. 14. – F. Lötzsch: Fiktion, in: HistWbPhilo; Sp. 952–953. 18 Budé fol. 14r A: Quibus enim ratio a natura data est, iisdem etiam recta ratio data est, ergo et lex, quae est recta ratio in iubendo et vetando; nach Cicero: De re publica 3,22,33; vgl. Digesta 1,3,7. – M. Hoenen: Recta ratio, in: HistWbPhilo; Sp. 335–360. – K. Bärthlein: Orthos logos, in: HistWbPhilo; Sp. 1389–93. Das dem Menschen von Natur gegebene Wissen um Gerechtigkeit wird bei Lagus fol. 3r A als certissima regula bezeichnet. In dem umfangreichen Kapitel De sententia, fol. 235r–240, wird eingangs die amplitudo rerum besprochen, d. h. Dingliches und Emotional-Persönliches, das Definitionen sowie Urteilsfindungen erschwert; fol. 235v D schließt Lagus sich der Sehweise von Panormitanus/Nicolaus de Tudeschis an, quae magis consentanea sit rationi et conveniens humanitati, die mehr mit der Vernunft vereinbar und der Menschlichkeit angemessen ist; auf das sprichwörtliche in dubio pro reo (Digesta 42,1,38) wird fol. 236r B verwiesen. Alle Überlegungen über die Notwendigkeit, bei einer Urteilsfindung aequitas walten zu lassen, gelten für den Fall, dass nur ein allgemein gefasstes Gesetz vorliegt; fol. 12v CD heißt es ›Wenn ein Gesetz sich schon auf bestimmte Fälle bezieht und

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Renate Frohne

geschehen muss, wenn einer tun kann, was er will – der status publicus gestört wird. Bei dieser Anpassung der Gesetze scheinen die weisesten Rechtsgelehrten der Lehre des Aristoteles (in der Nikomachischen Ethik, Buch V) gefolgt zu sein, wo es heißt, dass die Messlatte, regula, für eine schier unendliche Sache wie das Recht auch irgendwie unendlich sein müsse. Da die Gesetze nämlich gar nicht so abgefasst werden können, damit sie alle Fälle, die irgendwann einmal auftreten, erfassen (Digesta 1,3,10), sind die Weisen wohlüberlegt vorgegangen, dass sie manchmal sogar Gesetze, die nicht im ius scriptum, sondern nur in ihrer, (der Gelehrten), Vorstellung, sua fictione, existierten, zwangen, bei besonderen Fällen behilflich zu sein und dann tatsächlich eine obliquitas, d. h. eine schiefe Richtung bzw. ein milderes Urteil, zuzulassen, dass der Wille der Gesetze, mit dem diese auf der Grundlage ex aequo ac bono allen nützen sollten, doch geachtet würde. (Die Zeilen 1–8, fol. 14v D, bilden, wie es im Unterricht der Glossatoren üblich war, die ›summierende Einleitung‹ des folgenden Aristoteles-Zitates; Lagus’ Gliederung betr. die Messlatte aus Blei entspricht damit derjenigen von Budé in den Abschnitten fol. 1r E und 1v H; vgl. LexMA Summa).

8.

fol. 14v D, Zeile 8: Lesbia regula. Die Messlatte aus Blei, eine Metapher für aequitas

Deshalb sagt Aristoteles an derselben Stelle auch, angesichts von unendlich vielen möglichen Fällen, in rebus infinitis, sei ein Rechtsgrundsatz/eine Messlatte, regula, anzuwenden, nicht als Lot (vgl. Abschnitt 12), sondern (deshalb) aus Blei, plumbea, (zum ungefähren Ausgleichen der Horizontalen), damit sie zu vielen Formen zu›recht‹ gebogen werden könne. Wie die flexible Messlatte auf der griechischen Insel Lesbos gewesen sein soll, keineswegs bei der Errichtung von repräsentativen Bauten dienlich, wohl aber sehr zweckmässig, ›angemessen‹, bei Bauelementen einzusetzen, welche die Natur bzw. der Zufall bildet, (d. h. mit natürlichen Unebenheiten im Gestein). Denn Dinge, die nicht der Kunst oder dem Handwerk, sondern dem Zufall verdankt werden, können nicht von einem und dann noch für allemal gültigen Maßstab, regula, abhängig gemacht und dementsprechend ausgeführt werden.

ausdrücklich hervorhebt, für welche Fälle es gelten will, ist es einem Interpreten nicht erlaubt, dieses Gesetz in seinem Interesse einzuschränken, und schon gar nicht den Fall, der im Gesetz erfasst ist, ausdrücklich wegen eines Scheines von aequitas von dieser Gesetzesfessel zu befreien‹.

Aequitas: Das Winkelmass aus Blei als Plagiat?

9.

17

fol. 14v D, Zeile 13: Beispiele für fictiones iuris

Deshalb fingieren die Rechtsgelehrten zum Beispiel auch, ein foetus sei schon geboren (Digesta 1,5,7), damit jemand, der schon zwei Söhne hat und diese als Erben einsetzt, für den Fall, dass er nicht weiß, dass seine Frau wieder schwanger ist, dieses Kind nicht gegen das ius naturae vom väterlichen Erbe ausschließen kann.19 Auch fingiert man das Recht, manchmal lebe derjenige noch, der getötet wurde, und zwar im Hinblick auf den Fall einer Entschuldigung des Vaters, nämlich eine Vormundschaft nicht übernehmen zu können, da die Gesetze ja jenen von dieser Pflicht bzw. Belastung befreien, der in einer Provinz des Römischen Reiches fünf Kinder hat. Hat nun jemand einen seiner Söhne in einem tobenden Krieg verloren, fingiert man, der Sohn lebe noch; man akzeptiert also die besagte Entschuldigung des Vaters, er habe fünf Kinder, als würde der Gefallene noch leben. Denn jene, die für die res publica gefallen sind so glaubt man würden durch ihren Ruhm ewig leben.20

10.

Kannte Lagus das Werk Budés? Ist Lagus’ traditio methodica fol. 14v D Mimesis oder ein Plagiat aus Budés Annotationes fol. 1rv? Wie zitieren Budé und Lagus ihre eingesehenen Quellen? Welche Autoren waren ihnen bedeutsam?

Die Erstausgabe der Werke von Aristoteles erschien 1495–1498 in Venedig bei Aldus Manutius; damit war der Weg frei ad fontes zu gehen und den Aristoteles latinus hinter sich zu lassen. Mit Griechisch-Kenntnissen ist ab ~1450 zu rechnen. Für ›aequitas walten lassen‹ wurde bald der Vergleich mit der Messlatte aus Blei sprichwörtlich.21 Budé war bei der Übersetzung des Passus noch unsicher und fügte fol. 1v G fin. hinzu si quidem recte vertimus, sofern ich das überhaupt richtig verstanden und übersetzt habe. Budé zitiert auf seinen 570 Folio-Seiten füllenden Annotationes vor allem griechische und lateinische Autoren aller Zeitstufen, das Corpus iuris, antike Juristen, unter Vorbehalt manchmal den Kanonisten Accursius, aber kaum 19 1. qui in utero ff. de statu hominum. 20 Instit. de excusat. tut. .§. sed si in bello. Das Gesetz befindet sich in den Institutiones Buch 1, Titel 25 De excusationibus tutelae, gegen Ende des Vorwortes und beginnt sed si in bello amissi sunt. Textausgabe Lat/D von R. Knütel, B. Kupisch, S. Lohse, T. Rüfner. 2013 (4). – Fictio iuris und aequitas werden von Lagus begrifflich nicht unterschieden. 21 Zum Beispiel bei Franciscus Floridus: De iuris civilis interpretibus. Basel 1540; S. 163, 10; S. 167.

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zeitgenössische Autoren.22 Der Hinweis auf den molýbdinos kanón, Nikomachische Ethik V 1137b, lautet fol. 1v im Fließtext Aristoteles libro quinto ethicorum (bei Lagus fol. 14v D Arist. in V. Moralium). Das ist wahrlich nicht sehr benutzerfreundlich, und so liest man in der Ausgabe von 1556 in einer Widmung des Lexikographen Jean Thierry de Beauvais/ Bellovacus: »Es war Budés Anliegen, seine Aussagen durch das Zeugnis der Alten, veteres, zu bekräftigen; also liest man: Cicero; Quintilianus überliefert; so spricht Curtius. – Aber in welchem Buch? Und in welchem Abschnitt? Ist es nun meine Aufgabe, den ganzen Cicero oder ein ganzes Buch zu lesen, wenn ich nur eine Textstelle suche und überdenken möchte? Hat ein Leser so viel Muße? … Deshalb möchte ich (Bellovacus) dem Leser die Mühe des langen Suchens abnehmen; ich habe selbst die genauen Stellen angegeben, damit der Leser am Rand schon sieht, wo er das Gesuchte leicht findet.« Zum Beispiel: fol. 1v FG am Rand: Ethic. Lib. 5. cap. 10. ad finem. Ehrlichkeit ist Budé wichtig; fol. 125r D moniert er eine ungenaue Quellenangabe bei dem Architekturhistoriker Leon Battista Alberti; er habe einen Gedanken mutuatus est, d. h. von jemandem entlehnt und damit sich zu eigen gemacht. Lagus zitiert auf 532 Folio-Seiten wenige profane antike Autoren, die Bibel, Päpste, das Corpus iuris, das kanonische Recht, häufig – im Sinne seiner Einführung in beide Rechte, nicht in polemischer Absicht – die Kanonisten Accursius, Azo, Baldus de Ubaldis, Bartolus, Cino di Pistoia, Hostiensis, Panormitanus, jedoch selten zeitgenössische Autoren, auch nicht Budé. – Er zitiert keine Wittenberger Kollegen – wie z. B. Petrus von Ravenna, dessen Compendium iuris civilis 1503 in Wittenberg erschien; das Compendium iuris canonici I erschien 1504 in Wittenberg, II 1506 in Leipzig-, keine Reformatoren und benennt auch keine zeitgenössischen Strömungen mit Namen, obwohl er sich z. B. in dem Kapitel über die Gütergemeinschaft, de communione rerum, mit radikal-reformatorischen Positionen auseinandersetzt. Der späteste mittelalterliche von Lagus ziterte Autor ist Paulus de Castro (1360/2–1441); er war Schüler von Baldus und hinterließ u. a. Vorlesungen zu den Digesten. 22 Zu den Ausnahmen zählen die ›Großen‹ Leon Battista Alberti, Beroaldus, Bessarion, Lorenzo Valla, Angelo Poliziano, Petrus Crinitus. Budé fol. 48v GH (leicht gekürzt): ›Als ich einmal bei Petrus Crinitus in Florenz war, (wohl um die Littera Florentina einzusehen; vgl. DNP Suppl. 9, Sp. 808), einem leutselig und einzigartig gelehrten Menschen, dessen Buch De honesta disciplina jetzt vorliegt, stieß ich bei der Beschäftigung mit einigen seiner Bücher auf einen von der Hand des Angelo Poliziano beschriebenen Quartbogen Papiers. (…) Als ich dank des Entgegenkommens von Crinitus diese Annotationes schnell und sprungweise überfliegen durfte, habe ich mir die eine oder andere Stelle, die sich auf dieses mein Vorhaben bezog, (nämlich Annotationes zu den Pandekten zu verfassen), im Gedächtnis gemerkt.‹ Budé war gedächtnisstark; zu nicht schriftlich festgehaltenen Stellen vermerkt er fol. 102r E nisi me fefellit oblivio, wenn mich das Vergessen nicht getäuscht hat, und fol. 102r D nisi me fugit, wenn es mir nicht entflohen ist.

Aequitas: Das Winkelmass aus Blei als Plagiat?

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Nun ermöglicht Lagus’ Protestatio einen Einblick in seine Arbeitsweise; mehrfach ist darin von »bemessener Zeit« die Rede; gegen Ende seines Lebens sah er sein Werk als unvollendet an; eine Publikation kam für ihn nicht in Frage. – Die nach einer Vorlesungsmitschrift gedruckte traditio methodica trägt deutlich erkennbare Hinweise auf den mündlichen Vortrag; und darin zitiert ein Dozent ja auch oft nicht so genau und ausführlich, wie in einer abgeschlossenen und autorisierten Druckvorlage; manche Quellenangaben befanden sich vielleicht auch erst in den »Zettelkästen«; der Student kann das eine oder andere überhört haben, manch ein Verlust zu Lasten des als nicht zuverlässig geltenen Druckers Egenolff gegangen sein.23 Beispiele für Zitate in Lagus’ traditio methodica: – Liest man fol. 15 r, letzte Zeile Azo in principio suae summae in Codicem, kann man davon ausgehen, dass Lagus die 1506 in Pavia gedruckte Summa Azonis besass oder einsehen konnte; vgl. ND 1966 in CGlossIC; Lex MA Azo. – Heißt es fol. 12v C Ego Bartholo acquiescendum puto, ich glaube Bartolus zustimmen zu müssen, ist der Student auf ein im Unterricht bereits behandeltes Werk verwiesen. Lagus war ein sog. Stubengelehrter, der nicht an der Universität Wittenberg las, sondern, wie er in der Protestatio betont, seine Schüler innerhalb seiner eigenen vier Wände um sich versammelte; damit waren Nachfragen jederzeit möglich und viele Bücher wohl gerade greifbar. – fol. 10v C ist im letzten Satz der Kanonist Cynus, Cino di Pistoia, erwähnt mit circa titulum codicis; dem ist zu entnehmen, dass Lagus sich auf die Erstausgabe der Lectura Codicis von 1483 bezog; vgl. Lex MA »Cino«; Schrage, Dondorp S. 75. – Bei Anekdoten und Beispielen wird meist keine Quelle genannt (fol. 2v C; 8r A; 14v; fol. 108r B die dem Ausdruck societas Leonina zugrunde liegende Fabel); sie werden vielleicht als bekannt vorausgesetzt; denkbar, dass der Autor sie aber vorerst auch für sich behalten wollte, wissend, semel emissum volat irrevocabile verbum (Horaz: Epistulae 1,18,71). Gelegentlich finden sich allgemeine Hinweise wie fol. 3r B canonistae et aliique plerique; 3r B fin. Stoici dixerunt. – Hinweise auf Gesetze im Corpus iuris sind so genau, dass man sie heute leicht verifizieren kann, sofern man den Modus der Abkürzungen durchschaut hat; vgl. Constitutio Tanta § 10.

23 J. Verger: Vorlesungs- und Predigtnachschrift, in: LexMA. – Eltjo J.H. Schrage, H. Dondorp: Utrumque ius. Berlin 1992; betr. Textausgaben der Schriften der Kanonisten u. die darin verwendeten Abkürzungen.

20

11.

Renate Frohne

Damit stellt sich die Frage, warum Budé und Lagus wenige/kaum zeitgenössische Quellen zitieren. Lag diesem Verzicht vielleicht eine Theorie zugrunde?

Beim Blättern in Budés Annotationes stieß ich fol. 76r B auf den Satz: (Nun möchte ich mit meiner Leistung nicht so hoch eingeschätzt werden, dass man glaubt, Vieles entströme gleichsam meiner Quelle). »Ich halte es jetzt wahrlich für ausreichend, wenn ich mit den Aussagen der erstrangigen und klassischen Autoren, indem ich gleichsam Regenwasser auffange, die Dürre meines Geistes durch fremde Fruchtbarkeit bereichert habe. Und: Als das Meine bezeichne ich jetzt, was ich aus Anderem/-n entnommen und vielleicht zu Meinigem gemacht habe, sofern ich freilich jede Übernahme in rechter und geeigneter Weise, concinne, bzw. kunstgerecht abgerundet meinem Gedankengang angepasst habe.« (Bleibt zu ergänzen: Diese Mimesis24 befreit nicht von der Pflicht, den Urheber eines Gedankenganges oder einer Formulierung doch zu erwähnen. Der Humanist Petrus Crinitus schrieb in De honesta disciplina: Einige Humanisten gleichen den Autoren des späteren Altertums, die ebenfalls ihrer Zeit aus dem Weg gingen. Mit »ebenfalls« dürfte Quintilian gemeint sein mit seinem Satz: Das Maß der Autorität wird durch das Alter festgelegt: veteres, die alten Schriftsteller, antiquitas, die frühere Zeit, maiores, unsere Vorfahren).25

12.

Für die Fragen »Kannte Lagus Budés Annotationes?« und »Ist Lagus« fol. 14v D ein Zitat/Plagiat aus Budés Werk fol. 1rv?« konnte bislang keine überzeugende Antwort gefunden werden. Vielleicht hilft philologische Akribie weiter

Budé war bei seiner Übertragung der im griechischen Wortlaut wiedergegebenen Aristoteles-Stelle NE 1137b über den molýbdinos kanón unsicher; deshalb flocht er ein »sofern ich den Text richtig verstanden habe« ; aus fol. 125r C geht hervor, dass er durchaus wusste, dass regula die richtige Wiedergabe von kanón ist; 24 Grimm: Deutsches Wörterbuch, Stichworte ›kleben‹, ›Nachahmung‹. – H. Koller: Mimesis, in: HistWbPhilo. 25 Nach: J. Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. 1869 (2); ND 1962 (WBG); S. 162 mit Fn. 2. – Anders das Zeitgenossenlob S. 174 ff; vgl. R. Frohne: Das Welt- und Menschenbild des St. Galler Humanisten Joachim von Watt/Vadianus (1484–1551). 2010; S. 16 »Es gibt für Vadian kein Schema und keine Kategorie, bestimmte Quellentexte auszuwählen und andere hintanzusetzen; alles ist nennens- und bedenkenswert, auch wenn manchmal aus der Fülle des Materials nur die Spitze des Eisberges in die Scholien übernommen werden kann.‹ – E.R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 1948; 1961(3); S. 256 die ›Alten‹ und die ›Neueren‹.

Aequitas: Das Winkelmass aus Blei als Plagiat?

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gleichwohl wählte er durchgehend fol. 1v norma, die Bezeichnung für das Winkelmaß/den Winkelhaken: vielleicht wegen des Gleichklanges mit forma, fol. 1v G, oder weil er an den Details einer bestimmten Bauweise interessiert war. Nun erhellt sein diesbezügliches Sachverständnis aus den über den Index zu findenden antiken Belegen; fol. 116v/117r bzw. fol. XCVIIr in der Ausgabe von 1508 gelten dem Aufschichten orthogon gearbeiteter Steine sowie der Schichtung gewöhnlicher Steine: – ex lapide ordinario – ⁝ nec temere congestum ⁝ – nec ad perpendiculum respondens ⁝ – d. h. weder von einem aufs Geratewohl aufgehäuften Material, noch mit dem Lot übereinstimmenden/als Quader gearbeiteten, das aber doch statische und ästhetische Ansprüche erfüllt. Damit ist des Rätsels Lösung gefunden; Lagus kannte Budés Werk und nicht nur die ersten beiden Seiten! Um nämlich selber bei der Beschreibung der ungewöhnlichen Messlatte ganz sicher zu sein, informierte Lagus sich bei Budé fol. XCVIIr und übernahm aus den in der Editio princeps durch ⁝ ⁝ ⁝ erkennbar gemachten Sinneinheiten das Element nec ad perpendiculum respondens in seinen Satz ›Aristoteles sagt, es sei eine Messlatte, regula, nicht als Lot,/non perpendiculari, sondern (deshalb) aus Blei zu verwenden, um beim Verlegen der Waagerechten immer wieder den unregelmäßigen Steinen angepasst werden zu können: Itaque Arist, in eodem loco dicit in rebus infinitis, utendum esse reg, non pro pendiculari, sed plumbea ut ad infinitas rerum formas inflecti possit, qualis fuisse fertur Lesbiorum regula in extruendis aedificiis minime idonea, sed in rebus, quas natura aut casus format commodissima. Neque enim ad unam perpetuamque regulam exigi & dirigi possunt quae non arte, sed casu eueniunt. (pro pendiculari ist ein Druckfehler; es muss perpendiculari heissen; Verwechslung der Kürzel von per und pro).

13.

Die Beobachtungen haben ergeben

– Die Gliederung von Lagus’ Gedanken über das eigenwillige auf der Insel Lesbos verwendete Messinstrument entspricht derjenigen von Budé; vgl. Abschnitt 7. – Aus Budés Werk übernahm Lagus den wenig belegten Ausdruck nec ad perpendiculum respondens in der Form non perpendiculari in den Satz, mit dem er betont, bei der aequitas komme es nicht auf die Senkrechte an, sondern eine ausgeglichene Waagerechte; auch rezipiert Lagus’ Satzbau den durch ⁝ ⁝ ⁝ gegliederten Gedankengang Budés.

22

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– Für die Anpassung von Gesetzen an besondere Umstände verwendet Budé fol. 1v GJ das Verb accomodare, Lagus fol. 14v D ebenfalls; fol. 48r E liest man bei Budé, kein Gesetz sei hinreichend geeignet, satis commoda, für alle zu fällenden Urteile; auf die regula plumbea als Metapher für aequitas bezogen akzentuiert Lagus das neu: fol. 14v D, Zeile 11 in rebus, quas natura aut casus format (Budé fol. 4v E usus aut status rei publicae), commodissima, d. h. das Instrument der aequitas ist bei allen Dingen, welche die Natur oder der Zufall/ der jeweilige Fall vorgibt, am besten geeignet. – Zu beachten ist auch folgende sprachliche Feinheit: Budé zitiert fol. 1r C (vgl. Abschnitt 2) den Grammatiker Donat mit den Worten ius est quod omnia recta et inflexibilia exigit, d. h. Recht ist, was alles in gerader Richtung Verlaufende und Ungeschmeidige ausführt. Lagus modifiziert fol. 14v D in den Zeilen 5–6 das recta mit dem gleichfalls der räumlichen Vorstellung entnommenen Ausdruck, »die aequitas lasse eine gewisse obliquitas zu«, d. h. eine schräge Richtung. Damit ist die Milde gemeint, das Abweichen vom ius strictum. Die Verwendung des Wortes obliquitas ist Quintilian 1,4,9 entlehnt, wo es die weiche Aussprache des Buchstaben q beschreibt, von Lagus hier auf die tatsächliche Milde, in facto, übertragen. – Lagus hat den Budé-Text genau gelesen. – Der gedruckten Randnotiz Lesbia regula im Lagus-Text ist – mit Vorbehalt – abzulesen, dass Lagus in seiner Vorlesung auf Budé verwies, die Bedeutung der Lesbia regula als Metapher für aequitas betonte und seine Studenten aufforderte, in ihrer Nacharbeit den Budé-Text doch auch selber einzusehen. Der Student, dessen Mitschrift dem Verleger Egenolff zugespielt wurde, verglich den Budé-Text und setzte auf der Textseite seiner Mitschrift Lesbia regula ungefähr auf die Höhe von Lesbii fabri bei Budé, um im Sinne seines Lehrers zu betonen, es komme ja nicht auf die Handwerker an, sondern die flexible Messlatte! Lagus’ mündliches Zitat ist verloren gegangen; dessen Reflex bzw. die Rezeption durch einen Studenten und die Weitergabe durch den Verleger sind geblieben.26 Lagus’ Gedanken über die Messlatte aus Blei sind Mimesis, Anverwandlung, ein Fortschreiben in dem von Budé fol. 76r B beschriebenen Sinn.

26 Bildungsgeschichte S. 268 betr. die ›Rubrifizierung von Mitschriften unter Sachgesichtspunkten‹, um das Wiederfinden bestimmter Begriffe/Themen zu erleichtern. – Meier, L. O.F.M.: Über den Zeugniswert der Reportatio in der Scholastik. In: Archiv für Kulturgeschichte 36/1/1954, S. 1–8. – Vgl. Anm. 23.

Aequitas: Das Winkelmass aus Blei als Plagiat?

23

Abkürzungen. Literatur () ›…‹ Aristoteles Bildungsgeschichte Budé DNP DNP Suppl. 1 DNP Suppl. 9 DNP Suppl. 11 DRW Flashar Grimm HistWbPhilo Heumann-Seckel Kaser Lagus Lagus: Protestatio LexMA Lewis, Short Liddell, Scott Schrage, Dondorp TRE

Ergänzungen, Quellenangaben, kurze Erklärungen von R.F. Hervorhebungen; Referate Nikomachische Ethik. Übers. und Kommentar. F. Dirlmeier. 1969 N. Hammerstein, A.Buck: Handbuch der Deutschen Bildungsgeschichte. 15.–17. Jh. 1996 vgl. Anm. 2; den Seitenzahlen in diesem Vortrag liegt der Reprint zugrunde Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike Geschichte der antiken Texte Renaissance – Humanismus Byzanz Deutsches Rechtswörterbuch H. Flashar (Hg.): Die Philosophie der Antike. Band 3 Aristoteles. 2004 (2) Deutsches Wörterbuch Historisches Wörterbuch der Philosophie H. Heumann, E. Seckel: Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts. 1907; ND Graz 1971 M. Kaser: Das römische Privatrecht. Die nachklassischen Entwicklungen. 1975 (2) vgl. Abschnitt 6 übersetzt von R.F. in: St. Meder (Hg.): Geschichte und Zukunft des Urheberrechts. 2018 Lexikon des Mittelalters Ch.T. Lewis, Ch. Short: Latin Dictionary. Oxford 1958 H.G. Liddell, R. Scott: A Greek-English Lexicon. Oxford 1958 E. Schrage, H. Dondorp: Utrumque Jus. 1992 Theologische Realenzyklopädie

Julia Dreyer

Privilegien gegen den Nachdruck zugunsten von Leonhard Thurneysser

Leonhard Thurneysser (Leonhard zum Thurn/Thurneisser, 1530 bis 1596), ein in Basel geborener Goldschmied und Mediziner, der später unter anderem als Arzt von Johann Georg von Brandenburg tätig war, verfasste im 16. Jahrhundert eine Vielzahl medizinischer Schriften, für deren Druck er in Berlin seine eigene Druckerei einrichtete und seit dem Jahr 1572 betrieb.1 Sechs Jahre nach Eröffnung dieser Druckerei veröffentlichte Thurneysser 1578 ein Kräuterbuch mit dem Titel »Historia sive descriptio plantarum omnium, tam domesticorum quam exoticarum, Earundem cum virtutes influentiales, elementares, & naturales, […]«, welches auch unter dem deutschen Titel »Historia und Beschreibung influentischer, elementischer vnd natürlicher Wirkungen aller fremden und heimischen Erdgewächse […]« erschien.2 Das Werk enthält neben dem Fließtext zahlreiche bildliche Darstellungen und Verzierungen. 1 Benzing, Buchdruckerlexikon des 16. Jahrhunderts (Deutsches Sprachgebiet), Frankfurt a. M. 1952, S. 33; Heidemann, Thurneisser zum Thurn, Leonhard, in: Allgemeine Deutsche Biographie 38, 1894, S. 226–229 (verwendete Online-Version abrufbar unter: https://www.deut sche-biographie.de/pnd118622447.html#adbcontent, zuletzt abgerufen: 11. Dezember 2019); zu Thurneyssers Druckerei auch: Gerabek/Haage/Keil/Wegner (Hrsg.), Enzyklopädie Medizingeschichte), Berlin, Boston 2007, S. 1398 (Thurneisser zum Thurn, Leonhard); Engelmann, Zum Leben und Werk von Leonhard Thurneysser, S. 87 in: Jahrbuch des Märkischen Museums 8, Berlin 1982, S. 83–94. 2 Thurneysser, Historia sive descriptio plantarum omnium, tam domesticorum quam exoticarum, Earundem cum virtutes influentiales, elementares, & naturales, tum subtilitates, necnon icones etiam veras, ad vivum artificiose expressas proponens, atq[ue] vna cum his, partium omnium corporis humani vt externarum ita internarum picturas, & instrumentorum Extractioni chymicæ seruientium delineatoinem vsumq[ue], ac methodos deniq[ue] Pharmaceuticas quasuis, ad curam valetudinis dextrè tractandam necessarias complectens, vtilitatis vero publicæ gratià, Berlin 1578 (unter anderem abrufbar über die Internetpräsenz der Österreichischen Nationalbibliothek unter: https://www.onb.ac.at/digitale-bibliothek-kataloge, zuletzt abgerufen: 11. Dezember 2019); ders., Historia Vnnd Beschreibung Influentischer, Elementischer vnd Natürlicher Wirckungen Aller fremden vnnd heimischen Erdgewechssen, auch jrer Subtiliteten / sampt warhafftiger vnd Künstlicher Conterfeitung derselbigen/ auch aller teiler/ Innerlicher vnd Eüsserlicher glider am Menschlichen Körper/ nebend fürbildung aller zu der Extrattien, Berlin 1578 (unter anderem als kolorierte Ausgabe abrufbar über die Internet-

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Julia Dreyer

Für sein Kräuterbuch bemühte sich Thurneysser vor dem Erscheinen um Privilegien, die das Buch vor dem Nachdruck und dem Verkauf von Nachdrucken durch andere gegen seinen Willen schützen sollten. Der Volltext der drei erhaltenen Privilegien wurde in dem Kräuterbuch auf den ersten zwei Seiten, die auf das Titelblatt folgen, abgedruckt.3 In chronologischer Reihenfolge handelt es sich um folgende Privilegien aus den Jahren 1575 bis 1577 von dem toskanischen Großherzog Francesco I. de Medici, von Kaiser Maximilian II. und von Stephan Báthory, Herrscher unter anderem über Polen und Litauen: I. Privileg von Francesco I. de Medici zugunsten von Leonhard Thurneysser vom 26. November 1575.4 II. Privileg von Kaiser Maximilian II. zugunsten von Leonhard Thurneysser vom 4. Juli 1576.5

präsenz der Bayrischen Staatsbibliothek unter: https://www.digitale-sammlungen.de/, zuletzt abgerufen: 11. Dezember 2019). 3 Thurneysser, Historia sive descriptio plantarum omnium, tam domesticorum quam exoticarum, Earundem cum virtutes influentiales, elementares, & naturales, tum subtilitates, necnon icones etiam veras, ad vivum artificiose expressas proponens, atq[ue] vna cum his, partium omnium corporis humani vt externarum ita internarum picturas, & instrumentorum Extractioni chymicæ seruientium delineatoinem vsumq[ue], ac methodos deniq[ue] Pharmaceuticas quasuis, ad curam valetudinis dextrè tractandam necessarias complectens, vtilitatis vero publicæ gratià, Berlin 1578, S. 2rv; ders., Historia Vnnd Beschreibung Influentischer, Elementischer vnd Natürlicher Wirckungen Aller fremden vnnd heimischen Erdgewechssen, auch jrer Subtiliteten / sampt warhafftiger vnd Künstlicher Conterfeitung derselbigen/ auch aller teiler/ Innerlicher vnd Eüsserlicher glider am Menschlichen Körper/ nebend fürbildung aller zu der Extrattien, Berlin 1578, S. 2rv. 4 Abgedruckt in: Thurneysser, Historia sive descriptio plantarum omnium, tam domesticorum quam exoticarum, Earundem cum virtutes influentiales, elementares, & naturales, tum subtilitates, necnon icones etiam veras, ad vivum artificiose expressas proponens, atq[ue] vna cum his, partium omnium corporis humani vt externarum ita internarum picturas, & instrumentorum Extractioni chymicæ seruientium delineatoinem vsumq[ue], ac methodos deniq[ue] Pharmaceuticas quasuis, ad curam valetudinis dextrè tractandam necessarias complectens, vtilitatis vero publicæ gratià, Berlin 1578, S. 2v; ebenfalls abgedruckt in dem Werk ders., Historia Vnnd Beschreibung Influentischer, Elementischer vnd Natürlicher Wirckungen Aller fremden vnnd heimischen Erdgewechssen, auch jrer Subtiliteten / sampt warhafftiger vnd Künstlicher Conterfeitung derselbigen/ auch aller teiler/ Innerlicher vnd Eüsserlicher glider am Menschlichen Körper/ nebend fürbildung aller zu der Extrattien, Berlin 1578, S. 2v. 5 Abgedruckt in: Thurneysser, Historia sive descriptio plantarum omnium, tam domesticorum quam exoticarum, Earundem cum virtutes influentiales, elementares, & naturales, tum subtilitates, necnon icones etiam veras, ad vivum artificiose expressas proponens, atq[ue] vna cum his, partium omnium corporis humani vt externarum ita internarum picturas, & instrumentorum Extractioni chymicæ seruientium delineatoinem vsumq[ue], ac methodos deniq[ue] Pharmaceuticas quasuis, ad curam valetudinis dextrè tractandam necessarias complectens, vtilitatis vero publicæ gratià, Berlin 1578, S. 2r; eine deutsche Übersetzung des Privilegs wurde abgedruckt in dem Werk ders., Historia Vnnd Beschreibung Influentischer, Elementischer vnd Natürlicher Wirckungen Aller fremden vnnd heimischen Erdgewechssen, auch jrer Subtiliteten / sampt warhafftiger vnd Künstlicher Conterfeitung derselbigen/ auch

Privilegien gegen den Nachdruck zugunsten von Leonhard Thurneysser

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III. Privileg von Stephan Báthory zugunsten von Leonhard Thurneysser vom 27. Januar 1577.6

I.

Toskanisches Privileg von Francesco I. de Medici zugunsten von Leonhard Thurneysser vom 26. November 1575

Auf den 26. November 1575 datiert der Abdruck des von dem Großherzog der Toskana Francesco I. de Medici zugunsten von Leonhard Thurneysser erteilten Privilegs gegen den Nachdruck: »FRANCISVS MEDICES Dei Gratia Etruriæ Magnus Dux II. Florentiæ, & Senarum Dux Tertius, Portus ferrarii in Ilua Insula, Castilionis piscariæ, & Igilii Insulæ Dominus & c. Artes liberales, præsertim Rem medicam, suis vigiliis et ingenio exornantes, com:moditatiq publicæ consulentes, non solum doctißimorum Hominum laudibus ex:tollendos: sed etiam Principum benignitate & fauore amplectendos censemus. Cum itaq Leonardus Turneisser de Turri, Artium & Medicinæ Doctor insignis, nouom Herbarium Germanicum, omnibus ferè Herbarum generibus refertum, sua industria ac labore mirificè confectum, in lucem prodire, et nostro etiam Priuilegio suffultum inprimi petierit: Nos propterea eius precibus annuentes, harum serie literarum, cuicinq Impressori, Bibliopolæ, Negociatori, cæterisq Florentiam hanc, & Senensem, Ditiones nostras frequentantibus, interdicimus: ne proximo ab hac ipsa Die decennio, prædictum Herbarium, in Latinum seu Italum sermonem versum inprimere, aut inprimi facere, vel impressum venundare citra eiusdem Le:onardi consensu, & voluntatem audeat, aut vllo pacto præsumat: Quinquaginta aureoru in quodlibet Volu:men, & Voluminis amißionis pœna, si quis aduersus hæc fecerit, ipso facto infligenda. Cuius altera pars ipsi Leonhardo, altera ærario nostro acquiratur: Quibuscunq contrariis non obstantibus, quoru infide diploma hoc fieri iußimus, nostra manu, ac soliti plumbei Sigilli appensione munitum. Datum Florentiæ, in nostro Ducali Palatio, Die vigesima sexta Nouemb: Anno Dominicæ, & salutiferæ Incarnationis, millesimo quingentesimo septuagesima quinto, Nostri Magni Ducatus Etruriæ, alioruq nostroru Ducatuu secun-

aller teiler/ Innerlicher vnd Eüsserlicher glider am Menschlichen Körper/ nebend fürbildung aller zu der Extrattien, Berlin 1578, S. 2r. 6 Abgedruckt in: Thurneysser, Historia sive descriptio plantarum omnium, tam domesticorum quam exoticarum, Earundem cum virtutes influentiales, elementares, & naturales, tum subtilitates, necnon icones etiam veras, ad vivum artificiose expressas proponens, atq[ue] vna cum his, partium omnium corporis humani vt externarum ita internarum picturas, & instrumentorum Extractioni chymicæ seruientium delineatoinem vsumq[ue], ac methodos deniq[ue] Pharmaceuticas quasuis, ad curam valetudinis dextrè tractandam necessarias complectens, vtilitatis vero publicæ gratià, Berlin 1578, S. 2v; ebenfalls abgedruckt in dem Werk ders., Historia Vnnd Beschreibung Influentischer, Elementischer vnd Natürlicher Wirckungen Aller fremden vnnd heimischen Erdgewechssen, auch jrer Subtiliteten / sampt warhafftiger vnd Künstlicher Conterfeitung derselbigen/ auch aller teiler/ Innerlicher vnd Eüsserlicher glider am Menschlichen Körper/ nebend fürbildung aller zu der Extrattien, Berlin 1578, S. 2v.

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do. Francis: Med: Mag: Dux Etruriæ. Ad Mand: expressum sereniss: magni Ducis. Paulus Vinta.«7

In dem Privileg, das in dem Namen von Francesco I. de Medici erging, nutzte man die Einleitung des Volltextes, um auf Thurneyssers an dem Kräuterbuch geleistete Arbeit und Mühen sowie auf seine Absicht, das Buch zu veröffentlichen, hinzuweisen. Das Privileg mit dem Geltungsbereich für das Großherzogtum der Toskana untersagte unter anderem den dort ansässigen Druckern und (Buch-) Händlern, Thurneyssers Kräuterbuch gegen seinen Willen und ohne sein Einverständnis in lateinischer oder italienischer Sprache für die Dauer von zehn Jahren nachzudrucken oder zum Verkauf bereitzuhalten. Als Strafe wurde dem Zuwiderhandelnden die Zahlung von fünfzig Goldmünzen auferlegt und die sofortige Fälligkeit der Geldstrafe im Falle eines Verstoßes gegen das Privileg angeordnet. Die fünfzig Goldmünzen sollten jeweils zur Hälfte an Thurneysser als Autor des Buchs sowie an die Kasse des toskanischen Großherzogs zufallen. Außerdem sah das Privileg den Verlust der unter Verstoß gegen seine Bestimmungen angefertigten Nachdrucke vor.

II.

Privileg von Kaiser Maximilian II. zugunsten von Leonhard Thurneysser vom 4. Juli 1576

Von dem Kaiser des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation Maximilian II. erhielt Thurneysser ein Privileg gegen den Nachdruck, welches auf den 4. Juli 1576 datiert und zu Beginn von Thurneyssers Kräuterbuch wie folgt abgedruckt wurde: »PRIVILEGIVUM, MAXIMILIANVS II. DIVINA FAVENTE CLE-mentia Romanorum Imperator Electus, semper Augustus: Germaniæ, Vngariæ, Bohemiæ, Dalmatiæ, Croatiæ, Scaluoniæ & c. Rex, Archidux Austriæ, Dux Burgundiæ, Styriæ, Carinthiæ, Carniolæ VVirte[m]bergæ & c: Comes Tyrolis & c. Testamur his literis publicè, ac significamus Vniversis & Singulis. Cum nobis Leonhardus Thurneisserus Basiliensis, Vir 7 Privileg von Francesco I. de Medici zugunsten von Leonhard Thurneysser vom 26. November 1575, abgedruckt in: Thurneysser, Historia sive descriptio plantarum omnium, tam domesticorum quam exoticarum, Earundem cum virtutes influentiales, elementares, & naturales, tum subtilitates, necnon icones etiam veras, ad vivum artificiose expressas proponens, atq[ue] vna cum his, partium omnium corporis humani vt externarum ita internarum picturas, & instrumentorum Extractioni chymicæ seruientium delineatoinem vsumq[ue], ac methodos deniq[ue] Pharmaceuticas quasuis, ad curam valetudinis dextrè tractandam necessarias complectens, vtilitatis vero publicæ gratià, Berlin 1578, S. 2v; ebenfalls abgedruckt in dem Werk ders., Historia Vnnd Beschreibung Influentischer, Elementischer vnd Natürlicher Wirckungen Aller fremden vnnd heimischen Erdgewechssen, auch jrer Subtiliteten / sampt warhafftiger vnd Künstlicher Conterfeitung derselbigen/ auch aller teiler/ Innerlicher vnd Eüsserlicher glider am Menschlichen Körper/ nebend fürbildung aller zu der Extrattien, Berlin 1578, S. 2v.

Privilegien gegen den Nachdruck zugunsten von Leonhard Thurneysser

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apprimè ingeniosus, & noster ac Sa-cri Romani Imperii Fidelis dilectus, humiliter exposuißet: Se longo studio, la-boribus immensis, necnon sumptibus & opibus quoq, propriis impensis, in gratiam Vtilitatis publicæ Bo-tanologicum nouum, Partim ex Monumentis Paracelsi, partim Experientiæ suæ ipsius documentis con-gestum, & ordine ac methodo certa in Corpus redactum, atq adeo sermone simul & Germanico & Latino conscriptum, typis in publicum emittere constituiße: Nosq ideo suppliciter imploratos rogasset: vt sibi ad eam rem, Potestatis nostræ Cæsareæ auxilia & tutelam clementer impertiri dignaremur: Petitio-ni itaq huic æquæ ac honestæ haud grauatim annuentes, ei hanc gratiam & libertatem sumus largiti: atq his quoq Literis Authoritate Imperatoria scientes largimur. Vt scilicet, Leonhardo Thurneissero Bo-tanologicum illud typis publicare liceat: neq id Alii cuiquam prætera, intra decennium ab hinc proximu, priuatim siue publicè recudere, siue ita recusum importare, distrahere, aut venale circumferre vllo modo fas sit. Quapropter omnibus & singulis Imperii, Regnorum, Ducatuum, & Ditionum nostrarum hære-ditariarum Subditis ac Fidelibus nostris, cuiuscunq Dignitatis & conditionis hi fuerint, ac inprimis Ty-pographis & Bibliopolis, comminatione nostræ indignationis, pœnæ, atq adeo etiam mulctæ, nimirum marcarum decem auri puri (parte dimidia nostro atq Imperii Fisco, dimidia Authori stricte soluendæ) inter-dicimus ac ventamus: Ne quisquam Alius, Librum commemoratum intra decennium definitum recudat: siue ita recusum circumferat, venum proponat, aut vendat: siue hæc ab aliis fieri permittat: quatenus quilibet sibi a pœna & mulcta periculum esse nolit. Ac huc vt Thurneissero, Libros ab Aliis recusos, vbi-cunq in hos inciderit, in suam potestatem transferendi, cumq his pro arbitrio agendi ius habeat, serio san-cimus. Veruntamen eundem, lege huius Priuilegii nostri amittendi, vt Exemplaria tria Cancellariæ no-stræ Imperialis Taxatori transmittat, volumus deuinctum. In cuius rei fidem Diplomati huic Sigillum nostrum Imperiale appensum fuit. Datum in vrbe nostra Imperiali Ratisbona IIII. Idus Iulii, Anno Dominicæ Incarnationis cIɔ. Iɔ. LXXVI. ac Regnorum nostrorum, Romani quidem XIIII. Vnga-rici vero XIII. & Bohemici XXVIII. Maximilian. V. Io. Bap. VVeber. Ad Mandatum Sacr. Cæs. M: Propr. A. Ernstenberger«8

In der deutschen Ausgabe des Kräuterbuchs druckte man die folgende Übersetzung des Volltextes des Privilegs in deutscher Sprache ab, welche man auf den 12. Juli 1576 datierte: »Priuilegium. Wir Maximilian der Ander von Gottes Gnaden/ Erwelter Roemischer Kaiser […] Bekennen offentlich mit diesem Brieff/vnd thuen kundt aller meniglich. Als 8 Privileg von Kaiser Maximilian II. zugunsten von Leonhard Thurneysser vom 4. Juli 1576, abgedruckt in: Thurneysser, Historia sive descriptio plantarum omnium, tam domesticorum quam exoticarum, Earundem cum virtutes influentiales, elementares, & naturales, tum subtilitates, necnon icones etiam veras, ad vivum artificiose expressas proponens, atq[ue] vna cum his, partium omnium corporis humani vt externarum ita internarum picturas, & instrumentorum Extractioni chymicæ seruientium delineatoinem vsumq[ue], ac methodos deniq[ue] Pharmaceuticas quasuis, ad curam valetudinis dextrè tractandam necessarias complectens, vtilitatis vero publicæ gratià, Berlin 1578, S. 2r; das kaiserliche Privileg vom 4. Juli 1576 zugunsten von Leonhard Thurneysser wird ebenfalls erwähnt bei: Pohlmann, Weitere Archivfunde zum kaiserlichen Autorenschutz, Sp. 659 Nr. 45 in: AGB VI, 1966, Sp. 641–679.

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Julia Dreyer

vns der gelart vnser […] Leonhart Thurneisser zu Thurn vo Basel/vndertheniglich zu erkennen gegeben/Wie er durch langwirigen vleiß/grosse müeh und arbeit/auch auffgewanten vnkosten vnd darlegen deß seinigen/Gemeinem Nutz zum besten/Einen neuuen paracelsischen Herbariu/oder Kreutterbuch/zum theil auß deß Er:nente Authoris hindterlassne Schrifften/anders thails aber seiner selbst aigner Erfahrung vorsamlet/vnd in ein Corpus geordnet vn geschriben/auch so weit verferttigt hatte/das er nun dasselbig Teutsch vnd Lateinisch in druck zubringen/vnd zu publicieren vorhabens were/Und vns darauff demutiglich angeruffen vnd gebeten/das wir ime hierinnen/mit vnser Kaiserlicher hilff vnd fürsehung zuerscheinen gnediglich geruechten/Das wir dem nach genediglichen angefehen/solch sein Unterthenig zimlich Bitt/vnd ime darumb diese Gnadt und freiheit gegeben. Thuen vn geben ime die auch hiemit auß Roemischer Kaiser:licher Macht/wissentlich inn Krafft diß Brieffs/also/das vorgenanter Leonhart Thur:neisser/obbestimbten Herbarium offentlich in Truck außgehn lassen müge/vnd ime solchen innerhalb zehen Jaren/die Negsten dato diß Brieffs volgendt/Niemandt weder haim:lich noch offentlich nachdrucken/Noch auch also nachgedruckt verfüren/ vmbtragen oder verhandtieren solle/in keine weiß vn weg. Und gebiete darauff allen vn jeden vnsern des Reichs/auch vnser Koenigreichen/Erblichen Fürstenthuemen vnd Lande/vntertha:nen vnd getreüwen/was Würden/Stands/oder wesens die Seiendt/vnd Insonderheit al:len Puchdruckern vnd Puchuerkauffern/Bey vermeidung vnserer Ungnadt vnd Straff/vnnd darzu ein Peen/Nemlich zehen Marck loetigs Goldes/halb in vnser vnnd des Reichs Camer/vnd den andern halben theil gemeltem Leonhardten Thurneisser unab:leßlich zubezalen/hiemit Ernstlich. Und woellen/das sie obberürten Herbarium/die be:stimbten zehen Jar aus/nit nachdrucken/oder also nachgedruckt vmbtragen/feilhaben/vorkauffen/noch das andern zuthuen gestatten/in kain weiß/als lieb einem jeden sey/ob:beruerte Peen vn straff zuuermeide/zu dem das mehr gedachter Leonhardt Thurneisser die Nachgedruckten Püecher/wo er die bekomen kan/zu seinen handen nemmen/vnd bringen/vnd damit seines gefallens handeln solle vnd moege/Das meinen wir ernstlich/doch sol veil gedachter Leonhardt Thurneisser bey verlust dises vnsers Priuilegii/schul:dig vnd verpunden sein/drey Exemplaria zuhanden vnserer Reichs Hoff Canzley Tara:tori zuvbersenden/Mit urkundts diß brieffs besiglet mit vnserem Keiserlichen anhangen:den Insigel/Geben in vnser vnnd des Reichs Statt Regenspurg/den zwelfften Iulii/Anno im Sechs vnd Sibenzigisten/vnserer Reiche des Roemischen im Vierzehen/des hungerischen im Dreizehenden vnd des Behaimischen im Acht vnnd zwanzigsten Maximilian. V. Io: Bap: VVeber. Ad mandatum Sacræ Cæsar. M. Ppm. A Ernstenberger.«9

Das kaiserliche Privileg lobte eingangs den langwierigen Fleiß, die große Mühe und Arbeit sowie die aufgewendeten Unkosten, welche Thurneysser zum Nutze der Allgemeinheit für die Zusammenstellung des Buchs und Vorbereitung des9 Deutsche Übersetzung des Privilegs von Kaiser Maximilian II. zugunsten von Leonhard Thurneysser vom 12. Juli 1576, abgedruckt in: Thurneysser, Historia Vnnd Beschreibung Influentischer, Elementischer vnd Natürlicher Wirckungen Aller fremden vnnd heimischen Erdgewechssen, auch jrer Subtiliteten / sampt warhafftiger vnd Künstlicher Conterfeitung derselbigen/ auch aller teiler/ Innerlicher vnd Eüsserlicher glider am Menschlichen Körper/ nebend fürbildung aller zu der Extrattien, Berlin 1578, S. 2r.

Privilegien gegen den Nachdruck zugunsten von Leonhard Thurneysser

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selben zur Drucklegung und zur Veröffentlichung in deutscher und lateinischer Sprache erbracht habe. Auf Antrag Thurneyssers habe der Kaiser entschieden, ein zehnjähriges Privileg für das Buch zugunsten von Thurneysser zu erteilen, welches anderen Personen außer diesem selbst, insbesondere also Buchdruckern und -händlern untersagte, ebenjenes Buch heimlich oder offensichtlich nachzudrucken, feilzubieten oder zu verkaufen. Den Beginn des Laufs der zehnjährigen Frist knüpfte man an das Datum der Ausstellung des Privilegs. Außerdem legte man Thurneysser die Pflicht auf, drei Exemplare des Kräuterbuchs am kaiserlichen Hof einzureichen. Zugleich setzte man den Sanktionsrahmen fest, der bei Verstößen gegen das Privileg und seinen Regelungsgehalt, also bei Nachdruck oder Verkauf des Buchs gegen Thurneyssers Willen, zu leisten sei. Als Geldzahlung sollten zehn Goldmark zur Hälfte an den kaiserlichen Hof und an den Privilegieninhaber Thurneysser zu zahlen sein. Das Privileg sprach Thurneysser außerdem das Recht zu, die gegen seinen Willen gefertigten Nachdrucke an sich nehmen und damit nach Belieben verfahren zu dürfen.

III.

Privileg von Stephan Báthory zugunsten von Leonhard Thurneysser vom 27. Januar 1577

Auf den Abdruck des kaiserlichen Privilegs folgt ein Abdruck eines Privilegs gegen den Nachdruck vom 27. Januar 1577, welches Thurneysser von dem von 1576 bis 1586 als Herrscher unter anderem über Polen und Litauen regierenden Stephan Báthory erwirken konnte: »STEPHANVS DEI Gratia REX POLONIAE, magnus DVX Lithuaniæ, Russiæ, Prussiæ, Masouiæ, Samogitiæ, Kyouiæ, Voliniæ, Podlachiæ, Liuoniæq, nec:non PRINCEPS Transsyluaniæ. Significamus hisce nostris literis, quo:rum interest vniuersis & singulis. Cum effet nobis relatum à Generoso Ioanne Ostrorogo, Regni nostri Pocillatore syncere nobis dilecto: decreuisse Leonardum Thurnesium, excellentem Philoso:phum & Astrologum Germanum, Illustrissimi Principis Marchionis Brandenburgensis, Sacri Rom. Imperii Electoris Medicum ordinariu, publici emolumenti causa, magno cum sumptu ac labore suo, lingua Latina & Germanica, typis in luce emittere nouum quoddam Opus herbarium, in aliquot vo:lumina digestum, longaq obseruatione, peregrinatione, meditatione, ac lectione conscriptum : eun:demq à nobis supplici libello petrisse:ne, vbi id suum opus in ditiones nostras importatum effet, ab vllo nostro Typographo, decimo à prima eius editione anno, Ipso, Posterisq eius insciis ac noletibus, recuderetur: neue ab aliquo vbiuis locorum, iisdem nolentibus, intra hoc temporis spacium recusum, in Prouinciis nostris venderetur: Quapropter nos, æquam esse petitionem eius videntes, simul & il:lud, quæ & quanta commoda, ex literatorum Viroru Lucubrationibus ac Scriptis, ad genus humanum perueniant, perpendentes:cupientes etiam has Gétes & Regiones (ad quarum Regimen diuina proui:dentia vocati euectiq sumus) omni commodorum genere, absq fraude cuiusquam, abundare, & quám nobis

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grati sint doctorum Virorum labores declarare, facile id, huic Thurnesio gratificati sumus, idq hoc diplomate nostro testari voluimus, ac iam restamur. Quo circa, Dignitariis, Officialibus, Magistratibus, ac aliis quibusuis Personis tàm publicis quàm priuatis, præcipué verò Typographis & Bibliopolis subditis nostris, his quidem mandamus: ne hunc ipsum Thurnesii, cum plantarum ima:ginibus Librum herbarium, intra decennium à prima editione illius, Ipso Posterisue eius insciis & in:uitis, typis excudere: aut si intra hoc tempus, Authore inuito ac suis, alicubi recusus foret, venum proponere audeant, vel etiam diuendant: sub pæna quinquaginta marcarum auri puri, omniumq Exemplarium amissione, dimidia parte nobis, altera verò ipsi Authori posterisue illius danda: Illis ve:rò, vt hoc, quo Thurnesii damnis occurrimus, mandatum nostrum fideliter obseruent, atq ab omni:bus, si qui contra aliquid tentauerint, cum debita exequutione ac pœnæ nominatæ exactione obser:uari curent: nec aliter pro debito officii sui, gratiaq nostra Regia facere audeant. In cuius rei fidem, Sigillum nostrum huic diplomati, manu nostra subscripto, appensum est. Datum Bydostiæ die vi:gessima septima Mensis Ianuarii. Anno Domini Millesimo quingentesimo septuagesimo septimo. Regni verò nostri anno primo. Stephanus Rex.«10

In der Einleitung des Privilegs verwies man auf die Neuheit des Kräuterbuchs sowie auf Thurneyssers investierte Kosten und Arbeit. Im Gegensatz zum kaiserlichen Privileg sollte für den Beginn der zehnjährigen Frist des Privilegs von Stephan Báthory der Druck der ersten Ausgabe des privilegierten Buchs maßgeblich sein. Untersagt wurde der Nachdruck und Verkauf des Kräuterbuchs ohne die Einwilligung des Autors. Als Sanktion sah das Privileg fünfzig Goldmark zur hälftigen Zahlung an den Autor und die Kasse des Herrschers sowie die Konfiszierung der unter Verstoß gegen das Privileg gefertigten Nachdrucke vor.

IV.

Beschreibung der Leistung des Autors

In den beschriebenen drei Privilegien beachtete man in den jeweiligen Einleitungen die Begründungen für die Erteilung eines Privilegs, die ein Drucker oder Autor bei der Antragstellung vorbrachte, indem man diese in den Volltexten des 10 Privileg von Stephan Báthory zugunsten von Leonhard Thurneysser vom 27. Januar 1577, abgedruckt in: Thurneysser, Historia sive descriptio plantarum omnium, tam domesticorum quam exoticarum, Earundem cum virtutes influentiales, elementares, & naturales, tum subtilitates, necnon icones etiam veras, ad vivum artificiose expressas proponens, atq[ue] vna cum his, partium omnium corporis humani vt externarum ita internarum picturas, & instrumentorum Extractioni chymicæ seruientium delineatoinem vsumq[ue], ac methodos deniq[ue] Pharmaceuticas quasuis, ad curam valetudinis dextrè tractandam necessarias complectens, vtilitatis vero publicæ gratià, Berlin 1578, S. 2v; ebenfalls abgedruckt in dem Werk ders., Historia Vnnd Beschreibung Influentischer, Elementischer vnd Natürlicher Wirckungen Aller fremden vnnd heimischen Erdgewechssen, auch jrer Subtiliteten / sampt warhafftiger vnd Künstlicher Conterfeitung derselbigen/ auch aller teiler/ Innerlicher vnd Eüsserlicher glider am Menschlichen Körper/ nebend fürbildung aller zu der Extrattien, Berlin 1578, S. 2v.

Privilegien gegen den Nachdruck zugunsten von Leonhard Thurneysser

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Privilegs wiederholte. Hierzu zählten vor allem Ausführungen zu erbrachten Leistungen und Mühen, wie in dem vorliegenden Fall der Zusammenstellung einer Sammlung in Form eines Kräuterbuchs. Ebenso fanden die von dem Antragsteller erbrachten hohen finanziellen Aufwendungen und Unkosten für die Vorbereitung der Drucklegung sowie dessen Absicht zur Veröffentlichung des Buchs zum Nutzen der Allgemeinheit Erwähnung. Das Privileg von Kaiser Maximilian II. zugunsten von Leonhard Thurneysser gestaltete man hierbei am ausführlichsten: »[…] Se longo studio, la-boribus immensis, necnon sumptibus & opibus quoq, propriis impensis, in gratiam Vtilitatis publicæ Bo-tanologicum nouum, Partim ex Monumentis Paracelsi, partim Experientiæ suæ ipsius documentis con-gestum, & ordine ac methodo certa in Corpus redactum, atq adeo sermone simul & Germanico & La-tino conscriptum, typis in publicum emittere constituiße: […]«.11

In der in der deutschsprachigen Ausgabe abgedruckten Übersetzung des Privilegs von Kaiser Maximilian II. in die deutsche Sprache lobte man dementsprechend: »[…] Wie er durch langwirigen vleiß/grosse müeh und arbeit/auch auffgewanten vnkosten vnd darlegen deß seinigen/Gemeinem Nutz zum besten/Einen neuuen paracelsischen Herbariu[m]/oder Kreutterbuch/zum theil auß deß Er:nente Authoris hindterlassne Schrifften/anders thails aber seiner selbst aigner Erfahrung vorsamlet/vnd in ein Corpus geordnet vn geschriben/auch so weit verferttigt hatte/das er nun dasselbig Teutsch vnd Lateinisch in druck zubringen/vnd zu publicieren vorhabens were/ […]«.12

Auch der Abdruck des Privilegs von Stephan Báthory zugunsten von Leonhard Thurneysser stellt Thurneyssers Aufwendungen und Mühen, welche dieser für die Erstellung des Kräuterbuchs erbracht habe, sowie dessen Veröffentlichungsabsicht heraus: »[…] publici emolumenti causa, magno cum sumptu ac labore suo, lingua Latina & Germanica, typis in luce emittere nouum quoddam Opus herbarium, in aliquot vo:

11 Privileg von Kaiser Maximilian II. zugunsten von Leonhard Thurneysser vom 4. Juli 1576, abgedruckt in: Thurneysser, Historia sive descriptio plantarum omnium, tam domesticorum quam exoticarum, Earundem cum virtutes influentiales, elementares, & naturales, tum subtilitates, necnon icones etiam veras, ad vivum artificiose expressas proponens, atq[ue] vna cum his, partium omnium corporis humani vt externarum ita internarum picturas, & instrumentorum Extractioni chymicæ seruientium delineatoinem vsumq[ue], ac methodos deniq[ue] Pharmaceuticas quasuis, ad curam valetudinis dextrè tractandam necessarias complectens, vtilitatis vero publicæ gratià, Berlin 1578, S. 2r. 12 Thurneysser, Historia Vnnd Beschreibung Influentischer, Elementischer vnd Natürlicher Wirckungen Aller fremden vnnd heimischen Erdgewechssen, auch jrer Subtiliteten / sampt warhafftiger vnd Künstlicher Conterfeitung derselbigen/ auch aller teiler/ Innerlicher vnd Eüsserlicher glider am Menschlichen Körper/ nebend fürbildung aller zu der Extrattien, Berlin 1578, S. 2r.

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Julia Dreyer

lumina digestum, longaq obseruatione, peregrinatione, meditatione, ac lectione conscriptum […]«.13

Im Vergleich hierzu fasste sich das Privileg aus dem Großherzogtum der Toskana von Francesco I. de Medici kurz und betonte Thurneyssers Mühe und Arbeit sowie ebenfalls dessen Absicht, das Buch der Allgemeinheit durch Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen: »[…] nouom Herbarium Germanicum, omnibus ferè Herbarum generibus refertum, sua industria ac labore mirificè confectum, in lucem prodire, et nostro etiam Priuilegio suffultum inprimi petierit: […]«.14

V.

Fazit

Ein Vergleich der drei in dem Kräuterbuch von Leonhard Thurneysser abgedruckten Privilegien gegen den Nachdruck zeigt Parallelen und Gemeinsamkeiten bei der Erteilung von Privilegien. Dies trifft beispielsweise darauf zu, dass man in drei verschiedenen Herrschaftsgebieten in diesem Einzelfall des Kräuterbuchs von Leonhard Thurneysser ähnliche Anforderungen an ein zu privilegierendes Buch und an den Antragsteller stellte. Das Buch, für das ein Nachdruckverbot durch Privileg ausgesprochen werden sollte, war bestenfalls ein neues Werk, jedenfalls bestand aber eine Absicht zur Veröffentlichung durch Drucklegung, in welche der Antragsteller sowohl Mühen als auch Arbeit sowie finanzielle Ausgaben investiert hatte. Übereinstimmend gewährten die drei Herrscher zugunsten von Thurneysser einen zehnjährigen Schutz gegen den Nachdruck und gegen den Verkauf von Nachdrucken in ihrem jeweiligen Herrschaftsgebiet. Auf Rechtsfolgenseite sahen die Privilegien bei Verstößen gegen das für das Buch nunmehr geltende Nachdruckverbot gleichsam eine 13 Privileg von Stephan Báthory zugunsten von Leonhard Thurneysser vom 27. Januar 1577, abgedruckt in: Thurneysser, Historia sive descriptio plantarum omnium, tam domesticorum quam exoticarum, Earundem cum virtutes influentiales, elementares, & naturales, tum subtilitates, necnon icones etiam veras, ad vivum artificiose expressas proponens, atq[ue] vna cum his, partium omnium corporis humani vt externarum ita internarum picturas, & instrumentorum Extractioni chymicæ seruientium delineatoinem vsumq[ue], ac methodos deniq[ue] Pharmaceuticas quasuis, ad curam valetudinis dextrè tractandam necessarias complectens, vtilitatis vero publicæ gratià, Berlin 1578, S. 2v. 14 Privileg von Francesco I. de Medici zugunsten von Leonhard Thurneysser vom 26. November 1575, abgedruckt in: Thurneysser, Historia sive descriptio plantarum omnium, tam domesticorum quam exoticarum, Earundem cum virtutes influentiales, elementares, & naturales, tum subtilitates, necnon icones etiam veras, ad vivum artificiose expressas proponens, atq[ue] vna cum his, partium omnium corporis humani vt externarum ita internarum picturas, & instrumentorum Extractioni chymicæ seruientium delineatoinem vsumq[ue], ac methodos deniq[ue] Pharmaceuticas quasuis, ad curam valetudinis dextrè tractandam necessarias complectens, vtilitatis vero publicæ gratià, Berlin 1578, S. 2v.

Privilegien gegen den Nachdruck zugunsten von Leonhard Thurneysser

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Geldzahlung, die zwischen dem Autor und dem jeweiligen Herrscher aufgeteilt werden sollte, sowie den Verlust der unter Verstoß gegen das Privileg angefertigten Nachdrucke vor. Mit dem Datum der Erstveröffentlichung des Buchs als Anknüpfungspunkt für die zehnjährige Schutzfrist dürfte das Privileg von Stephan Báthory für den Autor in diesem Fall gegenüber den anderen beiden Privilegien einen vorteilhafteren Schutz für Thurneysser gewährt haben, da diese Schutzfrist erst mit dem Jahr der Veröffentlichung, mithin 1578, zu laufen begann. Die zehnjährige Schutzfrist der Privilegien von Kaiser Maximilian II. und Großherzog Francesco I. de Medici begann stattdessen mit dem Tag der Ausstellung der Privilegien, also bereits in den Jahren 1575 und 1576, zu laufen. Bemerkenswert bleibt die gleichsame Anerkennung der kosten- und müheintensiven Leistung der Sammlung und Zusammenstellung der Inhalte eines Werkes sowie dessen Vorbereitung für den Druck, um das Buch durch die Veröffentlichung der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Hierfür scheint man ein Schutzbedürfnis angenommen zu haben, dem man durch Erteilung eines Privilegs gegen den Nachdruck auf dem jeweiligen Herrschaftsgebiet zu entsprechen versuchte.

David von Mayenburg*

Dem Plagiator auf der Spur – ein anonymer Carolina-Kommentar von 1614

I.

Vorbemerkung

Die nachfolgenden Ausführungen waren Gegenstand eines Vortrags, den ich zuerst am 31. 10. 2018 als Frankfurter Antrittsvorlesung und dann, in leicht abgewandelter Form, im Rahmen der Tagung gehalten habe, die diesem Band zugrunde liegt. Die Grundidee des Vortrags bestand darin, mein nicht nur aus Fachkolleginnen und -Kollegen bestehendes Publikum auf eine virtuelle Reise mitzunehmen und den Entstehungsprozess wissenschaftlichen Erkenntnisgewinns in einer Art stream of consciousness zu beschreiben. Auch wenn die mit diesem Konzept verbundene rhetorische Wirkung des gesprochenen Worts durch die Verschriftlichung wegfällt, habe ich mich dagegen entschieden, den Text noch einmal völlig umzuschreiben, sondern ihn lediglich moderat angepasst und Literatur- und Quellenhinweise hinzugefügt1. Verbleibende Verstöße gegen die gewohnten Regeln wissenschaftlichen Schreibens, vor allem die ungewohnt persönliche »Ich-Form«, bitte ich daher nachzusehen.

* Für ihre unschätzbare Hilfe bei der Recherche und viele anregende Gespräche über die Interpretation der hier verwendeten Quellen danke ich meiner Mitarbeiterin, Frau Julia-Sophie Graf. 1 Aus Gründen der Übersicht werden die Ausgaben des hier besprochenen Carolina-Kommentars in Anhang I unter vollständiger Wiedergabe ihres Titels zusammengefasst und im Text unter der dort angegebenen lfd. Nr. zitiert. Weitere Quellen erscheinen, in der üblichen gekürzten Zitation, in den Fußnoten.

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II.

David von Mayenburg

Einleitung

Die Kurzform »Carolina« verweist auf den deutschen Kaiser Karl V. und die unter seiner Regierungszeit im Jahr 1532 verkündete Halsgerichtsordnung, lateinisch »Constitutio Criminalis Carolina«2. Diese als Reichsgesetz verabschiedete Zusammenstellung strafrechtlicher Normen versuchte in ihren 219 Artikeln sowohl den Strafprozess als auch die Bestrafung einzelner Delikte für das Deutsche Reich möglichst einheitlich zu regeln3. Der Inhalt erscheint heute über weite Strecken als abstoßend und unzivilisiert: Es geht um Folter, um Hängen, Köpfen und Rädern, um das Abschneiden von Zunge, Finger und Nase. Für die Zeitgenossen war aber wichtig, dass die entsprechenden Regeln überhaupt zu Papier gebracht wurden, dass die Gerichte in ihrer Strafpraxis nicht völlig sich selbst überlassen wurden und auch, dass das angeschlagene Reich seine Handlungsfähigkeit im Bereich des Strafrechts demonstrierte. Gegenstand der folgenden Ausführungen ist aber nicht die Carolina selbst, sondern ein anonymer Kommentar zu diesem Gesetz, der erstmals im Jahr 1614 publiziert wurde4. Auch hier wird es weniger um dessen Inhalt gehen, als um seine Bedeutung als Medium, als Wissensspeicher. Es wird zu fragen sein, von wem, warum und in welchem Kontext dieser Kommentar verfasst wurde und welche Bedeutung er für die Verbreitung der Carolina im Alten Reich hatte.

III.

Ausgangspunkt: Auf der Suche nach dem Verfasser

Blicken wir also dem Rechtshistoriker über die Schulter und beobachten wir ihn bei der Lektüre einer 1996 erschienenen Monographie über die Geschichte der Zurechnungsfähigkeit5. Eigentlich interessierte ich mich für die Geschichte der Strafmündigkeit, also die Frage, ab welchem Alter Jugendliche für ihre Straftaten

2 Eine leicht zugängliche Textausgabe mit Erläuterungen findet sich bei F.-Ch. Schroeder (Hg.), Die Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs von 1532 (Carolina), Stuttgart 2000. 3 Näher zu Inhalt und Bedeutung der Carolina (Auswahl): Geppert, Die Peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. (die ›Carolina‹), Wissens- und Nachdenkenswertes zu einer Rechtsquelle aus dem Jahre 1532, in: JURA 2015, S. 143–153 Maihold, »auß lieb der gerechtigkeyt vnd umb gemeynes nutz willen« – Die Constitutio Criminalis Carolina von 1532, in: ius.full 4 (2006), S. 76–86; vertiefend die Beiträge in: P. Landau / F.-Ch. Schroeder (Hg.), Strafrecht, Strafprozeß und Rezeption. Grundlagen, Entwicklung und Wirkung der Constitutio Criminalis Carolina, Frankfurt/M. 1984. 4 Anhang I, Nr. 1. 5 Gschwend, Zur Geschichte der Lehre von der Zurechnungsfähigkeit. Zürich 1996.

Dem Plagiator auf der Spur – ein anonymer Carolina-Kommentar von 1614

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zur Verantwortung gezogen werden konnten6. In dem Buch heißt es dazu: »J.W. Kohlesus etwa interpretiert die Strafprivilegien für junge Straftäter weiter als dies ursprünglich für zulässig erachtet wurde […] 7«. In der entsprechenden Fußnote verweist der Autor auf seine Quelle: »Kohlesus J.W., Constitutiones Criminales Caroli Quinti etc. Cum jure communi, Altdorf 1702«8. Ganz offensichtlich handelt es sich um die Carolina-Kommentierung eines zu Beginn des 18. Jahrhunderts lebenden Gelehrten. Eigentlich nicht der Rede wert, aber die Neugier ist geweckt, wer dieser »Kohlesus« ist, von dem ich noch nie gehört hatte. Einschlägige Datenbanken fördern schnell zutage, dass es sich um Jobst Wilhelm Kohles handelt, der 1661 geboren wurde, in Nürnberg das Druckerhandwerk lernte, in Altdorf wirkte und 1739 starb9. Unter seinen Zeitgenossen hatte sich dieser »Kohlesius« (nicht: »Kohlesus«) wegen der hohen Qualität seiner Drucke einen guten Ruf erworben und gilt bis heute als einer der bedeutendsten Drucker seiner Zeit10. Doch sollte dieser Mann tatsächlich auch der Autor der von ihm gedruckten Carolina-Kommentierung gewesen sein? Das scheint zweifelhaft. Und tatsächlich: Das Titelblatt nennt ihn zwar als Drucker und Verleger, nicht aber als Autor. Gewissheit erbringt dann ein Blick in das Vorwort. Dieses schließt mit einer präzisen Datumsangabe: »Frankfurt am Main, Kalenden des März 1614«11. Die Arbeit an dem Buch wurde also bereits am 1. März 1614 abgeschlossen, fast ein Jahrhundert bevor es Kohles in Altdorf neu auflegte. Für einen geübten Fahnder ist es nicht schwer, auf der Website der Bayerischen Staatsbibliothek eine elektronische Version der Originalfassung von 1614 zu finden12. Auch hier fehlt die Angabe eines Autors. Genannt werden wiederum nur Druckerei und Verleger: Gedruckt wurde die Erstausgabe in Frankfurt am Main von der Druckerei der Witwe des Matthias Becker, als Verleger fungierte ein gewisser 6 Die Erträge sind inzwischen erschienen: von Mayenburg, Strafrechtliche Verfolgung von Kindern und Jugendlichen. Feuerbachs Bayerisches Strafgesetzbuch von 1813 vor dem Hintergrund der gemeinrechtlichen Tradition, in: A. Koch u. a. (Hg.), Feuerbachs bayerisches Strafgesetzbuch. Die Geburt liberalen, modernen und rationalen Strafrechts, Tübingen 2014, S. 323–352. 7 Gschwend, Geschichte (Fn.5), S. 144. 8 Gschwend, Geschichte (Fn.5), S. 144, Fn. 160. Zitiert wird hier: Anhang I, Nr. 7. 9 Zu Leben und Werk: Lengenfelder, Ex Officina Hesseliana. Beitrag zur Geschichte des Buchdrucks an der vormals nürnbergischen Universität Altdorf, Nürnberg 1963, S. 41–44; Reske, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet, 2. Auflage, Wiesbaden 2007, S. 9f. 10 o. V., Kurze Geschichte der Altdorfischen Buchdruckerei, in: o. V., Museum Noricum oder Sammlung auserlesener kleiner Schrifften, Abhandlungen und Nachrichten aus allen Theilen der Gelahrtheit vornemlich der Nürnbergischen Geschichte, Altdorf (Verlag Lorenz Schüpfel) 1759 (VD18 10593101), S. 25–32, hier: S. 31. 11 Anhang I, Nr. 7, Bl. A.4: Francofurti ad Mœnum, Calend. Martij, Anno MDCIV. 12 URL: [http://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11201260-0], zuletzt besucht am 27. 3. 2020.

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Peter Mauß, der sich selbst in der latinisierten Verkleinerungsform meist als Petrus Musculus bezeichnete. An diesem Punkt hätte ich die Gelegenheit gehabt, die Sache auf sich beruhen zu lassen: Der Kollege ist überführt, vor dem Zitat nicht sauber recherchiert zu haben. Doch irgendwie ließ ich die Gelegenheit, mich anderen Problemen zuzuwenden, verstreichen und beschloss, mir diesen anonymen Kommentar näher anzusehen. Denn letztlich spielt es eben doch eine Rolle, ob die von Gschwend angesprochene liberalere Haltung zum Jugendstrafrecht aus dem 16. oder aus dem 17. Jahrhundert stammt und wo sie ihren Ausgangspunkt hat. Außerdem fordert die Anonymität der Schrift geradezu dazu auf, ihr Geheimnis zu entschlüsseln und die Spur des Autors aufzunehmen. Wir befinden uns im Zeitalter des Humanismus, einer Epoche oft eitler Gelehrsamkeit. Warum machte sich ein Autor die Mühe, einen Kommentar zu verfassen und floh dann in die Anonymität13?

1.

Erste Verdächtige: Peter Mauß, Ludwig Gilhausen, Justin Gobler

Fehlen Tatverdächtige, muss sich der Ermittler mit den Personen beschäftigen, die er zur Verfügung hat. War etwa der Verleger Peter Mauß auch der Autor des Kommentars? Die biographischen Datenbanken und andere Standardhilfsmittel enthalten kaum Informationen über ihn. Ein gleichnamiger gegenreformatorischer Eiferer aus dem nahegelegenen Amöneburg kann als Tatverdächtiger ausgeschlossen werden14. Der Jesuit stammte zwar aus der Gegend, hatte aber Theologie studiert und keinerlei juristische Ausbildung und Ambitionen. Sieht man sich die von unserem Mauß zwischen 1609 und 1617 verlegten Werke näher an, so stellt man fest, dass neben Büchern aus anderen Bereichen der Wissenschaft auffällig viele dem Bereich der juristischen Fachliteratur angehören15. Und 13 Das weite Thema Autorschaft und Anonymität im Humanismus kann hier nicht vertieft werden. Der nach seinem Titel auch die Rechtsgeschichte einschließende Sammelband St. Papst (Hg.), Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit, Berlin / New York 2011, spart das 16. und 17. Jahrhundert nahezu vollständig aus. Einzelheiten bei: S. Vogel, Kulturtransfer in der frühen Neuzeit. Die Vorworte der Lyoner Drucke des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1999, S. 66–70; zur Funktion von Anonymität in der Romanliteratur: Schnyder, Der deutsche Prosaroman des 15. und 16. Jahrhunderts. Ein Problemfeld, eine Tagung und der Versuch einer Bilanz, in: Ders. / A. Schwarz, Eulenspiegel trifft Melusine. Der frühneuhochdeutsche Prosaroman im Licht neuer Forschungen und Methoden, Amsterdam / New York 2010, S. 11–39, hier: S. 17f. 14 Der Pfarrer von Amöneburg und Stiftsdechant lebte von 1589 bis 1632. Eine Kurzbiographie findet sich bei: Jendorff, Reformatio catholica. Gesellschaftliche Handlungsspielräume kirchlichen Wandels im Erzstift Mainz 1514–1630. Münster 2000, S. 198. 15 Als Auswahl zu nennen sind (in chronologischer Reihenfolge): Detlev Langenbeck, In Leges Aliquot Perdifficiles, & nondum satis intellectas, novae annotationes, Frankfurt/M. (Verlag

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beim Durchmustern dieser Werke fällt vor allem ein Aspekt auf, der zu einem weiteren Tatverdächtigen unseres anonymen Kommentars führt: Ebenfalls 1614 erschien nämlich bei Musculus in zweiter Auflage ein Buch des Rechtsgelehrten Ludwig Gilhausen, der Arbor Iudiciaria Criminalis, der »Strafrechtsbaum«16. Gilhausen, über dessen Biographie wir nicht viel wissen17, wohnte wohl bereits vor seinem Studium in Marburg und erwarb dort 1595 einen juristischen Doktortitel18. Sicher ist, dass er anschließend einige Zeit ohne feste Anstellung als Praktiker gearbeitet hat. Da er die Erstausgabe seines Arbor Criminalis 1606 dem hessischen Landgrafen Ludwig dedizierte und Lich als Wohnort angab19, vermutet die Literatur, dass er Anfang des 17. Jahrhunderts wohl in den Diensten der Grafen zu Solms stand20. Wann er verstorben ist, liegt im Dunkeln21: Während sein Tod z. T. auf die Zeit vor 1614 datiert wird, vermuten andere einen Zeitraum

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Petrus Musculus und Rupert Pistorius, Druck Matthias Becker) 1609 (VD 17: 3:004510H); Jacobus Concenatius, Quaestionum iuris singularium libri quatuor, Frankfurt/M. (Verlag Petrus Musculus & Pistorius, Druck Matthias Becker) 1610 (VD17 1:013076Q); Ludwig Gilhausen, Viridarium Iuridicum etc., Frankfurt/M. (Verlag Petrus Musculus und Rupert Pistorius, Druck: Matthias Becker) 1610 (VD17 1:008120 L); Der Graveschafft Solms Und Herrschafften Mintzenberg/ Wildenfels und Sonnenwaldt/ [et]c. Gericht und Landt-Ordnung. etc., Frankfurt/M. (Verlag Peter Mauss und Ruprecht Becker, Druck Johann Bringer) 1612 (VD17 23:627970B); Alderano Mascardi, Communes Conclusiones, Ad Generalem Quorumcunque Statutorum Interpretationem Accommodatae etc., Frankfurt/M. (Verlag Petrus Musculus, Druck Johann Bringer) 1615 (VD17 23:305671W). Ludwig Gilhausen, Arbor Iudiciaria Criminalis, In qua tam delictorum genera, quam Inquisitionum & Accustationum, uti etiam Defensionum, Judiciorum & Poenarum Materia & Formulae dilucide arguteque declarantur, tractantur, explicantur & continentur [..] Editio Secunda recognita et ab innumeris paßim mendis vindicata […], Frankfurt/M. (Verlag Petrus Musculus, Druck Witwe Matthias Beckers) 1614 (VD17 1:060079R). Die nach wie vor umfangreichsten biographischen Angaben finden sich bei: Herrmann Müller, Gilhausen, Ludwig, in: Allgemeine Deutsche Biographie 9 (1879), S. 171–173; außerdem: Gehrke, Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur Deutschlands vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1974, S. 48; Stintzing, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, Erste Abtheilung, München / Leipzig 1880, S. 737; O. A. Walther, Die Literatur des gemeinen, ordentlichen Civil-Prozesses und seine Bearbeiter bis auf die Zeiten des jüngsten Reichsabschieds […], Nordhausen 1865, § 152, S. 64. Als Termin der Doktorprüfung nennt Johann Philipp Kuchenbecker, Vita Hermanni Vulteji, JCti. Ex Monumentis Fide Dignis, ut Plurimum Ineditis Deprompta […]. Gießen (Druck Eberhard Henrich Lammers) 1731 (VD18 14002450), S. 94f. den 14. August 1595. Ludwig Gilhausen, Arbor Judiciaria Criminalis, Ivxta Præcpivarvm Totivs Germaniæ Curiarum […], Frankfurt/M. (Verlag Conrad Nebenius, Druck Wolfgang Richter) 1606 (VD17 23:269478Y), Widmung, Bl. (:) 2–3. Johann Christoph Koch, Hals- oder Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Carls V. und des H. Röm. Reichs. Nach der Originalausgabe vom J. 1533 auf das genaueste abgedruckt und mit der zweiten und dritten Ausgabe v. J. 1533 und 1534 verglichen […], zuerst Gießen (Verlag Johann Philipp Krieger) 1769 (VD18 10541284), hier: S. 87, S. 91f., Fn. 4. Auffällig ist, dass Mauß nicht nur die Werke Gilhausens, sondern 1610 auch eine Ausgabe der Solmsschen Landesordnung druckte, vgl. den Nachweis oben, Fn. 15. Koch, Gerichtsordnung (Fn.20), S. 92, Fn. 4 vermutet, dass er bereits vor 1614 verstorben ist.

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nach 164222. Sein Arbor Iudiciaria Criminalis ist eine durchaus beachtliche Leistung der frühen deutschen Strafrechtswissenschaft. Dabei werden die behandelten Elemente des Strafrechts nach dem Vorbild eines Baumes geordnet. Als Boden des Strafrechts definierte Gilhausen das merum imperium der höchsten Strafgewalt, als Wurzeln die aus den Delikten hervorgehenden Strafansprüche, gefolgt von den weiteren Themen des Straf- und Strafprozessrechts in einer aus heutiger Sicht etwas ungewöhnlichen Subsumtion als Äste, Zweige, Blätter und Früchte. Nachdem Gilhausen 1604 nach diesem Muster bereits das Zivilrecht behandelt hatte23, veröffentlichte er 1606 eben jenen Strafrechtsbaum24. Das Buch war gerade in der Praxis sehr gefragt, so dass bereits 1614 eine zweite Auflage erschien. Im Gegensatz zu den zeitgenössischen Praktikern, die dem Buch offenbar viel abgewinnen konnten, galt Gilhausen für einige Rechtshistoriker des 19. Jahrhunderts als eher unbedeutender Vertreter des Strafrechtswissenschaft. Karl Georg von Wächter (1797–1880) etwa urteilte in seiner 1844 erschienenen Abhandlung über das Deutsche Gemeine Recht sehr negativ über ihn25. Bereits die Organisation des Wissens im Stil eines Baumes fand er »abgeschmackt«26. Die Artikel der Carolina erschienen darin als Fremdkörper, als »…grosse unvermittelte Klösse, welche in einer aus dem römischen Rechte und den italienischen Auctoritäten gebrauten Brühe schwimmen«27. Und damit nicht genug: Überall dort, wo die Carolina tatsächlich zu Wort käme, plagiiere Gilhausen »auf die unverschämteste Weise« bei einem anderen Autor, nämlich dem Marburger Gelehrten Nikolaus Vigel (1529–1600)28. Glaubt man Wächter, so hat Gilhausen nach dem Erfolg seines Zivilrechtsbaums der Versuchung nicht widerstehen können, schnell einen Strafrechtsbaum auf den Markt geworfen und dabei rücksichtslos bei Vigel abgeschrieben. Ein positiveres Urteil über Gilhausens Leistung fällte dagegen einer der ersten deutschen Strafrechtshistoriker, der Altdorfer Professor Julius Friedrich Malblank (1752–1828). Obgleich das Buch mit »ganz überflüßigen Romischen Floskeln ausgeziert« sei, enthalte es »viel 22 Müller, Gilhausen (Fn.17), mit der zweifelhaften Begründung, dass Gilhausen noch das Vorwort in der Auflage 1642 seines Arbor Criminalis autorisiert habe. Das dort abgedruckte Vorwort ist aber nur eine wörtliche Wiedergabe der auf 1614 datierten Vorrede zur Erstauflage. 23 Ludwig Gilhausen, Arbor Iudiciaria. Secundum Augustissimum Camerale Ius atq[ue] Saxonicum, multaq[ue] alia provincialia Iudicia erecta & directa. […] Frankfurt (Verlag Conrad Nebenius, Lich, Druck Wolfgang Richter) 1604 (VD17 23:269470N). 24 Ludwig Gilhausen, Arbor Judiciaria Criminalis (Fn.19). 25 von Wächter, Gemeines Recht Deutschlands insbesondere Gemeines Deutsches Strafrecht. Eine Abhandlung, Leipzig 1844, S. 89–91. 26 von Wächter, Gemeines Recht (Fn.25), S. 90. 27 von Wächter, Gemeines Recht (Fn.25), S. 90. 28 von Wächter, Gemeines Recht (Fn.25), S. 90f.

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brauchbares«. Vor allem seien die dort vertretenen Lehren sehr »gelind«: Gilhausen schließe die Todesstrafe bei Ersttätern schweren Diebstahls aus, schränke die Folter als »gefährliches Mittel« so weit wie möglich ein und nenne auch »schreckliche Beispiele« von unschuldig Gefolterten und Hingerichteten29. Interessant in unserem Zusammenhang ist nun ein genauerer Blick auf den Titel der 1614 erschienenen Zweitauflage des Arbor Criminalis Iudiciaria. Hier heißt es (in deutscher Übersetzung): »Beigefügt sind wiederum das Strafgesetzbuch Karls V. […] mit nützlichen Anmerkungen illustriert«30. Damit scheint die Sache klar: Unser anonymer Kommentar ist ein Anhang zu Gilhausens Strafrechtsbaum und Gilhausen damit wahrscheinlich auch sein Autor31. Doch bei näherer Betrachtung ist die Titelangabe rätselhaft: Unverständlich ist die Wahl des Begriffs »denuo« (erneut), denn in der ersten Auflage des Arbor Criminalis fehlt sowohl ein entsprechender Hinweis auf dem Titelblatt, als auch der angekündigte Anhang32. Merkwürdig ist vor allem, dass bei dem sowohl an den Arbor Criminalis angehängt als auch separat verkauften Carolina-Kommentar kein Autor genannt wird. Trotzdem hat man in Teilen der zeitgenössischen strafrechtlichen Literatur und auch noch im 20. Jahrhundert aus dem engen Zusammenhang der Texte schlicht Gilhausen als Autor gefolgert33.

29 Julius Friedrich Malblank, Geschichte der Peinlichen Gerichts=Ordnung Kaiser Karls V. von ihrer Entstehung und ihren weitern Schicksalen bis auf unsere Zeit. Nürnberg (Verlag Ernst Christoph Grattenauer) 1783 (VD18 14485729), ND Goldbach 1998, S. 221. Malblanks Auffassung übernahm der sächsische Rechtslehrer Karl August Tittmann (1775–1834), der das Buch als »für die damalige Zeit sehr nützlich« anerkannte: Tittmann, Geschichte der deutschen Strafgesetze, Leipzig 1832, S. 291. 30 Ludwig Gilhausen, Arbor Iudiciaria Criminalis, Anhang Nr. b), Titel: »ADDITÆ SVNT DENVO CRIMINALES CONSTITVTIONES CArolina cum iure communi collatæ notisque perquam utilibus illustratæ«. 31 Koch, Gerichtsordnung (Fn.20), S. 87 berichtet, dass er den Kommentar nahezu nur als separates Buch gefunden habe. In der Mehrzahl der hier untersuchten Bibliotheksexemplare ist der Carolina-Kommentar allerdings an den Arbor Criminalis Judiciaria angebunden, vgl. folgende Auswahl: Bayerische Staatsbibliothek 2 J.pract.54 als Beiband 2, Universitätsbibliothek Augsburg 2 Rw 437# (Beibd.); Universitätsbibliothek Tübingen Hh 10.2, Johannes A. Lasco-Bibliothek Emden Jur. 2° 0129 M, Universitäts- und Landesbibliothek Halle/S Ko 1539 (3), Universitätsbibliothek Kiel, R 7494, Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel 35.5 Jur. 2°. 32 Diesen Umstand bemerkte bereits Koch, Gerichtsordnung (Fn.20), S .86f. 33 Zuletzt: Rüping, Die Carolina in der strafrechtlichen Kommentarliteratur. Zum Verhältnis von Gesetz und Wissenschaft im gemeinen deutschen Strafrecht, in: Landau / Schroeder (Hg.), Strafrecht (Fn.3), S. 161–176, hier: S. 163. Auch sein Zeitgenosse Georg Rem nennt in der zweiten Auflage seines eigenen Kommentars Gilhausen als Autor: Georg Rem, Nemesis Karulina, Divi Karuli V. Imp. Caes. PP. Augusti, invictiss. & gloriosiss. Principis, Sacriq. Rom. Imperii Ordinum, Leges rerum capitalium […], Frankfurt/M. (ohne Angabe des Druckers) 1618 (VD 17 1:011545F), S. 39, unter Fn.f: Rectè monet hîc Lud. Gilhus. l.C. iudicem denegare posse defensiones in criminalib. quando videt illas peti cavillandi causâ […]. Das Zitat bezieht sich auf: Anhang I, Nr. 1, S. 21 re.Sp.

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Doch es finden sich bis hin zu Roderich Stintzing Ende des 19. Jahrhunderts auch Stimmen, die den Verleger Mauß als Urheber des Kommentars nennen34. Bereits dessen Zeitgenosse Melchior Goldast (1578–1635), der vielleicht aus erster Hand über die Zusammenhänge informiert war, verweist auf Mauß35. Auch Johann Christoph Koch (1732–1808), der sich 1769 am ausführlichsten mit der Verfasserfrage beschäftigt hat, schließt zunächst den in der älteren Literatur gelegentlich genannten Justin Gobler (1504–1567)36 aus und identifiziert dann Mauß als Verfasser37. Als Grund nennt er den angeblichen Qualitätsunterschied zwischen Gilhausens Arbeiten und dem Kommentar38. Er verweist weiter darauf, dass in dem anonymen Kommentar immer wieder Gilhausens Arbor Criminalis unter Nennung des Autors zitiert werde. Hätte Gilhausen den Kommentar als Teil seines Strafrechtsbaums konzipiert, hätte er sich wohl nicht in dieser Ausführlichkeit selbst zitiert39. Außerdem hebt Koch hervor, dass Gilhausen im Jahr 1614 wohl bereits verstorben gewesen sei40. Auf den ersten Blick scheint Kochs Argumentation überzeugend, auch wenn sie in wichtigen Punkten eher auf Vermutungen als auf handfesten Beweisen ruht. So muss er selbst einräumen, dass sich das Todesdatum Gilhausens nicht belegen lasse, weil die Sterberegister seines letzten Wohnorts Lich verlorengegangen seien41. Hinzu kommt die Möglichkeit, dass Gilhausen die Arbeit an dem Kommentar bereits vor seinem Tod abgeschlossen hatte.

2.

Der Kommentar als Plagiat

Ein weiterer Aspekt ist allerdings geeignet, den Verdacht gegen Gilhausen wiederum zu verstärken, nämlich dessen fragwürdiger Ruf als Plagiator42. Sieht man sich nämlich den Inhalt unserer Kommentierung näher an, so bestätigt sich die Vermutung, dass auch hier nicht mit sauberen Mitteln gearbeitet wurde. Eine vergleichende Analyse mit den wenigen vor 1614 erschienenen Carolina-Kom34 Stintzing, Geschichte I (Fn.17), S. 639; Gustav Seib, Beitrag zur Geschichte der Quellen des deutschen Strafrechts. Das Correctorium zur Bamberger Halsgerichtsordnung, in: Archiv des Criminalrechts, NF 26 (1845), S. 173–213, hier: S. 184, Fn. 63. 35 Melchior Goldast, Rechtliches Bedencken/ Von Confiscation der Zauberer und Hexen-Güther […], Bremen (Verlag Peter Köhler, Druck Arendt Wessels), 1661 (VD17 1:001157C), S. 86. 36 Koch, Gerichtsordnung (Fn.20), S. 63–68 und S. 85–96. Das Werk erschien bis 1824 in insgesamt acht Auflagen. 37 Koch, Gerichtsordnung (Fn.20), S. 91. 38 Koch, Gerichtsordnung (Fn.20), S. 90. 39 Koch, Gerichtsordnung (Fn.20), S. 92–94. 40 Koch, Gerichtsordnung (Fn.20), S. 92, Fn. 4. 41 Koch, Gerichtsordnung (Fn.20), S. 92, Fn. 4. 42 Oben, Fn. 28.

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mentaren führt vielmehr zu dem klaren Schluss, dass unser anonymes Werk in nicht unerheblichem Umfang Übernahmen aus der älteren Kommentarliteratur enthält. Vor allem ein Buch tritt dabei in den Fokus, nämlich der 1594 erstmals erschienene Kommentar »Nemesis Karulina«, vielleicht etwas zu salopp übersetzt mit »Karls Rache«43. Im Gegensatz zu Gilhausen hatte sich der Verfasser der Nemesis, Georg Rem (auch: Remus, 1561–1625) durch seine gründlichen, auch philologisch fundierten Rechtskenntnisse einen guten Ruf erarbeitet, der sogar bis ins gestrenge 19. Jahrhundert hielt44. Sein Buch richtete sich an Studierende und juristische Laien und folgte in seiner Anlage der Struktur mittelalterlicher Kommentierungen. Im Zentrum steht der Gesetzestext, den Rem allerdings nicht im deutschen Original, sondern in einer recht freien lateinischen Übertragung in die Mitte des Papiers setzt. Seine Anmerkungen erscheinen dann als ebenfalls in Latein formulierte Marginalglossen. Gemessen an der reichen Textfülle des zeitgenössischen gemeinen Rechts ist die Schrift insgesamt recht schmal, sie umfasst gerade einmal 130 Druckseiten45. Auch sind die Glossen keinesfalls vollständig, viele Artikel bleiben unkommentiert. Vergleicht man nun Rems Karulina mit dem anonymen Kommentar von 1614, so wird man schnell auf breitflächige Übernahmen aufmerksam. Als Beispiel soll hier die Kommentierung zu Art. 164 CCC »Von jungen Dieben« dienen (vgl. Anhang II). Mit der Ausnahme eines Wortdrehers beim Abschreiben hat der anonyme Autor im ersten Absatz seiner Kommentierung die Randbemerkung des Rem vollständig übernommen. Dass Rem mit dem Abdruck größerer Passagen seines Texts einverstanden oder gar der Autor des anonymen Kommentars gewesen sein könnte, lässt sich sicher ausschließen, denn als dessen Nemesis Karulina 1618 erneut aufgelegt wurde, ließ er seinem Ärger über den »Plagiator« freien Lauf: »[Ich habe die Carolina] mit meinen Anmerkungen (versehen), die größtenteils vor Kurzem irgend ein schrecklicher Kerl [griechisch: ὁ δεῖνα – ho deina] herauszugeben und zu verschachern sich erdreistet hat46«. Wen er damit meinte, verschwieg Rem vornehm, doch es besteht kein Zweifel, dass nur unser Kommentator von 1614 gemeint gewesen sein konnte. Dessen Charakterisierung als Plagiat und die

43 Georg Rem, Nemesis Karvlina. D. Karvli V. Imp. PP. Avg. Invictiss. Sacriq. Imperii Romani Ordinvm Leges capitales […], Herborn (Verlag Christopher Corvin) 1594 (VD16 D 1103). 44 Stintzing, Geschichte I (Fn.17), S. 637 möchte Rem und seinem Werk »eine gewisse Anerkennung nicht versagen«. 45 Im Quartformat der Auflage Frankfurt 1618. Die im Oktavformat gesetzte Erstausgabe umfasste einschließlich Vorwort ca. 200 Seiten. 46 Georg Rem, Nemesis Karulina (Fn.33), Bl. ):( 2 ve.: […] & Notis meis (quas pro suis maximam partem ὁ δεῖνα pronuper ausus fuit edere vendicareque;)[…].

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Geringschätzung ihres Autors als »Plagiarius« beginnt daher bereits im 17. Jahrhundert und hielt sich seither bis heute47. Unterstützt wird diese Bewertung durch die Tatsache, dass Rem nicht die einzige Vorlage ist, von der unser Anonymus abgeschrieben hat. Ein Textvergleich zeigt nämlich, dass noch ein weiteres Werk herangezogen wurde, nämlich der 1583 erstmals erschienene Carolina-Kommentar des bereits erwähnten Marburger Professors Nikolaus Vigel (1529–1600)48. Dies war wohl auch der Grund dafür, dass man den Verfasser bereits im 18. Jahrhundert als einen Schüler oder jedenfalls Imitator des Vigel identifizierte49. Allerdings ist unser Kommentar damit nicht eine schlichte 1:1-Kopie aus einem anderen Text, sondern bedient sich aus mindestens zwei Vorlagen. Das ist für die Beurteilung nicht ganz unwichtig, denn ein solcher Zusammenschnitt setzt immerhin ein Mindestmaß an Kreativität voraus. Der Verfasser musste aus seinen Vorlagen jeweils die aus seiner Sicht geeigneteren Texte wählen. Darüber hinaus finden sich im Kommentar von 1614 auch Passagen, für die auch bei gründlichem Vergleich keine Übernahme aus einem anderen zeitgenössischen Werk nachgewiesen werden konnte. Es ist also anzunehmen, dass der Autor jedenfalls teilweise auch eine eigenständige Kommentarleistung erbracht hat. Insgesamt ist der Text durchaus reichhaltig mit Querverweisen in die Literatur des Ius Commune ausgestattet, bis hin zu Autoren der Schule von Salamanca (vor allem Diego de Covarrubias) und der spätmittelalterlichen italienischen Spezialliteratur. Wer konnte diese Aufgabe bewältigt haben?

IV.

Der Kontext

1.

Die Spur nach Gelnhausen – Johann Eitel Fettmilch als Verfasser?

An dieser Stelle wäre erneut eine gute Gelegenheit, die Suche abzubrechen. Mit Peter Mauß und Ludwig Gilhausen stehen zwei hinreichend plausible Tatverdächtige bereit. Einer von ihnen wird es gewesen sein. Doch eine weitere Frage ist noch nicht beantwortet: Warum wollte der Autor des Kommentars nicht erkannt 47 Seib, Beitrag (Fn.34), S. 184, Fn. 63; ähnlich bereits: Tittmann, Geschichte (Fn.29), S. 288. 48 Nicolaus Vigelius, Constitvtiones Carolinæ Pvblicorum Iudiciorum, in ordinem redactæ, cumque Iure communi collatæ, etc. Basel (Verlag Oporiana) 1583 (VD 16 D 1100). Weitere Auflagen erschienen in Basel 1590, 1603 und 1613. Als Beispiel für eine Übernahme lässt sich nennen der nur mit kleinsten Änderungen übertragene erste Absatz der Kommentierung zu Art. 61 CCC, vgl. Anhang I, Nr. 1, S. 26 und Vigel, a. a. O., S. 163: Si apparet reum ob idonea indicia tortum esse, quamuis postea innocens fuerit inuentus, Iudex tamen est excusatus. 49 Johannes Paul Kreß, Commentatio Succincta in Constitvtionem Criminalem Caroli V. Imperatoris […], Hannover (Verlag Nicolas Foerster) 1721 (VD 18 11535342), Praefatio, § 4: Discipulum VIGELII fuisse, vel certe imitatorem, facile constabit evolventi.

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werden? Einen Ermittlungsansatz zur Beantwortung dieser Frage habe ich bislang noch nicht verfolgt: Die historische Kontextualisierung. Blickt man auf die Geschichte Frankfurts im Jahr 1614, so ist dies nicht irgendein Jahr, sondern das Datum des größten Aufruhrs der Stadtgeschichte50. Bereits seit Jahren war das Verhältnis zwischen dem Stadtpatriziat und den Zünften nicht das Beste. Die Unzufriedenheit der Zünfte mit der Verwaltung der Stadt wuchs, als in den Jahren zuvor diverse Skandale auf Misswirtschaft und Korruption im regierenden Stadtadel verwiesen. Unter Führung des Lebkuchenbäckers Vinzenz Fettmilch besetzten die wütenden Massen im Jahr 1614 das Rathaus und erklärten den Rat für abgesetzt. In der Folge kam es zu wilden Judenpogromen. Der Aufstand wurde schließlich mit Hilfe des Reichs und benachbarter Territorien niedergeschlagen, der Anführer Vinzenz Fettmilch im Jahr 1616 auf dem Frankfurter Roßmarkt öffentlich enthauptet. Sucht man nach Zusammenhängen zwischen diesen Ereignissen und unserem Carolina-Kommentar, so liefert dessen Vorwort erste Ansatzpunkte. Obgleich er ursprünglich als Anhang zu Gilhausens Arbor konzipiert war, erhielt er nämlich ein eigenes Geleitwort, das – wie erwähnt – auf den 1. März 1614 datiert ist, also kurz vor dem Höhepunkt der Unruhen entstand. Interessant ist nun ein Blick auf die Widmung. »Den Herren Schultheiß, Konsuln und Senatoren der berühmten Reichsstadt Gelnhausen etc.« heißt es dort51. Der anonyme Autor widmete sein Werk also den Stadtvätern der benachbarten Stadt Gelnhausen. Ein wenig Recherche und es tut sich die Möglichkeit einer sensationellen Wendung des Falls auf: Ist es möglich, dass unser Plagiat von niemand anderem stammt als Johann Eitel Fettmilch52, dem Bruder des Rädelsführers Vinzenz? Johann Fettmilch war ausgebildeter Jurist, hatte sich 1611 allerdings vergeblich in Frankfurt auf eine Ratsschreiberstelle beworben. Im Juli 1614 erwarb er das Frankfurter Bürgerrecht und wurde im Kontext der Revolution Schöffe im Rat. Seine Nähe zum Aufstand wurde ihm nach dessen Niederschlagung zum Verhängnis. Im Oktober 1614 verließ er die Stadt und ging nach Gelnhausen, wo er in den Dienst lokaler Edelleute trat, also genau derjenigen Personengruppe, an die

50 Zur sog. »Fettmilch-Revolte« vgl. Ch. R. Friedrichs, Politics or Pogrom? The Fettmilch Uprising in German and Jewish History, in: Central European History 19 (1986), S. 186–228; R. Koch, 1612–1616. Der Fettmilchaufstand. Sozialer Sprengstoff in der Bürgerschaft, in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 63 (1997), S. 59–79; M. Meyn, Die Reichsstadt Frankfurt vor dem Bürgeraufstand von 1612 bis 1614. Struktur und Krise. Frankfurt/M. 1980. 51 Anhang I, Nr. 1, Bl. ):( 2: CLARISSIMIS, AMPLISSIMIS, SAPIENTIA, VIRTVTE ET DOCTRINA PRÆSTANTISSIMIS VIRIS, DN. SCVLTETO, CONSVlibus & Senatoribus inclytæ & Imperialis Ciuitatis Gelhusanæ, Dominis suis perpetua obseruantia colendis. 52 Biographisches über Johann Eitel Fettmilch bei: Georg Ludwig Kriegk, Geschichte von Frankfurt am Main in ausgewählten Darstellungen. Nach Urkunden und Acten, Frankfurt/M. 1871, S. 251–253.

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das Vorwort des anonymen Kommentars gerichtet war. 1616 wurde er verhaftet und aus dem Reich verbannt. Danach verliert sich seine Spur. Ist es denkbar, dass Johann Eitel Fettmilch sich mit der Dedikation eines von ihm zusammengestellten Carolina-Kommentars Zugang zum Gelnhausener Adel verschaffen wollte? Und dass Peter Mauß sich angesichts der politischen Umstände in Frankfurt nicht getraute, den Namen Fettmilch auf das Titelblatt des Drucks zu setzen? Das wäre in der Tat eine schöne Pointe und ein runder Abschluss dieser Untersuchung. Warum nicht an dieser Stelle die Recherche einstellen und das Urteil sprechen? Doch so schön die Hypothese ist, sie beruht letztlich eben doch nur auf Vermutungen.

2.

Die Karriere des Peter Mauß

Insofern müssen auch alle anderen Spuren weiterverfolgt werden und plötzlich läuft doch alles auf Peter Mauß hinaus. Ein wenig vorschnell hatte ich ihm als schlichtem Verleger nicht zugetraut, den Kommentar verfasst zu haben. Mit Hilfe intensiverer Recherchen über sein Leben lässt sich sein Werdegang präziser rekonstruieren und nun erscheint er in einem ganz anderen Licht. Als Geburtsstadt ist Hanau gesichert53. Ein Peter Mauß aus Hanau lässt sich 1576 an der Universität Leipzig nachweisen54. Ob er dort Jura studierte, sagt die Matrikel leider nicht. Es ist aber wahrscheinlich, denn in den Frankfurter Archivquellen erscheint er erstmals im Jahr 1585, und zwar in der Funktion des Prokurators, also als Prozessanwalt55. Im selben Jahr heiratete er erstmals (Lucretia Winner), 1598 ein zweites Mal (Katharina Kistner)56. Ob Mauß als Jurist, durch seine Eheverbindungen oder mit Geschäftsideen reich wurde, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Jedenfalls weisen die Frankfurter Steuerbücher ihn bereits 1587 mit einem Vermögen von immerhin 850 Gulden nach, später steigerte er es auf insgesamt 2.500 Gulden57. Damit war er sicher kein armer Mann, verglichen mit anderen Frankfurter Juristen aber auch nicht übertrieben vermögend. Anfang 53 A. Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte. Dritter Band. Frankfurt/M. 1921, S. 87. 54 Die Leipziger Matrikel führt auf, dass ein Petrus Maus »Hanoe¯n.« im Sommersemester 1576 die Inskriptionsgebühr in Höhe von 6 gr. entrichtete: G. Erler (Hg.), Die iüngere Matrikel der Universität Leipzig 1559–1809. Als Personen- und Ortsregister bearbeitet und durch Nachträge aus der Promotionsliste ergänzt. I. Band. Die Immatrikulationen vom Wintersemester 1559 bis zum Sommersemester 1634. Leipzig 1909, S. 283. 55 Eintrag »Maus, Peter«, in: Benzing, Die deutschen Verleger des 16. und 17. Jahrhunderts. Eine Neubearbeitung, in: Archiv für die Geschichte des Buchwesens 18 (1977), Sp. 1077–1322, hier: Sp. 1211. 56 Benzing, Verleger (Fn.55), Sp. 1211. 57 Bothe, Frankfurts wirtschaftlich-soziale Entwicklung vor dem dreissigjährigen Kriege und der Fettmilchaufstand (1612–1616). Bd. 2. Frankfurt/M. 1920, S. 105.

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des 17. Jahrhundert schien er sich also auf einem durchaus erfolgversprechenden Weg befunden zu haben. Allerdings erlitt seine Karriere 1607 einen entscheidenden Rückschlag: Mauß wurde in flagranti beim Ehebruch mit dem Hausmädchen Anna Catharina überführt und zur Zahlung eines Schmachguldens in Höhe von 50 Gulden verurteilt, einer besonders entehrenden Form der Geldstrafe58. Viel schlimmer war aber, dass er sein öffentliches Amt als Prokurator verlieren sollte. Im Frankfurter Stadtarchiv sind die Gnadengesuche überliefert, die Mauß selbst59, aber auch seine Ehefrau und andere Fürsprecher an den Rat richteten60. Mauß bot dabei an, anstelle des entehrenden Schmachguldens den doppelten Betrag für wohltätige Zwecke zu spenden. Die Hoffnungen blieben vergeblich, denn im Dezember 1607 wurden die Gnadengesuche des Prokurators zurückgewiesen61. Ausweislich späterer Quellen arbeitete Mauß immerhin als Notar weiter62, dennoch musste er sich möglichst schnell ein neues Geschäftsmodell ausdenken. Und dieses suchte er im Verlagswesen. Wann er hier den Einstieg fand, ist schwer zu rekonstruieren. Möglicherweise hatte er durch eine Kombination von Geschäftsübernahmen bereits seit Längerem am Aufbau eines eigenen Verlags gearbeitet: So wird überliefert, er habe nach dem Tod seines Schwagers, des Frankfurter Verlegers Peter Fischer im Jahr 1595 dessen Geschäfte fortgeführt63. Fischer war zuvor Teilhaber eines der großen Frankfurter Verlagskonzerne gewesen, das dem schillernden Unternehmer Siegmund Feierabend gehörte. Mit teilweise rabiaten Methoden hatte dieser sich ein Verlagsimperium aufgebaut und vor allem juristische Fachliteratur nach ganz Europa vertrieben. Im Umkreis dessen Sohnes Karl Siegmund Feierabend erscheint nun auch Mauß: Bereits 1592 ist ein Geschäft auf der Frankfurter Buchmesse belegt, aus dem Mauß Karl Siegmund Feierabend 7 Gulden schuldete64. Ihm diente der Jurist Mauß wohl auch für längere Zeit als Rechtsbeistand65. Teilweise wird daher vermutet, dass Peter Mauß nach dem Tod Karl Siegmund Feyerabends 1609 die Reste des Fey58 Hierzu auch: A. Johann, Kontrolle mit Konsens. Sozialdisziplinierung in der Reichsstadt Frankfurt am Main im 16. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2001, S. 125f. 59 Stadtarchiv Frankfurt, Bürgermeisterbuch 1607, Eintrag vom 6. 10. 1607, Bl.33v. 60 Stadtarchiv Frankfurt, Bürgermeisterbuch 1607, Eintrag vom 22. 10. 1607, Bl.37v. 61 Johann, Kontrolle (Fn.58), S. 125f. 62 Melchior Coler, Anagrammatismus Nuptialis. In Solennem Nuptiarum Festivitatem Ornatissimi Iuvenis, Ruperti Pistorii, Domini Cunradi Pistorii, Olim Praetoris Rendelani Dignissimi, Legitimi Filii Sponsi: Et Castissimae Virginis Clarae Annae, Clarissimi Viri Domini Petri Musculi, Notarii Publici In Imperiali Francofurto Consultissimi, Legitimae Filiae Sponsae etc. Frankfurt/M. (Verlag Matthias Becker) 1608 (VD17 39:127060 L). 63 Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte 3 (Fn.53), S. 87. 64 Heinrich Pallmann, Sigmund Feyerabend, sein Leben und seine geschäftlichen Verbindungen. Ein Beitrag zur Geschichte des Frankfurter Buchhandels im sechzehnten Jahrhundert. Frankfurt/M. 1881, S. 94, S. 240. 65 Pallmann, Feyerabend (Fn.64), S. 94.

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erabend-Konzerns übernommen hat66. Für dasselbe Jahr überliefern die Quellen eine weitere Firmenübernahme, die für unser Thema beinahe noch wichtiger ist: Mit seinem Gesellschafter Ruprecht Becker (lat. Pistorius) kaufte Mauß nämlich die Buchhandlung seines Offenbacher Konkurrenten Konrad Neben67 und mit ihr ausweislich der Quellen auch die Rechte an Gilhausens Arbor iudiciaria civilis et criminalis68. Ganz offensichtlich erhielt Mauß bei seinen kostspieligen Unternehmungen familiäre Unterstützung. Dafür spricht ein aufschlussreiches Dokument, das diese Zusammenhänge offenbart und auch weitere sachdienliche Hinweise für unseren Plagiatsfall liefert. Es geht um ein Hochzeitsgedicht, das anlässlich der Trauung von Peter Mauß’ Tochter Clara Anna und ihrem Bräutigam, dem Geschäftspartner des Brautvaters, Ruprecht Becker, am 2. Mai 1608 entstand69. Das Hochzeitsgedicht ist vor allem deshalb interessant für unsere Spurensuche, weil dessen Autor Melchior Coler ausgerechnet in Gelnhausen als Rektor der katholischen Schule wirkte70. Die Rolle eines Gelnhauseners als Hochzeitsredner belegt Verbindungen nach Gelnhausen und legt immerhin den Verdacht nahe, dass die Familie Mauß auch zu weiteren Persönlichkeiten dieser Stadt Beziehungen unterhielt. Ist Peter Mauß damit als Autor des Plagiats überführt? Als Prokurator war Mauß mit Sicherheit im Umgang mit der Carolina geübt und auf entsprechende Fachliteratur angewiesen. Im Geleitwort unseres Kommentars behauptet der anonyme Verfasser, das Kommentarmaterial nicht für die Publikation, sondern zunächst nur für seinen Privatgebrauch gesammelt zu haben71. Mit dem Verb »colligere« (sammeln) deutet er zumindest an, sich dabei auch fremden Materials bedient zu haben. Zweck sei es gewesen, seine Studien voranzutreiben und seine künftige Arbeit zu erleichtern, da die Gelehrten diese Materie nur selten behandelten. Viele seiner Freunde hätten ihn aufgefordert, sein Material zu ver-

66 Pallmann, Feyerabend (Fn.64), S. 94, der allerdings vorsichtig formuliert, man könne hier nur »mutmaßen«. 67 Über ihn und seine Schwierigkeiten, Zutritt zum Verlagsort Frankfurt zu erlangen: G. Richter, Konzessionspraxis und Zahl der Druckereien in Frankfurt a.M. um 1600. Zugleich ein Beitrag zur Gründungsgeschichte der Offizinen Balthasar Lipp und Wolfgang Richter, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 27 (1986), S. 131–156, hier: S. 136f. 68 Koppitz (Hg.), Die kaiserlichen Druckprivilegien im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien. Verzeichnis der Akten vom Anfang des 16. Jahrhunderts bis zum Ende des Deutschen Reichs (1806), Wiesbaden 2007, S. 389. 69 Coler, Anagrammatismus Nuptialis, (Fn.62). 70 Art. »Coler (Melchior)«, in: Christian Gottlieb Jöcher, Allgemeines Gelehrten-Lexicon […], Erster Theil, Leipzig 1750, Sp. 2009. 71 Anhang I, Nr. 1, Ad Lectorem, Bl. ):( 3: Quas vides, humanissime Lector […] annotatiunculas, collegi enim ego quidem, non vt in publicum eas edendo, iudicium omnium subirem, sed vt mihimetipsi, studiis meis consulerem […].

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öffentlichen, um auch anderen den Zugang zur Carolina zu erleichtern, wie etwa den sachkundigen Prokuratoren und Richtern72. Dass sich der Verfasser gerade 1614 zu diesem Schritt entschloss und der Verleger das Wagnis der Veröffentlichung einging, zeigt wiederum deren Geschäftstüchtigkeit: Denn auch in Gelnhausen war es zu Konflikten zwischen dem Rat und den Zünften gekommen73. Die Bürgerschaft hielt dem Rat vor, zu wenig gegen das abscheuliche Laster der Zauberei vorzugehen und die Folter zu zurückhaltend anzuwenden. Der Rat verfügte darauf im Jahr 1614, dass bei allen Strafprozessen die Vorschriften der Carolina streng zu beachten sein sollten74. Dem Verleger Mauß waren diese Zusammenhänge sicherlich nicht unbekannt und er hatte gute Gründe, in Gelnhausen einen lukrativen Absatz seines Kommentars zu vermuten. Vielleicht entschied er deshalb, ihn auch separat und nicht nur als Anhang zu Gilhausens Arbor zu publizieren. Dass er anonym bleiben wollte, kann unterschiedliche Ursachen haben: Einerseits war sein Ruf möglicherweise durch seine schmachvolle Verurteilung 1607 noch beschädigt. Aber auch das Geleitwort des Kommentars liefert Hinweise. Der Autor bekennt nämlich selbst, dass seine improvisierte Sammlung den hohen Ansprüchen der Kritik nicht gerecht werden könnte. So spricht er vom »Geknurre der Querulanten75« und bittet, das Buch nicht aufgrund der unrechtmäßigen Verleumdungen der Neider zu beurteilen, die jedes Werk guter Männer mit ihren Lästermäulern annagen wollten76. Ob diese Faktengrundlage genügt, Mauß des Plagiats zu überführen, mag man bezweifeln. Historische Beweisführungen erreichen selten dieselbe Beweiskraft wie eine DNA-Analyse. Ob tatsächlich Mauß und nicht Gilhausen oder ein Dritter diesen Kommentar zusammengestellt hat, wird wohl nie zweifelsfrei zu klären sein. Die Zusammenschau der Quellen spricht allerdings eher für Mauß.

72 Anhang I, Nr. 1, Ad Lectorem, Bl. ):( 3: […] meumque laborem in futurum leuarem in perquirendis iis, quæ sparsim de hac materia scripsere Doctores. Scriptas & collectas multi amicorum voluerunt, vt in lucem ederem, ea ducti ratione, quod & aliis in eodem studio versantibus, & præsertim procuratoribus & iudicibus, prodesse possent. […] 73 Zum Folgenden: F.W. Junghans, Versuch einer Geschichte der freien Reichsstadt Gelnhausen, in: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde NF 12 (1886), S. 103– 463, hier: S. 304–314. 74 Junghans, Versuch (Fn.73), S. 309. 75 Anhang I, Nr. 1, Ad Lectorem, Bl. ):( 3: […] hasque notulas meo vsui conscriptas, iam vero tantum obsequendi, & iuuandi studio in publicum emissas exporrecta fronte accipito, à vitilitigatorum rhonchis defendito, […]. 76 Anhang I, Nr. 1, Widmung, Bl. ):( 2: […] verum etiam vindicare ab iniuriis & calumniis maleuolorum, qui omnium bonorum virorum labores dente Theonino rodere alias impudenter solent […].

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V.

Die Zusammenstellung eines Kommentars – ein Verbrechen?

Vielleicht ist die Frage aber auch falsch gestellt und die Jagd nach dem finsteren Gauner, dem Guttenberg des 17. Jahrhunderts, vollkommen anachronistisch? Vielleicht war das Plagiieren tatsächlich gar nicht so schlimm, wie es der zornige Rem und die Literatur des 19. Jahrhunderts uns glauben machen wollen? In der Carolina selbst findet sich jedenfalls kein Paragraph, der den Raub fremden Gedankenguts unter Strafe stellte und auch in der juristischen Diskussion der Zeitgenossen wurde dieser Aspekt zunächst allenfalls am Rande thematisiert, nahm dann allerdings schnell an Bedeutung zu77. Wir haben es mit einer Epoche zu tun, die unserer eigenen in vielen Punkten sehr ähnelt: Mit der Professionalisierung des Buchdrucks seit Gutenberg setzte ein massiver Medienwandel ein78. Der neuartige Buchdruck wird zunächst als eine ungeheure Erweiterung der Möglichkeiten begriffen. Innerhalb von wenigen Jahrzehnten werden nahezu sämtliche Wissensbestände in das neue Medium transferiert. Für die juristische Wissenschaft bedeutete dies, dass fast alle Werke der großen Juristen des Hoch- und Spätmittelalters gedruckt und in Mengen verbreitet wurden, die im Handschriftenzeitalter völlig undenkbar waren. Zunächst in Venedig, Lyon und Paris, dann auch in Frankfurt entstanden Verlage und Druckereien, die dieses Geschäft in großem Umfang betrieben. Diese Großkonzerne waren Teil eines Trends zur Globalisierung nicht nur des Mediums Druck, sondern der Wirtschaft schlechthin. Frankfurter Buchhändler verkauften ihre juristischen Schriften in ganz Europa79. Ähnlich wie das Internet vollzog sich auch dieser Medienwandel in einem teilweise rechtsfreien Raum. Das neuartige Verlagswesen gehörte zu den wenigen Gewerbezweigen, die in Frankfurt keinem dem Handwerk vergleichbaren Zunftzwang unterlagen80. Vieles war den freien Kräften des Markts überlassen und weniges gesetzlich geregelt. Erst allmählich und häufig mit ungeeigneten Mitteln suchten diverse Obrigkeiten steuernd in die Marktmechanismen einzugreifen. Teilweise riefen auch die Drucker selbst nach deren Hilfe, so etwa in den 1570er-Jahren, als die Frankfurter Meister mit ihren Gesellen nicht fertig wurden, deren faules und provozierendes Verhalten dann 1573 durch

77 Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht. Die Entwicklung des Urheberrechts in Deutschland bis 1845, Baden-Baden 1995, S. 35. Über die Problematik des juristischen Plagiierens im 16. Jahrhundert vgl. Kisch, Das juristische »Plagiat« im 16. Jahrhundert, in: Ders., Studien zur humanistischen Jurisprudenz, Berlin / New York 1972, S. 63–104. 78 Hierzu eingehend: Burkhardt, Das Reformationsjahrhundert. Deutsche Geschichte zwischen Medienrevolution und Institutionenbildung, 1517–1617. Stuttgart 2002. 79 Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte 3 (Fn.53), S. 42–49, 70–74. 80 Gramlich, Rechtsordnungen des Buchgewerbes im Alten Reich. Genossenschaftliche Strukturen, Arbeits- und Wettbewerbsrecht im deutschen Druckerhandwerk, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 41 (1994), S. 1–146, hier: S. 7.

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eine Druckerordnung unterbunden werden sollte – mit allerdings mäßigem Erfolg81. Besondere Schwierigkeiten erzeugte die weitverbreitete Praxis des Büchernachdrucks. Auch hier sind die Parallelen zu Problemen der heutigen Zeit erstaunlich: Solange die Drucker sich nur daranmachten, die Schriften mittelalterlicher Juristen nachzudrucken, entstanden kaum Probleme. Die Texte waren gewissermaßen gemeinfrei und kein Autor konnte sich über eine Beeinträchtigung seiner Urheberrechte beschweren. Außerdem gehörte das Abschreiben und Neuarrangieren gelehrter Texte geradezu zu den Überlebensbedingungen von Wissen im Handschriftenzeitalter und wurde bereits aus diesem Grund allgemein akzeptiert82. In der Ära des Buchdrucks änderte sich die Perspektive und damit auch die Mentalität nur allmählich. Erst an der Wende zum 16. Jahrhundert wurde es überhaupt üblich, dass Autoren neuerer Werke ihren Namen auf den Titel setzten, erst seit 1548 war dies auch reichsrechtlich vorgeschrieben83. Dazu mag der in der älteren Literatur immer wieder betonte Individualismus des Renaissance-Zeitalters beigetragen haben, der eine Kultur des Autorenstolzes begründete84. Zu einer Zeit, als der Nachdruck technisch immer schneller und einfacher und daher in großem Umfang üblich wurde85, ging es den Autoren zunächst in erster Linie darum, dass durch Nachdruck und Übernahmen ihre Aussagen inhaltlich nicht verändert wurden86. In dem Maße, in dem auch die Werke lebender Autoren hemmungslos nachgedruckt wurden, traten aber auch ökonomische Interessen dazu, die ihrerseits moralethisch verpackt wurden. Den Verlegern und Autoren, wie Erasmus von Rotterdam87, wurde klar, dass Nachdrucke ihnen wertvolle Einkünfte entzogen. Da lag es nahe, dieses Verhalten als Diebstahl oder Raub zu brandmarken. Die Tobsuchtsanfälle Luthers wegen des Nachdrucks seiner Bibelausgabe legen hiervon ein beredtes Zeugnis ab – auch wenn selbst er die Vorzüge einer Verbreitung seiner Ideen durch die Nachdrucke

81 Zu diesen Auseinandersetzungen: Gramlich, Rechtsordnungen, S. 11–14. 82 Erst retrospektiv wurden auch mittelalterliche Autoren des »Plagiats« beschuldigt, ein Vorwurf, der vor dem Hintergrund einer völlig anderen Medien- und Mentalitätslandschaft heute zu Recht als anachronistisch verworfen wird: David Kästle-Lamparter, Welt der Kommentare, Struktur, Funktion und Stellenwert juristischer Kommentare in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 2016, S. 127f. 83 Gieseke, Privileg (Fn.77), S. 19. 84 Vg. oben, Fn. 13. 85 Eichacker, Die rechtliche Behandlung des Büchernachdrucks im Nürnberg des 17. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Frühgeschichte des Urheberrechts in Deutschland, Berlin 2013; H. Kunze, Über den Nachdruck im 15. und 16. Jahrhundert, in: Gutenberg-Jahrbuch 1938, S. 135–143. 86 Gieseke, Privileg (Fn.77), S. 21. 87 Nachweis bei Gieseke, Privileg (Fn.77), S. 28.

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durchaus sah88. Seit dem 17. Jahrhundert nahm das Problembewusstsein zu und Teile der Wissenschaft beschäftigten sich geradezu als »Plagiatsjäger«. Dass dabei auch über das Ziel hinausgeschossen wurde, zeigt eine 1673 erstmals erschienene Dissertation, die eine umfangreiche Sammlung angeblicher Plagiate enthält, worunter der Autor allen Ernstes auch das Decretum Gratiani nennt, also die ganz nach mittelalterlicher kanonistischer Tradition mithilfe von Fragmenten aus früheren Kollektionen zusammengestellte, wichtigste Sammlung des älteren Kirchenrechts89. Was aber konnte das Recht gegen den um sich greifenden wilden Büchernachdruck tun? Zunächst nicht viel! Unter den Voraussetzungen globalisierter Märkte reichte der Arm des Gesetzes meist nur bis zu den eigenen Stadtmauern. Die Stadt Frankfurt nahm sich des Problems 1588 an, als eine Ordnung der Buchdrucker und Buchhändler den Nachdruck verbot90. So austariert die Vorschriften waren, sie gaben weder Georg Rem, noch seinem Drucker Christoph Corvin aus Herborn irgendwelche Rechte wegen des Nachdrucks durch Mauß. Auch die für Frankfurter Verleger erteilten kaiserlichen Druckprivilegien waren zwar de iure reichsweit zu beachten, de facto blieb ihr Wirkungskreis aber auf die Frankfurter Messe beschränkt. Wer mit einem solchen Privileg ausgestattet war und beispielsweise seine Bücher auch auf der Leipziger Messe vertreiben wollte, musste sich zusätzlich um ein sächsisches Privileg kümmern, um sicherzugehen91. Natürlich gab es Anstrengungen, zumindest auf Reichsebene zu einer Lösung des Problems zu gelangen. Aber bis ins 18. Jahrhundert war die Erteilung von Druckprivilegien die einzige Form des Urheberschutzes92. So war beispielsweise der 1533 erschienene Erstdruck der Carolina dem Mainzer Drucker Ivo Schöffer überlassen worden versehen mit einem Privileg für zwei Jahre93. Seit 1538 lassen 88 Hierzu Kisch, Plagiat (Fn.77), S. 66; Gieseke, Privileg (Fn.77), S. 21–26. 89 Jacob Thomasius, Dissertatio Philosophica De Plagio Literario […], zuerst Leipzig 1673, hier zit. nach der Ausgabe Jena (Verlag Christoph Enoch Buchta) 1679 (VD17 12:149241F), § 452, S. 201. 90 Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte 3 (Fn.53), S. 62f.; der Text ist abgedruckt in: B. Schmidt (Hg.), Frankfurter Zunfturkunden bis zum Jahre 1612, Band 1, Frankfurt/M. 1914, S. 147–150. 91 Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte 3 (Fn.53), S. 62. 92 Zu den kaiserlichen Druckprivilegien existiert eine umfangreiche Literatur, darunter: Gieseke, Privileg (Fn.77), S. 39–92; Gergen, Kaiserliche Privilegien gegen den Nachdruck unter Maximilian I. (1493–1519), in: UFITA 2012, S. 425–443; Schottenloher, Die Druckprivilegien des 16. Jahrhunderts, in: Gutenberg-Jahrbuch 1933, S. 9–110; vgl. auch die Quellensammlung bei Koppitz (Hg.), Druckprivilegien (Fn.68). 93 Des allerdurchleuchtigsten großmechtigste[n] vn überwindtlichsten Keyser Karls des fünfften: vnnd des heyligen Römischen Reichs peinlich gerichts ordnung auff den Reichsztägen zu Augspurgk vnd Regenspurgk inn jaren dreissig vnd zwey vnd dreissig gehalten auffgericht vnd beschlossen […] Cum gracia et privilegio Imperiali, Mainz (Verlag Ivo Schöffer) 1533 (VD16 D 1070). Das Privileg wird wörtlich unmittelbar hinter dem Titelblatt wiedergegeben.

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sich dann Nachdrucke anderer Verleger nachweisen94, seit 1558 auch in Frankfurt, wo eine luxuriös aufgemachte, farbig reich bebilderte Auflage erschien95. Das Risiko des Nachdrucks trug fortan aber der Drucker, ein Privileg gab es nicht mehr. Als Mauß 1614 seine Exzerpte aus den Werken von Rem und Vigel drucken ließ, agierte er also in einem vielleicht nicht rechtsfreien, aber zumindest rechtsarmen Raum. Ähnlich wie wir es aus unserer heutigen Diskussion über die Urheberrechte im Internet kennen, war er sich wohl bewusst, dass er sich der geistigen Produkte Dritter bediente und dies ökonomisch und moralisch problematisch sein könnte. Vielleicht war dies auch ein Grund, lieber anonym zu bleiben. Gleichzeitig waren aber die ökonomischen Anreize viel zu groß, die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung viel zu gering, als dass er es nicht trotzdem gewagt hätte. Eine in seinem Gewerbe ohnehin verbreitete Gratismentalität mag dabei ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Umgekehrt sorgte er selbst dafür, die von ihm verlegten Werke zu schützen: Während die erste Auflage von Gilhausens Arbor Iudiciaria Criminalis bei Konrad Neben 1606 noch ohne Schutz gegen Nachdruck erschienen war, hatte sich Mauß für die Zweitauflage 1614 ein zehnjähriges kaiserliches Privileg gesichert96. Die durch Peter Henning verlegte dritte Auflage des Arbor 1642 enthielt erneut eine derartige zehnjährige Garantie gegen Nachdruck97. Dagegen findet sich ein entsprechendes Privileg für den Separatabdruck des Carolina-Kommentars von 1614 nicht98. Hier sorgte erst der Kölner Drucker Peter Henning 1642 für entsprechenden Schutz99.

94 Der Erzbischof von Köln, Hermann von Wied, ließ die Carolina 1534 gemeinsam mit lokalen Rechtsvorschriften abdrucken: Des Ertzstiffts Coeln Reformation. Dere weltlicher Gericht Rechts/ vnd Pollicey […] Köln (Druck Peter Quentel) 1538, Bl. XXXI ff. (VD 16: K 1740). 95 Des aller durchleuchtigsten/ groszmechtigsten/ vnueberwindlichsten Keyser Karls des Fünfften/ vnd deß Heiligen Roemischen Reichs peinlich Gerichtsordnung etc., Frankfurt/M. (Druck: David Zöpfel) 1558 (VD 16: D 1079). 96 Gilhausen, Arbor Iudiciaria Criminalis, Editio Secunda (Fn.16), Titelblatt: Cum gratia & privilegio S. Cæs. Maiestatis ad decennium. 97 Ludwig Gilhausen, Arbor Iudiciaria Criminalis […], Editio Tertia, […], Köln (Verlag Peter Henning, Druck Petrus Metternich) 1642 (VD17 12:628032W), Titelblatt: Cum Gratia & Privilegio Sacræ Cæsareæ Maiestatis ad decennium. Ein Nachdruck der dritten Auflage, der 1662 in Köln erschien (Verlag Peter Henning und Michael Demen, VD17 3:310868 L), enthielt keinen Hinweis mehr auf ein Privileg. 98 Anhang I, Nr. 1, Titelblatt. 99 Vgl. Anhang I, Nr. 2, Titelblatt: Cum gratia & privilegio S. Cæs. Maiestatis ad decennium.

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VI.

Der Kommentar von 1614, ein wertloses Plagiat?

Wie sind Mauß und sein Werk aus der Retrospektive zu bewerten? Urteilt man nur nach Marktgesichtspunkten, so muss die Bewertung positiv ausfallen: Unveränderte Neuauflagen erschienen in Köln 1642 und 1662, jeweils parallel mit Nachdrucken von Gilhausens Strafrechtsbaum100. Seit 1654 wurde das Buch auch in Stuttgart neu aufgelegt. Der dort ansässige Württembergische Hofbuchdrucker Johann Weyrich Rößlin d.J. druckte den Text bis 1662 in insgesamt drei Auflagen nach, einzeln und zusammengebunden mit den wichtigsten Gesetzen Württembergs101. Der Erfolg dieser Ausgabe lag wohl auch daran, dass sie im handlichen Duodezformat erschien, damit passte sie in jede anwaltliche Manteltasche. Dieses Geschäftsmodell übernahm dann 1702 der Altdorfer Verleger Jobst Wilhelm Kohles mit der Ausgabe, die am Anfang meiner Überlegungen stand. 1710 erlebte diese noch einmal eine Neuauflage. Doch damit ist die Erfolgsgeschichte unseres Carolina-Plagiats noch nicht zu Ende. 1734 entschloss sich der Nürnberger Buchhändler Johann Christoph Göpner, das Buch erneut aufzulegen102. Allerdings hielt er einige Marketingmaßnahmen für erforderlich, um seinen Absatz auch mehr als 100 Jahre nach der Erstauflage zu sichern. So gab er dem Kommentar einen deutschen Titel und stellte eine Art Werbetext voran, den er selbst 1734 unterzeichnete. Hier heißt es: »Man muss bekennen, dass dieses kleine Werk was großes in sich fasset, und denen Richtern, Procuratoribus, und andern Rechts- Gelehrten sehr notwendig. Es werden vielmahls ungeheure Folianten durchblättert, und geschiehet doch wohl, dass man nicht findet, was man haben will. Gegenwärtiges Compendium kann besser contentiren. Es ist dasselbe nicht nur in bequemem Format, dass man solches in der Tasche bei sich tragen und gleich nachsehen kann, sondern auch überaus wohl ausgearbeitet«103.

Göpners Erwartungen wurden voll erfüllt: Das Buch verkaufte sich wie geschnitten Brot, nach eigener Aussage erschienen bis 1754 vier Auflagen104. Allerdings trug es immer noch einen Makel: Es fehlte ein Autor. Doch auch dafür gab es eine Lösung. 1747 ergänzte Göpner in dem ansonsten unverändert nachgedruckten Manuskript lediglich das Titelblatt und fügte an: »und mit practischen Anmerkungen erläutert von J.J. Beck, Doktor beider Rechte«105. Ob 100 Vgl. zum Folgenden die Aufstellung in Anhang I. 101 In die 1705 erschienenen Neuauflage dieser Gesetzessammlung wurde der Carolina-Kommentar nicht mehr aufgenommen. 102 Vgl. Anhang I, Nr. 11. 103 Anhang I, Nr. 11, S. )( 2. 104 In den Bibliothekskatalogen lässt sich allerdings vor 1747 nur eine Auflage 1745 nachweisen. Nur nachgewiesene Editionen wurden in die Aufstellung des Anhangs aufgenommen. Es ist nicht auszuschließen, dass zeitgenössisch weitere Auflagen kursierten. 105 Anhang I, Nr. 12.

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besagter Jobst Jodokus Beck (1684–1744), der Professor an der Universität Altdorf und Rechtsberater der Stadt Nürnberg war, die Verantwortung für die Kommentierung freiwillig übernommen hat, ist nicht mehr zu klären. Beck war ein Vielschreiber und unter seinen Zeitgenossen stand er nicht in allerbestem Ruf. In einer zeitgenössischen biographischen Notiz heißt es über ihn: »Herr Beck hat die Gewohnheit, seine Titel Lateinisch und Deutsch zu machen, damit man ihn sogleich bei der Lesung derselben für einen unüberwindlichen Monarchen und eine hellscheinende Laterne in der Rechtsgelehrsamkeit betrachten möchte«106.

Becks Name schien der Verbreitung des Carolina-Kommentars aber keinen Abbruch getan zu haben und auch zeitgenössische Experten des Strafrechts fielen der Namenstäuschung Göpners zum Opfer und hielten Beck für den Verfasser des Kommentars107. Im Jahr 1754 legte der Nürnberger Verleger das Buch erneut auf. Im Vorwort hielt er fest: »Überflüssig wäre es, einem kleinen Werke eine große Lobrede zu halten, der häufige Abgang desselben zeuget schon genugsam von seinem Wert und Unwert«108. Eine letzte Edition erlebte unser Kommentar im Jahr 1758. Ein anderer Nürnberger Drucker, Johann Georg Lochner, ließ ihn als Anhang zu einem strafund strafprozessrechtlichen Handbuch (›Der in peinlichen Fällen wohl Instruirte Richter109‹) drucken, das von Johann Georg Scopp zusammengetragen worden war, ebenfalls einem von seinen Zeitgenossen eher als unterdurchschnittlich eingeschätzten Praktiker110. Auf dem Titelblatt fehlt denn auch der Name Beck und stattdessen wird Scopp als Herausgeber genannt. Im 19. Jahrhundert schmähte die beginnende strafrechtshistorische Literatur die schlechte Qualität des Kommentars. Dass es sich um ein Plagiat handelte, war Anlass genug, um ihn als unoriginell und inhaltlich minderwertig zu betrachten. Und doch handelte es sich bei unserem Plagiat um den erfolgreichsten Kommentar zur Carolina und damit um einen Schlüsseltext für das Strafrecht über mehr als ein Jahrhundert. Seine erste Vorlage, Rems Nemesis Karulina, verkaufte sich zwar ebenfalls gut, wurde aber nach einer beträchtlichen inhaltlichen Er106 Gottlob August Jenichen, Unpartheyische Nachrichten von dem Leben und denen Schriften der ietzlebenden Rechtsgelehrten in Teutschland, Leipzig (Druck Friedrich Matthias Friese) 1739 (VD18 1017804X), S. 12–14, hier: S. 13f. 107 [Christoph] Martin, Lehrbuch des Teutschen gemeinen Criminal-Rechts, 2. Aufl., Heidelberg 1829, S. 276, Fn. 2. 108 Anhang I, Nr. 13, S. )( 3. 109 Johann Georg Scopp, Der in peinlichen Fällen wohl Instruirte Richter, oder theoretischpractischer Criminal-Tractat, aus Denen Kayserlich-Carolingisch- und ChurfürstlichSächsischen Rechten genommen […], Nürnberg (Verlag Johann Georg Lochner) 1758 (VD18 14588471). 110 Zu Scopp fehlen ausführlichere biographische Hinweise; vgl. nur: Scopp (Johann Georg), in: Christoph Weidlich, Biographische Nachrichten von den jetztlebenden Rechts-Gelehrten in Teutschland, Bd. 2, Halle (Verlag Hemmerde) 1781, S. 346–348.

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weiterung 1618 nur noch ein weiteres Mal nachgedruckt, und zwar in einem angeblich »höchst incorrecten und verstümmelten Nachdruck«, der von dem Drucker Lambert Thenon 1699 in Lüttich angefertigt wurde. Dieser vekaufte sich offenbar so schlecht, dass der Drucker versuchte, durch neue Titelblätter (Lüttich 1701, Köln 1706 und Malmedy 1706) Käufer anzulocken111. Und die zweite Vorlage, Vigels Kommentar, erschien bereits 1613 zum letzten Mal112. Warum also war das Plagiat erfolgreicher als die Originale? Möglicherweise hatte Mauß eben doch etwas Eigenständiges geleistet, auch wenn das nicht den Ansprüchen der Zeit und schon gar nicht denen des 19. Jahrhunderts an echte Autorenschaft genügte. Anders als Rem bot er den Gesetzestext nicht in lateinischer Übersetzung, sondern im deutschen Original. Damit kam er den notorisch schlechten Lateinkenntnissen der frühneuzeitlichen Rechtspraktiker entgegen. Gleichzeitig lieferte er in den lateinischen Anmerkungen, die er geschickt aus seinen Vorlagen zusammengestellt hatte, nur kurze, aber prägnante Hinweise auf die wichtigste gemeinrechtliche Literatur im Westentaschenformat113. In der Literatur wird viel gestritten über die Bedeutung der Carolina für die deutsche Strafrechtsgeschichte. Grundbedingung für ihre Rezeption in Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung war ihre mediale Verfügbarkeit. Große gelehrte Abhandlungen und Kommentare spielten dabei sicherlich eine wichtige Rolle. Das in ihnen verarbeitete Wissen schwoll von Generation zu Generation an und erreichte im 18. Jahrhundert ein Volumen, das selbst von Fachleuten nicht mehr zu bewältigen war. Vor diesem Hintergrund war die Praxis auf Kommentare wie unseren angewiesen. Ihren Autor als Plagiator zu denunzieren und daraus die Minderwertigkeit des Produkts abzuleiten, ist daher nicht unter allen Gesichtspunkten fair. Seine Auswahl aus den übernommenen Texten, ihre Zusammenstellung in ein handliches Büchlein und ihre geschäftstüchtige Verbreitung unter Einsatz moderner Medien war ein wichtiger, wenn auch natürlich nicht der wichtigste, Baustein auf dem Weg zur Verbreitung der Carolina. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt: Die Charakterisierung des Kommentars als »Plagiat« ist eine durchaus problematische Zuschreibung. Verschafft man sich eine Übersicht über Werke, die entsprechend bezeichnet wurden, so fällt auf, dass 111 Georg Wilhelm Böhmer, Handbuch der Litteratur des Criminalrechts in seinen allgemeinen Beziehungen, mit besondrer Rücksicht auf Criminalpolitik nebst wissenschaftlichen Bemerkungen, Göttingen 1816, S. 58f. Nachweisen lassen sich in den Bibliothekskatalogen lediglich Georg Rem, Nemesis Karulina. Divi Caroli V. sacrique Romani Imperii erdinum, leges rerum capitalium annis 1530 et 1532 sancitae […], Lüttich (Druck: Lambert Thonon) 1699 und Nemesis Karulina. D. Karuli V. imp. sacriq. imperii Romani ordinum leges capitales […] Malmedy 1706. 112 Nicolaus Vigelius, Constitvtiones Carolinæ […], Editio Quarta ab Authore recognita, Basel (Verlag Ludwig König) 1613 (VD17 1:011565U). 113 Die Bedeutung dieser Literaturgattung für die »Reduktion von Komplexität« betont auch: Kästle-Lamparter, Welt der Kommentare (Fn.82), S. 128.

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diese Bezeichnung häufig ein Vehikel ist, um ein Werk auch inhaltlich als minderwertig zu beschreiben. Es macht stutzig, dass gerade die frühen CarolinaKommentare sehr häufig diesem Verdikt ausgesetzt waren: Gobler, Gilhausen und unser Kommentar galten allesamt als wenig originell und ihre Autoren wurden des Diebstahls geistiger Leistungen anderer bezichtigt. Wenn Rem von dieser Kritik ausgenommen wurde, so zeigt ein näherer Blick auf seine Arbeitsweise, dass auch Rem nicht immer den heute üblichen (!) strengen Zitierregeln folgte. Als Beispiel kann erneut das in Anhang I abgedruckte Beispiel der Kommentierung des Art.164 CCC dienen: Der Kommentar von 1614 zitiert hier, offensichtlich das erste Mal in der juristischen Literatur, einen von dem bayerischen Juristen Wiguleus Hund (1514–1588) in dessen Stammtafel des Bayerischen Turnieradels berichteten Strafrechtsfall114. Dieses Fallbeispiel übernahm dann Rem – ohne zu bekennen, dass er von einem Werk abschrieb, das er selbst noch oben in seinem Vorwort als Plagiat gebrandmarkt hatte, ohne weitere Nennung seiner Quelle in die zweite Auflage seiner Nemesis Karulina. Will man vor diesem Hintergrund von der moralisierenden Charakterisierung von Werken dieser Gattung als »Plagiate« abrücken, so kann man deren Produktion auch als Prozess sehr starker wechselseitiger Beeinflussung beschreiben, in dessen Verlauf es wichtig war, das anfangs noch geringe und verstreut publizierte Wissen über die Anwendung des neuen Gesetzes sachgerecht zu bündeln und damit für die Praxis überhaupt erst verfügbar zu machen. Dieser Konzentrationsprozess war dabei jedenfalls in der Anfangsphase wichtiger als die Originalität und das präzise Zitieren der Quellen.

VII.

Erträge

Was lässt sich also als Ergebnis festhalten? Zeigen wollte ich, dass die Strafrechtsgeschichte stark davon profitieren kann, althergebrachte Maßstäbe an die Auswahl ihrer Quellen über Bord zu werfen und auch solche Texte untersuchen sollte, die an den hohen Qualitäts- und Moralansprüchen des 19. Jahrhunderts scheitern. Unser Text fiel bisher durch alle Raster. Anonym verfasst und noch dazu mit dem Makel des Plagiats behaftet, wurde er geschmäht und marginalisiert. Das macht ihn verdächtig. Doch sieht man näher hin und verändert man die Perspektive, erscheint er in einem anderen Licht. Vielleicht war der Text zu Beginn des 17. Jahrhunderts die Chance, sich schnell und effizient über die Carolina zu informieren und diese dadurch auch in der Praxis zu verbreiten? 114 Das Original findet sich in: Wiguleus Hund, Bayrisch Stammen-Buch etc., Bd. 2, Ingolstadt (Verlag Adam Sartorius) 1598 (VD16 H 5928), S. 156; zu den Hintergründen: von Mayenburg, strafrechtliche Verfolgung (Fn.6), S. 336.

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David von Mayenburg

Vielleicht war das Angebot eines schnellen und mühelosen Zugriffs die Rettung für die Praxis in der Rechtswelt des späten 18. Jahrhunderts, die im Überfluss gelehrter Traktate kurz vor dem Rechtsinfarkt stand? Ich habe an dieser Stelle nur die äußere Geschichte erzählt. Was noch wartet, ist der hier nur angedeutete, nicht minder spannende Blick in den Text, der Vergleich mit anderen Quellen und damit vielleicht die Chance eines noch schärferen Bilds von der Welt des Strafrechts der Vormoderne, die allzu oft als maßlos und grausam dargestellt wird. Vor allem ersten Hinweisen, dass bereits hier auch Wurzeln für die allgemein dem Aufklärungszeitalter zugeschriebene Humanisierung des Strafrechts liegen könnten, müsste man dabei nachgehen. Immerhin: Für mehr als ein Jahrhundert musste jeder Leser unseres Kommentars auf dem Titelblatt den von niemand anderem als dem »Plagiator« ausgewählten Leitspruch lesen, einen Spruch, der dem griechischen Redner Dion Chrysostomos zugesprochen wird115. Er fasst zusammen, worin wohl auch Mauß 1614 die Aufgabe eines gerechten, weil humanen und flexiblen Strafrechts sah: »Wer urteilt, möge darauf achten, dass die Strafe nicht schwerer wiege als das Delikt, sondern dass in der Gerechtigkeit die Milde aufscheine116«.

Anhang I Übersicht über die Drucke des Kommentars von 1614117 Lfd. Nr. 1118

Jahr Drucker

Ort

VD

1614 Witwe Mathi- Frankfurt/ VD17 as Beckers, Fi- M. 3:311346K nanzierung: Petrus Musculus

Format Besonderheit 2°

Auch als Anhang zu Gilhausen, Arbor 1614 und 1626

115 Das Motto ist rätselhaft: Es soll sich um einen Sinnspruch des Dion Chrysostomos (1./2. Jh. n. Chr.) handeln, der in Sermo 149 des Johannes Stobbaeus (5. Jh.) überliefert sein soll. Eine entsprechende Suche in den um 1600 zugänglichen Sammlungen brachte allerdings keinen entsprechenden Ertrag. Eine große Nähe besteht allerdings zu Marc. D. 48,19,11 pr., wo es heißt: Perspiciendum est iudicanti, ne quid aut durius aut remissius constituatur, quam causa deposcit: nec enim aut severitatis aut clementiae gloria affectanda est, sed perpenso iudicio, prout quaeque res expostulat, statuendum est. plane in levioribus causis proniores ad lenitatem iudices esse debent, in gravioribus poenis severitatem legum cum aliquo temperamento benignitatis subsequi. 116 Anhang I, Nr. 1, Titel: Chrysostom. apud Stobæ. Serm. 149. Hoc iudicanti perspiciendum est, ne pœnæ delictis grauiores sint, sed in iustitia clementia appareat. 117 Koch, Gerichtsordnung (Fn.20), S. 88 erwähnt außerdem eine Ausgabe Altdorf (bei Göpner) 1734. Hintergrund ist wohl das Vorwort, das auf den 23. 9. 1734 datiert ist. Es findet sich allerdings in sämtlichen deutschen Bibliothekskatalogen kein Exemplar dieses Datums, so

Dem Plagiator auf der Spur – ein anonymer Carolina-Kommentar von 1614

61

(Fortsetzung) Lfd. Nr. 2119

Jahr Drucker

1642 Peter Henning Köln und Petrus Mechernich

VD17 2° 12:628036B

3120

1654 Johann Weyrich Rößlin d.J.

Stuttgart

VD17 12° 12:622054Y

4121

1661 Johann Weyrich Rößlin d.J.

Stuttgart

VD17 7:707552C

118

119

120

121

Ort

VD

Format Besonderheit Auch als Anhang zu Gilhausen, Arbor 1642. Enthält 10jähriges kaiserliches Privileg (Auch) Teil von: Deß Hertzogthumbs Wurtemberg allerhand Ordnunge 1655

12°

dass zu vermuten ist, dass Göpner das Werk erst elf Jahre nach Abschluss des Vorworts druckte. Ebd., S.96 ist die Rede von einer Ausgabe Heilbronn 1754. Hier handelt es sich wohl um eine Verwechslung mit der Ausgabe Nürnberg 1754 (bei Göpner). CONSTITVTIONES CRIMINALES CAROLI V. IMP. CÆS. PP. AVG. INVICTISSIMI ET GLORIOSISSIMI PRINCIPIS, &c. NEC NON SACRI ROMANI IMPERII ORDINVM, IN COMITIIS TVM Augustanis, tum Ratisbonensibus, Anno MDXXX. & MDXXXII. promulgatæ, CVM IVRE COMMVNI COLLATÆ, notisque breuißimis illustratæ, IVDICIBVS, PROCVRATORIBVS, ADEOQUE omnibus legum & rerum criminalium studiosis perquam vtiles & necessariæ. Chrysostom. apud Stobæ. Serm. 149. Hoc iudicanti perspiciendum est, ne pœnæ delictis grauiores sint, sed in iustitia clementia appareat. FRANCOFORTI, Typis viduæ Matthiæ Beckeri, Impensis Petri Musculi. ANNO MDCXIV. CONSTITVTIONES CRIMINALES CAROLI V. IMP. CAES. PP. AVG. INVICTISSIMI ET GLORIOSISSIMI PRINCIPIS, &c. NEC NON SACRI ROMANI IMPERII ORDINVM, IN COMITIIS TVM Augustanis, tum Ratisbonensibus, Anno MDXXX. & MDXXXII. promulgatæ, CVM IVRE COMMVNI COLLATÆ, notisque breuißimis illustratæ, IVDICIBVS, PROCVRATORIBVS, ADEOQVE omnibus legum & rerum criminalium studiosis perquam vtiles & necessariæ. Chrysostom. apud Stobæ. Serm. 149. Hoc iudicanti perspiciendum est, ne pœnæ delictis grauiores sint, sed in iustitia clementia appareat. Cum Gratia & Priuilegio Sacræ Cæsareæ Maiestatis ad decennium. COLONIÆ AGRIPPINÆ, Sumptibus PETRI HENNINGII excudebat PETRVS MECHERNICH. ANNO MDCXLXX. CONSTITUTIONES CRIMINALES CAROLI V. IMP. CÆS. PP. AUG. INVICTISSIMI ET GLORIOSISSIMI PRINCIPIS, &c. NEC NON SACRI ROMANI IMPERII Ordinum, in Comitiis tum Augustanis, tum Ratisbonensibus, Anno MDXXX. & MDXXXII. promulgatæ, CUM IVRE COMMVNI COLlatæ, notisque brevißimis illustratæ, JUDICIBUS, PROCURATOribus, adeoque omnibus legum & rerum criminalium studiosis perquam utiles & necessariæ. Chrysostom. apud Stobæ. Serm. 149. Hoc judicanti perspiciendum est, ne pœnæ delictis graviores sint, sed in justitia clementia appareat. STVTTGARDIÆ, Typis & Impensis Johann: Wyrichii Rôßlini. ANNO M.DC.LIV. CONSTITUTIONES CRIMINALES CAROLI V. IMP. CÆS. PP. AUG. INVICTISSIMI ET GLORIOSISSIMI PRINCIPIS, &c. NEC NON SACRI ROMANI IMPERII Ordinum, in Comitiis tum Augustanis, tum Ratisbonensibus, Anno MD.XXX. & M.D.XXXII. promulgatæ, CUM JVRE COMMUNI COLlatæ, notisque brevißimis illustratæ. JUDICIBUS, PROCURATOribus, adeoque omnibus legum & rerum criminalium studiosis perquam utiles & necessariæ. Chrysostom. Apud Stobæ. Serm. 149. Hoc judicanti perspiciendum est, ne pœnæ

62

David von Mayenburg

(Fortsetzung) Lfd. Nr. 5122

Jahr Drucker

Ort

VD

Format Besonderheit

1662 Johann Weyrich Rößlin d.J.

Stuttgart

VD17 1:037510F

12°

6123

1662 Peter Henning Köln und Michael Demen

VD17 3:310868 L

7124

1702 Jobst Wilhelm Altdorf Kohles bei Nürnberg 1703 Christian Stuttgart Gottlieb Rößlin

VD18 14428253

12°

VD18 14018527

12°

8125

122

123

124

125

(Auch) Teil von: Deß Hertzogthums Würtemberg allerhand Ordnungen etc., Stutgart 1666. 6° (d. h. Anhang zu Gillhausen, 2°) Arbor

(Auch) Teil von: Deß Hertzogthums Würtemberg Allerhand Ordnungen etc., Stuttgart 1703.

delictis graviores sint, sed in justitia clementia appareat. STUTTGARDIÆ. Typis & Impensis Johann: Wyrichii Rößlini. Anno M.DC.LXI. CONSTITUTIONES CRIMINALES CAROLI V. IMP. CÆS. PP. AUG. INVICTISSIMI ET GLORIOSISSIMI PRINCIPIS, &c. NEC NON SACRI ROMANI IMPERII Ordinum, in Comitiis tum Augustanis, tum Ratisbonensibus, Anno MD.XXX. & M.D.XXXII. promulgatæ, CUM JVRE COMMUNI COLlatæ, notisque brevißimis illustratæ. JUDICIBUS, PROCURATOribus, adeoque omnibus legum & rerum criminalium studiosis perquam utiles & necessariæ. Chrysostom. Apud Stobæ. Serm. 149. Hoc judicanti perspiciendum est, ne pœnæ delictis graviores sint, sed in justitia clementia appareat. STUTTGARDIÆ. Typis & Impensis Johann: Wyrichii Rößlini. Anno M.DC.LXII. CONSTITVTIONES CRIMINALES CAROLI V. IMP. CAES. PP. AVG. INVICTISSIMI ET GLORIOSISSIMI PRINCIPIS, &c. NEC NON SACRI ROMANI IMPERII ORDINVM, IN COMITIIS TVM Augustanis, tum Ratisbonensibus, Anno MDXXX. & MDXXXII. promulgatæ, CVM IVRE COMMVNI COLLATÆ, notisque brevissimis illustratæ, IVDICIBVS, PROCVRATORIBVS, ADEOQVE omnibus legum & rerum criminalium studiosis perquam vtiles & necessariæ. Chrysostom. Apud Stobæ. Serm. 149. Hoc iudicanti perspiciendum est, ne pœnæ delictis graviores sint, sed in iustitia clementia appareat. COLONIÆ AGRIPPINÆ, Sumptibus PETRI HENNINGII et MICHAELIS DEMENII. Anno MDCLXII. CONSTITUTIONES CRIMINALES CAROLI V. IMP. CÆS. PP. AUG. INVICTISSIMI ET GLORIOSISSIMI PRINCIPIS, &c. NEC NON SACRI ROMANI IMPERII Ordinum, in Comitiis tum Augustanis, tum Ratisbonensibus, Anno M.D.XXX. & M.D.XXXII. promulgatæ, CUM JURE COMMUNI collatæ, notisque brevissimis illustratæ. JUDICIBUS, PROCURATOribus, adeoque omnibus legum & rerum criminalium studiosis perquam utiles & necessariæ. Cum Indicibus Articulorum, nec non Rerum & Verborum. Chrysostom. Apud Stobæ. Serm. 149. Hoc judicanti perspiciendum est, ne pœnæ delictis graviores sint, sed in justitia clementia appareat. ALTDORFI NORICORUM, Typis & Impensis JODOCI WILHELMI KOHLESII, Anno MDCCII. Constitutiones Criminales Caroli V. Imp. Cæs. PP. Aug. Invictissimi Et Gloriosissimi Principis, &c. Nec Non Sacri Romani Imperii Ordinum, in Comitiis tum Augustanis, tum

Dem Plagiator auf der Spur – ein anonymer Carolina-Kommentar von 1614

63

(Fortsetzung) Lfd. Nr. 9126

VD

Format Besonderheit

1710 Jobst Wilhelm Altdorf Kohles bei Nürnberg 1714 Jobst Wilhelm Altdorf Kohles bei Nürnberg

VD18 14803178

12°

VD18 14892103

12°

11128 1745 Johann Chris- Nürnberg toph Göpner 129 12 1747 Johann Chris- Nürnberg toph Göpner

VD18 13658956 VD18 11497750



10127

126

127

128

129

Jahr Drucker

Ort



Ratisbonensibus, A. M.D.XXX. & M.D.XXXII. promulgatæ, Cum Jure Communi Collatæ, notisque brevissimis illustratæ, Judicibus, Procuratoribus, adeoque omnibus legum & rerum criminalium studiosis perquam utiles & necessariæ […]. Stuttgardiæ. Typis & Impensis Christ. Gottl. Rösslini, Anno M.DCC.III. Hinweis: Das Exemplar lag nicht vor. Die Daten wurden übernommen aus: [https://opac.k10plus.de/DB=2.299/PPNSET?PPN= 1099638488&PRS=HOL&HILN=888&INDEXSET=21], besucht am 1. 4. 2020. CONSTITUTIONES CRIMINALES CAROLI V. IMP. CÆS. PP. AUG. INVICTISSIMI ET GLORIOSISSIMI PRINCIPIS, &c. NEC NON SACRI ROMANI IMPERII Ordinum, in Comitiis tum Augustanis, tum Ratisbonensibus, Anno M.D.XXX. & M.D.XXXII. promulgatæ, CUM JURE COMMUNI collatæ, notisque brevissimis illustratæ. JUDICIBUS, PROCURATOribus, adeoque omnibus legum & rerum criminalium studiosis perquam utiles & necessariæ. Cum Indicibus Articulorum, nec non Rerum & Verborum. Chrysostom. Apud Stobæ. Serm. 149. Hoc judicanti perspiciendum est, ne pœnæ delictis graviores sint, sed in justitia clementia appareat. ALTDORFI NORICORUM, Typis & Impensis JODOCI WILHELMI KOHLESII, Anno MDCCX. CONSTITUTIONES CRIMINALES CAROLI V. IMP. CÆS. PP. AUG. INVICTISSIMI ET GLORIOSISSIMI PRINCIPIS, &c. NEC NON SACRI ROMANI IMPERII Ordinum, in Comitiis tum Augustanis, tum Ratisbonensibus, Anno M.D.XXX. & M.D.XXXII. promulgatæ, CUM JURE COMMUNI collatæ, notisque brevissimis illustratæ. JUDICIBUS, PROCURATOribus, adeoque omnibus legum & rerum criminalium studiosis perquam utiles & necessariæ. Cum Indicibus Articulorum, nec non Rerum & Verborum. Chrysostom. Apud Stobæ. Serm. 149. Hoc judicanti perspiciendum est, ne pœnæ delictis graviores sint, sed in justitia clementia appareat. ALTDORFI NORICORUM, Typis & Impensis JODOCI WILHELMI KOHLESII, Anno MDCCXIV. Kayser Carl des Fünften und des H.R. Reichs Peinliche Halßgerichts=Ordnung / wie solche auf denen Reichs-Tägen / zu Augspurg und Regenspurg A. 1530 und 1532. kund gemacht worden. Durch und durch mit denen gemeinen Rechten verglichen und mit kurzen Anmerkungen erläutert. Allen Richtern, Procuratoren, und derer Rechten Beflissenen sehr nützlich und nothwendig, mit ordentlichen Registern sowol über die Articul derselben / als auch über die darin vorkommenden Sachen und Wörter reichlich versehen. Nürnberg, 1745. In Verlag Johann Christoph Göpners. Kayser CARL des Fünften und des Heil. Röm. Reichs Peinliche Halßgerichts-Ordnung / Wie solche auf den Reichs=Tägen zu Augspurg und Regenspurg 1530. und 1532. kund gemacht worden. Durch und durch mit denen gemeinen Rechten verglichen, und mit practischen Anmerkungen erläutert von J. J. Beck, J. U. D. Allen Beamten, Richtern, Advocaten und

64

David von Mayenburg

(Fortsetzung) Lfd. Jahr Drucker Ort Nr. 13130 1754 Johann Chris- Nürnberg toph Göpner 14131 1758 Johann Georg Nürnberg Lochner

VD

Format Besonderheit

VD18 10425950 VD18 14588463

8° 4°

Als Herausgeber wird genannt: Johann Georg Scopp; (auch) Teil von: Scopp, Der in peinlichen Fällen wohl Instruirte Richter, Nürnberg 1758

Anhang II Textvergleich Georg Rem, Nemesis Karulina (1594) und Anon., Constitutiones Criminales Caroli V (1614) zu Art. 164 CCC »Von jungen Dieben« / De furibus impuberibus

1.

Georg Rem, Nemesis Karulina (Editio prima 1594132), S. 155f.

e Notum est, mascolorum pubertatem quatuordecim: feminarum, duodecim annis aestimari, l.2 C. quando tut. vel. cur. esse. l. à qua etate. D. qui testam. fac. § 1. Inst. quib. mod. tut. fin. l.2 D. de vulg. subst. nouell. 119. Impuberum deinde alii proximiores pubertati, alii infantia. Illos capaces ese & furandi & iniuria facienda, ait Caius, in l.pupillum. in princ. de regul. iur. Hos capaces negat Vlpianus, Iuliani auctoritate, in l.apud Celsum. §. qua in tutore. D. de doli except. andern der Rechten Beflissenen zum nützlichen Gebrauch abgefasset, und mit nöthigen Registern versehen. Nürnberg, 1747. In Verlag Joh. Christoph Göpners, Buchhändlers. 130 Kayser CARL des Fünften und des Heil. Röm. Reichs Peinliche Halßgerichts-Ordnung / Wie solche auf den Reichs=Tägen zu Augspurg und Regenspurg 1530. und 1532. kund gemacht worden. Durch und durch mit denen gemeinen Rechten verglichen, und mit Practischen Anmerkungen erläutert von J. J. Beck, J. U. D. Allen Beamten, Richtern, Advocaten und andern der Rechten Beflissenen zum nützlichen Gebrauch abgefasset, und mit nöthigen Registern versehen. Nürnberg, 1754. In Verlag Joh. Christoph Göpners, Buchhändlers. 131 Kayser Carls des Fünfften und des Heil. Römischen Reichs peinliche Gerichts=Ordnung, wie solche auf denen Reichs=Tägen, zu Augspurg und Regenspurg A. 1530 und 1532 kund gemacht worden. Durch und durch mit denen gemeinen Rechten und dem vorhergehenden Werck verglichen und mit kurzen Anmerckungen erläutert. Herausgegeben von Johann Georg Scopp. Nürnberg, Verlegts Johann Georg Lochner. A. 1758. 132 Rem, Nemesis Karulina (Fn.43).

Dem Plagiator auf der Spur – ein anonymer Carolina-Kommentar von 1614

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l. impuberem. D. de furt. Non tamen omnia crimina in impuberem proximum pubertati cadere possunt, vt adulterium, l. si minor. D. de adulteriis. Cap 1. X de delict. impub. Cuiac. lib. 6 Obseru. Cap. 22. De periurio, res anceps est: Quòd non desint, qui de iniquitate auth. Sacramenta impuberum. C. si adu. vend. conquerantur. a Cap. de illis. X de despons. impuber. b Menoch. lib. 2. arbitr. C 329. Nu.2 & Thom. Gram. decis. 23. num. 11 & seq. c Rer. amotarum, honestiore & mitiore actione propter matrimoni memoriam agitur. l.1. & seq. D. rer. am. l. pen. D. exp. hered. l.vlt. § vlt. C. de furt. Quia vxor socia rei humanae atque divina domus, sacrorum larium suscepta fuerat. l. adversus. C. de crim. exp. her.

2.

Constitutiones Criminales Caroli V (1614133), S. 67

Notum est masculorum pubertatem quatuordecim: foeminarum duodecim annis aestimari, l. 2 C. quand. tut. vel. cur. esse l. à qua aeate. ff. qui test. fac. po. § 1 Institut. quib. mod. fin. tut. l. 2ff.de vulg. substit. Nouel. 119. Impuberum deinde alii proximiores pubertati, alii infantiae: Illos capaces esse & furandi & iniuriae faciendae ait Caius in l.pupillum.in princ. ff. de reg. iuris. Hos capaces negat Vlpianus in l. apud Celsum §. quae in tutore ff. de dol. Excep. l. impuberem. ff. de furtis. Dicimus autem impuberem siue pupillum esse pubertati proximum ab anno 10. cum dimidio supra: pupillam ab anno 9. cum dimidio vltra, glos. In verbo infantiae proximus §. pupillus. Instit. de inutil. stipul. vbi Angel. dicit communem. glos. in §. in summa, in verbo proximus. Instit. de oblig. quae ex del. nascunt. Quod tamen in ciuilibus est intelligendum: In criminalibus autem nemo dicitur pubertati proximus, nisi quando per sex menses est prope pubertatem. vt notat Iason in Authent. sacramenta puberum nu. 15. C. si aduers. venditorem. & in l. properandum § 1. nu. 2. C. de iudic. Bonifac. in tractat. de furt. §. animo lucri faciendi, num. 114. SO DER DIEB UNDER 14.JAREN WERE ETC: Si impubes pubertati proximus, & doli capax deliquerit non in omittendo, sed furtum vel aliud crimen commitendo, puniri quidem debet, sed mitius ex arbitrio, ob aetatem imperfectam. Clar. In pract. crim. quaest. 60. in. princ. Dd. & Bart.in l. 1 & toto tit. C. si aduers. delict. vbi traditur; Aetatis miseratio iudicem ad mitiorem poenam merito mouere debet. DAS DIE BOßHEIT DAS ALTER ERFÜLLEN MÖCHTE/ETC. in aliquis enim, in quibus est praecox ingenium, malitia supplet aetatem, in c. fin. iuncta glos.in 133 Anhang I, Nr. 1.

66

David von Mayenburg

verbo prudentia. de despons. impub. Iason in l. properandum. §. 1. num. 2. C. de iud. Marsi. in l. si quis te. num. 4. C. ad l. Corn. de sicar. Insignem casum refert Wiguleius Hundt par. 2. descriptionis Nobilitatis Bauaricae, pag. 156. familia Maichselsrain. RATHSPFLEGEN/ETC Videatur Tiraquel.de poenis tempor. caus. 7. Menoch. arb. iud. casu. 329. num. 2 Gramm. decisio. 25. n. 11. & seq.

Andreas Deutsch

»Der verfluchte diebische Bücher-Nachdrucker« – ein rätselhafter Kupferstich von 1723 und seine Hintergründe

Abb. 1: Kupferstich »Der verfluchte diebische Bücher-Nachdrucker« von 1723

68

I.

Andreas Deutsch

Dreyers Bildersammmlung

Eine der ältesten rechtsikonographischen Bildersammlungen hat der Lübecker Syndikus und Rechtshistoriker Johann Karl Heinrich Dreyer (1723–1802)1 noch im späten 18. Jahrhundert angelegt. Dietlinde Munzel-Everling hat kürzlich auf die ungewöhnliche Kollektion aufmerksam gemacht,2 die sich heute in der Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen befindet.3 Es handelt sich um einen großformatigen, in Leder gebundenen Band, in welchem die von Dreyer zusammengetragenen historischen Illustrationen nach Themen sortiert entweder abgezeichnet oder aber (z. B. aus Druckwerken) ausgeschnitten und eingeklebt sind. Häufig sind die Abbildungen durch »gelehrte Anmerkungen« in der Handschrift Dreyers umrahmt.4 Bei Blatt 231 findet sich allerdings kommentarlos ein eng beschnittener Kupferstich eingelegt, der unsere Aufmerksamkeit erregte. Er trägt den Titel: »Der verfluchte diebische Bücher-Nachdrucker«. Es handelt sich um ein zweigeteiltes Blatt. Die obere Hälfte zeigt einen vornehm gekleideten Mann mit barocker Perücke zusammen mit einer Teufelsgestalt in einem größeren, durch eine kostbare Tapete begrenzten Raum stehen. Auf einem Tisch neben dem Mann liegen mehrere Münzen. Die untere Bildhälfte zeigt zahlreiche kleine Münzen, sowie zwei größere und zwei kleinere dunkel ausgefüllte Kreise; nochmals darunter sieht man in einer angedeuteten Landschaft einen Staupbesen, drei Galgen und ein aufgerecktes Rad. Rund um die Bildteile sind in kleinen Kästchen unterschiedliche Autorennamen und abgekürzte Buchtitel eingezeichnet. Nach intensiver Suche ließ sich die Herkunft des Stiches ermitteln: Er stammt aus einem 1723 gedruckten, kaum mehr als zwanzig Blatt starken Büchlein mit dem Titel: Gründliche Nachricht, In welcher erwiesen und dargethan wird, Daß die öffentlichen Bücher-Auctiones Jetziger Zeit sehr gemißbrauchet werden und denen Gelahrten nicht alleine schimpfflich, sondern auch höchst schädlich und nachtheilig sind, worinnen 1 Henning Ratjen, Art. »Dreyer, Carl Heinrich«, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 5, Leipzig 1877, S. 404–406. 2 Der Beitrag von Dietlinde Munzel-Everling soll demnächst in Signa Iuris publiziert werden. Ich danke Frau Munzel-Everling für wertvolle Hinweise und vielfältige Unterstützung! 3 Johann Karl Heinrich Dreyer, Jurisprudentia Germanorum picturata, Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. Jurid. 383. 4 Der Text der Anmerkungen findet sich in weiten Teilen abgedruckt in: Ernst Spangenberg (Hg.), Beiträge zur Kunde der teutschen Rechtsalterthümer und Rechtsquellen, enthaltend: Mittheilungen aus Dreyer’s und Grupen’s handschriftlichem Nachlasse und ungedruckte Rechtsquellen des Mittelalters, mit Kupfern und Steindrucken, Teil 1: Jurisprudentia Germanorum picturata von Dreyer, Hannover 1824. Die Zählung dort stimmt indes nicht mit dem Original überein; auf das hier thematisierte Blatt wird nicht eingegangen (vgl. Observatio XXXII, S. 46).

»Der verfluchte diebische Bücher-Nachdrucker«

69

Zugleich die List und der Betrug, so darbey vorgehet offenbahret und am Tag geleget wird. Samt einem Anhange von denen Diebischen Bücher-Nachdruckern Beschrieben von Schuppio, Moscherosch und Symplissimo, darbey eine Sententz von 21. Julii Anno 1722 Wider den Boßhafftigen Nachdrucker Des Seel. Herrn Mag. Scriveri Andachten (o.O., 1723).5

Hauptsächlich handelt das Büchlein von (freiwillig durchgeführten) Versteigerungen privater Buchnachlässe oder anderer privater Bibliotheken. Bei solchen Auktionen, so lautet die Quintessenz des Werks, komme es zu vielerlei Betrügereien, indem beispielsweise mängelbehaftete Exemplare angeboten würden oder Preistreiber mit im Publikum säßen. Leichtgläubige Mitbieter würden daher nur allzu oft im Eifer des Gefechts weit mehr für ein Buch bieten und am Ende dafür bezahlen müssen, als ein sehr viel besseres Exemplar bei einem regulären Buchhändler gekostet hätte. Im Exemplar der Universitätsbibliothek Greifswald und einem der beiden Exemplare der Bayerischen Staatsbibliothek München ist der Kupferstich jeweils ganz vorne im Buch vor dem Titelblatt eingebunden. Im zweiten Münchener Exemplar findet sich der Stich in der Mitte des Buchs vor Bogen D 3.6 In allen anderen eingesehenen Exemplaren ist die Graphik leider herausgeschnitten. Um den Kupferstich richtig einordnen und datieren zu können, wird es zunächst erforderlich sein, das Buch aus welchem er stammt, in aller Kürze zu beleuchten. Hierbei ist zwischen dem Hauptteil des Werks, in dem es um Bücherauktionen geht (hierzu sogleich unter Punkt 2), und dem mehrteiligen Anhang, der sich mit dem Büchernachdruck befasst (Punkt 3), zu unterscheiden. Nach der eigentlichen Bildinterpretation (Punkt 4) soll auf die rund um den Stich abgekürzt angeführten Buchtitel eingegangen werden (Punkt 5). Sie stehen in einem gewissen Zusammenhang mit einem Texteinschub im Büchlein von 1723 (Punkt 6). Sucht man nach den Gründen für die Entstehung des Kupferstichs, stößt man auf eine wenige Monate vor dem Druck ergangene Gerichtsentscheidung gegen einen Helmstedter Nachdrucker, das sog. Dekret von Helmstedt, das im Büchlein mit abgedruckt ist (Punkt 7). Hintergrund ist ein komplexer Privilegienstreit (Punkt 8). Das Büchlein von 1723 blieb nicht ohne Nachwirkungen, wie abschließend (Punkt 9) zu zeigen ist.

5 Vgl. z. B. Universitätsbibliothek Greifswald, Signatur 520 I 24 adn27; BSB München 4 N.libr. 100,6 sowie 4 N.libr. 100,2. 6 BSB 4 N.libr. 100,2.

70

II.

Andreas Deutsch

Zum Ursprung des »Sende-Schreibens«

Obgleich das Büchlein von 1723 nur so wenige Seiten hat, enthält das darin abgedruckte Hauptwerk, das über vierzehn Druckseiten reichende Traktat gegen Bücherauktionen ein eigenes Titelblatt: Sende-Schreiben, In welchem erwiesen und dargethan wird, Das die öffentlichen Bücher-Auctiones Denen Gelahrten nicht allein schimpfflich, sondern auch höchst schädlich und nachtheilig sind. Worinnen zugleich die List und der Betrug so dabey vorgehet, offenbahret und an Tag geleget wird […].

Der Band ermahnt unter Verweis auf die Bibel: »Levit. XIX. Cap. 10. vers: Ihr sollt nicht Stehlen noch Lügen noch fälschlich Handeln einer mit dem andern.«7 Und darunter nochmals: »Das Siebende Gebot: Du solt nicht stehlen.« Es ist recht klar, dass damit nicht zuletzt ein Bezug zum Büchernachdruck als Form des »Diebstahls« hergestellt werden soll. Daher erstaunt es ein wenig, dass das gesamte »Sende-Schreiben« selbst einen ebensolchen Nachdruck darzustellen scheint. Es findet sich nämlich wörtlich bereits als Kapitel 11 im wohl 1718 gedruckten zweiten Anhang des »Christlichen Kaufmanns« von Conrad Mel.8 Auch dort steht unter der Überschrift die christliche Mahnung: »Levit. Cap. XIX. v. 11. Ihr sollt nicht stehlen, noch lügen, noch fälschlich handeln einer mit dem andern.« Conrad Mel hat den Text allerdings selbst übernommen. Als separates Büchlein ist das »Sende-Schreiben« bereits im Jahre 1697 erschienen. Nicht nur der Titel stimmt wörtlich überein: Sende-Schreiben, In welchem erwiesen und dargethan, daß die offentlichen BücherAuctiones Denen Gelahrten nicht allein schimpfflich, sondern auch höchstschädlich und nachtheilig sind. Worinnen zugleich die List und der Betrug so dabey vorgehet, offenbahret und an Tag geleget wird […] (o.O. 1697).

Auf der Titelblattrückseite ist auch hier bereits das biblische Gebot zu lesen: »Levit. XIX. Cap. 11. vers. Ihr sollt nicht stehlen, noch lügen, noch fälschlich handeln einer mit dem andern.« Merkwürdigerweise steht auf dem Titelblatt von 1697 zudem der Hinweis, es handele sich um eine zweite Auflage.9 Hat es denn wirklich eine noch frühere Auflage gegeben? Trotz aller modernen Recherchemöglichkeiten über elektronische Verbundkataloge und Suchmaschinen fehlt bislang jede Spur einer solchen Erstauflage. Dennoch überwiegt 7 Vgl. 3. Mose (Levitikus) 19, 11. 8 Conrad Mel, Der Gott und Menschen wohlgefällige Christliche Kauffmann, Stellet der lieben Obrigkeit und Unterhanen vor, die Ursache der grossen Armuth und den entsetzlichen Geldmangel in Teutschlande, Zweyer Anhang, o.O. [nach den Katalogen gedruckt um 1719, vgl. allerdings den Hinweis »gedruckt im Jahr 1718« im Titel des hier betreffenden Cap. 11], S. 280–296. 9 »zum andernmahl gedruckt«.

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in der Wissenschaft die Meinung, es müsse eine solche erste Auflage gegeben haben.10 Fritz Behrend verortet sie in einer Studie zu Mels »Christlichem Kaufmann« nach dem Jahr 1681.11 Und Hans Dieter Gebauer vermutet sie – in seiner Arbeit zur Geschichte der Buchauktionen – in den 80er-Jahren des 17. Jahrhunderts,12 da sich in dieser Zeit Buchauktionen der im »Sende-Schreiben« beklagten Art in Deutschland etabliert hätten. Stichhaltige Argumente für eine Eingrenzung auf die Jahre zwischen 1680/81 und 1690 gibt es freilich nicht. Während es gerichtliche Zwangsversteigerungen von Büchern natürlich schon seit jeher gegeben hat und sich freiwillige Buchversteigerungen durch Buchführer (Verleger, Buchhändler) seit der Frühzeit des Buchdrucks nachweisen lassen,13 sind Buchprivatversteigerungen der hier thematisierten Art immerhin seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts in Deutschland bekannt. Die derzeit erste nachweisbare derartige Auktion fand bereits 1657 in Helmstedt statt.14 Dort erschien 1664 auch die erste Dissertation zum Thema.15 Seit 1678 gab es Verordnungen, die den »auctionirern« Einhalt gebieten sollten.16 In dieser Zeit scheinen also die Bücherversteigerungen bereits so verbreitet gewesen zu sein, dass ein Regelungsbedarf bestand. Doch blieb das Problem bis ins 18. Jahrhundert hinein aktuell – wie nicht zuletzt die Nachdrucke des Titels belegen. Da im Text des »Sende-Schreibens« der »Seelen-Schatz« des Magde10 Vgl. bereits Ernst Kelchner, Eine alte Stimme über den Betrug bei Bücherauktionen – Ein Beitrag zur Geschichte des Buchhandels, in: Hermann Weißbach (Hg.) Deutsche Buchhändler-Akademie, Bd. 3, Weimar 1886, S. 200–208, 201, ferner die Autoren der nachfolgenden Anmerkungen. Vorsichtiger schreibt Victor Scholderer, A German Diatribe against Book Sales, in: The Library – Quarterly Review of Bibliography and Library Lore, 3. Serie, Bd. 10, London 1919, S. 117–122, 117. Keine Gedanken zu der Frage machte sich scheinbar Zobeltitz, der offenbar nur die Ausgabe von 1718 kannte: Fedor von Zobeltitz, Nachwort, zu: Oskar Rauthe (Hg.), Sende-Schreiben, in welchem erwiesen und dargethan, daß die offentlichen Bücher-Auctiones denen Gelahrten nicht allein schimpfflich, sondern auch höchst schädlich und nachtheilig sind; dem Berliner Bibliophilen-Abend gewidmet, Berlin 1919, S. 2ff. 11 Fritz Behrend, »Der Gott und den Menschen wohlgefällige Christliche Kaufmann«, in: Zeitschrift für Bücherfreunde NF 11/2 (1920), S. 242–248, 248; Behrend begründet das damit, dass der in dem Sendschreiben erwähnte (als überteuert versteigerte) »Seelenschatz« von Scriver in diesem Jahr erschien. Tatsächlich weist die HAB Wolfenbüttel einen Druck dieses Werks aus dem Jahr 1675 nach – gedruckt in Helmstedt: Christian, Scriver, Seelen-Schatz. Darinn Von der menschlichen Seelen hohen Würde tieffen und kläglichen Sünden-Fall, Busse und Erneurung durch Christum … erbaulich und tröstlich gehandelt wird, Helmstedt (Lüderwald) 1675, vgl. http://diglib.hab.de/drucke/th-2425-1b/start.htm. 12 Hans Dieter Gebauer, Bücherauktionen in Deutschland im 17. Jahrhundert, Bonn 1981, S. 43. 13 von Zobeltitz, Nachwort, S. 1f. 14 Zum Ganzen: Gebauer, Bücherauktionen, S. 16ff. u. 26ff.; vgl. Scholderer, Diatribe, S. 121. 15 Caspar Cellarius, Dissertationem De Auctionibus, Praeside Dn. Georgio Wernero, ICto … Ad diem Mens. Septembr. In Novo Iuleo Publicae & placidae eruditorum disquisitioni exhibet Caspar Cellarius Rudolphop. Thuringus Autor, Helmstedt 1664. 16 Gebauer, Bücherauktionen, S. 31.

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burger Pfarrers Christian Scriver (1629–1693) explizit genannt ist, kann das »Sende-Schreiben« allerdings nicht vor 1675 verfasst worden sein, dem Erscheinungsjahr des ältesten bekannten Drucks der Scriverschen Predigtsammlung.17 Den Verfasser des anonymen »Sende-Schreibens« vermutet Behrend aus gutem Grund im weiteren Umkreis des Buchhandels, der als einziger wirkliche Nachteile aus der Praxis der privaten Buchversteigerungen hatte.18 Denkbar wäre, dass das »Sende-Schreiben« auf einen der Verleger der darin als Beispiel angeführten Werke zurückgeht, also etwa Johann Görlin in Ulm, bei dem der »Thesaurus Catecheticus« des Samuel Edel erschien, oder Bartholomäus Voigt, zu dessen Verlag die Jonas-Auslegung von Gregor Strigenitz gehörte, oder Lüderwalds Erben (Süstermann und Seidel), die Scrivers »Seelen-Schatz« verlegten. Süsterwald saß in Helmstedt, der Stadt der ersten prominenten privaten Buchversteigerungen.

III.

Die übrigen Inhalte des Büchleins von 1723

Da keiner der bekannten früheren Ausgaben des »Sende-Schreibens« ein entsprechender Kupferstich beigegeben ist, spricht viel dafür, dass der hier behandelte Stich vom »Bücher-Nachdrucker« erst für den Druck von 1723 angefertigt worden ist. Inhaltlich bezieht er sich ja auch nicht auf das »SendeSchreiben« gegen die »Bücher-Auctiones«, sondern auf den erst 1723 nachweisbaren Anhang »von denen Diebischen Bücher-Nachdruckern«. Dieser Anhang ist eine reine Kompilation – also letztlich nichts anderes als ein Nachdruck. Im Einzelnen enthält er zumeist kurze Ausschnitte aus folgenden Texten: – Johann Balthasar Schupp (1610–1661), Der Bücher-Dieb (Frankfurt 1658). – Johann Michael Moscherosch (1601–1669), Wunderliche und warhafftige Gesichte Philanders von Sittewald, Bd. 1, 5. Aufl., Straßburg 1650, S. 371–377 (im Buch wohl zitiert nach der Ausgabe Straßburg 1677, S. 373–379). – Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (um 1622–1676), Der aus dem Grab der Vergessenheit wieder erstandene Simplicissimus, Bd. 3 (Nürnberg 1684), S. 300–302 (im Buch zitiert nach der Ausgabe von 1713, S. 234f.). – »Decret von Helmstädt wegen der daselbst nachgedruckten Scriveri Andachten«, 1722. – Anmerkung (Sentenz) »Von den Nachdruck Scriveri Andachten«.

17 Vgl. oben Anm. 11. 18 Behrend, Der wohlgefällige Kaufmann, S. 247, so auch Gebauer, Bücherauktionen in Deutschland, S. 43.

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– Jacob Weller (1602–1664), Grammatica graeca nova. Hier handelt es sich freilich um eine irrtümliche Zuschreibung: Die 1723 abgedruckten Strophen sind angeblich »auf Herrn Doct. Jacob Wellers Seel. Titul seiner Griechischen Grammattica« zu finden. Die »Grammatica graeca nova« des späteren Dresdener Oberhofpredigers Jakob Weller wurde bereits 1635 erstmals gedruckt.19 Die Verse ließen sich weder in dieser Ausgabe noch in einer der nachfolgenden auf dem Titelblatt finden. Tatsächlich ist das Gedicht aber hinter den Vorreden der Leipziger Ausgabe von 1703 abgedruckt, dürfte also vom damaligen Neuverleger Johann Christoph Tarnow (ohne Zutun des 1664 verstorbenen Weller) ergänzt worden sein: »Hier ist ein kleines Buch. Hier blüht der Jugend Nutz. GOTT segne díesen Druck. Drey Helden sind sein Schutz; Und läßt ein Bösewicht / wie leider schon geschehn / Im Nachdruck und Verkauff die Diebes-Finger sehn / Der gläube sicherlich / daß ihn die gantze Welt / So Recht und Ehre liebt / vor einen Buch-Dieb hält.«20

– Bibel, Jesus Sirach 20, 24–26 [seit Luther apokryph] und Psalm 5 Vers 7 (mit freier Interpretation). Da bei Grimmelshausen die Ausgabe von 1713 verwendet wurde, bei Wellers Grammatik jene von 1703, 1708 oder 1718, da zudem das Dekret von Helmstedt aus dem Jahre 1722 stammt, kann die Kompilation des Anhangs kaum älter sein als das Druckjahr – gleiches dürfte daher auch für den beigegebenen Kupferstich gelten.

IV.

Zur Bildinterpretation

Die Vermutung liegt nahe, dass der Kupferstich (auch) zur Illustration von einem der abgedruckten Textabschnitte dienen sollte. Und tatsächlich lässt sich als Kontext für den Stich ohne weiteres die mit abgedruckte Szene aus Johann Michael Moscheroschs »Philanders von Sittenwald wunderliche und wahrhaftige Gesichte« ausmachen. Der Abschnitt stammt aus dem »Sechsten Gesichte«, das von den »Höllenkindern« handelt, ist allerdings in Moscheroschs erster Auflage 19 Die älteste Ausgabe ist: Nova Grammatica Graeca Communis. M. Jacobi Welleri, Leipzig (Oleus) 1635. 20 D. Jacobi Welleri Grammatica Graeca Nova: Ante à B. Abrahamo Tellero quoad Dialectos complecta, Post verò ab ipso Autore novis denuò Additionibus, ut & Indicibus Vocabulorum Græcorum & Latinorum utilissimis locupletata, Nunc emendatior & quoad nobatiliores Observationes, Tabulas, Versus memoriales B. Christiani Daumii atque novos Indices multum auctior, Editio post spuriam, claudicantem & mendosam Amstelodamensem quinta, Leipzig (Tarnow) 1703. Das Gedicht findet sich ebenso in den Ausgaben Leipzig 1708 und 1718.

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von 1640 nur in Kurzform vorhanden und wurde – sicherlich vom Autor selbst – für den Druck von 1650 in der endgültigen Form ausformuliert. Der Kompilator des Büchleins von 1723 dürfte jedoch eine noch spätere Ausgabe als Vorlage verwendet haben.21 Titelheld Philander war auf rätselhafte Weise bei einem Spaziergang durch den Wald in die Hölle geraten, wo er etlichen merkwürdigen Gestalten begegnete, die er zum Teil von früher her kannte. Ohne auf diese Rahmengeschichte einzugehen, setzt die Kompilation damit ein, dass Philander auf einen Buchdrucker namens Ocus Bocus trifft, der deshalb höllische Qualen ausstehen muss, weil er sich zu Lebzeiten aus bloßer Gewinnsucht dazu hat hinreißen lassen, allerlei unzüchtige Bücher zu drucken, insbesondere zuvor nur lateinisch oder griechisch verfügbare Schriften zur Verrohung des gemeinen Mannes in deutscher Übersetzung veröffentlichte. Der Kompilator fügt an dieser Stelle etwas holprig eine ganze Seite vermutlich aus eigener Feder ein, wo er unter anderem erzählt, dieser Ocus Bocus habe auch »alle Schuel-Bücher« benachbarter Druckereien »als Goßlar, Erfurt, Helmstädt«, zudem zahlreiche privilegierte Bücher, die zum Teil namentlich genannt werden, nachdrucken lassen. Dieser eingeschobene Abschnitt ist auch deshalb sehr ungeschickt platziert, weil Philander dem betrügerischen Nachdrucker in Moscheroschs Originalgeschichte erst im Anschluss begegnet: Als der Protagonist nämlich weitergeht, wird er von einem anderen Mann angesprochen, der gerade zu ersticken droht. Philander fragt, ob er zu gierig gegessen habe, was der Mann verneint. Er sei ebenfalls ein Buchdrucker – und habe zu gierig gedruckt. Er habe nämlich Bücher anderer zum Schaden ihrer Verleger nachgedruckt: »Und so bald ich gesehen, daß irgend ein Werck oder Buch wol abgangen, [so habe ich] dasselbe entweder in ein ander Format, oder mit anderer Schrifft, auch wol gar verändert, verkehrt, verkürtzet22 und vermehret zu höchster des Autoris (Buchschreibers) Beschimpffung, zu gezogenen Verdacht und verursachter Schmach auffgelegt, damit ich also den Gewinn zu mir ziehen mögen«.23

Dabei aber habe er nicht bedacht, ob Gott oder der Christenheit damit gedient wäre, sondern einzig und allein, wie er seinen Reichtum mehren könnte. Nun drohe er daran zu ersticken, wenn man ihm nicht helfe. »O helfft mir, ich erwürg!« – »Was Teuffels hast du dann im Hals?« sprach ich. – »Ein Nachdruck-Teuffel, ein Buch-Teuffel, ein feuriges Buch, daß ich unlängst einem ehrlichen Manne zu Verdruß und Schaden nachgedruckt, deswegen die Christliche Liebe aus der Acht gelassen und um Gewinns willen des Teuffels worden.« 21 Die im Druck von 1723 mit angegebenen Seitenangaben stimmen von allen mir bekannten Ausgaben am ehesten mit jener von Straßburg 1677 überein. 22 Bei Moscherosch (1677, S. 376) heißt es: »verkätzert«. 23 Zitiert nach dem Büchlein von 1723, Bl. D 4v.

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Der Kupferstich deutet dieses Teufelsbündnis an, indem der neben dem vornehm gekleideten Nachdrucker eine Teufelsgestalt zeigt. Die Darstellung erinnert an ältere Illustrationen eines Teufelspaktes24 – etwa einen Holzschnitt aus dem »Compendium Maleficarum« von Francesco Maria Guazzo aus dem Jahre 1608, auf dem zu sehen ist, wie ein – ähnlich gestalteter – Teufel mit einem Hexer die Vertragsurkunden tauscht (Abb. 2).25

Abb. 2: Teufelspakt, aus: Francesco Maria Guazzo, Compendium maleficarum, Mailand 1608.

Im Kern bezieht sich der Kupferstich freilich auf die nachfolgende Szene: Der Drucker bittet Philander, ihm das Geld und Gold, das er mit seinen Nachdrucken verdient hat, aus den Augen zu schaffen: »Wann mir dieses aus den Gesicht und Gedancken wäre, so möchte ich vielleicht Linderung der Schmertzen fühlen.« Er zeigt ihm einen Raum, in dem etliche Kisten voller Goldmünzen stehen. Als

24 Vgl. z. B. auch die Illustration aus: Nicolai Remigii Daemonolatria, Oder: Beschreibung von Zauberern und Zauberinnen, Hamburg 1693, abgebildet bei: Wilhelm Gottlieb Soldan/ Heinrich Heppe, Geschichte der Hexenprozesse, neu bearb. und hg. von Max Bauer, München 1911, Bd. 2, S. 224. 25 In der Ausgabe: Francesco Maria Guazzo, Compendium maleficarum, ex quo nefandissima in genus humanum opera venefica, ac ad illa vitanda remedia conspiciuntur, Mailand 1626, S. 38.

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Philander aber in eine der Kisten greift, um ein paar Münzen herauszunehmen, werden diese in seiner Hand zu Asche und zerstieben in der Luft. Die zu Asche gewordenen Münzen sind in Moscheroschs Originaldruck von 1650 (und 1677) als zwei größere und darunter zwei kleinere dunkle kreisrunde Flächen mit abgebildet (Abb. 3).26 Das Motiv wurde in der unteren Hälfte des hier besprochenen Kupferstichs wieder aufgegriffen: Zwischen mehreren noch unbeschädigten kleineren Münzen finden sich auch hier – in gleicher Anordnung wie auf der Vorlage – vier dunkel ausgefüllte Kreise.

Abb. 3: Vier schwarze Punkte symbolisieren die zu Asche gewordenen Münzen aus dem Vermögen des diebischen Büchernachdruckers; hier aus dem Nachdruck des Textes von Moscherosch im Büchlein »Gründliche Nachricht, In welcher erwiesen und dargethan wird, Daß die öffentlichen Bücher-Auctiones Jetziger Zeit sehr gemißbrauchet werden« von 1723.

Das Geld des Teufels, das sich im Nachhinein als Dreck oder Asche erweist, gehörte zu Moscheroschs Zeit zu den verbreitet tradierten, geradezu typischen Komponenten eines Teufelsbündnisses. Bei zahllosen Hexereianklagen wurde den Angeklagten – nötigenfalls unter der Folter – in den Mund gelegt, sie hätten vom Teufel eine Münze erhalten, die sich danach als ein Stück Dreck oder bloße Asche erwies.27 26 Vgl. im Druck von 1650 S. 376, bzw. im Druck von 1677 S. 378 ( jeweils oben auf der Seite). 27 Vgl. z. B. Richard van Dülmen, Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, Wien/Köln/Weimar 1993, S. 74; Christine Meier, Die Anfänge der Hexenprozesse in Lemgo, in: Gisela Wilbertz/Gerd Schwerhoff/Jürgen Scheffler (Hg.), Hexenverfolgung und Regionalgeschichte: die Grafschaft

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In Moscheroschs Erzählung zeigt sich der Buchdrucker schwer schockiert darüber, dass seine vermeintlichen Reichtümer wertlos sind. Er wird völlig rasend, windet sich gleich einem Hund oder einer Katze, die einen Knochen verschluckt haben, der ihnen nun quer im Halse steckt, sodass sie keine Luft mehr bekommen. So springt der Mann eine ganze Weile wild umher – und fällt schließlich tot zu Boden. Da entfährt seinem Hals eine helle Flamme. Die Flamme ist auch auf dem Kupferstich zu erkennen, wobei hier die Darstellung nicht exakt mit der Erzählung übereinstimmt: Der Nachdrucker liegt noch nicht am Boden. Und auch die Flamme hat nicht das spezielle von Moscherosch erdachte Aussehen. Denn Moscherosch berichtet, die Flamme habe – passend zum Buchdrucker – die Form dreier griechischer Buchstaben, die in den Druckausgaben von 1650 und 1677 mit abgebildet sind28 – und sich auch in der Kompilation von 1723 wiederfinden, wenngleich nicht genau an der richtigen Stelle im Text. Es handelt sich dreimal um denselben Buchstaben, nämlich das große Pi (П), dessen Aussehen an einen Galgen erinnert. Denn so erklärt Philander: »Dies Gesicht giebt mir Ursach, alle ehrliebenden Drucker zu vermahnen, daß sie sich ja, außer was zu unzweifelhafter Beförderung der Ehre Gottes und des Nächsten vonnöthen und erlaubt ist, ernstlich enthalten nachzudrucken, damit sie an dergleichen Büchern dermaleinst nicht, wie dieser Armselige, am feurigen Galgen ersticken …«.

Damit diese Bildmetapher dem Leser verständlicher wird, greift sie der hier besprochene Kupferstich am unteren Rand des Bildes nochmals auf – und zeigt anstelle der drei Pi drei nebeneinander stehende Galgen. Sie werden ergänzt um ein an einer langen Stange aufgerichtetes Rad (rechts) und um einen in den Boden gesteckten Staupbesen (links). Der Galgen steht dabei für eine der schändlichsten Formen der Todesstrafe: Er war unter anderem als Strafe für Diebe vorgesehen, so schrieb bereits der Sachsenspiegel (um 1224/35) vor: »den dief sal man hengen« (»Den Dieb soll man hängen«, vgl. Landrecht II 13 § 1).29 Mit dem Rad wurden bestimmte Mörder, Friedensbrecher und Verräter auf besonders grausame und schändliche Weise hingerichtet.30 Und Schläge mit dem Staupbesen dienten als entehrende Strafe beispielsweise für Kleinbetrüger oder

Lippe im Vergleich, Bielefeld 1994, S. 83–106, 101; Christian Grebner, Hexenprozesse im Freigericht Alzenau (1601–1605), in: Aschaffenburger Jahrbuch für Geschichte, Landeskunde und Kunst 6 (1979), S. 137–240, 189; Heinrich Ruckgaber, Die Hexenprozesse zu Rottweil am Neckar, in: Württembergische Jahrbücher für Statistik und Landeskunde 1838, S. 174–196, 179. 28 Vgl. dort S. 376 bzw. 378 unten. 29 Vgl. Art. »1Dieb«, in: Deutsches Rechtswörterbuch (DRW), Bd. 2, Sp. 797–804, und Art. »Galgen«, in: DRW, Bd. 3, Sp. 1141–1143. 30 Vgl. Art. »Rad«, in: DRW, Bd. 10, Sp. 1552–1557.

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kleinere Diebe.31 Alle drei dargestellten Strafinstrumente stehen somit für besonders ehrenrührige Vollstreckungen. Zugleich wird das Nachdrucken mit drei Straftaten gleichgestellt: Diebstahl (der gedruckten Inhalte), Verrat (gegenüber dem redlichen Erstdrucker) und Betrug (u. a. am Käufer und Leser, der auf die Originalität der gedruckten Inhalte vertraut). Johann Karl Heinrich Dreyer, dem der versteckte Bezug des Kupferstichs zu Moscheroschs Erzählung sicherlich unbekannt war, ordnete den Stich in seiner oben erwähnten Bildersammlung im Kapitel über die »Picturae famosae« ein, hielt ihn also für eine Art Schandbild oder Schandgemälde. Im ausgehenden Mittelalter und in der frühen Neuzeit dienten solche Schmähbilder vornehmlich der Verächtlichmachung säumiger Schuldner, denen man anders nicht beikommen konnte – etwa weil sie adelig waren.32 Die verunglimpfenden Bildnisse wurden den Betroffenen zugeschickt oder öffentlich verbreitet, um damit eine Ehrenminderung des Adressaten herbeizuführen: Der Geschmähte sollte auf diese Weise dazu bewegt werden, von seinem schändlichen Verhalten abzulassen, um hierdurch seine Ehre reinzuwaschen. Auf solchen Schandgemälden wurden die Schuldner daher tatsächlich des Öfteren im Kontext von Galgen und Rad dargestellt, wie nicht zuletzt einige Beispiele in Dreyers Sammlung zeigen.33 Die kompositorische Ähnlichkeit des unteren Teils des Kupferstichs mit solchen Schandbildern dürfte dem Künstler bewusst und Absicht gewesen sein. Immerhin kann die Intention des Stichs als vergleichbar betrachtet werden: Allen Betrachtern des Kupferstichs sollte die Unredlichkeit des Nachdruckens vor Augen geführt werden – Nachdrucken sollte geradezu als Verbrechen gebrandmarkt werden, um so die Buchdrucker vom Nachdrucken abzuhalten und zur Redlichkeit zu ermahnen.

31 Vgl. Art. »Staupbesen«, in: DRW, Bd. 13, Sp. 1565f., und Art. »stäupen«, a. a. O. Bd. 13, Sp. 1568f. 32 Grundlegend zu den Schandbildern: Matthias Lentz, Konflikt, Ehre, Ordnung – Untersuchungen zu den Schmähbriefen und Schandbildern (ca. 1350 bis 1600), Hannover 2004; Eberhard von Künßberg, Rechtsgeschichte und Volkskunde, in: Jahrbuch für historische Volkskunde 1 (1925), S. 69–125, hier 106ff.; Otto Hupp, Scheltbriefe und Schandbilder – ein Rechtsbehelf aus dem 15. und 16. Jahrhundert, Schleißheim 1930. 33 Vgl. auch: Andreas Deutsch, Eselritt und Rabenstein – Tiere bei der Strafvollstreckung gegen Menschen, in: Ders./Peter König (Hg.), Das Tier in der Rechtsgeschichte, Heidelberg 2017, S. 449–462, hier 454 und 458f.

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Abb. 4: Beispiel für ein Schandbild mit Galgen und Rad; Ausschnitt vom Titelvorblatt, in: Christoph Ferdinand Voit von Berg (Resp.)/Johann Salomo Brunquell (Praes.), Dissertatio Inauguralis Iuridica De Pictura Famosa, Et De Specie Iuris Germanici, Pacto Nimirum, Quo Maiores Nostri, Sub Pictura Famosa, Bey Straffe Schand-Gemähldes, Sese Obligarunt, Jena 1734; Exemplar der SLUB Dresden (Coll.diss.A.14,20).

V.

Die auf dem Kupferstich genannten Buchtitel

Das Augenmerk des Betrachters wird fast unwillkürlich auf die rund um die Bildszene des Stichs in kleinen Kästchen aufgelisteten in verkürzter Form angegebenen Autorennamen und Buchtitel gelenkt. Bevor sie in einen weiteren Zusammenhang gebracht werden können, gilt es, die uns heute zum größeren Teil nicht mehr ohne weiteres geläufigen Kurzbezeichnungen aufzulösen. Es handelt sich im einzelnen um folgende Werke: – »Brunnemann in Codicem.« = Johann Brunnemann, Commentarius in Duodecim Libros Codicis Iustinianei, Leipzig 1663. – »Geieri Opera Omnia.« = Martin Geier, Opera omnia, 2 Bde., Amsterdam 1696.34 – »Cellarii Grammat.« = Christoph Cellarius, Erleichterte Lateinische Grammatica Oder Kurtze doch zulängliche Anweisung zur Lateinischen Sprach, um mehren Nutzens willen bey der Jugend Teutsch abgefast, mit eingemengten nützlichen Anmerckungen, so von denen gemeinen Grammaticis übergangen werden, Merseburg 1689.35

34 Es handelt sich um eine posthume Zusammenstellung der Werke des insbesondere in Leipzig wirkenden lutherischen Theologen, der bereits 1680 in Freiberg verstorben war. 35 Ebenso gemeint sein kann: Ders., Grammatica Ebraea in Tabulis Synopticis, Zeitz 1684.

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– »Uffenbachs Reichs Hoff-Rath.« = Johann Christoph von Uffenbach, Vom Kayserl. Reichshoffrath Tractatus singularis et methodicus de excelsissimo consilio caesareo-imperiali aulico, Wien 1683.36 – »Corderi Colloquia.« = Mathurin Cordier, Colloquiorum scholasticorum libri IIII, ad pueros in sermone Latino paulatim exercendos, Genf 1564.37 – »Smetii Prosodia.« = Henrich Smet, Prosodia promtissima, quae Syllabarum Positione & diphthongis carentium Quantitates, Sola veterum Poetarum auctoritate, adductis exemplis demonstrat, Frankfurt (Main) 1599. – »Schmid in Jobum« = Sebastian Schmidt, In librum IJobi commentarius, in Quo, cum optimis quibusque Commentaribus, tum Hebræis tum Christianis, coharentia & vocabula diligenter expenduntur & sensus studiosè eruitur, Straßburg 1670. – »Schmidii Collegium Biblicum.« = Sebastian Schmidt, Collegium Biblicum: Prius: In Quo Dicta Scripturæ Veteris Testamenti Sexaginta Sex, juxta Seriem Locorum Communionum Theologicorum disposita, dilucidè explicantur; Posterius: In Quo Dicta Scripturæ Novi Testamenti Quadraginta Sex, Juxta Seriem Locorum Communium Theologicorum disposita, dilucidè explicantur, Straßburg 1670. – »Schmidii in Samuelem.« = Sebastian Schmidt, In Librum Priorem Samuelis Commentarius, exhibens ad Singula libri Capita Versionem Textus Hebræi Latinam, Analysin, Annotationes, Quæstiones et Locos Communes / In Librum Posteriorem Samuelis Commentarius, exhibens ad Singula Libri Capita Versionem Textus Hebræi Latinam, Analysin, Annotationes, Quæstiones et Locos Communes, Straßburg 1687. – »Rhenii Donat.« = Johann Rhenius, Donatus Latino-Germanicus, Seu Ratio Declinandi & Conjugandi, Pro incipientibus, Leipzig 1614. – »Rhenii Compend.« = Johann Rhenius, Compendium Latinae Grammaticae : In quo praecepta pueris ediscenda maxime perspicua brevitae omnia continentur, ab innumeris erratis liberata, Leipzig 1611.38 – »Seüboldii Off. Virt. Vitior.« = Johann Georg Seybold, Officina Virtutum, Seu Præceptiunculæ morales in gratiam Tirunculorum conscriptæ, & in brevium Exercitiorum formam redactæ; 2 Bde., Nürnberg 1670–1672. 36 Erstdruck: Wien (Hofdrucker Cosmerovius) 1683 mit kaiserlichem Privileg; weitere Drucke: Frankfurt (Main) 1700 (Zunner): »cum privilegiis«; Wien/Prag (Müller) 1700: »juxta exemplar Viennense accuratior et correctior«. 37 Im selben Jahr erschienen Drucke in Lyon und Paris. 38 Rhenius hatte als Autor 1625 ein kaiserliches Privileg über 10 Jahre für die beiden hier genannten Werke erhalten; vgl. Hans-Joachim Koppitz, Die kaiserlichen Druckprivilegien im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien: Verzeichnis der Akten, Wiesbaden 2008, S. 441. 1662 erhielten Thomas Schürer, Matthias Goetzens Erben und Friedrich Lanckisch d.J. gemeinschaftlich ein zehnjähriges Privileg für »Joannis Rhenij Donatus und Grammatica Latina maior cum compendio Grammatices«; vgl. a. a. O., S. 490.

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– »Seidelii Portula.« = Caspar Seidel, Portula Aurea, Cum ad pietatem & bonos mores, tum ad Linguam Latinam simul addiscendam adapertissima Pro Christianis Pueris erecta, Zerbst 1634. – »Formula Concord.« = Formula Concordiae – Konkordienformel, 1577 / Concordia. Christliche, Widerholete einmütige Bekentnüs nachbenanter Churfürsten, Fürsten und Stende Augspurgischer Confession, und derselben Theologen Lere und glaubens, Dresden 1580. – »Berlichii Conclusion.« = Matthias Berlich, Conclusiones Practicabiles, Secundum Ordinem Constitutionum Divi Augusti, Electoris Saxoniae, discussæ, omnibus in Academijs, Camera Imperiali, aliisque iudicijs, inprimis vero in foro Saxonico versantibus utilißima & summe necessaria; 5 Bde., Leipzig 1614–1618.39 – »Francisci Ruhestunden« = Erasmus von Finx (genannt Erasmus Francisci), Derer, die nach der ewigen und beständigen Ruhe trachten, Seelen-labende Ruhestunden, unter den unruhigen Mühen und Threnen dieser Welt, Allen Leidenden zur Erquickung, den Angefochtenen zur Rüstung, den Sichern und Unbußfertigen zur Warnung gewidmet, Leipzig 1676.40 – »Farinacii de Testibus« = Prospero Farinacci, Tractatus de testibus. Oppositiones omnes contra testium personas, dicta, & examen per tres titulos, Venedig 1596. – »Baldunii Casus« = Friedrich Balduin, Tractatus Luculentus, Posthumus, Toti Reipublicæ Christianæ Utilissimus, De Materia rarissime antehac enucleata, Casibus nimirum Conscientiæ, Wittenberg 1628. Versucht man die achtzehn Titel inhaltlichen Kategorien zuzuordnen, so stellt man fest, dass die größte Gruppe, nämlich acht Werke, im weitesten Sinne theologische Themen berührt (Geier, Cordier, 3x Schmidt, Konkordienformel, von Finx und Balduin). Als zweite Gruppe ist die philologische Literatur auszumachen. Es handelt sich dabei um Unterrichtswerke zum Lateinischen (Cellarius, Smet, 2x Rhenius, Seybold, Seidel) als der Bildungssprache der Zeit, die auch den Zugang zur Bibel und theologischen Werken erleichtert. Nur vier, eher untypische41 Beispiele zum Nachdruck stammen aus dem Bereich der Rechtswissenschaft (Brunnemann, Uffenbach, Berlich und Farinacci). Es spricht also einiges dafür, dass derjenige, auf den die Konzeption des Kupferstichs zurück39 Für dieses Werk hatten die Erben des Leipziger Verlegers Henning Grosse 1660 ein Privileg erworben, vgl. Koppitz, Druckprivilegien, S. 198. 40 Zu einem sächsischen Privileg hierzu von 1686: Koppitz, Druckprivilegien, S. 624 (zu Zunner). 41 Farinaccis Buch ist ein italienisches Werk, das dann in Deutschland nachgedruckt wurde. Der betroffene Verleger saß also in Italien – um die Belange von Ausländern kümmerten sich die Drucker normalerweise nicht. Uffenbachs Werk zum Reichshofrat ist nur 1700 nachgedruckt worden.

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geht, aus dem Bereich der Theologie stammt; denkbar wäre auch, dass es sich um einen Philologen, z. B. einen Lehrer, handelte. Die achtzehn Buchtitel sind zudem auffallend alt: Vier Werke (Cordier, Smet, Konkordienformel, Farinacci) sind bereits im 16. Jahrhundert entstanden, drei weitere (2x Rhenius, Berlich) stammen aus dem frühen 17. Jahrhundert – und waren damit zum Zeitpunkt der Entstehung des Kupferstichs bereits über hundert Jahre alt. Das jüngste Buch (Schmidt, Samuel-Kommentar) ist 1687 erschienen,42 also rund 36 Jahre vor dem Kupferstich. Die ersten Nachdrucke der Werke liegen demgemäß lange zurück. Hinzu kommt, dass es sich bei einzelnen der Nachdrucke um autorisierte Fälle (etwa aufgrund Verlagsnachfolgen) gehandelt haben dürfte. Zweifellos hätte man um 1723 deutlich aktuellere und spektakulärere Beispiele für unerlaubten Nachdruck finden können. Der Kupferstich und die Gründe für seine Entstehung erscheinen damit noch rätselhafter.

VI.

Der Einschub in den Moscherosch-Text

Einen Schlüssel zum Verständnis könnte allerdings der im hier vorgestellten Büchlein in den Philander-Text von Moscherosch – recht unbeholfen – eingefügte Textabschnitt liefern, dessen Kernpassage wörtlich wie folgt lautet: »Ich bin OCUS BOCUS, der liederliche Buchbinder [sic! – es muss natürlich heißen: Buchführer, Buchverleger], der alle Schuel-Bücher durch böse Räncke nachdrucken lassen, und habe gute Gelegenheit gehabt mich etliche benachbarte Druckereyen, als Goßlar, Erfurt, Helmstädt zu bedienen, da dann die Wasserquelle, Neue-Testament, Corderi43 Colloquia, Donat, Vestibulum, Müllers-Erquickstunden, Lobwasser und viele andere Privilegirte Bücher in grosser Menge gedrucket worden, sonderlich Cellarii Grammat, die man an gar vielen Orthen den Rechtmäßigen Verleger gottloser Weise nachgedrucket, von welchen Nachdruckern ganze Fuder vor mein Hauß bekam, die ich in grosser Menge nach Leipzig brachte und wider die Chur-Fürstliche Privilegia und Befehle daselbst heimlich distrahirte und ver-partirte […]«.

Durch diesen Einschub wird der Zusammenhang zwischen dem Kupferstich und dem Philander-Text nochmals verstärkt herausgearbeitet, denn drei der in dieser Ergänzung genannten Buchtitel finden sich auch auf dem Stich: – »Corderi Colloquia« = Mathurin Cordier, Colloquiorum scholasticorum libri IIII, ad pueros in sermone Latino paulatim exercendos, Genf 1564.44 42 Bei den noch etwas später gedruckten »Opera omnia« von Martin Geier (2 Bde., Amsterdam 1696) handelt es sich um eine posthume Kompilation – das genannte Werk ist mithin selbst ein Nachdruck der Werke des bereits 1680 verstorbenen Theologen. 43 Hinter »Corderi« steht im Original fälschlich ein Komma. 44 Spätere (überarbeitete) Drucke u. a.: Frankfurt (Main) (Gensch) 1692, 1694, 1711 und 1719; Edinburgh 1698 und 1712; Frankfurt (Main) (Bencard) 1708; Frankfurt (Main) (Görlin) 1713;

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– »Donat« = [vermutlich:]45 Johann Rhenius, Donatus Latino-Germanicus, Seu Ratio Declinandi & Conjugandi, Pro incipientibus, Leipzig 1614.46 – »Cellarii Grammat« = Christoph Cellarius, Erleichterte Lateinische Grammatica Oder Kurtze doch zulängliche Anweisung zur Lateinischen Sprach, um mehren Nutzens willen bey der Jugend Teutsch abgefast, mit eingemengten nützlichen Anmerckungen, so von denen gemeinen Grammaticis übergangen werden, Merseburg 1689.47 Die anderen im Einschub zitierten Titel waren zu damaliger Zeit vergleichbar bekannt und verbreitet – allerdings auch ähnlich alt: – »Wasserquelle« = [vermutlich:] Basilius Förtsch, Geistliche Wasserquelle, darinnen sich ein jedes frommes Hertz … erfrischen kan, Altenburg 1609.48

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Frankfurt (Main) (Mulz) 1723; dann oft im englischsprachigen Raum. Laut Koppitz, Druckprivilegien, S. 197, erhielt Henning Grosse 1606 ein kaiserliches Privileg für »Maturini Corderi Colloquia scholastica mit deutscher Version (recogn. Heynecci)« – wohl in Erneuerung eines älteren Privilegs; 1678 bemühte sich Johann Peter Zubrodt (erfolgreich?) um ein Privileg für die Colloquia; 1700 erhielt Johannes Bencard ein Privileg für eine lateinischdeutsche Fassung (vgl. ebd. S. 29 und 34). Seit dem Mittelalter wurden eine Vielzahl volkssprachliche Grammatiktraktate jedweder Art »Donat« genannt – in Anlehnung an den römischen Grammatiker und Rhetoriklehrer Aelius Donatus. Da hier weitere Angaben fehlen, spricht viel dafür, dass das bereits genannte Werk von Rhenius gemeint ist. Aber z. B. auch der oben genannte Johann Georg Seybold brachte einen (privilegierten) »Donat« heraus. Die Erstausgabe erschien bei Valentin 1614 »cum privilegio speciali«. Rhenius hatte als Autor 1625 ein kaiserliches Privileg über 10 Jahre für dieses Werk erhalten (Koppitz, Druckprivilegien, S. 441, 464). Die Ausgaben Leipzig (Lankisch) 1637, 1645, 1700 und 1737 sind je mit Hinweis auf kaiserliche und sächsische Privilegien. Belegt ist, dass 1662 Thomas Schürer, Matthias Goetzens Erben und Friedrich Lanckisch d.J. gemeinschaftlich ein zehnjähriges Privileg für »Joannis Rhenij Donatus und Grammatica Latina maior cum compendio Grammatices« erteilt bekamen, vgl. Koppitz, Druckprivilegien, S. 490. Ferner: Ausgabe Frankfurt (Oder) (Ernesti) 1679 mit Hinweis auf brandenburgisches Privileg. Spätere Drucke z. B.: Magdeburg (Müller) 1721; Küstrin (Hübner) 1736 (mit Hinweis auf preußisch-brandenburgisches Privileg). Schon in der Ausgabe Merseburg (Forberger) 1689 mit dem Hinweis: »auf gnädigste fürstl. Verordnung vor die Schulen des Stiffts Merseburg verordnet«; dann ebenda 1693, 1694, 1697, 1700 – »mit churf. sächs. gnädigst. Befreyung«, 1709 ebenso, 1716 (»mit Röm. käyserl. auch königl. und churfl. Sächs., ingleichen Königl. Preußischen und Chur-Fürstl. Brandenburg. allergnädigsten Privilegiis«), ferner 1728, 1731, 1740. Nachdruck: Berlin (Rüdiger) 1724 (»mit Kön. Preuß. und Churfl. Brand. allergn. Spec. Privilegio«), 1730, 1735 und 1736. Mehrere miteinander verwandte Titel kommen hier in Betracht: Vgl. Thomas Rossmann, Geistliche Wasserquelle, Aus dem Reinen Bruennlein Jsraelis … Das ist Trostschrifft Allen betruebten frommen Christen hertzen, Leipzig (Schnellbolz) 1597 (wohl nicht gemeint).– Basilius Förtsch, Geistliche Wasserquelle, darinnen sich ein jedes frommes Hertz … erfrischen kan, Altenburg (Grosse) 1609; dann: Leipzig (Grosse) 1615 (»cum privilegiis«), 1617 (»mit … churf. sächs. privilegio«), 1619 (»cum privilegio«), ebenso 1636, 1649. Weitere Drucke z. B.: Nürnberg (Endter) 1636, 1663, 1677, 1720, 1738; Lüneburg 1642, 1655; Ulm (Kühn) 1648; Nürnberg (Felsecker) 1664); Berlin (Runge) 1670)–daneben unterschiedliche

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– »Neue-Testament« = [vermutlich:] Hieronymus Emser, Das naw testament nach lawt der Christlichen kirchen bewerten text corrigirt und widerumb zu recht gebracht, Dresden 1527.49 – »Vestibulum« = Johann Amos Comenius, Ianuae Linguarum reseratae Vestibulum, sive Primus ad Latinam linguam, primis Tironibus aditus, Leipzig 1635.50 – »Müllers-Erquickstunden« = Heinrich Müller, Geistliche Erquickstunden oder CL Hauß- und Tisch-Andachten – Von guten Hertzen zum Druck befordert, 2 Bde., Rostock 1664/65.51 – »Lobwasser« = Ambrosius Lobwasser, Der Psalter dess Königlichen Propheten Davids Jn deutsche reymen verstendiglich und deutlich gebracht, mit vorgehender anzeigung der reymen weise, Leipzig 1573.52

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Umarbeitungen und vergleichbare (angelehnte) Titel. Vor allem: Neu-entsprungene WasserQuelle, Vor Gottes ergebene und Geistlich-dürstige Seelen, worinnen Vorbereit- Zeit- ArbeitLeid- Freud- Streit- und Ewigkeit-Gebete zu befinden, aufgeraumet von dem Spahten [i.e Kaspar von Stieler], Weimar (Schmied) 1670 (mit kursächs. Privileg); dieser Titel dann bei: Nürnberg (Hofmann) 1674 (mit kursächs. Privileg), ebenso 1676, 1681, 1690; ferner 1693 und 1718 ( je »mit verlängertem churf. s. privilegio«); Nachdruck: Hildesheim (Weißkopf) 1676. 1701 erwirkten die Felseckerischen Erben (Nürnberg) ein kaiserliches Privileg u. a. für die »Wasserquellen« und den Lobwasser, woraufhin die anderen Nürnberger Buchdrucker einen Rechtsstreit anstrengten, das Privileg sei erschlichen, in der Folge wurden die Verlagsprodukte der Felseckerischen Erben konfisziert, vgl. Koppitz, Druckprivilegien, S. 137ff.; 1742 erhielt Christina Elisabeth Ebersbacher ein zehnjähriges kaiserliches Privileg u. a. für »Wasserquell« und den Lobwasser, vgl. a. a. O. S. 102. Erstdruck Dresden (Stöckel) 1527 »cum privilegio«. Das Buch wurde noch im 18. Jahrhundert gedruckt, noch 1781 und 1791 wurden dafür kaiserliche Nachdruckprivilegien erteilt, vgl. Koppitz, Druckprivilegien, S. 212. Die erste Auflage erschien in Leipzig bei Rehefeld 1635 noch ohne Privilegienhinweis. Erst in der Ausgabe Leipzig (Grosse) 1639 erfolgt ein Hinweis auf kaiserliche und sächsische Privilegien. Überarbeitete Fassungen z. B. Marburg (Stock) 1690 und 1710, Danzig (Mansklap) um 1680. Spätere (überarbeitete) Drucke z. B.: Leipzig 1717 und Züllichau 1736. Zum kaiserlichen Privileg für Leonhard Loschge (1677) für eine dreisprachige Ausgabe des Vestibulum vgl. Koppitz, Druckprivilegien, S. 325. Die ersten beiden Druckausgaben bei Keil in Rostock 1664/65 und 1666 erschienen ohne Hinweis auf ein Privileg. Dann erschien das Buch in Frankfurt (Main) bei Wust jeweils mit Nennung eines sächsischen Privilegs: 1667, 1669, 1671, 1672, 1673, 1677, 1679, 1681, 1690 (ohne Privilegien-Nennung), 1692, 1700 und 1708! Ferner z. B.: Berlin (Runge) 1658 und 1676 (mit brandenburgischem Privileg); Nürnberg (Felsecker) 1673 und 1691; Hamburg (Knust) 1686; Berlin (Rüdiger) 1724, u.v.a.–1720 erschien laut SWB eine Ausgabe ohne Ort und Verlegerangabe. 1744 erhielten die Endterschen Erben und Engelbrechts Witwe ein kaiserliches Privileg für 10 Jahre, vgl. Koppitz, Druckprivilegien, S. 119. Die erste Auflage erschien bei Steinmann und Vögelin in Leipzig 1573; es folgten: Heidelberg 1574, 1577; Leipzig 1576; Neustadt/Weinstr. (Harnisch) 1582, Herborn (Rab) 1589, 1591, 1592, 1606, 1609, 1616 (?); Straßburg (Jobin) 1597, Amberg (Forster) 1604, 1610 u.v.a. – Zum Privileg der Felseckerischen Erben (Nürnberg) 1701, vgl. Anm. 48; u. a. bezüglich Lobwasser sprach sich auch der Frankfurter Rat 1701 für eine Kassierung des Privilegs der Familie Felsecker aus, vgl. Koppitz, Druckprivilegien, 139 u. 624f.

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Die genannten Buchtitel (und ebenso jene, die auf dem Stich angeführt sind) haben einiges miteinander gemeinsam: Es handelt sich durchgängig um Werke, die 1723 bereits über mehrere Generationen gedruckt wurden, wobei an jedem der Titel zumindest ein Verlagshaus ein Nachdruckprivileg für sich beanspruchte – insoweit stimmt der Hinweis des anonymen Autors, es handele sich um »Privilegirte Bücher«. Oftmals war das mit dem Privileg versehene Verlagshaus durchaus nicht mit demjenigen, das den aufwändigen und finanziell riskanten Erstdruck veranstaltet hat, identisch, hatte aber den Titel – berechtigt oder unberechtigt – (nachträglich) für sich schützen lassen.53 Die Privilegien wurden bei all den angeführten Werken vom jeweiligen Verleger über lange Jahre, oft Jahrzehnte fortlaufend beansprucht.54 Dass die betreffenden Privilegien tatsächlich ohne zeitliche Beschränkung erteilt worden waren oder beim Privilegiengeber nach Ablauf der Schutzfrist immer wieder aufs Neue wirksame Verlängerungen erwirkt worden sind,55 lässt sich im Einzelfall nicht belegen; wahrscheinlicher erscheint daher, dass zumindest in einzelnen Fällen die einmal erwirkten Privilegien von den Verlagsfamilien als mehr oder weniger erblich empfunden und stillschweigend fortgeführt wurden.56 Anders ausgedrückt: Die Verleger scheinen Titel, die sie in berechtigter Weise über lange Zeit hinweg wiederholt gedruckt haben, als eine Art gewohnheitsrechtlich fundiertes57 Verlagseigentum betrachtet zu haben, sodass ihnen jedweder Nachdruck als eine Form des Diebstahls erschien.58 Ein besonderes Schutzinteresse der die Privilegien beanspruchenden 53 Zur Möglichkeit für Werke, die schon anderswo gedruckt worden sind, ein Privileg zu erwerben: Ludwig Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht, Baden-Baden 1995, S. 77. 54 Ein vergleichbares Beispiel hat Elmar Wadle aufgearbeitet, vgl. Ders., Privilegia Impressoria vor dem Reichshofrat. Eine Skizze, in: Leopold Auer/Werner Ogris/Eva Ortlieb (Hg.), Höchstgerichte in Europa: Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen, Köln/Weimar/ Wien 2007, S. 203–214, insb. 210ff. 55 Zum Prinzip dieser wiederholten Verlängerungen: Gieseke, Privileg, S. 77; Hans-Joachim Koppitz, Zur Form der Anträge auf Bewilligung kaiserlicher Druckprivilegien durch den Reichshofrat, in: Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt (Hg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 1, Frankfurt (Main) 1997, S. 347–375, 367. Generell zur »Confirmatio privilegiorum« Heinz Mohnhaupt, in: Barbara Dölemeyer/Ders. (Hg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 2, Frankfurt (Main) 1999, S. 45–63. 56 Zu bedenken ist, dass formale Privilegien-Verlängerungen kostspielig waren. Laut Koppitz, Form der Anträge, S. 368, wurden von der kaiserlichen Kanzlei 2 bis 3 Gulden pro Bewilligungsjahr abgerechnet. 57 Zur Problematik aus zeitgenössischer Sicht etwa: Johann Abraham Birnbaum, Eines aufrichtigen Patrioten unpartheyische Gedancken über einige Quellen und Wirckungen des Verfalls der ietzigen Buch-Handlung, worinnen insonderheit die Betrügereyen der BücherPraenumerationen entdeckt, und zugleich erwiesen wird, daß der unbefugte Nachdruck unprivilegirter Bücher ein allen Rechten zuwiederlauffender Diebstahl sey, Schweinfurt 1733, S. 42ff. 58 Zum Anspruch der Verlage seit dem 17. Jahrhundert langjährig gedruckte Titel als eine Art Verlagseigentum zu betrachten: Gieseke, Privileg, S. 93ff., der betont, dass solch ein Recht von Verlegern insbesondere auch dann beansprucht wurde, wenn zuvor das Manuskript vom

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Verlage lässt sich hingegen in vielen Fällen – oft ein Jahrhundert oder mehr nach dem Erstdruck – kaum mehr erkennen. Wenn sich der Kupferstich also gegen die Praxis anderer Verleger und Drucker wendet, solche Titel nachzudrucken, so geht es hierbei rein und ausschließlich um die Sicherung des Marktvorteils für den das Privileg beanspruchenden Verlag. Ein Autorenschutz oder gar ein Urheberrecht im modernen Sinne wird nicht thematisiert.59

VII.

Das Dekret von Helmstedt

Anlass für den Druck des hier vorgestellten Büchleins – und damit auch des Kupferstichs vom diebischen Büchernachdrucker – dürfte das mitabgedruckte »Decret von Helmstädt« vom Juli 1722 sein, ist es doch der einzige Text im Buch, der in zeitlicher Nähe zum Druckdatum entstanden ist: »DECRET von Helmstädt, Wegen der daselbst nachgedruckten Scriveri Andachten Im Sachen des Bürger Hauptmanns und Buchführers Johann Melchior Süstermanns Klägers an einen entgenen [!] dem Buchdrucker Johann Stephan Hessen, beklagten, am ander Theil Erkennen Braunschweig. Lüneb. Gerichts Schuldheiß, auch Burgemeister und Rath der Stadt Helmstädt denen ergangenen Acten nach vor Recht: Daß Beklagter nicht gebühret, die zu des Klägers Privilegirten Verlag gehörigen Gottholds-Andachten nachzudrucken, und dahero derselbe, der dem Kläger dadurch verursachten Schaden, wenn dieser zuvor entweder solchen beybringen, oder vermittelst Eydes erhärten wird, nebst Unkosten zu erstatten schuldig, auch wegen der begangenen Mißhandlung in 30 Rthlr. Straffe zu condemniren seye. Wird nun beklagter den Grund seiner Reconvention60 binnen 4 Wochen gebührend erweisen, so ergehet auch ferner deshalb was recht ist. Ubrigens wird Kläger mit seiner in der am 12ten Februar a.c. übergebenen Schrifft wegen completirung 50 Exemplaria von Scrivers Seelen-Schatz ad Separatum verwiesen,61 und haben beyderseits Anwalde mit behörigen Vollmachten sich ad acta zu legitimiren. V.R.W. Ins: ad Domum des Beklagten den 23. Julii 1722. Opperman.«

Autor erworben wurde. Auch in der zeitgenössischen Literatur findet sich die Auffassung, der Verleger erwerbe mit Ankauf des Manuskripts ein ewiges Recht, das Buch zu drucken (was als »Eigentum« bezeichnet wird), vgl. Nicolaus Hieronymus Gundling [zugeschrieben], Rechtliches und vernunfftmäßiges Bedencken eines ICti, der unpartheyisch ist, von dem schändlichen Nachdruck andern gehöriger Bücher, o.O. 1726, insb. S. 5ff. 59 Zum Aufkommen der Idee vom geistigen Eigentum im frühen 18. Jahrhundert: Gieseke, Privileg, S. 115ff.; vgl. Elmar Wadle, Der langsame Abschied vom Privileg: Das Beispiel des Urheberrechts, in: Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt (Hg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 1, Frankfurt (Main) 1997, S. 377–399. 60 D. h. Gegenklage, vgl. DRW-Art. »Rekonvention«, DRW-Bd. 11, Sp. 840. 61 Eine weitere Streitsache wegen Exemplaren des »Seelen-Schatzes«, die Hesse für Süstermann gedruckt hat, soll also getrennt entschieden werden.

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Bei diesem »Dekret« handelt es sich mithin um eine Gerichtsentscheidung in einer Streitsache zwischen zwei in Helmstedt ansässigen Buchunternehmern, die auch Geschäftspartner waren: Heinrich Hess oder Hesse(n), der Vater des Beklagten Johann Stephan Hesse, hatte 1681 die für Helmstedt wichtige Schmidt’sche Offizin von der Witwe des Vorinhabers Henning Müller erworben, 1716 ging sie an den Sohn über, der sie als Drucker und Verleger bis zu seinem Tod 1725 innehatte.62 Johann Melchior Süstermann war »Buchhändler«, also Verleger, in Magdeburg und Helmstedt.63 Er war durch Heirat an Anteile an den Verlagsrechten für Werke Christian Scrivers gelangt: Scrivers Schriften, namentlich sein berühmter »Seelen-Schatz«, waren anfänglich von Johann und Friedrich Lüderwald in Leipzig und Helmstedt verlegt worden.64 Johann Melchior Süstermann hatte (vermutlich 1696) die Witwe des Verlegers Friedrich Lüderwald geheiratet,65 dem 50 % an den Rechten für Scrivers Werke zugestanden hatten. Die Nachfolge des 1693 verstorbenen Johann Lüderwald (und damit der anderen Hälfte an den Rechten), hatte 1694 dessen Schwiegersohn Johann Nicolaus Gerlach, Buchhändler in Helmstedt und Magdeburg,66 angetreten; er verstarb allerdings schon wenige Jahre später, sodass »Maria Elisabeth Gerlachin, Wittib, gebohrene Lüderwaldin« wohl noch im Jahre 1697 erneut heiratete; ihr zweiter Mann, Christoph Seidel, führte die Verlagsgeschäfte – weiterhin in Kooperation mit Süstermann – fort.67

62 David L. Paisey, Deutsche Buchdrucker, Buchhändler und Verleger 1701–1750, Wiesbaden 1988, S. 107; Rudolf Schmidt, Deutsche Buchhändler – Deutsche Buchdrucker. Beiträge zu einer Firmengeschichte des deutschen Buchgewerbes, Bd. 5, Eberswalde 1908, S. 848; Carl L. Grotefend, Geschichte der Buchdruckereien in den Hannoverschen und Braunschweigischen Landen, hg. von F.G.H. Culemann, Hannover 1840, Bl. K 3v.ff. 63 Vgl. auch Josef Benzing, Die deutschen Verleger des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 18 (1977), S. 1077–1321, S. 1279. 64 Hier dürfte es sich also um ein Verlagsrecht kraft Manuskriptankaufs gehandelt haben, wie es Gieseke, Privileg, S. 95f., beschreibt. 65 Eine Neuauflage von »M. Christian Scrivers … Seelen-Schatzes … Fünfften Theils Letztes Stück« (Leipzig 1696) wurde verlegt von »Friedrich Lüderwalds Seel. Erben und Johann Nicolaus Gerlach«. 66 Benzing, Verleger, S. 1141. 67 Das gleich darzustellende Privileg Kaiser Leopolds vom 20. März 1697 richtet sich an die Witwe Gerlach. Die Seelenschatz-Ausgaben erschienen dann bereits ab 1698 bei Süstermann und Christoph Seidel.

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VIII. Die Privilegien an Scrivers »Zufälligen Andachten« und »Seelen-Schatz« Das Buch, in welchem es in der von Süstermann gegen Hesse angestrengten Klage wegen Nachdrucks ging, war einer der erfolgreichsten Titel aus der Feder des bedeutenden pietistischen Pfarrers und Erbauungsschriftstellers Christian Scriver (1629–1693): Christian Scriver, Gottholds Zufällige Andachten, Bey betrachtung mancherley Dinge der Kunst und Natur … entworffen von M. C. Scriver, Predigern bey der S. Jacobs Kirche in Stendal, Magdeburg (Johann Müller) 1663.

Das Werk war in erster Auflage bei Johann Müller in Magdeburg erschienen, gehörte aber seit 1671 (in erweiterter Ausgabe) zum Verlagsprogramm von Johann und Friedrich Lüderwald in Leipzig.68 Auf dem Titelblatt der nachfolgenden Auflage von 1674 findet sich der Hinweis auf ein sächsisches Schutzprivileg: »Mit ChurFürstlicher Sächsischer Freyheit« – so auch 1677, 1679, 1681, 1682, 1686, 1689. Auch die Ausgabe von 1691 verlegte das Haus Lüderwald. Ab 1697 erschien das Buch dann unter dem Titel »Gottholds Zufälliger Andachten Vier Hundert: Bey Betrachtung mancherley Dinge der Kunst und Natur in unterschiedenen Veranlassungen zur Ehre Gottes, Besserung des Gemüths und Ubung der Gottseligkeit geschöpffet, Auffgefasset und entworffen« mit dem Erscheinungsvermerk: »Verlegts Joh. Nicolaus Gerlachs sel. Wittwe und Joh. Melchior Süstermann, Buchhändl. in Magdeburg und Helmstädt«. Die nachfolgende, laut Titelangabe 11. Auflage, wurde 1701 für »Joh. Melchior Süstermann und Christoph Seidel, Buchhändl. in Helmstädt und Magdeburg« gedruckt – und zwar »mit Königl. Poln.– und Chur-Sächsischer Freyheit« (von 1697 bis 1763 wurden das Kurfürstentum Sachsen und das Königreich PolenLitauen die meiste Zeit in Personalunion regiert, weshalb die sächsischen Privilegien entsprechende Ergänzungen erhielten). Mit selbem Privilegienvermerk erschien die 12. Auflage, Leipzig 1704, allein im Verlag von Süstermann in Helmstedt, desgleichen die 13. Auflage von 1706, die 14. Auflage 1709 und die 15. Auflage 1711. Es folgen bei Süstermann noch die Auflagen Leipzig 1715, Leipzig 1717 und Leipzig 1718. Weiterhin mit gleichlautendem Privilegienhinweis erschien dann aber die 19. Aufl. 1724 bei Johann Friedrich Gleditschs Sohn (=Johann Gottlieb Gleditsch)

68 Christian Scriver, Gottholds Zufällige Andachten, Bey Betrachtung mancherley Dinge der Kunst und Natur in unterschiednen Veranlassungen Zur Ehre Gottes, Besserung deß Gemüths, und Ubung der Gottseligkeit geschöpffet, Auffgefasset und entworffen, Leipzig (Lüderwald) 1671.

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in Leipzig.69 Noch auf dem Titelblatt des Drucks für Gleditsch aus dem Jahr 1752 (22. Auflage) findet sich der nämliche Privilegienhinweis.70 Um das hier interessierende Jahr 1722 gingen »Gottholds Zufällige Andachten« somit offensichtlich vom Verlag Süstermanns auf das renommierte Buchhandels- und Verlagshaus Gleditsch in Leipzig über.71 Es ist bekannt, dass Süstermann damals finanzielle Schwierigkeiten hatte und auch seine Rechte am »Seelen-Schatz«, dem bedeutendsten Werk von Christian Scriver, an Gleditsch veräußert hat.72 Die merkwürdigen Umstände dieses Verkaufs geben einigen Aufschluss über die Situation Süstermanns und sollen daher kurz skizziert werden: Der »Seelen-Schatz« war bis dahin das wichtigste Verlagswerk der Lüderwald’schen Erben gewesen. 1697 war es »Maria Elisabeth Gerlachin, Wittib, gebohrene Lüderwaldin, und Johann Melchior Süstermann, Buchhändlere zu Magdeburg und Helmstädt« gelungen, zum Schutz des von den beiden Familien gemeinschaftlich vertriebenen »Seelen-Schatzes« von Kaiser Leopold I. ein »Käyserlich Privilegium impressorium« auf zehn Jahre ab Privilegienerteilung für sich und alle Erben mit Gültigkeit im ganzen Reich und in den habsburgischen Erblanden zu erwirken.73 Nachdem die Witwe Gerlach kurz darauf Christoph Seidel geheiratet hatte, erschienen die »Seelen-Schatz«-Ausgaben ab 1698 bei Süstermann und Christoph Seidel, bis letzterer um 1720 verstarb. Offenbar hatten Süsterwald und Seidel das Privileg auch nach dessen formellem Ablaufen im Jahre 1707 einfach weiter beansprucht. Denn erst 1736 bemühte sich »Maria Elisabetha verwittibte Seidelin, gebohrne Luderwaldtin, Buchhändlerin zu Magdeburg« um eine Verlängerung – unter Berufung auf das Privileg Leopolds I. von 1697. Am 23. Juli 1736 wurde Maria Elisabeth Seidel daraufhin von der Kanzlei Kaiser Karls VI. ein abermaliges Privileg auf 10 Jahre für den »Seelen-

69 Es folgen bei Gleditsch: Ausgaben 1731 und 1737. 70 Eine zum Teil abweichende Zählung findet sich bei: Holger Müller, Seelsorge und Tröstung: Christian Scriver (1629–1693), Erbauungsschriftsteller und Seelsorger, Diss., Heidelberg 2002, Beiband, S. 18ff. 71 Adalbert J. Brauer, Art. »Gleditsch, Johann Gottlieb«, in: Neue Deutsche Biographie (NDB), Bd. 6, Berlin 1964, S. 440f. 72 Albrecht Kirchhoff, Lesefrüchte aus den Acten des städtischen Archivs zu Leipzig, in: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels 15 (1892), S. 189–297, 246f. 73 Das Privileg vom 20. März 1697 ist im vollen Wortlaut abgedruckt z. B. hinter den »Zuschriften« (Vorworten) am Anfang der »Seelen-Schatz«-Ausgabe Leipzig 1708 – mithin nachdem das Privileg schon abgelaufen war! Ebenso in der Ausgabe von 1715. Dass der Schutz eines solchen Privilegs um 1700 bei weitem nicht mehr in allen Territorien des Reichs durchsetzbar war, bemerkt zu Recht Gieseke, Vom Privileg, S. 78; immerhin galt es in den Reichsstädten und damit auch für die Frankfurter Messe. Vgl. auch Koppitz, Form der Anträge, S. 351f.

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Schatz« erteilt.74 Am 12. September 1744 erwirkten dann Christoph Seidel d.J. (Sohn von Maria Elisabeth Seidel, geb. Lüderwald) und Georg Ernst Scheidhauer (Schwiegersohn von Maria Elisabeth Seidel) vom in Frankfurt (Main) weilenden Kaiser Karl VII. eine weitere zehnjährige Fortführung dieses Privilegs und am 30. Aug. 1756 wurde ihnen dieses Privileg durch Franz I. nochmals um 10 Jahre verlängert.75 Neben diesem kaiserlichen Privileg verfügten Süstermann und Seidel noch über ein kursächsisch-polnisches Privileg für den »Seelen-Schatz«,76 das freilich nur auf dortigem Territorium Geltung entfalten konnte. Seinen Anteil an diesem Privileg hat Süstermann wohl bereits 1719 an eben jenen Buchhändler und Verleger Johann Gottlieb Gleditsch verkauft, der ab 1724 auch Gottholds Andachten verlegte. Am 22. Oktober 1722 erfolgte die formale Abtretung des am selben Tag erteilten kursächsisch-polnischen Privilegs für Scrivers »SeelenSchatz« und »Safft und Krafft« von Süstermann an Johann Gottlieb Gleditsch.77 Offenbar hatte Süstermann Gleditsch allerdings vorgespiegelt, alle Rechte an diesem Nachdruckprivileg innezuhaben. Gegenüber der Leipziger Bücherkommission argumentierte Gleditsch, Seidels Privileg sei ohnehin abgelaufen gewesen; mit der Neuprivilegierung sei er jetzt alleiniger Privilegieninhaber, was Seidel naturgemäß nicht akzeptierte. Dennoch entschied die Bücherkommission am 26. April 1723, mit Gleditschs (gutgläubigem?) Erwerb seien die Mitrechte von Christoph Seidel erloschen; Seidel wurde der Vertrieb seiner Exemplare in Sachsen bei Strafe verboten.78 Im September 1723 entschied dem gegenüber das Oberkonsistorium, dass Süstermann nur seinen eigenen Anteil wirksam hatte verkaufen können, damit wurde indes zugleich bestätigt, dass Süstermann seit dem Verkauf keinerlei Rechte am kursächsischen Privileg für den »SeelenSchatz« mehr hatte. Ebenfalls 1723 erschien die – nach Verlagszählung – achte Auflage des »Seelen-Schatzes« im Verlag von Johann Gottlieb Gleditsch (»bey Johann Friedrich Gleditschens seel. Sohn«).79 Da die Abtretung des sächsischen Privilegs am »Seelen-Schatz« vornehmlich deshalb aktenkundig geworden ist, weil das Privileg Süstermann nicht alleine zustand, und sich daher der Streit um dieses Privileg vor der Bücherkommission

74 Das Privileg ist im Wortlaut zu Beginn der »Seelen-Schatz«-Ausgabe Leipzig (Seidel und Scheidhauer) 1737 abgedruckt. Koppitz, Druckprivilegien, S. 496, schreibt fälschlich, das Privileg sei auch zugunsten Süstermanns erteilt. 75 Koppitz, Druckprivilegien, S. 496. 76 Kirchhoff, Lesefrüchte, S. 247, bezeichnet es als »factisches« Privileg, weil es wohl nur gewohnheitsmäßig beansprucht wurde. 77 Koppitz, Druckprivilegien, S. 496. 78 Kirchhoff, Lesefrüchte, S. 246f., ferner S. 243, 248. 79 Vgl. zu den unterschiedlichen Ausgaben auch: H. Müller, Seelsorge und Tröstung, Beiband, S. 32ff.

»Der verfluchte diebische Bücher-Nachdrucker«

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entspann, spricht viel dafür, dass Süstermann seine Rechte am sächsischen Privileg für »Gottholds Zufällige Andachten« auf gleichem Weg veräußert hat. Ob der Verkauf des sächsischen Privilegs für »Gottholds Zufällige Andachten« vor oder nach der Klage Süstermanns gegen Hesse in Helmstedt erfolgte, über die ja am 23. Juli 1722 entschieden wurde, ließ sich nicht klären. Das Vorhandensein eines Privilegs war für die Helmstedter Richter jedenfalls entscheidungserheblich, denn sie votierten zugunsten Süstermanns als »Privilegirten Verlag«. Ein kaiserliches Privileg für »Gottholds Zufällige Andachten« hat Süstermann aber nie besessen: Es lässt sich nirgendwo nachweisen; es wurde auch – anders als das sächsische Privileg – auf keinem der Titelblätter zu »Gottholds Andachten« erwähnt, obgleich Süstermann, wenn es ihm möglich war, sonst nicht auf solche Privilegienhinweise verzichtete, wie sich am »Seelen-Schatz« ablesen lässt.80 Wenn man zugunsten Süstermanns daher annimmt, dass er zum Zeitpunkt seiner Klage noch im Besitz des sächsischen Privilegs war, stellt sich freilich die Frage, ob und inwieweit ein sächsisches Privileg zur Grundlage einer Gerichtsentscheidung im zum Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel gehörigen Helmstedt werden konnte.81 Möglicherweise wurde ein Mandat Kaiser Leopolds von 25. Oktober 1685 – entgegen der sonstigen Übung82 – sehr streng ausgelegt, in welchem es unter anderem hieß: »Alß befehlen Wir [Leopold] Allen eingangs bem. Buchtruckern, Buchführern und Kupferstechern, welche wie obgedacht die Franckfurter Meßen besuchen oder sonsten ihre Bücher und Kupferstich im Reich verhandlen, sambtlich und einem jeden insonderheit hiermit ernst- und endlich, das[s] sie bey Vermeidung Unserer Kays. Ungnad und Straff, und darzue einer Pöen sechs Marck löthigen golts nicht weniger Spörung der Bücher-gewölber, auch confiscation und Verlust aller darin habendten operum und ersetzung des vernachtheilten Köstens und schadens sich der privilegirten Bücher und anderer Authoren unerlaubten schädtlichen Nachtruckß, oder Titulatur oder inscription mit Röm. Kays. May. freyheit, da kein privi1egium würcklich obhanden oder deß erlangten Impressorij determinirte Jahr expirirt, Ihren Büchern fälschlich aufzusetzen, […] sich hinführo gäntzlich müßigen und enthalten […]«.83

Es könnte also sein, dass das Helmstedter Schultheißengericht den in diesem Mandat ausgesprochenen Schutz privilegierter Bücher (dem Wortlaut folgend) 80 Auch die vielleicht von Süstermann selbst verfasste im Anschluss an das Dekret mit abgedruckte »Sentenz Von den Nachdruck Scriveri Andachten« beruft sich nur auf ein sächsisches Privileg. 81 Zum Kursächsischen Mandat von 1686 gegen den Nachdruck und weiteren sächsischen Regelungen von 1594 und 1662, die allesamt nur in Sachsen Geltung beanspruchen konnten, vgl. etwa Gieseke, Vom Privileg, v. a. S. 84ff. 82 Hierzu Gieseke, Vom Privileg, v. a. S. 83f. 83 Voller Wortlaut abgedruckt in: Albrecht Kirchhoff, Beiträge zur Geschichte der Preßmaßregelungen und des Verkehrs auf Büchermessen im 16. und 17. Jahrhundert, in: Archiv für Geschichte des deutschen Buchhandels (1879), S. 96–137, hier S. 117–119, zit. S. 118.

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auf alle mit einem Privileg ausgestatteten Werke bezogen hat – und nicht nur jene, die über ein kaiserliches Privileg verfügten, also das (von Süstermann zu diesem Zeitpunkt vielleicht schon veräußerte) sächsische Privileg genügen ließ. Da das Dekret jedoch keine Rechtsgrundlage nennt, ist dies Spekulation. Die Basis der Entscheidung zugunsten von Süstermann bleibt somit eher zweifelhaft. Kaum zur Klärung des Sachverhalts trägt die im Büchlein von 1723 direkt im Anschluss an das Dekret mit abgedruckte anonyme Anmerkung »Von den Nachdruck Scriveri Andachten« bei, denn diese benennt vornehmlich weitere Vorwürfe, die gar nicht Gegenstand des Dekrets sind: »Vorhero gesetzten Sententz zeiget klar, das Hesse, der Boßhafftige Nachdrucker sey, und darbey so frech gewesen, daß er daß Königliche Polnische PRIVILEGIUM, auf diesen Nachdruck höchst straffbar gesetzet, es hat aber sein Diebs-Factor noch straffbarer gehandelt, daß er dieses falsch gedruckte Buch darinnen ganze Zeilen und Andachten mangeln als ein gestohlnes Guth an sich gekaufft und hierinnen das Königliche Preußsische Stehler- und Hehler Edict gar nicht respectiret. Denn wäre kein Hehler – So wäre kein Stehler. Ja die über dieses Buch den rechtmäßigen Verleger ertheilte Chur Sächsische Privilegia, gar nicht respectirt, sondern in L.O.M.84 und L.M.M.85 1722 eine grosse Menge Exemplaria öffentlich in Leipzig verthan, deswegen er höchst straffbar ist: 1. Das er ein Falsum begangen und das Privilegium auf den Titul gesetzet. 2. Das er mit solchen falsch gedruckten Buche, Landt und Leute betrogen und dennoch 3. Hat er doch viel hundert Exemplar ins Sachsen Land geschleppet und verthan. […].«86

Leider ließ sich kein Druck von Scrivers Andachten ausfindig machen, auf welchen die beschriebenen Kriterien passen,87 sodass sich die Vorwürfe weder benoch widerlegen ließen. Dunkel bleibt, warum das »Königliche Preußsische Stehler- und Hehler Edict« in Braunschweigischen Landen Relevanz haben sollte.88 Gemeint ist damit das Reskript vom 9/19. Oktober 1690, »daß die Hehler 84 = Leipziger Ostermesse. 85 = Leipziger Michaelismesse. 86 Es folgt eine längere Nebenbemerkung mit Beispielen, welch hohe Strafen einige Nachdrucker bezahlen mussten. 87 Auch Müller, Seelsorge, Beiband, S. 18ff., weist keinen entsprechenden Titel nach. Vielleicht wurden alle Exemplare beschlagnahmt. Denkbar wäre aber auch, dass Hesse (ebenso wie beim »Seelen-Schatz«, wo sein Name als Drucker auf einigen Titeleien genannt ist) Drucker der offiziellen Ausgaben von »Gottholds Andachten« war und er nur einen sogenannten »Nachschuss« angefertigt hat, also über die vereinbarte Stückzahl hinausgehende Exemplare, die er auf eigene Rechnung absetzte. Zu dieser Praxis vgl. etwa Johann Felix Bielcke, Warhafftige Nachrichten Der so alt- als berühmten Buchdrucker-Kunst, in welchen Vom Ursprung und Fortgang der Buchdruckereyen …, Gebräuchen, … Mißbräuchen und Unordnungen gehandelt wird, Frankfurt (Main)/Leipzig 1721, S. 49ff., 62; Friedrich Christian Lesser, Typographia iubilans, das ist: kurzgefasste Historie der Buchdruckerey, Leipzig 1740, S. 369; ferner Christian Friedrich Geßner, Die so nöthig als nützliche Buchdruckerkunst und Schriftgiesserey, Bd. 1, Leipzig 1740, S. 242. 88 Vielleicht war der Buchführer, der Hesse seine Drucke abnahm, in Preußen ansässig.

»Der verfluchte diebische Bücher-Nachdrucker«

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gleich denen Dieben gestraffet werden sollen«, in dem sich bereits wörtlich der Hinweis auf das Sprichwort findet: »Wenn kein Hehler wäre, auch kein Stehler oder Dieb seyn würde«.89 Natürlich bezieht sich die Bestimmung ausschließlich auf (Einbruch-) Diebstähle, nicht auf den Büchernachdruck.90 Die Anmerkung endet mit einem Hinweis darauf, dass den Nachdruckern und ihren Helfern eigentlich die Todesstrafe drohen sollte – ein erneuter Bezug zum Kupferstich: »Die Bücher Nachdrucker und dero Abnehmer und Handlanger sind füglich den falschen Müntzern zu vergleichen und wären auch billig mit dero Straffe zu belegen als nemlich Galgen, Rath, Schwerd und Feuer. Der rechtmäßige Privilegirte Verläger der Scriverischen Andachten hat das gute Vertrauen zu den Königl. Polnischen und ChurFürstl. Sächsischen Hochlöbl. Herren Bücher Commissärien, sie werden so gnädig seyn und ihn wegen dieses Buchs, Insonderheit wider die muthwilligen Distrahenten kräfftig und nachdrücklich schützen auch die Nachdrucker wegen ihrer Boßheiten und Mißhandlungen mit Ernst bestraffen.«

Der abschließende Satz deutet recht eindeutig an, von wem die Anmerkung stammt – nämlich vom laut Urteil rechtmäßigen Verleger von Scrivers Andachten, mithin Süstermann selbst. Dies wiederum lässt es wahrscheinlich erscheinen, dass das ganze Büchlein – samt Kupferstich – von Süstermann initiiert wurde. Er hatte ein massives Interesse daran, das ihm günstige Urteil publik zu machen, ohne dabei allzu auffällig auf sich selbst zu verweisen. Wie die Anmerkungen andeuten, war zudem das Zerwürfnis mit seinem früheren Drucker und Geschäftspartner Hesse gravierend und nachhaltig. Süstermann scheint seine Verlagsbuchhandlung nun allerdings aufgegeben zu haben.91 Die sächsischen Privilegien für Scrivers »Andachten« und »SeelenSchatz« waren ja bereits an Gleditsch übergegangen. Die von Süstermann (aufgrund des kaiserlichen Privilegs von 1697) noch beanspruchten Rechte am »Seelen-Schatz« hat er nun an die Familie Seidel verkauft, die den »SeelenSchatz« weiter in ihrem Programm behielt.92 89 Vgl. Christian Otto Mylius (Hg.), Corpus constitutionum Marchicarum, Teil II, 3, Berlin/Halle 1738, Sp. 31f. 90 Vgl. z. B. a. a. O., Sp. 35f.: »Geschärfftes Edict wegen derer in denen Residentzien mit Einbruch, Einsteigen, oder anderer Vergewaltigung beschehenden Diebstähle, solche mit dem Strange zu bestraffen« vom 23. Aug. 1700. 91 Spätere Titel aus dem Verlag Süstermann ließen sich bislang nicht auffinden. Im September 1722 ließ Süstermann noch erscheinen: S. Hieronymi Catalogus Scriptorum Ecclesiasticorum Seu De Viris Illustribus Liber Cum Notis Erasmi Roterodami Mariani Victorii Henrici Gravii Auberti Miraei Et Io. Alb. Fabricii Ernestus Salomo Cyprianus recensuit, & annotationibus illustravit, Helmstedt 1722. 92 Vgl. hierzu den Hinweis im oben erwähnten kaiserlichen Privileg vom 23. Juli 1736, »Maria Elisabetha verwittibte Seidelin, gebohrne Luderwaldtin, Buchhändlerin zu Magdeburg« habe »von Ihrem ehevorigen Handlungs-Consorten« Süstermann »seinen an mehr berührtes Buch habendes Antheil und Recht titulo oneroso [also: mittels einer erbrachten Gegenleistung] erhandelt«.

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IX.

Andreas Deutsch

Nachwirkung

Aufgrund der Publikation im hier vorgestellten Büchlein erfuhr der Rechtsstreit zwischen Süstermann und Hesse eine gewisse literarische Nachwirkung. So griff der berühmte Nordhäuser Polyhistor Friedrich Christian Lesser (1692–1754) in seiner »Historie der Buchdruckerey« von 1740 den Helmstedter Prozess als positives Beispiel dafür heraus, dass unerlaubter Nachdruck privilegierter Bücher zum Schutz der ehrlichen Verleger tatsächlich sanktioniert werde. Da »Gesetze ohne Straffe wie ein eingerosteter Degen in der Scheide« seien, täten alle »Obrigkeiten wohl, wenn sie über solche Verordnungen genau halten, und die Übertreter derselben bestraffen, damit andere daran ein Beyspiel nehmen, und sich vor solchen verbothenen Dingen hüten mögen.«93 Im gleichen Jahr befürwortete der Artikel »Nachdruck derer Bücher« in Zedlers »Universal-Lexicon« die Strafbarkeit des Nachdruckens als Diebstahl – und zwar unabhängig davon ob es sich um privilegierte oder nicht privilegierte Titel handelte.94 Als positives Beispiel wurde hierbei auf das Helmstedter Dekret »in Sachen Johann Melchior Süstermanns … wider den Buchdrucker Johann Stephan Hessen, wegen nachgedruckter Scriverischer Andachten« verwiesen.95 Zugleich wurde im Zedler-Artikel eine Kernintention des Kupferstichs vom »verfluchten diebischen Büchernachdrucker« nochmals aufgegriffen, denn der Autor forderte, den Nachdruck als »Diebstahl des Gebrauches« gemäß Art. 170 der Halsgerichtsordnung Kaiser Karls V.,96 also mit »leib oder leben«,97 zu bestrafen.

93 Lesser, Typographia iubilans, S. 396–398. 94 Diese weite Ansicht findet sich auch bei Gundling, Rechtliches Bedencken, insb. S. 25f., der 1726 wörtlich argumentiert: »Ein von mir mit vielen Kosten verlegtes Buch ist mein besonderes Eigenthum, welches mir niemand, ohne meinen Beyfall nehmen kan«, daher sei Nachdruck unzulässig. Gundling betont, Nachdruck-Privilegien seien nicht Voraussetzung für ein Recht des Verlegers am Buch, sondern nur ein zusätzlicher Schutz, um den sich Verleger bemühten, um ihre (bereits bestehenden) Rechte besser durchsetzen zu können, vgl. S. 16ff. 95 Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon, Bd. 23 (1740), s.v. »Nachdruck derer Bücher«, Sp. 60–80, hier Sp. 66. 96 Gemeint ist die Constitutio Criminalis Carolina von 1532, vgl. dort Art. 170: »Straff der jhenen so mit vertrawter oder hinderlegter habe ungetrewlich handeln«. 97 Zum Strafmaß vgl. Art. 160 (für Ersttäter bei einer Schädigung über fünf Gulden, was beim Nachdruck sicherlich stets der Fall wäre).

»Der verfluchte diebische Bücher-Nachdrucker«

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Zusammenfassung Der Kupferstich vom »verfluchten, diebischen Bücher-Nachdrucker« zeigt in Anlehnung an eine Geschichte von Johann Michael Moscherosch einen Buchdrucker, der sich durch seine Tätigkeit als Nachdrucker dem Teufel verschrieben hat und in der Hölle Qualen leiden muss. In Anspielung auf Schandgemälde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit wird der Büchernachdrucker zugleich als Dieb angeprangert, dessen Handeln möglichst mit Galgen oder Rad bestraft werden soll. Wie sich aus den rund um die Bildszene in abgekürzter Form aufgelisteten Buchtiteln und dem weiteren Kontext ergibt, wendet sich der Kupferstich hierbei allerdings speziell gegen die Nachdrucker privilegierter Bücher. Es geht dabei zudem nicht um den Schutz von Autoren oder Verlegern, die für eine erste Auflage hohe Investitionen haben aufbringen müssen, sondern allein um den Schutz hergebrachter Verlagsrechte. Die als Beispiele angeführten Titel sind durchweg ältere, zum Teil weit über hundert Jahre alte Werke, an denen Verlegerfamilien aufgrund einmal erhaltener Privilegien ein exklusives Abdruckrecht beanspruchten. Anlass des Kupferstichs war ein Rechtsstreit aus dem Jahre 1722, in welchem das Helmstedter Schultheißengericht den Verleger Johann Melchior Süstermann in solch einem hergebrachten Recht schützte. Es spricht daher viel dafür, dass Süstermann auch der Initiator des Stichs ist. Wie ein Blick in die zeitgenössische Literatur zeigt, war die im Kupferstich vom »verfluchten, diebischen Bücher-Nachdrucker« vertretene Rechtsauffassung, den unerlaubten Nachdruck als Diebstahl anzusehen, eine damals verbreitete Rechtsposition. Die Art der Darstellung erscheint jedoch einmalig.

Thomas Gergen

»Hat das Gesuch nicht statt« – Kaiserliche privilegia impressoria für Kölner Kalender vor dem Reichshofrat (1731–1783)

I.

Der Reichshofrat in der Geschichte von Verwaltung und Höchstgerichtsbarkeit

Die Verwaltungsgeschichte hat jüngst die vielfältige Rolle des Reichshofrates (RHR)1 eingängig gewürdigt und in die allgemeine Rechtsgeschichte einbezogen. Hatte Karl Siegfried Bader bei der Verwaltungsgeschichte noch von »einem vernachlässigten Zweig der Verwaltungswissenschaften«2 gesprochen, liegt mit dem Opus speziell zur Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit eine tief gehende Studie zur Verwaltungsgeschichte im Alten Reich vor. Zum RHR erschienen bereits vorher grundlegende Monographien über Wirtschaftsfragen3, die Abhandlung »Gemeine Bescheide«4 oder Studien zu den Akteuren bzw. dem Personal5. 1 Zu seiner Geschichte, Zuständigkeit, Verfahren, Arbeitsweise und Sozialstruktur siehe Eva Ortlieb, Reichshofrat, in: Michael Hochedlinger, Petr Mat’a u. Thomas Winkelbauer (Hg.): Verwaltungsgeschichte der Habsburgermonarchie in der Frühen Neuzeit, Wien 2019 (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung = MIÖG 62, Teilband 2), S. 311–319. Des Weiteren zur Abgrenzung zum Reichskammergericht (RKG) vgl. dortselbst Annette Baumann, S. 333–337. Das Buch von Norbert P. Flechsig: Schottus adversus Egenolphum. Der erste »Urheberrechtsstreit« am Reichskammergericht im Jahre 1533/34. Nachdruckschutz gestern und heute, Passau 2017, zeigt auf, dass das RKG zunächst Urheberrechtsstreitigkeiten entschied, ehe diese vom kaiserlichen Reichshofrat als dem Schirmherrn der kaiserlichen Reservatrechte angezogen wurden, welcher Akten der privilegia impressoria (Nachdruckprivilegien) fortan ausschließlich unter seine Fittiche nahm. 2 Verwaltungspraxis 25 (1971), S. 294–296, sodann Margit Seckelmann, Zustand und Perspektiven der Verwaltungsgeschichte, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte = ZNR 39 (2017), S. 274–289. 3 Anja Amend-Traut: Geld, Handel, Wirtschaft. Höchste Gerichte im Alten Reich als Spruchkörper und Institution, Berlin 2013. 4 Peter Oestmann: Gemeine Bescheide, 2 Teile, Köln/Weimar/Wien 2017. 5 Siehe bei Eva Ortlieb (Anm. 1) sowie überdies die Biographie im Nachdruck von Margot Faak: Leibniz als Reichshofrat, Berlin 2016. Wesentlich die Studie von Wolfgang Sellert, Agenten und Prokuratoren am Reichshofrat. In: Deutscher Anwaltverein (Hg.): Anwälte und ihre Geschichte, Tübingen 2011, S. 41–64.

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Thomas Gergen

Im 18. Jahrhundert übte der RHR überwiegend höchstrichterliche Tätigkeit im Reich außerhalb der Erblande aus.6 Ohne auf die verzweigte Entwicklung der Zuständigkeit und die diversen Aufgaben des RHR einzugehen, sei für unsere Untersuchung betont, dass sich der RHR im Rahmen seiner Spruchpraxis vornehmlich mit Erteilung, Umsetzung, Einschränkung, Verlängerung oder Rücknahme von Privilegien beschäftigte. Zu diesen kaiserlichen Reservatrechten gehörten die Druck-und Medizinalprivilegien7, über deren Merkmalsprüfung sogar ein Schema8 entwickelt wurde. Den RHR als Berufungs- und Revisionsinstanz beschäftigten »in puncto privilegia impressoria« ebenfalls zahlreiche Kölner Fälle.9 Köln hatte als Stadt des Buchdrucks und Verlages von vor allem gegenreformatorischem Schrifttum eine herausragende Bedeutung. Der Rhein war ausgezeichnetes Verkehrsmedium zur Papierverschiffung und Verschiffen der gedruckten Bücher. Seit der Inkunabelzeit stand die Buchproduktion in Köln international an vorderster Stelle. Köln verfügte über einen potentiell hohen Abnehmerkreis und war als religiöser Mittelpunkt neben Mainz die Stadt mit einem lesekundigen und -freudigen Publikum. Hier waren eine Universität und zahlreiche Konvente und Bursen zu Hause, die ihrerseits über umfangreiche Bibliotheken verfügten, wobei vor allem an Jesuiten und Kapuziner zu denken ist. Außerdem war die Kapitalkraft der Verleger bedeutend. Schon Ende des 16. Jahrhunderts befanden sich ca. 100 Drucker und Verleger in Köln, ab dem 17. Jahrhundert erlebten gedruckte Zeitungen und Zeitschriften, sodann Wochenzeitungen eine große Blüte. All dies wird mit der Kommunikations- und Medienrevolution der Frühen Neuzeit in Verbindung gebracht, in der Privilegien

6 Überblick bei Wolfgang Sellert, New findings regarding the influence of the ruler on the supreme jurisdiction in the Holy Empire of the German Nation, in: Ignacio Czeguhn et al. (Hg.): Control of Supreme Courts in early modern Europe, Berlin 2018, S. 89–93. Siehe nunmehr den Sammelband von Anja Amend-Traut, Josef Bongartz, Alexander Denzler, Ellen Franke u. Stefan Andreas Stodolkowitz (Hg.): Unter der Linde und vor dem Kaiser. Neue Perspektiven auf Gerichtsvielfalt und Gerichtslandschaften im Heiligen Römischen Reich, Köln/Weimar/Wien 2020. 7 Elmar Wadle, Privilegia impressoria vor dem Reichshofrat. Eine Skizze. In: Leopold Auer/ Werner Ogris/Eva Ortlieb (Hg.): Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen, Köln/Weimar/Wien 2007, S. 203–213. Vgl. des Weiteren: Wadle, Privilegien für Autoren oder für Verleger? Eine Grundfrage des Geistigen Eigentums in historischer Perspektive. In: ZRG GA 124 (2007), S. 144–166. 8 Gergen, Kriterien für die Privilegienerteilung gegen den Büchernachdruck: Kannte der Reichshofrat ein Prüfungsschema für privilegia impressoria et medica ? In: UFITA – Archiv für Urheber- und Medienrecht II/2015, S. 487–515. 9 Grundlegend: Leopold Auer, Eva Ortlieb (Hg.) unter Mitarbeit von Ellen Franke: Appellation und Revision im Europa des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien) Band 1/ 2013.

»Hat das Gesuch nicht statt«

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gegen den Schutz vor Nachdruck eine lebenswichtige Rechtsquelle darstellten, um die in mehreren Instanzen gestritten wurde.10 Vielfach begegnen dabei aber auch bemerkenswerte Entscheidungen durch Vergleich11. Die beiden Anträge, die in dieser Studie im Vordergrund stehen (Abschnitte IV. und V.), werden indes abgelehnt, wobei der RHR mit »Hat das Gesuch nicht statt« kurz und knapp entscheidet.

II.

Kölner Kalenderdrucke

Die beiden Kölner Fälle vor dem RHR drehen sich um den Schutz von Kalendern, genauer »Sack-Kalender« sowie »Haupt- und Wandkalender«. Kalendarien (lateinisch calendae), also die ersten Tage eines Monats in römischer Zeit, erscheinen mit astronomisch begründeter Zeiteinteilung nach Tagen, Monaten und Jahren entsprechend ihrer Gebrauchsfunktion in großer formaler und historischer Vielfalt. Die Forschung unterscheidet Einblattkalender in Plakatform, mehrblättrige Wandkalender bzw. Abreißkalender und Kalender in Buch- und Heftform sowie Faltkalender als Taschenkalender, Schreibkalender, Terminkalender etc. Bei Literaturkalendern hat das Kalendarium nurmehr nebensächliche Bedeutung und tritt hinter der Präsentation der ausgewählten Texte zurück. Bereits im mittelalterlichen Codex werden Kalender vor allem liturgischen Büchern, Stundenbüchern und Legendaren beigegeben. Die Geschichte des gedruckten Kalenders beginnt mit dem Einblattkalender, dem ähnliche Blätter in manueller Vervielfältigung vorausgingen. Diese enthalten neben der bloßen Zeiteinteilung, d. h. als Jahreskalender und immerwährende Kalender in Zyklen von 19 Jahren, Angaben über die Festtage, Mondphasen, astrologische Hinweise, günstige Termine für medizinische Praktiken oder die Landwirtschaft, oft in Symbolen. Da sie gleichermaßen ohne Lesekenntnisse benutzt werden konnten, 10 Gergen, Kaiserliche privilegia impressoria vor dem Reichshofrat. Zur Praxis des Nachdruckschutzes im Alten Reich anhand Kölner Fälle (16.–18. Jahrhundert), in: Gergen (Hg.): Vom Reichshofrat zur Reichsfilmkammer. Privilegienpraxis und Urheberrecht an Büchern und Filmen (16. – 20. Jahrhundert), Berlin 2019 (Schriften zur Rechtsgeschichte 186), S. 13– 66. Siehe bereits Gergen, Wien gegen Köln. Die mühevolle Durchsetzung von ReichshofratEntscheidungen in Nachdrucksachen. In: Geschichte in Köln (GiK) 61 (2014), S. 105–120. Zu steuernden Eingriffen in den (zu Köln benachbarten) Spanischen Niederlanden durch die Habsburger bereits seit 1512 siehe Renaud Adam, The profession of printer in the Southern Netherlands before the Reformation. Considerations on professional, religious and state legislation (1473–1520). In: Violet Soen, Dries Vanysacker, Wim François (Hg.), Church, Censorship and Reform in the Early Modern Habsbourg Netherlands (Bibliothèque de la Revue d’Histoire Ecclésiastique 101), Turnhout 2012, S. 13–25. 11 Gergen (Anm. 10), S. 36–40.

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Thomas Gergen

waren diese Kalender weit verbreitet und als Wandschmuck meist mit kleineren figürlichen Holzschnitten oder Bordüren illustriert. Mitte des 16. Jahrhunderts kamen Kalender in Heftform in Quart auf, welche ähnliche Inhalte für gebildete Leser enthielten, aber auch unterhaltende Texte. Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden diese durch den Kolportagebuchhandel vertrieben. Der Kolporteur verkaufte im Wanderhandel aus einem an einem Riemen um den Hals gelegten Korb oder Kasten (französisch col = Nacken) Kramwaren und Kleinschriften. Der Buchverkauf durch reisende Agenten (Buchführer) entstand in der Frühzeit des Buchdrucks vor der Etablierung eines stationären Sortimentsbuchhandels in den Städten und ausgereifter buchhändlerischer Vertriebsnetze. Neben dem professionellen Buchhandelsgeschäft blieb der Kolportagebuchhandel als Vertriebsform für Flugblätter, Zeitungen, Kalender und religiöse Kleinschriften für die ländliche Bevölkerung und wenig gebildete Schichten in Gebrauch. Die wichtigsten Produktionsorte für Kalenderdrucke stellten Augsburg und Nürnberg dar. Solche Volkskalender sind wiederum von den literarischen Almanachen (aus dem Arabischen vermutlich für Kalender, Neujahrsgeschenk stehend) des 18. und gleichfalls 19. Jahrhunderts zu unterscheiden.12 Die in Rede stehenden Kölner Volkskalender genossen Privilegien, um deren Entstehung, Weiterführung und Umfang vor dem RHR gerungen wurde.

III.

Kaiserliche Privilegien vor dem RHR

Der Privilegien-Begriff ist nicht ganz einfach zu fassen, doch kann das Privileg als persönliches Vorrecht bezeichnet werden, als ein individualisierender NormTyp, der einen Gegensatz zum allgemeinen Gesetz bildet, d. h. zur lex generalis, ja sogar zum allgemein wirkenden Recht des ius commune. Da das Recht zur Privilegienerteilung der potestas legislatoria entsprang, konnte es sich wie die Gesetzgebungskompetenz auf alle Regelungsmaterien des sozialen und wirtschaftlichen Lebens erstrecken. Als Handlungsermächtigung mit Verbotsberechtigung gegenüber Dritten wurden die Privilegien vor allem zum Schutzinstrumentarium für die Rechte der Drucker, Verleger, Autoren, Erfinder usw. Mit dem Ziel eingesetzt, dem Privilegierten mittels des »Schutzbriefes« einen rechtlich umhegten Handlungsrahmen zu verschaffen, der ihm durch den monarchischen Privilegienerteiler für eine gewisse Zeit garantiert wurde.13 Dem 12 Ursula Rautenberg, Kalender sowie Kolportagebuchhandel und Almanach, in: Rautenberg (Hg.): Reclams Sachlexikon des Buches, 3. Aufl., Stuttgart 2015, S. 217–218 sowie S. 232–233 und S. 14–15. 13 Ludwig Gieseke: Vom Privileg zum Urheberrecht. Die Entwicklung des Urheberrechts in Deutschland bis 1845, Göttingen 1995, S. 39–42; Jürgen Gramlich, Rechtsordnungen des Buchgewerbes im Alten Reich. Genossenschaftliche Strukturen, Arbeits- und Wettbewerbs-

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»Dürfen« des Privilegierten stand komplementär stets das »Nichtdürfen« des Nichtprivilegierten gegenüber. Die individuelle Handlungsermächtigung mit Schutzgarantie bot so lange ein probates rechtliches Ordnungsinstrument, wie eine generelle Regelung via Gesetze noch nicht bestand. Daher war das Privileg oftmals Ersatz für fehlende Gesetzgebung und ließ sich vielfach in sich verändernden wirtschaftlichen Situationen für wirtschaftliche Regelungsbedürfnisse flexibel nutzbar machen. Mit der Beantragung eines Privilegs konnte sich der Einzelne einen »individuellen Rechtskreis« erweitern und gewissermaßen »befestigen« lassen.14 Bis zum Ende des Alten Reichs im Jahre 1806 stellte der RHR das Organ dar, das für den kaiserlichen Schutz vor Nachdruck zuständig war. Der nach mittelalterlichen Vorläufern 1497/8 begründete Hofrat des Königreichs bzw. des Kaisers wurde zunächst zur obersten Regierung und Justizbehörde bestimmt. Er entwickelte sich allmählich zu einem neben dem Reichskammergericht arbeitenden Gericht des Kaisers, das von Beginn an Prozesse führte. Allerdings war der RHR in erster Linie nicht Gericht, sondern kaiserliche Behörde für Lehens- und Gnadenangelegenheiten. Bis zum Ende des Alten Reiches blieb er ebenso für Gnadensachen zuständig. Der Kaiser konnte hier rasch und effizient Entscheidungen treffen, was sich für die streitenden Parteien trotz ihrer Mühen und Kosten als stets attraktiv erwies.15 Besetzt mit dem Hofratspräsidenten als Vertreter des Kaisers und mit 12 bis 34 Räten war der Reichshofrat zuständig für kaiserliche Reservatrechte und Privilegien, Reichslehenssachen und Kriminalklagen gegen Reichsunmittelbare. Geordnet war sein wenig strenges Verfahren in Reichshofratsordnungen (z. B. 1527, 1537, 1541, 1559). Von 1559 bis 1806 waren 445 Reichshofräte tätig.16 recht im deutschen Druckerhandwerk, in: Archiv für die Geschichte des Buchwesens (AGB) 41 (1994), S. 1–145; Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. Ein Überblick, München 1991, S. 19–22; Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt am Main 1991, S. 441; Walter Bappert: Wege zum Urheberrecht. Die geschichtliche Entwicklung des Urheberrechtsgedankens, Frankfurt am Main 1962; Hans Widmann: Geschichte des Buchhandels vom Altertum bis zur Gegenwart, Wiesbaden 1952, völlige Neubearb., Wiesbaden 1975; Thomas Gergen, Unrechtmäßiger Nachdruck, in: Reclams Sachlexikon des Buches, S. 287–288. 14 Heinz Mohnhaupt, Privileg, in: Friedrich Jäger (Hg.): Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 10, Stuttgart 2009, Sp. 391–401; Mohnhaupt, Untersuchungen zum Verhältnis Privileg und Kodifikation im 18. und 19. Jahrhundert, in: Ius Commune 5 (1975), S. 71–121. 15 Eva Ortlieb, Die Entstehung des Reichshofrats in der Regierungszeit der Kaiser Karl V. und Ferdinand I. (1519–1564), in: Frühneuzeit-Info 17 (2006), S. 11–26; Dies., Vom königlichen/ kaiserlichen Hofrat zum Reichshofrat. Maximilian I., Karl V., Ferdinand I., in: Bernhard Diestelkamp (Hg.): Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451–1527), Köln/Weimar/Wien 2003, S. 221–289. 16 Wolfgang Sellert: Über die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht insbesondere in Strafsachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit

102

Thomas Gergen

Nicht nur beim Reichskammergericht,17 sondern auch beim Reichshofrat zeigt sich, dass das Prozessieren dort eine prestigeträchtige soziale Technik war. Für den Bereich des unerlaubten Nachdruckens können wir ein durchaus »aufwändiges, reputationssteigerndes Interaktionsmuster begüterter Schichten« konstatieren.18 Der RHR urteilte grundsätzlich knapp (Appellation wird abgeschlagen. Das Begehren findet nicht statt). Uneinheitliche sowie »beschwehrliche« Entscheidungen sollten unterbleiben; so galt der RHR als Wahrer des Rechtsfriedens, indem er die Sache an sich zog und eine zusätzliche Kontroll- sowie Vergleichsinstanz zugunsten der Beteiligten (Impetranten/Imploranten und Impetraten/Imploraten genannt) bieten konnte, mitunter per Vergleich19, was bei den Kölner Kalenderfällen, wie bereits angemerkt, nicht der Fall war. Im ersten Verfahren aus den 1730er Jahren um den Kölner »Sack-Kalender« stritten die Buchführer Simonis gegen Steinhaus20. Problematisch war, ob eine französische Übersetzung unter das für den deutschen Kalender ausgestellte kaiserliche Privileg fallen sollte. Der RHR verneinte dies, sodass das kaiserliche Privileg nicht tangiert war. Noch ein zweiter Fall beschäftigte den RHR21. Die Kölner Buchführer Rüttgers und Holzapfel stritten um den »Haupt- und Wandkalender«. Fraglich war, ob das (ältere) kaiserliche Privileg überhaupt noch anerkannt war. »Hat das Gesuch

17 18 19

20 21

(= Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 4), Aalen 1965; ders.: Prozessgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens (= Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF 18), Aalen 1973; C. Hartmann-Polomski: Die Regelung der gerichtsinternen Organisation und des Geschäftsgangs der Akten als Maßnahmen der Prozessbeschleunigung am Reichshofrat, Göttingen 2001; Ulrich Eisenhardt, Der Reichshofrat als kombiniertes Rechtsprechungs- und Regierungsorgan, in: Jost Hausmann u. Thomas Krause (Hg.), »Zur Erhaltung guter Ordnung«. Beiträge zur Geschichte von Recht und Justiz, Festschrift für Wolfgang Sellert, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 245–267, hier insbesondere S. 251– 254 zum kaiserlichen Bücherregal sowie zu den »vota ad imperatorem« S. 266–267. Matthias Kordes, Eine Akte ist noch keine Quelle: Eine Standortbestimmung der Kölner Reichskammergerichtsforschung. In: Geschichte in Köln (GiK) 53 (2006), S. 75–98, insbes. 85–95. Kordes, S. 97–98. Gergen, Wiener Reichshofrat und Frankfurter Bücherkommissar »im Vergleich«. In: Weltbürgerliches Recht, Festschrift für Michael Martinek zum 70. Geburtstag, München 2020 (im Druck). Als »Klassiker« der Forschung dürfen selbstverständlich nicht unerwähnt bleiben Oswald von Gschließer: Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559–1806, Wien 1942 (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich 33) sowie Ulrich Eisenhardt: Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1496–1806). Ein Beitrag zur Geschichte der Bücher- und Pressezensur, Karlsruhe 1970 (Studien und Quellen zur Geschichte des Deutschen Verfassungsrechts, Reihe A: Studien, Bd. 3). Wiener Haus- Hof- und Staatsarchiv = HHStA, K. (= Karton) 1109/11. HHStA, K. 1109/12.

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103

nicht statt« urteilte der RHR lakonisch bzgl. des Privilegs, »somit solches nach Verlauf der 10 Jahre erloschen ist«. Damit lag kein Konkurrenzverhältnis zwischen älterem und zeitlich jüngerem Privileg mehr vor. Dass Holzapfel für sein kaiserliches Privileg (hier das jüngere Druckprivileg) kein Testat der Stadt Köln vorlegen konnte, worauf Rüttgers hinauswollte, war unerheblich, da der RHR allein auf die Unversehrtheit des kaiserlichen Reservatrechtes zu achten hatte, welche in casu gegeben war.

IV.

»Stadtköllnischer Sackkalender« – Buchführer Simonis vs. Steinhaus (1738)

In der Berufungsschrift eingegangen beim RHR am 24. September 1737 berief sich die impetrantische Seite von Buchführer Simonis (früher Romerskirchen) auf das Druckprivileg, das dem Stadtkölnischen Buchführer Heinrich Romerskirchen am 12. Oktober 1731 betreffend den Stadtkölnischen Sackkalender auf zehn Jahre erteilt worden war, und zwar dergestalt, »daß niemand anderer, ohne sein Consens, Wißen und Willen, bey Straff 5. Marck Goldts, selbiges nachdrücken, weniger was darauß nehmen, und zusamen tragen solle, weder in kleineroder größeren Format, unter was gesuchtem Schein das immer geschehen mögte.« Am 12. Oktober 1731 hatte der RHR Romerskirchen quittiert, dass er für das zehnjährige Druckprivileg als Kaution die jährliche Einlangung von 18 Exemplaren des Kalenders akzeptiert habe. Das Kaiserliche Postamt in Köln erhielt den Befehl, diese 18 Exemplare alljährlich und unentgeltlich (über Reichspostamt Taxis) an den RHR einzuschicken.22

1.

»zum Nachtheil, und in fraudem […] Kayserl. Privilegii […]«

Christian Simonis übernahm als Schwiegersohn (»Tochterman«) nach dem Tod Romerskirchens dessen Nachfolge und druckte nachweislich den Sackkalender weiter. Der Buchführer Otto Joseph Steinhaus unterstehe sich, zum Nachteil und »in fraudem« des kaiserlichen Privilegs, den Sackkalender in französischer Sprache »in nemblichen Format« zu drucken und verkaufen zu lassen. Simonis’ Anwalt Johann Jacob Schlößern beantragte beim RHR Feststellung der Verletzung des kaiserlichen Privilegs durch Steinhaus, sowie dem Kölner Magistrat

22 HHStA, K. 1109/11 (ohne Paginierung).

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Thomas Gergen

aufzugeben, die Konfiskation und künftige Unterlassung von Druck und Verkauf des französischsprachigen Sackkalenders durchzusetzen. Am 29. Oktober 1737 forderte Reichshofrat Matthias Wilhelm Haan den Impetrat Steinhaus erneut auf (dies schon bereits am 6. Juli 1737 durch Heinrich von Glandorf), sich innerhalb von zwei Monaten »vernehmen zu laßen«, um kein Eingreifen zu riskieren: »als sonsten ohne längeres Zuwarten wider ihn die gebottene, oder andere kaisl. Verordnung ohnfehlbahr dekretiert werden.«

2.

»…daß impetrantischer theil seinen Unfug von selbst erkennen, und alsforth die angehobene Klagt werde fahren laßen…«

Mit diesem Ausdruck des Unverständnisses und der wohl eher enttäuschten Hoffnung beginnt die Replik des impetratischen Anwalts Joanelli, gesendet an das RHR-Präsidium am 13. Februar 1738. Die Steinhaus-Seite zeigt sich darüber entrüstet, dass Simonis auf dem Vorwurf der Verletzung des kaiserlichen Druckprivilegs beharrte, weil Steinhaus den Sackkalender in französischer Sprache zum Druck befördert und veräußert habe. Joanalli weist auf die ständige Verfahrens- und Spruchpraxis des RHR hin, dass Übersetzungen grundsätzlich nicht vom Privileg umfasst seien, welches nur für die Ausgangssprache Gültigkeit entfalte: »[…] so erlauben Ewl Kayßerl. Mayt Impetrantischem Anwaldt allergnädigst, daß er dieses puncts halber ad stylum ac praxin Suprema Cancellaria Caesarea allerunterthänigst sich abberuffen möge, welcher von undencklichen Jahren unverrückt darin besteht, daß die über teütsche oder lateinische Bücher allergnädigst ertheilte Kayßersl. Privilegia, deren Übersetz= und Abtruckung in Französisch, Italienisch= und andern Sprachen nicht Vorhaben, noch Erfinderen, gleich wie dem Gegentheilen umb alsmehr bekannt seyn muß, als derselbe sicheres von denen Erbgenahmen Friessem unter allerhöchstem Kayserl. Privilegio in teütscher Sprach gedrucktes Gebetbuch des Patris Nackateni Psalmgarten genant in französischer Sprach hat auflegen, trucken, und veräußern laßen […]«

Damit verweist der impetratische Anwalt neben der gängigen Judikatur auf das »tu quoque« des Impetranten, dem diese Handhabung aus eigener Praxis bekannt sein dürfte. Des Weiteren verweist die impetratische Seite auf den geringen Erfolg ihrer Unternehmung und damit auf deren gewerbliche Bedeutungslosigkeit. Denn ein in Lüttich gedruckter französischer Sackkalender, der auch im Umkreis erfolgreich verkauft würde, sei dem Steinhauskalender »dem Format und Titul nach […] gleichförmig«, sodass von Steinhaus »gethaner Auflag, er die folgende für dieses fließende Jahr zu unterlaßen sich habe genöthiget sehen müßen.« Daher

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105

sei auch in dieser Hinsicht das Anliegen von Simonis (»übelerhobene Klag«) grundlos und diesem nicht stattzugeben.

3.

Stillschweigende Erledigung

An den Präsidenten des RHR übersandte impetrantischer Anwalt Johan Jacob Schlößern am 31. März 1738 zwar die Worte: »[…] Dahr nun der in sothanem Concluso prafigirter terminus bimestris alschon verflossen. Als glangt an Euer Kayserl. Mayt. Impetrantischen Anwaldts allerunterthänigste Bitt, allergnädigst dieselbe des etwa einkomenen gegentheilig =unerheblichen einwendens ungehindert, oder dessen unerwartet nunmehro cum declaratione poena privilegio inserta zu verfahren, und dem Magistrat zu Cöllen, die confiscationem exemplarium, et respe’e inhibitionem pro futuro, zu befehlen allergnädigst geruhen wollen.«

Damit wiederholte Schlößern seinen Antrag, den er bereits ohne Wirkung am 6. Juni 1737 gestellt hatte. Am 2. April 1738 stellte der RHR der impetratischen Seite dieses Schreiben mit Aufforderung zur Stellungnahme binnen zweier Monate zu. Danach schweigt jedoch der Dossier; die Sache schien damit endgültig erledigt zu sein. Es ist davon auszugehen, dass der Sackkalender in französischer Sprache wirtschaftlich nicht rentabel war und obendrein der RHR keinerlei Grund sah, seine Spruchpraxis zu ändern, den Schutzbereich eines gültigen kaiserlichen Privilegs eng zu interpretieren, sodass Übersetzungen und ähnliche Werke, wie die etwa bei Gebetbüchern23 nicht vom Privileg umfasst waren. Daher bestand auch keine Pflicht für den RHR, weiter zu ermitteln, Weisungen wie hier an den Magistrat in Köln zu erteilen, Strafen auszusprechen bzw. vollstrecken zu lassen oder gar Privilegien zurückzunehmen.

V.

»Stadtköllnischer Haupt- und Wandkalender« – Buchführer Rüttgers vs. Holzapfel (1783)

Im Rechtsstreit Rüttgers versus Holzapfel fasste der RHR am 28. April 1783 einen knappen, aber eindeutigen Beschluss: »Hat das Gesuch nicht statt«.24

23 Siehe den Kölner Fall Steinbüchel vs. Hamacher bei Gergen (Anm. 10), S. 44–48. 24 HHStA, K. 1109/12 (ohne Paginierung).

106 1.

Thomas Gergen

»Hat das Gesuch nicht statt«

Wie im Fall vorher -ebenfalls aus den »Denegata recentiora«- ging es, 45 Jahre später, um einen Kalender, diesmal um den Stadtkölnischen Haupt- und Wandkalender. Die Akte trägt auf dem Titelblatt die Überschrift »Relatio in Sachen Holzapfel […] pto. Sub- et obrepti privilegii«. Johann Joseph Franz Rüttgers trägt vor, dass das dem Dominicus Ferdinand Holzapfel erteilte Privileg auf 10 Jahre für den Kalender ihn in seinen Rechten verletze, da er einen Kalender drucke, den vor 50 bis 60 Jahren Johann Konrad Güssen zusammenzutragen begonnen habe. Der »auctor« Güssen habe diesen auf seine Kosten zum Druck befördert, »worüber er anfangs die Genehmigung des Stadtköllnischen Magistrats, und sodann auch ein k: privilegium impressorium nachgesucht, und auf 10. Jahre erhalten hätte.« Jedes Jahr erhielten Güssen, dann seine Witwe und schließlich Rüttgers die Approbation und Erlaubnis des Stadtkölnischen Magistrats zum Druck bis 1783. Unterdessen druckte Holzapfel seinen Kalender mit kaiserlichem Privileg vom 12. Juli 1782, auf dem steht, dass er mit Genehmigung des Magistrats einen sogenannten Hauptkalender aufgelegt habe.

2.

Ununterbrochene Approbation des Kölner Magistrats

Rüttgers bestreitet, dass Holzapfel die Genehmigung beantragt und erst recht erhalten habe. Mithin sei das kaiserliche Privileg aufgrund »falscher Vorspiegelungen« ausgestellt worden und deshalb zu kassieren. Rüttgers leite seine Rechte vom »auctor« Güssen habe. Zudem habe er durch ununterbrochene Approbation des Kölner Magistrats das bessere Recht zum Druck als Holzapfel, ja ein absolutes Recht: »so daß es niemand eingefallen den Kalender quaest: nachzudrucken, und sich damit einen unbilligen Gewinn zu erschleichen«.

3.

Fehlende Nachsuchung der Privilegienverlängerung

Aufgrund der Relation vom 6. Februar 1783 findet sich das erstellte Votum, welches auf das Versäumnis Rüttgers abstellt, das Privileg nicht »renoviert« zu haben: »Aus dem, was Implorant vorbringt, ist zu ersehen, daß Rüttgers die Renovationem privilegii impressorii nicht nachgesucht hat, so mit solches nach Verlauff der 10 Jahren erloschen ist, so mit hat meines Erachtens nach Holzapfel solchen Calender nachtrucken und in so weit mehr pro privilegio impressorio anhalten können, nun will Implorant der Sache die Wendung geben, daß Implorat die Approbation des Magistrats

»Hat das Gesuch nicht statt«

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nicht gehabt, und bringt deshalb noch ein Attestat des Magistrats bey, nach dem Holzapfel wenigstens an Eides Statt nach keinen anderen Calender drückt, als der schon vorhero von Rüttgers um Approbatione […], so glaube ich nicht, daß Implorat sollte specifice für seine Personn nachzusuchen schuldig gewesen sein, da eine Approbation, oder Censur nur wegen des Brieffs, und nicht wegen der Personn ertheilt wird. Ich wollte dahero sagen, weil pars impetrans bescheinigen, daß der Calender, für welchen Holzapfel das privilegium impressorium erhalten, von denjenigen, welche cum approbatione von Rüttgers herausgegeben werden, unterschiedlich, und nicht der nemliche sey, so erfolget hierzu Kayl. Verordnung. S.M.«

4.

Unterschiedliche Inhalte

Das Votum rekurriert darauf, dass die Kalender unterschiedlich sind und es nicht zwingend einen einzigen Kalender für Köln geben muss. Die Witwe Güssens beantragte nach Ablauf des ersten zehnjährigen Privilegs keine weiteren Schutzbriefe gegen den Nachdruck mehr, weil der Kalender inhaltlich auf Köln ausgerichtet war (»tägliche Andachts-Übungen nur für Köln«) und auch nur Kölnspezifisch Absatz fand. Rüttgers stellte indes nur auf die Genehmigung des Kölner Magistrats ab, woraus er ein alleiniges Recht ableitete, seinen Hauptkalender als solchen für Köln allein herausgeben zu dürfen. Die Autorschaft Güssens (auctor und Verfasser) spielte indes keine Rolle, da Holzapfels Kalender für den RHR ein aliud darstellte. Denn eine inhaltliche Übereinstimmung mit dem Hauptkalender des Holzapfel behauptete Rüttgers nicht, weswegen das Votum des RHR das kaiserliche Privileg für Holzapfel als zurecht ausgestellt qualifiziert sah. Die lakonische Entscheidung, dass dem Gesuch Rüttgers nicht stattgegeben wurde, trug mithin voll und ganz.

VI.

Fazit

Die beiden Kölner Kalenderfälle25 belegen eine Kontinuität in der Rechtsprechung des Reichshofrates als oberstem Wächter über die Unversehrtheit und die Garantie der praktischen Umsetzung. Dabei wurde der Schutzbereich des Reservatrechtes Privileg eng gefasst, was sich an Übersetzungen zeigt, die außerhalb lagen und deshalb geduldet wurden. Darüber hinaus ergibt sich, dass das Urheberrecht (»auctor«) zwar angesprochen wurde, indes keine Rolle spielte. Rüttgers berief sich auf Autorschaft (sein Schwiegervater als »auctor«) und dessen Anciennität im Verlegen des »Stadtköllnischen Haupt- und Wandkalenders«. Hartes Kriterium war indes die Gültigkeit des Privilegs. Da eine Verlän25 Wiener Haus- Hof- und Staatsarchiv = HHStA, K. 1109/11 und 1109/12.

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gerung (renovatio privilegii impressorii) fehlte, war das ausgelaufene Privileg nichts mehr wert. Dieser Mangel konnte auch nicht durch eine lokale Approbation geheilt werden (hier durch den Magistrat der Stadt Köln). Die Privilegien traten somit nicht in Konkurrenz. Das zeitlich jüngere, noch gültige Privileg, das der RHR zu schützen hatte, war nicht »in Gefahr«. Und da kein Eingriff in das kaiserliche Reservatrecht vorlag und obendrein die Inhalte der Druckwerke unterschiedlich waren, entschied der RHR dergestalt, dass er das Gesuch des Impetranten Rüttgers verwarf.

Bernd-Rüdiger Kern

Postmortaler Urheberrechtsschutz der Opern Lortzings: Drei Verfahren vor den obersten Gerichten des Reiches

I.

Einleitung

Als Janine Wolf in ihrer Doktorarbeit1 die urheberrechtlichen Aspekte bei Lortzing aufarbeitete, konnte sie ihre Arbeit aus guten Gründen auf die Lebenszeit Lortzings beschränken. Eine weitere meiner Doktorandinnen, die über »Die Entwicklung des Urheberrechts unter besonderer Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung von 1870 bis 1910«2 arbeitete, stieß dabei auf zwei einschlägige Urteile des Reichsoberhandelsgerichts und eines des Reichsgerichts. Sie blieben von der Forschung bisher völlig unbeachtet und sollen im Folgenden vorgestellt werden. Zunächst allerdings seien die Akteure präsentiert.

II.

Das Reichsoberhandelsgericht3

Das Bundes- bzw. Reichsoberhandelsgericht zählt zu den unbekanntesten Obergerichten der deutschen Rechtsgeschichte. Auf Initiative der Leipziger Handelskammer brachte die sächsische Regierung im Norddeutschen Bundesrat einen Gesetzesentwurf zur Errichtung eines Bundeshandelsgerichtes ein4. Zwar fehlte in der Norddeutschen Bundesverfassung die Bundeskompetenz für die Einrichtung eines obersten Gerichts, aber diese Hürde wurde überwunden und am 12. Juni 1869 erging das Gesetz betreffend die Errichtung des obersten Gerichtshofes für Handelssachen5. Das Gesetz bestimmt in seinem § 2, dass »das Bundes-Oberhandelsgericht … in Leipzig seinen Sitz haben« sollte. 1 Aspekte des Urheberrechts bei Carl Maria von Weber, Albert Lortzing und Otto Nicolai, 2015. 2 Nadine Reinhold, 2018. 3 Vgl. dazu die unveröffentlichte Habilitationsschrift von Thomas Henne, Rechtsharmonisierung durch das »Reichsgericht« in den 1870er Jahren, 2002. 4 Vgl. dazu Adolf Laufs, Die Anfänge einheitlicher höchster Gerichtsbarkeit in Deutschland, in: JuS 1969, S. 256–259. 5 Bundes-Gesetzblatt des Norddeutschen Bundes, Nr. 22.

110

Bernd-Rüdiger Kern

Das Gericht wurde nicht als echte Revisionsinstanz ausgestaltet, sondern trat »in Handelssachen an die Stelle des für das Gebiet, in welchem die Sache in erster Instanz anhängig geworden ist, nach den Landesgesetzen bestehenden obersten Gerichtshofes mit derjenigen Zuständigkeit, welche nach diesen Landesgesetzen dem obersten Gerichtshofe gebührt« (§ 12). Gewissermaßen wurde die handelsgerichtliche Zuständigkeit der obersten Landesgerichte im Bundes-Oberhandelsgericht gebündelt. Eine Folge dieser Zuständigkeitsbestimmung war, dass kein einheitliches Prozessrecht galt, sondern das jeweilige Landesrecht anzuwenden war (§ 16). Das Gericht, das seinen Platz in einem Gebäude am Brühl fand, wurde am 5. August 1870 mit dem Präsidenten Heinrich Eduard Pape (1816–1888)6, einem Vizepräsidenten und zwölf Räten eröffnet7. Zu den bekanntesten Richtern zählte der Heidelberger Professor für Handelsrecht Levin Goldschmidt (1829–1897)8, der dem Gericht von 1870 bis 1875 angehörte. 1871 wurde der Name des Gerichts den neuen Gegebenheiten angepasst und es hieß fortan Reichsoberhandelsgericht. Sachlich wuchsen ihm weitere Kompetenzen zu, weil alle reichsrechtlich geregelten privatrechtlichen Materien, u. a. das Urheberrecht, in seine Zuständigkeit fielen. Für das Reichsland Elsass-Lothringen wurde es auch Revisionsinstanz in Strafsachen9.

III.

Das Reichsgericht10

Durch die 1877 verabschiedeten und 1879 in Kraft getretenen Reichsjustizgesetze wurde das Reichsgericht als oberstes Revisionsgericht für die ordentliche Gerichtsbarkeit eingerichtet. Es wurde am 1. Oktober 1879 feierlich in der Aula der Universität Leipzig eröffnet. Bis 1895 residierte es – wie auch zuvor das Reichoberhandelsgericht – im Georgenbau. Die Zuständigkeit des Reichsgerichts11 war deutlich größer als die des Reichsoberhandelsgerichts und umfasste das gesamte Zivil- und Strafrecht. In der Weimarer Republik12 wurde das Gericht mit weiteren 6 Über ihn vgl. Gerd Kleinheyer/Jan Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 6. Aufl. 2017, S. 501. 7 Karlheinz Blaschke, Vom Stadtbrief zum Reichsgericht. Die Stadt Leipzig als Ort der Rechtsprechung, in: Sächsische Justizgeschichte, Bd. 3,1994 Leipzig. Stadt der Rechtsprechung S. 7–29, 23. 8 Über ihn vgl. Lothar Weyhe: Levin Goldschmidt. Ein Gelehrtenleben in Deutschland. Grundfragen des Handelsrechts und der Zivilrechtswissenschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 1996. 9 Vgl. dazu Axel Weiss, Die Entscheidungen des Reichsoberhandelsgerichts in Strafsachen, 1997. 10 Vgl. dazu Bernd-Rüdiger Kern/Adrian Schmidt-Recla, 125 Jahre Reichsgericht, 2006. 11 Vgl. dazu Kai Müller, Der Hüter des Rechts. Die Stellung des Reichsgerichts im Deutschen Kaiserreich, 1879–1918, 1997. 12 Zu der Rechtsprechung in der Umbruchzeit zur Weimarer Republik vgl. Dieter Grimm, Das Reichsgericht in Wendezeiten, NJW 1997, 2719–2725.

Postmortaler Urheberrechtsschutz der Opern Lortzings

111

Aufgaben betraut. 1921 wurde am Reichsgericht der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich gebildet, von 1922 bis 1927 der Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik. Seit dem 1. Oktober 1927 fungierte das Reichsgericht zugleich als Reichsarbeitsgericht. Das Kriegsende im Jahre 1945 bedeutete auch das Ende des Reichsgerichts. Das Gesetz Nr. 4 des Alliierten Kontrollrats vom 30. Oktober 1945 ignorierte das Reichsgericht vollständig. Der Schlusssatz von Art. 1 lautet: »Folgende Gliederung der ordentlichen Gerichte wird wiederhergestellt: Amtsgerichte, Landgerichte und Oberlandesgerichte.« Letzte Zweifel beseitigte Art. 2 Abs. 3: »Die Oberlandesgerichte … sind endgültige Berufungsinstanz gegen Entscheidungen der Landgerichte in Zivilsachen; sie sind … für das Rechtsmittel der Revision … in Strafsachen zuständig.«13

IV.

Albert Lortzing

Albert Lortzing wurde am 23. Oktober 1801 in Berlin geboren. Durch seine Eltern lernte er früh den Schauspielberuf kennen. Ab 1817 war Lortzing an den ABCDEBühnen14 als Schauspieler und Sänger verpflichtet. 1827 gelang ihm der Sprung an das Hoftheater in Detmold. Hier schrieb er seine ersten Kompositionen15, insbesondere einaktige Bühnenwerke. Nach seiner Übersiedlung nach Leipzig im Jahre 1833 entstanden seine berühmten Opern: »Die beiden Schützen«, »Zar und Zimmermann«, »Der Wildschütz«, »Undine« und »Der Waffenschmied«. 1845 endete sein Engagement als Dirigent in Leipzig. Von 1845 bis 1847 wirkte er als Kapellmeister im Theater an der Wien. Danach sah er sich gezwungen, wieder in den ungeliebten Schauspielberuf zurückzukehren. 1850 wurde ihm das Amt des Kapellmeisters am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater in Berlin übertragen. Lortzing starb am 21. Januar 1851 in seiner Geburtsstadt. Bis in die 80iger Jahre des letzten Jahrhunderts gehörte er in Deutschland zu den fünf meistgespielten Komponisten16.

13 Die Berliner Konferenz der Drei Mächte. Der Alliierte Kontrollrat für Deutschland. Die Alliierte Kommandantur der Stadt Berlin. Sammelheft 1: Kommuniqués, Deklarationen, Proklamationen, Gesetze, Befehle, 1946, S. 58f., 58. 14 Aachen, Bonn, Cöln, Düsseldorf, Elberfeld. 15 Vgl. dazu und zu den folgenden Werken Irmlind Capelle, Chronologisch-thematisches Verzeichnis der Werke Gustav Albert Lortzings. 1994. 16 Irmlind Caplelle, Vorwort, in: dies. (Hrsg.), Albert Lortzing und die Konversationsoper in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, 2004, S. 7.

112

V.

Bernd-Rüdiger Kern

Carl Wilhelm Batz

Da Lortzing bereits 1851 gestorben war, konnte er naturgemäß nicht selbst als Kläger auftreten. Die Klage betrieb vielmehr Carl Wilhelm Batz, den die DNB als »Schriftsteller, Dramatiker und Urheberrechtsexperten« nennt. Batz wurde am 8. Juli 1838 in Leipzig als Sohn eines Kaufmanns geboren, besuchte die dortige Handelsschule, hörte später aber auch an der Universität seiner Heimatstadt Vorlesungen über Philosophie und Geschichte. Seine berufliche Laufbahn führte ihn zunächst in das väterliche Geschäft. Als Vertreter seines Vaters verbrachte er mehrere Jahre in Paris. Nach seiner Rückkehr nach Leipzig verkehrte er in Künstler- und Schriftstellerkreisen, wodurch er zu eigenen literarischen Arbeiten, aber auch zur Übernahme und Vertretung der Rechte der Autoren angeregt wurde. Diese Aufgabe nahm er für den Rest seines Lebens wahr. Bereits im März 1870 reichte er eine Petition an den Reichstag des Norddeutschen Bundes ein, in der er – vergeblich – die Aufnahme von Tantiemenzahlungen in die §§ 57–58 des sich im Gesetzgebungszustand befindlichen Urheberrechtsgesetzes anregte17. Spätestens 1870 verzog er nach Wiesbaden und schließlich nach Mainz und Nackenheim, wo er am 14. September 1894 auf dem Landgut seiner Frau starb. Nach dem Inkrafttreten des Urheberrechtsgesetzes und dem ersten Urteil des ROHG vom 16. Mai 1873 in Sachen von Frau Charlotte v. Hillern (geb. BirchPfeiffer)18, das der Klage stattgab und die Theaterdirektoren zur Entschädigung verurteilte, wandte sich Batz an mehrere Theater, um Entschädigungen für ungenehmigte Aufführungen der Werke Lortzings, Marschners und Meyerbeer einzufordern. Das Hoftheater Karlsruhe19 legte sein Schreiben ad acta, um die Reaktion der anderen Theater zu beobachten. Ob es in Karlsruhe zu einem Prozess kam, ist ungewiss. In München gelangte eine derartige Klage bis an das Appellationsgericht20. Beide Instanzen wiesen die Klage gegen die Zivilliste (Hoftheater) ab.

VI.

Das Urteil des ROHG vom 8. Februar 187821

Im ersten Urteil des ROHG vom 8. Februar 1878 verklagte Batz den Pächter und Direktor des Stadttheaters und des Elysium-Theaters in Stettin. An beiden Theatern waren in den Jahren 1874 und 1875 Lortzings Opern »Zar und Zim17 18 19 20 21

Heinrich-Heine-Institut Düsseldorf, Bartz 1/3 70. ROHG X, S. 113. Vgl. dazu Reinhold, S. 204–206. Schreiben Batz’ vom 15. August 1873, Generallandesarchiv Karlsruhe, H 141/III, 288/289. Allgemeine deutsche Musikzeitung 1877, S. 7. ROHG XXIIIS, S. 359.

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mermann« und »Undine« zur Aufführung gekommen. Die Klage richtete sich auf »Anerkennung des Urheberrechts, Unterlassung fernerer unbefugter Aufführungen und Schadensersatz«. Der Beklagte wandte dagegen ein, »daß das Aufführungsrecht von frühern Pächtern und Directoren des Stadttheaters zu Stettin gegen Zahlung eines einmaligen Honorars in unbeschränkter Weise für die Stettiner Bühne erworben sei«. Das Reichsoberhandelsgericht gab beiden Parteien in je einem Klagepunkt Recht. Unter dem Titel »Unbefugte Aufführung dramatischer Werke« lauten die Leitsätze, die kein Ergebnis enthalten, wie folgt: »1. Wem kommt die Verlängerung der gesetzlichen Schutzfrist bei Werken zu Statten, welche zur Zeit der Verlängerung nicht mehr geschützt waren? 2. Erwerb des Aufführungsrechts für stehende Bühnen nach Preuß. Landrecht. 3. Begriff einer stehenden Bühne. 4. Begründet der Erwerb des Rechts der Aufführung auf einem Theater das Recht der Aufführung auf einem unter derselben Verwaltung stehenden andern Theaters?«

Schwer verständlich ist dem an das moderne Zivilprozessrecht gewöhnten Leser die Beweissituation. Aus dem Text des Urteils ergibt sich, dass ein datierter Vertrag zwischen Lortzing und der Theaterdirektion vorgelegen hat, das scheint aber die Vorinstanz nur als halben Beweis gewertet zu haben. Beweis über den Erwerb des behaupteten Aufführungsrechts war dadurch geführt worden, dass das Appellationsgericht Stettin als Gericht zweiter Instanz dem Beklagten einen Erfüllungseid auferlegt hatte. Dieser Eid konnte nach deutschem Recht einer Prozesspartei auferlegt werden, »wenn eine erhebliche Thatsache zwar nicht vollständig erwiesen, aber in hohem Grade wahrscheinlich gemacht« war22. Welcher halbe Beweis, der Voraussetzung der Auferlegung des Erfüllungseides war23, dieser Entscheidung zugrunde liegt, wird leider nicht mitgeteilt. Ein einschlägiger Vertrag Lortzings ist nicht überliefert. Einen undeutlichen Hinweis gibt ein Brief Lortzings an den Schott-Verlag vom 15. Dezember 183924: »Ich weiß nicht, ob Ihnen bekannt ist, daß ich der Komponist der dreiaktigen komischen Opern »Czar und Zimmermann und der beyden Schützen« bin, welche Opern seit Anfang dieses Jahres auf den Bühnen der Städte …Stettin …theils mit großem Beifall gegeben, theils angekauft worden und noch einstudirt werden.«

22 A. Bierling, Der bayerische Civilprozeß, in: Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preussen, Band 5, 1871, S. 720. 23 Joachim Füger, Das Gerichtliche Verfahren in Streitsachen in den deutschen Erbländern der österreichischen Monarchie, 1812. 24 Irmlind Capelle, Albert Lortzing. Sämtliche Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, 1995, Nr. 108, S. 116.

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Das Urteil nennt eine Rechtsübertragung vom 11. Juni 183725. Eine Zahlung an Lortzing erfolgte allerdings erst am 27. Juni 183926. Wie schon die Leitsätze erkennen lassen, beschäftigt sich das Urteil mit mehreren Aspekten des Urheberrechts. Der wesentliche Streitpunkt war zunächst der, ob überhaupt noch ein Urheberrecht bestand. § 32 des preußischen Urheberrechtsgesetzes von 183727 legte fest, dass ein musikalisches Werk »nur mit Erlaubniß des Autors, seiner Erben oder Rechtsnachfolger stattfinden« dürfe. »Das ausschließende Recht, diese Erlaubniß zu erteilen steht dem Autor lebenslänglich und seinen Erben oder Rechtsnachfolgern noch zehn Jahre nach seinem Tode zu.« Demzufolge endete der Urheberrechtschutz für die Werke Lortzings im Jahre 1861. Umstritten war, ob dieses Recht durch das Urheberrechtsgesetz vom 20. Juni 1870, das in § 52 die Schutzfrist auf 30 Jahre verlängert hatte, wieder aufgelebt war. Das Gesetz selbst spricht das Problem nicht deutlich an. § 58 lautet: »Das gegenwärtige Gesetz findet auf alle vor dem Inkrafttreten desselben erschienenen Schriftwerke, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werke Anwendung, selbst wenn dieselben nach den bisherigen Landesgesetzgebungen keinen Schutz gegen Nachdruck, Nachbildung oder öffentliche Aufführung genossen haben.«

Diese Vorschrift legte das Reichsoberhandelsgericht in dem Sinne aus, dass die Frist von 30 Jahren auch gilt, wenn zwischenzeitlich kein Schutz mehr bestand: »Das Reichsgesetz läßt, indem es § 58 die verlängerte Schutzfrist auch den vor dem Inkrafttreten desselben erschienen Werken beilegt…«28. Daran schloss sich als nächste Frage an, wem diese Schutzfristverlängerung zu Gute kommen sollte, dem Autoren oder dem Theaterdirektor. Diese zunächst verblüffend anmutende Frage beantwortete das Gericht wie folgt. Es ist richtig, »daß die Ausdehnung des Schutzes der Urheberrechte lediglich im Interesse der Autoren erfolgte und nur diesen und deren Erben vom Gesetz erweiterte Rechte beigelegt worden sind, mithin die neue Gesetzgebung den Theaterunternehmern unmittelbar nicht zu Gute kommt.«

Mit dieser Feststellung wäre die Klage begründet gewesen. Die Verwendung des im Drucktext hervorgehobenen Wörtchens »unmittelbar«, lässt allerdings ein abweichendes Ergebnis erahnen. Das Gericht gelangt auch wirklich schon im nächsten Satz dahin:

25 ROHG XXIII, S. 359. 26 Eintragung Lortzings in seinem Cassa-Buch, zitiert nach Hans Hoffmann, Albert Lortzing. Libretto eines Komponisten-Lebens, 1987, S. 374. 27 Vgl. dazu Rainer Nomine, Der Königlich Preußische Sachverständigen-Verein in den Jahren 1838 bis 1870, 2001, S. 26–64. 28 ROHG XXIII, S. 360f.

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»Hiermit verträgt es sich aber, daß dieselben dennoch mittelbar29, nämlich vermittelst der von ihnen mit den Autoren geschlossenen Verträge, von der Erweiterung des gesetzlichen Schutzes Vortheil ziehen.«30.

Zur Begründung führte das Gericht an: Das Gesetz regelt diese Frage nicht; auf die dem Gesetz »zu Grunde liegende Absicht des Gesetzgebers« komme es nicht an. Die Frage könne nur »nach dem Inhalt der mit den Autoren abgeschlossenen Verträgen und der ihnen zu Grunde liegenden Absicht der Vertragsschließenden beantwortet werden«. Die Verlängerung der Schutzfrist komme den Autoren nur dann zu Gute, wenn sie ihre Rechte den Theaterdirektoren nur »auf eine bestimmte Zeit eingeräumt worden sei«. Hat aber der Autor sein Recht auf unbestimmte Zeit übertragen, so gelte die Übertragung bis zum Ende der Schutzfrist und wirke sich dann zu Gunsten des Theaterunternehmers aus31. »Hieraus erklärt es sich, daß ein nach Abschluß des Vertrags eintretende Veränderung der Gesetzgebung in Betreff der Dauer des Rechts in beiden Fällen verschieden wird. In den Willen der Vertragsschließenden, welcher auf eine zeitliche Beschränkung des übertragenen Rechts gerichtet war, vermag eine hinterher eintretende Veränderung der Gesetzgebung nichts zu ändern. Dagegen ist die Rechtsregel, daß Niemand andere als die ihm zustehenden Rechte übertragen kann, durchaus verträglich mit der Annahme, daß das ganze Recht einschließlich der späteren Erweiterung desselben übertragen sei.«32.

Gedankliche Voraussetzung für das Ergebnis des Gerichts müsste eigentlich sein, dass es sich dabei nicht um ein neu entstandenes Recht handelt, sondern um ein wiederaufgelebtes Recht. Die Frist müsste sozusagen als rückwirkend verlängert angesehen werden33. Diesen Weg schlägt das Reichsoberhandelsgericht allerdings nicht ein. Zwar gilt diese Überlegung – nach Ansicht des Gerichts – problemlos für die Fälle, in denen 1870 die Frist noch nicht abgelaufen war. »Bei denjenigen Urheberrechten dagegen, deren Schutzfrist beim Inkrafttreten des Reichsgesetzes schon abgelaufen war, bewirkte die Verlängerung der Schutzfrist zwar die Entstehung eines neuen Rechts, aber in dem Sinne, daß wir bei einer durch den Richter gewährten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand das erloschene Recht wiederhergestellt wurde, so daß das neue Recht mit dem alten identisch erscheint. Ein Vertrag, durch welchen der Autor unter der Herrschaft des früheren Rechts einem Theaterunternehmer gegen Honorarzahlung die Aufführung seines Werkes ohne Beschränkung gestattete, … hob Letzteres diesem Theaterunternehmer gegenüber

29 30 31 32 33

Im Drucktext wiederum hervorgehoben. ROHG XXIII, S. 360. ROHG XXIII, S. 361. ROHG XXIII, S. 362. ROHG XXIII, S. 362.

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gänzlich, mithin auch für die Zeit der späteren Verlängerung der gesetzlichen Schutzfrist auf.«34

In einem zeitlich parallel entschiedenen Fall hat das Gericht das deutlicher zum Ausdruck gebracht: »Die Erben von Autoren, welche beim Inkrafttreten des Reichsgesetzes vom 11. Juni 1870 bereits verstorben waren, genießen demnach den durch § 58 gewährten Schutz nicht vermöge eines durch Succession auf sie übergegangenen Rechts des Urhebers sondern vermöge eines durch das Gesetz ihnen selbst beigelegten Rechtes.«35

Der die Rechtsprechung in diesem Punkte beherrschende Grundsatz wird ebenfalls in der Parallelentscheidung deutlicher zum Ausdruck gebracht: »Der hiermit geordnete Schutz ist mithin nicht der Person des Urhebers, sondern dem Werke gewährt. Nicht allein der Urheber, sondern auch alle Personen sollen ihn genießen, welche, wenn das Gesetz beim Erscheinen des Werks bereits in Geltung gewesen wäre, nach den Bestimmungen desselben Anspruch auf den Schutz des Werkes haben würden.«36

Das alles gelte unabhängig von der Frage, ob in der Erlaubnis des Komponisten eine »Veräußerung eines Theils seines Urheberrechts oder blos ein Verzicht auf die Ausübung seines Ausschließungsrechtes zu finden ist«.37 Die Entscheidung des ROHGs zu Gunsten der Theaterdirektoren übersieht einen wesentlichen Gesichtspunkt. Wenn den Autoren bekannt gewesen wäre, dass die Schutzfrist nicht zehn, sondern 30 Jahre beträgt, hätten sie möglicherweise entweder eine zeitliche Limitierung vorgenommen oder ein höheres Honorar vereinbart. Ein weiteres von dem Gericht zu lösendes Problem bestand in der Tatsache, dass der damals aktuelle Stettiner Theaterdirektor nicht derjenige war, dem Lortzing vertraglich das Aufführungsrecht überlassen hatte. Die Frage wurde vergleichsweise kurz beantwortet: »Was aber den Umfang des Gebrauchs betrifft«, ist der »Erwerb eines Aufführungsrechts nicht auf die Person des Bühnenleiters, sondern auf die Bühne zu beziehen«38. Dieses übertragene Recht geht also auf den jeweiligen Rechtsnachfolger über. Dabei handelt es sich nicht um einen Vertrag zu Gunsten Dritter, sondern um ein »selbstständiges Recht«, das sich »unmittelbar aus dessen Entstehungsgrund« herleitet.39

34 35 36 37 38 39

ROHG XXIII, S. 363. ROHG XXIII, S. 399. ROHG XXIII, S. 399. ROHG XXIII, S. 363. ROHG XXIII, S. 364. ROHG XXIII, S. 366.

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Mit diesem Urteil bestätigte das Gericht seine frühere Rechtsprechung, die es erstmals im sogenannten Leipziger Theaterprozess40 ausgesprochen hatte41. Diese Rechtsprechung war in der Literatur nicht ohne Widerspruch geblieben. Hermann von Hillern42 hatte schon vor Erlass des Urteils des Reichsoberhandelsgerichts eine dem Kläger günstige Ansicht vertreten43, mit der sich das Gericht auch auseinandersetzte44, diese Meinung allerdings ablehnte. Auch Heinrich Thöl45 bezog, allerdings erst zwei Jahre nach diesem Urteil, Stellung gegen die vom Gericht gefundene Lösung46. Georg Beseler47 bewertete das Ergebnis des Gerichts als eine »in der Motivirung allerdings anfechtbare Auslegung der Aufführungs-Licenz-Verträge zwischen den Urhebern und den Theaterdirectoren«48. Eine weitere Frage, deren Klärung das Gericht vorzunehmen hatte, war die, ob das Stettiner Theater als ein »stehendes Theater« im Sinne des § 32 des preußischen Urheberrechtsgesetzes anzusehen sei. Das Reichsoberhandelsgericht stellte insoweit nicht auf den Gesetzestext ab. Seiner Meinung nach handelte es sich darum, auf welche Bühnen die fragliche Theaterpraxis sich erstrecke»49. Eine derartige Übung konnte sich nur »an Bühnen entwickeln, welche eine von der Person des jeweiligen Leiters unabhängige, seine Persönlichkeit überdauernde Einrichtung haben. Hierzu ist vor Allem erforderlich, daß die Bühne … von einem nicht auf die Dauer der physischen Person beschränkten Unternehmer, z. B. von einem Hofe, einer Gemeinde, Corporation, Actiengesellschaft oder dergl. unterhalten werde«.50

Schlussendlich galt es noch die Frage zu klären, »ob Beklagter durch den Erwerb des Aufführungsrechts für das Stadttheater in Stettin auch das Recht erworben habe, Aufführung der gedachten Opern auf dem Elysium-Theater daselbst zu veranstalten«51. Beide Theater hatten unterschiedliche Eigentümer. Das Stadttheater gehörte der Kaufmannschaft, das Elysium-Theater einer Aktiengesell40 ROHG XII, S. 319, bestätigt in ROHG XV, S. 195. Vgl. dazu Reinhold, S. 250–256. 41 ROHG XXIII, S. 360. 42 v. Hillern, Streitfragen aus dem Autorrecht mit Bezug auf zwei Entscheidungen des Reichsoberhandelsgerichts, Freiburg, 1876; ders. Aus dem Autorrecht, Goldtammers Archiv, 1879. 43 Vgl. dazu Reinhold, S. 211–214. 44 ROHG XXIII, S. 360. 45 Über ihn vgl. Bernd-Rüdiger Kern, HRG Bd. V, 1991, Sp. 178–182. 46 Die Theaterprocesse. Ein Wort zu Gunsten der Dichter und Komponisten. Göttingen 1880. Vgl. dazu kurz Reinhold, S. 213. 47 Über ihn vgl. Bernd-Rüdiger Kern, Georg Beseler. Leben und Werk, 1982. 48 Georg Beseler, System des gemeinen deutschen Privatrechts. 2. Abtheilung, 4. Aufl. 1885, S. 960 Anm. 18. Zu Beselers Urheberrechtsvorstellungen vgl. Bernd-Rüdiger Kern, Georg Beselers Beitrag zum Urheberrecht, UFITA 2004, S. 403–414. 49 ROHG XXIII, S. 364. 50 ROHG XXIII, S. 364f. 51 ROHG XXIII, S. 367.

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schaft. »In früherer Zeit bestand zwischen diesen Theatern keine Verbindung.« Beide Theater wurden aber in dem für die Klage maßgeblichen Zeitraum, von demselben Pächter betrieben. Daraus konnte allerdings nur »eine PersonalUnion beider Unternehmungen, keine Verschmelzung derselben zu einer einheitlichen Anstalt« angenommen werden. »Um eine dauernde Vereinigung beider Theater zu einer Anstalt herbeizuführen, wären Einrichtungen erforderlich, welche die längere Dauer dieser Verbindung sichern, insbesondere eine Uebereinkunft zwischen den Eigenthümern der beiden Theatergebäude, welche dieselben hinderte, durch Verpachtung der letztern an verschiedene Pächter nach ihrem Gefallen die Verbindung beider Theater zu unterbrechen.«

Eine derartige Verbindung wurde vom Beklagten nicht einmal behauptet. »Es kann sonach nicht angenommen werden, daß die für das Stadttheater erworbenen Aufführungsrechte ohne Weiteres auch für das Elysium-Theater Geltung haben.«52.

VII.

Das Urteil des Reichsoberhandelsgerichts vom 30. November 187853

Im zweiten Urteil des ROHG vom 30. November 1878 verklagte Batz das Hoftheater in Dresden auf Grundlage von § 54 des Urhebergesetzes von 187054. Das Hoftheater Dresden hatte im März, Mai und August 1874 mehrere Opern Lortzings aufgeführt. Die Klage war am 1. November 1877 eingereicht worden. Der Beklagte hatte die Einrede der Verjährung erhoben. Das erstinstanzliche Gericht folgte dem nicht, weil es in analoger Anwendung des § 34 den letzten Tag der Aufführung als Beginn der Verjährung für alle Aufführungen wählte. Das Oberappellationsgericht Dresden und das ROHG hingegen bejahten die Verjährung55. Das ROHG lehnte die analoge Anwendung ab, weil § 34 ein absoluter Ausnahmetatbestand sei, der demzufolge nicht analogiefähig sei56. Das bedeutet: »Haben mehrere unbefugte Aufführungen desselben Werks stattgefunden, so läuft bezüglich jeder einzelnen Aufführung eine besondere Verjährung«. »Es ist 52 ROHG XXIII, S. 368. 53 ROHG XXIV, S, 281. 54 § 54: »Wer vorsätzlich oder aus Fahrlässigkeit ein dramatisches, musikalisches oder dramatisch-musikalisches Werk vollständig oder mit unwesentlichen Aenderungen unbefugter Weise öffentlich aufführt, ist den Urheber oder dessen Rechtsnachfolger zu entschädigen verpflichtet und wird außerdem mit einer Geldstrafe nach Maaßgabe der §§. 18. und 23. bestraft. Auf den Veranlasser der unbefugten Aufführung findet der §. 20. mit der Maaßgabe Anwendung, daß die Höhe der Entschädigung nach §. 55. zu bemessen ist.« 55 ROHG XXIV, S. 281. 56 ROHG XXIV, S. 282.

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daher, wenn die Voraussetzungen des § 54 vorliegen, mit der Beendigung jeder Aufführung der Thatbestand des Begehns vollendet und der Entschädigungsanspruch verfolgbar, mithin der Beginn der Verjährungsfrist eingetreten.« Anderes kann ausnahmsweise dann gelten, wenn »die einzelnen Aufführungen unter einander so zusammenhängen, daß jede einzelne als unfertiger Bestandtheil einer erst mit der letzten Aufführung zum Abschluß gelangenden Gesammtvorstellung erscheint.«57 Der zweite Teil des Urteils betrifft eine der Fragestellungen, die schon das erste Urteil entschieden hatte. Es handelt sich um zwei Theater, in denen Werke Lortzings aufgeführt wurden, das Hoftheater in der Altstadt und das AlbertTheater in der Neustadt, das zur Zeit des Vertragsschlusses noch gar nicht existierte58. Ohne auf die vorherige Entscheidung einzugehen, werden hier davon abweichende Grundsätze vertreten. Allerdings handelt es sich nicht um ein Endurteil in der Sache, weil noch Beweis über den Erwerb der Aufführungsrechte geführt werden musste. Das ROHG erkannte keine allgemeine Regel, dass der Umfang der Rechtsübertragung örtlich beschränkt sei. »Vielmehr hängt es … von dem Inhalte des Vertrags ab, in welcher örtlichen Begrenzung das Aufführungsrecht den Erwerbern von dem Autor eingeräumt ist«. Dabei ist auf die »beim Vertragsschluss abgegeben Erklärungen und, insoweit solche nicht abgegeben worden sind, nach dem unter den obwaltenden Umständen vermuthlichen Willen der Vertragsschließenden« abzustellen. »Wenn dem Hoftheater zu Dresden die Befugniß zur Aufführung der in Rede stehenden Werke ohne eine Festlegung hinsichtlich der Oertlichkeiten, wo die Aufführung gestattet sein sollte, erwarb, so war demselben in Betreff der zu den Aufführungen zu benutzenden Localitäten weder eine Verpflichtung auferlegt, noch die Aufführungsbefugniß an die Bedingung der Benutzung bestimmter Localitäten geknüpft«.59

VIII. Das Urteil des Reichsgerichts vom 8. März 188160 Dem Urteil des Reichsgerichts vom 6. März 1881 lag wiederum eine Klage von Batz zu Grunde61, dieses Mal gegen das Hoftheater in Darmstadt. Weithin handelt es sich um dieselbe Problematik wie im ersten Urteil des ROHG. Das Hoftheater

57 58 59 60 61

ROHG XXIV, S. 283. ROHG XXIV, S. 283. ROHG XXIV, S, 284–285. RGZ III, 156. Das ergibt sich aus dem Urteil des Reichsgerichts vom 3. März 1881, Originalabschrift, Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, G 55, 158/1. Die amtliche Sammlung des Reichsgerichts nennt den Kläger nicht.

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Darmstadt hatte die Oper »Zar und Zimmermann« in den Siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts zehnmal aufgeführt. Der Leitsatz des Urteils enthielt folgende Frage: »Kommt die durch das Gesetz vom 11. Juni 1870 betreffend das Urheberrecht u.s.w. verlängerte Schutzfrist den Erben des vor dem 1. Januar 1871 verstorbenen Komponisten zu statten oder der Bühne, welcher dieser die öffentliche Aufführung des Werkes gegen Honorar erlaubt hatte?«

Die eher rhetorisch gemeinte Frage wird sogleich im ersten Satz kurz beantwortet: »In Übereinstimmung mit dem Reichsoberhandelsgericht ist diese Frage zu Gunsten der Bühne entschieden worden.« Wesentliche neue Gedanken enthalten die Gründe nicht, sondern sie bestätigten die ältere Rechtsprechung, geben aber eine exaktere dogmatische Herleitung. Eine Auseinandersetzung mit der Literatur findet nicht statt. Interessant ist das Urteil dennoch, weil zum einen der Sachverhalt präziser dargestellt wird, und zum anderen wesentliche historische Details zum Urheberrecht in der Zeit vor Erlass der ersten Urheberrechtsgesetze mitgeteilt werden. »Die angefochtene Entscheidung beruht wesentlich auf der Auslegung des Vertrages, dessen Abschluß durch den Brief des Komponisten Lortzing vom 28. Sept. 1842 eingeleitet und anfangs des Jahres 1842 zustande gekommen ist. Die Auslegung geht dahin, daß Lortzing, welcher in jenem Briefe keine Beschränkung beifügte, der zu jener Zeit zwischen den Theatern und den Urhebern dramatischer und dramatisch-musikalischer Werke allgemein bestandenen Übung folgend, gegen Zahlung eines einmaligen Honorars das Recht zur Aufführung der Oper »Zar und Zimmermann« der Darmstädter Hofbühne für alle Zeiten gestattet habe. Gegenstand und Inhalt des Vertrages war demnach die von Lortzing unbeschränkt62 erteilte Erlaubniß zur Aufführung dieser Oper; die Beklagte wollte damit die Sicherung gegen jede Hinderung von seiten des Autors erwerben, und dieser hat ein für allemal auf die Geltendmachung aller ethischen oder rechtlichen Hindernisse gegen die Aufführung verzichtet.«63

Der im Urteil genannte Brief ist nicht überliefert64. Auf eine Anfrage des Verlegers Schott antwortete Lortzings am 28. September 1840 »daß ich von bedeutenden Privatbühnen und Hoftheatern für die Oper Czar … stets als Honorar 12 bis 20 Friedrich’sdor empfangen habe; ich will demnach das Honorar für Darmstadt auf zwölf Stück Friedrich’sdor stellen. Haben Sie die Güte, Ihren geschätzten Herren Geschäftsfreunden zu bemerken, daß weitere Bemühungen, einen geringeren Preiß für das Hoftheater in Darmstadt zu erzielen, vergebens seyn dürften.«65

62 Im Druck hervorgehoben. 63 RGZ III, 156. 64 Das ist umso bemerkenswerter, als der Bestand im Hessisches Staatsarchiv Darmstadt, G 55, 158/1. sehr umfangreich ist. 65 Capelle, Briefe, Nr. 119, S. 125.

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Über den Umfang der Rechtsabtretung sagt der Brief nichts aus. Bemerkenswerterweise fand die erste Aufführung des »Zaren« in Darmstadt, wo der Oper außerordentlicher Erfolg beschieden war, schon 1841 statt. Lortzings Cassa-Buch weist auch für dieses Jahr eine Einnahme in Höhe von 58,16 Talern auf 66. Möglicherweise hat das Hoftheater im Prozess eine falsche Angabe gemacht. »Das entscheidende Moment bei dem Vertrage, wie ihn das Berufungsgericht auffaßt, ist nämlich nicht die Erklärung, auf künftig erst entstehende Rechte zum voraus zu verzichten, sondern der Wille, sich dem bestimmten Theater gegenüber sofort jeder Beziehung zum Werke67, sofern es sich um das Verbot seiner Aufführung handelt, zu begeben, sodaß die aus der Erlaubnis hervorgehende Befugnis zur öffentlichen Aufführung des Werkes ein eigenes selbständiges68 Recht der kontrahierenden Bühne geworden ist. Allerdings sind damit auch solche Verbotsrechte aufgegeben worden, welche erst durch eine spätere Gesetzgebung dem Werke verliehen wurden. Allein dieses Aufgeben erscheint hiebei nur als eine notwendige Folge der gänzlichen Hingabe des Werkes zur Aufführung an die betreffende Bühne; die rechtlichen Wirkungen eines solchen Vertrages erstrecken sich nicht mehr und nicht weniger in die Zukunft als die Wirkungen einer jeden anderen gänzlichen, dauernden Aufgebung eines Rechtes. Die Beklagte beansprucht nicht die durch die neue Gesetzgebung dem Werke verliehenen Rechte, sondern sie verlangt nur, daß die Veränderung in der Gesetzgebung nicht dazu benutzt werde, um einseitig von dem früher abgeschlossenen Vertrage abzugehen, durch welchen das Recht zur öffentlichen Aufführung der Oper auf ihrer Bühne ihr Recht69 geworden und insofern70 aus der Rechts- und Verbietungssphäre des Urhebers ausgeschieden ist. Für den Erwerber eines solchen71 Aufführungsrechtes beziehungsweise der gänzlichen Befreiung von jeder Hinderung ist es ganz gleichgültig, wie der Titel des Autors zur Zeit des Vertragsabschlusses beschaffen war. Hatte dieser damals gar kein auf einem Gesetze beruhendes Verbietungsrecht, wurde also die Erlaubnis zur öffentlichen Aufführung bei ihm nur eingeholt und honoriert aus Rücksicht auf den Anstand oder weil er etwa später ein Hinderungsrecht erlangen könnte, oder weil das Werk Manuskript und er durch Revers gegen dessen Verbreitung gesichert war, oder hatte er ein gesetzlich sanktioniertes, jedoch zeitlich beschränktes Verbotsrecht, so hat er doch in allen diesen Fällen als Urheber seines Werkes72 dieses dergestalt zum Gegenstande des Vertrages gemacht, daß er dessen Aufführung als selbständiges73 Recht dem Theater überlassen, dieses ein für allemal gegen jedes Verbot74, das von ihm ausgehen könnte, gesichert hat.«75

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Hoffmann, S. 375. Hervorhebung im Original. Hervorhebung im Original. Hervorhebung im Original. Hervorhebung im Original. Hervorhebung im Original. Hervorhebung im Original. Hervorhebung im Original. Hervorhebung im Original. RGZ III, 157–158.

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IX.

Bernd-Rüdiger Kern

Kritik an den Urteilen76

Die Urteile stießen in der Literatur weithin auf Ablehnung. Neben den schon genannten kritischen Stimmen widersprachen auch Reutling77 und Josef Kohler78 den Ergebnissen der Rechtsprechung. Verteidigt hat es einzig Levin Goldschmidt79, einer der ehemaligen Richter des Reichsoberhandelsgerichts. Während Beseler von der Auslegung der Verträge durch das Reichsoberhandelsgericht nicht überzeugt war, griff Thöl die Entscheidung in »seiner scharfsinnig nörgelnden Weise«80 schon in der der Vertragsauslegung zugrunde liegenden Begründung an: »Das reichsgesetzliche Urheberrecht ist, wenn der Urheber vor dem 1. Januar 1871 gestorben ist, ein ursprünglich eigenes Recht der Erben und war niemals ein Recht des Urhebers. Die Anwendung hiervon ergiebt, daß der Urheber nicht berechtigt war, über dieses Recht seiner Erben, welches niemals sein Recht gewesen ist, zu bestimmen, daß also, wenn er durch Vertrag auch darüber hat bestimmen wollen, er Ungültiges gewollt, als ohne Rechtswirkung bestimmt hat.«81

Diese Kritik Thöls ist zwar sicherlich dogmatisch haltbarer als die des Reichsoberhandelsgerichts und des Reichsgerichts, wird aber dem Urheberrecht letztendlich genauso wenig gerecht. In der Kritik unberücksichtigt blieb der zukunftsweisende Grundgedanke des Reichsgerichts, den Werkschutz in den Mittelpunkt zu rücken und nicht den Schutz der Autoren. Dieser Gedanke macht allerdings das Ergebnis der Rechtsprechung nicht plausibler.

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Titel nach Thöl, S. VI. Goldschmidts Zeitschrift für das Handelsrecht, Bd. 23, 1878, S. 110–137. Neue Zeit. Wochenschrift für deutsches Theater- und Urheberrecht, 1879, Nr. 44. Noten zu der Abhandlung von Reuling. F. Frensdorff, zitiert nach Kern, Thöl, Sp. 180. Thöl, S. 26.

Stephan Meder

Richard Strauss versus Luigi Denza: Der Kampf um das Urheberrecht an dem Lied funiculì, funiculà

Richard Strauss war ein Komponist, der an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit seinen Tondichtungen, Liedern oder Opern wie Salome und Elektra Weltruhm erlangte. Strauss war aber auch ein Reformer auf dem Gebiet des Urheberrechts, der sich für eine bessere Bezahlung von Komponisten stark machte und dafür kämpfte, dass Künstler von ihrer Arbeit leben können.1 Es mag daher überraschen, dass Strauss selbst in einen Urheberrechtsstreit verwickelt wurde, womit es folgende Bewandtnis hatte: Richard Strauss, 1864 in München geboren, fand 1886, also im Alter von 22 Jahren, eine erste Anstellung als Kapellmeister an der Hofoper seiner Heimatstadt. Am Tag nach der Vertragsunterzeichnung unternahm er eine ausgedehnte Italienreise, die ihn unter anderem nach Rom und Neapel führte.2 Gleich nach der Rückkehr begann er in München mit der Komposition einer viersätzigen Orchesterfantasie, die er Aus Italien nannte. Dieses kurz darauf unter seiner Leitung an der Hofoper uraufgeführte Werk gab den Anlass zu dem Streit über das Lied funiculì, funiculà.

I.

Der Streit zwischen Luigi Denza und Richard Strauss

Am Anfang der Plagiatsvorwürfe steht also die Künstlerreise, die Strauss 1886 unmittelbar nach Antritt seiner neuen Stelle als Kapellmeister unter anderem nach Neapel führte. Die Neapolitaner sind bekannt für ihre Liebe zur Musik, gerne tragen sie ein Lied auf ihren Lippen, wenn sie durch die engen Gassen oder auf den breiten Promenaden ihrer schönen Stadt flanieren. So war offenbar auch das Lied funiculì, funiculà überall in der Stadt zu hören, als Strauss in Neapel weilte. Was Strauss nicht wissen konnte: Das Lied stammte von Luigi Denza, der, 1 Vgl. Fedor Seifert, Richard Strauß: Kampf um ein modernes Urheberrecht, in: ders., Von Homer bis Richard Strauß. Urheberrecht in Geschichten und Gestalten, München (1989), S. 93–99. Besonders die Geschichte der Verwertungsgesellschaften ist mit dem Namen Richard Strauss verbunden (siehe unten V). 2 Max Steinitzer, Richard Strauss, Berlin, Leipzig (1927), S. 63.

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Stephan Meder

knapp zwanzig Jahre älter als Strauss, 1846 in Castellammare di Stabia, einer Hafenstadt mit heute rund 65.000 Einwohnern am Golf von Neapel, geboren wurde. Denza lehrte seit 1898 als Professor für Gesang an der Royal Academy of Music in London, wo er 1922 als international bekannter Komponist gestorben ist. Das Lied war eine Auftragsarbeit. Den Anlass bildete die Einweihung eines neuartigen, schienengebundenen Verkehrsmittels, dessen Fahrbetriebsmittel durch Seile bewegt werden. Eine solche Schienenseilbahn, die Neapolitaner nannten sie funiculare del Vesuvio, ist imstande, beträchtliche Höhenunterschiede zu überwinden. Sie war eine Attraktion, die viele Besucher anzog, die nun bis zum Gipfel des Vesuvs hochfahren konnten. Das funiculare del Vesuvio existiert heute nicht mehr. Es wurde bei einem Ausbruch des Vesuvs im Jahre 1944 zerstört. Das Lied aber, das den Anstoß für eine ganze Welle international erfolgreicher neapolitanischer Lieder gab, lebt als eine Art klassischer Evergreen bis heute fort. Ihm war im Übrigen schon in den 1880er Jahren ein großer Erfolg beschieden. So sollen mehr als eine halbe Million Kopien der Noten verkauft worden sein.3 Der von dem Dichter Giuseppe Turco in neapolitanischer Mundart verfasste Text des Liedes entspricht dem Muster einer populären Unterhaltungsmusik, die stark mit Anleihen aus der Volksmusik arbeitet: Der Sänger wirbt um seine Giovanna, indem er sie bittet, mit der Seilbahn auf den Gipfel des Vesuvs zu fahren, um dort die weite Aussicht zu genießen und ihn zu heiraten. Richard Strauss hatte das Lied funiculì, funiculà in Neapel also irgendwie aufgeschnappt und wahrscheinlich nach Gehör aufgezeichnet, als er es unmittelbar nach der Rückkehr nach München in den Schlusssatz seiner symphonischen Fantasie Aus Italien einarbeitete. Als er später gefragt wurde, warum er das Lied in sein Werk aufgenommen hat, sagte er, er habe das »bunte Treiben« des »neapolitanischen Volkslebens« schildern wollen. In der Allgemeinen Musikzeitung, einem renommierten Journal für Musikwissenschaft, schrieb er, das Hauptthema des Schlusssatzes sei ein »bekanntes neapolitanisches Volkslied«.4 Strauss hatte offenbar eine falsche Vorstellung von der Provenienz des Liedes. Er glaubte, es habe sich um ein Volkslied gehandelt. Von der Eröffnung der Versuvseilbahn wusste er wahrscheinlich ebenso wenig wie von dem an Denza erteilten Auftrag. Es kann daher nicht überraschen, dass er den Namen Denza bei der Uraufführung nicht genannt hat. Der weitere Fortgang der Geschichte muss mit dem Titel ›jede Legende hat einen wahren Kern‹ überschrieben werden. Denn in der Fachliteratur wird bis zum heutigen Tag behauptet, Strauss sei von Denza gerichtlich belangt und zur Zahlung einer royalty, also einer Lizenzgebühr, für jede Aufführung des Werks 3 Charles Osborne, The concert song companion, London (1974), S. 211. 4 Richard Strauss, Aus Italien, in: Allgemeine Musikzeitung (1889), S. 263–267, 265.

Richard Strauss versus Luigi Denza

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Aus Italien verurteilt worden.5 Doch mangelt es an Quellen, die diese Behauptung stützen können. Es lassen sich weder ein Urteil noch irgendwelche Gerichtsakten ausfindig machen, die belegen könnten, dass es zu einem Prozess tatsächlich gekommen ist.6 Fest steht aber, dass Denza der Urheber des Liedes war, dass Denza der Nachwelt vor allem durch dieses Lied in Erinnerung geblieben ist, dass Strauss das Lied in sein Orchesterwerk eingebaut und den Namen des Urhebers nicht genannt hat. Es ist daher wahrscheinlich, dass Denza seine Urheberschaft gegenüber Strauss angemahnt oder mindestens in der Öffentlichkeit darüber geklagt hat, dass Strauss eine seiner Melodien zu Unrecht verwertet hat. Auch mag er gerichtliche Schritte erwogen oder Strauss mit einem Verfahren gedroht haben.

II.

Wie hätte ein Rechtsstreit zwischen Denza und Strauss ausgehen können?

Die Behauptung, Strauss sei von Denza verklagt und durch ein Gericht verurteilt worden, Tantiemen zu bezahlen, muss jedenfalls in das Reich der Fabeln und Legenden verwiesen werden. Es darf aber gefragt werden: Hätte eine solche Klage überhaupt erfolgreich sein können? Um hier eine Antwort zu finden, sei an ein Verfahren erinnert, in das Richard Strauss in den Jahren 1908 und 1909, also gut zwanzig Jahre nach der Erstaufführung von Aus Italien involviert war.7

1.

Das Verfahren zwischen F.E.C. Leuckart und Lauterbach & Kuhn

Genau genommen handelt es sich hier um einen Prozess, den zwei Verleger gegeneinander geführt haben. Auf der einen Seite stand der Leipziger Musikalienhandel und Musikverlag Lauterbach & Kuhn, der Stücke des heute weitgehend in Vergessenheit geratenen Komponisten Heinrich Noren verlegte. Lauterbach & Kuhn klagten gegen Franz Ernst Christoph Leuckart, einen 1782 als Kunst- und Musikhandlung in Breslau gegründeten und heute in München 5 So Günther Brosche, Musical quotations and allusions in the works of Richard Strauss, in: Charles Youmans (Hg.), The Cambridge companion to Richard Strauss, Cambridge (2010), S. 213–225, 216 (Fn. 15). Dass ein Rechtsstreit geführt wurde, behaupten auch: Monika Dommann, Autoren und Apparate, Frankfurt am Main (2014), S. 84; Achille C. Varzi, Cover To Cover, in: Current Musicology (2013), S. 177–191, 185. 6 Auch die Nachfrage bei namhaften Vertretern der Richard Strauss-Gesellschaft in GarmischPartenkirchen führte zu keinen weiteren Erkenntnissen. 7 OLG Dresden, GRUR 1909, S. 332–337; zur Vorinstanz siehe Mittelstaedt, in: GRUR 1908, S. 247–248.

126

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ansässigen Musikverlag, der als Verleger von Richard Strauss auftrat. Der Prozess fand in erster Instanz vor dem Landgericht Leipzig und später vor dem Oberlandesgericht Dresden statt. Im Kern klagten Lauterbach & Kuhn gegen F.E.C. Leuckart, also den Verlag von Strauss, auf die Feststellung, dass sie ein Stück vertreiben dürfen, in welchem ihr Komponist Noren von Strauss komponierte Melodien verarbeitet hatte. Der Klage lag folgender Sachverhalt zugrunde: Lauterbach & Kuhn hatten mit dem Komponisten Heinrich Noren einen Verlagsvertrag über dessen Orchesterwerk Kaleidoskop geschlossen.8 Die 10. Variation des Kaleidoskop ist mit der Widmung »An einen berühmten Zeitgenossen« überschrieben. Es enthält melodische Anspielungen auf Themen der Tondichtung Ein Heldenleben von Richard Strauss. Noren hatte die melodischen Elemente bewusst in sein Orchesterwerk eingebaut, zumal der in der Widmung genannte berühmte Zeitgenosse kein Geringerer als Richard Strauss war, dessen Tondichtung Ein Heldenleben durch die Firma F.E.C. Leuckart verlegt wurde. Nun hatte Strauss‹ Verleger Leuckart vor dem Prozess Lauterbach & Kuhn privatschriftlich bereits aufgefordert, die Vervielfältigung und Verbreitung von Norens Werk Kaleidoskop zu unterlassen. Mit ihrer Klage zielten Norens Verleger auf die Feststellung, dass das Begehren der Gegenseite auf Unterlassung unberechtigt sei. Dabei stützen sich Lauterbach & Kuhn auf mehrere Argumente. Einmal meinten sie, die aus Strauss’ Werk übernommenen Elemente könnten gar nicht urheberrechtsschutzfähig sein. Sie würden nicht als Melodien im urheberrechtlichen Sinne gelten dürfen, weil es ihnen an Eigenständigkeit mangele. Das ist ein Problem der Reichweite des urheberrechtlichen Melodienschutzes, worauf noch zurückzukommen ist.9 Außerdem habe Noren die Melodie von Strauss nur beiläufig innerhalb einer größeren Tondichtung verwendet und sie dabei sowohl »harmonisch« als auch »rhythmisch« umgestaltet. Die Möglichkeit einer solchen Bearbeitung habe sich Strauss in seinem Verlagsvertrag ausdrücklich vorbehalten. Im Übrigen habe Strauss eine Postkarte an Noren gesendet und darin sein Einverständnis mit der Bearbeitung seiner Melodie erklärt. Die beklagte Firma F.E.C. Leuckart bestritt dagegen, dass Noren die Melodie bearbeitet hatte, er habe die in Frage stehenden Passagen einfach übernommen, so dass diese dem gesetzlichen Melodieschutz unterfallen würden. Der Austausch dieser Argumente wirft ein Schlaglicht auf die Beziehungen zwischen Verlegern und Musikschaffenden am Anfang des 20. Jahrhunderts. Strauss hatte Noren offenbar seine Zustimmung zur Verwendung und Bearbeitung der in Rede stehenden Passagen gegeben. Strauss’ Verleger wollte sich über 8 Die folgende Schilderung des Sachverhalts stützt sich im Wesentlichen auf die Darstellung in den beiden Entscheidungen des LG Leipzig und des OLG Dresden. 9 Siehe unten II 2 und 3.

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127

diese Abrede mit dem Argument hinwegsetzen, Strauss habe ihm das Urheberrecht an dem Werk übertragen. Es sei hier schon vorweggenommen, dass das OLG Dresden der Klage stattgab: Das Gericht verneinte eine Urheberrechtsverletzung mit dem Argument, Strauss sei aus Norens Verwertung kein wirtschaftlicher Schaden entstanden.10 Bevor darauf zurückzukommen ist, sei aber noch ein kurzer Blick auf die zeitgenössische Rechtslage und insbesondere auf die Frage nach dem Umfang des Urheberrechts an einer Melodie, und zwar erstens um 1886, und zweitens nach der Wende zum 20. Jahrhundert geworfen.

2.

Urheberrechtlicher Melodienschutz gegen Ende 19. Jahrhunderts

Ein einheitliches Gesetz zum Urheberrecht kam in Deutschland erstmals auf dem Gebiet des 1866 gegründeten Norddeutschen Bundes zustande. 1870 trat das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werken in Kraft, das 1871 als Reichsgesetz Geltung für das gesamte Gebiet des Kaiserreichs entfaltete.11 § 46 des Gesetzes von 1871 statuierte in engen Grenzen bereits einen ersten Melodienschutz: »Als Nachdruck sind alle ohne Genehmigung des Urhebers einer musikalischen Komposition herausgegebenen Bearbeitungen derselben anzusehen, welche nicht als eigentümliche Komposition betrachtet werden können, insbesondere Auszüge aus einer musikalischen Komposition, Arrangements für einzelne oder mehrere Instrumente und Stimmen sowie der Abdruck von einzelnen Motiven oder Melodien eines und desselben Werkes, die nicht künstlerisch verarbeitet sind.«

Die Vorschrift schützt also lediglich gegen den Nachdruck der Noten und nicht gegen eine künstlerische Verarbeitung des musikalischen Werks. Für den um das Lied funiculì, funiculà geführten Streit bedeutet dies: Hier ging es nicht um einen Nachdruck von Noten, sondern um die unberechtigte Verwendung fremder Melodien. Strauss hätte, selbst, wenn er willentlich gehandelt hätte, um 1886 mit seiner Verwertung des Liedes funiculì, funiculà keine Urheberrechtsverletzung begehen können.

10 OLG Dresden, GRUR 1909, S. 332–337, 335 (näher unten II 3). 11 Vgl. Manfred Rehbinder, Alexander Peuckert, Urheberrecht, 18. Auflage München (2018), § 4, Rndr. 146.

128 3.

Stephan Meder

Urheberrechtlicher Melodienschutz zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Der Weg zum starren Melodienschutz

Einen Melodienschutz im Sinne des Schutzes der Tonfolge gab es in Deutschland erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts, und zwar durch das Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und der Tonkunst (LUG) vom 19. Juni 1901.12 § 13 Abs. 2 LUG von 1901 lautete: »Bei einem Werke der Tonkunst ist jede Benutzung unzulässig, durch welche eine Melodie erkennbar dem Werk entnommen und einer neuen Arbeit zugrunde gelegt wird.«13

Damit fand der sogenannte starre Melodienschutz Eingang in das Gesetz, der die freie Benutzung eines Musikwerks ausschließt.14 Eine »unbewusste musikalische Entlehnung« oder nur »beiläufige« Entlehnung sollten der Gesetzesbegründung zufolge aber nicht gegen § 13 Abs. 2 LUG verstoßen.15 In diesem Zusammenhang darf noch einmal an den zwischen den Verlegern von Noren und Strauss geführten Rechtsstreit erinnert werden. Hier gelangte das OLG Dresden 1909 zu dem Ergebnis, dass ein Zitat vorliegt, da Noren Passagen aus dem Heldenleben des von ihm ›gefeierten‹ Richard Strauss entlehnt und verarbeitet habe. Das OLG bejaht also einen Verstoß gegen § 13 LUG. Es muss daher überraschen, dass es der Klage gleichwohl stattgab. Denn damals existierte noch keine dem heutigen § 51 Nr. 3 UrhG vergleichbare Ausnahmevorschrift für Zitate musikalischer Werke: »Zulässig ist die Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe eines veröffentlichten Werkes zum Zweck des Zitats, sofern die Nutzung in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist. Zulässig ist dies insbesondere, wenn 1. einzelne Werke nach der Veröffentlichung in ein selbständiges wissenschaftliches Werk zur Erläuterung des Inhalts aufgenommen werden, 2. Stellen eines Werkes nach der Veröffentlichung in einem selbständigen Sprachwerk angeführt werden, 3. einzelne Stellen 12 Zur Vorschichte des LUG von 1901, welches das Gesetz von 1871 ablösen sollte, vgl. Meder, Gottlieb Planck, Denkschrift betreffend die Revision des Gesetzes vom 11. Juni 1870 betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken, Abbildungen, musikalischen Kompositionen und dramatischen Werken, des Gesetzes vom 9. Januar 1876 betreffend das Urheberrecht an Werken der bildenden Künste und des Gesetzes vom 10. Januar 1876 betreffend den Schutz der Fotografien gegen unbefugte Nachbildung (1889), in: UFITA 2010 (Heft 1), S. 71–174. 13 Die heutige Rechtsgrundlage für den starren Melodienschutz findet sich in § 24 Abs. 2 UrhG. § 24 UrhG hat folgenden Wortlaut: (1) Ein selbständiges Werk, das in freier Benutzung des Werkes eines anderen geschaffen worden ist, darf ohne Zustimmung des Urhebers des benutzten Werkes veröffentlicht und verwertet werden. (2) Absatz 1 gilt nicht für die Benutzung eines Werkes der Musik, durch welche eine Melodie erkennbar dem Werk entnommen und einem neuen Werk zugrunde gelegt wird. 14 Näher dazu Afra Canaris, Melodie, Klangfarbe und Rhythmus im Urheberrecht, BadenBaden 2012, S. 45. 15 Beschlüsse des außerordentlichen Ausschusses für Revision der Gesetze über Urheberrecht nebst Begründung, Leipzig 1896, S. 89–94.

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eines erschienenen Werkes der Musik in einem selbständigen Werk der Musik angeführt werden. Von der Zitierbefugnis gemäß den Sätzen 1 und 2 umfasst ist die Nutzung einer Abbildung oder sonstigen Vervielfältigung des zitierten Werkes, auch wenn diese selbst durch ein Urheberrecht oder ein verwandtes Schutzrecht geschützt ist.«

So wäre nach der heutigen Rechtslage ein Musikzitat zulässig, wenn es zwar strukturell unverändert bleibt, aber musikalisch als ›Fragment‹ bzw. ›Fremdkörper‹ vom zitierenden Werk pointiert herausgestellt und abgegrenzt wird. Dem Musikschaffenden obliegt es also, mit Mitteln der Musik zu zitieren, das heißt, das zu zitierende Werk gesondert auszuweisen und deutlich von dem Rest des Werks abzuheben.16 Die Rechtslage war 1909 jedoch eine andere. Da nach dem damaligen Urhebergesetz (LUG) ein Zitat unzulässig war, musste das Gericht einen erhöhten Begründungsaufwand leisten, um der Klage stattgeben zu können. Dabei berief es sich auf die Motive des Gesetzgebers, die erkennen ließen, dass die Benutzung einer fremden Melodie »nur dann unter das Verbot des § 13 Abs. 2 LUG fallen soll, wenn sie objektiv geeignet ist, dem Originalwerk Konkurrenz zu machen bzw. seinen Absatz zu beeinträchtigen«.17 Aus den Motiven des Gesetzgebers schloss das Gericht also, dass ein Verstoß gegen § 13 Abs. 2 LUG nur dann vorliegt, wenn dem Komponisten durch die Verwertung ein wirtschaftlicher Schaden aufgrund einer besonderen Konkurrenzsituation droht.18 Strauss habe aber keinen solchen Schaden erlitten, so dass die Übernahme der Melodie durch Noren zulässig gewesen sei. Es darf vermutet werden, dass es einen besonderen Grund gibt, warum das OLG Dresden auf den wirtschaftlichen Schaden des Urhebers abstellt. Ein altes sächsisches Urheberrechtsgesetz, und zwar das sogenannte Königlich Sächsische Gesetz vom 22. Februar 1844 zum Schutz der Rechte an litterarischen Erzeugnissen und Werken der Kunst regelte nämlich, dass ein Urheber oder Rechteinhaber im Sinne von § 1 Abs. 1 des Gesetzes nur dann die Verletzung seines Urheberrechts geltend machen könne, wenn ihm ein wirtschaftlicher Schaden entstanden sei oder zumindest die Möglichkeit eines Schadens bestünde .19 Ob 16 Afra Canaris, Melodie, Klangfarbe und Rhythmus im Urheberrecht (Fn. 14), S. 45–47. 17 Wörtlich heißt es in der Entscheidung des OLG Dresden, die Motive des Gesetzgebers ließen erkennen, »daß man sich zu dem schweren Eingriff« in die künstlerische Freiheit zu dem Verbot an die Künstler, fremde Melodien zum Ausgangspunkt eigentümlicher Neuschöpfungen zu wählen nur entschloss »in der Absicht und zu dem Zwecke, das materielle Interesse des Autors oder seines Verlegers an der alleinigen Ausnutzung des Vermögenswertes der musikalischen Komposition zu schützen, die wirtschaftliche Ausbeutung der fremden Melodie zu verhindern.« 18 OLG Dresden, GRUR 1909, S. 332–337, 336. 19 Diese Regelung findet sich in § 16 des Gesetzes. Dort heißt es ferner: »Rechtsverfolgungen aus dem Gesetz sind überhaupt nur insoweit statthaft, als anzunehmen ist, daß durch die unbefugte Vervielfältigung ein dem Berechtigten nach § 1 zukommender, schon stattfindender

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und inwieweit die sächsischen Gerichte noch im Kaiserreich dazu neigten, urheberrechtliche Probleme unter den Prämissen der überkommenen partikularrechtlichen Gesetzgebung zu lösen, muss freilich einer eigenständigen Untersuchung vorbehalten bleiben.

III.

Folgerungen

Die Unterschiede zum Streit zwischen Denza und Strauss liegen auf der Hand: Anders als Noren hat Strauss den betroffenen Urheber Denza nicht erwähnt. Es liegt daher kein Zitat im rechtlichen Sinne vor. Einem Verstoß gegen § 13 Abs. 2 LUG stehen darüber hinaus Strauss’ eigene Ausführungen entgegen, wonach er das Lied wie ein Volkslied auf den Straßen Neapels ›aufgeschnappt‹ habe. Ob ein Volkslied überhaupt Gegenstand eines Urheberrechts sein kann, ist bis heute umstritten.20 Klärungsbedürftig erscheint bereits der Begriff des Volkslieds. Der kleinste gemeinsame Nenner dürfte darin bestehen, ein Volkslied in einem Stück zu erkennen, dessen Text und Melodie in einer bestimmten sozialen Gruppe verbreitet sind. Denzas Lied ist in Italien rasch populär geworden und wird einer Vielzahl von Italienern bekannt gewesen sein. Ob es dadurch bereits zum Volkslied wurde, kann hier dahingestellt bleiben. Darauf kommt es auch nicht an. Denn es fehlt an der für einen Verstoß gegen § 13 Abs. 2 LUG erforderlichen ›willentlichen‹ Verwertung des Werks eines anderen Urhebers, da Strauss die Urheberschaft Denzas allem Anschein nach nicht kannte. Aber selbst im Falle vorsätzlichen Handelns hätte die Klage kaum Aussichten auf Erfolg gehabt. Denn nach den Maßstäben des OLG Dresden hätte Denza einen wirtschaftlichen Schaden darlegen müssen. Voraussetzung hierfür wäre, dass die Benutzung der Melodie geeignet war, Denzas Werk im Sinne einer Beeinträchtigung des Absatzes Konkurrenz zu machen. Dazu muss man wissen, oder möglicher Erwerb geschmälert wird«. § 1 enthält die Bestimmung: »Das Recht, litterarische Erzeugnisse und Werke der Kunst auf mechanischem Wege zu vervielfältigen, steht ausschließlich dem Urheber selbst und seinen Rechtsnachfolgern zu und ist ein auf andre übertragbares Vermögensrecht. Es wird jedoch dabei vorausgesetzt, daß solche litterarische Erzeugnisse und Werke der Kunst zum Gelderwerbe benutzt werden können, und hierzu, wie aus der gewöhnlichen Anwendung oder den besonderen Umständen erkennbar sein muß, wirklich bestimmt sind«. Näher zu diesem Gesetz: Franz Wilhelm Meinert, Das Königlich Sächsische Gesetz vom 22. Febr. 1844 zum Schutz der Rechte an litterarischen Erzeugnissen und Werken der Kunst: mit kritisch-exegetischen Erläuterungen, Leipzig 1844. Meinert weist darauf hin, dass §§ 1 und 16 des Gesetzes sich insofern widersprechen, als dass § 1 allgemein darauf abstellt, ob ein Werk überhaupt zum Gelderwerb geeignet ist, während § 16 an die konkrete Möglichkeit des Vertriebs bzw. den bereits stattgefundenen Vertrieb anknüpft, vgl. Meinert, Das Königlich Sächsische Gesetz, a. a. O., S. 55–57. 20 Einen guten Überblick über diese Kontroverse gibt Heinrich Seemann, Volkslied und Urheberrecht, Freiburg 1965.

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dass die jüngere musikwissenschaftliche Literatur das Lied funiculì, funiculà an der Grenze »zwischen sogenannter seriöser und unterhaltender Musik« ansiedelt.21 Es handele sich um einen »populären Reißer«, dessen Verwendung im Bereich klassischer Musik durch das »ästhetisch Minderwertige« gekennzeichnet sei.22 Hinzu kommt, dass Denza das Lied für die Eröffnung einer Versuvseilbahn komponierte. Alles in allem ist Denzas Stück, jedenfalls aus zeitgenössischer Sicht, nicht unbedingt dem Genre klassischer Musik, sondern eher der Unterhaltungsmusik zuzuordnen. Bei Strauss’ Werk Aus Italien handelt es sich dagegen um eine Tondichtung. Als Tondichtung oder auch sinfonische Dichtung gilt ein längeres musikalisches Stück für Orchester, das versucht, außermusikalische Inhalte, z. B. Menschen oder Landschaften, mit musikalischen Mitteln zu beschreiben. Es liegen daher zwei genreverschiedene Werke vor. Nach Maßgabe des OLG Dresden wäre Strauss’ Werk also kaum geeignet gewesen, dem Originalwerk Konkurrenz zu machen und seinen Absatz zu beeinträchtigen. Auch aus diesem Grund hätte eine Klage gegen Strauss nach Maßgabe des LUG von 1901 wohl keine Aussichten auf Erfolg gehabt.

IV.

Forderungen zur Reform des Urheberrechts

Strauss war, wie schon angedeutet, erst 22 Jahre alt, als er in einen Urheberrechtsstreit mit Luigi Denza verwickelt wurde. Wir wissen nicht, ob er bereits in so jungen Jahren an Fragen des Urheberrechts Interesse hatte. Jedenfalls begann Strauss frühzeitig für die Berufsinteressen der Musikschaffenden und für eine Verbesserung der sozialen Lage der Komponisten zu kämpfen. Eine besondere Rolle spielte dabei die Forderung nach angemessenen Tantiemenzahlungen an Komponisten. Strauss war sich darüber im Klaren, dass Komponisten nur von ihrer Arbeit leben können, wenn ihnen eine sichere Einnahmequelle erschlossen wird. Er forderte daher u. a. eine Beteiligung des Komponisten an den Erlösen aus jeder Aufführung seiner Musik. Dabei ging er davon aus, dass das Komponieren und Musizieren Berufe seien, deren Bezahlung derjenigen eines Juristen oder Mediziners entsprechen müsse. Diese Sichtweise stand natürlich in krassem Widerspruch zur realen wirtschaftlichen Lage vieler Künstler, die sich mit Gelegenheitsengagements und privatem Musikunterricht über Wasser halten mussten.23 Für seine Forderungen wurde Strauss, der von Haus aus finanziell 21 Hans-Joachim Erwe, »Funiculì, Funiculà«, in: Richard Strauss-Blätter 14 (1985), S. 43–59, 45. 22 Erwe, »Funiculì, Funiculà« (Fn. 21), S. 45. 23 Manuela Schmidt, Die Anfänge der musikalischen Tantiemenbewegung in Deutschland, Berlin 2005, S. 81; Michael Roske, Sozialgeschichte des privaten Musiklehrers vom 17. zum 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1982, S. 122, 160–168.

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unabhängig war, sogar getadelt: Ihm wurde vorgeworfen, er sei besonders geschäftstüchtig und geldgierig.24 Dieser Vorwurf hat sich in Teilen der Literatur bis in die Gegenwart gehalten. Auf der anderen Seite gilt Strauss heute Vielen gerade wegen seiner Forderungen nach einer Verbesserung der Rechtsstellung von Musikern als Kämpfer für das Urheberrecht. Dies kann angesichts seines Einsatzes und der Vielfalt seiner Forderungen nicht überraschen.25 Hervorgehoben seien hier nur seine Aktivitäten in der Tantiemenbewegung. Die Tantiemenbewegung war in ihrer Anfangszeit ein loser Zusammenschluss Musikschaffender am Ende des 19. Jahrhunderts, die das Ziel einer kollektiven Wahrnehmung von Aufführungsrechten einte.26 Die Grundidee ließe sich wie folgt skizzieren: Während dem Verleger, der einem Komponisten sein Werk abkauft, die Einnahmen aus dem Notenverkauf zukommen, sollten die Aufführungstantiemen allein dem Komponisten zufließen. Mit der Parole »Verlagsrechte dem Verleger – Urheberrechte dem Urheber« hatte Richard Strauss seinen Verleger Eugen Spitzweg bereits 1898 konfrontiert.27 Strauss’ Bemühungen um eine angemessene Bezahlung von Musikern mündeten in die Gründung der Genossenschaft Deutscher Tonsetzer, zu deren Vorsitzenden er gewählt wurde.28 Die Vereinigung hatte die Bündelung der kom24 Günter Baum, »Hab’ mir’s gelobt, ihn lieb zu haben…«: Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal; nach ihrem Briefwechsel, Berlin 1962, S. 9; Walter Panofsky, Richard Strauss. Partitur eines Lebens, München 1965, S. 156. Andere Autoren sehen Strauss’ Geschäftssinn dagegen ausgewogener und in einem anderen Licht. So wird mittlerweile herausgestellt, dass Strauss zwar ein »harter Verhandlungspartner«, aber auch ein »berechenbarer Geschäftspartner« gewesen sei, der »seine Verleger nicht im Unklaren über seine Alternativen und Konkurrenzangebote« gelassen habe, so zum Beispiel Walter Werbeck (Hg.), Richard StraussHandbuch, Stuttgart 2014, S. 60–61, mit einer Übersicht über die an Strauss zwischen den Jahren 1881 und 1915 gezahlten Werkhonorare. Ähnliche Ansichten vertreten Günter Brosche, Richard Strauss. Werk und Leben, Wien 2008, S. 14, und Julia Liebscher (Hg.), Richard Strauss und das Musiktheater. Bericht über die internationale Fachkonferenz in Bochum, 14. bis 17. November 2001, S. 17. 25 Fedor Seifert, Richard Strauß: Kampf um ein modernes Urheberrecht (Fn. 1) gliedert die urheberrechtlichen Themen, die Strauss am Herzen lagen, in drei Hauptgruppen: Schutzdauer, Aufführungsvorbehalt und Verwertungsgesellschaften (S. 95–99). 26 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Schmidt, Die Anfänge der musikalischen Tantiemenbewegung in Deutschland (Fn. 23), S. 134–135, 186–221, und Werbeck (Hg.), Richard StraussHandbuch (Fn. 24), S. 29–34. 27 Zitat abgedruckt bei Schmidt, Die Anfänge der musikalischen Tantiemenbewegung in Deutschland (Fn. 23), S. 302 mit Verweis auf einen Brief von Strauss an Spitzweg vom 22. November 1898. 28 Zum Gründungsakt und zu Strauss’ Wirken siehe Schmidt, Die Anfänge der musikalischen Tantiemenbewegung in Deutschland (Fn. 23), S. 203–209. Zu Strauss’ Verdiensten um die Genossenschaft siehe auch Werbeck (Hg.), Richard Strauss-Handbuch (Fn. 24), S. 29–34. Einen guten Überblick über die Geschichte der Verwertungsgesellschaften gibt Fedor Seifert, Kleine Geschichte(n) des Urheberrechts. Entstehung und Grundgedanken des geistigen Eigentums, München 2015, S. 233–240.

Richard Strauss versus Luigi Denza

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merziellen Verwertungsrechte von Musikern an ihren Kompositionen zum Ziel. Zu diesem Zweck wurde im Jahre 1903 die Anstalt für musikalisches Aufführungsrecht (AFMA) als Verwertungsgesellschaft von Urheberrechten gegründet. Dabei handelt es sich um eine Vorläufergesellschaft der heutigen GEMA (Gesellschaft für musikalische Aufführungs- und mechanische Vervielfältigungsrechte). Im Vorfeld dieser Gründung unterstützte Strauss die Tantiemenbewegung, indem er Versammlungen initiierte und den Kontakt zwischen den auf ganz Deutschland verteilten Unterstützern durch ständige Korrespondenz aufrechterhielt. In diesen Briefen stellt Strauss immer wieder Forderungen zu einer Reform des Urheberrechts auf.29 Es ist zu vermuten, dass sich den Briefen und anderen Quellen Ansätze zu einem eigenen urheberrechtlichen Konzept entnehmen lassen. Das Thema bedürfte einer selbständigen Untersuchung.

V.

Resümee und Ausblick

Der zwischen den Verlegern von Noren und Strauss geführte Rechtsstreit mag als Beispiel dafür dienen, wie schwach das Urheberrecht an Melodien nach der Wende zum 20. Jahrhundert noch gewesen ist. Da Strauss nicht vorsätzlich handelte und Denza unter den Prämissen einer Genreverschiedenheit kein Schaden entstanden ist, wäre einer Klage nach Maßgabe des LUG von 1901 kaum Erfolg beschieden gewesen. Es lässt sich natürlich nicht völlig ausschließen, dass andere Gerichte anders entschieden hätten. Eine Besonderheit des Falles liegt zudem darin, dass Denza Italiener war und in London lebte. Einzelne deutsche Staaten hatten mit Großbritannien schon um die Mitte des 19. Jahrhunderts und das Deutsche Reich mit Italien in den 1880er Jahren bilaterale Abkommen geschlossen, um den Geisteswerken fremder Staatsangehöriger den gleichen Schutz wie den eigenen bieten zu können. Aber auch nach diesen Abkommen, die die jeweilige Rechtslage oft nur spiegelten und hinter ihr bisweilen sogar zurückblieben, hätte eine Klage von Denza kaum Aussicht auf Erfolg gehabt. Für Deutschland gilt dies namentlich für die Zeit um 1886, also vor Inkrafttreten des LUG von 1901. Die These muss also lauten: Es gibt einen Grund dafür, warum es an Quellen mangelt, die eine Klage Denzas oder gar eine Verurteilung von Strauss zu belegen vermögen. Nach der zeitgenössischen Rechtslage war es kaum möglich, Strauss urheberrechtlich zu belangen. Daher muss vermutet werden, dass es ein Urteil nie gegeben hat. Hinzu kommt eine zweite Vermutung: Wäre Strauss tatsächlich verurteilt worden, hätten wir heute kein Quellenproblem. Denn ein solches Urteil 29 Vgl. Schmidt, Die Anfänge der musikalischen Tantiemenbewegung in Deutschland (Fn. 23), S. 230, 596–598.

134

Stephan Meder

hätte (nicht nur) in der Juristenwelt für Furore gesorgt. Unwiderlegbar sind diese Vermutungen freilich nicht. Angesichts der Unzulänglichkeiten seiner Zeit forderte Richard Strauss zu Recht die Stärkung der Rechte Musikschaffender an ihren Werken. Vor diesem Hintergrund mag interessieren, dass die Diskussionen durch eine aktuelle Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs neuen Auftrieb erhalten haben. Der EuGH hat vor einigen Monaten bekanntlich entschieden, dass Musikschaffende kurze Abschnitte aus den Werken anderer Künstler ohne deren Zustimmung verwenden dürfen, wenn diese Stellen so verändert sind, dass sie Teil eines eigenen Kunstwerks werden.30 Die Entscheidung lehrt, dass sich die Diskussionen über das Urheberrecht an Melodien weiterhin im Fluss befinden.

30 EuGH, Urteil vom 29. Juli 2019 (Az. C-476/17), GRUR 2019, S. 929. Siehe dazu die Besprechung bei Ronny Hauck, Kopieren oder Zitieren – Zur urheberrechtlichen Zulässigkeit des Samplings, in: GRUR-Prax 2019, S. 385.

Fedor Seifert

Das Recht am eigenen Bild: vom Foto des toten Bismarck zur DS-GVO. Zur Geschichte der §§ 22, 23 KUG

I.

Das Recht am eigenen Bild – ein Gesetz aus dem Jahr 1907

Unsere bis heute maßgeblichen Regelungen zum Recht am eigenen Bild (u. a. §§ 22, 23 KUG) finden sich im Kunsturhebergesetz von 1907. Es sind also eigentlich urheberrechtliche Normen. Sie sind bei Inkrafttreten des UrhG am 1. 1. 1966 nicht aufgehoben worden, sondern gelten weiter (§ 141 Nr. 5 UrhG). Die §§ 22, 23 KUG beinhalten das sogenannte abgestufte Schutzkonzept: Bildnisse dürfen nur mit Einwilligung des Abgebildeten verbreitet oder zur Schau gestellt werden (§ 22 Satz 1). Keine Einwilligung ist erforderlich für die in § 23 Abs. 1 aufgeführten Bilder, insbesondere für »Bildnisse aus dem Bereiche der Zeitgeschichte« (§ 23 Abs. 1 Nr. 1). Dies wiederum gilt nicht, wenn dadurch ein berechtigtes Interesse des Abgebildeten verletzt wird (§ 23 Abs. 2).1 Im KUG geht es im Übrigen nicht etwa nur um Fotografien, sondern um »Bildnisse« von Personen, die beispielsweise auch gemalt sein können. Gerade kürzlich hat das Bundesverfassungsgericht dazu entschieden, dass § 22 Satz 1 KUG gegen die Kunstfreiheitsgarantie verstoßen kann, wenn – wie dort normiert – ohne Interessenabwägung ein Unterlassungsanspruch geltend gemacht wird.2 Ursprünglich glaubte man, es gehe um die Beschränkung der Rechte der Fotografen oder Maler an den von ihnen gefertigten Fotos oder Bildern und damit eben um Urheberrecht. Dementsprechend sind die §§ 22, 23 wie eine urheberrechtliche Verwertungsschranke aufgebaut: Das Fotografieren oder Malen selbst ist nicht untersagt, sondern nur das Verbreiten und Zur-SchauStellen der jeweiligen Bildnisse. Heute wissen wir, dass derartige Probleme nicht dem Urheberrecht, sondern dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht zuzuordnen

1 Ein instruktives Beispiel aus der jüngeren Rspr. ist etwa BGH, Urteil vom 9. 4. 2019, VI ZR 533/ 16, GRUR 2019, 866 – Eine Mutter für das Waisenkind. 2 BVerfG, Beschluss vom 28. 1. 2019, 1 BvR 1738/16, NJW 2019, 1277.

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Fedor Seifert

sind.3 Die §§ 22, 23 KUG sind also historisch erste Normen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, auch wenn das der Gesetzgeber von 1907 noch nicht so gesehen hatte. Erst recht nicht konnte der Gesetzgeber von 1907 (und später auch nicht der von 1966) wissen, dass es sich bei den §§ 22, 23 KUG auch um erste Normen des Datenschutzes handelte. Die Bedeutung und Komplexität des Datenschutzes wurden erst nach und nach, und zwar insbesondere auf Grund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 15. Dezember 1983 zur Volkszählung, erkannt.4 Inzwischen wissen wir: Fotos von Personen sind personenbezogene Daten (heute: Art. 4 Nr. 1 DS-GVO). Das Verbreiten solcher Fotos ist Verarbeitung persönlicher Daten (Art. 4 Nr. 2 DS-GVO). Dementsprechend ist es so, dass das Datenschutzrecht im Zusammenhang mit dem Recht am eigenen Bild schon seit längerem zur Anwendung kommt. Ein Beispiel aus jüngerer Zeit: Als ein Mithäftling eines Prominenten diesen mit einer in einem Kugelschreiber verborgenen Kamera in der Justizvollzugsanstalt filmte und die Bilder der Presse anbot, wurde er u. a. wegen »unbefugter Erhebung personenbezogener Daten in Bereicherungsabsicht« (§ 42 Abs. 2 BDSG) strafrechtlich verurteilt.5 Das Nebeneinander der §§ 22, 23 KUG zum Recht am eigenen Bild einerseits und der Regelungen zum Datenschutz andererseits hat in der Vergangenheit keine rechtlichen Probleme bereitet. In der Regel wurden die §§ 22, 23 KUG als Spezialnormen angesehen.6 Jetzt ist das anders, denn nun gilt die europäische Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO). Bei ihr handelt es sich um europäisches Recht, das dem nationalen Recht vorgeht. Ob und in welchem Umfang die Regeln des KUG neben der DS-GVO weiter anwendbar oder ob sie – aus deutscher Sicht unbeabsichtigt – ganz oder teilweise von der am 28. Mai 2018 in Kraft getretenen DS-GVO verdrängt worden sind, ist einstweilen nicht geklärt.7

3 Z. B. in BGH, Urteil vom 31. 5. 1960, I ZR 71/58, GRUR 1960. 630 – Orchester Graunke, heißt es (S. 633): »… die Regelung des Rechtes am eigenen Bild (ist) in ein Urheberrechtsgesetz aufgenommen (§ 22ff. KUG) und dieses Recht mit urheberrechtsähnlichen Befugnissen ausgestattet worden, obwohl es sich zweifellos um ein reines Persönlichkeitsrecht und nicht um ein Urheberrecht handelt.« 4 BVerfG, Urteil vom 15. 12. 1983, 1 BvR 209/83 u. a., NJW 1984, 419. 5 FAZ, 15. 3. 2019, S. 6. 6 Vgl. z. B. BAG, 8 AZR 1010/13, NJW 2015, 2140, Rn. 14ff. 7 Vgl. zu der Problematik zB Krüger/Wiencke, Bitte recht freundlich – Verhältnis zwischen KUG und DS-GVO, MMR 2019, 76, sowie unten unter V.

Das Recht am eigenen Bild: vom Foto des toten Bismarck zur DS-GVO

II.

Paparazzi im Sachsenwald?

1.

Ein »anstoßerregender Vorfall«

137

Das Bundesverfassungsgericht hat formuliert, die Regelung in §§ 22, 23 KUG gehe auf »einen anstoßerregenden Vorfall (Aufnahmen Bismarcks auf dem Totenbett, vgl. RGZ 45, 170) und die daran anschließende rechtspolitische Diskussion (vgl. Verhandlungen des 27. DJT, 1904, 4. Band, S. 27ff.) zurück«.8 Das gibt die allgemein verbreitete Ansicht wieder, die §§ 22, 23 KUG seien eine Reaktion des Gesetzgebers darauf gewesen, dass nach dem Tode Bismarcks zwei Fotografen in dessen Sterbezimmer eingedrungen sind und dort Fotos gemacht haben. Betrachten wir zunächst den historischen Vorfall genauer, der sich in Friedrichsruh im Sachsenwald bei Hamburg am 30. Juli 1898 ereignet hat. Die Geschichte um Bismarcks Tod hat der Bremer Historiker Lothar Machtan in seinem 1998 – dem 100. Todesjahr Bismarcks – erschienenen Buch »Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen« ausführlich aufgearbeitet. Ein erheblicher Teil dieses Buches, 46 von ca. 230 Seiten, beschäftigt sich mit den Umständen, die zu den Fotografien im Sterbezimmer Bismarcks führten. Der Abschnitt ist überschrieben mit »Bismarcks Paparazzi – die Geschichte eines Fotos, das nicht gezeigt werden durfte«.9 Dieser Darstellung wird hier gefolgt.

2.

Bismarcks Fotografen

Bismarcks Popularität war insbesondere nach seiner Entlassung 1890 durch den jungen Kaiser Wilhelm II. noch weiter gestiegen. Bismarck lebte seitdem überwiegend auf seinen Besitzungen, insbesondere in Friedrichsruh. Nach Gründung des Deutschen Reiches hatte ihm Kaiser Wilhelm I. die erbliche Fürstenwürde verliehen und ihm den Sachsenwald geschenkt. In Bismarcks damaligem Umfeld gab es insbesondere drei Fotografen, die den Bedarf an Bismarck-Fotografien bedienten.10 Einer von ihnen war Arthur Mennell (1855–1941), eine etwas zwielichtige Person. Das konnte man dagegen ei8 BVerfG, Urteil vom 15. 12. 1999, 1 BvR 653/96, GRUR 2000, 446; zu dem Urteil vgl. auch unten IV 1. 9 Machtan, Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen, 1998. Unmittelbar vor Erscheinen des Buches hat Machtan im SPIEGEL (28/1998) dazu eine gekürzte Darstellung veröffentlicht (»Fotoplatten im Eiskeller, Das Paparazzi-Foto des 19. Jahrhunderts: Bismarcks Sterbelager«), die noch heute im Netz abrufbar ist (https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-7933529. html). 10 Machtan, Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen, 1998, S. 153ff.

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gentlich nicht von den beiden anderen Fotografen sagen, die zu den Hauptpersonen des Dramas gehören sollten: Willy Wilcke (1864–1948) und Max Priester (1865–1910). Wilcke hatte sich aus kleinen Verhältnissen zu einer respektablen bürgerlichen Existenz empor gearbeitet. 1897 erhielt er die Berechtigung, den Titel »Hoffotograf« zu führen, vom Großherzog von Mecklenburg verliehen. Auch Priester war zum »Hoffotografen« ernannt worden, nämlich ebenfalls 1897 vom Fürsten zu Schaumburg-Lippe. Wilcke und Priester hatten seit Anfang der 1890er Jahre die deutsche Öffentlichkeit mit Bildern von Bismarck versorgt. Im Park von Friedrichsruh wurden sie meist geduldet und mögen sich sogar ein wenig als Haus- und Hofpersonal gefühlt haben. Wilcke hat später ausgesagt, man habe die Aufnahme des toten Bismarck nur deshalb in der Nacht ohne Erlaubnis gemacht, weil er angenommen habe, dass er am nächsten Morgen die Erlaubnis bekommen werde. Er und Wilcke seien aber am nächsten Morgen nicht vorgelassen worden. Auch ihr späteres Bemühen, das Foto zu verkaufen, sei unter der Voraussetzung erfolgt, zuvor noch die Erlaubnis einzuholen.11 Wilcke pflegte freundschaftliche Kontakte zu Louis Spörcke, der als Förster und Ortsvorsteher auf dem Bismarckschen Besitztum tätig war. Dieser war neben Wilcke und Priester die dritte tragische Hauptperson in dem Drama.

3.

Das Foto

Am Nachmittag des 30. Juli 1898 wurden Wilcke und Priester von Spörcke nach Friedrichsruh gerufen, erfuhren, dass Bismarcks Tod unmittelbar bevorsteht, und kehrten dann in das örtliche Gasthaus zurück. Gegen 23 Uhr, gleich nach dem Eintritt des Todes, forderte die Gastwirtin die Leute in ihrem Haus auf, mit zum Schloss zu kommen. Sie würden den toten Bismarck noch einmal sehen können. Die kleine Trauergemeinde stand vor dem geöffneten Fenster des Sterbezimmers.12 Gegen 4 Uhr, als Spörcke die Totenwache hielt, machten Wilcke und Priester zwei Blitzlichtaufnahmen. Später haben die beiden vor Gericht erklären lassen, sie hätten nie beabsichtigt, die Originalaufnahme veröffentlichen zu lassen. Das hätten sie als unpassend empfunden. Auf dem Bild war nämlich auch ein Nachtgeschirr zu erkennen, ein buntes Taschentuch und das Bett war ungeord-

11 Urteile des LG Hamburg vom 08. 09. 1898 und des OLG Hamburg vom 05. 06. 1899, abgedruckt bei Kohler GRUR 1900, 196, 198, 205. 12 Machtan, Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen, 1998, S. 170.

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net. Die beiden Fotografen wollten deshalb eine Retusche vornehmen lassen. Ein Retuscheur in Hamburg hat dann ein solches geschöntes Bild hergestellt.13 Die Reise nach Hamburg und damit ihre Abwesenheit vor Ort wurde für die beiden Fotografen aber fatal. Denn Louis Spörcke bedrängte die BismarckKinder, eine Fotografie der Leiche zu gestatten, die sich offenbar überzeugen ließen. Jedenfalls wurde nach einem Fotografen ausgeschickt und vermutlich wären nun Wilcke und Priester die legalen Fotografen geworden, wären sie vor Ort gewesen. Stattdessen entdeckte Bismarcks Diener dort Arthur Mennell. So kam dieser zu dem Auftrag, die Leiche Bismarcks zu fotografieren. Allerdings musste er sich verpflichten, die Fotoplatten nicht selbst zu verwenden. Sie seien nur für die Familie Bismarck bestimmt. Vermutlich hoffte Mennell, letztlich doch noch die Erlaubnis für die Verwendung der Bilder zu bekommen. Als Wilcke und Priester am 31. Juli gegen Mittag nach Friedrichsruh zurückkamen, gab es für sie keinen Bedarf mehr. Sie wurden nicht mehr vorgelassen.14

4.

Der Verkauf

Nun war die Situation für Wilcke und Priester schwierig. Einer ihrer Freunde soll – so erzählte später Wilcke – gesagt haben: »Ihr wisst ja gar nicht, was für ein großes Vermögen ihr da in der Tasche habt«, und schlug ihnen vor, nach Berlin zu fahren, in einem vornehmen Hotel abzusteigen und eine Anzeige aufzugeben.15 So geschah es auch, nicht ohne dass die beiden Fotografen zuvor noch einmal nach Friedrichsruh fuhren, in der – vergeblichen – Hoffnung, sie könnten vielleicht doch noch zu einer Fotoaufnahme des Verstorbenen gerufen werden. Am Abend des 1. August trafen sie in Berlin ein und am 2. August erschien in zwei Zeitungen eine Anzeige, in der es u. a. hieß: »Für das einzig existierende Bild Bismarcks auf dem Sterbebette, Aufnahme einige Stunden nach dem Tode, Original-Photographie, wird ein Käufer resp. ein geeigneter Verleger gesucht. Besitzer zu sprechen in Berlin, Hotel de Rome, heute Dienstag von 10 bis 1 Uhr. Zu erfragen beim Portier.«16

Das Interesse soll sehr groß gewesen sein. Am 3. August einigten sich Wilcke und Priester mit einem Verleger, der für das Urheberrecht 30.000 Mark und 20 % vom Umsatz bot. Das waren »nach heutigem Geld« – so Machtan 1998 – mehr als

13 14 15 16

Machtan, Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen, 1998, S. 173. Machtan, Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen, 1998, S. 174. Machtan, Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen, 1998, S. 175. Die Zeitungsseite mit der Anzeige ist abgebildet bei Machtan, Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen, 1998, S. 178.

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400.000 DM!17 Allerdings sollte vor Verwendung des Fotos noch die Zustimmung der Familie Bismarck zur Veröffentlichung eingeholt werden.18 Kurz darauf waren die Fotos allerdings bereits beschlagnahmt. Herbert von Bismarck, Bismarcks ältester Sohn und langjährigen Mitarbeiter, u. a. von 1886 bis 1890 Staatssekretär des Äußeren, hatte sich persönlich gleich am 4. August an den Berliner Polizeipräsidenten gewandt. Am 5. August erging zudem eine einstweilige Verfügung des Landgerichts Hamburg, durch die Wilcke und Priester untersagt wurde, die Platten, Plattenabzüge und Negative in irgendeiner Weise zum Zwecke der Verbreitung der Fotografie zu benutzen und die bereits genommenen Abzüge in irgendeiner Weise zu verbreiten oder zu verwerten. Außerdem wurde die Beschlagnahme der vorhandenen Platten nebst allem Zubehör angeordnet.19

5.

Strafrechtliche Aufarbeitung

Herbert von Bismarck betrieb bewusst vorrangig das Strafverfahren. Bereits am 4. August stellte er Strafantrag gegen Spörcke, Wilcke und Priester wegen Hausfriedensbruch. Zur strafrechtlichen Gerichtsverhandlung vor dem Landgericht Hamburg kam es am 18. März 1899. Wilcke wurde zu acht Monaten, Priester und Spörcke wurden zu jeweils fünf Monaten Gefängnis verurteilt. Das sollen auch seinerzeit harte Strafen gewesen sein. Vergleichen wir es einmal mit einem sehr ähnlichen spektakulären Fall: Der Stern-Journalist, der 1987 – also nahezu 100 Jahre später – in Genf in das Sterbezimmer Barschels eindrang und diesen tot in der Badewanne fotografierte, so dass das Foto später Titelbild des Stern wurde, wurde zu drei Monaten Gefängnis auf Bewährung und 10.000 Franken Geldstrafe verurteilt.20 Herbert von Bismarck sorgte auch dafür, dass Wilcke der Titel »Hoffotograf« wieder entzogen wurde, indem er den Großherzog von Mecklenburg anschrieb und aufforderte, Wilcke diesen Titel zu entziehen. Ein Bittbrief der Ehefrau von Wilcke an den Großherzog, sie seien doch schon sehr hart gestraft, wurde nicht erhört.21 Priester traf es noch schlimmer. Das zivilrechtliche Urteil des Reichsgerichts vom 29. Dezember 1899 beschäftigt sich zum großen Teil mit der prozessualen Problematik, die sich daraus ergab, dass über das Vermögen Priesters inzwischen 17 Machtan, Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen, 1998, S. 177. 18 Machtan, Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen, 1998, S. 179ff. 19 Vgl. dazu das die einstweilige Verfügung bestätigende Urteil des LG Hamburg vom 8. 9.1898, abgedruckt bei Kohler GRUR 1900, 196, 197. 20 Schweizerisches Bundesgericht NJW 1994, 504 m. Anm. Gross. 21 Machtan, Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen, 1998, S. 185f.

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das Konkursverfahren eröffnet worden war.22 Priester verstarb 1910, 45 Jahre alt, in einem »Irrenhaus«.23

6.

Zivilrechtliche Aufarbeitung

Das zivilrechtliche Verfahren endete mit dem Urteil des Reichsgerichts vom 28. Dezember 1899.24 In der Rechtsgeschichte lernt man im Hinblick auf die außergewöhnliche Bedeutung des Sachsenspiegels, dass dieser in manchen Teilen Deutschlands bis zum Inkrafttreten des BGB gegolten habe.25 Friedrichsruh im Sachsenwald bei Hamburg war eine solche Gegend, in der zur Tatzeit 1898 noch der Sachsenspiegel galt! Allerdings bot der Sachsenspiegel keine Lösung des Rechtsproblems. Die zivilrechtlichen Instanz-Urteile sind heute noch gut zugänglich, denn Kohler hat sie nahezu alle in seinem Aufsatz »Zum Autorrecht und Individualrecht, III., Der Fall der Bismarck-Photographie«, GRUR 1900, 196ff., abgedruckt, nämlich das Urteil des LG Hamburg vom 8. 9. 1898 und das Urteil des OLG Hamburg vom 21. 11. 1898, beide ergangen im einstweiligen Verfügungsverfahren, sowie das Urteil des OLG Hamburg vom 5. 6. 1899 im Hauptsacheverfahren und zudem das Urteil des Reichsgerichts vom 28. 12. 1899.26 Die Vorinstanzen, insbesondere das Landgericht Hamburg, hatten bereits mit dem Persönlichkeitsrecht und mit dem Recht am eigenen Bild argumentiert. Da mochte das Reichsgericht aber nicht mitgehen. Das Reichsgericht stellte maßgeblich auf den erfolgten Hausfriedensbruch ab: »Es ist mit dem natürlichen Rechtsgefühl unvereinbar, dass jemand das unangefochten behalte, was er durch eine widerrechtliche Handlung erlangt und dem durch dieselbe in seinen Rechten Verletzten entzogen hat. … Die Kläger haben den Beklagten gegenüber ein Recht darauf, dass dieses Ergebnis wieder rückgängig gemacht werde.«

Das Datum des Urteils des Reichsgerichts verdient ein besonderes Augenmerk: 28. Dezember 1899! Verblüffend daran ist nicht nur die kurze Dauer des ge22 RGZ 45, 170; vgl. zu diesem Urteil unten 6. 23 Machtan, Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen, 1998, S. 193. 24 RGZ 45, 170; abgedruckt auch bei Kohler, Zum Autorrecht und Individualrecht, III., Der Fall der Bismarck-Photographie, GRUR 1900, 196ff. 25 Zum Sachsenspiegel ist insbesondere zu empfehlen: Lück, Der Sachsenspiegel, Das berühmteste deutsche Rechtsbuch des Mittelalters, 2018, ein geradezu bibliophil ausgestattetes Werk, das zu Recht von der NJW in die Jahresauswahl »Buch des Jahres« aufgenommen wurde (NJW 2018, 2999). 26 Kohler, Zum Autorrecht und Individualrecht, III., Der Fall der Bismarck-Photographie, GRUR 1900, 196ff.

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samten Verfahrens, nämlich drei Instanzen in weniger als 17 Monaten (!), sondern auch, dass die Richter des Reichsgerichts das Urteil in der Zeit »zwischen den Jahren« fällten, anstatt diesen Zeitraum jeweils bei ihren Familien zu verbringen. Das lenkt den Blick auf einen weiteren Umstand: Mit Ablauf des 31. Dezember 1899 hätte das BGB gegolten. Möglicherweise befürchteten die Richter des Reichsgerichts, unter der Herrschaft des BGB die Klage ganz oder teilweise abweisen zu müssen.27 Jedenfalls stützt sich das Reichsgericht ganz ausdrücklich auf das bis zum 31. 12. 1899 in Friedrichruh noch geltende »gemeine deutsche Recht« und die römisch-rechtliche Anspruchsgrundlage der condictio ob iniustam causam, die besagt, dass herauszugeben ist, was unredlich erlangt wurde.28 Kohler bereitet die Argumentation des Reichsgerichts »einige Enttäuschung«. Er zeigt in seinem Aufsatz anhand origineller Beispiele die logischen und dogmatischen Bedenken gegen diesen Lösungsweg und den Rückgriff auf den Tatbestand des Hausfriedensbruchs auf: Wenn sich jemand in ein Haus schleicht und beispielsweise einen aus dem Haus sichtbaren Festzug fotografiert, begehe er zwar einen Hausfriedensbruch, sei aber nicht verpflichtet, die Fotografie herauszugeben. Schließlich müsse auch niemand, der mit gestohlener Tinte Verse schreibt und mit Hilfe eines zu Unrecht benutzten Klaviers komponiert, die künstlerischen Ergebnisse abliefern. Und wenn jemand widerrechtlich in ein Haus eindringt, und dort einen Dritten trifft, mit dem er einen für sich sehr vorteilhaften Vertrag abschließt, müsse er schließlich – so Kohler – den daraus erzielten Gewinn auch nicht dem Hauseigentümer herausgeben.29 Das sind Gesichtspunkte, die noch heute relevant und umstritten sind und die beispielsweise auch den heute aktuellen BGH-Urteilen Schloss Tegel30, Preußische Schlösser und Gärten31 und Museumsfotos32 entgegengehalten werden könnten. Denn auch in diesen Urteilen wird maßgeblich auf das unerlaubte Betreten fremder Grundstücke und/oder auf unterstellte oder durch AGB vereinbarte Fotografierverbote abgestellt.33 Dennoch feiert Kohler die Entscheidung des Reichsgerichts als einen Sieg des »Individualrechts« und formuliert: »Die Entscheidung des Reichsgerichts erkennt nun allerdings das Individualrecht nur stillschweigend an …; allein im27 Gross, Der Tote in der Badewanne oder Fürst Bismarck auf dem Totenbette, MDR 1987, 991. 28 Zur condictio ob iniustam causam vgl. zB Flechsig, Die condictio ob iniustam causam und ihre Bedeutung im Äußerungsrecht der Medien, in: Festschrift für Manfred Rehbinder, 2002, S. 249. 29 Vgl. auch die weiteren Beispiele Kohlers, GRUR 1900, 196, 208f. 30 BGH, Urteil vom 20. 9. 1974, I ZR 99/73, NJW 1975, 778 – Schloss Tegel. 31 BGH, Urteil vom 17. 12. 2010, V ZR 45/10, NJW 2011, 749 – Preußische Schlösser und Gärten; BGH, Urteil vom 1. 3. 2013, V ZR 14/12, NJW 2013,1809 – Preußische Schlösser und Gärten II. 32 BGH, Urteil vom 20. 12. 2018, I ZR 104/17, NJW2019, 757 – Museumsfotos. 33 Vgl. dazu z. B. Stieper, ZUM 2011, 331.

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merhin ist es ein gutes Urteil, wenn auch mit fehlerhaften Entscheidungsgründen.«34

7.

Die ersten Paparazzi?

Waren Wilcke und Priester nun »Bismarcks Paparazzi« oder »die Paparazzi der Jahrhundertwende«, wie es Machtan formuliert hat und wie man es seitdem immer wieder liest?35 Es ist eine originelle Formulierung, aber sie wird dem hier gerade geschilderten Sachverhalt wohl eher nicht gerecht. Wilcke und Priester haben sich eigentlich respektvoll gegenüber Bismarck und der Bismarck-Familie verhalten wollen. Den Begriff »Paparazzo« gibt es noch nicht allzu lange. Er geht auf den FelliniFilm »Das süße Leben« (1960) zurück. Darin heißt der aufdringliche, Vespa fahrende Pressefotograf Paparazzo. Fellini wiederum soll diesen Namen aus George Gessings (1857–1903) Buch »Am Ionischen Meer« entnommen haben, in dem ein Coriolano Paparazzo vorkommt, ein Hotelbesitzer in Catanzaro, Kalabrien. Dieser soll sich darüber geärgert haben, dass seine Gäste nicht im Hotel, sondern außerhalb gegessen haben, und deshalb auf allen Zimmern Zettel mit der Aufforderung hinterlassen haben, doch bitte im Hotel zu essen, alles andere sei respektlos ihm gegenüber, dem Hotelier Coriolano Paparazzo. Der Name soll Fellini bei der Lektüre des Buches fasziniert und zur Verwendung im Film veranlasst haben.36

8.

Anlass oder Mythos?

Ist dieser Vorfall im Sachsenwald bei Hamburg wirklich der Anlass für die Entstehung der §§ 22, 23 KUG gewesen? Liest man in Wikipedia den Artikel »Bismarck auf dem Sterbebett«, so heißt es dort: Es sei ein Mythos, dass das Foto des toten Bismarck den Anfang eines neuen Rechts markiere und dass der Prozess die Diskussion um das Kunsturhebergesetz ausgelöst habe. Diese Geschichte werde zwar bis heute so erzählt, aber nur, weil sich das Foto und seine Entstehung so gut zur Mythenbildung eigne.

34 Kohler, Zum Autorrecht und Individualrecht, III., Der Fall der Bismarck-Photographie, GRUR 1900, 196, 197. 35 Machtan, Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen, 1998, S. 169, 193 u. 194. 36 Hacke, https://www.tagesspiegel.de/politik/und-was-mache-ich-jetzt-von-axelhacke/544704. html.

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III.

Die §§ 22,23 KUG

1.

Die postmortale Regelung in § 22 Satz 3 KUG

Egal ob Anlass oder Mythos, man wird unterstellen können, dass es ohne den Vorfall in Friedrichsruh insbesondere nicht zu einer postmortalen Regelung, wie wir sie in § 22 Satz 3 KUG finden, gekommen wäre. Die Auffassungen, wie lange nach dem Tode des Abgebildeten ein Schutz bestehen soll, gingen damals weit auseinander. So wurde die Frist bis zur Bestattung ebenso vorgeschlagen wie das Trauerjahr. Andere, etwa Kohler, meinten, die Dauer des Schutzes liege im Ermessen des Gesetzgebers, der sie gesetzlich festlegen solle. Später sprach sich Kohler für eine Frist von 5 Jahren aus. Letztlich kam es dann zu den zehn Jahren, die § 22 Satz 3 KUG normiert. Damit war für die weitere Entwicklung der gesetzliche Grundstein dafür gelegt, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht nicht mit dem Tode der konkreten Person endet. Interessant ist auch, dass postmortal nicht etwa die Erben des Verstorbenen berufen sind, gegebenenfalls die Einwilligung zu erteilen, sondern die Angehörigen des Abgebildeten.37 Welche Angehörigen dies sind, lesen wir in § 22 Satz 4 KUG, wobei der Gesetzgeber von 1907 nicht neben dem Ehegatten auch noch an den Lebenspartner gedacht hat. Ein etwaiger Lebenspartner des verstorbenen Abgebildeten wurde erst durch eine Gesetzesänderung im Jahre 2001 berücksichtigt. Wendet man das Gesetz von 1907 auf den Bismarck-Fall an, hätte das Foto bereits ab dem 31. Juli 1908 (Bismarck verstarb am 30. Juli 1898) verbreitet werden dürfen. Tatsächlich gelang es aber der Bismarck-Familie, die Verbreitung faktisch sehr viel länger zu unterbinden. Denn die Fotografen hatten ja die Fotoplatten und die Bilder sowie sämtliches Zubehör auf Grund der einstweiligen Verfügung herausgeben müssen. Das Bild wurde erstmals 1955 in einer Zeitschrift veröffentlicht.38

2.

Der Zeit voraus: das allgemeine Persönlichkeitsrecht

Gleichgültig, ob der Fall im Sachsenwald der Anlass für den Bildnisschutz des KUG war oder ob das nur ein Mythos ist, die Regelung war ihrer Zeit weit voraus.

37 Vgl. zu der sich daraus ergebenden Problematik Brändel, Das postmortale Persönlichkeitsrecht als Nachlassgegenstand, in: Festschrift für Willi Erdmann, 2002, S. 49. 38 Heute finden wir es beispielsweise bei Machtan, Bismarcks Tod und Deutschlands Tränen, S. 73 und bei Wikipedia, etwa in dem angesprochenen Artikel »Bismarck auf dem Sterbebett«.

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Das Reichsgericht hatte 1899 in seinem Urteil ein Recht am eigenen Bild noch nicht anerkannt, sondern auf den Hausfriedensbruch abgestellt. Ca. 5 Jahre später beschäftigte sich der Deutsche Juristentag 1904 in Innsbruck u. a. mit der Frage: »In wie weit ist das Recht am eigenen Bilde anzuerkennen und zu schützen?« Einen ausführlichen Überblick über die seinerzeitigen Rechtsmeinungen zum Recht am eigenen Bild finden wir zB bei Schneiekert, Der Schutz der Photographien und das Recht am eigenen Bilde, 1903.39 Historisch sollte es noch ca. 50 weitere Jahre dauern, bis über den im KUG gesetzlich geregelten Bildnisschutz hinaus ein allgemeiner Persönlichkeitsrechtsschutz anerkannt wurde. Dies geschah erstmals 1954 in der BGH-Entscheidung »Leserbriefe«, in der es um einen presserechtlichen Anspruch des früheren Reichsbankpräsidenten Hjalmar Schacht ging.40 Schachts Rechtsanwalt schrieb an die »Welt am Sonntag« und verlangte eine Richtigstellung. Die Zeitung druckte den Brief des Rechtsanwalts leicht gekürzt in der Rubrik »Leserbriefe« ab, als ob Schachts Rechtsanwalt einen Leserbrief zu der Thematik geschrieben hätte. Das Landgericht gab der Klage des Rechtsanwalts statt. Es sah in der Veröffentlichung des Schreibens als Leserbrief die vorsätzliche Verbreitung einer das Ansehen und den Kredit des Klägers schädigenden Tatsache (vgl. § 824 BGB). Das Berufungsgericht änderte das Urteil ab: Die unrichtige Behauptung, der Rechtsanwalt habe einen Leserbrief an die Zeitung gerichtet, sei weder geeignet, dessen Kredit zu schädigen, noch ihn in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen. Während zuvor das Reichsgericht keine positive Gesetzesbestimmung zugunsten eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts sah, erkannte der BGH nun erstmals ein allgemeines Persönlichkeitsrecht an, welches sich aus den Art. 1 und 2 des Grundgesetzes ableite und das in diesem Fall verletzt war.

3.

Wieso gelten die §§ 22,23 KUG heute noch?

Die Regelungen des KUG zum Bildnisschutz sind aber nicht nur der Zeit voraus gewesen, sondern auch sehr langlebig. Gemäß § 141 Nr. 5 UrhG ist seit dem 1. 1. 1966 das KUG aufgehoben, »soweit es nicht den Schutz von Bildnissen betrifft«. In der Begründung zum UrhG heißt es dazu, dass das KUG nicht gänzlich außer Kraft gesetzt werden könne, weil für die darin enthaltenen Vorschriften über den Bildnisschutz keine entsprechende Regelung im UrhG vorgesehen ist. Die Vor-

39 Schneiekert, Der Schutz der Photographien und das Recht am eigenen Bilde, 1903. ein heute über Googles Books vollständig zugängliches informatives Werk. 40 BGH, Urteil vom 25. 5. 1954, I ZR 211/53, GRUR 1955, 197. Schacht war von 1923 bis 1930 und von 1933 bis 1939 u.a Reichsbankpräsident.

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schriften sollen daher bis zu einer Neuregelung des Bildnisschutzes in Kraft bleiben. Schon 1959 war ein umfangreicher und noch heute sehr lesenswerter Entwurf eines Gesetzes zur Neuordnung des zivilrechtlichen »Persönlichkeits- und Ehrenschutzes« vorgelegt worden.41 Er ist 166 Seiten dick, außergewöhnlich sorgfältig begründet und enthält u. a. alle damals zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht ergangenen BGH-Urteile als Anlagen. Der Gesetzesentwurf wurde aber noch 1959 auf Eis gelegt, nachdem sich »eine Einheitsfront der seriösen und weniger seriösen Presse gegen die Absichten des Entwurfes gebildet« hatte.42 Die Presseverlage liefen seinerzeit insbesondere gegen die mögliche Verurteilung zu Schmerzensgeld Sturm. 1958 hatte der BGH erstmals mit dem sogenannten »Herrenreiter-Fall« Schmerzensgeld für eine Bildveröffentlichung zuerkannt, und das auf § 847 BGB analog gestützt.43 Etwas später hat er – nun der VI. Zivilsenat – die Begründung geändert: Die unter dem Einfluss der Wertentscheidung des Grundgesetzes erfolgte Ausbildung des zivilrechtlichen Persönlichkeitsrechtsschutzes wäre lückenhaft und unzulänglich, wenn eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts keine der ideellen Beeinträchtigung adäquate Sanktion auslösen würde.44 Das Problem dabei war, dass § 253 BGB einen Ersatz des immateriellen Schadens ausdrücklich ausschloss. Die Presseverlage sahen deshalb in der neuen Rechtsprechung zum einen eine unzulässige verfassungswidrige Rechtsfortbildung und zum anderen einen Verstoß gegen die Pressefreiheit, weil die Presse mit einem unkalkulierbaren Risiko belastet werde, das auf Dauer existenzgefährdend wirken müsse.45 Endgültige Klärung brachte insoweit erst 1973 das Soraya-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. Das BVerfG entschied, dass die Rechtsprechung der Zivilgerichte, wonach bei schweren Verletzungen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts Ersatz in Geld auch für immaterielle Schäden beansprucht werden kann, mit dem Grundgesetz vereinbar ist.46 41 42 43 44 45

BT-Drucksache III/1237. So Kabinettsprotokoll vom 10. 6. 1959. BGH, Urteil vom 14. 2. 1958, I ZR 151/56, NJW 1958, 827 – Herrenreiter. BGH Urteil vom 19. 9. 1961, VI ZR 259/60, NJW 1961, 2059 – Wunderwurzel. Beispielsweise »Der Spiegel« setzte sich im Januar 1962 in einem Artikel sehr umfangreich mit dem Entwurf unter dem Titel »Geld ohne Schmerz« auseinander, abrufbar unter https://maga zin.spiegel.de/EpubDelivery/spiegel/pdf/45137243. 46 BVerfG, 1 BvR 112/65, NJW 1973, 1221. Soraya war die frühere Kaiserin von Persien (Iran). 1958 ließ sich der persische Schah von ihr scheiden. Im April 1961 erschien ein angebliches Exklusiv-Interview mit Soraya, das frei erfunden war. Soraya wurde immaterieller Schadensersatz in Höhe von 15.000 DM zugesprochen (BGH, VI ZR 201/63, NJW 1965, 685 – Exklusiv-Interview). Die dagegen gerichtete Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos. Ca. 30 Jahre später gab es einen nahezu identischen Fall mit einem angeblichen Exklusiv-Interview von Caroline von Monaco (BGH, VI ZR 56/94, NJW 1995, 861 – Erfundenes Exklusiv-Interview). Caroline von Monaco wurden im Ergebnis 180.000 DM zugesprochen (OLG Hamburg Urteil vom 25. 7. 1996, 3 U 60/93, NJW 1996, 2870).

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Nachdem der 45. Deutsche Juristentag im Jahre 1964 erneut an den Gesetzgeber appelliert hatte, veröffentlichte das Bundesministerium der Justiz im Januar 1967 den Referentenentwurf eines »Gesetzes zur Änderung und Ergänzung schadensersatzrechtlicher Vorschriften«. Auch er sah im Zusammenhang mit einer umfassenden Reform des Schadensersatzrechts vor, dass in § 823 BGB auch die Ehre und das allgemeine Persönlichkeitsrecht als absolute Rechte geschützt werden sollten. Zu einer parlamentarischen Behandlung dieses Entwurfs ist es aber ebenfalls nicht gekommen.47 Weil der Gesetzgeber von einer Regelung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts absah, ist es bis heute so geblieben, dass nur hinsichtlich des Bildnisschutzes mit dem KUG eine gesetzliche Regelung vorliegt, während das allgemeine Persönlichkeitsrecht ansonsten auf Richterrecht beruht. Diese Zweispurigkeit hat u. a. zur Folge, dass eine Wort- und Bildberichterstattung jeweils getrennt und mit unterschiedlichen Ergebnissen zu beurteilen sein kann.48 Für das Recht am eigenen Bild gilt das abgestufte Schutzkonzept der §§ 22, 23 KUG, nach dem die Veröffentlichung des Bildes einer Person gerechtfertigt sein muss. Bei der Wortberichterstattung ist das anders. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht bietet nicht schon davor Schutz, überhaupt in einem Bericht individualisierend benannt zu werden. Vielmehr bietet es nur Schutz gegen spezifische Verletzungsformen, etwa gegen eine Beeinträchtigung der Privat- oder Intimsphäre, sowie gegen herabsetzende oder ehrverletzende Äußerungen. So ist etwa die Wortberichterstattung über einen Fußballnationalspieler, der auf einer Yacht eine Begleiterin küsst, als »Käpt’n Knutsch« angeblich zulässig, während das Foto dazu unzulässig gewesen ist.49

IV.

Rechtsentwicklungen zum KUG

1.

Das EGMR-Urteil Caroline von Hannover

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) wurde 1959 in Straßburg errichtet, um die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention sicherzustellen, die es seit 1950 gibt. Dieser neue Gerichtshof musste sich auch mit den §§ 22, 23 KUG befassen. Der Anlass waren deutsche Urteile zu diversen Fotos von Caroline von Hannover, früher Caroline von Monaco. Es ging um Fotos, die Caroline in verschiedensten Situationen ihres Alltags zeigten. Die Urteile des BGH und des Bundesverfassungsgerichts wurden vom EGMR geprüft, 47 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 14. 2. 1973–1 BvR 112/65, NJW 1973, 1221, 1222. 48 Vgl. z. B. BGH, Urteil vom 26. 10. 2010, VI ZR 230/08, NJW 2011, 744. 49 OLG Köln, Urteil vom 22. 11. 2018, 15 U 96/18, ZUM-RD 2019, 744.

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der zu dem Ergebnis kam, dass die bisher im Rahmen der §§ 22, 23 KUG von den deutschen Gerichten entwickelten Kriterien (wie »absolute Personen der Zeitgeschichte« oder »örtliche Abgeschiedenheit«) nicht für einen wirksamen Schutz des Privatlebens der Prinzessin Caroline ausreichten.50 Auf Grund dieses Urteils des EGMR musste die bis dahin geltende deutsche Rechtsprechung modifiziert werden. Seitdem wird im Hinblick auf die Bildberichterstattung stärker als früher auf den Nachrichtenwert abgestellt. Der Schutz der Persönlichkeit des Betroffenen wiegt umso schwerer, je geringer der Informationswert des Bildes oder des Textes für die Allgemeinheit ist, und umgekehrt tritt das Schutzinteresse des Betroffenen desto mehr zurück, je größer der Informationswert für die Öffentlichkeit ist. Fotos, die die Fernsehmoderatorin Sabine Christiansen mit ihrer Haushaltshilfe auf Mallorca beim Einkaufen zeigen, sind danach unzulässig.51 Anders ist es dagegen, wenn die gerade abgewählte Ministerpräsidentin Heide Simonis shoppen geht.52 Der EGMR überprüft in solchen Fällen nur, ob die nationalen Gerichte die widerstreitenden Interessen sorgfältig und unter ausdrücklicher Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR abgewogen haben. Dabei haben die nationalen Gerichte einen Ermessensspielraum. Nach diesen Grundsätzen blieb Caroline von Hannover in einem Folgefall vor dem EGMR erfolglos.53

2.

Der strafrechtliche Bildnisschutz: § 201a StGB

Der Bismarck-Fall wurde seinerzeit besonders unter strafrechtlichen Gesichtspunkten behandelt. Es ist deshalb konsequent, dass der Bildnisschutz des KUG auch eine strafrechtliche Seite hat. Gemäß § 33 KUG wird bestraft, »wer entgegen den §§ 22,23 ein Bildnis verbreitet oder öffentlich zur Schau stellt«. Da die §§ 22, 23 das »abgestufte Schutzkonzept« normieren, ist es allerdings nicht ganz leicht zu beurteilen, was denn nun strafbar ist und was nicht. Eine praxistaugliche Strafandrohung sieht wohl anders aus. Jedenfalls führten die strafrechtlichen Vorschriften des KUG eher ein Schattendasein.54

50 51 52 53

EGMR, Urteil vom 24. 6. 2004, 59320/00. NJW 2004, 2647. BGH, Urteil vom 1. 7. 2008, VI ZR 243/06, NJW 2008, 3138. BGH, Urteil vom 14. 10. 2008, VI ZR 156/06, NJW 2008, 3134. EGMR, Urteil vom 7. 2.2012, 40660/08 u. a., NJW 2012, 1053; ähnlich ein jüngerer Fall (Verbreitung von Fotos eines Prominenten aus dem Gefängnis): EGMR, Entscheidung vom 4. 12. 2018, 62721/13 u. a., NJW 2019, 741. 54 Zu den strafrechtlichen Vorschriften vgl. z. B. Hegemann, Der strafrechtliche Schutz des Rechts am eigenen Bild und des höchstpersönlichen Lebensbereiches – Anmerkungen zu einer verfehlten Gesetzgebung, in: Festschrift für Peter Raue, 2006, S. 445.

Das Recht am eigenen Bild: vom Foto des toten Bismarck zur DS-GVO

149

Da die strafrechtliche Regelung im KUG als nicht ausreichend angesehen wurde, wurde im Jahre 2004 das Strafgesetzbuch um § 201a StGB ergänzt und darin die Verletzung des höchstpersönlichen Lebensbereichs durch Bildaufnahmen unter Strafe gestellt. Eine »Strafbarkeitslücke«, die an den historischen Bismarck-Fall erinnert, soll insoweit auch bei § 201a StGB bestanden haben. Gemäß einer Bundesratsinitiative musste nun mittels einer Ergänzung des Gesetzes auch das Fotografieren von toten Personen erfasst werden, da sogenannte Gaffer mit ihren Smartphones auch verstorbene Unfallopfer fotografieren.55

3.

Der postmortale Schutz der Persönlichkeit

Zu großer Bedeutung ist die für den postmortalen Schutz in § 22 Satz 3 KUG aufgestellte Frist von zehn Jahren gekommen. Wie lange das allgemeine Persönlichkeitsrecht nach dem Tode geschützt ist, ist nur für den Bildnisschutz in § 22 KUG und ansonsten nirgends gesetzlich geregelt. Im Fall Mephisto, dem »Duell der Toten« (Reich-Ranicki), stellte sich das Problem erstmals.56 Es ging um den Roman »Mephisto« von Klaus Mann und die angebliche Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts von Gustav Gründgens, der zeitweilig auch Ehemann von Erika Mann und damit Klaus Manns Schwager war. Gründgens glaubte, sich in der Romanfigur des Hendrik Höfgen wiederzuerkennen, und fühlte sich verunglimpft. Klaus Mann war allerdings bereits 1949 infolge Selbsttötung verstorben und Gründgens verstarb 1962. Es klagte 1964 sein Adoptivsohn gegen den Verlag. Das Landgericht Hamburg wies die Klage u. a. mit dem Argument ab, das Persönlichkeitsrecht Gründgens’ habe mit dessen Tod geendet.57 In der Berufungsinstanz wurde der Roman jedoch 1966 vom OLG Hamburg verboten.58 Der Bundesgerichtshof wies die Revision zurück.59 Die Verfassungsbeschwerde blieb erfolglos.60 1980, also 18 Jahre nach Gründgens’ Tod, wurde der Roman wieder in Deutschland veröffentlicht und das offenkundig nicht mehr rechtlich angegriffen. Kurze Zeit später wurde der Roman auch (mit Klaus Maria Brandauer) verfilmt und 1981 mit dem »Oscar« ausgezeichnet! Ob wirklich, wie der Verlag 55 Vgl. z.B. BR-Drs. 41/18; FAZ, 30. 03. 2019, S. 7; zum Gesetzentwurf der Bundesregierung vgl. https://www.bmjv.de/SharedDocs/Artikel/DE/2019/111319_Kabinett_Persoenlichkeitsschutz. html. 56 Reich-Ranicki, DIE ZEIT v. 18.3.192, abrufbar: https://www.zeit.de/1966/12/das-duell-der-to ten. 57 LG Hamburg, Urteil vom 23. 08. 1965, 15 O 81/64, UFITA 51 (1968), 352, 360. 58 OLG Hamburg, Urteil vom 10. 03. 1966, 3 U 372/65, UFITA 51 (1968), 362. 59 BGH, Urteil vom 20. 3. 1968, I ZR 44/66, NJW 1968, 1773. 60 BVerfG, Beschluss vom 24. 2. 1971, 1 BvR 435/68, NJW 1971, 1645.

150

Fedor Seifert

offenbar meinte, 18 Jahre nach dem Tod Gründgens’ das Schutzbedürfnis entfallen war, möglicherweise wegen des Ablaufs der 10-Jahres-Frist des § 22 Satz 3 KUG, ist letztlich nicht geklärt worden. Vielleicht haben Gründgens’ Erben aufgrund anderer Erwägungen davon abgesehen, erneut gegen den Roman »Mephisto« vorzugehen.61 Im Fall Emil Nolde hat der BGH 1989, also mehr als 30 Jahre nach Noldes Tod (1956), ein fortbestehendes Schutzbedürfnis gesehen, als es darum ging, gegen (das allgemeine Persönlichkeitsrechts Noldes verletzende) untergeschobene Bildfälschungen vorzugehen. Bei einem Maler, der – wie Emil Nolde – zu den namhaften Vertretern des deutschen Expressionismus zählt, sei auch rund drei Jahrzehnte nach dem Tod noch ein fortbestehendes Schutzbedürfnis anzuerkennen, formulierte der BGH damals.62 Alle diese Fälle betrafen die ideelle Seite des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, meist den Ehrenschutz, nicht die vermögensrechtliche Seite. Aber Prominente realisierten damals schon über ihr allgemeines Persönlichkeitsrecht erhebliche Einnahmen, indem sie Werbung oder sogenannte MerchandisingArtikel mit ihrem Namen oder ihrem Bildnis lizenzierten. War das auch weiterhin möglich nach dem Tode der prominenten Persönlichkeit? James Dean soll angeblich für jeden seiner drei Filme nur jeweils 10.000 Dollar erhalten haben, während später seine Erben aus Werbeverträgen und Merchandising angeblich über 30 Mio. Dollar verdient haben sollen.63 Ein postmortaler Schutz vermögenswerter Persönlichkeitsrechte wurde jedoch in Deutschland lange Zeit abgelehnt, was mit der wirtschaftlichen Realität – siehe das Beispiel James Dean – nicht in Einklang stand. 1999 hat dann der Bundesgerichtshof auch die postmortale vermögensrechtliche Seite des allgemeinen Persönlichkeitsrechts bestätigt, und zwar in zwei Fällen von Marlene Dietrich. Diese war 1992 verstorben, aber es wurde mit ihrem Bildnis weiter geworben und Merchandising-Artikel mit ihrem Bild wurden verkauft. Der BGH sprach der Tochter von Marlene Dietrich als deren Alleinerbin Schadensersatz zu.64 Zur postmortalen Schutzdauer meinte der BGH, die Zehn-Jahres-Frist des § 22 Satz 3 KUG biete einen »Anhaltspunkt«.

61 Die Mephisto-Urteile blieben umstritten. Vgl. dazu z. B. Seifert, Realität und Fiktion – Dichtung und allgemeines Persönlichkeitsrecht, in: Festschrift für Peter Raue, 2006, Seite 695ff. Diese seinerzeitige Rechtsprechung des BGH zur Problematik Dichtung und allgemeines Persönlichkeitsrecht ist inzwischen korrigiert. Maßgeblich ist nun BVerfG, Beschluss vom 13. 6. 2007, 1BvR 1783/05, NJW 2008, 39 – Esra sowie z. B. BGH, Urteil vom 19. 6. 2008, VI ZR 244/07, NJW 2009, 751 – Ehrensache. 62 BGH, Urteil vom 8. 6. 1989, I ZR 135/87, NJW 1990, 1986 – Emil Nolde. 63 Schertz, Merchandising, Rechtsgrundlagen und Rechtspraxis, 1997, S. 13. 64 BGH, Urteil vom 1. 12. 1999, I ZR 49/97, NJW 2000, 2195 – Marlene Dietrich; entspr. BGH, Urteil vom 1. 12. 1999, I ZR 226/97, NJW 2000, 2201 – Der blaue Engel.

Das Recht am eigenen Bild: vom Foto des toten Bismarck zur DS-GVO

151

Ob in Ausnahmefällen die Schutzdauer länger sein könne, ließ der BGH in diesem Urteil ausdrücklich offen.65 2006 hat der BGH dann im Fall »kinski-klaus.de« hinsichtlich der postmortalen Schutzdauer strikt unterschieden zwischen den vermögenswerten Bestandteilen des Persönlichkeitsrechts einerseits und dessen ideellen Bestandteilen andererseits.66 Der Sachverhalt des Falles schien eigentlich harmlos. Es ging um eine Ausstellung über den bereits 1991 verstorbenen Schauspieler Klaus Kinski und die Erben Kinskis meinten, der Ausstellungsorganisator hätte zu Unrecht die E-Mail-Adresse »kinski-klaus.de« verwendet. Sie machten (nur) die Rechtsanwaltskosten für eine Abmahnung geltend. Aber der BGH wurde sehr grundsätzlich und hat bei dieser Gelegenheit entschieden, dass die Frist des § 22 Satz 3 KUG für die vermögenswerten Bestandteile des Persönlichkeitsrechts maßgeblich sein soll. Damit sind seitdem die vermögensrechtlichen Ansprüche auf den Zeitraum von zehn Jahren nach dem Tode beschränkt, während die ideellen Bestandteile des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wesentlich länger geschützt sein können. Dieser Rückgriff des BGH auf § 22 Satz 3 KUG ist teilweise kritisiert worden67, was nachvollziehbar erscheint, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass diese Frist des § 22 Satz 3 KUG unter ganz anderen tatsächlichen Gegebenheiten im Jahre 1907 und auch damals recht willkürlich geschaffen worden ist. Wie schon oben angesprochen, waren seinerzeit als mögliche Fristen auch die Zeit bis zur Beerdigung oder das Trauerjahr in der Diskussion.68 Andererseits ging es dem BGH offenbar um Rechtssicherheit und es gab und gibt nun einmal – außer in § 64 UrhG – keine andere gesetzliche Frist, an die man hätte anknüpfen können. Und die Frist des § 64 UrhG (70 Jahre) ist dem BGH wohl zu lang erschienen.

V.

DS-GVO und KUG

Einschränkungen drohen – wie oben unter I. schon angesprochen – dem KUG durch die seit dem 28. Mai 2018 geltende Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), was aber in unserem Zusammenhang an dieser Stelle nur kurz skizziert werden kann.69 65 66 67 68 69

BGH, Urteil vom 1. 12. 1999, I ZR 49/97, NJW 2000, 2195, 2199 – Marlene Dietrich. BGH, Urteil vom 5. 10. 2006, I ZR 277/03, NJW 2007, 684 – kinski-klaus.de. Vgl. z. B. Götting GRUR 2007, 168, 170; Stieper MMR 2007, 106, 108. Vgl. oben III. Nr. 1. Vgl. zu der Problematik z. B. Benedikt/Kraning, DS-GVO und KUG – ein gespanntes Verhältnis, ZD 2019, 4; Dregelies, Fotografieren in der Öffentlichkeit und Datenschutz, AfP 2019, 298; Krüger/Wiencke, Bitte recht freundlich – Verhältnis zwischen KUG und DS-GVO, MMR 2019, 76; Lauber-Rönsberg, Anwendbarkeit des KUG bei journalistischen Bildnisveröffentli-

152 1.

Fedor Seifert

Anwendungsbereich der DS-GVO

Bilder von Personen sind im Regelfall persönliche Daten gemäß Art. 4 Nr. 1 DSGVO. Das Verbreiten oder Zur-Schau-Stellen (vgl. § 22 Satz 1 KUG) ist Verarbeitung solcher persönlichen Daten gemäß Art. 4 Nr. 2. Die DS-GVO ist europäisches Recht und geht nationalen Gesetzen vor. Sie würde deshalb ggf. die Regelungen des KUG verdrängen. Trotz der DS-GVO »gelten« jedoch die Regelungen des KUG zum Bildnisschutz natürlich weiter. Sie sind ja nicht aufgehoben worden. Aber soweit ein Sachverhalt in der DS-GVO geregelt ist, wären grundsätzlich deren Vorschriften anzuwenden und nicht die §§ 22, 23 KUG. Die DS-GVO gilt jedoch nicht für die Verarbeitung persönlicher Daten »zur Ausübung ausschließlich persönlicher oder familiärer Tätigkeiten« (sog. Haushaltsausnahme, Art. 2 Abs. 1 lit. c). Diese Regelung greift beispielsweise ein, wenn der Familienvater beim Sonntagsausflug Fotos von der Familie macht und diese in seinem Computer speichert. Darum handelt es sich aber nicht (mehr), wenn ein Foto in das Internet gestellt wird, weil es dann einer unbestimmten Zahl von Personen zugänglich ist.70 Die DS-GVO gilt auch nicht für die personenbezogenen Daten Verstorbener (Erwägungsgrund 27). Der historische Bismarck-Fall wäre heute also gemäß §§ 22, 23 KUG zu entscheiden, nicht nach der DSG-VO.

2.

Öffnungsklauseln

Eine im hier relevanten Zusammenhang möglicherweise maßgebliche Regelung enthält Art. 85 Abs. 2 DS-GVO. Danach sehen die Mitgliedstaaten für die Verarbeitung, die zu journalistischen Zwecken oder zu wissenschaftlichen, künstlerischen oder literarischen Zwecken erfolgt, Abweichungen oder Ausnahmen vor, wenn dies erforderlich ist, um das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten mit der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit in Einklang zu bringen. Es fragt sich also, ob die Regelungen des KUG unter Art. 85 Abs. 2 DS-GVO eingeordnet werden können, dann könnte das KUG jedenfalls für journalistische Zwecke sowie zu wissenschaftlichen, künstlerischen und literarischen Zwecken in Deutschland anwendbar bleiben. Das hat das OLG Köln in einem Prozesskoschungen auch nach Inkrafttreten der DSGVO, ZUM-RD 2018, 550; Lauber-Rönsberg, Zum Verhältnis von Datenschutzrecht und zivilrechtlichem Äußerungsrecht, AfP 2019, 373; Raji, Auswirkungen der DS-GVO auf nationales Fotorecht, ZD 2019, 61. 70 EuGH, Urteil vom 14. 02. 2019, C-345/17 (noch zur inzwischen durch die DS-GVO abgelöste Datenschutz-Richtlinie).

Das Recht am eigenen Bild: vom Foto des toten Bismarck zur DS-GVO

153

tenhilfebeschluss bejaht.71 Eindeutig ist das aber nicht, u. a. weil Art. 85 Abs. 3 vorsieht, dass jeder Mitgliedstaat die Rechtsvorschriften, die er auf Grund von Abs. 2 erlassen hat, der Kommission mitteilt. Unter diesem Gesichtspunkt »erscheint es komisch, dass ein über 100 Jahre altes Gesetz eine Art Umsetzung der DS-GVO sein soll« (Hoeren).72 Auch setzt Art. 85 Abs. 2 voraus, dass etwaige Abweichungen oder Ausnahmen von der DS-GVO »erforderlich« sind, um das Recht auf Schutz der personenbezogenen Daten mit der Freiheit der Meinungsäußerung und der Informationsfreiheit in Einklang zu bringen. Eine unveränderte Weitergeltung des KUG dürfte dem kaum entsprechen. Zudem gibt es eine in Art. 85 Abs. 3 vorgesehene Mitteilung an die Kommission im Hinblick auf die Regelungen des KUG soweit ersichtlich bisher nicht. Ansonsten geht es darum, ob auch Art. 85 Abs. 1 eine Öffnungsklausel enthält, über die das KUG anwendbar bleiben könnte. Das dürfte schon auf Grund des Wortlauts zu verneinen sein. Auch würde sich das Verhältnis zwischen Art. 85 Abs. 1 und Abs. 2 nicht erschließen. Vielmehr dürfte Abs. 1 keine Öffnungsklausel, sondern lediglich ein Anpassungsauftrag sein. Allerdings hat das Bundesinnenministerium unmittelbar vor Inkrafttreten der DS-GVO eine Mitteilung veröffentlicht (»Unter welchen Voraussetzungen ist das Anfertigen und Verbreiten personenbezogener Fotografien künftig zulässig?«) und darin gemeint, dass das KUG für die Veröffentlichung von Fotografien ergänzende Regelungen enthält, die auch unter der DS-GVO »fortbestehen«. Es verweist dazu auf Art. 85 Abs. 1 DS-GVO, »der den Mitgliedstaaten nationale Gestaltungsspielräume … eröffnet«. Das KUG stehe nicht im Widerspruch zur DS-GVO, »sondern fügt sich als ein Teil der deutschen Anpassungsgesetzgebung in das System« der DS-GVO ein.73

3.

Trend und Perspektive

In der deutschen Politik ist also offenkundig der grundsätzliche Wille vorhanden, die Regelungen des KUG zum Bildnisschutz weiter anzuwenden und sie nicht Opfer der DS-GVO werden zu lassen.74 Auch die deutsche Rechtsprechung tendiert offenbar in diese Richtung.75 71 OLG Köln, ZD 2018, 434 m. Anm. Hoeren; vgl. auch Lauber-Rönsberg ZUM-RD 2018, 550 sowie Müller GRUR-Prax 2018, 383. 72 Hoeren ZD 2018, 434, 435. 73 Entsprechend z. B. auch die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage, BTDrucks. 19/2653, S. 15. 74 Beispielsweise fordert der Innenausschuss des Bundestages unter dem 26. 06. 2019 die Bundesregierung u. a. auf, »eine Klarstellung vorzunehmen, wonach die spezialgesetzlichen Regelungen wie das KunstUrhG weiter Anwendung finden«, BT-Drucks. 19/11181, S. 15.

154

Fedor Seifert

Die §§ 22, 23 KUG als die maßgeblichen Normen für das Recht am eigenen Bild werden uns also voraussichtlich auf absehbare Zeit erhalten bleiben. Und das ist schon in Anbetracht der langen und interessanten Geschichte dieser Normen auch gut so.

75 Vgl. OLG Köln, Beschluss vom 18. 06. 2018, 15 W 27/18, ZD 2018, 434 m. Anm. Hoeren; LG Frankfurt/M., Teilurteil vom 27. 9. 2018, 2/03 O 320/17, juris, Rn. 129; alternativ nach KUG und DS-GVO: LG Frankfurt/M., Urteil vom 13. 9. 2018, 2/03 O 283/18, BeckRS 2018, 23105, dazu Anm. Hoeren ZD 2018, 587, 588.

Thomas Rüfner

Marillen, Marken und Moneten – Friedrich Torberg als Zeuge im Streit um die »Original-Sachertorte«

I.

Die Sachertorte als Kulturgut und Geldquelle

»Tausendmal hab’ ich in meiner Herzensfreude gelacht über die Menschen, die sich einbilden, ein erhabner Geist könne unmöglich wissen, wie man ein Gemüse bereitet«.1 So lässt Friedrich Hölderlin seinen Helden Hyperion die Einsicht formulieren, dass die Zubereitung von Speisen ein wichtiger Teil der menschlichen Kultur ist. Wem Hölderlin als Gewährsmann nicht ausreicht, der mag sich – zumal als Rechtswissenschaftler – den Juristen Jean Anthelme Brillat-Savarin (1755–1826) zum Vorbild nehmen, der neben seiner Tätigkeit an der Pariser Cour de cassation Zeit fand, die »Physiologie du gout« oder »physiologie des Geschmacks« zu verfassen, ein Hauptwerk der philosophisch fundierten Feinschmeckerei. Gestützt auf diese Autoritäten möchte ich in meinem Beitrag nicht den rechtlichen Schutz literarischer oder musikalischer Werke in den Blick nehmen, sondern die Rechtsgeschichte eines Backwerks, der Wiener Sachertorte. Wenn es erlaubt ist, gastronomische Erzeugnisse als Kulturgüter zu behandeln, so gilt dies in besonderer Weise für die Sachertorte. Sie wurde zuweilen als Symbol für Österreich und das Österreichische schlechthin gebraucht, so in einem Buch von Hans-Henning Scharsach über den möglichen Beitritt Österreichs zur EG unter dem Titel »Europa ohne Sachertorte« (1989). In der Informatik wird vom Sachertorte-Algorithmus gesprochen: Gemeint ist damit der Gedanke, dass Koch- und Backrezepte letztlich mit Computerprogrammen vergleichbar sind, nur dass sie nicht von einem elektronischen Rechner, sondern vom menschlichen Koch ausgeführt werden. Der amerikanische Informatiker John Shore demonstrierte diesen Zusammenhang im Jahr 1985 in seinem Buch »Der Sachertorte-Algorithmus und andere Mittel gegen die Computerangst«2, in

1 Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, Bd. 1, 2. Auflage, Stuttgart und Tübingen 1822, 100. 2 Original: The Sachertorte-Algorithm and Other Antidotes against Computer Anxiety.

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Thomas Rüfner

dem er ein Sachertortenrezept schrittweise in ein Computerprogramm überführte. Das Buch von John Shore hat zum literarischen Ruhm der Sachertorte und zu ihrem Status als kulturelles Symbol beigetragen. Das von Shore verwendete Rezept lässt jedoch erkennen, dass der Autor nur oberflächliche Kenntnis von der kulinarischen Tradition der Sachertorte hat. In Shores Rezept wird nämlich keine Marillenmarmelade verwendet. Es fehlt damit eine wichtige Zutat – und gerade die, die für die rechtlichen Auseinandersetzungen um die Sachertorte zentral ist. Diesen Auseinandersetzungen sollen die folgenden Bemerkungen gewidmet sein.

II.

Kleine (Prozess-) Geschichte der Sachertorte

1.

Von Metternich bis zur Weltwirtschaftskrise

Erfinder der Sachertorte soll Franz Sacher (1816–1907) gewesen sein, der das Rezept angeblich im Jahr 1832 noch als Lehrling für die Küche des Fürsten Metternich entwickelt hat. Belegt ist dieser Umstand nicht und erst recht nicht, dass der Fürst seine Küche mit der Ermahnung, »Dass er mir aber keine Schand’ macht, heut Abend!« zu besonderen Leistungen aus Anlass des Besuchs vornehmer Gäste aufgefordert hat.3 Gesichert scheint, dass Franz Sachers Sohn Eduard Sacher (1843–1892) das Rezept vervollkommnete, während er seinerseits eine Lehre in der Konditorei des K.u.K. Hofzuckerbäckers Demel machte. Nach seiner Ausbildung gründete Eduard Sacher das bekannte Wiener Hotel Sacher, in dem auch die nach dem Gründer benannte Torte angeboten wurde, das aber vor allem für sein Restaurant und dessen exzellente Rindfleischküche bekannt war. Nach dem frühen Tod von Eduard Sacher wurde das Hotel von dessen Witwe Anna Sacher (1859–1930) weitergeführt. Obwohl Anna Sacher lange Zeit großen Erfolg mit ihrem Haus hatte, war das Hotel Sacher am Ende ihres Lebens offenbar in wirtschaftlichen Schwierigkeiten – vielleicht aufgrund des Ausbruchs der Weltwirtschaftskrise im Jahr 1929. Jedenfalls musste über den Nachlass Anna Sachers das Konkursverfahren eröffnet werden.4 Aus der Konkursmasse erwarb eine Kommanditgesellschaft das Hotel, an der der Wiener Rechtsanwalt Hans Gürtler maßgeblich beteiligt war. Die Käuferin schloss mit dem Sohn von Anna Sacher, Eduard Sacher junior (1883–1956) einen Vertrag zur Regelung des Na3 Die – nach den dortigen Angaben »durch nichts belegte« Anekdote findet sich unter anderem bei G. Jelinek, Sternstunden Österreichs: Die helle Seite unserer Geschichte, 2015, im Kapitel 1823 (zitiert nach Google Books). 4 Hierzu und zum Folgenden OGH, 11. 11. 1958, 4 Ob 321/58, SZ 31/136.

Marillen, Marken und Moneten

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mensgebrauchs. Nach dem Vertrag durfte die KG als Erwerberin des Hotelbetriebes als »Hotel Sacher, Eduard Sacher KG« firmieren, das Hotel unter seinem bisherigen Namen fortführen und auch Sachertorten unter dem Namen »Hotel Sacher Wien« vertreiben. Im Übrigen blieb es Eduard Sacher junior gestattet, seinen Namen selbst geschäftlich zu nutzen und auch Sachertorten zu vertreiben – nur eben nicht unter Verwendung der Worte »Hotel Sacher Wien«. Eduard Sacher hatte offenbar kein Interesse, das Konditorgewerbe selbst auszuüben. Bald nach der Übernahme des Hotels Sacher durch die KG veräußerte er das Recht zur Herstellung und zum Vertrieb einer »Eduard-SacherTorte« an die Betreiberin der Konditorei Demel, die Firma Ch. Demel’s Söhne. Sowohl die neuen Inhaber des Hotel Sacher als auch die Betreiberfirma des K.u.K. Hofzuckerbäcker Demel ließen in der Folge Marken registrieren. Zunächst wurde bereits Ende 1934 für Demel die Wortmarke »Eduard Sacher Wien« eingetragen. Nach dem Zweiten Weltkrieg ließen die Sacher-Betreiber »eine Wortbildmarke, bestehend aus einem runden Siegel mit der Inschrift ›Hotel Sacher Wien‹, zur Verwendung bei der Erzeugung und dem Vertrieb von Torten«5 registrieren.

2.

Demel ./. Hotel Sacher

Schon Ende der 1930er Jahre scheint es zwischen Demel und den neuen Inhabern des Hotels zu Streitigkeiten um die Hinterlassenschaft der Sacher-Dynastie gekommen zu sein. a)

Schokoladensiegel und Bonbonniere

Gerichtliche Entscheidungen ergingen – soweit ersichtlich – erst nach dem Zweiten Weltkrieg. In einem ersten Verfahren ging es um die Frage, ob zwischen dem vom Hotel Sacher für seine Torten benutzten und markenrechtlich geschützten runden Siegel und dem von Demel verwendeten »Schokoladesiegel in Dreiecksform mit der Bezeichnung ›Eduard Sachertorte‹« Verwechslungsgefahr bestand. Da der Volltext der Entscheidung des österreichischen Obersten Gerichtshofs (OGH) in diesem Verfahren nicht publiziert ist, lässt sich der Gang des Prozesses nicht im Einzelnen rekonstruieren. Vermutlich war die Betreiber-KG des Hotels Klägerin. Der OGH sah jedenfalls keine Verwechslungsgefahr,6 so dass

5 OGH, 11. 11. 1958, 4 Ob 321/58, SZ 31/136. 6 OGH, 27. 06. 1956, 3 Ob 244/56, zitiert nach dem österreichischen Rechtsinformationssystem (RIS), https://www.ris.bka.gv.at/.

158

Thomas Rüfner

beide Häuser ihre Sachertorten weiterhin in der gewohnten Weise kennzeichnen konnten. Sie tun das bis heute. In einem zweiten Verfahren untersagte der OGH im Jahr 1958 auf Klage von Demel dem Hotel Sacher den Vertrieb von Bonbonnieren, die von einer Drittfirma gefertigt wurden und nicht auf Rezepten der Familie Sacher beruhten, unter der Bezeichnung »Original Sacherspezialitäten Hotel Sacher Wien«.7 b)

Einfach oder doppelt aprikotiert?

Vielleicht ermutigt durch den Misserfolg der Klage des Hotels im Verfahren um die Schokoladensiegel und das eigene Obsiegen bezüglich der Bonbonnieren strengte Demel ein drittes Verfahren an, in dem der Hofzuckerbäcker vom Hotel unter anderem verlangte, »die Anpreisung und den Verkauf von Tortenerzeugnissen des Zuckerbäckergewerbes mit Ausnahme der nach dem Rezept der alten Familie Sacher hergestellten Sachertorte, insbesondere einer durchschnittenen und mit Marmelade gefüllten Torte unter der Bezeichnung ›Original-Sachertorte, Hotel Sacher, Wien‹ oder ähnlichen Bezeichnungen zu unterlassen«.8 Die juristische Formulierung des Klagebegehrens lässt den Kern des Streits nicht sofort erkennen. Nach Auffassung des Hofzuckerbäckers Demel durfte das Hotel Sacher seine Version der Sachertorte deshalb nicht als »Original« bezeichnen, weil sie nicht dem ursprünglichen »Rezept der alten Familie Sacher« folgte, sondern von diesem abwich. Denn nach dem ursprünglichen Rezept, so die klägerische Behauptung, sei die Sachertorte nicht durchschnitten und mit Marmelade gefüllt gewesen. Es ging im Kern also um die so genannte »Aprikotierung«. Unstreitig gehört zur Sachertorte Aprikosen- bzw. – nach österreichischem Sprachgebrauch – Marillenmarmelade. Eine Schicht Marillenmarmelade gehört zwischen den Schokoladenüberzug und das innere des Kuchens aus der so genannten Sachermasse. Das Hotel Sacher schnitt aber zusätzlich die gebackene Tortenmasse längs durch und klebte die beiden Teile mit einer weiteren Marmeladenschicht zusammen. Die Sachertorte des Hotels war seinerzeit und ist bis heute zweifach aprikotiert. Demgegenüber war die von Demel hergestellte Torte nur einfach aprikotiert. Dies entsprach nach Demels Vorbringen dem ursprünglichen Rezept von Eduard Sacher senior. Der OGH hatte in dieser Sache zweimal zu entscheiden. Das Handelsgericht Wien hatte dem Klagebegehren im Jahr 1959 teilweise stattgegeben. Das Oberlandesgericht als Berufungsinstanz hob das Urteil des Handelsgerichts auf und verwies die Sache zur weiteren Beweisaufnahme über die Frage zurück, 7 OGH, 11. 11. 1958, 4 Ob 321/58, SZ 31/136. 8 Vgl. den Tatbestand der Entscheidung OGH, 22. 05. 1962, 4 Ob 318/62, ÖBl. 1963, 6 (7).

Marillen, Marken und Moneten

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»ob die Sachertorte seinerzeit, also vor dem Tode der Anna Sacher, durchschnitten und mit Marmelade gefüllt, den Gästen vorgesetzt oder über die Gasse verkauft oder ›in alle Welt‹ versendet worden sei.«9

Auf den Rekurs der Beklagten gegen diese Entscheidung hielt der OGH im Jahr 1960 die Zurückverweisung und die Anordnung einer erneuten Beweisaufnahme aufrecht. Dabei sprach der OGH aus, dass es für die Berechtigung einer Sachertorte als »echt« oder »Original« auf deren Herkunft, aber auch auf die Treue zum Rezept ankomme.10 Da es bei der Zurückverweisung blieb, hatte das Handelsgericht nun die vom OLG für notwendig erachtete Beweisaufnahme zur Frage der Rezepttreue durchzuführen. Ausweislich der erhaltenen Ladung11 wurde der bekannte Schriftsteller Friedrich Torberg (1908–1979) am 25. Juli 1961 zu der Beweisfrage vernommen: »War zu Anna Sachers Lebzeiten die Sachertorte durchgeschnitten und mit Marmelade gefüllt?« Torberg selbst hat über den Prozess und das Verfahren einen Artikel unter dem schönen Titel »Sacher und Widersacher« veröffentlicht, der als Anhang in seiner berühmten Anekdotensammlung »Die Tante Jolesch« zu finden ist.12 Obwohl Torberg nach seinem Bericht vor Gericht bekundete, dass zu Lebzeiten von Anna Sacher die Torte nicht durchschnitten und nicht gefüllt war, dass mithin das ursprüngliche Rezept – wie von Demel behauptet – nur die einfache Aprikotierung vorsah,13 stellte das Oberlandesgericht Wien als zweite Instanz fest, dass vom »zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts«14 an im Hotel Sacher »mehrere Jahrzehnte hindurch fortlaufend«15 eine einfach und eine doppelt aprikotierte Version der Sachertorte nebeneinander im Angebot waren. Auf dieser Grundlage entschied der OGH, dass die Verwendung der Bezeichnung »Original-Sachertorte« durch das Hotel Sacher für die inzwischen ausschließlich angebotene, doppelt aprikotierte Version nicht zu beanstanden war. Selbst mit diesem Erfolg der Hotelseite war der Streit noch nicht beendet. Endgültig beigelegt wurden die Streitigkeiten erst durch einen außergerichtli9 OGH, 13. 09. 1960, 4 Ob 302/60, S. 6 (nicht im Volltext veröffentlicht); für freundliche Hilfe bei der Lokalisierung des Textes dieser Entscheidung und der Parallelentscheidung 4 Ob 301/60 bin ich Herrn Hofrat des OGH Univ.-Prof. Dr. Georg Kodek, Wien, zu herzlichem Dank verpflichtet. 10 OGH, 11. 09. 1960, 4 Ob 301/60, S. 24, vgl. auch den Leitsatz zu den Entscheidungen 4 Ob 301/ 60 und 4 Ob 302/60 bei RIS. 11 Friedrich Torberg im Sachertortenstreit: Nur eine Marmeladenschicht!, Die Presse vom 11. 08. 2017, im Internet unter https://diepresse.com/home/kultur/literatur/5267362/Friedrich-Tor berg-im-Sachertortenstreit_Nur-eine-Marmeladenschicht, zuletzt abgerufen am 05. 09. 2019. 12 Torberg, Sacher und Widersacher, in: ders., Die Tante Jolesch, 18. Auflage, 1975, 311–317. 13 Torberg, Sacher und Widersacher, in: ders., Die Tante Jolesch, 18. Auflage, 1975, 314. 14 So die wörtliche Wiedergabe des zweitinstanzlichen Urteils bei Torberg, Sacher und Widersacher, in: ders., Die Tante Jolesch, 18. Auflage, 1975, 315. 15 Wiedergabe des von den Vorinstanzen festgestellten Tatbestandes in der Entscheidung des OGH, ÖBl. 1963, 6 (7).

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chen Vergleich. Entsprechend dem Ergebnis der referierten Gerichtentscheidungen bietet bis heute der Hofzuckerbäcker Demel eine einfach aprikotierte Sachertote mit dreieckigem Schokoladensiegel an, das Hotel Sacher die doppelt aprikotierte mit dem markengeschützten Rundsiegel und der Bezeichnung Original-Sachertorte.

3.

Weitere Prozesse um die Sacherspezialitäten

Nach dem Vergleich zwischen Demel und Hotel Sacher im Jahr 1963 scheint der Streit darum, wer den legendären Ruf der Familie Sacher werblich nutzen darf, für einige Zeit zum Erliegen gekommen zu sein. Ab Mitte der 1980er Jahre gab es jedoch eine Reihe weiterer Entscheidungen, die Sacherkaffee16 und Sacherwürstel17 zum Gegenstand hatten und schließlich auch erneut die Sachertorte. An dem neuen Rechtsstreit um die Sachertorte war außer der Betreiber-KG des Hotel Sacher in Wien die Betreiberin eines Hotel Sacher in Baden bei Wien beteiligt, das von Carl Sacher, einem weiteren Sohn des Stammvaters Franz Sacher, gegründet wurde. In dieser Auseinandersetzung blieb das Wiener Hotel Sieger, in erster Linie, weil der OGH annahm, das Badener Sacherhotel dürfe aufgrund eines früher geschlossenen Vergleichs keine Sachertorte mit Schokoladensiegel anbieten.18

III.

»Original« und »echt« im österreichischen und im deutschen Lauterkeitsrecht

Die folgenden Überlegungen zu den rechtlichen Hintergründen konzentrieren sich auf den Streit zwischen Demel und Hotel Sacher in den ausgehenden 1950er und frühen 1960er Jahren und vor allem auf den letzten Prozess, in dem Friedrich Torberg in den Zeugenstand trat.

1.

Das österreichische UWG

Grundlage sämtlicher Auseinandersetzungen war das österreichische Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb vom 26. September 1923. Während in Deutschland schon in den Jahren 1894 und 1909 eine spezialgesetzliche Grundlage zur Be16 OGH, 14. 01. 1986, 4 Ob 408/85 (RIS), vom OGH nach deutschem Recht entschieden. 17 OGH, 18. 05. 1999, 4 Ob 291/98t (RIS). 18 OGH, 14. 03. 2005, 4 Ob 272/04k (RIS).

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kämpfung des unlauteren Wettbewerbs geschaffen worden war, scheiterten in Österreich entsprechende Initiativen vor dem Ersten Weltkrieg. Nach Kriegsende sah sich die österreichische Regierung unter anderem aufgrund einer in Art. 226 des Friedensvertrages von Saint-Germain gegenüber den Siegermächten übernommenen Verpflichtung genötigt, ein Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb auf den Weg zu bringen.19 Das Gesetz lehnte sich explizit an das deutsche UWG an und übernahm viele Formulierungen wörtlich, nicht zuletzt damit Rechtsanwender in Österreich »Belehrung in der umfassenden deutschen Rechtsprechung und Literatur … finden« könnten.20 Nach dem so genannten Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland im Jahr 1938 blieb das österreichische Privatrecht grundsätzlich in Kraft. Jedoch wurde das deutsche UWG – wie zahlreiche weitere Gesetze auf dem Gebiet des Wirtschaftsrechts – in dem nun als »Reichsgaue der Ostmark« bezeichnete Gebiet eingeführt.21 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden manche wirtschaftsrechtliche Bestimmungen deutscher Herkunft in Geltung belassen, so das Handelsgesetzbuch und das Versicherungsvertragsgesetz. Hingegen wurde das deutsche UWG 1947 wieder durch das österreichische Gesetze von 1923 ersetzt.22

2.

Ansprüche nach Lauterkeits- und Markenrecht

Das österreichische UWG von 1923 war maßgeblich auch für den ersten oben erwähnten Prozess, in dem es um die Frage ging, ob das dreieckige Schokoladensiegel der Demel’schen Torten dem Sacher’schen Rundsiegel zu ähnlich war. Grundlage der Klage des Hotel Sacher gegen Demel war § 9 öUWG1923. Nach dieser Vorschrift konnte auf Unterlassung in Anspruch genommen werden, wer »im geschäftlichen Verkehr einen Namen, eine Firma oder die besondere Bezeichnung eines Unternehmens … in einer Weise benützt[e], die geeignet ist, Verwechslungen mit dem Namen, der Firma oder der besonderen Bezeichnung hervorzurufen, deren sich ein anderer befugterweise bedient[e]«. Diese Vor19 Allgemeine Bemerkungen zum Entwurf eines Bundesgesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Nationalrates, 1. Gesetzgebungsperiode, Beilage 464, 19. 20 Allgemeine Bemerkungen zum Entwurf eines Bundesgesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb, Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Nationalrates, 1. Gesetzgebungsperiode, Beilage 464, 20. 21 Verordnung zur Einführung des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb und der Zugabeverordnung in den Reichsgauen der Ostmark und im Reichsgau Sudentenland, RGBl. 1940, 883. 22 Bundesgesetz vom 11. Juni 1947 über die Wiederherstellung des österreichischen Wettbewerbsrechts (Wettbewerbsrecht-Überleitungsgesetz, W-ÜG), öBGBl. 145/1947.

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schrift war nahezu identisch mit § 16 dUWG1909. Heute wäre § 5 Abs. 2 Nr. 2 dUWG einschlägig. Während aber § 16 dUWG1909 nach Abs. 3 S. 2 der Vorschrift auf eingetragene Marken nicht anzuwenden war, galt § 9 öUWG1923 ausdrücklich auch für den Markenschutz, weil im österreichischen Markenschutzgesetz von 1890 kein Unterlassungsanspruch vorgesehen war.23 In Österreich stand also dem Markeninhaber wegen Verwendung eines ähnlichen Zeichens durch einen Mitbewerber allein der lauterkeitsrechtliche Anspruch zu, während nach damaligem deutschen Recht nur ein markenrechtlicher Anspruch (nach »allgemeinen Rechtsgrundsätzen«) bestand und im heutigen deutschen Recht marken- und lauterkeitsrechtliche Ansprüche aus § 14 Abs. 5, Abs. 2 Nr. 2 MarkenG und §§ 8 Abs. 1, 3, 5 Abs. 2 dUWG nebeneinanderstehen.24 Sacher konnte sich also zum Schutz seiner eingetragenen Wortbild-Marke auf § 9 öUWG1923 als Anspruchsgrundlage stützen, scheiterte aber, weil die Verwechslungsfähigkeit verneint wurde.

3.

Ansprüche wegen Irreführung

Für die weiteren Auseinandersetzungen zwischen Hofzuckerbäcker Demel und Hotel Sacher bot § 2 öUWG1923 die Anspruchsgrundlage. Diese Norm entsprach § 3 dUWG1909 und gewährte einen Unterlassungsanspruch unter anderem bei unrichtigen Angaben über die Beschaffenheit, den Ursprung oder die Herstellungsart von Waren. Das heutige Pendant ist § 5 Abs. 1 Nr. 1 dUWG. Im ersten Rechtsstreit um die Bezeichnung von Bonbonnieren, die durch eine Drittfirma gefertigt worden waren, als »Original Sacherspezialitäten Hotel Sacher Wien« sah der OGH eine Irreführung darin, dass »Zuckerbäcker- und Schokoladenwaren« als Original-Sacherspezialitäten angeboten wurden, obwohl sie keinen Bezug zu alten Rezepten der Familie Sacher hatten. Bei anderen Waren, zum Bespiel den so genannten Sacherwürsteln, war nach Einschätzung des Gerichts eine andere Entscheidung denkbar. Bei Konditorwaren, die als Sacherspezialitäten bezeichnet wurden, musste hingegen aus Sicht des OGH »das den historischen Begriff der Sacherspezialität, der für die Sachertorte geschaffen wurde, charakterisierende Moment, nämlich die Herstellung nach Rezepturen der alten Familie Sacher« zwingend gegeben sein, damit von einer Sacherspezialität gesprochen werden konnte: 23 Erläuternde Bemerkungen zu der Vorlage der Bundesregierung, betreffend ein Bundesgesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, Stenographische Protokolle über die Sitzungen des Nationalrates, 1. Gesetzgebungsperiode, zu Beilage 464, 10. 24 Zum Verhältnis der beiden Vorschriften Bornkamm / Feddersen, in: Köhler / Bornkamm, Feddersen (Hg.), Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 37. Auflage, 2019, § 5 Rz. 9.8f.

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»So wie es unzweifelhaft ist, daß eine nicht nach Rezepten der alten Familie Sacher hergestellte Torte nicht richtig bezeichnet ist, wenn sie ›Original-Sachertorte‹ genannt wird, so ist dies auch bei anderen Zuckerbäcker- und Schokoladewaren der Fall. Wird zu dem Wort ›Sacherspezialität‹ in bezug auf Zuckerbäcker- und Schokoladewaren noch das Wort ›Original‹ beigefügt, so ist die Unrichtigkeit der Bezeichnung besonders offenkundig und die Möglichkeit der Irreführung des kauflustigen Publikums evident.«25

Vermutlich waren es diese Sätze, die es für die Betreiber des Hofzuckerbäcker Demel nahelegten, in einem weiteren Verfahren eben die Vermarktung der Sachertorten des Hotels als »Original-Sachertorten« anzugreifen. Schließlich hatte der OGH ja ausdrücklich die Verwendung von »Rezepten der alten Familie Sacher« zur Voraussetzung der Bezeichnung als »Original« gemacht. Schon die erste Entscheidung des OGH in dem Prozess, in dem Demel vom Hotel Sacher die Unterlassung der Bezeichnung ihrer Version der Torte als »Original-Sachertorte« forderte, aus dem Jahr 1960 milderte das Erfordernis der Rezepttreue ab. Der OGH bestätigte zwar die Erforderlichkeit einer weiteren Beweisaufnahme zur Frage, ob die im Hotel erzeugte Torte dem Originalrezept entsprach. Die verwendeten Formulierungen deuteten aber an, dass die Herkunft der Torte aus dem ursprünglichen Herstellerbetrieb und die Verwendung der Originalrezeptur in gleicher Weise bedeutsam für die Zulässigkeit der Bezeichnung als »Original« seien. Die Bedeutung der Herkunft aus dem ursprünglichen Herstellungsbetrieb hatte der OGH schon im Jahr 1951 betont. Auch in dem damaligen Rechtsstreit ging es um eine Torte: die heute weniger berühmte Pischinger Torte.26 Das Handelsgericht Wien trat – nach der Zurückverweisung – gleichwohl in eine Beweisaufnahme zur Frage der Rezepttreue ein. Warum gerade Friedrich Torberg als Zeuge geladen wurde, lässt sich nicht rekonstruieren. Nach eigenem Bekunden mochte er die Sachertorte im Gegensatz zum Tafelspitz des Hotel Sacher und der Creme du jour des Hofzuckerbäcker Demel gar nicht.27 Unklar ist auch, welche weiteren Beweismittel das Gericht dazu veranlassten, Torbergs Aussage, zu Anna Sachers Zeiten sei nur einfach aprikotiert worden, keinen vollen Glauben zu schenken. Am Ende stand, wie schon berichtet, die Feststellung, dass »auch schon zu Anna Sachers Zeiten, jahrein, jahraus, ebensooft, also nicht bloß als eine dem alten Rezept nicht entsprechende Variante die Sachertorte mit Durchschneiden in der Mitte und Füllung mit Marmelade erzeugt und auch diese als ›Original-Sachertorte‹ verkauft worden sei«.28

25 26 27 28

OGH SZ 31/136. OGH, 11. 07. 1951, 4 Ob 489/51, SZ 24/184 (zitiert nach RIS). Torberg, Sacher und Widersacher, in: ders., Die Tante Jolesch, 18. Auflage, 1975, 317. OGH ÖBl. 1963 6 (7).

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Aufgrund dieser tatsächlichen Feststellungen konnte der OGH entscheiden, dass auch die doppelt aprikotierte Variante der Sachertorte den Rezepten der alten Familie Sacher entsprach, denn Anna Sacher gehörte ja, wenn auch nur aufgrund Heirat, zur Familie und hatte den Hotelbetrieb lange Zeit geprägt. Tatsächlich argumentierte der OGH in diesem Sinne, fügte aber noch eine Hilfsbegründung an: Die doppelte Aprikotierung sei keine nennenswerte Abweichung vom Originalrezept, sondern eine bloße Weiterentwicklung und überdies geringfügig. Vielleicht lag es daran, dass der prominente Zeuge Friedrich Torberg darauf beharrt hatte, zu Zeiten Anna Sachers sei nur die einfache Aprikotierung üblich gewesen, und diesen Standpunkt auch in seinem feuilletonistischen Bericht über den Prozess wiederholte, dass sich der OGH veranlasst sah, das Ergebnis zusätzlich abzusichern. Jedenfalls wurde die in der Hilfsbegründung liegende Relativierung des Erfordernisses der Treue zum ursprünglichen Herstellungsverfahren vom OGH später in seiner Entscheidung zur »Original Austria Mozartkugel« wiederholt29 und fand auch Eingang in die Kommentarliteratur.30

4.

Herkunft und Rezepttreue: Ein bewegliches System

Insgesamt ergab sich aufgrund der Entscheidungen des OGH gewissermaßen ein bewegliches System aus den zwei Voraussetzungen Herkunft und Treue zum ursprünglichen Herstellungsverfahren für die Verwendung der Bezeichnung »Original«. Beide Punkte spielten in späteren Prozessen eine Rolle. Die Vermarktung einer »Original Austria Mozartkugel« wurde wegen einer deutlichen Abweichung vom traditionellen Rezept der Salzburger Mozartkugel untersagt. Auf den Einwand, die neue Kugel werde ja gar nicht als Salzburger Mozartkugel, sondern eben als Austria Mozartkugel beworben, entgegnete der OGH: »Auch die ›Salzburger Mozartkugel‹ ist eine ›Austria Mozartkugel‹, stammen doch beide aus Österreich. Mit der Auffassung, daß die Grundsätze der Entscheidung ÖBl 1963, 6 – Original Sachertorte nur dann auf den vorliegenden Fall angewendet werden könnten, wenn (zB) über die Zulässigkeit der Bezeichnung ›Original Grazer Sachertorte‹ entschieden worden wäre, übersieht das Rekursgericht, daß zwar eine Wiener Sachertorte keine Grazer Sachertorte, wohl aber jede Salzburger oder Wiener Mozartkugel auch eine ›Austria Mozartkugel‹ ist.«31

Demgegenüber wurde einem Konkurrenten des Hotel Sacher die Vermarktung von »Original Wiener Sacher Würstel« mit der Begründung untersagt, dass damit 29 OGH, 12. 08. 1996, 4 Ob 2131/96b (RIS). 30 Anderl / Appl, in: Wiebe / G. E. Kodek (Hg.), Kommentar zum UWG, 2009, § 2 Rz. 266. 31 OGH, 12. 08. 1996, 4 Ob 2131/96b (RIS).

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eine Herkunft aus dem Hotel Sacher vorgetäuscht werde. Auf Rezepttreue konnte es in diesem Fall nicht ankommen, denn die Sacherwürstel unterscheiden sich nach der Aussage des OGH nicht von gewöhnlichen Frankfurter oder Wiener Würsteln.32

5.

Das deutsche Recht

Bei einem vergleichenden Blick auf die Rechtslage in Deutschland fällt zunächst auf, dass in Deutschland andere Produkte im Vordergrund stehen. Geht es in Österreich um die Pischinger- und die Sachertorte, Sacher-Würstel und Mozartkugeln, so betreffen die Leitentscheidungen der deutschen Gerichte Maschinenpistolen,33 Auto-Ersatzteile,34 Kunstleder35, Latex-Matratzen36 und Patienten-Aufklärungsbögen.37 Im Bereich der Nahrungs- und Genussmittel fallen Entscheidungen zu Magenbitter38 und Bier39 ins Auge. – Um ein Produkt der feineren Lebensart geht es immerhin in der Entscheidung des BGH zur Zulässigkeit der Bezeichnung »Original Maraschino«,40 dem bezeichnenderweise ein Streit zwischen zwei ausländischen Herstellern zugrunde lag. Einer von beiden war die Firma Luxardo, wie Demel und Sacher ein ehemaliger K.u-K.-Hoflieferant, die nach dem Zweiten Weltkrieg ihren Sitz aus Zadar in Kroatien nach Genua verlegen musste. Auch inhaltlich zeigen sich andere Schwerpunkte. Viel diskutiert wird die Frage, ob ein Kunststoffprodukt als »Original« bezeichnet werden darf oder ob damit der falsche Eindruck erweckt wird, es handele sich um ein Naturprodukt.41 Ansonsten scheint die Herkunft aus einem bestimmten Betrieb im Vordergrund zu stehen, während die Beachtung eines bestimmten Herstellungsverfahrens eine geringere Rolle zu spielen scheint als in Österreich. Vielleicht ist es bezeichnend, dass Weidert im Kommentar von Harte-Bavendamm/Henning-Bodewig die Aussage, das Wort »echt« könne »so verstanden werden, … dass die beworbene Ware … nach einem Original-Rezept hergestellt wird« mit der »Original Berg32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

OGH, 18. 05. 1999, 4 Ob 291/98 t (RIS). RG, 08. 02. 1939, II 107/38, GRUR 1939, 486 (Original Bergmann). BGH, 16. 10. 1962, KZR 2/62, GRUR 1963, 142. BGH, 03. 05. 1963, Ib ZR 93/61, GRUR 1963, 539 (echt skai). KG, 16. 10. 1984, 5 U 4395/84, GRUR 1985, 298. OLG Hamburg, 31. 03. 2005, 5 U 89/04, NJOZ 2005, 5059. BGH, 26. 02. 1960, I ZR 166/58, GRUR 1960, 384 (Mampe Halb und Halb). Etwa OLG München, 21. 12. 2000, 29 U 1869/00, NJOZ 2003, 2947. BGH, 18. 09. 1981, I ZR 11/80, GRUR 1982, 111. Weidert, in: Harte-Bavendamm / Henning-Bodewig, Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb, 4. Auflage, 2016, § 5 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 Rz. 47; Köhler/Bornkamm/Feddersen-Bornkamm/ Feddersen, § 5 Rz. 2.88; vgl BGH GRUR 1963, 539.

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mann Entscheidung« des Reichsgerichts belegt, in der es nicht um ein Nahrungsmittel ging, sondern um die Herstellung von Kleinkaliberwaffen. Überdies spielt in dem Urteil des Reichsgerichts die Herstellungsmethode nur eine untergeordnete Rolle. Im Mittelpunkt steht die Firmentradition des Waffenerfinders Theodor Bergmann (1850–1931). In einer späteren, vielzitierten Entscheidung erscheint die deutsche Rechtsprechung – im Vergleich zum österreichischen beweglichen System übermäßig rigide: Der Betreiber eines Bettenhauses bewarb eine Matratze als »OriginalDunlopillo Latex-Matratze Noblesse«. Die Matratze stammte vom Hersteller Dunlopillo und war aufgebaut wie die Matratzen dieses Herstellers im aktuellen Programm, war aber mit einem Bezugsstoff (Drell) bezogen, der nicht mehr zur aktuellen Kollektion gehörte. Nach Ansicht des Kammergerichts gestattete diese Abweichung vom aktuellen Programm nicht die Anpreisung als Originalware. Daher wurde die Verwendung der Bezeichnung »Original-Dunlopillo LatexMatratze Noblesse« auf Klage eines anderen Bettenhausbetreibers untersagt. Die Anwendung des beweglichen Systems und des Grundsatzes, dass geringfügige Abweichungen in der Herstellungsmethode unschädlich sind, hätte in diesem Fall vielleicht ein anderes Ergebnis gerechtfertigt. Möglicherweise hätte es sich auch in dem Streit zwischen dem nach Genua gezogenen Maraschino-Produzenten Luxardo und einer in der MaraschinoHeimat Zadar neu gegründeten Produzentin des Kirschlikörs angeboten, mit Herkunft (im geographischen Sinn wie im Hinblick auf die Firmentradition) und Rezepttreue als den maßgeblichen Kriterien zu operieren. Dann hätte sich vielleicht das Gewicht stärker zugunsten des italienischen Herstellers verschoben, für den Firmentradition und die Treue zu einem traditionellen Rezept sprachen. Das Schweizer Bundesgericht kam in einer Parallelentscheidung zu einer für das italienische Traditionsunternehmen günstigeren Einschätzung.42 Unabhängig von den Ergebnissen im Einzelfall erscheint das Abstellen auf Herkunft und Herstellungsmethode im Rahmen eines beweglichen Systems jedenfalls als eine zutreffende Bestimmung des Verständnisses, das das Publikum mit den Worten »echt« und »original« verbindet und als glücklicher Ansatz für eine transparente Darstellung der leitenden Gesichtspunkte. Es ist insofern bedauerlich, dass die österreichischen Entscheidungen zur Sachertorte und anderen Spezialitäten in Deutschland nicht rezipiert wurden.

42 BG, 28. 01. 1986, GRUR-Int 1989, 231.

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IV.

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Ausblick

Die Bedeutung der Sachertorte als österreichisches gastronomisches Kulturgut – oder, modern gesprochen, als ikonisches Produkt, spiegelt sich in der Verbissenheit, mit der das Hotel Sacher und der Hofzuckerbäcker Demel darum kämpften, eine »Original-Sachertorte« anbieten zu dürfen. Aus der Beschäftigung mit diesem Stücke neuester Rechtsgeschichte konnte zumindest der Verfasser dieses Beitrages vieles über das Lauterkeitsrecht in Österreich und Deutschland und die wechselvolle gemeinsame Geschichte der beiden nah verwandten Rechtsordnungen lernen. Wie der Vergleich des deutschen und österreichischen Rechts zeigt, hat der Kampf ums Recht an der Sachertorte womöglich dazu beigetragen, dass die Zulässigkeit der Vermarktung einer Ware als »Original« in Österreich etwas differenzierter betrachtet wird als in Deutschland. Trifft das zu, dann hat Friedrich Torberg neben einem großen Kapitel Literaturgeschichte vielleicht auch einige Zeilen Rechtsgeschichte mit seinem Zeugnis über die einfache Aprikotierung geschrieben. Allemal hat sich hoffentlich ergeben, dass nicht nur ein ›erhabner Geist‹ wissen kann und sollte, wie man ein Gemüse zubereitet, sondern auch ein Jurist, wie man eine Sachertorte bäckt.

Alexander Nebrig

Das Übersetzungsrecht als Faktor einer multilateralen Literaturgeschichte

I.

Einleitung

»D i e i d e a l e u n d m a t e r i e l l e H e r r s c h a f t ü b e r d a s We r k i s t d a s U r h e b e r r e c h t . «1 Die 1898 von juristischer Seite erfolgte Definition gehört seit der Studie von Heinrich Bosse Autorschaft ist Werkherrschaft (1981)2 zum Basiswissen in Sachen Literatur und Urheberrecht. Ohne Zweifel handelt es sich mittlerweile, zumal in der an Bosse anknüpfenden angelsächsischen Diskussion,3 um ein bedeutendes, nur noch schwer zu überblickendes Forschungsfeld. Trotz des Interesses, das durch die jüngsten Plagiatsdebatten4 und die Diskussion um das Verhältnis des Urheberrechts zur Medienentwicklung5 auch außerhalb der akademischen Forschung zu beobachten ist, fällt eine Beschränkung der Fragestellungen auf nationalsprachliche Horizonte auf. Gewiss handelt es sich beim Copyright oder Urheberrecht um territorial begrenzte Rechte. So etwas wie ein internationales Urheberrecht gibt es nicht. Aber bilaterale Verträge oder inter1 Mitteis, Zur Kenntnis des litterarisch-artistischen Urheberrechts, in: Festschrift zum siebzigsten Geburtstage Sr. Excellenz Dr. Joseph Unger, Stuttgart 1. Aufl. 1898, S. 102. 2 Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn 1. Aufl. 1981, machte den juristischen Terminus der »Werkherrschaft« (Hirsch, Die Werkherrschaft, in: UFITA, 36, 1962, S. 19–54) für die Literaturwissenschaft fruchtbar, vgl. Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin 1. Aufl. 2007, S. 13–22. 3 Bahnbrechend für die englischsprachige Forschung war Woodmansee, The Genius and the Copyright: Economic and Legal Conditions of the Emergence of the ›Author‹, in: EighteenthCentury Studies 17, Nr. 4 (1984), S. 425–448, die in Bosse ihren Anreger sieht (S. 431). Weitere wichtige Studien sind Woodmansee, The Author, Art, and the Market: Rereading the History of Aesthetics, New York 1. Aufl. 1994; Woodmansee, Jaszi, The Law of Texts: Copyright in the Academy, in: College English 57, Nr. 7 (1995), S. 769–787; Saint-Amour, The copywrights. Intellectual property and the literary imagination, Ithaca, N.Y. 1. Aufl. 2003; Saint-Amour (Hg.), Modernism and copyright. Modernist literature and culture, Oxford 1. Aufl. 2011. 4 Theisohn, Plagiat. Eine unoriginelle Literaturgeschichte, Stuttgart 1. Aufl. 2009. 5 Wadle, Die Entfaltung des Urheberrechts als Antwort auf technische Neuerungen, Technikgeschichte, 52 (1985), Nr. 3, S. 233–244.

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nationale Abkommen wie die Berner Übereinkunft von 1886 garantierten einen gegenseitigen Rechtsschutz und schufen damit die Möglichkeit, Werkherrschaft jenseits des eigenen Sprachraumes auszuüben. Daher sollte man meinen, dass sich die literaturgeschichtliche und kritische Aufmerksamkeit auf die grenzüberschreitende Kontrolle literarischer Werke sowie auf die Möglichkeitsbedingungen einer solchen Kontrolle längst gerichtet hätte. Doch abgesehen von buchwissenschaftlichen Studien zum globalen Literaturmarkt und literaturgeschichtlichen Rezeptionsstudien, die meist die urheberrechtliche Seite unberücksichtigt lassen, sind Untersuchungen zur Dialektik der urheberrechtlichen Bedingtheit von Literatur auf internationaler oder globaler Ebene rar.6 In materieller Hinsicht schlug die Werkherrschaft dadurch zu Buche, dass Autoren seit dem 19. Jahrhundert für Übersetzungen ihrer Werke honoriert wurden. Die Abrechnungsordner in Verlagsarchiven dokumentieren die interlinguale Verwertung im Auftrag der Urheber. Weniger deutlich ist, worin die immaterielle oder ideale Kontrolle bestand. Wie veränderte das Urheberrecht die Bedingungen des Schreibens und der interformativen, intergenerischen, interlingualen und intermedialen Kreativität, d. h. die Übertragung von geschützten Werken in andere Formate, Gattungen, Sprachen und Medien? Betraf die materielle als ökonomische Kontrolle mehr die Geschichte des Wirtschaftszweiges Buch, so betraf die immaterielle Kontrolle die allgemeine Poetik. Obgleich weiterhin abhängig von Verlegern, verfügte der zum Urheber immaterieller Güter avancierte literarische Autor7 theoretisch und praktisch über die Rezeptions- und Umgangsformen seiner Texte. Auf Wertschöpfungsebene wurde mit der Lizenzierung zwischen die Stufen der geistigen Schöpfung von literarischen Werken und der materiellen Herstellung von Büchern eine neue Stufe hinzugefügt. Leser erhielten mit dem Kauf des Buches nicht mehr nur das bedruckte Papier, sondern auch eine Nutzungslizenz; wer jenes Werk in anderen Gattungen und Medien bearbeiten oder in andere Sprachen übersetzen wollte, bedurfte ebenfalls einer Erlaubnis. Vermittlung und Verbreitung von Literatur waren zu keinem geringen Teil durch Urheber kontrollierte Vorgänge geworden. Das Urheberrecht hatte ebenfalls literatursoziologische Folgen, insofern beispielsweise Agenturen8 als neue Partner der Autoren den Verlagen Konkurrenz machten. 6 Zu Arthur Schnitzler s. Beniston, Schnitzler und die »Uebersetzungs-Miseren«, in: Lukas (Hg.), Textschicksale. Das Werk Arthur Schnitzlers im Kontext der Moderne, Berlin 1. Aufl. 2017, S. 251–266. 7 Löhr, »Zum Schutze der Geistesschöpfungen auf der ganzen Welt«. Die Geschichte der internationalen Verrechtlichung des Autorenschutzes 1850–1952, in: Zeitschrift für geistiges Eigentum 1, Nr. 3 (2009), S. 294–298. 8 Hillebrand, Literarische Agenturen im deutschsprachigen Raum, Wiesbaden 1. Aufl. 1993; Graf, Literatur-Agenturen in Deutschland (1868–1939), in: Buchhandelsgeschichte 4 (1998),

Das Übersetzungsrecht als Faktor einer multilateralen Literaturgeschichte

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Wenn im Folgenden vom Übersetzungsrecht als Faktor einer multilateralen Literaturgeschichte die Rede ist, dann liegt der Fokus auf der interlingualen und interterritorialen Werkkontrolle, wie sie seit dem 19. Jahrhundert bestand, indem Werke als immaterielle Güter begriffen worden sind, für deren Nutzung, Bearbeitung und Übersetzung unter Umständen Rechte eingeholt werden mussten. Seither, so die These, gibt es nicht nur eine Geschichte der Literaturbeziehungen, des literarischen Austauschs, der Vermittlung und Übersetzung, sondern eine Geschichte des internationalen Marktes. Waren Papyri, Kodizes, Papiermanuskripte und gedruckte Bücher zweifelsfrei auch jenseits ihrer Entstehungsräume im Umlauf, so handelte es sich dabei um eine grenzüberschreitende Nachfrage nach körperlichen Gütern. Undenkbar wäre es noch im 18. Jahrhundert gewesen, eine Erlaubnis zu erwerben, um Texte in einer anderen Sprache zu verbreiten. Obzwar sich der im 19. Jahrhundert einsetzende moderne Handel mit immateriellen literarischen Gütern meist auf lokale Vertriebsgebiete erstreckte und Autoren nur Format und Auflagenzahl sanktionierten, gab es von Anfang an ein interterritoriales und internationales ökonomisches Interesse und mit diesem einen internationalen Literaturmarkt. So wie der Handel mit lateinischen Drucken auf der Frankfurter Buchmesse während der frühen Neuzeit einen internationalen, genauer westeuropäischen ›Buchmarkt‹ konstituierte, so begründete ab dem 19. Jahrhundert der Handel mit Gegenwartsliteratur den internationalen ›Literaturmarkt‹ und seine Sonderform des ›Übersetzungsmarktes‹. Goethes Verständnis der Weltliteratur als »geistigen Handelsverkehr[s]«9 oder Karl Marx’ Engführung von Weltmarkt und Weltliteratur10 kündigten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den künftig weltweiten Ideenhandel an (freilich blieb die Marktrealität bis weit in das 20. Jahrhundert europäisch). Der Diskurs über Weltliteratur war aber nicht nur ein ökonomischer, sondern auch ein juristischer. Milosˇ Vec gesellt zu dem Dichter Goethe und dem Ökonomen Marx den Staatswissenschaftler Karl Vollgraff, der schon 1828 registrierte, dass es auf Handels- und Kulturebene »kein Ausland mehr gebe«.11 Die von Goethe formulierte Frage, welche Rolle Technik und Wirtschaft für die Weltliteratur spiele, B 170–B 188; Fischer (Hg.), Literarische Agenturen – die heimlichen Herrscher im Literaturbetrieb?, Wiesbaden 1. Aufl. 2001; Gillies, The Professional Literary Agent in Britain, 1880– 1920, Toronto 1. Aufl. 2007; Thompson, Merchants of culture. The publishing business in the twenty-first century, New York 2. Aufl. 2012, S. 59–100. 9 Goethe, [Einleitung], in: Carlyle, Leben Schillers, Frankfurt a. M. 1. Aufl. 1830, S. [VII]. 10 Marx, Engels, Manifest der kommunistischen Partei, London 1. Aufl. 1848, S. 5; vgl. Koch, Weimaraner Weltbewohner. Zur Genese von Goethes Begriff »Weltliteratur«, Tübingen 1. Aufl. 2002, S. 3. 11 Vec, Weltverträge für Weltliteratur. Das Geistige Eigentum im System der rechtsetzenden Verträge des 19. Jahrhunderts, in: Pahlow (Hg.), Grundlagen und Grundfragen des geistigen Eigentums, Tübingen 1. Aufl. 2008, S. 115; Vollgraff, Moderne Politik, oder über die Verhältnisse der modernen Staten [!], Gießen 1. Aufl. 1829, S. 180.

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Alexander Nebrig

stellte 1845 ebenso der Völkerrechtler Heinrich Bernhard Oppenheim. Vec erinnert an dessen Überlegungen zu einer »kosmopolitischen Verbreitung der Literaturen« durch das Recht.12 Geschichtlich gesehen, ist der grenzüberschreitende Handel mit materialisierten Texten in vormoderner Zeit unbestritten, nicht aber die internationale Marktfähigkeit immaterieller literarischer Güter. Auf vormodernen internationalen Märkten wurden nur materielle Buchgüter umgeschlagen, auf modernen Märkten hingegen materielle und immaterielle Güter zugleich.13 Der immaterielle grenzüberschreitende Literaturmarkt besteht hauptsächlich im Lizenzhandel: »Das Buch steht hier als Synonym für Titel und umfaßt die Urheberrechte an einem geistigen Werk. Der Warenaustausch findet hierbei als Handel mit Lizenzen statt, bezieht sich also auf den An- und Verkauf von Urheberrechten an Texten mit dem Ziel ihrer Übersetzung und Lizenzauflage.«14

Für den Übersetzungsverkehr sei »der Lizenzhandel weitaus bedeutender als der körperliche Austausch von Büchern.«15 Ausgehend von diesem Befund, lässt sich behaupten, dass die Geschichte des globalen Literaturmarktes in der Mitte des 19. Jahrhunderts begann, als in Europa Nationalstaaten wie Frankreich, Imperien wie Großbritannien und die deutschen und italienischen Territorialstaaten dazu übergingen, ihre Buchmärkte durch bilaterale Abkommen zu verbinden. Auf Basis des Urheberrechts schützten sie gegenseitig die immateriellen Werke ihrer Autoren vor Nachdruck, Bearbeitung oder Übersetzung und später dann im Zuge des medientechnischen Fortschritts vor weiteren Verwertungsarten wie der Verfilmung. Durch ihren urheberrechtlichen Schutz geriet Literatur in eine Beziehung zu ihren Verwertungsarten und Literaturgeschichte in Abhängigkeit zur Geschichte des Urheberrechts. Viele der Fragen, die das Verhältnis von geistiger Schöpfung von Literatur, ihrer materiellen Herstellung, ihrer medienspezifischen Zirkulation einschließlich Vertrieb und Kritik betreffen, entstanden keineswegs erst mit der Herausbildung von Lizenzräumen. Durch sie wurden zwar die materialen 12 Vec, Weltverträge für Weltliteratur, S. 115. Weiter nennt er Otto Dambach, der 1887 vom »kosmopolitischen Charakter« (zitiert bei Vec, Weltverträge für Weltliteratur, S. 116) der Druckwerke spricht, um schließlich Goethes Weltliteraturbegriff zu empfehlen. 13 In den bisherigen Darstellungen zum Gegenstand des internationalen Buch- und Literaturmarktes wird zwischen der materiellen und der immateriellen Dimension nicht systematisch unterschieden (Menz, Der europäische Buchhandel seit dem Wiener Kongreß, Würzburg 1. Aufl. 1941; Volpers, Der internationale Buchmarkt, in: Leonhard [Hg.], Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen, Bd. 3, München 1. Aufl. 2002, S. 2649–2660; Norrick-Rühl, Internationaler Buchmarkt, Frankfurt am Main 1. Aufl. 2019). 14 Volpers, Der internationale Buchmarkt, S. 2649. 15 Ebd.

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und medialen Bedingungen der Literatur um die spekulative Logik des lizenzbasierten Verwertens erweitert, aber ohne, dass sich sagen ließe, ob dadurch Materialität und Medialität der Literatur in eine historisch neue Phase eingetreten wären. Für viele Texte der Literatur, für die nachweislich die Lizenzierung keine Rolle spielte, konnte gezeigt werden, wie sie mit den in ihrer Epoche üblichen Praktiken des Schreibens, den gängigen Formaten und Modalitäten des Erscheinens16 oder den Techniken des Druckens und Lesens korrelierten. Dass der Buchdruck neue Genres wie den Roman beförderte, ist allgemeines Wissen; aber auch der Vertrieb in Leihbibliotheken17 und seriellen Vertriebsformen wie der Lieferungsliteratur (Kolportage) tangierte das literarische Erzählen. Es ist also nicht so sehr der Eintritt der Literatur in den Lizenzraum, der ein Umdenken seitens der Akteure und ihrer wissenschaftlichen Beobachter bewirkte. Der Eintritt schuf zwar ein Bewusstsein für die prinzipielle Verwertbarkeit geistiger Güter, führte aber keineswegs dazu, dass sich Schreibende anders als vorher auf ihre mediale Umwelt bezogen. Was hingegen zu einer kategorialen Verschiebung gegenüber der vormodernen Epoche führte, war die multilaterale Qualität des literarischen Lizenzraumes. Denn das Gegenseitigkeitsprinzip in den ersten bilateralen Verträgen (seit 1840)18 und den späteren multilateralen Abkommen der Berner Übereinkunft (1886) und des Genfer Welturheberrechtsabkommens (1952) regelte nicht nur den Vertrieb eines Textes in anderen Territorien, sondern ebenso seine Übersetzung. Ab den 1850er Jahren entstanden zunehmend ›autorisierte Übersetzungen‹, und Originale wurden mit dem Hinweis veröffentlicht, das Übersetzungsrecht bleibe vorbehalten.19 Die neue Lateralität schuf die Möglichkeit einer vom Original unabhängigen Literatur, einer Literatur, die darauf angelegt ist, in Übersetzung gelesen zu werden. Man hat diese neue Tendenz mit der prägnanten Formel ›born translated‹ erfasst, ohne sie im Zusammenhang mit den rechtlichen Rahmenbedingungen zu beurteilen.20 Ein maßgebliches Differenzkriterium bildete jedoch das Übersetzungsrecht, weil es garantierte, dass Werke auf dem internationalen Literaturmarkt gehandelt und verwertet werden konnten. In der langen Phase vor der Kodifizierung des Übersetzungsrechts und in Territorien, die nicht 16 Spoerhase, Das Format der Literatur. Praktiken materieller Textualität zwischen 1740 und 1830, Göttingen 1. Aufl. 2018. 17 Martino, Die deutsche Leihbibliothek. Geschichte einer literarischen Institution (1756–1914), Wiesbaden 1. Aufl. 1990, S. 623–644. 18 Das erste bilaterale Abkommen schlossen Österreich und Sardinien, vgl. Hofmeister, Der österreichisch-sardinische Urheberrechtsvertrag von 1840, in: Dittrich (Hg.), Die Notwendigkeit des Urheberrechtsschutzes im Lichte seiner Geschichte, Wien 1. Aufl. 1991, S. 239–251. 19 [Gutzkow], Internationales Autor- und Verlagsrecht, in: Unterhaltungen am häuslichen Herd 3.1 (1861), Nr. 28, S. 558. 20 Walkowitz, Born translated. The contemporary novel in an age of world literature, New York 1. Aufl. 2015.

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an das internationale Urheberrechtsregime angeschlossen waren oder in denen illegale literarische Transfers getätigt wurden, war die Marktförmigkeit der interlingualen Übersetzung nicht gegeben. Es bestand schlichtweg keine Dialektik von Angebot und Nachfrage, und der Übersetzungsverkehr erfolgte einseitig aus den Interessen der Aufnahmekultur. Gleichwohl formierte sich seit dem 19. Jahrhundert auch jenseits der internationalen Lizenzräume ein Bewusstsein für deren Existenz: Literatur war somit auch hier im Entstehungsprozess latent in anderen Sprachen verwertbar. Die Möglichkeit, die fremdsprachige Rezeption des eigenen Werkes nicht nur zu beobachten, sondern auch mitzugestalten oder wenigstens von ihr zu profitieren, führte unter den Schreibenden der modernen Epoche, die im 19. Jahrhundert begann, zu einem Paradigmenwechsel, der einer Untersuchung harrt.

II.

Von der Übersetzungsfreiheit zum Übersetzungsrecht

Der schriftkulturelle Normalzustand für den interlingualen Verkehr ist die Übersetzungsfreiheit. Von der Antike bis zum Buchdruck wurden Manuskripte übersetzt, ohne den Autor zu fragen, ob und wie übersetzt werde. Einen Sonderfall stellte die Übersetzung sakraler Texte dar. Nicht aus urheberrechtlicher, sondern aus religions- und kulturpolitischer Intention heraus verboten Gemeinschaften das Übersetzen ihrer heiligen Schriften in andere Sprachen, genauso wie sie die Übersetzung und die Verbreitung politisch nicht genehmer Schriften verhinderten oder bestraften. Den beiden Fällen jedoch, dass ein Werk in einem anderen Territorium vor Übersetzung geschützt war und dass Autoren Übersetzungen eigener Schriften verhinderten oder erlaubten, wird man aufgrund der urheberrechtlichen Indifferenz von Manuskriptkulturen nicht begegnen. Auch der Buchdruck änderte nichts an der prinzipiellen Übersetzungsfreiheit. Seine Erfindung brachte das Problem des illegalen Nachdrucks mit sich, wogegen sich Drucker und Verleger durch territorial begrenzte und von der Obrigkeit vergebene Privilegien schützen konnten. Folglich stand im Zentrum der juristischen Diskussion bis zum Ende des Handpressenzeitalters (1810) der Nachdruck, was bedeutete, dass die Einschränkung der Übersetzungsfreiheit möglich wurde, sobald man eine alternative Übersetzung als Nachdruck begriff. Eine solche Einschränkung stellte das Leipziger Mandat von 1773 dar,21 wodurch man 21 Auf Betreiben der Leipziger Verleger Philipp Erasmus Reich und Immanuel Breitkopf wurde es von der Leipziger Bücherkommission eingeführt, die wiederum dem kursächsischen Kirchenrat unterstand. Vgl. Kirchhoff, Versuch einer Geschichte des deutschen Buchhandels im XVII. und XVIII. Jahrhundert bis zu Reich’s Reformbestrebungen, Leipzig 1. Aufl. 1853,

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konkurrierende Übersetzungen auf dem Messeplatz Leipzig – d. h. innerhalb eines großen Handelsgebietes für deutsche Bücher – wie Nachdrucke behandelte. Diese von Sachsen ausgehende Einschränkung zugunsten des Erstverlegers schützte jede Übersetzung, die in der in Leipzig liegenden Bücherrolle verzeichnet worden war, vor Konkurrenzübersetzungen.22 Die zeitgenössische Theorie hat eine solche Praxis nicht bestätigt. In seinem Standardwerk Der Büchernachdruck nach ächten Grundsätzen des Rechts geprüft zählte Johann Stephan Pütter noch 1774 Übersetzungen zu jenen Werken, »die ein jeder aus natürlicher Freyheit verfertigen und verlegen kann, ohne daß einer vor dem anderen einen Vorzug behaupten darf«.23 Eine juristische Diskussion, die den Originalverfasser miteinbezog, war vor dem 19. Jahrhundert kaum vorhanden. Zu den wenigen Juristen, die ihn in den Blick nahmen, gehörte Michael Christoph Hanow (1695–1773). Hanow begriff Übersetzungen als Nutzungsform neben dem Kommentar, der Umarbeitung und der Erweiterung und erhob die Sprachkompetenz zum Maßstab des Übersetzungsrechts. In De iure autorum in editos a se libros (1741) – einer so gut wie kaum rezipierten Schrift24 – behauptete er ein Recht für die Übersetzung in diejenigen Sprachen, die vom Autor beherrscht werden, wobei er naturgemäß nicht definieren konnte, wo die Grenze zwischen der Beherrschung und der Nicht-Beherrschung einer Sprache liege. Ähnlich argumentierte Karl Salomo Zachariä (1769–1843) in seiner 1799 erschienenen Dissertation De Dominio, quod est auctori in libris a se conscriptis. Darin werden »Übersetzungen ohne Zustimmung des Autors für unzulässig erklärt«.25 Für die zeitgenössische Beurteilung wichtiger als diese beiden marginalen Arbeiten sind die Beiträge der prominenten Theoretiker des Urheberrechts und

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S. 210–263; Kapp, Goldfriedrich, Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 3, Leipzig 1. Aufl. 1909, S. 39–49; Nebrig, »Neue Schriften« oder die Übersetzungsfreiheit der Romantik, in: Nebrig, Vecchiato (Hg.): Kreative Praktiken des literarischen Übersetzens um 1800. Übersetzungshistorische und literaturwissenschaftliche Studien, Berlin 1. Aufl. 2019, S. 23–30. Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht. Die Entwicklung des Urheberrechts in Deutschland bis 1845, Baden-Baden 1. Aufl. 1995, S. 151. Pütter, Der Büchernachdruck nach ächten Grundsätzen des Rechts geprüft, Göttingen 1. Aufl. 1774, S. 83, § 85. Vgl. im Folgenden auch Nebrig, »Neue Schriften« oder die Übersetzungsfreiheit der Romantik, S. 17–23. Vgl. Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht, S. 121: »Hanovs Schrift, die wortreich auch viel Nebensächliches in barocker Gelehrtensprache abhandelte, wurde übrigens später nur ganz vereinzelt zitiert; offenbar war sie kaum bekannt. An seine Grundsätze dürften sich damals noch keineswegs alle Verleger gehalten haben«. Ebd., S. 172. – In den Anfangsgründen des philosophischen Privatrechts (1804) fragte Zachariä erneut, ob man das Werk eines anderen Autors übersetzen dürfe. Er bejahte die Frage, da auch die Übersetzung »ein Original« (Zachariae, Anfangsgründe des philosophischen Privatrechts, Leipzig 1. Aufl. 1804, S. 84) sei. Allerdings beschränke sowohl die bereits durch den Autor erfolgte Übersetzung als auch ein von ihm ausgesprochenes Übersetzungsverbot die allgemeine Übersetzungsfreiheit (ebd., 83f.).

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die Implikationen für das Übersetzungsrecht, die sich daraus ableiten lassen. Die Autoren, die im 18. Jahrhundert das Urheberrecht reflektiert haben, dachten territorial und vor allem sprachlich begrenzt. Wie schon William Warburton (A Letter from an Author, to a Member of Parliament concerning Literary Property, 1747) unterschied Johann Gottlieb Fichte (1793) zwischen zu schützender, individueller, weil selbst erarbeiteter Form und freier, allgemeingutartiger Idee.26 Wie Immanuel Kant27 entwickelte Fichte seine Theorie in der Polemik gegen den Nachdruck. Beide interessierte der Vertrieb des Originals im Rahmen der Gelehrtenkommunikation, nicht der interlinguale Transfer. Auch wenn die Übersetzung nicht diskutiert wurde, entspräche Fichtes Begriff der individuellen Form, dass Autoren kein Recht an der Übersetzung ihrer Werke hätten, weil mit dieser eine Aneignung und ein formaler Wandel einsetzt. (Erst Josef Kohler legitimierte den Schutz vor Übersetzungen 1880 über den Begriff der ›inneren Form‹.)28 Für Fichtes implizite Annahme einer Übersetzungsfreiheit spricht auch, dass etwa zeitgleich das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten (1794) im Verlagsrecht Übersetzungen nicht mehr als Nachdruck, sondern als »neue Schriften«29 betrachtete (I, § 1027). So gesehen, bestärkte die frühromantische Urheberrechtstheorie den Gedanken der Übersetzungsfreiheit. Fragt man nach dem Ende der Übersetzungsfreiheit, kann das Urheberrecht nicht die alleinige Antwort sein. Das Übersetzungsrecht – nicht als Recht des Übersetzers an seiner Arbeit,30 sondern als Recht des Verfassers an der Übersetzung seiner Werke – war nur zum Teil aus dem Urheberrecht hervorgegangen. Genauso wichtig für seine Entstehung wurde die internationale Politik des 19. Jahrhunderts.31 Diese stellt das dialektische Gegenstück zur Nationalisierung Europas und der Welt dar. Eng mit der Internationalisierung der Politik verflochten war die Internationalisierung des Rechts, die den Interessen des internationalen Warenverkehrs Rechnung trug. Vec hat gezeigt, wie die neue Weltliteratur im Verbund mit anderen Faktoren »im Bereich des Geistigen Eigentums einen Impuls der Internationalisierung bislang nationalstaatlicher Regelun-

26 Fichte, Beweis der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdrucks, in: Berlinische Monatsschrift 21, 1793, S. 451. 27 Kant, Von der Unrechtmäßigkeit des Büchernachdruks, in: Berlinische Monatsschrift 5, 1785, S. 403–417. 28 Kohler, Das Autorrecht. Eine zivilistische Abhandlung, Jena 1. Aufl. 1880, S. 209; vgl. Ulmer, Urheber- und Verlagsrecht, Berlin 1. Aufl. 1951, S. 73f. 29 Allgemeines Gesetzbuch für die Preußischen Staaten, Bd. 1, Berlin 1791, S. 404, § 1027; vgl. Kapp, Goldfriedrich, Geschichte des deutschen Buchhandels, Bd. 3, S. 462; vgl. Nebrig, »Neue Schriften« oder die Übersetzungsfreiheit der Romantik, S. 17–50. 30 Dazu Albrecht, Plack, Europäische Übersetzungsgeschichte, Tübingen 1. Aufl. 2018, S. 468. 31 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 1. Aufl. 2009, S. 566.

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gen«32 erzeugte. Dabei betraf der »Aufbau von transnationalen Rechtsregimen«33 Urheber- und Patentrecht gleichermaßen: Bekanntlich ging der Übereinkunft von Bern (1886) die Übereinkunft von Paris (1883) voraus, die den gewerblichen Rechtsschutz international regulierte. Umgekehrt war deren Weiterentwicklung eng mit der internationalen Rechtspraxis verbunden. Der Abschluss bi- und multilateraler Abkommen bildete also neben dem Urheberrecht die zweite Säule des Übersetzungsrechts. Zwar hatte es Gegenseitigkeitsabkommen bereits im 18. Jahrhundert innerhalb der deutschsprachigen Territorien gegeben,34 aber erst ihre Anwendung auf die Beziehung von Nationen unterschiedlicher Sprachen machte sie übersetzungsrechtlich relevant. Das preußische Gesetz zum Schutz des geistigen Eigentums von 1837 enthielt mit dem Gegenseitigkeitsprinzip (§ 38) die Möglichkeit eines grenzüberschreitenden Schutzes.35 Allerdings dauerte es noch einige Jahre, bis entsprechende Abkommen zwischen Preußen und anderen Staaten geschlossen wurden.36 Das Ende der Übersetzungsfreiheit begann mit dem Übersetzungsrecht bzw. mit jenen bilateralen Abkommen. Auch wenn bis zur Berner Übereinkunft von 1886 in Europa und bis weit in das 20. Jahrhundert weltweit in zahlreichen Ländern Übersetzungsfreiheit bestand, änderte sich das System als Ganzes. In einigen Gebieten war der interlinguale Verkehr übersetzungsrechtlich reguliert und gehorchte den Regeln des internationalen Literaturmarktes bzw. dem Gesetz von Angebot und Nachfrage, in anderen Gebieten wiederum wurde die frühneuzeitliche, nachfrageorientierte Praxis fortgeführt. Russland beispielsweise verweigerte sich beharrlich dem modernen Übersetzungsrecht. Das Reglement vom 8./20. 1. 1830 stellte »Urheber und Übersetzer, Werk und Übersetzung ne-

32 Vec, Weltverträge für Weltliteratur, S. 116; vgl. auch Dölemeyer: »Geistiges Eigentum« zwischen »Commerzien« und »Informationsgesellschaft«. Einzelstaatliche Gesetzgebung und internationaler Standard, in: Pahlow, Grundlagen und Grundfragen des Geistigen Eigentums, Tübingen 1. Aufl. 2008, S. 93–105. 33 Vec, Weltverträge für Weltliteratur, S. 115. 34 Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht, S. 154f. 35 Abgedruckt in Hitzig, Das Königl. Preußische Gesetz vom 11. Juni 1837 zum Schutze des Eigenthums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung, Berlin 1. Aufl. 1838, S. 122, § 38. 36 Vgl. den Zusatzvertrag vom 14. 6. 1855 zu dem Vertrag zwischen Preußen und Großbritannien vom 13. 5. 1846 (Art. III, § 2). Abgedruckt in Eisenlohr, Sammlung der Gesetze und internationalen Verträge zum Schutze des literarisch-artistischen Eigenthums in Deutschland, Frankreich und England, Heidelberg 1. Aufl. 1856, S. 222. – Zur Verrechtlichung des Übersetzens im 19. Jahrhundert vgl. Vogel, Die Entfaltung des Übersetzungsrechts im deutschen Urheberrecht des 19. Jahrhunderts, in: Dittrich (Hg.), Die Notwendigkeit des Urheberrechtsschutzes im Lichte seiner Geschichte, S. 202–221; Körkel, Die Übersetzung aus juristischer Perspektive. Von der Übersetzungsfreiheit zur Durchsetzung des Übersetzungs- und Übersetzerrechts, in: Moderne Sprachen 46.2 (2002), S. 134–151.

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beneinander«37. Die UdSSR trat erst 1973 dem Genfer Welturheberrechtsabkommen bei und schaffte damit die alte Übersetzungsfreiheit ab.38 Wie im einstigen Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn »war die Notwendigkeit der Übersetzungsfreiheit auch in der Sowjetunion mit den kulturellen, erzieherischen und wirtschaftlichen Erfordernissen des Vielvölker- und Vielsprachenstaates begründet worden«39. Mit der endgültigen Globalisierung des Literaturmarktes nach 1989 hat sich auch das Übersetzungsrecht weltweit durchgesetzt. Für die Epochen davor gilt es zu beachten, ob sich eine nationalsprachliche Literaturgeschichte in den interlingualen Lizenzraum einschrieb oder nicht. Indem die »Kontrolle aller potentiellen Verwertungsmöglichkeiten«40 auch auf die Übersetzung ausgeweitet wurde, wurden Übersetzer in eine völlig neue pragmatische und ästhetische Abhängigkeit gegenüber dem Originalautor geführt. Das »Recht […] auf originalgetreue Übersetzung«41 war tatsächlich zur Pflicht geworden. Umgekehrt erhielten die Originalautoren durch das Recht, ihre Übersetzungen zu autorisieren, Souveränität im interlingualen Vermittlungsraum, die nicht nur das Verwerten betraf, sondern auch ihr literaturpolitisches Handeln und ihr Schreiben selbst. Autoren wie Berthold Auerbach, Victor Hugo oder Mark Twain traten im 19. Jahrhundert als Lobbyisten des internationalen Copyrights auf.42 Die Auswirkungen auf das literarische Schreiben zeigen sich am schnellsten mit Blick auf die intertextuelle Praxis. So konnten Autoren beispielsweise nicht mehr umsonst oder ohne Nennung des Originalverfassers anderssprachige Schriften geschützter Autoren in ihr Werk integrieren. Intertextualität wurde zu einem Rechtsproblem.

37 Häpe, Das Recht der Übersetzungen, entwickelt aus den positiven Gesetzen, in: Allgemeine Preßzeitung, Nr. 61–67 (30. 7. 1844), S. 242. 38 Majoros, Die Sowjetunion unterzeichnet erstmals Urheberrechtsabkommen mit einem westlichen Land, in: Osteuroparecht 29 (1983), S. 46. Zusammenfassend s. Majoros, Zur neuesten Entwicklungsphase im internationalen Urheberrecht der Sowjetunion, in: UFITA 95 (1983), S. 101–189. 39 Dietz, Die Modernität des letzten zaristischen Urheberrechtsgesetzes von 1911, in: UFITA 137 (1998), S. 58; zu Österreich Helmensdorfer, »Heilig sey das Eigenthum!« Urheberrecht in Wien um 1850, in: UFITA 2 (2001), S. 487. 40 Dommann, Autoren und Apparate. Die Geschichte des Copyrights im Medienwandel, Frankfurt am Main 1. Aufl. 2014, S. 49. 41 Poltermann, Die Erfindung des Originals. Zur Geschichte der Übersetzungskonzeptionen in Deutschland im 18. Jahrhundert, in: Schultze (Hg.), Die literarische Übersetzung. Fallstudien zu ihrer Kulturgeschichte, Berlin 1. Aufl. 1987, S. 39. 42 Götz von Olenhusen, Lobbyisten für ein internationales Copyright im 19./20. Jahrhundert, in: UFITA (2016), S. 401–415; zu Auerbach Nebrig, Berthold Auerbachs Spinoza-Rezeption in den »Schwarzwälder Dorfgeschichten« und die Entdeckung der internationalen Autorschaft, in: Weimarer Beiträge 65.1 (2019), S. 5–28.

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Vor allem aber internationalisierte sich das Schreiben. Autoren des interlingualen Lizenzraumes, an dem im 20. Jahrhundert nicht nur die kapitalistischen, sondern auch die sozialistischen Länder partizipierten, profitierten vom internationalen Verkehr mit ihren Schriftgütern und erhielten die Möglichkeit, am internationalen Ideenverkehr teilzunehmen, sowie die Freiheit, nicht mehr nur für den nationalen Buchmarkt schreiben zu müssen, sondern kultur- und sprachübergreifend schreiben zu können. Obgleich viele Autoren diese Freiheit nicht oder einige sie (lediglich) kommerziell nutzten, wurde sie konstitutiv für die Entstehung des internationalen Literaturmarktes und der weltliterarischen Kommunikation. Das Übersetzungsrecht strukturierte den Übersetzungsmarkt und generierte gleichzeitig den internationalen Literaturmarkt, indem es neben den Autoren auch andere Teilnehmer des Buchmarktes wie Agenten oder Verleger anregte, internationale Beziehungen aufzubauen und zu pflegen. Es führte zu einer Dynamisierung des internationalen Literaturbetriebes und zu einer immer dichteren Vernetzung seiner Akteure, weshalb man sagen kann, dass mit dem Übersetzungsrecht Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue, signifikante Epoche der globalen Literaturgeschichte begann. Die Neuheit bestand weniger in der interkulturellen Verflechtung. »Schon die Renaissance, die Reformation und die Aufklärung waren in Europa wenn nicht ›transnationale‹, so doch grenzüberschreitende Diskurse und Intellektuellenbewegungen gewesen; Musik und Malerei, Naturwissenschaft und Technologie hatten sich nie durch Landesgrenzen aufhalten lassen.«43 Tatsächlich agierten Autoren nicht erst mit der Moderne interkulturell, interlingual, international oder interterritorial. Jedoch konnten sie erst seit dem 19. Jahrhundert – zunächst in Europa – multilateral auf rechtlicher Grundlage wirtschaftlich operieren.44 Ebenso wenig, wie sich der transhistorische Charakter transkultureller Verflechtungen bestreiten ließe, kann eine Exklusivität des Lizenzraumes behauptet werden. Nach Durchsetzung des Übersetzungsrechts spielte sich der interlinguale Verkehr und der transnationale Ideentransfer keineswegs ausschließlich im Lizenzraum ab. Bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde in Staaten wie China oder UdSSR frei übersetzt bzw. waren die dort entstandenen Literaturen gemeinfrei. Auch in den Beitrittsländern der Berner Übereinkunft wurde geschützte Literatur unautorisiert übersetzt und verbreitet. Gerade in den Ländern Afrikas einschließlich Nordafrikas, die keine oder nur schwach ausge43 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 724. 44 Vgl. Nebrig, Berthold Auerbachs Spinoza-Rezeption in den »Schwarzwälder Dorfgeschichten« und die Entdeckung der internationalen Autorschaft, S. 15. Profitiert haben grenzüberschreitende und im Literaturbetrieb gut vernetzte Autoren wie beispielsweise Henrik Ibsen, vgl. Wilfert, Ibsen auteur (inter)national? La réception d’Henrik Ibsen en Scandinavie, en Allemagne et en France, 1860–1900, in: Espagne (Hg.), Le prisme du Nord. Pays du Nord, France, Allemagne (1750–1920), Tusson 1. Aufl. 2006, S. 217–237.

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bildete Buchmarkt- und Verlagsstrukturen besaßen und noch besitzen, hätte die peinlich genaue Beachtung der Berner Übereinkunft den internationalen Anschluss vollends verhindert.45 Solche Einwände schwächen jedoch nicht das Argument, dass die Literatur – unter den Bedingungen des Urheber- und Übersetzungsrechts – Autoren, Agenten, Buchhändler, Kritiker, Scouts und Verleger in ein Netz internationaler Handelsbeziehungen verstrickte, das es in dieser Dichte vor der Epoche des Lizenzraumes so nicht gab. Wer jenseits von diesem agierte, blieb dennoch auf ihn bezogen. Das neue literarische Feld kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht soziologisch analysiert werden. Stattdessen wird ein Strukturwandel beschrieben, der sich aus der Lizenzförmigkeit der Übersetzung ergab und der den interlingualen Verkehr bis heute in einen von gemeinfreien und einen von geschützten Werken unterteilt hat. Die geschichtliche Beschreibung des Verhältnisses beider Typen kann sich als aufschlussreich für die Internationalisierungsgeschichte der Literatur und ihrer Multilateralität erweisen.

III.

Gemeinfreie und geschützte Werke

Mit der Durchsetzung des Urheberrechts war der in Antike und Vormoderne unbekannte Gegensatz zwischen gemeinfreier und geschützter Literatur entstanden. Die multilaterale Anerkennung territorialer Urheberrechte, auf der das Übersetzungsrecht basiert, veränderte unweigerlich die Ökonomie zwischen übersetzter und originaler (a) sowie alter und neuer Literatur (b). a) Originale waren mehr wert als Übersetzungen, weil sie für den Wertschöpfungsprozess grundlegend wurden. Übersetzungen hingegen waren nunmehr sekundäre Ableitungen des Originals wie Bearbeitungen und Dramatisierungen. Obgleich weniger wert, waren Übersetzungen in der Herstellung teurer, weil ein Honorar an den Übersetzer abgeführt werden musste und zugleich an den Originalautor – eine in der vormodernen Epoche undenkbare Doppelbelastung. Devisenschwache Literaturmärkte standen vor dem Problem, Literatur teuer einkaufen zu müssen, bevor man überhaupt einen Übersetzer bezahlen konnte. Reiche Länder kompensierten diese globale Ungerechtigkeit durch Subventionen. b) Urheberrecht und Übersetzungsrecht änderten gleichfalls das Verhältnis von alter und neuer Literatur. Die kontinuierlich ausgeweitete Schutzfrist be45 Weshalb Kritiker auf die ökonomische und kulturpolitische Ungerechtigkeit der Berner Übereinkunft hinweisen und ihr Ende fordern, vgl. Story, Burn Berne. Why the Leading International Copyright Convention Must Be Repealed, in: Houston Law Review 40/3 (2003), S. 763–803.

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stimmte seit dem Ende des 19. Jahrhunderts, wie lange man Rechte einholen musste, bevor das Werk eines Autors frei wurde. Der Beginn der Gemeinfreiheit markiert den Moment, wann ein Autor nicht mehr als neu, sondern als veraltet gilt. In Deutschland umfasst dieser Zeitraum momentan 70 Jahre post mortem auctoris. Internationale Werkschutzspannen von über 150 Jahren wurden durch den rechtlichen Rahmen möglich. In Stahlgewittern erschien 1920. Ernst Jünger, geboren 1895, starb 1998; sein Werk wird bis 2068 geschützt sein. Das Werk von Bertolt Brecht, der nur drei Jahre jünger ist, wird wegen seines frühen Todes in den gemeinfreien Raum der Weltliteratur schon 2026 eingehen; in einigen asiatischen Ländern sind Brechts Texte bereits ungeschützt aufgrund der nur 50jährigen Frist. Solange die Erben und die Verlage Rechte für Autoren geltend machen konnten, basierte die Wertschöpfung eines geschützten Werkes auf multilateralen Verträgen. Die globale Verbreitung eines Buches ermaß sich aus den Übersetzungen und Neuübersetzungen,46 die während der Schutzfrist lizenziert wurden. Verlage, die wie Suhrkamp eine nachhaltige Lizenzierungsstrategie kennzeichnet,47 rechneten damit, dass sie für die Dauer des Urheberrechts ein Werk verwerten können, und nahmen in Kauf, den Verwertungsprozess für Jahrzehnte ruhen zu lassen. Im Unterschied zu einem gemeinfreien Werk stehen die Übersetzungen mit dem Original in einer wertschöpfenden Beziehung, da die Rechteinhaber vom Wert des Originals profitieren. Der gemeinfreie Text ist dagegen dezentralisiert, das heißt, dass die Übersetzungen ökonomisch nichts mit dem Original verbindet. Der unternehmerische Umgang mit gemeinfreien Autoren und Werken ähnelt der frühneuzeitlichen Praxis nur scheinbar: Frei zugängliche Werke lassen sich nicht mithilfe eines Privilegiums vor Konkurrenzausgaben schützen. Die strukturell andere Stellung der gemeinfreien Literatur wird aber hauptsächlich durch den Umstand markiert, dass sie mit der neuen urheberrechtlich geschützten Literatur konkurriert und interferiert. Für die Ökonomie des globalen Literaturverkehrs ist demzufolge das Zusammenspiel zweier Literaturformationen zu beachten: eine kontinuierlich wachsende alte und eine neue, die von der Gegenwart bis zu 150 Jahre zurück in die Vergangenheit reichen kann. Eine Frage, die sich stellt, ist, ob in dieser Situation die geschützte Literatur tendenziell global verbreiteter ist oder ob es sich genau umgekehrt verhält und das Übersetzungsrecht dazu geführt hat, dass man aus Kostengründen den 46 Pöckl, Neuübersetzungen. Zwischen Zufall und Notwendigkeit, in: Bachleitner, Wolf (Hg.), Streifzüge im translatorischen Feld. Zur Soziologie der literarischen Übersetzung im deutschsprachigen Raum, Berlin 1. Aufl. 2010, S. 317–330. 47 Hardt, Buying, Protecting and Selling Rights. Wie urheberrechtlich geschützte Werke erworben, gesichert und verbreitet werden, Frankfurt am Main 2. Aufl. 2015, S. 50–53, beschreibt diese am Beispiel der Verwertung von Paul Celan.

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Verlag gemeinfreier Literatur bevorzugt? Die Überlegung, gemeinfreie Literatur zu besteuern, um Gegenwartsliteratur zu fördern, ist nicht neu. Arno Holz forderte 1916 (erneut 1922), den Druck von Schriften verstorbener Schriftsteller mit zwanzig Prozent zu besteuern.48 Er sah in der Dominanz der gemeinfreien Klassiker – tatsächlich boomten seit Ende des 19. Jahrhunderts breitenwirksame Klassikerausgaben – eine Gefahr für die Gegenwartsliteratur. Übertragen auf den globalen Literaturverkehr, ließe sich überlegen, ob nicht gemeinfreie Literatur wegen ihrer geringen Kosten verbreiteter war als geschützte. Diese Frage kann nur angemessen beantwortet werden, sobald man den Übersetzungsverkehr zwischen Ländern untersucht, die der Berner Union beigetreten waren. Der Zeitraum müsste genau festgelegt sein, weil sich das Netzwerk der Mitgliedstaaten kontinuierlich erweiterte und sich nach dem Ende des Kalten Krieges endgültig globalisierte. In den 1930er Jahren war der interlinguale Lizenzraum der Literatur deutlich kleiner als in den 1990er Jahren. Zudem wäre zu unterscheiden zwischen devisenschwachen Ländern wie beispielsweise der DDR und devisenstarken Ländern wie der Bundesrepublik Deutschland. Innerhalb von devisenstarken Ländern wiederum beeinflusste wahrscheinlich die Subvention von Übersetzungen das Verhältnis beider Literaturtypen. Da der Völkerbund mit der Verzeichnung der weltweit übersetzten Literatur (Index Translationum) 1932 begann, lässt sich der Verkehr zwischen einzelnen Mitgliedstaaten der Berner Union hinsichtlich des Verhältnisses von geschützter und gemeinfreier Literatur ab diesem Jahr leichter untersuchen. Der Übersetzungsverkehr von 1932 ist durch den Index Translationum auf wenige Länder begrenzt. Aufgenommen sind Deutschland, Spanien, die USA, Frankreich, Großbritannien und Italien. Ab 1933 werden Dänemark, Ungarn, Norwegen, Polen, Schweden und die Tschechoslowakei erfasst. Der Jahrgang 1932,49 der Titel zwischen 1929 und 1932 verzeichnet, ist nicht nur als Beginn der Verzeichnung des globalen Übersetzungsverkehrs ein sinnvoller Untersuchungszeitraum, sondern auch wegen seiner Repräsentativität. Nach dem Ersten Weltkrieg hatte sich der internationale Buchmarkt in den 1920er Jahren wieder konsolidiert, und urheberrechtsgeschichtlich von Bedeutung ist, dass mit der Revision der Berner Übereinkunft 1928 in Rom die Schutzfrist auf 50 Jahre p.m.a. ausgedehnt worden war. Die Vermutung, dass Verlage aus Kostengründen eher gemeinfreie Literatur aus dem Ausland publiziert hätten, bestätigt sich keinesfalls. Vielmehr neigen Buchmärkte dazu, sich zu internationalisieren, indem sie vorzugsweise neue und 48 Zunächst im Berliner Tageblatt (1916) und dann in Der geistige Arbeiter. Deutsche UrheberZeitung 2 (1922), S. 33f., hier nach Martens, Lyrik kommerziell. Das Kartell lyrischer Autoren 1902–1933, München 1. Aufl. 1975, S. 31. 49 Société des Nations (Hg.): Index Translationum. Repertoire international des traductions 1, Mayenne 1. Aufl. 1932, S. 1–4.

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urheberrechtlich geschützte Literatur aus dem Ausland lizenzieren. Trotz höherer Kosten, die mit der Investition in die Übersetzung und mit der Lizenzierung entstanden, dürfte ein Grund darin liegen, dass mit der Lizenz ein exklusives Vertriebsrecht erworben wurde. Alte Literatur konkurrierte dagegen mit alten Übersetzungen und Nachdrucken und erschien seltener in Neuübersetzungen. Eine Berücksichtigung dieses Sachverhaltes konnte für die folgende Auswertung nicht stattfinden, hätte die Zahlen zugunsten der geschützten Literatur aber noch erhöht. Von 53 Titeln, die im ersten Quartal 1932 auf dem Gebiet der Literatur für Deutschland verzeichnet wurden, sind 38 geschützt, nur 15 gemeinfrei, darunter viele aus der russischen Gegenwartsliteratur. Ein Großteil der Autoren gehört der kanonischen Weltliteratur an: Boethius, Dante, Seneca, Tacitus. Zwei Drittel (72 Prozent) der übersetzten Werke sind lizenziert. Für Spanien ist der Befund noch drastischer. Insgesamt 82 Prozent sind hier lizenzierte Werke und 14 Prozent gemeinfrei. Aufgeführt werden 65 Titel, von denen drei nicht zuordenbar sind. Von den verbleibenden 62 Titeln sind nur neun gemeinfrei (z. B. Apuleius, La Bruyère, Diderot, Goethe, Gogol) und 53 geschützt. Frankreich verzeichnet auf dem Gebiet der Literatur für das erste Quartal 1932 insgesamt 134 Titel. Das Verhältnis ähnelt dem Befund für Deutschland. Auch hier sind zwei Drittel lizenzierte Werke (74 Prozent) und ein Drittel gemeinfreie Klassiker wie Cervantes, Dickens, Goethe, Grimm, Properz oder Vergil (22 Prozent).50 Italien relativiert diese Befunde etwas. Dies hängt damit zusammen, dass allein die klassischen Ependichter Vergil und Homer 13 Mal auftauchen, wobei hier Nachdrucke alter Übersetzungen vorliegen dürften. Insgesamt verzeichnet der Index Translationum 153 Übersetzungen. Der Anteil der gemeinfreien Titel liegt bei immerhin 42 Prozent (65) und der der lizenzierten Titel bei 55 Prozent (85).51 Eine Ausnahme stellt Großbritannien dar. Zunächst verzeichnet es unter den genannten Ländern die wenigsten Übersetzungen für alle vier Quartale des Jahres 1932, wobei die USA nicht berücksichtigt ist. Für die USA, die 1932 nicht zur Berner Übereinkunft gehörten, aber mit den wichtigsten nationalen Buchmärkten bilaterale Verträge abgeschlossen hatten, erweist sich die Auswertung als kompliziert, da es keine eigene Rubrik für Belletristik gibt. Der Jahresdurchschnitt in der Rubrik (schöne) Literatur liegt für die kontinentaleuropäischen Kernländer Deutschland, Spanien, Frankreich und Italien bei 304 Übersetzungen. Für Frankreich zählt der Index Translationum 422 Übersetzungen, 50 Weitere vier Prozent konnten nicht zugeordnet werden. 51 Vier Titel konnten nicht zugewiesen werden.

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für Großbritannien nur 162. Das Missverhältnis ergibt sich aus dem schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts starken Interesse an angelsächsischen Kulturprodukten in Westeuropa einschließlich Deutschlands. Britische und amerikanische Autoren dominierten schon in den 1920er Jahren die globale Unterhaltungsliteratur und nicht erst seit 1945. Umgekehrt war das Interesse an ausländischer Literatur in Großbritannien und wahrscheinlich auch in den USA erstaunlich gering. Die Sichtung des ersten Quartals ergab noch einen weiteren Gegensatz zu den anderen großen kontinentaleuropäischen Buchmärkten der Zwischenkriegszeit. Der Verlag von gemeinfreier Literatur in Übersetzung überwog in Großbritannien leicht den von geschützter Literatur. Im ersten Quartal erschienen 65 Titel, davon konnten vier nicht zugewiesen werden. Von den 61 Titeln waren 33, also mehr als die Hälfte gemeinfrei, nur 28 lizenzpflichtig. Hinzu kommt, dass unter den Lizenztiteln zwölf wiederaufgelegte Einzelausgaben einer Gesamtausgabe von Émile Zola angeführt sind; aber auch unter den gemeinfreien Titeln hat man es mit Neuauflagen zu tun, so dass die realistische Anzahl der Übersetzungen noch geringer ist. Um ein genaueres Ergebnis zu erzielen, müsste die statistische Auswertung für die Dekade der 1930er Jahre fortgeführt und mit anderen Dekaden verglichen werden. Auch der Vergleich verschiedener nationaler Literaturmärkte bzw. interlingualer Lizenzräume ließe sich noch weiter differenzieren. Schon ein kurzer Blick in das erste Quartal von 1933 offenbart große Differenzen bezüglich des Umgangs mit Übersetzungen in Dänemark, Norwegen und Schweden auf der einen Seite und Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn auf der anderen Seite. Auffällig ist der geringe Anteil Skandinaviens am Übersetzungsverkehr. Zum Vergleich: Die deutsche Nationalbibliographie zählt im ersten Quartal 1933 insgesamt 187 Übersetzungen, davon 86 aus dem Gebiet der schönen Literatur. Für Dänemark sind in allen Rubriken nur 36 Übersetzungen angeführt, für Schweden 35, für Norwegen gerade einmal 21. Die mitteleuropäischen Buchkulturen zeigen sich als reichhaltiger, obgleich die Bevölkerungsgröße – mit Ausnahme des größeren Polens – jeweils den skandinavischen Ländern ähnelt, wenn man bedenkt, dass von 14 Millionen Tschechoslowaken 3 Millionen Deutsch sprachen. Ungarn listet insgesamt 76 Übersetzungen, davon nahezu alle aus dem Bereich der schönen Literatur. Von insgesamt 103 polnischen Übersetzungen ist die Hälfte (48) literarisch. Der Bibliographische Katalog der Tschechoslowakischen Republik zählt dagegen 144 Übersetzungen und mit 116 literarischen Übersetzungen dreißig Übersetzungen mehr als die Deutsche Nationalbibliographie. Sicherlich variieren die Zahlen von Quartal zu Quartal, aber die Größenverhältnisse sind für die 1930er Jahre durchaus repräsentativ. Polen und die Tschechoslowakei sind besonders hervorzuheben, da es sich um junge Staaten und Buchmärkte handelt. Blickt man drei Jahrzehnte zurück auf die Jahrhundertwende, wird der Entwicklungsschub deutlich, den die beiden

Das Übersetzungsrecht als Faktor einer multilateralen Literaturgeschichte

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Staaten durch ihre nationalstaatliche Souveränität und die damit möglich gewordene Mitgliedschaft in der Berner Union erlangt hatten. Polen mag als Beispiel dienen. Den modernen Nationalstaat Polen gab es erst mit dem Versailler Vertrag (1919); der Berner Übereinkunft trat Polen am 20. 1. 1920 bei.52 Ein Vertriebsgebiet Polen gab es vor 1919 nicht, jedoch eine polnisch lesende Bevölkerung. Im habsburgischen Galizien waren Krakau und Lemberg die wichtigsten Städte der polnischen Buchkultur. Das Vertriebsgebiet für die polnische Sprache hatte sich bis zum Ende des Ersten Weltkrieges auf drei weitere Reiche erstreckt: das Russische Zarenreich, das Habsburger Reich und das Deutsche Reich. Erstaunlich gering ist die Zahl der ins Polnische übersetzten Werke um 1900. Im Jahre 1899 waren von insgesamt 1850 Büchern in polnischer Sprache 900 in ÖsterreichUngarn erschienen, davon nur 30 Übersetzungen von insgesamt 110.53 Diese Zahl konnte Polen dreißig Jahre später bereits im ersten Quartal verzeichnen, so dass sich schätzungsweise sagen lässt, dass das Übersetzungsrecht die Zahl der Übersetzungen in Polen vervierfacht hat. Da Österreich-Ungarn kein Mitglied der Berner Union war, handelte es sich bei jenen dreißig Übersetzungen um nicht genehmigte Ausgaben, sofern diese überhaupt geschützt waren. Als Mitglied der Union erhöhte Polen die Produktion von Übersetzungen drastisch. Dieser Zusammenhang zwischen nationaler Souveränität und Mitgliedschaft in der Berner Union einerseits und der Zunahme der Übersetzungen andererseits weist auf die Produktivität hin, zu der ein Beitritt in den multilateral angelegten interlingualen Lizenzraum führte.

IV.

Poetik des Übersetzungsrechts

Das Übersetzungsrecht schuf, wie im vorherigen Abschnitt demonstriert, eine Dialektik zwischen lizenzbasierten und freien interlingualen Übertragungen und ordnete das institutionelle Beziehungsfeld der literarischen Akteure neu. Ebenfalls hatte es als Faktor einer multilateralen Literaturgeschichte Folgen für die Textproduktion. Die Einstellung der Schreibenden zum interlingualen Lizenzraum kann sich auf ihre Schreibweise auswirken. Gleichgültig ist in dieser Hinsicht, ob eine im interlingualen Lizenzraum zu verortende Schreibweise den Vertriebs- und Wertschöpfungsprozess beeinflusst. Es handelt sich zunächst nur

52 Pusylewitsch, Die Rechtsstellung des Ausländers in Polen, Baden-Baden 1. Aufl. 1976, S. 139. 53 Gerhartl, »Vogelfrei« – Die österreichische Lösung der Urheberrechtsfrage in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts oder Warum es Österreich unterließ, seine Autoren zu schützen, Magisterarbeit, Wien 1995, S. 72.

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um ein Phänomen der poetischen Faktur und nicht der ökonomischen Verwertung. Wenigstens auf vier textuellen Ebenen moderner, lizenzfähiger Literatur kann die Beziehung zwischen der poetischen Faktur des Werkes und seiner Verwertung und Verbreitung untersucht werden: der intertextuellen, der medialen, der topologischen (räumlichen) und der rhetorischen. Die Verwertungsform kann interlinguale, intermediale oder interterritoriale Komponenten aufweisen. Für eine angemessene Interpretation unverzichtbar ist dabei, den jeweiligen historischen Verwertungshorizont, d. h. die rechtsgeschichtlichen Grundlagen, zu rekonstruieren. Auf der intertextuellen Ebene gewinnt die von Urheber- und Übersetzungsrecht erzeugte Differenz zwischen geschützten und gemeinfreien Gütern für das Schreiben insofern an Bedeutung, als moderne Autoren wissen, dass ihr Wort durch das Urheberrecht geschützt ist und sich von dem gemeinfreien Wort ihrer Ahnen unterscheidet. Jeder kann den Achillesmythos neu akzentuieren; allein lizenzierte Autoren haben das Recht, Episoden zu James Bond in Umlauf zu bringen. Kaum erforscht ist die Tatsache, dass Bearbeitung und Übersetzung gemeinfreier Werke seit dem 19. Jahrhundert die Grundlage neuer Eigentumsund Lizenzierungsprozesse bildeten und die literarische Traditionsbildung veränderten.54 Bertolt Brecht ließ die gemeinfreie Beggar’s Opera (1728) aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen, um sie zu bearbeiten. In die Bühnenfassung (1928) nahm er übersetzungsrechtlich geschützte Originalgedichte von Rudyard Kipling auf, die in der Druckfassung (1931) wieder fehlten, sowie geschützte Übersetzungen von gemeinfreien Gedichten François Villons. Für die 1907 bei Insel erschienenen Übersetzungen musste er nachträglich Tantiemen zahlen, da er nicht die Übersetzungsrechte des längst verstorbenen Originalverfassers, sondern die Rechte des Übersetzers verletzt hatte. Für die Struktur seiner Dreigroschenoper ist die Überlagerung von Urheberschutz und Gemeinfreiheit charakteristisch. Das urheberrechtliche Wissen änderte nicht nur den Umgang mit anderen Texten, sondern auch die Sicht darauf, wie Dritte mit dem eigenen Text umgehen, wie sie ihn bearbeiten, lesen und verbreiten. Auf der medialen Ebene erhalten bisweilen die Bedingungen der Vermittlung, Verwertung, Verbreitung und Kritik des Werkes eine poetische Sprache. Mitunter lassen sich die im Text entweder ausführlich thematisierten oder metonymisch bezeugten Verwertungsbedingungen für die Handlungsökonomie funktionalisieren. Auch hierfür kann Brechts Dreigroschenprojekt ein Beispiel geben: Der im Exil erschienene Dreigroschenroman (1934) greift das schon in der Dreigroschenoper thematisierte Lizenzwesen (Bettler erhalten eine Lizenz, um für einen Unternehmer kunstvoll zu betteln) auf, indem der Roman verschiedene 54 Saint-Amour, The Copywrights.

Das Übersetzungsrecht als Faktor einer multilateralen Literaturgeschichte

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Lizenzvorgänge in Handlung übersetzt. Verantwortlich für die Entstehung von Brechts Roman ist die Tatsache, dass Brechts lukrativer Dreigroschen-Lizenzraum durch die Kulturpolitik der Nazis 1933 entwertet worden war, der Exilant Brecht also versuchen musste, für den dringlicheren interlingualen Lizenzraum ein neues Gut zu schaffen.55 Ein zweites Beispiel stellt Anna Seghers’ Roman Transit dar, der seine interlingualen und internationalen Vermittlungsbedingungen reflektiert, indem Seghers einen Protagonisten wählt, der die Identität eines exilierten Schriftstellers, der Selbstmord aufgrund fehlender Publikationsmöglichkeiten begangen hatte, unwillentlich stiehlt.56 Auf der topologischen oder räumlichen Ebene ist für Literatur, die durch das Übersetzungsrecht geschützt ist, die Korrelation von Vertriebsgebiet und literarischem Raum kennzeichnend. Kulturelle Räume waren seit dem 19. Jahrhundert Verwertungsräume. Unter Einbeziehung der Biographie der Schreibenden, mit Blick auf die Fragen, wo sie leben und an welcher Öffentlichkeit sie partizipieren, kann es durchaus aufschlussreich sein, die Grenzüberschreitung nicht nur auf textinterner Ebene zu prüfen. In Frage steht das Verhältnis zwischen dem textexternen Schreibraum und dem textinternen Handlungsraum. Ein gutes Beispiel stellt das Romanwerk von Leo Perutz dar, das neben Österreich zahlreiche Handlungsschauplätze in Europa, Russland oder Lateinamerika enthält. Die Räume bieten einen Vergleich mit ihrem jeweils korrespondierenden Vertriebsgebiet an.57 Der narrative Raum und die potentiellen oder tatsächlichen Vertriebsgebiete sind Teil derselben Globalisierungstendenz. Mit anderen Worten steht nicht nur das übersetzungsrechtlich geschützte Werk in einer multilateralen Beziehung, sondern ebenso der erzählte Raum. Auf der rhetorischen Ebene unterscheidet sich geschützte Literatur von Literatur, die während ihrer Entstehung gemeinfrei war, durch einen offenen und multilateralen Publikumsbezug. Geschützte Werke adressieren nicht nur ein primäres Lesepublikum, sondern prinzipiell die Lesenden aller Nationen und Kulturen. Die multilaterale Adresse wird erkennbar an den gewählten Themen und Gegenständen. Transitorische und ideologische, konfessionelle oder philosophische Paradigmen von universaler Geltung können scheinbar lokale Werke interlingual und international verwertbar machen und die Übersetzung befördern. Der Unterschied zur transitorischen Poetik gemeinfreier Werke besteht 55 Nebrig, Talente im Lizenzraum. Brechts »Dreigroschenroman« und die Verwertung immaterieller Güter, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 171.1 (2019), S. 18–44. 56 Nebrig, Die internationale Lizenzierung des Buches als Strukturprinzip von Anna Seghers’ Transit, in: Eckel (Hg.): Internationalität der Literaturen, Stuttgart 2020 [im Druck]. 57 Nebrig, Romanwelt und Vertriebsgebiet. Der globale Horizont der Bücher von Leo Perutz und ihre internationale Verwertung, in: Büttner, Kim (Hg.): Globalgeschichten der deutschen Literatur. Probleme – Ansätze – Methoden, Stuttgart 2020 [im Druck].

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darin, dass diese entstehungsgeschichtlich in der Regel auf ein Publikum und seine Lesekultur bezogen sind. Auch stellt sich der Vorgang ihrer Rezeption als einseitig dar. Die Texte wurden nachgefragt, weil sie der Rezeptionskultur wichtig erschienen, nicht aber, weil Autoren sie eigens qua Übersetzungsrecht auf dem internationalen Literaturmarkt angeboten hätten. Berthold Auerbachs Interesse an jüdischen Themen sowie die spinozistische Grundierung seiner international erfolgreichen Schwarzwälder Dorfgeschichten adressieren neben dem deutschen Lesepublikum immer auch das kosmopolitische Judentum und jene optimistisch gestimmte Leserschaft, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts europaweit in Spinoza einen Heilsbringer sah.58 Pazifismus, Ökologie oder Feminismus, aber ebenso weltübergreifende oder internationale Ereignisse wie der Erste Weltkrieg oder der Spanische Bürgerkrieg stellten seit dem 19. Jahrhundert internationale Themen dar, deren Behandlung internationale Anschluss- und damit Verwertungsfähigkeit ermöglichte. Sämtliche Aspekte lassen sich durchaus jenseits von Lizenzräumen untersuchen. Intertextualität, Medialität, Topologie und Rhetorik sind keinesfalls Untersuchungskategorien, die nur für Literatur im Lizenzraum reserviert wären. Das wäre ein Missverständnis. Sie eignen sich jedoch dazu, die neuartige internationale Tendenz von Literatur sichtbar werden zu lassen. Ab dem 19. Jahrhundert zeigt sich, dass die intertextuelle, mediale, räumliche und rhetorische Ordnung der Literatur verstärkt internationalisierenden und globalisierenden Bewegungen gehorchte. Um die These zu erhärten, dass aufgrund der multilateralen Ausrichtung des Schreibraumes bzw. seiner potentiellen Eigenschaft, interlingualer Lizenzraum zu sein, auch die in ihm entstandene Literatur multilateral wurde, bedarf es freilich noch weiterer Untersuchungen.

58 Nebrig, Berthold Auerbach und die Entdeckung der internationalen Autorschaft.

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Rudolf von Jherings Vorstellungen zum rechtlichen Schutz von immateriellen Gütern

I.

Forschungsfrage

Das 19. Jahrhundert stelle zweifellos eine Zeitenwende dar in der Geschichte des rechtlichen Schutzes von immateriellen Gütern im Allgemeinen und des Urheberschutzes im Besonderen. Genau genommen ist es zumindest in Deutschland bezeichnenderweise sogar das in der europäischen Geschichtswissenschaft viel zitierte ›lange‹ 19. Jahrhundert von der Zeit der Französischen Revolution bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges, in das auch der gesamte Prozess der Abkehr vom hergebrachten Privilegienwesen und der Hinwendung zu dem am geistigen Schöpfer orientierten Urheberrecht unserer Tage fällt.1 Dies ist kein Zufall. Sind doch maßgebliche Faktoren, die in der Geschichtswissenschaft zur Redeweise vom »langen« 19. Jahrhundert2 geführt haben, nämlich die Ablösung der Vorherrschaft des Adels durch das Bürgertum, die technisch-industrielle Revolution, die Ausweitung von Wissen und Bildung in erheblich breiteren Schichten der Gesellschaft als bisher sowie der Beginn der Verstädterung, kurz der Durchbruch zum wissenschaftlich-technischen Zeitalter, auch maßgebliche Ursachen für die »Entfaltung des Urheberrechts«3 durch Wissenschaft und Gesetzgebung gewesen. In der deutschsprachigen Wissenschaft gilt heute Josef Kohler als derjenige, der gegen Ende des ›langen‹ Jahrhunderts die Grundlagen schuf für »die »Neuordnung und Vereinheitlichung des Urheberrechts in unseren Tagen«4, indem er 1 E.Wadle, Entfaltung des Urheberrechts, in: Wadle (Hrsg.), ›Geistiges Eigentum‹. Bausteine zur Rechtsgeschichte, Band 1, 2003, S. 63–74 (64) unterscheidet in der Geschichte des Urheberrechts im »deutschen Kulturraum […] drei Epochen […]. Die erste und zugleich längste währt vom 16. Jahrhundert bis zur Wende des 18. zum 19. Jahrhundert; die zweite endet im ersten Jahrzehnt« des 20. Jahrhunderts, »und in der dritten stehen wir noch heute.« 2 E.Hobsbawm, Das lange 19. Jahrhundert. Band 1–3. Deutschsprachige Gesamtausgabe, 2017. 3 E.Wadle, Entfaltung des Urheberrechts, in: Wadle (Hrsg.), ›Geistiges Eigentum‹. Bausteine zur Rechtsgeschichte, Band 1, 2003, S. 63–74. 4 E.Wadle, Die Abrundung des deutschen Urheberrechts im Jahre 1876, in: JuS 1976, S. 771–776 (776).

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die beiden wichtigsten Theoriestränge aus den Diskussionen des 19. Jahrhunderts, die Lehre vom geistigen Eigentum und die Theorie vom Persönlichkeitsrecht, zu einer integralen Theorie von Immaterialgüterrechten verband.5 Kohler war es auch, der in seinem grundlegenden mehrere hundert Seiten umfassenden Aufsatz zum »Autorrecht« aus dem Jahre 1880 Rudolf von Jhering beiläufig als einen Rechtslehrer charakterisierte, »welcher uns stets mit einem Ruck in eine Höhe trägt, von welcher sich uns ein neuer Horizont, eine neue ungeahnte Perspektive eröffnet«6. In der Tat hatte Jhering in seinen seit 1865 veröffentlichten Schriften einen neuen Horizont für die Rechtswissenschaft des 20. Jahrhunderts eröffnet durch Entdeckung der zentralen Bedeutung widerstreitender ökonomischer und ideeller Interessen Einzelner für die Entwicklung des Privatrechts. Was Jhering auch über Vorläufer der Einsicht in die Interessenbedingtheit des Privatrechts hinaushob7, war seine konsequente Rückführung aller subjektiven Privatrechte auf den Interessengesichtspunkt als deren konstitutivem Legitimations- und Inhaltskern bzw. – in Jherings eigenen Worten – als »Maßstab« und »substantielles Moment« aller subjektiven Rechte.8 Allein dadurch wäre Jhering eigentlich geradezu prädestiniert gewesen, einen maßgeblichen Anteil zu leisten bei der Begründung einer neuen Kategorie subjektiver Rechte an immateriellen Gütern im Konglomerat widerstreitender Interessen von Trägern geistiger Schöpfungen, deren jeweiligen technischen Vermittlern und unzähligen Rezipienten. Das gilt umso mehr, als die ziemlich genau fünfzig Jahre währende Zeit wissenschaftlicher Arbeit Jherings von Anfang 1840 bis zu seinem Tod 1892 genau in die Zeit lebhafter Diskussionen in der Rechtswissenschaft zum rechtlichen Schutz geistiger Schöpfungen fällt. Damit nicht genug, auch für die inhaltlich einschlägige deutsche Gesetzgebung bildet dieser Zeitraum einen vorläufigen Höhepunkt ausgehend vom Preußischen »Gesetz zum Schutz des Eigenthums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung« (1837) sowie – in Umsetzung der Bundesbeschlüsse von 1837 und 1841– den Partikularrechtsgesetzgebungen weiterer Staaten des Deutschen Bundes9 bis hin zur Reichsgesetzgebung der 1870er Jahre, 5 E.Wadle, Die Abrundung des deutschen Urheberrechts im Jahre 1876, in: JuS 1976, S. 771–776 (776). 6 J.Kohler, Das Autorrecht, eine zivilistische Abhandlung, zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Eigenthum, vom Miteigenthum, vom Rechtsgeschäft und Individualrecht, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 18 (1880), S. 129–478 (298). 7 Vgl. zu Vorläufern innerhalb und außerhalb der zeitgenössischen Rechtswissenschaft C.-E.Mecke, Rudolf von Jhering’s ›Struggle for Law‹ – The Rejection of Alternative Forms of Dispute Resolution?, in: Transformacje Prawa Prywatnego 4/2017, S. 37–50 (39f.) [http://www. transformacje.pl/wp-content/uploads/2017/12/tpp_4-2017_mecke.pdf]. 8 R.Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Dritter Theil. Erste Abtheilung, Erste Auflage 1865, § 60, S. 316f. 9 M.Vogel, Die Geschichte des Urheberrechts im Kaiserreich, in: GRUR 1987, S. 873–883 (875).

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die erstmals einen einheitlichen rechtlichen Schutz für urheberrechtlicher Befugnisse, Marken, Muster und Modelle sowie Werke der bildenden Künste und Photographien in Deutschland etablierte.10 Dieser in Einheitlichkeit und Weite bis dahin unbekannte gesetzliche Schutz geistiger Schöpfungen wurde schließlich noch abgerundet durch die Vereinheitlichung des Patentrechts mit dem Reichs-Patentgesetz von 1877. Zieht man die zeitgenössischen Werke der Wissenschaft zu diesem damals höchst umstrittenen Problemkreis heran, so findet man allerdings kaum Hinweise auf Jhering und wenn ja, sind sie unspezifisch für das Immaterialgüterrecht. Das ändert sich auch nicht wesentlich nach 1885, als Jherings Aufsatz zum »Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen« publiziert war, der auf immerhin gut zwanzig Seiten11 ausschließlich dem Schutz »literarischen Eigenthums« bzw. dem »Rechte an immateriellen Gütern«12 gewidmet ist. Dasselbe gilt für die zeitgenössische Rechtsprechung13, die angesichts der Neuheit der Materie besonders gefordert und auf Zuarbeit durch die Wissenschaft angewiesen war,14 sowie mit einer bemerkenswerten Ausnahme auch für einschlägige Gesetzgebungsarbeiten. Die Ausnahme betrifft einen im Jahre 1887 vom Reichsjustizamt an Jhering gerichteten Auftrag zur Erstellung eines Rechtsgutachtens im Vorfeld der Arbeiten zur Reform des Reichsurhebergesetzes von 1870/71. Jhering reagierte darauf in einem Schreiben vom 13. März 1887 an das Reichsjustizamt mit folgenden einleitenden Worten: »Das hohe Reichsjustizamt hat mich mit der Aufforderung beehrt, […] eine gutachterliche Äußerung abzugeben, und hat mich damit zu den ›berufenen Sachverständigen‹ gezählt, deren Ansichten es zu vernehmen wünschte. Zu meinem lebhaften Bedauern sehe ich mich zu dem Eingeständniß genöthigt, daß diese Voraussetzung bei mir nicht zutrifft. Allerdings ist mir die aufgeworfene Frage nicht fremd geblieben, ich habe im

10 E.Wadle, Die Abrundung des deutschen Urheberrechts im Jahre 1876, in: JuS 1976, S. 771– 776 (772). 11 R.v.Jhering, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (303–326). 12 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (304 mit Note 77). 13 Dazu N.Reinhold, Die Entwicklung des Urheberrechts unter besonderer Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung von 1870–1910, 2018, S. 45 mit Verweis auf häufige Zitierungen der urheberrechtlichen Werke von Dambach und Wächter durch die Strafsenate des Reichsgerichts und von Bluntschli, Jolly, Gerber, Dambach, Mandry, Kohler, Daude, Endemann und Allfeld durch dessen Zivilsenate. 14 So N.Reinhold, Die Entwicklung des Urheberrechts unter besonderer Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung von 1870–1910, 2018, S. 46 vor allem mit Blick auf die Vorgängerinstitution des Reichsgerichts, das Reichsoberhandelsgericht in Leipzig (1869– 1879), das sich noch nicht auf eine gefestigte Rechtsprechung zum Urheberrecht stützen konnte.

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Laufe der Zeit manches darüber gelesen, allein dadurch auch die Überzeugung gewonnen, daß mir die ausreichende Sachkenntniß zur Abgabe eines Urtheils, welches dem der wirklichen Sachkenner gegenüber einen Werth beanspruchen könnte, abgeht. Gleichwohl will ich nicht unterlassen, die Ansicht, welche ich mir über die Sache gebildet habe, mitzutheilen.«15

Diese Worte des damals fast siebzigjährigen Jhering treffen in jeder Hinsicht zu. Einerseits war er in der Tat kein »wirklicher Sachkenner« urheberrechtlicher Detailfragen auf diesem noch jungen, aber gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereits überaus komplexen Gebiet der Rechtswissenschaft, das durch ständige technische Fortschritte und ökonomisch lukrative Anwendungsmöglichkeiten – vielleicht vergleichbar dem heutigen Übergang ins digitale Zeitalter – längst nicht mehr reduziert werden konnte auf hergebrachte schlichte Fragen des Nachdrucks von Büchern. Andererseits wäre Jhering nicht Jhering, wenn er die mit der Entstehung des Immaterialgüterrechts verbundenen jahrzehntelangen Grundsatzkontroversen vollkommen ausgeblendet und für die Grundsatzfragen keinen Anschluss gesucht hätte an das römische Recht im evolutiv-kulturgeschichtlichen Wandel. Tatsächlich hatte Jhering nicht nur »im Laufe der Zeit manches […] gelesen« zur Frage des Schutzes geistiger Schöpfungen, wie er 1887 an das Reichsjustizamt schrieb. Vielmehr hat er ausgehend von den Anfängen seiner akademischen Laufbahn Anfang der 1840er Jahre bis hin zum vorgenannten Rechtsgutachten für das Reichsjustizamt fast fünfzig Jahre später immer wieder einmal seine Gedanken dazu schriftlich niedergelegt in Aufsätzen, in brieflicher Korrespondenz und in handschriftlichen Notizen, die uns in seinem wissenschaftlichen Nachlass überliefert sind. Diese Quellenzeugnisse sind nicht nur in der Form uneinheitlich und weit verstreut. Auch inhaltlich ist der Gedankengang Jherings durch den heute zumeist fremd erscheinenden pandektistischen Kontext und die spezifische Begrifflichkeit nicht immer einfach zu verstehen. Daher werden in einem ersten Schritt die Stellungnahmen zunächst nur in der chronologischen Abfolge ihrer Entstehung ohne Kommentierung und Bewertung, aber unter Ergänzung der zu ihrem vollständigen Verständnis erforderlichen Informationen präsentiert (II.). Erst in einem zweiten Schritt werden die Stellungnahmen im Kontext von zeitgenössischer Gesetzgebung und Wissenschaft auf ihre Bedeutung für die Entwicklung des Immaterialgüterrechts hin untersucht und kommentiert (III.).

15 R.v.Jhering, Schreiben vom 13. März 1887 an das Reichsjustizamt, transkribiert vom handschriftlichen Original und ins Italienische übersetzt durch Lieselotte Losano Geick, abgedruckt im Anhang bei M.G.Losano, Un inedito di Rudolf von Jhering sulla tutela giuridica degli inediti, in: Rivista di diritto industriale 17 (Nr. 1/2) 1968, S. 5–21 (16–21).

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Die leitende Forschungsfrage zielt auf die Beantwortung der Frage, ob sich an den über mehrere Jahrzehnte verteilten in der Regel kurzen Stellungnahmen eine kontinuierliche gedankliche Entwicklung von Jherings immaterialgüterrechtlichen Vorstellungen erkennen lässt oder ob umgekehrt die überlieferten Äußerungen jeweils nur anlassbezogene Momentaufnahmen sind, die in keinem inneren Bezug oder sogar in einem Gegensatz zueinander stehen.

II.

Jherings Stellungnahmen zum Schutz von Immaterialgütern

Mindestens fünf Stellungnahmen zum Schutz von Immaterialgütern sind uns von Jhering für das halbe Jahrhundert zwischen 1840 und 1890 im Druck oder handschriftlich überliefert. Unterschiedlich sind sie nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in formaler und quantitativer Hinsicht. Die von Jhering für die Öffentlichkeit bestimmten Äußerungen reichen von einer kurzen Fußnote in den Abhandlungen »Das Schuldmoment im römischen Recht« (1867/1879) bis zur ausführlichen Ausarbeitung im Aufsatz »Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen« (1885). Nicht für die Öffentlichkeit bestimmt waren hingegen die Notizen aus seinem Nachlass (1841), seine privaten brieflichen Äußerungen gegenüber dem damals – noch – eng befreundeten Fachkollegen Carl Friedrich Wilhelm Gerber (1859) und die bereits erwähnten Darlegungen für das Reichsjustizamt (1887), die nur für den innerministeriellen Gebrauch des Auftraggebers bestimmt waren.

1.

Erste Stellungnahme: Jherings handschriftliche Notizen von 1841

Die in Jherings Göttinger wissenschaftlichem Nachlass16 überlieferten Ausführungen zur Frage des »geistigen Eigenthums« sind die mit Abstand frühesten seiner hier ermittelten einschlägigen Stellungnahmen zum Schutz von Immaterialgütern. Es handelt sich um gut zwei Seiten eng beschriebenen Text, der Teil eines größeren Konvoluts ist, das Jhering auf einem Deckblatt mit der schlichten Überschrift »Bemerkungen« versehen und auf den 6. Juni 1841 datiert hat.17 Aus der Datierung lässt sich zwar nicht ableiten, dass die handschriftlichen Darlegungen des gesamten neunzehn beschriebene Blätter umfassenden Konvoluts von diesem Tag datieren, zumal die »Bemerkungen« inhaltlich ganz unter16 Eine aus dem Jahre 2013 stammende Bestandsübersicht zum Göttinger Nachlass in der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek (SUB) Göttingen findet sich online greifbar unter http://hans.sub.uni-goettingen.de/nachlaesse/Jhering.pdf. 17 SUB Göttingen, Handschriftenabteilung, Nachlass Rudolf von Jhering, Kasten 14:13, Blatt 1 recto.

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schiedliche Themenbereiche berühren.18 Dennoch spricht nach Lage des Manuskripts und Inhalt der Texte19 vieles dafür, dass die am 6. Juni 1841 begonnenen »Bemerkungen«, also auch die hier interessierenden Ausführungen zum »geistigen Eigenthum«, zu Beginn der akademischen Laufbahn Jherings entstanden sind, mithin Anfang der 1840er Jahre. Promoviert wurde Jhering am 6. August 1842 in Berlin und dort ein gutes halbes Jahr später im Frühjahr 1843 auch habilitiert.20 Jhering führt seine Ausführungen mit den Worten ein, dass es ein »großer Mißgriff« sei, »wenn man die Lehre vom Eigenthum auf d[ie] geistigen Productionen übertragen will.« Abgesehen von anderen durch Jhering nicht weiter genannten Gründen lasse sich die Lehre vom Eigentum im Falle geistiger »Productionen« auch »gar nicht durchführen, insoweit die individuelle Kennbark[eit]t des Gedankens oder des Kunstwerks fehlt«21. Als Beispiel dient Jhering die »Auffass[un]g eines R[echt]sinstituts, ich fasse es ungefähr so auf, aber […]22 der Autor, wie könnte er hier Geld von mir verlangen ! u[nd] dennoch habe ich sein Gut mir angeeignet. – Das Eigenthum an Geisteswerken kann allenfalls in dem Sinn genommen w[er]den, d[ass] man dem Autor d[a]s R[echt] auf sein Werk insofern zusichert, d[ass] keiner den Gedanken desselben als den seinigen ausgibt. Übertretu[n]g[en] d[ie]ser Pflicht bestraft aber nicht d[e]r Richter, sondern die öff[e]ntl[iche] Mein[un]g u[nd] Litteratur (Plagiat). Man kann hier aber [Bl. 14 verso] auch noch zwischen Erfind[un]ge[n] u[nd] neuen Gedanken unterscheiden. So wenig sich näml[ich] ausschl.[ießliches] R[echt] an einmal ausgesproche[nen] Gedanken rechtfertige[n] läßt, so wenig eine Litteratur bei einer solchen Theorie mögl.[ich] war23, so läßt sich doch der Gedanke auf dem Gebiet […]24 des Technischen nicht mit Unrecht in anderer Art 18 Vgl. die Inhaltsübersicht bei B.Klemann, Rudolf von Jhering und die Historische Rechtsschule, 1989, S. 68: Überlegungen zur Philosophie des positiven Rechts, zum Verhältnis von Staat und Recht, Naturgesetzen und Willenskräften, Tat und Denken, Denken und Sprache, zur »Individualität des Volkes«, zum Verhältnis zwischen objektivem und subjektivem Recht, zum Charakter des Geldes als Äquivalent, dem »Geldwerth der Verhältnisse u[nd] Güter als […] Prinzip des Rechts«, zur »Gültigkeit aller Verträge«, zur »Macht des Factums«, zum »Verhältnis des Besitzes zum Eigenthum« sowie weiteren rechtsdogmatischen Einzelfragen und schließlich zur Lehre vom Eigentum im Zusammenhang mit »geistigen Productionen«. 19 Seine Ausführungen zeugen streckenweise von der Lektüre Thibauts, Gans’ und – auf einen Notizzettel – auch Hegels selbst, die in späterer Zeit keine Rolle mehr gespielt haben für Jherings Denken. Savigny findet dagegen nicht ein einziges Mal Erwähnung. 20 B.Klemann, Rudolf von Jhering und die Historische Rechtsschule, 1989, S. 77–80. Zu Jherings wissenschaftlichem Frühwerk (1842–1852) unter besonderer Berücksichtigung anonym erschienener Veröffentlichungen C.-E.Mecke, Rudolf von Jhering. Anonym publizierte Frühschriften und unveröffentlichte Handschriften aus seinem Nachlaß. Mit Textsynopsen, Erläuterungen und werkgeschichtlicher Einordnung, 2009, S. 11–30. 21 SUB Göttingen, Handschriftenabteilung, Nachlass Rudolf von Jhering, Kasten 14:13, Blatt 14 recto. 22 Unleserliches Wort. 23 Vermutlich ein Schreibfehler, es sollte wohl heißen »wäre«. 24 Zwei unleserliche Worte.

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betrachten u[nd] demgemäß sichern (durch Patente). Das Reich der Gedanken ist nicht zunächst auf Gelderwerb gerichtet, im eignen Interesse liegt aber die merkantile Seite d[e]sselb[en] (: der Buchhand[e]l). Nur soweit dieser es seiner Bestimm[un]g nach fordert (: er ist Diener25 der Litteratur, soll also der Litteratur nicht schaden, also k.[eine] Privilegien f[ür] 200 Jahre etc.) dürfen d[ie] Grundsätze des Eigenthums angewandt w[er]d[e]n – Einz[i]g. bei rein mechanischen Producte[n] (: wo der Lohn nicht in Ehre, sondern im Geld besteht:) anders; die Gewerbe, die Technik dient26 ja ihrer Natur nach materiellem Bedürfniss, ihre Producte sind äußerer Natur. Hier ist der R[echts]schutz noch mehr am rechten Platz – allein auch hier ist [Bl. 15 recto] es immer ein Gedanke, der gesichert w[er]d[en] soll, nicht bl[oß] d[a]s einzelne körperl.[iche] Object. – von Eigenthum läßt s[ich] also auch hier nicht sprechen. Der Erfinder kann d[ie] Ideen sein nennen, so lange er s.[ie] nicht veröffentlicht hat, allein sobald das gescheh[e]n, verbietet es d[as] öffentl[iche] Wohl, ihm f.[ür] immer R[echts]schutz seiner Idee zuzusichern, es wäre unausführbar (: zb bei der Idee der wirkenden Kraft des Dampfes) – im geistigen Reich kann nicht der, welcher uns ein[e]n Weg gebahnt hat, einen Schlagbaum anleg[e]n u[nd] Steuern erhebe[n] – .«27

2.

Zweite Stellungnahme: Jherings Brief von Mitte Juni 1859 an Gerber

Seit Ende 1849 stand Jhering mit Gerber im ständigen Briefwechsel, zeitweise im Wochentakt oder noch häufiger, bis der Briefwechsel gegen Ende der 1860er Jahre immer sporadischer wurde und 1872 vollkommen endete.28 Beginn, Höhepunkt und Abebben des Briefwechsels markieren den Wandel der fachlichkollegialen und auch freundschaftlichen Beziehung zwischen beiden. Intensiviert wurde der Briefwechsel, als beide begannen, die »Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts« herauszugeben. Das erste Heft mit Jherings Programmaufsatz »Unsere Aufgabe« als Auftakt erschien im April 1856, der erste Band 1857. Anfang 1857 kündigt Gerber in einem Brief an Jhering »eine ganz ausführliche geschichtliche [und] dogmatische Bearbeitung der Lehre vom Buchhändlerischen Verlagsvertrag«29 als Beitrag zu den bis 1863 gemeinsam herausgegebenen Jahrbüchern an. Allerdings erschien Gerbers Beitrag erst über zwei Jahre später 25 Unterstreichung im Original. 26 Grammatischer Lapsus. 27 SUB Göttingen, Handschriftenabteilung, Nachlass Rudolf von Jhering, Kasten 14:13, Blatt 14 recto bis 15 recto. Ich danke Frau Margarete Ritzkowsky (Tutzing) für ihre umsichtige Transkription der teilweise sehr schwer lesbaren Handschrift Jherings. 28 Vgl. die Übersicht bei M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, S. XIII–XXII. 29 Gerbers Brief an Jhering vom 25. Februar 1857, in transkribierter Form abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 74, S. 234–236 (234).

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im dritten Band der Jahrbücher von 1859 unter dem Titel »Ueber die Natur der Rechte des Schriftstellers und Verlegers«.30 Gelesen hat Jhering den Beitrag offenbar erst nach Drucklegung und Auslieferung des dritten Hefts der Jahrbücher im Juni 1859 und dann auch gleich brieflich reagiert: »Ich hatte bisher auf das Eintreffen des 3ten Hefts gewartet, um Dir zu schreiben. […]. Die Feier der Pfingsttage […] hielt mich ab, das Heft sofort zu lesen, und ich bin erst in den beiden letzten Tagen dazu gekommen. Deine beiden Abh[andlungen] habe ich mit wahrem Genuß gelesen.«31

»Die erste«32 der beiden von Jhering hier erwähnten Abhandlungen ist Gerbers vorgenannter Beitrag »Ueber die Natur der Rechte des Schriftstellers und Verlegers«. Dort lehnt Gerber entgegen dem eher irreführenden Titel seines Beitrags subjektive »Rechte des Schriftstellers« gerade ab. Stattdessen will er den individuellen Urheberschutz nur als mittelbaren Reflex von deliktischen Verbotsnormen auffassen und stellt dabei den Schriftsteller, der nach Gerber nur »indirect«33 von den Gesetzen gegen Nachdruck profitiere, in eine Reihe mit demjenigen, welcher im öffentlichen Recht »seine persönliche Sicherheit durch mancherlei Strafgesetze, oder seine politische Freiheit durch Gesetze über Preßfreiheit, Unabhängigkeit der Rechtspflege, Religionsfreiheit gewahrt sieht.«34 Darauf geht Jhering in seinem Brief an Gerber nicht ein, sondern lobt diesen nur dafür, dass er »die beiden mög[lichen] Auffassungen«, die Auffassung des Urheberschutzes als subjektives Recht des Schriftstellers oder aber nur als Re-

30 Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 3 (1859), S. 359–398. 31 Jherings Brief an Gerber von Mitte Juni 1859, in transkribierter Form abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 115, S. 335–341 (336). Nach Auskunft von Losano ist der Brief zwar nicht datiert, lässt aber durch inhaltliche Bezüge eine Datierung auf die Zeit »nach Pfingsten 1859« (aaO, S. 335 mit Fn. 1), also nach dem 12./13. Juni 1859 zu. Vom 20. Juni 1859 datiert bereits der nachfolgende Brief Jherings an Gerber. 32 Jherings Brief an Gerber von Mitte Juni 1859, in transkribierter Form abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 115, S. 335–341 (336). An dieser Stelle unterläuft Losano in seinen editorischen Hinweisen ein Fehler, wenn er die von Jhering als »erste« angesprochene Abhandlung Gerbers dessen ebenfalls in demselben Heft erschienenen Aufsatz über die Autonomie (»Nachträgliche Erörterungen zur Lehre von der Autonomie«) zuordnet. Richtig ist vielmehr, dass Jhering in seinem Brief zunächst ausführlich Stellung nimmt zu Gerbers Aufsatz über die »Natur der Rechte des Schriftstellers und Verlegers« (S. 359–398). Den in demselben Heft der Jahrbücher folgenden Beitrag zur »Lehre von der Autonomie« (S. 411–448) spricht er dagegen konsequenterweise als zweiten Beitrag an. 33 C.F.Gerber, Ueber die Natur der Rechte des Schriftstellers und Verlegers, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 3 (1859), S. 359–398 (370). 34 C.F.Gerber, Ueber die Natur der Rechte des Schriftstellers und Verlegers, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 3 (1859), S. 359–398 (377).

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flex deliktischer Verbotsnormen, »mit großer Klarheit, Schärfe und Eleganz […] gegenüber« gestellt habe, »und sie hat mich wenigstens insoweit vollständig bekehrt, daß ich Dir die Möglichkeit und die Sufficienz Deiner Auffassung bei dem jetzigen Stande des positiven Rechts vollständig zugestehen muss. Sie deckt alle einzelnen Rechtssätze, und sie würde es erst dann nicht mehr thun, wenn auch bei Nachdruck bona fide eine Ersatzpflicht einträte, und das war ja gerade der Punkt, an dem ich Anstoß [nahm].«35

Danach zieht Jhering eine Parallele zur berühmten Besitzrechtskontroverse, der Jahrhundertkontroverse in der Privatrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts, die 1803 von Savigny mit seiner berühmten Schrift »Das Recht des Besitzes« eingeleitet wurde und erst am Vorabend des Erlasses des BGB im Jahre 1889 durch Jherings eigene, als letzte zu Lebzeiten erschienene Monographie »Der Besitzwille. Zugleich eine Kritik der herrschenden juristischen Methode« ihren Abschluss fand.36 Tatsächlich ging es auch in der Besitzrechtskontroverse »im Kern […] darum, ob das System des Privatrechts in letzter Konsequenz als ein System subjektiver Rechte begriffen werden konnte oder nur als ein System allgemeiner Normen, die letztlich auf anderen als privatrechtlichen Gründen beruhten.«37 Jhering dient diese Parallele dazu, um seine von Gerber abweichende Auffassung zum Ausdruck zu bringen und sich im Gegensatz zu diesem zum subjektiven Recht des Urhebers zu bekennen: »Der Gegensatz in der Construction, um den es sich hier handelt, ist derselbe, wie bei der bekannten Controverse über die rechtliche Natur des Besitzes, bei der Savigny, ähnlich wie Du beim Nachdruck, den Schutz des Verhältnisses in dem Verbot einer unerlaubten Handlung sucht, während Andere, zu denen auch ich mich schlage, den Besitz selbst als unmittelbar geschütztes Recht auffassen. Ich will nicht verhehlen, daß es mich bei allen Rechtsverhältnissen privatrecht[licher] Art mehr zu dieser letzteren Art der Construction hinzieht – der Abstraction des Rechts auf Grund der gewährten Klage – und Du wirst darin einverstanden mit mir sein, daß sie im allgemeinen eine höhere Stufe der jurist[ischen] Constr[uction] bezeichnet, so wenig ich auch den

35 Jherings Brief an Gerber von Mitte Juni 1859, in transkribierter Form abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 115, S. 335–341 (336). 36 Dazu eingehend und bisher unübertroffen die facettenreiche und tiefgründige Darstellung von J.Braun, Der Besitzrechtsstreit zwischen F.C. von Savigny und Eduard Gans. Idee und Wirklichkeit einer juristischen Kontroverse, in: Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 9 (1980), S. 457–506. 37 J.Braun, Der Besitzrechtsstreit zwischen F.C. von Savigny und Eduard Gans. Idee und Wirklichkeit einer juristischen Kontroverse, in: Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno 9 (1980), S. 457–506 (495).

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Mißbrauch, den man von derselben im Kriminalrecht gemacht hat […][,] in Schutz nehmen will.«38

Mit dem letzten Satz spielt Jhering an auf Gerbers Kritik an der »naturrechtliche[n] Schule vom Ende des vorigen Jahrhunderts und in diesem Jahrhundert«, in dem »insbesondere einer ihrer bedeutendster Vertreter, Feuerbach, das Verbrechen als eine Rechtsverletzung auffaßte und von diesem Ausgangspunkte« aus jedem »Verbrechen […] ein individuelles subjektives Rechts gegen[überstellte]«, was – nach Gerber – »eine völlige Verkennung des Wesens der Strafgesetze« offenbart39 bzw. eben nach Jhering einen »Mißbrauch« der dogmatischen Konstruktion subjektiver Rechte. In Anspielung auf die zweite in demselben Heft vom Juni 1859 veröffentlichte Abhandlung von Gerber über die »Lehre von der Autonomie« fügt Jhering in seinem Brief an Gerber noch an: »Bei der Abh[handlung] 2 stehe ich, wie Du weißt, ganz auf Deinem Standpunkt […]. Hier treffen wir rücksichtlich der Neigung für plastische, individualisirende Construction ganz zusammen. Ist der Gegensatz im Grunde nicht derselbe, wie bei der ersten Abh[andlung]? Bei beiden auf der einen Seite das Gesetz, auf der andern ein Recht der Rechtsinstitut[e].«40

Jhering bezieht sich damit auf die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen den positiven Rechtsregeln des Gesetzgebers (»auf der einen Seite das Gesetz«) und der wissenschaftlichen, nämlich rechtsdogmatischen Durchdringung des geltenden Rechts (»auf der andern [Seite] ein Recht der Rechtsinstitut[e]«), die er als Ausdruck »naturhistorischer« Auffassung des geltenden Rechts verstand. In seinem Einleitungsaufsatz »Unsere Aufgabe« hat er die von ihm und Gerber als Synonym für Wissenschaft und Rechtsdogmatik aufgefasste »naturhistorische« Bearbeitung des geltenden Rechts zum Programm der gemeinsam herausgegebenen »Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts« erklärt.41 38 Jherings Brief an Gerber von Mitte Juni 1859, in transkribierter Form abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 115, S. 335–341 (336f.). 39 C.F.Gerber, Ueber die Natur der Rechte des Schriftstellers und Verlegers, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 3 (1859), S. 359–398 (374). 40 Jherings Brief an Gerber von Mitte Juni 1859, in transkribierter Form abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 115, S. 335– 341 (337). In der Transkription des von Losano herausgegebenen Briefes wird das in der Handschrift unvollständig gebliebene Wort »Rechtsinstitut[…]«, ein zentraler Begriff in Jherings Theorie der juristischen Methode, unzutreffend ergänzt durch die Endung »ionen« in »Rechtsinstitut[ionen]« – ein in diesem methodentheoretischen Kontext von Jhering nicht verwendeter Begriff. 41 C.-E.Mecke, Begriff und Methode der Rechtswissenschaft bei Rudolf von Jhering, 2018, S. 466–541.

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Gerber hatte in seinem Beitrag zu den Rechten der Schriftsteller und Verleger nicht nur einen subjektivrechtlichen »Vermögensschutz […] mit der vagen Formel eines entarteten Eigenthumsbegriffs« zurückgewiesen42, sondern auch diejenigen Vertreter eines subjektiven Rechts des Schriftstellers an dessen geistigen Werk angegriffen, die – wie Johann Caspar Bluntschli43 »zwar das literarische Eigenthum verwerfen, darum aber doch nicht darauf verzichten, ein ursprüngliches Recht des Autors zu construiren«, weil es »ihren Sinn für juristische Plastik [verletzt], wenn man den ganzen Apparat des Schutzes gegen Nachdruck nur auf einen imperativen Rechtssatz stützt; sie sind bemüht, statt dieser abstracten Basis einen greifbaren Körper zu gewinnen […].«44 Darauf nimmt Jhering Bezug, wenn er in seinem Brief an Gerber bei aller Diplomatie gegenüber dem Mitstreiter und Freund sein Befremden gegenüber dessen unversöhnlicher Haltung zu subjektiven Rechten des Autors nicht unterdrücken kann: »Du hast ganz Recht, wenn Du die Vorliebe für diese Art der Constr[uction] als eine Regung des Gefühls für jurist[ische] Plastik bezeichne[s]t, und es ist mir eigentlich immer überraschend gewesen, daß Du, der Du selbst dies Gefühl oder diesen Sinn in so hohem Grade besitzest, bei dieser Frage Dich zu der – laß es mich so ausdrücken – minder eleganten, wie der individualisierenden Ansicht bekennst. Gerade an Dir hätte die entgegengesetzte meinem Gefühl nach ihren eigentlichen Vertreter finden sollen, und ich möchte es fast bedauern, daß Du ihr umgekehrt wahrscheinlich auf lange den Sieg erschwert hast. Denn darüber kann in der That nach Deiner Darstellung kein Zweifel mehr sein, daß Deine Auffassung juristisch vollkommen haltbar ist, und daß die Entscheidung für die entgegenstehende bloß Sache der Neigung sein wird.«45

3.

Dritte Stellungnahme: Jherings Schrift »Das Schuldmoment im römischen Privatrecht« (1867/1879)

Die – soweit ersichtlich – erste noch zu Lebzeiten publizierte Äußerung Jherings zum Urheberrecht findet sich erst verhältnismäßig spät nach dessen Durchbruch zum Interessengesichtspunkt des Rechts46 – und zudem noch versteckt in einer 42 C.F.Gerber, Ueber die Natur der Rechte des Schriftstellers und Verlegers, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 3 (1859), S. 359–398 (360) – »ein ärmlicher […] Nothbehelf« (aaO). 43 J.C.Bluntschli, Das sogenannte Schrifteigenthum. Das Autorrecht, in: Kritische Ueberschau der deutschen Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1 (1853), S. 1–26 (8). 44 C.F.Gerber, Ueber die Natur der Rechte des Schriftstellers und Verlegers, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 3 (1859), S. 359–398 (363). 45 Jherings Brief an Gerber von Mitte Juni 1859, in transkribierter Form abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 115, S. 335–341 (337) – Hervorhebung im Original hier in Kursivschrift. 46 Vgl. oben Fußnote 8.

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Fußnote – in der 1867 veröffentlichten Abhandlung »Das Schuldmoment im römischen Privatrecht. Eine Festschrift« für den Strafrechtler, Rechtsphilosophen und Gießener Kollegen Johann Michael Franz Birnbaum. Diese zunächst als Buch erschienene Schrift hat Jhering 1879 unverändert, aber mit einem Nachtrag versehen in seinem Sammelband »Vermischte Schriften juristischen Inhalts« nochmals publiziert.47 Vor dem großen Panorama der Kulturgeschichte des Rechts sucht Jhering in seiner Untersuchung nachzuweisen, dass auch die geschichtliche »Entwicklung des römischen Civilrechts« gekennzeichnet sei von einem schon in frühesten Zeiten nachweisbaren Bewusstsein für »subjectives«, also dem Einzelnen vorwerfbares Unrecht, während sich ein Bewusstsein für »objectives Unrecht«, das keine Schuld des Einzelnen voraussetze, »erst durch den Gesichtspunkt des Delicts hindurch arbeiten«48 müsse, bevor es als eigenständige Form des Unrechts im Privatrecht erkennbar werde. »Es ist das keine vereinzelte Thatsache des römischen Obligationenrechts, sondern der darin sich vollziehende Durchgang des Rechtsbegriffes durch die subjectivistische zur objectivistischen Form, wie ich den Gegensatz bezeichnen will, ist eine Erscheinung, die sich in allen Rechten und auf allen Rechtsgebieten oft wiederholt, und die sich selbst in der Geschichte der Wissenschaft nicht verläugnet. Leicht ist es, dass Unrecht zu erkennen, wo das Delict an seiner Wiege sitzt […]. Aber das Erkenntniß über das objective Unrecht ist ungleich schwerer, denn letzteres hat nichts Verletzendes, es ist frei von aller Schuld, ja es verträgt sich mit der festen Ueberzeugung des eignen Rechts; um ihm das Urtheil zu sprechen, dazu bedarf es der vollen Klarheit über Inhalt und Ausdehnung des verletzten Rechts.«49

Nicht nur von seinen Voraussetzungen her, auch in seinen Rechtsfolgen unterscheiden sich nach Jhering beide Formen des Unrechts: »Die natürliche Folge jeder schuldvollen Verletzung eines fremden Rechts ist die Verpflichtung zur Aufhebung der nachtheiligen Folgen der That, d. h. zum Schadensersatz, unabhängig davon, ob und wie weit der Schuldige durch die That bereichert ist oder nicht. Die Folge der unverschuldeten Rechtsverletzung dagegen kann der Idee der Gerechtigkeit zufolge nur in der Aufhebung des objectiv unrechtmäßigen sachlichen Zustandes bestehen; nur so weit also und nur so lange existirt hier ein Anspruch, als ein solcher Zustand besteht.«50

47 R.v.Jhering, Das Schuldmoment im römischen Privatrecht. Eine Festschrift, mit einem Nachtrag (S. 230–240) versehen wieder abgedruckt in: ders., Vermischte Schriften juristischen Inhalts, 1879, S. 155–240 (Vorwort, S. VI). 48 R.v.Jhering, in: ders., Vermischte Schriften juristischen Inhalts, 1879, S. 155–240 (195) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 49 R.v.Jhering, in: ders., Vermischte Schriften juristischen Inhalts, 1879, S. 155–240 (195). 50 R.v.Jhering, in: ders., Vermischte Schriften juristischen Inhalts, 1879, S. 155–240 (161).

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Um diesen Unterschied, aber auch den bis in Jherings eigene Zeit hineinreichenden historischen Entwicklungsgang an Beispielen zu erläutern, führt er in einer längeren Fußnote auch Geschichte und Gegenwart des »Autorrechts« an: »Dasselbe gilt von einer Menge von Fällen, wo die römischen Juristen eine culpa annahmen – es sind Bestimmungen objectiver Art, gewaltsam in die subjective Form gezwängt, die erst die fortschreitende Wissenschaft von dieser engen Form ablösen wird. Ein Beispiel aus der germanistischen Jurisprudenz gewährt der Gegensatz der Ansichten über das Autorrecht: der subjectivistischen, welche das Verhältniß unter das im Nachdruck liegende Delict bringt, und der objectivistischen, welche dasselbe, entbunden von dieser beschränkten Voraussetzung, in seiner Objectivität gleich dem Eigenthum als Autorrecht anerkennt.«51

4.

Vierte Stellungnahme: Jherings Beitrag zum Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen (1885)

Jherings mit Abstand ausführlichster Beitrag zum Immaterialgüterschutz ist Teil einer Abhandlung zum »Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen« in den 1885 erschienenen »Jahrbüchern für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts«. Es ist gleichzeitig auch der einzige Beitrag Jherings, der sich mit der Frage des gemeinrechtlichen Rechtsschutzes von Immaterialgütern befasst. Damit machte Jhering erstmals deutlich, dass er den gesamten Immaterialgüterschutz nicht als eine ausschließlich in das Gebiet der »germanistischen Jurisprudenz« fallende Frage betrachtete, wie es 1867/79 in seiner Schrift zum »Schuldmoment im römischen Privatrecht« für das Autorrecht noch den Anschein haben konnte.52 Allerdings bildet auch 1885 der gemeinrechtliche Schutz von Immaterialgütern weder den Ausgangspunkt noch das zentrale Thema der mehrere hundert Seiten umfassenden Abhandlung. Ausweislich ihres Titels geht es vielmehr um die auf ein prätorisches Edikt zurückgehende actio injuriarum aestimatoria53 und deren – nach Jhering – erweitertes Anwendungsgebiet im Pandektenrecht. Eine besondere Bedeutung aus immaterialgüterrechtlicher Hinsicht gewinnt die Abhandlung aber durch zwei grundlegende Gedankenschritte in Jherings Argumentation. Erstens fasst er Immaterialgüter als in jeder Hinsicht taugliche Gegenstände subjektiver Rechte auf, die ebenso wie das Sacheigentum und andere Rechtsobjekte im Falle ihrer Verletzung einen Anspruch auf Rechtsschutz haben [dazu a)]. Zweitens sieht Jhering speziell im Falle der Verletzung von Immaterialgüterrechten im Gegensatz zu anderen Rechtsgutverletzungen immer die 51 R.Jhering, Schuldmoment (1867), in: Vermischte Schriften, S. 197 Note 73. 52 Vgl. den Nachweis in vorstehender Fußnote. 53 D.Leuze, Die Entwicklung des Persönlichkeitsrecht im 19. Jahrhundert, 1962, S. 72f.

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spezifischen Voraussetzungen der actio injuriarum für erfüllt an, da hier der neben der Rechtswidrigkeit erforderliche »animus injuriandi«54 immer vorliege und damit auch die für die »concrete Injurienklage charakteristische »mittelbare Verletzung der Person«55 des Trägers des jeweiligen Immaterialgüterrechts [dazu b)]. Anschließend folgen noch erläuternde Ausführungen zum Schutz einzelner Immaterialgüter durch die actio injuriarum [dazu c)].

a)

Immaterialgüter als mögliche Gegenstände subjektiver Rechte

Gemeinrechtlichen Schutz sollte die actio injuriarum nach Jhering jeder Person bieten, die durch eine Injurie »angegriffen [wird] in ihren Beziehungen zur Außenwelt […]. Dahin gehören vor allem ihre Verhältnisse zu den Sachen, welcher Art dieselben auch seien: Eigenthum, Besitz, Detention, die jura in re, das Recht auf Benutzung der res publicae und res religiosae. Sodann ihre Beziehungen zu anderen Personen: die Obligationen und Familienverhältnisse, und endlich diejenigen Rechte, für welche die römische Systematik, weil sie den Römern unbekannt waren, keine entsprechende Form darbietet, und die man als Rechte an immateriellen Gütern bezeichnet hat, z. B. das Urheberrecht, das Recht an Namen und Zeichen […].«56

Diese – neue – dritte Kategorie von subjektiven Rechten an immateriellen Gütern stellt Jhering also in der gemeinrechtlichen Systematik in eine Reihe mit den im römischen Recht wurzelnden Rechten an Sachen und den Rechten gegenüber Personen. Ausführlich äußert sich Jhering zur Frage nach einer passenden Bezeichnung dieser dem römischen Recht noch unbekannten Kategorie von Rechten. Gerade mit Blick auf die ganz unterschiedlichen Arten immaterieller Güter, so nimmt Jhering keineswegs nur Schriften, sondern unter anderem auch Muster, Marken, Zeichen und Photographien in den Blick, hält er es für »ein systematisches Bedürfnis, diese Rechte unter einen Begriff zusammenzufassen und eine zusammenfassende Darstellung derselben zu geben […].«57 Als Oberbegriff für die gesamte neue Kategorie von Rechten hält Jhering die »Bezeichnung: Rechte an 54 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (187). 55 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (181). 56 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (180f.) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 57 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (304 Note 1).

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immateriellen Gütern« für durchaus möglich58 und »vom ökonomischen Standpunkte aus« sogar für »ganz treffend«59. Dennoch plädiert er letztlich für die Verwendung eines erweiterten Begriffs des Eigentums als den »kürzesten und treffendsten«, auch wenn dieser mit Blick auf die wesentlichen Unterschiede zwischen dem Eigentum an Sachen und dem Eigentum am »geistigen Inhalt« eines Rechts »nun bekanntlich von der Schule bemängelt« werde.60 Aber es »enthält doch wahrlich keine zu große Anforderung an das juristische Denken, den Begriff des Rechts von den körperlichen Gegenständen auf die unkörperlichen, auf Namen, Marken, Geistesproducte, Erfindungen u.s.w. zu übertragen. Wessen Vorstellung das nicht fertig bringt, soll aufhören Jurist zu sein, das juristische Denken muß im Stande sein, sich von den Banden des Sinnlichen frei zu machen.«61

Die Erweiterung des Eigentumsbegriffs erscheint Jhering aus zwei Gründen als legitim und keinesfalls – wie Gerber meinte – nur als ein »ärmlicher […] Nothbehelf«62. Erstens komme im Eigentumsbegriff zum Ausdruck, dass auch die neue Kategorie der Immaterialgüterrechte nicht mit dem Recht der Persönlichkeit zusammenfalle, sondern vielmehr eine eigenständige Form absoluter Rechte darstelle, die im Gegensatz zum Recht der Persönlichkeit auch auf einen anderen übertragbar sind. Zweitens stellt Jhering die Erweiterung des Begriffs des Eigentums im Besonderen und der Sachenrechte im Allgemeinen in einen größeren kulturhistorischen Entwicklungszusammenhang. Was die erstgenannte Frage der Begrifflichkeit im Spannungsfeld von Eigentum und Persönlichkeit betrifft, so hebt Jhering hervor, dass mit der actio injuriarum »nicht die Persönlichkeit als solche geschützt [wird], sondern die Persönlichkeit im Eigenthum. […] Wäre die Anknüpfung an das Eigenthum ausgeschlossen, so bliebe nichts übrig, als die von Einigen für das Urheberrecht geäußerte m. E. völlig verfehlte Idee der Begründung desselben auf das Recht der Persönlichkeit. Es ist dies ganz derselbe systematische Mißgriff, wie ihn Puchta begangen hat, als er den Besitz als Recht der Persönlichkeit charakterisirte. Es heißt mit den Worten und Begriffen spielen, wenn man die concreten Verhältnisse, welche die Person begründet hat, unter den Begriff der

58 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (304 Note 1) – Sperrdruck im Original in Kursivschrift wiedergegeben. 59 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (181). 60 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (303f.). 61 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (311). 62 Vgl. Fn. 42.

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Persönlichkeit bringt. Indem sie dieselben begründet hat, ist sie über sich selbst hinausgegangen, hat sie eine Position in der Außenwelt genommen […].«63

Jhering hält daher auch den in der zeitgenössischen Diskussion um das Urheberrecht befindlichen Ausdruck »Individualrecht für unzutreffend und irreführend«, weil dieser mit Blick auf die Unterschiede zwischen dem Recht der Persönlichkeit und den übrigen subjektiven Rechten der Person an Gegenständen in der Außenwelt »leicht zu Mißverständnissen Anlaß gibt.«64 Damit will Jhering keinesfalls die geistig-schöpferische Tat bestreiten, die die rechtliche Zuordnung des Ergebnisses dieser Schöpfung, des »Geistesproduct[es]«, zu dessen Schöpfer – nicht anders als etwa beim Erwerb von Sacheigentum durch Verarbeitung (»Specifikation«) – legitimiere und auch erfordere.65 Dies gelte »bei Verletzungen des Urheberrechts« im Übrigen auch vollkommen unabhängig davon, ob im Einzelfall ein »ökonomisches Interesse« vorliege oder »gänzlich fehlen« würde.66 »Aber der Ausdruck [sc. Individualrecht] entspricht dem nicht, er ruft vielmehr die Vorstellung hervor, daß das Recht, um das es sich handelt, mit seinem Schöpfer noch zusammenhängt, sich nicht von ihm abgelöst hat.«67

Ohnehin sei bei allen subjektiven Rechten »nicht der Gegenstand […] das Entscheidende […], sondern die rechtliche Beziehung des Berechtigten zu ihm, die auf den zwei Momenten des Inhalts«, dem von Jhering in seiner »Theorie der [subjektiven] Rechte«68 so genannten substantiellen Moment des Rechts, und dem »formalen Element« des »Rechtsschutzes beruht«, dem von Jhering so ge-

63 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (309f.) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. Zu Puchtas Rechten an der eigenen Person und dem Besitz als eines dieser Rechte D.Leuze, Die Entwicklung des Persönlichkeitsrecht im 19. Jahrhundert, 1962, S. 52–58; C.-E.Mecke, Begriff und System des Rechts bei Georg Friedrich Puchta, 2009, S. 747–761. 64 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (304 Note 1) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 65 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (311). 66 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (312). 67 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (311f.). 68 R.Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Dritter Theil. Erste Abtheilung, Erste Auflage 1865, § 60, S. 307–327 (»Das substantielle Moment des Rechts«), § 61, S. 327–342 (»Das formale Moment des Rechts«).

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nannten »formalen Element des Rechts«69 Nach dem substantiellen Moment habe der Träger eines Immaterialgüterrechts aber grundsätzlich »ganz dieselbe Stellung, wie der Eigenthümer hinsichtlich der Sache. Sein Recht ist wie das des letzteren ein primäres und volles, nicht wie das der Inhaber von iura in re ein abgeleitetes und beschränktes, beide verwirklichen den Gedanken der ausschließlichen und dauernden Bestimmung des (materiellen, immateriellen) Guts für die Person im Gegensatz zu der sei es inhaltlich oder zeitlich beschränkten bei den iura in re.«70

Bei dem für die Rechtsdurchsetzung entscheidenden formalen Element, dem prozessualen Rechtsschutz, gibt es nach Jhering dagegen zwar wesentliche Unterschiede zwischen Sacheigentum und geistigem Eigentum, aber doch zumindest auch eine wichtige Gemeinsamkeit: »Jene Rechte [sc. an geistigen Schöpfungen] sind ebenso wie das Eigenthum absolut (in rem) geschützt, nicht wie die Obligationen bloß relativ (in personam).«71

Als absolute dingliche Vollrechte gehören die Immaterialgüterrechte nach Jhering daher zwar nicht in das System der Sachenrechte, aber an die Seite der Sachenrechte. Dafür macht Jhering in einem zweiten Schritt als kulturhistorisches Argument geltend: »[…] ich bin der Überzeugung, daß sich der Sprachgebrauch des Lebens [sc. geistiges/ literarisches Eigentum] […] durch […] juristische Bedenken nicht wird beirren lassen, ja ich glaube sogar, daß er in nicht gar langer Zeit auch von der Wissenschaft adoptirt werden wird. Es wird sich hier dieselbe Erscheinung wiederholen, welche wir im römischen Recht vor Augen haben: die Uebertragung der ursprünglich für die Sache bestimmten Begriffe und sprachlichen Wendungen auf die Rechte. Alle Akte und Verhältnisse des Vermögensrechts haben ursprünglich die Sache zum Gegenstand gehabt, das sichtbare, faßbare Ding bildet das erste und natürliche Object des Rechts […]. Aber von diesem materiellen Ausgangspunkt hat sich das Recht nach und nach zu einer immateriellen, spiritualistischen Auffassung erhoben, welche die res incorporalis mit der res corporalis auf eine Linie stellt; die Begriffe und Wendungen, welche für letztere gemünzt waren, werden jetzt, soweit das überhaupt möglich ist, auch auf die Rechte übertragen. […] Wozu diese Ausführung? Um die obige Ausdehnung des Begriffs des

69 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (307 mit Note 1) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 70 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (307) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 71 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (307) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift.

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Eigenthums von der Sache auf Rechte mit dem Beispiel der römischen Juristen zu rechtfertigen.«72

Mit dieser kulturhistorischen Beglaubigung meint Jhering mit Blick auf die eigene Zeit und Zukunft: »Ganz dasselbe hoffe ich […] von der heutigen Jurisprudenz, es wäre der letzte noch übrig bleibende Schritt zur vollständigen Immaterialisierung des Sachenrechts, – nachdem dasselbe sich bereits zu dem Besitz, Pfandrecht, Nießbrauch an Rechten erhoben hat, fehlt nur noch das Eigenthum an Rechten. Es ist nicht Zufall, daß der vulgäre Sprachgebrauch diesen Schritt längst gethan hat, er hat hier wie gewöhnlich das Richtige vollkommen getroffen.«73

b)

Eingriffe in Immaterialgüter als »mittelbare Verletzung der Person« des Berechtigen

Auch die Geschichte der actio injuriarum selbst versteht Jhering als »ein Stück innerer Culturgeschichte des römischen Volks«74. Erst im späteren – klassischen – römischen Recht sei diese Klage erweitert worden um den Schutz der »Person in ihren concreten Rechtsverhältnissen […], während die act. injur. in ihrer ursprünglichen historischen Gestalt lediglich die Person als solche schützte […].« Ausgehend von dieser – nach Jhering – erweiterten Form eines bereits im römischen Recht bekannten zweifachen rechtlichen Schutzes der Person, nämlich eines »unmittelbaren« Schutzes der Person als solcher »in ihrem Körper […], in ihrer Freiheit […], in ihrer Ehre« und eines »mittelbaren« Schutzes der Person in ihren konkreten Rechtsverhältnissen, »in ihren Beziehungen zur Außenwelt«75 will Jhering in seiner Abhandlung nun auch »alle Verhältnisse unseres heutigen Lebens [aufzeigen], in denen die Klage ebenfalls am Platz ist […].«76 Den der actio injuriarum zugrunde liegenden Rechtsgedanken, der sie von allen anderen gemeinrechtlichen Klageformen unterscheide, findet Jhering in einem aus den Quellen herausgelesenen »animus injuriandi«, der jeweils noch 72 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (304f.) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 73 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (306) – Sperrdruck im Original hier hier in Kursivschrift. 74 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (157). 75 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (180f.) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 76 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (163).

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zur Rechtswidrigkeit einer Handlung hinzukommen müsse und die Fälle der actio injuriarum sowohl von »sämmtliche[n] Fälle[n] des s.g. unbefangenen oder objectiven Unrechts, wie ich es nenne […]«, als auch von den meisten Delikten unterscheide.77 »[…] der injuriöse Rechtsverletzer, wie ich ihn nennen will, […] fürchtet das Recht nicht, er bietet demselben offenen Hohn. Alle injuriösen Rechtsverletzungen erfolgen […] unter Umständen, wo das Recht des Andern zweifellos, offen mit Füßen getreten wird. Gerade darin liegt das persönlich Verletzende, welches dieser Form der Rechtsverletzung im Gegensatz zu allen andern den Stempel der Injurie aufprägt […]. Es ist die Ueberhebung der einen Person über die andere […].«78 »Es ist dies der Punkt, wo die Rechtsverletzung die Ehre berührt, der von mir an anderer Stelle [sc. Kampf ums Recht] ausgeführte Zusammenhang des Rechts mit der Persönlichkeit.«79

Die actio injuriarum soll nach Jherings Quellenexegese also nicht nur bei unmittelbaren Angriffen auf Körper, Freiheit oder Ehre einer Person zur Anwendung kommen können, sondern auch schon bei der Verletzung von anderen Rechtsgütern dieser Person, sofern diese Verletzung gleichzeitig einen mittelbaren Angriff auf die Person darstelle. Der »animus injuriandi« bezeichne den über die »bewußte Rechtsverletzung« hinausgehenden – mittelbaren – Angriff auf die Persönlichkeit des Verletzten.80 Bei der Übertragung dieser Voraussetzungen der actio injuriarum auf die »Verhältnisse unseres heutigen Lebens«81 nimmt Jherings Argumentation nun im Falle des Immaterialgüterschutzes eine überraschende Wendung. Während er nämlich den Nachweis des »animus injuriarum« des Rechtsverletzers auf anderen Rechtsgebieten des »heutigen Lebens« wie dem Nachbarrecht in jedem Einzelfall für erforderlich hielt, sollte im Falle einer Verletzung von Immaterialgütern kein derartiger zusätzlicher Nachweis erforderlich, mithin eine Klage bei allen verschuldeten Immaterialgüterrechtsverletzungen zulässig sein. Den Grund 77 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (182, 187) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 78 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (190) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 79 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (191) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 80 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (187f.) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 81 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (163).

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für die ungleichen Klagevoraussetzungen sieht Jhering in der Ungleichheit der Verletzung von körperlichen und immateriellen Gegenständen begründet: »Beim geistigen Eigenthum besteht die Verletzung stets bloß in einer Concurrenz in Bezug auf die Ausübung, in Übergriffen in die fremde Rechtssphäre […]. […] diese […] Verletzung trägt beim geistigen Eigenthum einen andern Charakter an sich als beim körperlichen. Beim Eigenthum kann die Verletzung, sowohl die totale wie die partielle, mit dem Glauben der eigenen Berechtigung (bona fides) verbunden sein, d. h. lediglich ein objectives (unbefangenes) Unrecht enthalten ohne ein subjectives, beim unkörperlichen enthält sie stets beides zugleich, die Eingriffe in die fremde Rechtssphäre stellen sich hier stets, wenn auch nicht als bewußte, so doch als verschuldete und zurechenbare Rechtsverletzungen dar. Die Personen, welche sich dieselben zu Schulden kommen lassen, wissen oder müssen wissen, daß sie das nicht dürfen, was sie thun, ihnen fällt daher ihr Nichtwissen zur Last, sie hätten, wenn der Fall irgendwie zweifelhaft war (z. B. in Bezug auf das Erlöschen der Schutzfrist beim Urheberrecht) sich vorher vergewissern sollen, erforderlichenfalls durch Anstellung einer Feststellungsklage, jedenfalls kann das gute Recht Jemandes nicht von dem Rechts- oder factischen Irrthum eines Andern, der sich hätten erkundigen können und müssen, abhängig gemacht werden.«82

Jherings Schlussfolgerung ist so einfach wie überraschend: »Daraus ergibt sich, daß die act.[io] injuriarum die zuständige Klage ist. […] die Eingriffe in das unkörperliche Eigenthum [enthalten] stets injuriöse Rechtsverletzungen […].«83 Zeitgenössischen Zweifeln darüber, ob die actio injuriarum nach geltendem Gesetzesrecht überhaupt noch auf Fälle wie zum Beispiel Immaterialgüterrechtsverletzungen zur Anwendung kommen könne, erteilt Jhering eine klare Absage: »Wie steht es nun mit dieser Klage in unserm heutigen Recht? Ist dieselbe etwa durch die Bestimmungen des Strafgesetzbuchs für das deutsche Reich im vierzehnten Abschnitt über Beleidigung (§ 185–200) beseitigt? Dies ist die Ansicht mancher Schriftsteller, die ich aber nicht theilen kann. Das Gesetz hat meines Erachtens nur die abstracte Injurie […] im Auge, nicht die concrete, es spricht nur von Beleidigung, worunter sich die injuriösen Rechtsverletzungen im obigen Sinn, d.i. Eingriffe in die concrete Rechtssphäre eines Andern nicht verstehen lassen, und für die es auch bei uns ganz desselben civilrechtlichen Schutzes bedarf wie bei den Römern.«84

82 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (308) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 83 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (308f.) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 84 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (267f.) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift.

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Keinesfalls will Jhering damit behaupten, dass bereits die Römer den Schutz von Urheberrechten gekannt hätten. Gemeint hat er injuriöse »Eingriffe in die concrete Rechtssphäre eines Andern« auf anderen Rechtsgebieten als dem Urheberrecht, etwa im Nachbarrecht oder bei Sachen des Gemeingebrauchs (»usus publicus«), im Unterschied zu den auch nach Jhering nicht mehr gemeinrechtlich, sondern durch das Reichsstrafgesetzbuch geschützten Angriffen auf die Ehre einer Person. Aber gerade auch am Immaterialgüterschutz ließe sich belegen, dass die – nach Jhering auf einer unzutreffenden Auffassung des römischen Rechts beruhende – Annahme einer vollständigen Verdrängung der actio injuriarum durch die jüngere Reichsgesetzgebung »eine wahrhaft unerträgliche Lücke in unserm Recht« für solche Bereiche »begründen würde«, die wie der Immaterialgüterschutz »mit Einrichtungen und Verhältnissen unseres heutigen Lebens zusammenhängen, welche den Römern [noch] unbekannt waren.«85 Nicht nur von ihren Voraussetzungen, sondern auch von ihrer prozessualen Funktion her betrachtet attestiert Jhering der actio injuriarum »die nöthige Weite […], um den Interessen, die hier auf dem Spiel stehen, vollkommen gerecht zu werden«, nämlich erstens durch die Befriedigung materieller Interessen »mit der ökonomischen Function des Schadensersatzes« sowie damit verbunden zweitens »zugleich [durch] die ideale Satisfaction für die begangene Rechtskränkung« und drittens durch die »prophylaktische« einer Sicherung gegen Wiederholung der Eingriffe für die Zukunft: »In manchen Fällen der Verletzung des geistigen Eigenthums wird es sich bloß um die beiden letzteren Zwecke handeln, z. B. bei Aufstellung oder Verkauf von Photographieen von Privatpersonen ohne deren Erlaubniß Seitens der Photographen. Selbst bei Verletzungen des Urheberrechts kann ein ökonomisches Interesse gänzlich fehlen […].«86

c)

Einzelne Immaterialgüterrechte und der Interessengesichtspunkt

So wie Jhering in seinen seit 1865 erschienenen Publikationen aus den ökonomischen und ideellen Interessen der Träger subjektiver Rechte nicht nur Legitimation und Inhalt dieser Rechte, sondern auch deren Beschränkung ableitet, verfährt er 1885 mit den Immaterialgüterrechten. Um hervorzuheben, dass nicht nur dem rechtlichen Immaterialgüterschutz, sondern dem gesamten materiellen und prozessualen Recht der Interessengesichtspunkt zugrunde liege, zieht er 85 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (269f.). 86 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (312) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift.

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zum Vergleich das Sachenrecht heran, an dem er zuvor schon in verschiedenen Zusammenhängen87 dargelegt hatte, dass »Besitz und Eigenthum […] praktisch ihre Grenze am Interesse [finden] – wo das Interesse aufhört, mag immerhin der Begriff sein Spiel weitertreiben, es ist das die Region der […] Begriffsjurisprudenz.«88

Für »die rechtliche Gestaltung des geistigen Eigenthums« bedeute dies, dass auch hier der rechtliche Schutz enden müsse, wo das ökonomische oder ideelle Interesse eines Inhabers immaterieller Güter ende, während hingegen umgekehrt die auf den Beginn des Schutzes zielende Frage danach, welche Interessen auch rechtlichen Schutz für den jeweiligen Träger der Interessen beanspruchen dürften, von der jeweiligen Rechtsordnung, in der Regel vom Gesetzgeber zu entscheiden sei. Denn: »Nicht alle Interessen bedürfen des rechtlichen Schutzes, nicht alle sind desselben fähig. Und ferner: nicht jedes Gesetz, welches mein Interesse schützt, erzeugt für mich ein [sc. subjektives] Recht. Das Gesetz, welche im Interesse gewisser Fabrikationszweige Schutzzölle einführt, kommt den Fabrikanten zu gute, es schützt sie, und dennoch gewährt es ihnen keine Rechte. […] Es liegt hier nur eine rechtliche Reflexwirkung vor […]. Der Staat erläßt das Gesetz in Wirklichkeit in seinem Interesse, welches hier freilich mit dem der Fabrikanten […] Hand in Hand geht. […] Ganz dasselbe gilt für die Polizei- und Criminalgesetze.«89

Anderes gilt nach Jhering hingegen für die rechtlich geschützten Immaterialgüter. Die einschlägigen Gesetze wie das Urheberrechtsgesetz von 1870/71, das Markenschutzgesetz von 1873, die Gesetze zum Schutz von Werken der bildenden Künste, über den Schutz von Photographien und das Urheberrecht an Mustern und Modellen von 1876 sowie das Reichs-Patentgesetz von 1877 schützen als Teil der Privatrechts nicht nur mittelbar durch Reflexwirkung, sondern um des Rechtsträgers willen dessen rechtliche Interessen, und zwar wie grundsätzlich alle subjektiven Privatrechte »keineswegs ausschließlich […] ökonomische: Geld und Geldeswerth«, sondern auch »noch höhere Güter ethischer Art« wie etwa die Persönlichkeit, »ohne welche die äußerlichen, sichtbaren Güter gar keinen Werth

87 Vgl. nur R.Jhering, Zur Lehre von den Beschränkungen des Grundeigenthümers im Interesse der Nachbarn, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 6 (1863), S. 81–130. 88 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (242) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 89 R.Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Dritter Theil. Erste Abtheilung, Erste Auflage 1865, § 61, S. 327f. – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift.

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haben würden«90, was für die unsichtbaren geistigen Güter erst recht gilt. Insofern erweise sich auch »für die rechtliche Gestaltung des geistigen Eigenthumes […] dieser Gesichtspunkt [sc. des Interesses] als der maßgebende. Man vergleiche z. B. §§ 4–6 unseres Reichsgesetzes über das Urheberrecht vom 11. Juni 1870 (»b. Verbot des Nachdrucks«) mit § 7 (»Was nicht als Nachdruck anzusehen ist«). Der […] Gegensatz […] wiederholt sich wie bei den körperlichen Eigenthumsobjecten, so auch bei den Geistesproducten.«91

Ebenso wie der Schutz des Sacheigentümers spätestens dort ende, wo dessen formale Rechtsposition durch kein nachvollziehbares materielles oder immaterielles Interesse des Rechtsträgers mehr gedeckt werde, entsprächen dem die Bestimmungen des Reichsurheberrechtsgesetzes, wo die »hier […] in § 7 genannten Fälle[n] des erlaubten usus publicus an Geistesproducten: ›Das wörtliche Anführen einzelner Stellen oder kleinerer Theile eines bereits veröffentlichten Werkes – der Abdruck einzelner Artikel aus Zeitschriften u.s.w. – von Gesetzbüchern, Gesetzen u.s.w. – von Reden‹ (der dort bezeichneten Art)«92

zu Recht von vornherein vom gesetzlichen Schutz ausgenommen werden. Allerdings sieht Jhering nicht nur den Gesetzgeber gefordert beim interessengerechten Zuschnitt des Immaterialgüterschutzes, sondern auch den Richter, wie er am Beispiel des »geistigen Eigenthums an Briefen« ausführt. »Die Frage, in wie weit dasselbe anzuerkennen und zu schützen sei, ist eine reine Interessenfrage, welche dem Ermessen des Richters zu überweisen ist. […] Die Veröffentlichung von Briefen ohne Erlaubniß des Urhebers oder seiner Erben erzeugt nicht schlechthin die act.[io] injur.[iarum], sondern nur dann wenn ein (ökonomisches oder persönliches) Interesse dadurch verletzt wird.«93

Jhering fasst im Anwendungsbereich der actio injuriarum auch subjektive Privatrechte unter den Oberbegriff »geistiges Eigenthum« bzw. »Rechte an immateriellen Gütern«94, die nicht nur nach heutiger, sondern auch bereits aus seiner Sicht jenseits des Gebiets des Urheberrechts lagen. Das gilt insbesondere für die

90 R.Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Dritter Theil. Erste Abtheilung, Erste Auflage 1865, § 60, S. 317. 91 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (243 Note 1 sowie S. 317f.). 92 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (243 Note 1). 93 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (317f.) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 94 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (304 Note 1).

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»Erfindungspatente« auf der einen Seite und ausgewählte Persönlichkeitsrechte auf der anderen. Was das Verhältnis zwischen Urheberrechten und »Erfindungspatente[n]« betrifft, so stehe »die Erfindung […] mit dem Geistesproduct insofern auf einer und derselben Linie, als sie gleich dieser eine geistige That ist, deren Früchte vom Recht dem Urheber zugesichert werden.«95 »Aber die Form, in der dies bei beiden geschieht, ist eine verschiedene, bei den Geistesproducten erfolgt die Zuerkennung des Rechts an denselben abstract durch Rechtssatz, bei den Erfindungen concret durch Verfügung der Verwaltungsbehörde (Patent) […] Früher war letzteres auch bei Geistesproducten erforderlich (Nachdrucksprivilegien), damals war also die rechtliche Stellung des Schriftstellers keine andere als die des Erfinders heutzutage. Der Fortschritt […] besteht […] darin, daß […] die staatliche Anerkennung […] durch Rechtssatz […] ertheilt wird.«96

Auch das, was nach heutigem Verständnis als Materialisierung der Persönlichkeit zu den »(dem Urheberrecht) angrenzende[n] Persönlichkeitsrechte[n]« gezählt wird, das heute so genannten Recht am eigenen Bild oder das Recht an Briefen und vertraulichen Aufzeichnungen97, hat auch bereits Jhering innerhalb der Oberkategorie des geistigen Eigentums von den Urheberrechten unterschieden. So sei zwischen dem »geistigen Eigenthum an Briefen« und dem geistigen Eigentum an Geisteswerken ebenso zu unterscheiden wie zwischen »Photographieen, welche eine Privatperson von sich anfertigen läßt«, auf der einen Seite und auf der anderen Seite »photographischen Nachbildungen von Kunstwerken […]. Für letztere kommen die Bestimmungen des Urheberrechts zur Anwendung«, für Privatbriefe und Privatphotographien hingegen nicht.98 »Das Urheberrecht […] hat zum Gegenstande Schriftwerke, die zum Zweck der Veröffentlichung verfaßt sind, bei denen also der Urheber zum Publikum zu reden gedenkt. Briefe dagegen sind an den Einzelnen gerichtet und nur für ihn bestimmt, der Zweck einer spätern Veröffentlichung liegt dabei in der Regel gänzlich fern. Wenn das Recht auch in Bezug auf sie die Veröffentlichung ohne Erlaubniß des Verfassers oder seiner Erben untersagt, so ist die Rücksicht, welche dabei obwaltet, eine gänzlich andere, als bei den Schriftwerken, welche von Anfang an für die Veröffentlichung bestimmt sind. Es ist nicht die Sicherung der Veröffentlichung wie bei letzteren, sondern umgekehrt der

95 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (313f.). 96 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (314 Note 1) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 97 M.Rehbinder, Urheberrecht, 14. Auflage 2006, § 62, S. 290–297. 98 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (314, 317, 319 Note 1).

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Schutz gegen Veröffentlichung. Der Schriftsteller will die Veröffentlichung, aber er will sie selber vornehmen, der Briefsteller wie sie nicht […].«99

Dieser Unterschied der Interessenlage und der ratio iuris zwischen urheberrechtlichem Schutz und der »Sicherung gegen einen Akt der Indicretion«100 ist für Jhering keineswegs nur von rein theoretischem Interesse. »Es ergiebt sich daraus, daß die Heranziehung des Urheberrechts, welches lediglich den Fall der Vervielfältigung auf mechanischem Wege betrifft, das Interesse, um welches es sich bei den Briefen handelt, nicht deckt.«101

Das Urheberrecht, unter das der von Jhering hier in Bezug genommene Otto Stobbe auch das Recht an Privatbriefen fassen wollte, ist hier also ein stumpfes Schwert und – nach Jhering – auch geschichtlich anderer Provenienz: »Die Verschiedenheit des geistigen Eigenthums an Briefen vom Urheberrecht bewährt sich auch historisch, nämlich daran, daß ersteres von der juristischen Doctrin bereits längst anerkannt worden war, bevor noch von einem Urheberrecht die Rede war, letzteres hat sich erst mit der Buchdruckerkunst und bekanntlich sehr mühsam und allmählich entwickelt.«102

Privatbriefe und Privatphotographien sind nach Jhering dagegen gleich zu behandeln: »Darf ein Photograph die Photographie einer Privatperson, die sich von ihm hat aufnehmen lassen, ohne deren Erlaubniß in seinem Schaufenster aufstellen oder verkaufen? Sicherlich nicht! Juristisch liegt die Sache ganz so wie im […] Fall [sc. des Privatbriefes]. Der Empfänger hat das körperliche Eigenthum am Briefe, der Photograph an der Platte, aber so wenig wie sich aus ersterem das Recht ergibt, den Brief zu veröffentlichen, so wenig aus letzterem das Recht, die Photographie öffentlich aufzustellen oder zu verkaufen. […] und in diesem Sinn kann man, wie dem Verfasser des Briefes am Briefe, so dem Besteller der Photographie an der Photographie das geistige Eigenthum zusprechen. Der Photograph, der in der angegebenen Weise verführe, würde eine injuriöse Rechtsverletzung begehen und sich der act.[io] injur.[iam] aussetzen. […] Zu seiner [sc. desjenigen, der photographiert wurde] Sicherung gegen einen derartigen Mißbrauch wird man ihm sogar das Recht einräumen müssen, die Tilgung der Platte zu verlangen […].«103 99 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (315) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 100 Vgl. die vorstehende Fußnote. 101 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (316) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 102 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (317). 103 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (318f.).

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Auch dieses Recht auf Herausgabe der Platte sollte nach Jhering mit der actio injuriarum in ihrer »prophylaktischen«104 Funktion zur Verhinderung einer Wiederholung der Verletzung des Rechts am eigenen Bild durchzusetzen sein. Die actio injuriarum wird für Jhering damit zum übergreifenden Rechtsmittel auf dem Gebiet der Immaterialgüterrechte und Persönlichkeitsrechte. Gleichzeitig erhält der Richter eine Schlüsselfunktion bei der Abgrenzung von geschützten und nicht geschützten Rechten im Einzelfall. Einschlägig sollte die actio iniuriarum sein in den »Verhältnisse[n] unseres heutigen Rechts« für alle »Urheberrechte« und für Rechte des gewerblichen Rechtsschutzes wie »Erfindungspatente«, »Muster und Modelle«, »Zeichen und Marken« sowie ferner für Persönlichkeitsrechte wie das »geistige Eigenthum an Briefen« und »Privatphotographieen«.105 Ein »exclusives Privatrecht auf den Namen« lehnte Jhering für Privatnamen »im Gegensatz des kaufmännischen […], der Firma« zwar noch ab.106 Im speziellen Falle der »unbefugte[n] Annahme des [sc. privaten] Namens« , die »darauf zielt, eine Täuschung dritter Personen über die Identität der Person zu bewirken, wenn sich der unbefugte Träger desselben für den wirklichen Träger ausgibt«, sah er aber durch die actio injuriarum für die betreffende »Privatperson« die »Möglichkeit eröffnet […], gegen einen solchen Mißbrauch ihres Namens auf civilrechtlichem Wege vorzugehen.«107

5.

Fünfte Stellungnahme: Jherings Rechtsgutachten von 1887

Kaum zwei Jahre nach Publikation seines Aufsatzes über die injuriösen Rechtsverletzungen erteilt das Reichsjustizamt einigen damals »anerkannten Rechtsgelehrten«, darunter auch Jhering, den Auftrag, ein Gutachten zu erstellen zu der Frage, »ob und inwieweit demjenigen, welcher ein bisher ungedrucktes Werk, auf dessen Schutz niemand mehr Anspruch erhebt, mit Genehmigung dessen, der über das Manuskript zu verfügen berechtigt ist, herausgibt, ein gesetzlicher Schutz gewährt werden solle, und im Bejahungsfalle, ob und inwieweit dieser Schutz etwa auch auf die Her104 Vgl. oben Fn. 86. 105 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (313–326). 106 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (320, 324 Note 2) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift. 107 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (321) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift.

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ausgabe bereits gedruckter, nicht mehr geschützter Werke, inbesondere die Herausgabe eines berichtigten oder kritisch bearbeiteten Textes solcher Werke auszudehnen sein müßte.«108

Wenn sich auch Jhering nicht zu den »berufenen Sachverständigen« zählt,109 gab er dennoch auf vier eng beschriebenen Seiten gutachterlicher Hinweise. Seit ihrer Veröffentlichung im Faksimile und zusätzlich in Transkription und Übersetzung ins Italienische110 in einer italienischen Zeitschrift aus dem Jahre 1968 haben sie bisher keine weitere Beachtung gefunden.111 Die gutachterliche Frage des Reichsjustizamtes zielt im Kern auf das Problem der heute in den §§ 70f. UrhG geregelten Leistungsschutzrechte112, ob auch unveröffentlichte oder bereits veröffentlichte Werke, an denen wegen Ablaufs der urheberrechtlichen Fristen keine Urheberrechte mehr bestehen, in einer künftigen Gesetzgebung rechtlich geschützt werden sollten vor Veröffentlichungen des Originals oder Veröffentlichungen von Bearbeitungen des Originals. Während Jhering am geltenden Urheberrechtsschutz selbst hervorgehoben hatte, dass dort inzwischen »die staatliche Anerkennung […] durch Rechtssatz«, also aufgrund von »abstract«-generellen Voraussetzungen der Urheberrechtsgesetze erfolge113 und nicht mehr durch die ins obrigkeitliche Ermessen gestellte Erteilung eines Privilegs gegen Nachdruck, sind seiner Auffassung nach bei unveröffentlichten Schriften, an denen kein Urheberrecht mehr besteht, Rechtssätze dagegen das falsche Instrument für einen Schutz der Herausgeber von Inedita:

108 Die Gutachtenfrage wird zitiert nach K. Bandilla, Urheberrecht im Kaiserreich, 2005, S. 70. 109 Vgl. bei Fn. 15. 110 M.G.Losano, Un inedito di Rudolf von Jhering sulla tutela giuridica degli inediti, in: Rivista di diritto industriale 17 (Nr. 1/2) 1968, S. 5–21 (vierseitiges Faksimile ohne Paginierung zwischen S. 12 und 13). Das Deckblatt des behördlichen Aktenkonvoluts, in dem Jherings handschriftliche Ausführungen auf Bl. 134r. beginnen, lautet »Acta betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken etc. – insbesondere – und Werken der bildenden Kunst vom Juli 1873 bis Mai 1890, Vol. I, Nr. 6349«. 111 M.G.Losano, Un inedito di Rudolf von Jhering sulla tutela giuridica degli inediti, in: Rivista di diritto industriale 17 (Nr. 1/2) 1968, S. 5–21 (6) selbst weist darauf hin, dass das Gutachten die – bis zur Publikation durch Losano wohl einzige – Erwähnung gefunden hat bei E.Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft. Abteilung 3 Halbband 2, Noten, Zweiter Neudruck der Ausgabe München 1910, 1978, S. 337 als »Gutachten über den Schutz der inedita, erstattet auf Wunsch des Reichsjustizamts«. 112 Vgl. M.Rehbinder, Zum Rechtsschutz der Herausgabe historischer Texte, in: UFITA 106 (1987), S. 255–274 zur Geschichte dieser beiden Leistungsschutzrechte. 113 R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (314 Note 1) – Sperrdruck im Original hier in Kursivschrift.

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»Nach meinem Dafürhalten eignet sich die Frage gar nicht zur Aufstellung bestimmter gesetzlicher Normen. Wie immerhin sie auch gesagt114 werden mögen, sie werden doch den Interessen, welche dabei in Betracht kommen, nie vollkommen gerecht werden können und eine Unbestimmtheit übrig lassen, welche von dem Buchhandel sowohl wie von dem Richter peinlich empfunden werden dürfte. Der Buchhändler, welche ein bisher ungedrucktes Werk veröffentlicht oder eine neue kritische Ausgabe veranstaltet, muß wissen, ob er den Schutz des Rechts genießt, ebenso derjenige, welcher einen Abdruck beabsichtigt, ob er sich nicht der Gefahr eines Nachdruckes aussetzt, das Interesse der Rechtssicherheit steht für den Buchhandel höher als das der absoluten Angemessenheit des Rechts. Rechtliche Bestimmungen, welche ihrer Natur nach eine sichere Bemessung des Resultats bei ihrer Anwendung ausschließen, sind für den Verkehr ein Fluch und versetzen den gewissenhaften Richter in die peinlichste Lage.«115

Implizit bejaht Jhering damit den ersten Teil der gutachterlichen Frage, ob überhaupt ein rechtlicher Schutz jenseits des Urheberrechts geboten sei. Die Frage nach dem Umfang dieses Schutzes beantwortet Jhering hingegen nicht. Stattdessen will er den von ihm hier in besonderem Maße diagnostizierten Widerstreit zwischen Rechtssicherheit und inhaltlicher Angemessenheit des Rechtsschutzes nicht materiell-rechtlich, sondern administrativ-prozedural nach Vorbild des überkommenen Privilegienwesens im Einzelfall lösen. Dies erscheint Jhering als eine seit den Zeiten der Römer bewährte Form der »Vereinigung« von Rechtssicherheit und inhaltlicher Angemessenheit: »Lassen sich nun nicht beide Zwecke: Sicherheit und Angemessenheit des Rechts in diesem Fall vereinigen? Ich glaube: allerdings. Ich ziele damit auf einen Weg der Vereinigung hin, der mir[,] dem Romanisten, der seine allgemeinen Anschauungen dem römischen Recht entnommen hat, zuerst an ihm klar geworden ist, den aber auch unser heutiges Recht im richtigen Takt nicht selten beschritten hat, es ist kurz gesagt der der Mitwirkung der Administration für die Zwecke des Rechts. Die Frage von dem Vorhandensein der nach Ansicht des Gesetzes erforderlichen Voraussetzungen, welche dasselbe regelmässig dem Richter überläßt, wird dabei ausnahmsweise wegen der Schwierigkeit ihrer concreten Beurtheilung der Administrativbehörde überwiesen und durch sie in bindender Weise für den Richter festgestellt. Die Gesichtspunkte, welche für den Gesetzgeber die leitenden sind, nehmen dabei statt der Gestalt privatrechtlicher Rechtsregeln für den Richter die Gestalt einer Instruction für die Administrativbehörde an, sie kommen auch so zu ihrem Recht, aber sie bilden nicht den Gegenstand processualischer Verhandlung, und eine ergiebige Quelle des Streites für die Parteien und des Zweifels für den Richter wird damit verstopft. In dieser Weise hat das römische Recht gar manche Fragen erledigt z. B. über die Voraussetzungen bei der Arrogation und der venia aetatis. Ob dieselben vorhanden waren, prüfte nicht der Richter, sondern 114 Vermutlich handelt es sich hier um ein Transkriptionsfehler und müsste lauten »gesetzt«. 115 R.v.Jhering, Schreiben vom 13. März 1887 an das Reichsjustizamt, transkribiert vom handschriftlichen Original und ins Italienische übersetzt durch Lieselotte Losano Geick, abgedruckt im Anhang bei M.G.Losano, Un inedito di Rudolf von Jhering sulla tutela giuridica degli inediti, in: Rivista di diritto industriale 17 (Nr. 1/2) 1968, S. 16–21 (16, 18).

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die Verwaltungsbehörde, für den Richter war die Entscheidung, welche letztere getroffen hatte, maßgebend.«116

Mit der »Verwaltungsbehörde« rekurriert Jhering auf obrigkeitliche Verfügungen im römischen Familienrecht. Die Arrogation, die Aufnahme eines bisher Gewaltfreien in die eigene agnatische Familie an Stelle eines Abkömmlings, die dem Wahlvater nach klassischem Recht das Eigentum am Vermögen des Kindes verschaffte117 wurde von der höchsten Gewalt, in Zeiten des Prinzipats also vom Kaiser verfügt. Der Richter war beschränkt auf »eine Untersuchung […], ob die Arrogation denen zur Arrogirenden vortheilhaft scheine oder nicht«118. Auch mit der »venia aetatis« konnte »die höchste Staatsgewalt einen Minderjährigen für einen Volljährigen erklären«. Theoretisch war dies zwar an Erfordernisse wie »das Alter und die guten Sitten des Minderjährigen« gebunden, praktisch handelte es sich aber um ein »reines beneficium« der »höchsten Gewalt«, nämlich ein »in diesem besonderen Fall gebilligtes, sogar von ihr ausgegangenes Mittel, wogegen Niemand etwas einzuwenden haben kann.«119 Vom römischen Altertum zieht Jhering dann eine direkte Linie zu behördlichen Konzessionen seiner eigenen Zeit: »Daß auch unsere moderne Rechtsentwicklung manche derartige Beispiele anbietet, brauche ich nicht erst zu bemerken, ich nenne z. B. die Ertheilung der Corporationsrechte an Vereine.«120

Konkret stellt er sich ein künftiges Verfahren zur Entscheidung darüber, ob derjenige, der ein nicht vom Urheberrecht erfasstes Werk in unbearbeiteter oder bearbeiteter Form publizieren und vertreiben dürfe, folgendermaßen vor: »Es müßte eine Behörde gebildet werden, bei der Jeder, der ein Werk der angegebenen Art zu veröffentlichen gedächte, vor der Veröffentlichung desselben ein Exemplar einzuliefern hätte, und die Behörde würde nach Einsicht desselben feststellen, ob es auf Rechtsschutz Anspruch habe oder nicht, und dies würde auf dem Titel bemerkt werden, wie es einst bei Ertheilung von Privilegien gegen den Nachdruck der Fall war. […] Bei 116 R.v.Jhering, Schreiben vom 13. März 1887 an das Reichsjustizamt, transkribiert vom handschriftlichen Original und ins Italienische übersetzt durch Lieselotte Losano Geick, abgedruckt im Anhang bei M.G.Losano, Un inedito di Rudolf von Jhering sulla tutela giuridica degli inediti, in: Rivista di diritto industriale 17 (Nr. 1/2) 1968, S. 16–21 (18). 117 R.Leonhard, Adrogatio, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft Band I,1 (1893), Sp. 419–421 (419). 118 T.M.Zachariä, Institutionen des Römischen Rechts nach der Ordnung der Justinianischen Institutionen, 1816, S. 133. 119 So F.C.Gesterding, Ausbeute von Nachforschungen über verschiedene Rechtsmaterien. Sechsten Theiles zweite Abtheilung, 1838, S. 216f. zur gemeinrechtlich umstrittenen Frage, ob im Falle des Fehlens der Voraussetzungen für eine »venia aetatis« im Einzelfall nicht doch ein rechtlicher Anspruch auf Rücknahme im Wege der »restitutio in integrum« bestehe. 120 R.v.Jhering, Schreiben vom 13. März 1887 an das Reichsjustizamt, in: Rivista di diritto industriale 17 (Nr. 1/2) 1968, S. 16–21 (18).

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der Zusammensetzung der Behörde würde durch Wahl der geeigneten Personen (Buchhändler, Gelehrte) und durch Ermächtigung, erforderlichenfalls andere Sachkundige zuzuziehen oder zum Gutachten aufzufordern, Sorge dafür getragen, daß allen Rücksichten, welche dabei in Betracht kommen, die gebührende Anerkennung zu Theil würde und zum Überfluß könnten die dabei maßgebenden Gesichtspunkte noch in Form einer Instruction vorgezeichnet werden.«121

Dies sieht Jhering als den »richtige[n] Weg […] den Schwierigkeiten der angeregten Frage zu begegnen«: »Processualisch wäre damit die Frage abgethan, der Buchhandel wüßte, woran er wäre, und dem gewöhnlichen Richter würden nicht Fragen zugemuthet, die er nicht im Stande ist zur eigenen vollen Befriedigung zu beantworten.«122

Materiell-rechtliche Regelung zum nach-urheberrechtlichen Schutz will Jhering für die Zukunft zwar nicht vollkommen ausschließen. Hinweise auf dabei zu berücksichtigende Gesichtspunkte gibt er aber nicht. Stattdessen vertraut er ganz auf die Gewinnung von »Erfahrungssätzen« durch die Behördenpraxis: »Aus der Praxis dieser Behörde würde sich nach und nach ein werthvoller Niederschlag an Präjudicien und Erfahrungssätzen ergeben und damit möglicherweise eine solche Klarstellung des Verhältnisses, daß eine künftige Gesetzgebung die Frage von dem Gebiet der Administration auf das der Justiz verlegen könnte, wie es schon bei manchen derartigen Fragen der Fall gewesen ist – ein Versuchsterrain für das Recht ohne die Gefahren, welche damit verbunden sind, wenn es seinen Sitz im Recht angewiesen erhält.«123

III.

Bewertung von Jherings Ausführungen zum Immaterialgüterschutz im Kontext von zeitgenössischer Wissenschaft und Gesetzgebung

1.

Allgemeine Charakteristik von Jherings Stellungnahmen

Überblickt man Jherings über den langen Zeitraum fast eines halben Jahrhunderts reichende Ausführungen zur Problematik des Immaterialgüterschutzes, so fallen drei Umstände generell auf.

121 R.v.Jhering, Schreiben vom 13. März 1887 an das Reichsjustizamt, in: Rivista di diritto industriale 17 (Nr. 1/2) 1968, S. 16–21 (18, 20). 122 R.v.Jhering, Schreiben vom 13. März 1887 an das Reichsjustizamt, in: Rivista di diritto industriale 17 (Nr. 1/2) 1968, S. 16–21 (18, 20). 123 R.v.Jhering, Schreiben vom 13. März 1887 an das Reichsjustizamt, in: Rivista di diritto industriale 17 (Nr. 1/2) 1968, S. 16–21 (20).

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Erstens hat sich Jherings Auffassung zwischen 1840 und 1890 nicht unerheblich gewandelt von einem schroffen Kritiker des geistigen Eigentums, der dessen Schutz als rechtlich unmöglich und praktisch offenbar auch unnötig betrachtete, zum engagierten Verfechter eines weiten Begriff des geistigen Eigentums, der das Urheberrecht und weitere gewerbliche Schutzrechte ebenso umfasst wie in Gegenständen und Bezeichnungen materialisierte Persönlichkeitsrechte. Zwar stößt Jhering noch nicht zu dem durch Kohler herausgearbeiteten Dualismus der Immaterialgüterrechte vor, also zur systematischen Annahme ihres doppelten Charakters als Vermögens- und als Persönlichkeitsrechten. Aber Jhering hat die Immaterialgüterrechte keineswegs auf die mit ihnen in erster Linie verbundenen vermögensrechtlichen Aspekte reduziert. Vielmehr hat er mit den – allerdings unzureichenden – Mitteln der Pandektistik auch bereits ein Gespür für die zweite Dimension der Immaterialgüterrechte entwickelt, wenn er die aus dem Schutz der Person hervorgegangene actio injuriarum für das Immaterialgüterrecht und angrenzende Persönlichkeitsrechte auf breiter Front zu reaktivieren versucht. Zweitens fällt an sämtlichen Ausführungen auf, wie wenig Jhering auf die einschlägige Literatur seiner Zeit, aber auch auf die einschlägige geltende Gesetzgebung eingeht. In seinem für diese Thematik zentralen Aufsatz über injuriöse Rechtsverletzungen stützt sich Jhering fast ausschließlich – zumeist affirmativ, teils auch kritisch – auf den urheberrechtlichen Band von Otte Stobbes »Handbuch des deutschen Privatrechts«124, also auf ein Nachschlagewerk. Dagegen findet sich – um nur ein Beispiel zu nennen – nicht ein Hinweis auf die einschlägigen Schriften von Josef Kohler, nicht einmal auf dessen langen und grundlegenden Aufsatz zum »Autorrecht«, der nur fünf Jahre zuvor in den von Jhering selbst herausgegebenen »Jahrbüchern für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts« erschienen war.125 Was für die inländische Literatur und Gesetzgebung gilt, betrifft erst recht die nicht deutschsprachige Literatur und ausländische Gesetzgebung zum Urheberrecht, ohne deren konsequent rechtsvergleichende Berücksichtigung Kohlers Leistungen für die Entwicklung des deutschen Immaterialgüterrechts vermutlich nicht möglich gewesen wären. Bei Jhering fehlt der konsequente Blick ins Ausland, obwohl dieser gerade im Fall der Entwicklung des Immaterialgüterrechts angezeigt gewesen wäre.126 124 O.Stobbe, Handbuch des deutschen Privatrechts. Band 3: Urheberrecht, 1. Auflage 1878. 125 J.Kohler, Das Autorrecht, eine zivilistische Abhandlung, zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Eigenthum, vom Miteigenthum, vom Rechtsgeschäft und Individualrecht, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 18 (1880), S. 129–478. 126 Vgl. dagegen J.C.Bluntschli, Das sogenannte Schrifteigenthum. Das Autorrecht, in: Kritische Ueberschau der deutschen Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 1 (1853), S. 1–26 (8), der das Urheberrecht als »eine Angelegenheit […] der ganzen civilisirten Menschheit« be-

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Dies leitet unmittelbar über zum dritten allgemeinen Charakteristikum von Jherings Stellungnahmen zum Immaterialgüterrecht. Abgesehen von den kurzen privaten Notizen aus den 1840er Jahren und den durch das Reichsjustizamt veranlassten gutachterlichen Bemerkungen von 1887 hat sich Jhering offenbar niemals gezielt auf diese wichtige Rechtsmaterie eingelassen, obwohl sie sich vor allem nach der Reichseinigung in Gesetzgebung und Wissenschaft rasant entwickelte. Dabei wäre in dieser Zeit Jherings Durchbruch zum Interessengesichtspunkt wie geschaffen gewesen, die gesetzlichen Entwicklungen und Diskussionen nach 1860 auch im immaterialgüterrechtlichen Detail zu begleiten. Für Jhering waren der Immaterialgüterschutz und speziell das Autorenrecht dagegen lange nur ein »Beispiel aus der germanistischen Jurisprudenz« für »die fortschreitende Wissenschaft«127. Wo er sich dann zumindest mit den Grundsätzen des noch jungen Immaterialgüterrechts beschäftigte, blieb es typisch für Jhering nicht nur in diesem Fragenbereich, alle neuen rechtlichen Formen und Problemlagen der eigenen Zeit in den Kosmos der »allgemeine[n] Prinzipien«128 bzw. des »Geists«129 des römischen Rechts einzufügen, um die Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts bis in die eigene Zeit fortzuschreiben. Die Stärke dieser Herangehensweise war der – selbst von Kohler an Jhering gerühmte – weite Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Rechts sowie auf die ihr zugrunde liegenden mutierenden Vorstellungen, wodurch sich nicht selten ein »neuer Horizont, eine neue ungeahnte Perspektive« (Kohler)130 eröffnete. Die Schwäche von Jherings Herangehensweise aber war, dass bei ihm selbst das junge Immaterialgüterrecht auf weiten Strecken zu einem Vehikel und bloßem Anwendungsbeispiel für die Darstellung der Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts wird. Das vor Inkrafttreten des BGB fast vollständig beziehungslose Nebeneinander von »römischem« gemeinen Recht und »deutscher« Spezialge-

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130

trachtet und von daher bereits Mitte des 19. Jahrhunderts die Internationalisierung des Urheberrechts prophezeite: »[…] und es wird die Zeit kommen, wo das Autorrecht als ein allgemeines menschliches Privatrecht den Fremden wie den Einheimischen gewährleistet wird.« R.Jhering, Schuldmoment (1867), in: Vermischte Schriften, S. 197 Note 73. R.Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Erster Theil, 1852, § 3, S. 36. Bereits im Sommersemester 1843 lautete ausweislich einer von Jhering handgeschriebenen Hörerliste der Titel einer Vorlesung des jungen Privatdozenten »Geist des R.[ömischen] R.[echts] / Principien des R.[ömischen] R.[echts]« [Hörerlisten von Jherings Berliner (1843– 1845) im wissenschaftlichen Nachlass Jherings, Handschriftenabteilung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms R.v.Jhering, Kasten 9:2, http:// hans.sub.uni-goettingen.de/nachlaesse/Jhering.pdf (S. 18)]. Diese Vorlesung wurde zur Keimzelle für Jherings erstes mehrbändiges Hauptwerk »Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung«. Vgl. zum Ganzen C.-E.Mecke, Begriff und Methode der Rechtswissenschaft bei Rudolf von Jhering, 2018, S. 113f. mit Fn. 483. Vgl. oben Fn. 6.

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setzgebung durch jeweils exklusiv verstandene Teilzuständigkeitsbereiche von Pandektisten und Germanisten zu derselben Sachfrage war allenfalls für die zeitgenössischen Protagonisten ein natürlicher Zustand. Aus heutiger Sicht ist es dagegen kaum noch nachvollziehbar, wie die in Jherings Zeitschrift keineswegs nur dem Titel nach vertretene Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts faktisch so lange eine Dogmatik des heutigen römischen oder deutschen Privatrechts bleiben konnte.

2.

Kommentierung von Jherings handschriftliche Notizen von 1841

Jherings frühe handschriftlichen Notizen aus den 1840er Jahren verblüffen allein schon durch die Tatsache, dass der junge Berliner Doktorand bzw. Privatdozent über zwei Seiten Überlegungen zur Frage nach der rechtlichen Möglichkeit geistigen Eigentums anstellen konnte, ohne auch nur mit der kleinsten Andeutung auf die Tatsache einzugehen, dass es in Preußen seit 1837 eben bereits ein »Gesetz zum Schutz des Eigentums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung« gab, das sich als »ausführlichste[s] und zugleich modernste[s] Urheberrechtsgesetz der damaligen Zeit«131 gerade zum Schrittmacher für die gesetzliche Regelung des Urheberrechts in anderen Staaten des Deutschen Bundes entwickelte.132 Stattdessen argumentiert der junge Jhering noch in den 1840er Jahren so, als habe sich seit den Zeiten der Privilegien für Buchhändler nichts geändert, und fordert lediglich, dass behördlicherseits »k.[eine] Privilegien f[ür] 200 Jahre etc.« erteilt werden dürften, da der Buchhandel zwar durchaus berechtigte »merkantile« Interessen habe, aber aus einer – modern gesprochen – gesellschaftlichen Perspektive bei allem »Gelderwerb« doch immer ein »Diener« des Literaturwesens bleiben müsse, »also der Litteratur nicht schaden« dürfe.133 Wenn der junge Jhering damals die Übertragung der »Lehre vom Eigenthum auf d[ie] geistigen Productionen« als großen »Mißgriff«134 bezeichnet, während gleichzeitig das fortschrittlichste Urhebergesetz in Preußen eben vom »Schutze 131 M.Vogel, Deutsche Urheber- und Verlagsgeschichte zwischen 1450 und 1850, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 19 (1978), Sp. 7–190 (163f.); ders., Die Geschichte des Urheberrechts im Kaiserreich, in: GRUR 1987, S. 873–883 (875); E.Wadle, Entfaltung des Urheberrechts, in: Wadle (Hrsg.), ›Geistiges Eigentum‹. Bausteine zur Rechtsgeschichte, Band 1, 2003, S. 63–74 (72). 132 M.Vogel, Deutsche Urheber- und Verlagsgeschichte zwischen 1450 und 1850, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 19 (1978), Sp. 7–190 (167f.). 133 Vgl. oben Fn. 27 (= Jhering, Bemerkungen, SUB Göttingen, Handschriftenabteilung, Nachlass Rudolf von Jhering, Kasten 14:13, Blatt 14v). 134 Vgl. oben Fn. 27 (= Jhering, Bemerkungen, SUB Göttingen, Handschriftenabteilung, Nachlass Rudolf von Jhering, Kasten 14:13, Blatt 14r).

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des Eigenthums« sprach, dann lag darin allerdings nicht ein Widerspruch mit dem preußischen Gesetz in der Sache, sondern nur mit dessen Begrifflichkeit. Was Jhering nämlich zur Begründung seiner Auffassung für die Unmöglichkeit der Übertragung anführte, »insoweit die individuelle Kennbark[ei]t des Gedankens oder Kunstwerkes« fehle und der bloße »Gedanke« im Gegensatz zum körperlichen Gegenstand niemals Gegenstand von »Eigenthum an Geisteswerken« werden könne,135 wurde auch das neue Gesetz nicht infrage gestellt. Das Gesetz begründete keinesfalls ein nach Jhering nicht zu rechtfertigendes »ausschl.[ießliches] R[echt] an einmal ausgesprochenen Gedanken«136, sondern vielmehr lediglich ein »ausschließendes Recht der Schriftsteller« sowie derjenigen, »welche ihr Befugniß« vom Autor »herleiten«, selbst darüber entscheiden zu können, ob sie »eine bereits herausgegebene Schrift ganz oder theilweise von neuem abdrucken oder auf irgend einem mechanischen Wege vervielfältigen […] lassen«137. Es ging im preußischen Urheberrechtsgesetz also um die Veröffentlichungsbefugnis des Autors oder seines durch ihn ermächtigten Verlegers, gegenüber denen selbst der bloße rechtmäßige Besitzer des Manuskripts nicht zur Veröffentlichung befugt war.138 Auch ging es – übrigens auf Initiative Savignys in seiner Funktion als Mitglied der Staatsrats-Kommission zur Ausarbeitung des preußischen Gesetzes – um die Erweiterung dieses Schutzes vor unbefugter Veröffentlichung auf Schriftzeugnisse nicht literarischen Inhalts wie etwa Privatbriefe.139 Es ging aber nicht um die Konstruktion eines eigentumsgleichen oder ewigen Rechts an einem konkreten »Gedanken«, und es ging auch nicht um das von Jhering erwähnte Plagiat im auch heute140 noch juristisch unspezifischen Sinne jeder Übernahme fremden Geistesguts unter Anmaßung eigener Urheberschaft. Insgesamt sollte man den privaten Notizen des ganz jungen Jhering, die – als einzige der hier präsentierten Stellungnahmen Jherings zum Urheberrecht – überhaupt nicht für ein fremdes Auge bestimmt waren, nicht zu große Bedeutung beimessen. Sie belegen immerhin, dass die urheberrechtlichen Diskussionen der 135 Vgl. oben Fn. 27 (= Jhering, Bemerkungen, SUB Göttingen, Handschriftenabteilung, Nachlass Rudolf von Jhering, Kasten 14:13, Blatt 14r/v). 136 Vgl. oben Fn. 27 (= Dagegen Jhering, Bemerkungen, SUB Göttingen, Handschriftenabteilung, Nachlass Rudolf von Jhering, Kasten 14:13, Blatt 14v). 137 § 1 (Preußisches) Gesetz zum Schutz des Eigentums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung vom 11. Juni 1837. 138 M.Vogel, Deutsche Urheber- und Verlagsgeschichte zwischen 1450 und 1850, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 19 (1978), Sp. 7–190 (165). 139 M.Vogel, Deutsche Urheber- und Verlagsgeschichte zwischen 1450 und 1850, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens 19 (1978), Sp. 7–190 (165). Savigny lehnte für das Nachdruckverbot eine gemeinrechtliche Begründung ab und betrachtete es – wie später Gerber – nur als positives Deliktsrecht des jeweiligen Gesetzgebers [E.Wadle, in: Grundfragen des Privatrechts, 1989, S. 95–145 (110, 114)]. 140 M.Rehbinder, Urheberrecht, 14. Auflage 2006, § 28, S. 140.

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Zeit bereits in dieser Zeit nicht spurlos an Jhering vorübergegangen sind und ihn zumindest so stark beschäftigten, dass er sich seiner eigenen Position auch schriftlich zu vergewissern versuchte. Die Notizen belegen aber auch, dass Jhering damals noch ungeachtet der jüngeren Gesetzgebung ganz in den hergebrachten Kategorien des vermögensrechtlichen Schutzes von Verlegern und Buchhandel durch Privilegien dachte und einen Bezug zum – römischen – Privatrecht überhaupt nicht sah. Immerhin wollte er bereits »zwischen Erfind[un]ge[n] u[nd] neuen Gedanken« auf dem Gebiet von Wissenschaft und Kunst unterscheiden und Erfindern ebenso – allerdings zeitlich durch Opportunitätsgesichtspunkte des »öffentl[iche] Wohl[s]« befristete – »Patente« als rechtlichen Schutz zugestehen wie dem »Buchhandel« zeitlich befristete »Privilegien«141.

3.

Kommentierung von Jherings Brief von Mitte Juni 1859 an Gerber

Jherings briefliche Reaktion auf Gerbers 1859 erschienenen Beitrag »Ueber die Natur der Rechte des Schriftstellers und Verlegers« für die damals noch gemeinsam herausgegebenen Jahrbücher ist geradezu ein Meisterstück von Diplomatie gegenüber dem Fachkollegen und Freund, mit dessen Auffassung zum Urheberrecht Jhering grundsätzlich nicht übereinstimmte. Interessant ist zudem der Zeitpunkt des Briefes. Geschrieben wurde er Mitte Juni 1859 wenige Monate nach der ominösen Silvesternacht 1858/59, in der Jhering – wie er ebenfalls zunächst Gerber berichtete – ein geistiges Schlüsselerlebnis gehabt hatte.142 Auslöser war ein von Jhering als Mitglied der Gießener Spruchkammer zu erstellendes Gutachten in einem Rechtsstreit vor dem Oberappellationsgericht Rostock gewesen143, das Jhering »schon längere Zeit gequält hatte«144 und offenbar zu einem Auslöser wurde für einen in der Folge langsam beginnenden grundsätzlichen Wandel seiner methodentheoretischen Auffassungen.145 Diesen Wandel deutete Jhering bereits Ende Januar 1859 an, als er

141 Jhering, Bemerkungen, SUB Göttingen, Handschriftenabteilung, Nachlass Rudolf von Jhering, Kasten 14:13, Blatt 14v/15r. 142 Jherings Brief an Gerber vom 6. Januar 1859, transkribiert und abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 104, S. 306–311 (306f.). 143 Das in Jherings Göttinger Nachlass befindliche Gutachten ist in transkribierter und eingehend erläuterter Form abgedruckt bei I.Kroppenberg, Die Plastik des Rechts. Sammlung und System bei Rudolf v. Jhering, 2015, S. 60–87 (Anhang). 144 Jherings Brief an Gerber vom 6. Januar 1859, transkribiert und abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 104, S. 306–311 (306). 145 C.-E.Mecke, Objektivität in Recht und Rechtswissenschaft bei G.F.Puchta und R.v.Jhering, in: ARSP 94 (2008), S. 147–168 (166f.).

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gegenüber Gerber darüber klagte, dass »Muth und Vertrauen zu mir selbst einen Stoß erlitten« hätten: »Vielleicht ist der ganze Zustand […] eine Übergangskrisis, denn, wie mir scheint, geht in meinen Ansichten und Neigungen eine Änderung vor sich […].«146

In der Urheberrechtsfrage waren Jherings Brief vom Juni 1859 offensichtlich bereits kontroverse Diskussionen zwischen Gerber und Jhering vorangegangen. Die vorangegangenen Briefe selbst geben darüber zwar keinen Aufschluss, aber Gerber und Jhering standen damals auch im regelmäßigen persönlichen Kontakt. Dabei muss es zwischen beiden Diskussionen über die Frage gegeben haben, ob Gerbers Ablehnung eines subjektiven Rechts des Autors überhaupt noch durch das aktuell geltende Recht gedeckt oder nicht in Wahrheit schon als contra legem zu betrachten sei. Wenn Jhering in seinem Brief Gerber zugesteht, dass er nach Lektüre von dessen Aufsatz »wenigstens [sic!] insoweit vollständig bekehrt« sei, als dessen Auffassung »bei dem jetzigen Stande des positiven Rechts« durch »alle einzelnen Rechtssätze« gedeckt sei,147 dann liegt darin allerdings keinesfalls auch eine Approbation von Gerbers urheberrechtlichen Vorstellungen in der Sache. Vielmehr räumt Jhering lediglich ein, dass sich Gerbers rechtsdogmatische Auffassungen – noch – in den Bahnen des geltenden Rechts bewegen, so wie es die gemeinsam vertretene Theorie der »juristischen Construction« mit ihrem ersten für die Rechtsdogmatik konstitutivem »Gesetz der Deckung« forderte.148 Doch selbst im Hinblick auf diese erste Mindestvoraussetzung für eine zumindest vertretbare rechtsdogmatische Erklärung der gesetzlichen Nachdruckverbote fügt Jhering noch eine wichtige Einschränkung hinzu, die ein Licht wirft auf den Kern ihres Dissenses im besonderen Fall des Urheberrechts, aber darüberhinausgehend auch bereits auf die sich um 1860 auseinanderentwickelnden Auffassungen beider zum Verhältnis von Recht und Dogmatik im Allgemeinen. Jhering betont nämlich, dass auch die von ihm konzedierte Übereinstimmung von Gerbers Auffassungen mit dem geltenden Recht nur eine Momentaufnahme sei »bei dem jetzigen Stande des positiven Rechts« und dass Gerbers Auffassung spätestens in dem Moment nicht mehr vertretbar, geschweige denn befürwortbar 146 Jherings Brief an Gerber vom 30. Januar 1859, transkribiert und abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 105, S. 311–315 (312). 147 Vgl. oben Fn. 35 [= Jherings Brief an Gerber von Mitte Juni 1859, in transkribierter Form abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 115, S. 335–341 (336)]. 148 Vgl. C.-E.Mecke, Begriff und Methode der Rechtswissenschaft bei Rudolf von Jhering, 2018, S. 541–631 eingehend zu Jherings Theorie der juristischen Technik bzw. Rechtsdogmatik mit den beiden konstitutiven Gesetzen der »Deckung« rechtsdogmatischer Begründungen mit dem geltenden Recht und deren gedanklichen »Nichtwiderspruch« sowie den weiteren beiden regulativen Gesetzen der »juristischen Schönheit« und der »logischen Sparsamkeit«.

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sein würde, wenn nach künftigen gesetzlichen Regelungen »auch bei Nachdruck bona fide eine Ersatzpflicht einträte.« Dies – so Jhering mit Bezug auf offensichtlich vorangegangene Gespräche mit Gerber – »war ja gerade der Punkt, an dem ich Anstoß« nahm.149 Noch über zwanzig Jahre später sollte Joseph Kohler, der natürlich den einstigen Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber nicht kennen konnte, bei Gerber an exakt demselben Punkt wie Jhering Anstoß nehmen und in seinem Beitrag von 1880 zum Autorrecht über Gerbers Beitrag von 1859 schreiben: »Noch gibt Gerber […] zu, daß seine Lehre gefährdet sei mit dem Augenblick, wo ein Anspruch gegen einen bona fide Verletzer des Autorrechts gegeben wäre; dann würde allerdings auch das formale Delikt nicht mehr ausreichen […]. Jedoch beruhigt sich Gerber damit, daß nach den Partikular- und Bundesgesetzen (zur Zeit seines Aufsatzes) ein solcher Anspruch nicht bestehe. Diese Beruhigung ist nicht mehr möglich unter dem jetzigen Autorgesetz, welches einen Anspruch auch gegen den schuldlosen Nachdrucker auf die Bereicherung gewährt, welches auch im Falle totaler Schuldlosigkeit dem Berechtigten die Befugniß gibt, die Uebereignung der nachgedruckten Exemplare gegen Erstattung der Impensen (Herstellungskosten) zu verlangen. Diese Beruhigung war schon damals nur möglich durch die vollständige Beschränkung auf die Autorgesetze Deutschlands […]. Schon lange, bevor Geber seine Abhandlung schrieb, hat man in Frankreich, England und Amerika Ansprüche gegen den Bona-fide-Verletzter gegeben […].«150

Auch die weitere urhebergesetzliche Entwicklung in Deutschland hat Jhering mithin in seiner Einschätzung von 1859 Recht gegeben, dass es bei dem damaligen »Stande des positiven Rechts« nur noch eine Frage der Zeit war, bis auch »bei Nachdruck bona fide eine Ersatzpflicht einträte […].«151 Eben diese Dynamik in der Entwicklung des Immaterialgüterrechts und auch deren Stoßrichtung hin auf eine absolut gegen jedermann, also auch gegen den nicht dolosen Verletzer wirkenden Rechtsschutz des Trägers von Immaterialgüterrechten hat Gerber verkannt. Jhering war dagegen schon 1859 klar, dass Gerbers dogmatische Erklärungen zur Widerlegung eines subjektiven Rechts des Autors auch in Deutschland bald de lege lata hinfällig sein würden. Daher dürfe – so Jherings generelles Credo in seiner Theorie der naturhistorischen Methode – »die Wis149 Jherings Brief an Gerber von Mitte Juni 1859, in transkribierter Form abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 115, S. 335–341 (336). 150 J.Kohler, Das Autorrecht, eine zivilistische Abhandlung, zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Eigenthum, vom Miteigenthum, vom Rechtsgeschäft und Individualrecht, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 18 (1880), S. 129–478 (189). 151 Jherings Brief an Gerber von Mitte Juni 1859, in transkribierter Form abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 115, S. 335–341 (336).

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senschaft […] keine juristische[n] Unmöglichkeiten statuiren.«152 Eben dies hatte Gerber in seinem Aufsatz aber getan, wenn er dafür, was »den geistigen Inhalt der Schrift [sc. eines Autors] betrifft […] ein eigenthümliches Recht hieran [für] juristisch ganz undenkbar [sic!]« bezeichnete.153 Das schreibt der Germanist 1859, während der Pandektist Jhering diese – wie gesehen – Anfang der 1840er Jahre selbst noch geteilte Auffassung über die Unmöglichkeit eines geistigen Eigentums offenbar längst überwunden hatte. Was Jhering Mitte der 1850er Jahre in seinem Programmaufsatz »Unsere Aufgabe« als einen »orthodoxen Romanismus« im Stile Puchtas kritisiert hatte,154 nämlich die Stilisierung einzelner Grundbegriffe des – römischen – Rechts zu universalen, letztlich auch vom Gesetzgeber zu akzeptierenden Inhalten im System des Rechts anstelle einer beweglichen naturhistorischen Methode der Rechtswissenschaft, die in der Lage ist, sämtliche Veränderungen des geltenden Rechts auch in der Rechtsdogmatik gedanklich zu verarbeiten, diese Kritik richtet sich jetzt in der Sache auch gegen Gerbers germanistische Jurisprudenz auf dem Gebiet des Urheberrechts. Jhering selbst hat das in seinem Brief zwar so deutlich nicht ausgesprochen. Seine offenbar schon etwas länger andauernde Irritation über Gerbers Haltung in dieser Frage hat er aber nicht verhehlen können.155 In seiner ganzen über das Urheberrecht weit hinausgehenden Tragweite hat Jhering den Dissens mit Gerber wohl 1859 auch noch gar nicht gesehen bzw. vielleicht auch nicht sehen wollen, wenn er an den in den 1850er Jahren engsten Mitstreiter und Freund abschließend persönlich versöhnlich und zudem in der Sache in Übereinstimmung mit der naturhistorischen Methode schreibt, dass Gerbers »entgegenstehende« Auffassung vielleicht doch auch »bloß Sache der Neigung«156 sei. Damit spielte Jhering nämlich an auf die beiden regulativen Gesetze seiner Theorie der juristischen Technik, das »Gesetz der Schönheit« und dasjenige der »logischen Sparsamkeit«, die unter der Voraussetzung der Übereinstimmung einer dogmatischen Konstruktion mit dem geltenden Recht sowie ihrer gedanklichen Konsistenz (»Nichtwiderspruch«) auch durchaus alternative 152 R.Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Zweiter Theil. Zweite Abtheilung, 1858, § 41, S. 402. 153 C.F.Gerber, Ueber die Natur der Rechte des Schriftstellers und Verlegers, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 3 (1859), S. 359–398 (366). 154 R.Jhering, Unsere Aufgabe, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 1 (1857), S. 38. 155 Jherings Brief an Gerber von Mitte Juni 1859, in transkribierter Form abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 115, S. 335–341 (337): »[…] ist mir eigentlich immer überraschend gewesen, daß Du […] bei dieser Frage Dich zu der […] Ansicht bekennst. Gerade an Dir hätte die entgegengesetzte […] ihren eigentlichen Vertreter finden sollen, […] ich möchte es fast bedauern […].« 156 Jherings Brief an Gerber von Mitte Juni 1859, in transkribierter Form abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 115, S. 335–341 (337).

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rechtsdogmatische Konstruktionen zuließ, welche nicht dem schlichten Schema von »wahr« und »falsch« unterlagen.157 Allerdings irrte Jhering, wenn er geglaubt haben sollte, auch Gerber sehe in der Frage der rechtsdogmatischen Qualifizierung der Nachdruckverbote irgendeinen wissenschaftlichen Spielraum, den auszufüllen »bloß Sache der Neigung« des jeweiligen Rechtsgelehrten sei. Vielmehr würde nach Gerber ein »Rechtsschutz des Gedankens als solchen […] eine völlige Entartung des Rechts enthalten«, eine im französischen Recht leider schon Wirklichkeit gewordene »Uebertreibung des Schutzes der geistigen Thätigkeit«158, der – so Gerber gegen Bluntschli – »ohne Zweifel ein Verstoß gegen die Grundsätze der juristischen Construction«159 darstelle. Das war allerdings nicht mehr weit entfernt von Puchtas Deduktionen, der einst ausgehend vom römischen Recht ebenfalls künftiger Wissenschaft und Gesetzgebung die juristische Unmöglichkeit von Rechtsinstituten wie der unmittelbaren Stellvertretung, der Forderungszession oder des Vertrags zugunsten Dritter diktieren wollte und damit Mitte der 1850er Jahre zum Auslöser der maßgeblich von Jhering getragenen Reformbewegung innerhalb der Historischen Rechtsschule wurde. Für Jhering war auf Grundlage seiner Theorie der naturhistorischen Methode vollkommen klar, dass die Rechtswissenschaft immer in der Lage sein müsse, auch »das bisher für juristisch unmöglich Gehaltene« in den sich verändernden Rechtssätzen des Gesetzgebers aufzunehmen und unter Einhaltung der Methodengesetze der juristischen Technik »das Gebiet des theoretisch Möglichen dem entsprechend auszudehnen.«160 Gerber drehte aber in seinem Beitrag den Spieß einfach um. Beim Versuch des Nachweises, dass »das ursprüngliche Recht des Autors kein eigenes selbständiges subjektives Recht sei, von welchem der Schutz gegen Nachdruck nur als abgeleitete Consequenz erscheine«, versuchte er die gegenteilige Ansicht zu widerlegen mit dem Hinweis auf übertriebene Konstruktionen (»Gesetz der Schönheit«) ohne jedes praktische Bedürfnis auf der Grundlage des geltenden und offenbar auch künftigen Rechts: »Ich bin der Ansicht, daß die entgegengesetzte Meinung auf einem falsch geleitetem Gefühl juristischer Aesthetik beruht; die Vertreter derselben gleichem dem Baumeister,

157 C.-E.Mecke, Begriff und Methode der Rechtswissenschaft bei Rudolf von Jhering, 2018, S. 577f. 158 C.F.Gerber, Ueber die Natur der Rechte des Schriftstellers und Verlegers, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 3 (1859), S. 359–398 (367). 159 C.F.Gerber, Ueber die Natur der Rechte des Schriftstellers und Verlegers, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 3 (1859), S. 359–398 (376f.). 160 R.Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung. Zweiter Theil. Zweite Abtheilung, 1858, § 41, S. 402f.

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der über der einfachen Küche, welche er zu bauen hat, die leeren Mauern eines Schloßbaues erhebt.«161

In Wahrheit aber waren – um in Gerbers Bild zu bleiben – Wissenschaft und Gesetzgebung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade dabei, die Fundamente zu legen für einen ganz neuen mit vielen Räumen versehenen »Schloßbau«, nämlich das Gebiet des Immaterialgüterrechts, in dem das hergebrachte Nachdruckverbot von Büchern immer stärker zum Nebenschauplatz wurde gegenüber einem sich ausdifferenzierenden System subjektiver Immaterialgüterrechte. Der im Unterschied zu Jhering nicht entwicklungsgeschichtlich, sondern nur rein konstruktiv-positivistisch denkende Gerber prophezeite hingegen im Brustton tiefster Überzeugung, dass man »mit aller Bestimmtheit [sic!] das literarische Eigenthum zu jenen Erscheinungen rechnen« könne, in denen »trotz allen scheinbaren Lebens der Keim eines baldiges Todes erkannt werden muß«162, auch wenn »jetzt, nachdem der Schutz der schriftstellerischen Arbeit seine bundes- und particulargesetzliche Anerkennung gefunden hat, […] die Theorie des ›geistigen Eigenthums‹ noch hie und da vertheidigt« werde.163 Einen Hinweis darauf, dass Jhering den sich hier anbahnenden grundsätzlichen Dissens mit Gerber bei Abfassung des Briefes vom Juni 1859 zumindest bereits gespürt haben muss, gibt seine nur auf den ersten Blick harmlos wirkende Bezugnahme auf die Besitzrechtskontroverse um Savigny, die im Kern eine Kontroverse um das Grundverständnis des Privatrechts gewesen ist.164 Wenn Jhering nämlich in seinem Brief an Gerber dessen Auffassung zum Nachdruck als »ähnlich« bezeichnet mit derjenigen Savignys über die »rechtliche Natur des Besitzes«165, dann kritisiert er an Gerbers Auffassung zum Urheberrecht ebenso wie an Savignys Erklärungen des rechtlichen Besitzschutzes eine Reduktion der Rechtswissenschaft auf die bloße Konstatierung gesetzlicher Verbotsnormen oder – noch schärfer formuliert – auf den kompletten Verzicht auf Privatrechtsdogmatik in den beiden genannten Fragen. In der Tat leugnete Gerber den privatrechtlichen Charakter des Autorenrechts, wenn er es auf Nachdruckverbote reduzierte und in eine Reihe stellte mit dem Strafrecht und anderen Gesetzen des öffentlichen Rechts.166 Eben von daher rührt auch die in Wahrheit nur 161 C.F.Gerber, Ueber die Natur der Rechte des Schriftstellers und Verlegers, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 3 (1859), S. 359–398 (365). 162 C.F.Gerber, Ueber die Natur der Rechte des Schriftstellers und Verlegers, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 3 (1859), S. 359–398 (361). 163 C.F.Gerber, Ueber die Natur der Rechte des Schriftstellers und Verlegers, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 3 (1859), S. 359–398 (360). 164 Vgl. dazu schon oben Fn. 36. 165 Jherings Brief an Gerber von Mitte Juni 1859, in transkribierter Form abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 115, S. 335–341 (336). 166 Vgl. oben Fn. 34.

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rhetorische Frage Jherings an Gerber mit Blick auf dessen zwei in demselben Heft der Jahrbücher erschienene Abhandlungen zum Urheberrecht und zur Autonomie. Weil Jhering mit der zweiten Abhandlung Gerbers zur Frage nach der Autonomie als Rechtsquelle übereinstimmte,167 fragt Jhering rhetorisch: »Ist der Gegensatz im Grunde nicht derselbe, wie bei der ersten Abh[andlung] [sc. zum Urheberrecht]? Bei beiden auf der einen Seite das Gesetz, auf der andern ein Recht der Rechtsinstitut[e].«168

Die eine »Seite« bezeichnete die Rechtssätze, die Imperative der gesetzlichen Verbotsregeln, die durch die von Jhering so genannten »niedere Jurisprudenz« auszulegen waren, die andere Seite hingegen die »Rechtsinstitute« bzw. »Rechtsbegriffe« nach gedanklicher Verarbeitung der Rechtssätze durch die Rechtsdogmatik, eben die von Jhering so genannte »höhere Jurisprudenz«. Wenn Jhering Gerbers urheberrechtlichen Vorstellungen ein Fehlen dieses Gegensatzes attestierte, an dessen Notwendigkeit er übrigens auch in seiner späten Schaffensphase immer festgehalten hat, dann wirft Jhering Gerber im Grunde vor, bei aller äußeren »Eleganz und Formvollendung«169 der Darstellung in seinem Aufsatz vor der eigentlichen Aufgabe wissenschaftlicher Rechtsdogmatik im Bereich des Urheberrechts kapituliert zu haben nach dem Prinzip des »dürre[n], todte[n] Gesetz[es] […] ›Lex ita scripta est‹ […].«170 Aus diesem Grunde fiel auch später Kohlers schonungsloses Urteil über Gerbers Beitrag vernichtend aus: »Dies ist nun die Theorie, welche man unserem Immaterialgüterrecht gegenüberstellt, und welche man wegen ihrer Einfachheit preist. Fürwahr sehr einfach, die reine Null, eine Lehre, die überall, wo man sie mit dem Finger berührt, zusammenfällt! Und wie soll eine solche Lehre einen Halt bieten für die juristische Konstruktion der schwierigen Rechtsverhältnisse, welche die Praxis des Autorrechts bietet: eine Lehre, welche nicht einmal die juristische Uebertragung oder Verpfändung des Autorrechts, den Nieß-

167 Vgl. C.-E.Mecke, Begriff und System des Rechts bei Georg Friedrich Puchta, 2009, S. 380–386 (383f.) zu Jherings und Gerbers gemeinsamen Ablehnung der Rechtsquellenfunktion von unterstaatlichen Körperschaften im Gegensatz zu deren Bejahung durch Savigny und Puchta. 168 Jherings Brief an Gerber von Mitte Juni 1859, in transkribierter Form abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 115, S. 335–341 (337). 169 Jherings Brief an Gerber von Mitte Juni 1859, in transkribierter Form abgedruckt in: M.G.Losano, Der Briefwechsel zwischen Jhering und Gerber. Teil 1, 1984, Nr. 115, S. 335–341 (337). 170 R.v.Jhering, Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? Jherings Wiener Antrittsvorlesung vom 16. Oktober 1868. Aus dem Nachlaß herausgegeben und mit einer Einführung, Erläuterungen sowie einer wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung versehen von Okko Behrends, 1998, S. 47–101 (50f.).

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brauch Dritter oder die Theilung des Rechts unter mehrere Mitgenossen zu erklären vermag.«171

4.

Kommentierung von Jherings Schrift »Das Schuldmoment im römischen Privatrecht« (1867/1879)

Auf dem Hintergrund von Jherings nie öffentlich gewordener Kontroverse mit Gerber gewinnt Jherings erste öffentliche Erwähnung und entwicklungsgeschichtliche Einordnung des Autorrechts in seiner Festschrift von 1867 über das »Schuldmoment im römischen Privatrecht« eine pikante Note, die nur durch die zwischenzeitlich eingetretene fachliche und persönliche Entzweiung Jherings und Gerbers abgemildert wird. Wenn Jhering nämlich zur aktualisierenden Illustration des entwicklungsgeschichtlichen Gangs von der Vorstellung des Unrechts als nur schuldhafter Rechtsverletzung (subjektives Unrecht) zur entwicklungsgeschichtlich höher entwickelten Vorstellung der Möglichkeit auch unverschuldeter Rechtsverletzungen (objektives Unrecht) ausgerechnet den »Gegensatz der Ansichten über das Autorrecht«172 heranzieht, dann rücken Gerbers urheberrechtliche Ansichten erst recht in das schlechte Licht der Rückwärtsgewandtheit und fehlenden Entwicklung. Wer – wie Gerber – im »Autorrecht« den »subjectivistischen« Standpunkt vertrete, der »das Verhältniß unter das im Nachdruck liegende Delict bringt«173, der steht nach Jhering auf derselben entwicklungsgeschichtlich niederen Stufe wie diejenigen römischen Juristen, die lange Zeit objektives Unrecht »gewaltsam in die subjective Form gezwängt« und zu Unrecht auch da eine »culpa« angenommen hätten, wo gar keine war174. Was im römischen Recht »erst die fortschreitende Wissenschaft« durch Ablösung des objektiven Unrechts von der subjektiven Form vollbracht habe, das leistet nach Jhering in der zeitgenössischen Debatte nun die »objectivistische« Theorie, welche das Autorrecht »entbunden von dieser beschränkten Voraussetzung [sc. der schuldhaften Handlungen] in seiner Objectivität gleich dem Eigenthum als Autorrecht aner171 J.Kohler, Das Autorrecht, eine zivilistische Abhandlung, zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Eigenthum, vom Miteigenthum, vom Rechtsgeschäft und Individualrecht, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 18 (1880), S. 129–478 (190). 172 Vgl. oben Fn. 51 [=R.Jhering, Schuldmoment (1867), in: Vermischte Schriften, S. 197 Note 73]. 173 Vgl. oben Fn. 51 [=R.Jhering, Schuldmoment (1867), in: Vermischte Schriften, S. 197 Note 73]. 174 Vgl. oben Fn. 51 [=R.Jhering, Schuldmoment (1867), in: Vermischte Schriften, S. 197 Note 73].

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kennt.«175 Auch der Nachdrucker bona fide, der 1859 Jherings Meinungsverschiedenheit mit Gerber ausgelöst hatte, ist damit ebenso potentieller Verletzer des Autorrechts wie der dolos handelnde Nachdrucker. Obwohl sich Jherings erste öffentliche Stellungnahme zum Urheberrecht in der Schrift von 1867 auf eine kurze Fußnote beschränkte, ließ es sich 1880 Joseph Kohler nicht nehmen, eben auf diese Fußnote im 1879 in erweiterter Form nochmals veröffentlichten Beitrag von Jhering hinzuweisen. Jhering diente ihm als Gewährsmann für seine eigene Kritik an Gerbers Theorie. Dessen Theorie, die Gerber auch später gegen Angriffe öffentlich verteidigte und bis an sein Lebensende nicht aufgab,176 war – so Kohler – in direkter und ausdrücklicher Anknüpfung an Jhering »[…] nichts, als der zurückgebliebene Schatten jener unentwickelten Rechtsanschauung, welche das Recht nur in der Gestalt der Deliktsstrafe kannte, welche noch nichts von objektivem Recht und objektiver Verletzung, sondern nur von Delikten und deren Ahndung wußte. So ist denn allerdings bei allen Völkern die Diebstahlsstrafe älter gewesen, als die rei vindicatio und dieser Uebergang läßt sich auf allen Rechtsgebieten verfolgen, wie dies von Jhering, Schuldmoment im römischen Privatrecht, überzeugend ausgeführt worden ist. Und so ist es auch begreiflich, daß der Autorschutz bei dem Delict begonnen hat und die Autorgesetzgebung lange Zeit eine Nachdruckgesetzgebung war. […] Eine wissenschaftliche Theorie, welche heutzutage im Autorrecht den Deliktsstandpunkt festhält, gleicht einem Gespenst aus alten Tagen, welches sich in unsere Zeiten verirrt. Schon Jhering […] hat auf diesen Entwicklungsgang innerhalb des Autorrechts hingewiesen.«177

175 Vgl. oben Fn. 51 [=R.Jhering, Schuldmoment (1867), in: Vermischte Schriften, S. 197 Note 73]. 176 Nicht zutreffend ist die Behauptung von N.Reinhold, Die Entwicklung des Urheberrechts unter besonderer Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung von 1870–1910, 2018, S. 52, dass Gerber die »Reflex-/Monopoltheorie 1895 selbst aufgegeben habe«. Gerber ist 1891 verstorben. Die Änderung in Gerbers »System des deutschen Privatrechts« erfolgte erst durch Konrad Cosack, der nach Gerbers Tod 1895 die 17. Auflage des Buches herausgab. Vgl. auch K.Bandilla, Urheberrecht im Kaiserreich. Der Weg zum Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst vom 19. Juni 1901, 2005, S. 56]. 177 J.Kohler, Das Autorrecht, eine zivilistische Abhandlung, zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Eigenthum, vom Miteigenthum, vom Rechtsgeschäft und Individualrecht, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 18 (1880), S. 129–478 (190).

232 5.

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Kommentierung von Jherings Beitrag zum Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen (1885)

Der von Jhering im Aufsatz über den »Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen« unternommene Versuch, den Immaterialgüter- und Persönlichkeitsschutz auch gemeinrechtlich zu verankern, erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die reichsweiten gesetzlichen Regelungen des Immaterialgüterschutzes bereits zu ihrem vorläufigen Abschluss gekommen und zudem die Tage der Geltung des Pandektenrechts in Deutschland gezählt waren. Nicht zum Abschluss gekommen war aber die kontroverse Diskussion um die Grundlagen des Urheberrechts. So zählte Otto Stobbe, dessen Handbuch zum Urheberrecht Jhering für die urheberrechtlich relevanten Teile seines Aufsatzes herangezogen hatte, eben just in dem Jahr, in dem Jherings Aufsatz erschien, die Lehre vom Urheberrecht »zu den allerbestrittensten.«178 Jhering war nicht der erste, der die aus dem römischen Recht rezipierte actio injuriarum zum Anknüpfungspunkt eines gemeinrechtlichen Immaterialgüterschutzes machen wollte. So hatte bereits 1824 Leopold Joseph Neustetel, der den Nachdruck als Verletzung der Persönlichkeit des Autors auffasste, in seiner Schrift »Der Büchernachdruck nach Römischem Recht betrachtet« den Schutz der Persönlichkeit des Autors aus der actio injuriarum abgeleitet.179 Andere folgten wie etwa der Protagonist einer persönlichkeitsrechtlichen Auffassung des Urheberrechts Karl Gareis180 und schließlich auch Josef Kohler.181 Kohler war es auch, der 1880 in seinem Beitrag zum Autorrecht in den von Jhering herausgegebenen Jahrbüchern der gesamten Pandektistik das Versäumnis vorhielt, die aus der Entstehungsgeschichte abzuleitende weite persönlichkeitsrechtliche Dimension der actio injuriarum nicht bemerkt und für das zeitgenössische Immaterialgüterrecht fruchtbar gemacht zu haben: »Daß die Körper- und Geisteskräfte zu den rechtlich geschützten Gütern gehören, hätte niemals bestritten werden sollen; der Streit war nur möglich in Folge einer formalen Jurisprudenz, welche, an der römischen actio klebend, jede weitere Wurzel dieser actio zu suchen unterließ.«182 178 O.Stobbe, Handbuch des deutschen Privatrechts. Band 3: Urheberrecht, 2. Auflage 1885, § 158, S. 6. 179 H.Coing, Europäisches Privatrecht. Band II: 19. Jahrhundert. Überblick über die Entwicklung des Privatrechts in den ehemals gemeinrechtlichen Ländern, 1989, S. 158 sowie im Einzelnen D.Leuze, Die Entwicklung des Persönlichkeitsrecht im 19. Jahrhundert, 1962, S. 87f. und F.Klingenberg, Vom persönlichen Recht zum Persönlichkeitsrecht, in: ZRG Germ. Abt. 96 (1976), S. 183–208 (194–197). 180 D.Leuze, Die Entwicklung des Persönlichkeitsrecht im 19. Jahrhundert, 1962, S. 96. 181 D.Leuze, Die Entwicklung des Persönlichkeitsrecht im 19. Jahrhundert, 1962, S. 103–111. 182 J.Kohler, Das Autorrecht, eine zivilistische Abhandlung, zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Eigenthum, vom Miteigenthum, vom Rechtsgeschäft und Individualrecht, in: Jahrbücher für

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Jherings an gleicher Stelle fünf Jahre später erschienener Aufsatz über das »Anwendungsgebiet der actio injuriarum im neueren römischen Recht« und deren Übertragung auf die »Verhältnisse unseres heutigen Lebens«183 wird man wohl als direkte Antwort auf das von Kohler angemahnte Versäumnis der Pandektistik verstehen müssen.184 Merkwürdigerweise erwähnt Jhering den wichtigen Aufsatz Kohlers, für den Jhering zudem noch selbst als Herausgeber der Jahrbücher fungiert hatte, in seinem eigenen langen Beitrag nicht mit einem Wort und zitiert stattdessen lediglich Stobbes Handbuch zum deutschen Privatrecht185. Einen sachlichen Grund für die gerade in diesem Fall auffällige Nichtnennung gibt es nicht. Man könnte vermuten, dass die kurz vor Jherings Publikation in den Jahren 1883/1884 zwischen Kohler und Jhering ausgebrochene scharfe Kontroverse um die juristisch-moralische Beurteilung der Figur des Geldverleihers Shylock in Shakespeares »Kaufmann von Venedig« eine Rolle gespielt haben könnte.186 Andererseits hat Jhering Kohler später als Gutachter bei dessen Berufung nach Berlin (1888) wenigstens intern als »Mann ersten Ranges« bezeichnet, »eine phänomenale Erscheinung« von »einer staunenswerten: ich möchte fast sagen unheimlichen Produktivität, der schafft für zehn […] nicht oberflächlich […]. Der Mann liest alles, kennt alles, benutzt alles, ich begreife gar nicht, woher er nur die Zeit nimmt, alle die Bücher der in- und ausländischen Literatur zu lesen geschweige denn, alles zu verarbeiten […]. Ein solcher Mann gehört nach Berlin.«187

Kohlers Nichtnennung wird noch weniger verständlich, wenn man berücksichtigt, dass dieser 1880 auf das – ehemals – »weitgehende Recht der actio injuria-

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die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 18 (1880), S. 129–478 (251). Vgl. oben Fn. 76 [= R.v.Jhering, Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 23 (1885), S. 155–338 (155, 163)]. Anders als Kohler war Jhering dabei aber nicht ausschließlich auf den Schutz des Immaterialgüterrechts fokussiert, das nach Jhering nur einen wichtigen Anwendungsbereich der actio injuriarum darstellte. Ein für Jhering wichtiger zweiter Anwendungsbereich waren Fälle der Störung fremder Rechtssphären im Miet- und Nachbarrecht. Vgl. M.G.Losano, Bibliographie Rudolf von Jherings, in: Jherings Erbe. Göttinger Symposion zur 150. Wiederkehr des Geburtstages von Rudolph von Jhering, 1970, S. 252–280 (273f. Nr. 92f.) dazu, dass auch Jhering zugesandte Fälle aus der Gerichtspraxis etwa zu nächtlichen Ruhestörungen in dessen Beitrag zum Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen eingingen. Vgl. oben Fn. 124. B.Großfeld, Josef Kohler (1849–1919), in: S.Grundmann u. a. (Hrsg.), Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, 2010, S. 384–388 sowie A.-A.Wandtke, Zukunft des Urheberrechts und eine monistisch geprägte Urheberrechtskonzeption – Entwicklungslinien seit Josef Kohler, in: S.Grundmann (Hrsg.), aaO, S. 1173– 1184 (1174). Zitiert nach B.Großfeld, aaO (Fn. 186), S. 397 und A.-A.Wandtke, aaO (Fn. 186), S. 1174.

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rum« im klassischen römischen Recht verwiesen hatte, an dessen Stelle man »in den modernen Rechtsgebieten nur den Schutz der bürgerlichen Ehre gesetzt« habe, was zu einer »klaffende[n] Lücke« im rechtlichen Schutz der Persönlichkeit geführt habe.188 Eben diese Lücke zu schließen bzw. – genauer – der Versuch, auf dem Weg pandektistischer Quellenexegese zu zeigen, dass diese Lücke nur durch ein in der Neuzeit zu Unrecht verengtes Verständnis des rezipierten römischen Rechts entstanden sei, war das Ziel von Jherings Beitrag genau auf dem fünf Jahre zuvor von Kohler gewiesenen Weg. Tatsächlich hatte in der neuzeitlichen Rezeptionsgeschichte der sachliche Anwendungsbereich der actio injuriarum einer »äußerst starke[n] Beschneidung« und – so Leuze – »Amputation des Injuriatatbestandes« unterlegen, so dass die gemeinrechtliche actio injuriarum schließlich entgegen »ihrer ursprünglichen Bedeutung« im klassischen und Justianischen Recht zumeist nur noch »als eine Beleidigungsklage aufgefaßt« wurde189. Damit schien die actio injuriarum spätestens durch die einschlägigen Bestimmungen des Reichsstrafgesetzbuches zur Beleidigung nach mehrheitlicher Auffassung in der Literatur obsolet geworden zu sein.190 Jhering dagegen versucht 1885, »der Lehre von der injuria neues Leben einzuhauchen und den Injurientatbestand zum Instrument eines globalen zivilrechtlichen Persönlichkeitsschutzes zu machen.«191 Zwar lehnt er die Bezeichnung »Individualrecht« für das auch von Kohler aus der actio injuriarum abgeleitete Recht ab, welches man nach Kohler »nicht unpassend Individualrecht genannt hat, und welches ich vorläufig so nennen werden salvo meliore.«192 Aber den von Kohler mit der actio injuriarum verbundenen Schutz vor einem »Eingriff in meine Individualfunktion« (Kohler)193 bzw. vor einer »mittelbare[n] Verlet188 J.Kohler, Das Autorrecht, eine zivilistische Abhandlung, zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Eigenthum, vom Miteigenthum, vom Rechtsgeschäft und Individualrecht, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 18 (1880), S. 129–478 (258). 189 D.Leuze, Die Entwicklung des Persönlichkeitsrecht im 19. Jahrhundert, 1962, S. 75. 190 Vgl. zum Ganzen T.Moosheimer, Die actio injuriarum aestimatoria im 18. und 19. Jahrhundert, 1997, S. 85, 145–159, 161, 167. Als Vertreter derjenigen, die abweichend von der herrschenden Meinung auch noch Ende des 19. Jahrhunderts eine Weitergeltung der actio injuriarum behaupteten, nennt Moosheimer Carl Georg von Wächter (1874), Heinrich Dernburg (1880), Rudolf von Jhering (1885) und Ernst Landsberg (1886). 191 D.Leuze, Die Entwicklung des Persönlichkeitsrecht im 19. Jahrhundert, 1962, S. 77. 192 J.Kohler, Das Autorrecht, eine zivilistische Abhandlung, zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Eigenthum, vom Miteigenthum, vom Rechtsgeschäft und Individualrecht, in: Jahrbücher für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 18 (1880), S. 129–478 (251f.) Der Ausdruck »Individualrecht« wurde 1877 von Karl Garlis in die Debatte eingebracht [F.Klingenberg, Vom persönlichen Recht zum Persönlichkeitsrecht, in: ZRG Germ. Abt. 96 (1976), S. 183–208 (204)]. 193 J.Kohler, Das Autorrecht, eine zivilistische Abhandlung, zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Eigenthum, vom Miteigenthum, vom Rechtsgeschäft und Individualrecht, in: Jahrbücher

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zung der Person« (Jhering)194 des Klageberechtigten haben beide gesehen.195 Lediglich die Schwierigkeit, die auch von Kohler als maßgeblich betrachtete Möglichkeit der eigentumsähnlichen Übertragbarkeit von Immaterialgüterrechten mit dieser höchstpersönlichen »Individualfunktion« des subjektiven Rechts in eine gedankliche Übereinstimmung zu bringen, hielt Jhering davor ab, auch selbst von »Individualrechten« zu sprechen, was nur »leicht zu Mißverständnissen Anlaß«196 gäbe. Den entscheidenden Schritt Kohlers zur gedanklichen Aufspaltung beider Rechte im Sinne eines Dualismus ist Jhering hingegen noch nicht gegangen. Fast schon als pandektistische Akrobatik zu bezeichnen ist allerdings Jherings Behauptung, dass speziell bei der Anwendung der actio injuriarum auf Immaterialgüterrechte »stets«197 von einer injuriösen Rechtsverletzung auszugehen sei. Damit wurde der bei dieser Klageform eigentlich unbedingt erforderliche und im Einzelfall auch schwierige Nachweis eines »animus injuriarum«, einer Verhöhnung der Rechtsposition des Verletzten bzw. »Ueberhebung der einen Person über die andere«198 bei allen Immaterialgüterrechtsverletzungen im Ergebnis neutralisiert. Auch »nicht […] bewußte Rechtsverletzungen« des nicht dolos Handelnden blieben anders als beispielsweise bei injuriösen Verletzungen des Sacheigentums im Fall der Verletzung von Immaterialgüterrechten stets »verschuldete und zurechenbare Rechtsverletzungen«.199 Faktisch hat Jhering damit aus dem »subjectiven« Unrecht des Injurientatbestandes ein »objectives (unbefangenes) Unrecht«200 werden lassen. Damit hat er eben das, was er auf dem Gebiet des Autorrechts von Gerber und anderen Vertretern der »germanistische[n] Jurisprudenz« im Jahre 1867 gefordert hatte, 1885 auf gemeinrechtlichem Gebiet umgesetzt.201 Die Herkunft der actio injuriarum aus dem Privatstrafen-

194 195

196 197 198 199 200 201

für die Dogmatik des heutigen römischen und deutschen Privatrechts 18 (1880), S. 129– 478 (258). Vgl. oben Fn. 55 [= R.v.Jhering, Rechtsschutz (1885), S. 181]. Das übersieht N.Reinhold, Die Entwicklung des Urheberrechts unter besonderer Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung von 1870–1910, 2018, S. 67, wenn sie meint, Jhering sei vom Reichsgericht in einer urheberrechtlichen Entscheidung aus dem Jahre 1886 zu Unrecht zusammen mit Kohler zitiert worden, da Jhering im Gegensatz zu Kohler die Bezeichnung »Individualrecht« abgelehnt habe. Letzteres ist zwar zutreffend, dennoch wollte Jhering die vom Reichsgericht benannten »ideellen Interessen des Urhebers« (aaO) ebenso schützen wie Kohler. Insoweit wurde Jhering daher vom Reichsgericht zutreffend als Gewährsmann dieser Auffassung angeführt [RGZ 18, 10 (18)]. Vgl. oben Fn. 64 [= R.v.Jhering, Rechtsschutz (1885), S. 304 Note 1]. Vgl. oben Fn. 82f. [= R.v.Jhering, Rechtsschutz (1885), S. 308f.]. Vgl. oben Fn. 78 [= R.v.Jhering, Rechtsschutz (1885), S. 190]. Vgl. oben Fn. 82 [= R.v.Jhering, Rechtsschutz (1885), S. 308]. Vgl. oben Fn. 82 [= R.v.Jhering, Rechtsschutz (1885), S. 308]. Vgl. oben Fn. 51 [= R.Jhering, Schuldmoment (1867), in: Vermischte Schriften, S. 197 Note 73].

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recht202 wurde für den Fall der Verletzung von Immaterialgüterrechten im Dienst der »fortschreitende[n] Wissenschaft«203 also einfach beiseitegeschoben. Damit hat Jhering eine absolute Minderheitenposition in der zeitgenössischen Pandektistik eingenommen, der auch kein Erfolg beschieden war. Dem Versuch seiner »Ausdehnung des Injuriatatbestandes« stand die herrschende Auffassung in der Wissenschaft »recht verständnislos« gegenüber.204 Auch ein nur wenige Jahre nach Jherings Tod ergangenes Urteil des Oberlandesgerichts Hamburg vom 26. November 1895, das »offenbar unter dem Einfluß Iherings in einer kühnen Entscheidung […] die actio injuriarum als eine zwar nicht auf Privatstrafe, aber auf Schadensersatz gerichtete Klage aufrechtzuerhalten« versuchte, war – so Leuze – nicht mehr als »die letzte Zuckung der im römischen Recht so bedeutsamen actio injuriarum, die im gemeinen Recht zu einer Beleidigungsklage degradiert und im Laufe der Zeit fast völlig ausgelöscht worden war.«205

6.

Kommentierung von Jherings Rechtsgutachten von 1887

Das von Jhering für das Reichsjustizamt206 mit Datum vom 13. März 1887 erstellte Gutachten fällt in einen Zeitraum, in der das Immaterialgüterrecht bereits durch Reichsgesetze geregelt war und die nächste Reformwelle um 1900 noch in weiter Ferne zu sein schienen. In Wahrheit aber hatte sich das Urheberrechtsgesetz von 1870 schon wenige Jahre nach seinem Inkrafttreten aufgrund der immer stärker zunehmenden »Massenproduktion von Büchern, Notenmaterial und neu erfundenen Musikinstrumenten« als veraltet erwiesen.207 Auch von der gesetzlichen Rechtsfolge her betrachtet kannte es zwar Entschädigungsansprüche (§§ 18ff.) und die strafrechtliche Verfolgung, hingegen noch nicht Beseitigungsund Unterlassungsansprüche.208 202 T.Moosheimer, Die actio injuriarum aestimatoria im 18. und 19. Jahrhundert, 1997, S. 1, 8. 203 Vgl. oben Fn. 51 [= R.Jhering, Schuldmoment (1867), in: Vermischte Schriften, S. 197 Note 73]. 204 D.Leuze, Die Entwicklung des Persönlichkeitsrecht im 19. Jahrhundert, 1962, S. 79; T.Moosheimer, Die actio injuriarum aestimatoria im 18. und 19. Jahrhundert, 1997, S. 159. 205 D.Leuze, Die Entwicklung des Persönlichkeitsrecht im 19. Jahrhundert, 1962, S. 79. 206 Vgl. K.Bandilla, Urheberrecht im Kaiserreich. Der Weg zum Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst vom 19. Juni 1901, 2005, S. 66–68 zur Institution des Reichsjustizamtes, der obersten Behörde der Justiz des Deutschen Reiches, die 1877 aus dem Reichskanzleramt hervorgegangen war und 1919 aufging im Reichsministerium der Justiz. Das Reichsjustizamt stand im ständigen Austausch mit dem ungleich größeren preußischen Justizministerium. 207 K.Bandilla, Urheberrecht im Kaiserreich. Der Weg zum Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst vom 19. Juni 1901, 2005, S. 31. 208 K.Bandilla, Urheberrecht im Kaiserreich. Der Weg zum Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst vom 19. Juni 1901, 2005, S. 30.

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Hinzu kamen 1885/86 besondere Anlässe sowohl auf nationaler als auch auf internationale Ebene, die den Reformdruck erhöhten. Eine der anstehenden Fragen war das bisher ungelöste Problem eines rechtlichen Schutz von Inedita etwa in Nachlässen oder Archiven. Im Oktober 1885 wandte sich der preußische Justizminister an das Reichsjustizamt im Nachgang zu einem Rechtsstreit um die im preußischen Staatsarchiv aufbewahrten Memoiren Henri de Catts, einem Sekretär des preußischen Königs Friedrich II., die tagebuchartige Aufzeichnungen von Gesprächen mit dem König aus der Zeit des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) enthielten. Da im Rechtsstreit ein Gericht in Leipzig gegen die Interessen des Königlich-Preußischen Staatsarchivs entschieden hatte, forderte dessen Direktor eine Gesetzesreform, nach der künftig »auch der Herausgeber von bisher noch nicht verlegten Werken mit abgelaufener Schutzfrist zehn Jahre ab Erscheinen des Werkes gegen Nachdruck geschützt werden sollte.«209 Zudem hatten sich ebenfalls 1885 die deutschen Kommissare, die von der Reichsregierung zu den internationalen Verhandlungen über die »Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst« entsandt worden waren, für eine Reform des deutschen Urheberrechts zur Harmonisierung von dessen Regelungen mit der internationalen Übereinkunft ausgesprochen. Nach Unterzeichnung der Berner Übereinkunft durch das Deutsche Reich am 9. September 1886 steckte das Reichsjustizamt in einer Denkschrift vom März 1887 den Rahmen der Reform ab, die unter anderem auch den Schutz der Inedita regeln sollte.210 In diesem Zusammenhang steht der Gutachtenauftrag des Reichsjustizamts an Jhering sowie weitere bekannte Rechtsgelehrte, darunter Mommsen, Bähr und Kohler.211 Sollte – was zu vermuten ist – Jhering den Gutachtenauftrag vom Reichsjustizamt aufgrund seines Aufsatzes zum Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsver209 K.Bandilla, Urheberrecht im Kaiserreich. Der Weg zum Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst vom 19. Juni 1901, 2005, S. 62. Vgl. dazu und zum Folgenden auch eingehend K.Birkmeyer, Der Schutz der editio princeps. Ein Beitrag zur bevorstehenden Reform der Urheberrechts-Gesetzgebung, in: Mecklenburgische Zeitschrift für Rechtspflege und Rechtswissenschaft 17 (1899), S. 227–264, 335–354 = UFITA 15 (1987), S. 185–223. 210 K.Bandilla, Urheberrecht im Kaiserreich. Der Weg zum Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst vom 19. Juni 1901, 2005, S. 68. 211 M.G.Losano, Un inedito di Rudolf von Jhering sulla tutela giuridica degli inediti, in: Rivista di diritto industriale 17 (Nr. 1/2) 1968, S. 5–21 (5); K.Bandilla, Urheberrecht im Kaiserreich, 2005, S. 70. Kohler, der den Schutz des ersten Herausgebers ablehnte, sowie Bähr, der ihn befürwortete, veröffentlichten ihre Gutachten später in überarbeiteter Form [J.Kohler, Ist ein Autorschutz bei Herausgabe eines Ineditums zu befürworten?, in: (Grünhuts) Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart 15 (1888), S. 207–217 = UFITA 15 (1987), S. 163–172; O.Bähr, Hat der Eigentümer einen Anspruch auf Schutz gegen Vervielfältigung eines ihm gehörigen Schrift- oder Kunstwerks?, in: Archiv für bürgerliches Recht 7 (1893), S. 150–161 (mit Replik von Kohler) = UFITA 15 (1987), S. 173–184].

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letzungen erhalten haben, seiner einzigen zusammenhängenden Veröffentlichung zu Fragen des Immaterialgüterrechts überhaupt, dann dürfte die Überraschung in der obersten Behörde der Justiz, der gesetzgebungspolitischen Schalt- und Vermittlungszentrale zwischen Reichsleitung, Reichstag, Bundesrat und – innerhalb der Länder –insbesondere dem preußischen Justizministerium, nicht gering gewesen, als Jhering sein Gutachten eingereicht hatte. Hatte Jhering es doch noch 1885 in seinem Aufsatz zum Rechtsschutz gegen injuriöse Rechtsverletzungen ausdrücklich als »Fortschritt« gegenüber der Zeit der »Nachdrucksprivilegien« bezeichnet, dass inzwischen »die staatliche Anerkennung […] durch Rechtssatz«, also aufgrund von »abstract«-generellen Voraussetzungen der Urheberrechtsgesetze erfolge212 und nicht mehr durch die ins obrigkeitliche Ermessen gestellte Erteilung eines Privilegs gegen Nachdruck. Jherings gutachterliche Hinweise auf die römische Arrogation und die venia aetatis sowie auf das Konzessionssystem im Vereinsrecht lassen aber keinen Zweifel daran, dass ihm im Falle der Inedita eine rein obrigkeitliche Verwaltungsentscheidung im jeweiligen Einzelfall als Lösung für einen etwaigen Rechtsschutz vorschwebte: »Instruction« durch die »Administrativbehörde« statt richterlicher Entscheidung aufgrund von Gesetzen, obrigkeitliche Anordnung statt Parteiverhandlung als »Quelle des Streites« im Zivilprozess – und alles im »Interesse der Rechtssicherheit […] für den Buchhandel«, die »höher« stehe als die absolute inhaltliche »Angemessenheit des Rechts« in der Sache.213 Im Übrigen macht Jhering nicht einmal Andeutungen, nach welchen inhaltlichen Kriterien die Verwaltungsentscheidung im Einzelfall erfolgen sollte. Lediglich der Hinweis auf die Zusammensetzung der Behörde mit »geeigneten Personen (Buchhändler, Gelehrte) und durch Ermächtigung erforderlichenfalls andere[r] Sachkundige[r]«214 gibt einen Hinweis darauf, dass Jhering offenbar eine durch die Behörde im Einzelfall vorzunehmende Abwägung der ökonomischen, wissenschaftlichen und sonstigen ideellen Interessen vorschwebte. Warum diese Hinzuziehung von Fachleuten nicht in einem Gerichtsverfahren ebenso möglich sein sollte, wird dadurch aber nicht klarer. Immerhin hatte selbst das preußische Gesetz zum Schutzes des Eigenthums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung vom 11. Juni 1837 für den Fall, dass »es dem Richter zweifelhaft« erscheint, »ob eine Druckschrift als Nachdruck oder unerlaubter Abdruck zu betrachten« ist, vorgesehen, dass »der Richter das Gutachten eines aus Sachverständigen gebildeten Vereins einzuho-

212 Vgl. oben Fn. 96 [=R.v.Jhering, Rechtsschutz (1885), S. 314]. 213 Vgl. oben Fn. 115f. [= R.v.Jhering, Schreiben vom 13. März 1887 an das Reichsjustizamt, Rivista di diritto industriale 17 (Nr. 1/2) 1968, S. 16–21 (18)]. 214 Vgl. oben Fn. 121 [= R.v.Jhering, Schreiben vom 13. März 1887 an das Reichsjustizamt, Rivista di diritto industriale 17 (Nr. 1/2) 1968, S. 16–21 (20)].

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len« habe.215 Die Einrichtung eines Sachverständigenvereins, die vom seit 1871 als Reichsgesetz geltenden Gesetz, betreffend das Urheberrecht an Schriftwerken etc. vom 11. Juni 1870 übernommen worden war (§ 31), hatte sich bisher auch grundsätzlich bewährt.216 Insofern müssen es andere Gründe gewesen sein, die Jhering ein Gutachten mit diesem überraschenden, ja aus heutiger Sicht geradezu konsternierenden Inhalt erstellen ließen. Mindestens drei Gründe werden für Jhering maßgeblich geworden sein, nämlich erstens die Unmöglichkeit, auch in der Frage eines Schutzes der Inedita die actio injuriarum heranzuziehen, zweitens die Unfähigkeit, generelle inhaltliche Kriterien für den Schutz der Inedita zu formulieren, und drittens als Resultat von beidem der Rückgriff auf die eigene Vorstellungsund Gedankenwelt zur Funktionsweise der staatlichen Gewalten, die Jhering 1877 im ersten Band seines zweiten Hauptwerks »Der Zweck im Recht« formuliert hatte. Was den ersten Grund betrifft, so schied Jherings gemeinrechtliche Allzweckwaffe der actio injuriarum im vorliegenden Fall von vornherein aus. Im Falle der Veröffentlichung von jahrzehnte- oder jahrhundertealten Inedita konnten nach Ablauf der urheberrechtlichen Schutzfristen zwar ökonomische Interessen von Verlegern und Buchhandel, auch ideelle Interessen von Wissenschaft und Kunst oder gesellschaftliche Interessen der Allgemeinheit im Spiel sein, aber nicht mehr – auch nicht mittelbar – durch die actio injuriarum geschützte Persönlichkeitsinteressen. Der Kerngedanke der actio injuriarum, die in der Injurie liegende »mittelbare Verletzung der Person«217 konnte ungeachtet von Jherings weiter Ausdehnung von deren Anwendungsbereich in den Fällen, auf die die Gutachtenfrage zielte, mangels tangierter Persönlichkeitsinteressen nicht mehr zum Tragen kommen. Für einen rechtlichen Lösungsvorschlag jenseits des Anwendungsbereichs der actio injuriarum wäre aber mindestens die Formulierung genereller inhaltlicher Kriterien notwendig gewesen, die Grundlage für einen Gesetzesentwurf hätten sein können. Dazu sah sich Jhering offensichtlich nicht imstande, mehr noch, er sah offenbar bis auf Weiteres niemanden dafür als ausreichend kompetent an, wenn er sein Gutachten mit den Worten schließt, dass sich erst aus der künftigen Verwaltungspraxis der von ihm vorgeschlagenen »Behörde […] nach und nach ein werthvoller Niederschlag an Präjudicien und Erfahrungssätzen ergeben« könnte, der es dann in fernerer Zukunft »möglicherweise« erlauben würde, in einer »künftige[n] Gesetzgebung die Frage von dem Gebiet der Administration 215 § 17 des Gesetzes zum Schutze des Eigenthums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung vom 11. Juni 1837. 216 K.Bandilla, Urheberrecht im Kaiserreich. Der Weg zum Gesetz betreffend das Urheberrecht an Werken der Literatur und Tonkunst vom 19. Juni 1901, 2005, S. 29. 217 Vgl. oben Fn. 55 [= R.v.Jhering, Rechtsschutz (1885), S. 181].

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auf das der Justiz [zu] verlegen«218, mithin inhaltliche Kriterien zur Bestimmung des Schutzumfang im Gesetz zu formulieren. War somit aus Jherings Sicht bis auf weiteres der Weg zu einer materiellrechtlichen Lösung versperrt, blieben nur noch grundsätzliche prozedural-institutionelle Überlegungen zum Verhältnis zwischen Rechtspflege und Verwaltung, Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit, Rechtssicherheit und inhaltlicher Angemessenheit. Bereits der Herausgeber und bisher einziger Kommentator von Jherings Gutachten, Mario G. Losano, hat zu Recht auf die damit ins Spiel kommende Gedankenwelt Jherings zum Verhältnis der staatlichen Gewalten hingewiesen,219 die dieser wenige Jahre zuvor im »Zweck im Recht« dargelegt hatte: »[…] das Abweichende der Rechtspflege von den sonstigen Zweigen der Staatsthätigkeit [beruht] darauf, daß sie ausschließlich das Recht verwirklichen soll – ihr Wahlspruch ist das Recht und nichts als das Recht. Auch die Verwaltungsbehörden des Staates sind zwar, soweit das Recht reicht, ebenfalls verpflichtet, dasselbe zur Anwendung zu bringen, aber bei ihnen gesellt sich zu dem Recht als zweiter Faktor noch die Zweckmäßigkeit hinzu. […] Der Richter soll gewissermaßen nichts sein als das lebendig gewordene, in seiner Person der Sprache teilhaftig gewordene Gesetz. Könnte die Gerechtigkeit vom Himmel steigen und den Griffel zur Hand nehmen, um das Recht so bestimmt, genau und detailliert aufzuzeichnen, daß die Anwendung desselben sich in eine bloße Schablonenarbeit verwandeln würde: es ließe sich für die Rechtspflege nichts Vollkommeneres denken, es wäre das vollendete Reich der Gerechtigkeit auf Erden […]. Der Idee der Zweckmäßigkeit dagegen widerstreitet diese Gebundenheit durch eine im voraus festbestimmte detaillierte Norm in dem Maße, daß die gänzliche Ungebundenheit durch irgendwelche Norm immerhin noch vorteilhafter wäre als die absolute Gebundenheit […]. Auf diesem Gegensatz der beiden Ideen: der ihrer Natur nach gebundenen Gerechtigkeit und der ihrer Natur nach freien Zweckmäßigkeit beruht der innere Gegensatz zwischen der Rechtspflege und der Verwaltung (Regierung) […].«220

Da nach Jhering eine »im voraus festbestimmte detaillierte Norm« zur Regelung des Rechtsschutzes von Inedita – noch – nicht in Sicht war, blieb anstelle des Rechts und der Rechtspflege offenbar nur noch die Idee der »freien Zweckmäßigkeit« durch die Verwaltung, das zweite Prinzip der »Staatsthätigkeit«. Die Anforderungen, die Jhering an die Bestimmtheit eines Rechtssatzes, einer »detaillierten Norm« stellte, waren zu hoch, um kurzfristig eine gesetzliche Regelung schaffen zu können.

218 Vgl. oben Fn. 123 [= R.v.Jhering, Schreiben vom 13. März 1887 an das Reichsjustizamt, in: Rivista di diritto industriale 17 (Nr. 1/2) 1968, S. 16–21 (20)]. 219 M.G.Losano, Un inedito di Rudolf von Jhering sulla tutela giuridica degli inediti, in: Rivista di diritto industriale 17 (Nr. 1/2) 1968, S. 5–21 (10f.). 220 R.v.Jhering, Der Zweck im Recht. Erster Band. Zweite umgearbeitete Auflage, 1884, S. 387f.

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Dem richterlichen Subsumtionsautomatismus hat Jhering für seine eigene Zeit zwar nicht das Wort reden wollen, auch wenn seine Faszination ganz unübersehbar ist für einfache Rechtsordnungen aus den Anfängen römischer Überlieferung, deren vorgeblich kerniges »Ideal der Civilrechtspflege […] eine Rechtsmaschine« gewesen sei, welche rigoros gegen alle ungerechten und charakterlosen Abweichungen von der Gleichheit der Rechtsanwendung »mit möglichster objektiver Berechenbarkeit, Gleichmäßigkeit und Sicherheit den Umsatz der abstracten Regel in concrete Wirklichkeit« bewirkt habe.221 Aber in entwickelten komplexen Rechtsordnungen wie derjenigen seiner eigenen Zeit war auch Jhering vollkommen klar, dass Rechtanwendung kein mechanischer Vorgang sein konnte im Sinne von Montesquieus Vorstellung von der richterlichen Tätigkeit als »bouche […] de la loi«222 »Der Gedanke […], die Anwendung des Gesetzes zu einer rein mechanischen zu machen, bei der das richterliche Denken durch das Gesetz überflüssig gemacht werden soll; man wird an die von Vaucanson construirte Ente erinnert, welche auf mechanischem Wege den Verdauungsprozess besorgte – vorn wird der Fall in die Urtheilsmaschine hineingeschoben, hinten kommt er als Urteil wieder heraus. Die [sc. geschichtliche] Erfahrung hat auch hier gerichtet – der Kopf des Richters läßt sich durch den Gesetzgeber nicht ersetzen, der Erfolg, den er durch derartige Versuche erreicht, besteht in Wirklichkeit nur darin, daß er ihn abstumpft.«223

Wenn sich mithin auch der Richter nicht durch den Gesetzgeber ersetzen ließ, so ließ sich nach Jhering dann offenbar doch der Gesetzgeber ersetzen – durch die Staatsverwaltung, die nicht nur dem Recht, sondern auch der Zweckmäßigkeit verpflichtet sei. Jenseits des Bereichs der subjektiven Rechte des Privatrechts war Jherings Glaube an die Fähigkeit staatlicher Verwaltung, die »Sicherheit und Angemessenheit des Rechts […] vereinigen« zu können, »Sicherheit« hier verstanden im Sinne rational-bürokratischer Entscheidungsprozesse und »Angemessenheit« im Sinne interessengerechter Entscheidungsinhalte,224 fast grenzenlos und seine Sorge vor einer Behinderung des Buchhandels durch Parteienstreit vor Gericht und überforderte Richter ebenso. Seltsam unverbunden steht dies alles der zentralen Bedeutung richterlichen Ermessens bei der Interessen221 R.Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Zweiter Theil. Erste Abtheilung, 1854, § 28, S. 80; § 29, S. 108. Für Jhering war das Ideal kein Modell für die eigene Zeit, aber Ausdruck einer inneren Haltung der Richterpersönlichkeit, die sich konsequent am geltenden Recht ausrichtet [C.-E.Mecke, Objektivität in Recht und Rechtswissenschaft bei G.F.Puchta und R.v.Jhering, in: ARSP 94 (2008), S. 147–168 (165)]. 222 Dazu eingehend C.-E.Mecke, Begriff und Methode der Rechtswissenschaft bei Rudolf von Jhering, 2018, S. 307–315. 223 R.v.Jhering, Der Zweck im Recht. Erster Band. Zweite umgearbeitete Auflage, 1884, S. 394. Dazu jetzt S.Meder, Rechtsmaschinen. Von Subsumtionsautomaten, Künstlicher Intelligenz und der Suche nach dem »richtigen« Urteil, 2020, S. 23f. 224 Vgl. oben Fn. 116.

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abwägung gegenüber, die Jhering dem Richter innerhalb des Anwendungsbereichs der actio injuriarum aestimatoria etwa bei der Frage nach der Zulässigkeit der Veröffentlichung von Privatbriefen ausdrücklich zugewiesen hatte.225

IV.

Resümee

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Jhering Auffassungen zum Immaterialgüterrecht, soweit sie sich über den Zeitraum von fast einem halben Jahrhundert mit Hilfe von Aufsätzen, Briefen und Nachlassschriften rekonstruieren lassen, ungeachtet der methodentheoretischen Wandlungen im Laufe von Jherings Lebens doch eine kontinuierliche Entwicklung erkennen lassen. Diese Entwicklung reicht von der Ablehnung jeder rechtlichen Form geistigen Eigentums zu Beginn von Jherings akademischen Laufbahn in den frühen 1840er Jahren über erste Ansätze zu einer Begründung des subjektiven Rechts des Autors an seinem Geisteswerk mit den Mitteln und in den Vorstellungsformen der naturhistorischen Methode Ende der 1850er Jahre bis hin zum groß angelegten Versuch im Jahre 1885, durch eine Reaktivierung und Ausweitung der römischen actio injuriarum den Schutz der Immaterialgüterrechte auch gemeinrechtlich abzusichern. Dieser Versuch war zwar verspätet am Vorabend des BGB und nach Etablierung der Reichsgesetzgebungen zum Immaterialgüterrecht. Außerdem war er in zeitgenössischer Wissenschaft und Rechtsprechung auch nicht erfolgreich. Dennoch bleibt festzuhalten, dass Jhering die vermögensrechtliche Konstruktion übertragbaren geistigen Eigentums um die persönlichkeitsrechtliche Dimension des Immaterialgüterrechts erweitert hat, auch wenn er bis zu Josef Kohlers offen dualistischen Konzeption des Immaterialgüterrechts noch nicht vorgestoßen ist. Nicht in diese Entwicklungsreihe gehört hingegen Jherings spätes Kurzgutachten für das Reichsjustizamt aus dem Jahre 1887, in dem sich Jhering einer materiell-rechtlichen Antwort auf die Gutachtenfrage nach einem künftigen rechtlichen Schutz von Inedita verschließt und stattdessen auf Verwaltungsentscheidungen im Einzelfall jenseits des Privatrechts setzt.

225 Vgl. oben Fn. 93.

Anhang

Renate Frohne

Stimmen des Entsetzens über das, was in den Arenen Roms vorgeführt wurde*

Widmung. Durch die Aufnahme in zahlreiche stattliche UFITA-Bände haben Sie, sehr geehrter Herr Rehbinder, in den Jahren nach unserem ersten Treffen in Murten (Schweiz) 1986 und dem letzten in Heidelberg unseren Beiträgen zu einem Ort in der Tradition verholfen. Sie wählten die schönen und interessanten Tagungsorte und bereiteten umsichtig alles vor. Da ich weiss, dass Sie ein grosser Theater-Fan sind und über möglichst viele Aspekte auch des antiken Schaugeschäftes möglichst viel wissen möchten, spreche ich heute nicht über einen weit zurückliegenden lateinischen Text mit einer Vorstufe zum modernen Urheberrecht. Ich habe an all unseren Tagungen teilgenommen und referiert und deshalb für den heutigen Tag als Gabe aufrichtigen Dankes für Sie eine leicht kommentierte Quellensammlung erarbeitet zu dem Thema: Stimmen des Entsetzens über das, was in den Arenen Roms vorgeführt wurde (Abschnitt II), d. h. in den rund 700 Amphitheatern des Imperium Romanum. Diese wenigen von mir aus dem umfangreichen Quellenmaterial ausgewählten Stimmen aus Rom, Kappadozien und Nordafrika habe ich durch weitgehend unbekannte Aussagen von spätantiken jüdischen Gelehrten ergänzt; deren Sicht: Das Lachen, das die Völker der Welt, d. h. des Imperium Romanum, in ihren Theatern und Arenen (Schauplätze; Kampfplätze im Amphitheater) lachen (Abschnitt III).

* Dieser Aufsatz ist die im Herbst 2019 revidierte und etwas gestraffte Fassung meines im September 2017 in Hannover auf der Tagung ›Geschichte und Zukunft des Urheberrechts‹ als Dankesgabe für Herrn Prof. Dr. M. Rehbinder gehaltenen Vortrages. Die Tagung in Murten stand unter dem Thema ›100 Jahre Berner Übereinkunft‹, Prof. Dr. H. Thieme feierte 1986 seinen 80. Geburtstag.

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I.

Renate Frohne

Aufführungen im antiken Griechenland und Rom

In der klassischen griechischen Theaterkultur (5. Jh. v. Chr.) mit anspruchsvollen Tragödien (›Medea‹; ›König Oedipus‹; ›Die Bakchen‹) wurde den Zuschauern viel zugemutet; doch die großen Emotionen – in ihrer Folge Leid und Tod – waren Mimesis, Nachahmung; niemand verlor auf der Bühne sein Leben. Und doch: Ein grosses Taschentuch wollte und musste man einstecken. Der spätantike Kritiker und Interpret Augustin beschreibt in seinen Bekenntnissen die paradoxe Situation: Der Beifall für den Darsteller der tragischen Ereignisse bemisst sich nach dessen Vermögen, die Zuschauer aufzuwühlen und Mitleid, conpassio, zu erzeugen. Die Komödien der klassischen Zeit waren temperamentvoll, bissig, manchmal auch böswillig. In hellenistischer Zeit (um 300 bis zur Zeitenwende) wurde in großem Umfang eine leichtere Kost produziert, die in jeder Stadt von Griechenland bis Ai-Khanoum bei Kunduz in Nordafghanistan einer unbeschwerten Multikulti-Welt zusagte. Titel lauteten z. B. (Schneider I S. 250–253) ›Die davon gelaufene Frau‹, ›Der reiche Schiffsbesitzer‹, ›Die Päderasten‹, ›Die Kleiderhändlerin‹. Im ›Gottesstaat‹ führt Augustin eine freizügige Darstellung auf die Lebensgewohnheiten der Menschen zurück. Die (2,4) kritisierte Schamlosigkeit bezieht sich aber nicht auf Dramen, sondern Festspiele für die ›Göttermutter Kybéle‹ mit ›blutigen Praktiken und hemmungsloser Raserei‹; (DK1P ›Kybele‹ Sp. 388). Voyeurismus trieb die Massen ins Theater.1 Das Alte Testament erwähnt keine Dramen. Die Propheten erweiterten ihre Botschaften zwar durch gespielte ›Zeichenhandlungen‹, die aber kein ›Theater‹ waren; z. B. packt Hesekiel, von Gott aufgefordert, einige Habseligkeiten zusammen und geht fort (c. 12); ›in die Verbannung‹ lautet seine Erklärung; ›so werden viele von euch in die Verbannung gehen müssen‹; geschrieben zwischen 597 und 587/6 vor der Belagerung Jerusalems durch Nebukadnezar, der Zerstörung der Stadt und des Tempels, den Deportationen und der folgenden rund 50-jährigen sog. Babylonischen Gefangenschaft; (EÜ S. 1019–1020 betr. Ort und Zeit der Entstehung dieses Textes). Hesekiel ist auch der Name des einzigen bekannten jüdischen Tragikers (2. Jh.), des Verfassers einer sich an Aischylos und Euripides anlehnenden in griechischer Sprache verfassten Tragödie ›Der Auszug der Juden aus Ägypten‹. Ob das Stück aufgeführt wurde oder ein Lesedrama war, ist unbekannt; (Fragmente bei Gauly).

1 Hidden Afghanistan. Hg. Pierre Cambon u. a. (Katalog Musée Guimet) Paris 2007. – ›Theater. Spätantike‹ in: DNP 15/3, Sp. 397.

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Auf die Frage nach einer guten Freizeitgestaltung antwortete der jüdische Aristeas-Brief (2. Jh. v. Chr.; § 284): Geziemend und fürs Leben nützlich ist es, / wenn man anständige Spiele anschaut / und sich würdig und ehrbar gespielte Szenen aus dem Leben vor Augen führt, / denn auch darin liegt eine gewisse Belehrung; (Übersetzung Riessler S. 228; Schneider II S. 237). Eine der griechischen vergleichbare Theaterkultur hat sich in Rom nicht entwickelt. Man bevorzugte rasch allerlei Variété-Artiges (Friedländer II S. 290); in der Kaiserzeit ließ das Verlangen nach dem Brutalen und Exzessiven seriösere Darbietungen in den Hintergrund treten; gut besucht waren Stadien und Amphitheater. Moderne Filme vermitteln zum Glück nur eine Ahnung dessen, was sich auf diesen Schauplätzen ereignete. Es gibt Augenzeugenberichte; horribile dictu; (Abschnitt II). Die Empörung darüber war nicht laut, und die wenigen Stimmen des Entsetzens verhallten weitgehend in den rund 300 Jahren von Kaiser Augustus bis Konstantin. Die zügellose Laune, lascivia populi, kam voll auf ihre Kosten. Einmal heißt es in einem Augenzeugenbericht ›populus horruit‹; als zwei junge Christinnen, Felicitas und Perpetua, in Netze gehüllt, in Karthago einer wildwütigen Kuh gegenübergestellt wurden, ›erschauderte das Volk der Zuschauer‹ – was den Tod jedoch nicht verhinderte und vielleicht zu einem Umdenken hätte führen können. Von den Veranstaltern auf höchster politischer und einflussreicher Ebene waren die ›spectacula‹ gewollt; sie gehörten zum Image und machten Abertausende zu Abhängigen und Mitwirkenden; (Friedländer II S. 91). Zur Zeit Kaiser Mark Aurels waren 135 Tage eines Jahres für ›spectacula‹ reserviert; (Friedländer II S.13).

II.

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Seneca (1. Jh. n. Chr.; Epistulae morales 1,7,4): ›Am Morgen werden zum Tode ›ad bestias‹ Verurteilte Löwen und Bären vorgeworfen, im Mittagsschau›spiel‹, meridianum spectaculum, den blutdürstigen Zuschauern. Plagis agitur in vulnera, mit Peitschenhieben treibt man die Verurteilten in den Tod. (Ein mitgehörtes Gespräch:) Der da, Mörder und Strassenräuber! Hat er deshalb verdient das zu erleiden? Womit hast du denn das Zuschauen verdient?‹2 2 Seneca: Epistulae morales 95,33: Der Mensch, etwas Heiliges für den Menschen, wird zum Zeitvertreib der Zuschauer getötet; nach: Friedländer II S. 97; S. 74–75 betr. Gesten und Zeichen, mit denen die Zuschauer bei Fechterkämpfen über Leben und Tod des Unterlegenen entschieden. – K.-W. Weber: Alltag im Alten Rom. 1995; S. 244 betr. die Sprache der Men-

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Senecas stoische Ethik wandte sich gegen die unguten Affekte und verfocht eine verantwortete moralische Standfestigkeit: subducendus populo est tener animus, d. h. bei einer so enthemmten Massenveranstaltung verroht auch ein sonst vielleicht empfindsamerer Mensch; er sollte sich bzw. man sollte ihn von den ›spectacula‹ fernhalten. Philostrat (um 200 n. Chr.; Vita Apollonii 4,22) beschreibt einen Besuch des Wanderpredigers und Wundertäters Apollonios aus Tyana (Kappadozien) im Dionysos-Theater am Südhang der Akropolis in Athen: ›Für viel Geld hatte man Gauner und allerlei fragwürdiges Gesindel gekauft; man gab ihnen Waffen, und sie mussten aufeinander losgehen. … Apollonios sagte, er wundere sich, dass die Göttin Athene die Stadt noch nicht verlassen und ihr ihren Schutz entzogen habe, wenn sie dieses Gemetzel zu ihren Füssen sehe. Und an Dionysos richtete er die Frage: ›Bei / nach einem solchen Blutvergießen besuchst du dein Theater noch? Geh fort von hier und stelle dich um!‹‹3 Die Verbform metástethi vom Verb methístamai ist metanoéo, umdenken und Busse tun, vergleichbar und bezeichnet eine umfassende Neuorientierung. Angesichts solcher Verbrechen und Volksbelustigungen, meint Apollonios, sollten die Götter doch zur Vernunft kommen! Ein Umdenken würde ihnen wohl anstehen! Apuleius (aus Madaura in Nordafrika; 2. Jh.; Metamorphosen 4,13ff.): Ein protzig auftretender ›Mäzen‹ wollte in der Kleinstadt Plataiai Lustbarkeiten, publicae voluptates, veranstalten. Für die zu erwartenden Toten waren teure Särge bestellt; prachtvolle Bären waren erworben und gut gefüttert, erlagen aber, gestresst, fast alle einer plötzlichen Seuche; (Friedländer II S. 85/6). ›Überall im Ort sah man die Wracks, naufragia, verendeter Tiere. Die armen Leute, die sich sonst kein Fleisch leisten konnten und die Müllhalden durchsuchten, eilten von allen Seiten zu den Festessen, epulae, herbei.‹

schenverachtung; S. 104f. das vermeintliche Freizeit-total-Konzept. – Christoph Ebner: Die Konzeption der Arenastrafen im römischen Strafrecht. In: Savigny Zeitschrift, Romanist. Abt., 124. Band, 2012; S. 278–285. – Malalas Darstellung (PG 97, 472f.; XII 50) des Martyriums des Gelasinus (297 n. Chr.) im Theater von Baalbek im Libanon vermittelt einen Eindruck von der Stimmung in einem Theater: Der Mime Gelasinus wurde verspottet und bekannte sich zum christlichen Glauben, woraufhin die Leute aufsprangen, zur Bühne rannten, Gelasinus hinausschleiften und zu Tode steinigten. Im Jahre 404 versuchte der Mönch Telemachos in Rom die Gladiatoren in der Arena zu trennen; auch er wurde vom Mob gesteinigt; nach Theodoret (Historia ecclesiastica 5,27) unterband Kaiser Honorius daraufhin die Spiele, allerdings ohne anhaltenden Erfolg; (Demandt S. 389). 3 Eine andere Sehweise: 362/3 verlangte Kaiser Julian Apostata in einem Lehrbrief, heidnische Priester hätten sich von ausschweifenden Theatervorstellungen fernzuhalten, wenn man die Menschen schon nicht dazu bringen könne, die Theater rein, kathará, an Dionysos zurückzugeben. – Demandt S. 103. – G. Stemberger: Juden und Christen im Heiligen Land. 1987; S. 151ff. betr. das Heidentum des 4. Jahrhunderts und Julians Religionspolitik.

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Weiteres wollen wir uns ersparen.4 Augustin beschreibt in seinen ›Bekenntnissen‹ (3,2; 6,9), wie es einem jungen Menschen erging, der mit Freunden das Theater besuchte – zwar etwas widerwillig – und eigentlich auch gar nicht hinschauen wollte: ›Kaum sah er das Blut, sog er auch schon die Gräuel in sich hinein und schaute wie gebannt auf das Geschehen. Er war nicht mehr der Distanzierte, als der er gekommen war, sondern einer aus der Masse.‹

(In der Folgezeit musste er einfach – wie von einem Zwang getrieben – immer wieder zu den Schau›spielen‹gehen).5 Die Faszination, morbus cupiditatis, beginnt eigentlich bei einem Jeden schon, beobachtet er nur, wie eine Eidechse eine Fliege fängt; (Augustin: Bekenntnisse 10,35,57). Theatrokratia oder theatromania: Diese Obsession ist mit ihrem Umfeld das Thema der vorgetragenen Texte; sie waren aber keine Aufrufe zur Menschlichkeit, keine Spruchbänder ›vitanda spectacula‹, die ›Spiele‹ sind zu vermeiden, oder moderner gesagt ›rebellio exstinctionis‹. Seneca kennt die Wortverbindung ›humanitatem exuere‹, die Menschlichkeit ausziehen/ablegen; für ›humanitatem induere‹, Menschlichkeit anziehen, findet sich kein Beleg; Cicero formuliert (De republica 2,14) das allgemeine Desiderat ›Unmenschen zur Menschlichkeit zurückrufen‹. Die blutigen Gladiatorenkämpfe, cruenta spectacula, wurden erst in einem Gesetz von 325 untersagt; (Codex Theodosianus 15,12,1). Eusebius bezeichnete das ›Theater der Unmenschlichkeit‹ (PG 20, 421 C) als (etwas leider) allen Völkern Gemeinsames; Tertullian († nach 220) verurteilte in seiner Schrift ›De spectaculis‹ die Tierhetzen, die Gladitorenkämpfe und Wagenrennen wie auch unsittliche Mimen und Pantomimen; (TRE ›Theater‹, S. 177–178; DNP 12/1, S. 273).

4 Friedländer II S. 82 die Ausrottung der Tiere in Nordafrika, Ägypten und Asien; IV S. 268–275 die bei ›Jagden‹, venationes, verwandten Tiere; II S. 238 eine von Josephus (Antiquitates Judaicae 15,8,1) beschriebene Tierhetze, die in Jerusalem zur Zeit von Herodes stattfand; sie wurde von den fremden Schaulustigen ob der ›psychagogia‹ wohlwollend aufgenommen; die Juden sahen darin einen Angriff auf ihre Lebensauffassung; (vgl. Abschnitt III). Zu Vormittags- und Nachmittagsvorführungen im Kolosseum vgl. Ch. Neumeister: Das Antike Rom. Ein literarischer Stadtführer. 1991; S. 247; bes. S. 253–266. Zur ›pompa circensis‹ vgl. G. Binder: ›Pompa diaboli, der Festzug des Teufels‹, in: B. Effe (Hg.): Das antike Theater. 1998. DK1P ›Pompa‹, bes. Sp. 1019. 5 Friedländer II S. 99 das ›Aufhören der geistigen Selbständigkeit.‹

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III.

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Das Lachen, das die Völker der Welt in den Theatern und Arenen lachen

Herodes (73–4 v. Chr.), König von Roms Gnaden, bekannt durch die Erzählung von den Heiligen Drei Königen und dem Kindermord in Bethlehem, im Evangelium als ein von Angst und Misstrauen getriebener Potentat dargestellt, dieser Herodes ›beglückte‹ Jerusalem mit dem groß-dimensionierten Neubau des Tempels, einem Theater, einem Amphitheater und einem außerhalb der Stadt gelegenen Hippodrom. Jerusalem konnte sich mit anderen Metropolen messen: Alexandria, Antiochia, Beirut und Gaza, einer Stadt, die, an günstiger Stelle der Weihrauchstraße gelegen, damals durchaus mitreden konnte.6 Der Glaube der Juden war jedoch einer schweren Bewährungsprobe ausgesetzt. Nach der Niederschlagung des Jüdischen Aufstandes (70) durch Titus, der Zerstörung des Tempels und der Umbenennung Jerusalems durch Kaiser Hadrian in ›Aelia Julia Capitolina‹ hatte das Judentum das sichtbare Zentrum seiner Gottesverehrung verloren. In der Folge konzentrierte sich das religiöse Leben auf die Synagoge, den Ort der Versammlung, als Stätte der Predigt, und das Lehrhaus, den Ort des höheren Unterrichtes und der Schriftauslegung, d. h. der mündlichen Tradition.7 Ediert, wenngleich kaum bekannt, sind die das Theater betreffenden Worte gelehrter Rabbinen aus der Zeit des 2. bis 4. Jahrhunderts. Sie galten nicht konventionellen Theateraufführungen/Neuinszenierungen, die neben Fremden wohl auch von belesenen bzw. hellenisierten Juden besucht wurden, erwähnt die rabbinische Literatur doch einige griechische Mythen (Strack/Billerbeck IV 1, S. 408/9) , sondern dem Geschehen in den Amphitheatern und deren Umfeld.8 6 O. Keel/M. Küchler: Orte und Landschaften der Bibel. II Der Süden. 1982; S. 76–96 betr. Gaza; S. 85 die Zeit des Herodes; S. 86 Feste und ›Spiele‹ in Gaza. 7 Max Küchler: Jerusalem. 2007; S. 133–141 betr. den Tempel des Herodes; S. 137 dessen Beschreibung durch Josephus; S. 143/4 die Zerstörung und die Verwilderung des ganzen Areals nach dem Jahr 70; S. 168 die sog. Klagemauer. – Josephus: Bellum Iudaicum 6,3,420 das Schicksal der Kriegsgefangenen; 7,4,123 Titus’ Triumphzug in Rom und der Verbleib der Beutestücke aus dem Jerusalemer Tempel im Templum Pacis Kaiser Vespasians; vgl. Noethlichs S. 21. – Demandt S. 204: »(Kaiser) Justinian sandte die Stücke nach Jerusalem zurück, wo sie vermutlich 614 eine Beute der Perser unter Chosroës II. wurden.« Ein Teil des Triumphzuges ist im Durchgang des Titus-Bogens im Süden des Forum Romanum dargestellt. – Talmud, S. 183–184 betr. Titus’ »frevelhaftes Vorgehen« und seinen Tod. 8 Die Übersetzungen der folgenden Beispiele sind entnommen: Hermann L. Strack/Paul Billerbeck: Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch. I–IV 1926; 1974 (6). Angaben zu den Rabbinen finden sich bei: H.L. Strack/Günter Stemberger: Einleitung in Talmud und Midrasch. 1982 (7). Zur mündlichen Tradition vgl. Strack/Billerbeck IV 1, S. 384– 414 Die Stellung der alten Synagoge zu den Kulturgütern der heidnischen Welt. – Talmud, S. 30; S. 52 betr. die Bedeutung der einzelnen Rabbinen und die gedanklichen Traditionsketten.

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R. Nehorai (um 150): »Wenn Gott die Theater und Zirkusse ansieht, wie sie in Sicherheit und Ruhe und Behaglichkeit daliegen, (d. h. gepflegt; die Statuen der Götter und Machthaber wurden regelmässig gewaschen und geschmückt), während sein Heiligtum, (der Jerusalemer Tempel), zerstört ist«, (droht Gott, dass er seine Welt erschüttern und wegen der Sünden der Menschen zerstören will).9

R. Nechemja (um 150): »Den Völkern der Welt schenkst du, (Gott), viele Feiertage, dann essen und trinken sie und treiben Mutwillen, / gehen in die Theater und Zirkusse und ärgern dich mit ihren Worten und ihren Werken.« Ähnlich das Wort von R. Abbahu (um 300): »Im Rausch verspotten sie dann die frommen Juden: Dass wir nur nicht Johannisbrot, (d. h. Schweinefutter), essen müssen.«10

R. Jehuda (um 350): »(Esau, der Frevler, d. h. Rom) hat die ganze Welt mit Schändlichkeiten erfüllt: Dornenhäusern, Schmutzhäusern (Tempeln), Theatern und Zirkussen«.11 9 Zu den hebräischen den griechischen und lateinischen nachgebildeten Wörtern für ›Theater‹ und ›Zirkus‹ vgl. Strack/Billerbeck II S. 751; IV 1, S. 402 c.; IV 1, S. 352: Die Stellung der alten Synagoge zur nichtjüdischen Welt. – Zum Verständnis vgl. Kommentar zur Zürcher Bibel II S. 1538/9; S. 1654 betr. Hesekiel 11 die ›altorientalische Überzeugung, dass ein Tempel nur zerstört werden kann, wenn er zuvor von seinem Gott verlassen wurde‹; nach Hesekiel 12,1 wäre die Verstocktheit der Menschen ein Grund für eine Strafe Gottes. – Günter Stemberger: Die römische Herrschaft im Urteil der Juden. 1983. – Strack/Billerbeck I S. 1046 betr. R. Nehorai; S. 826 die ungerechte Verteilung des Reichtums in dieser Welt. – Herausfordernd wirkte auf die Juden übrigens auch die lateinische Sprache; a.O. IV 1, S. 413 von R. Jonathan (um 270): »Vier schöne Sprachen gibt es …: Die griechische für das Lied, die römische für den Krieg, die syrische für den Klagegesang und die hebräische für die Rede.« – G. Stemberger: Das klassische Judentum. 1979; S. 182–187 betr. die ambivalente Haltung der Juden gegenüber der griechischen Sprache. 10 Die Worte von R. Nechemja und R. Abbahu beziehen sich auf verschiedene Feiertagsbeschäftigungen; durch / markiert; (Strack/Billerbeck IV 1, S. 404 1.). Die Theater waren keine Inseln im Kreisverkehr; in ihrem weiten Umfeld entfaltete sich ein buntes und auch zwielichtiges Markt- und Jahrmarkttreiben; und im Hinblick auf die stundenlangen Darbietungen der ›Spiele‹ konnte man sich zuvor noch verproviantieren und eine Flasche Wein erstehen. Strack/Billerbeck verweisen III S. 141 h. zum Römerbrief 3,9 auf R. Nechemja (um 150; Strack/ Stemberger S. 83; S. 151) sowie a.O. I S. 615 zu Matthäus 12,1 auf R. Abbahu (um 300; Strack/ Stemberger S. 94; S. 171/2) mit dessen Rückgriff auf Psalm 69,13: »Es reden über mich, die im Tore sitzen, das geht auf die Völker der Welt, die in den Theatern und Zirkussen sitzen und Lieder singen, die Rauschtrank trinken; sie sitzen und essen und trinken, und wenn sie berauscht sind, sitzen sie und reden über mich und verspotten mich und sagen: Dass wir nur nicht Johannisbrot essen müssen, wie die Juden!« – Die rabbinischen Texte benennen keine Einzelheiten der Vorführungen auf den verschiedenen Schauplätzen; (Strack/Billerbeck III S. 402; IV 1, S. 402). 11 Strack/Billerbeck III S. 157/8 verweisen zum Römerbrief 3,10–18 auf R. Jehuda (um 350) im Namen des R. Schemuël b. Nachman, um 260; Strack/Stemberger S. 93; a.O. III S. 748 betr. Esau, »an dem alle von Gott gehassten Sünden – Hinterlist, Götzendienst, Blutvergießen – waren«; vgl. Hebräerbrief 12,16–17.

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Der folgende Satz von Raba (b. Josef b. Chama, gest. 352) benennt die in den genannten Großbauten präsenten Laster: (Gott), »beurteile mich nicht nach den Bewohnern (der hellenisierten, romanisierten) Städte, unter denen es Raub, Unzucht, eitles und trügerisches Schwören gibt«; (auf dem Land, wo die Not größer ist, befasst man sich eher mit der Tora).12 Ein befremdender Text befindet sich in den ›Sprüchen‹ eines den Namen des griechischen Komödiendichters Menander tragenden jüdischen Dichters: Wenn dein Sohn erwachsen wird, / diebisch, verlogen, voller Verachtung, / dann lass ihn in der Schauspielkunst unterrichten, / bewaffne ihn und bete, / er möge möglichst bald getötet werden, / damit du, sein Vater, durch sein Verhalten nicht zu Schaden kommst.13

Das Wesentliche ist deutlich erkennbar: – Alle Orte, an denen Personen der antiken Mythologie, Götter und Helden, oder Herrscher, Augusti, in Form von verehrten Bildern präsent sind, provozieren; die ›Bilder‹, Vergegenwärtigungen des Polytheismus, stellen in den Augen gottesfürchtiger Juden einen Verstoß gegen das Gebot (Exodus 20) der Monolatrie dar, der Verehrung eines einzigen Gottes, – sowie gegen das Gebot ›du sollst dir kein Gottesbild machen‹; (Zürcher Bibel I S. 201/2. Matthias Köckert: Die zehn Gebote. 2007).14 – Zu Konflikten kam es auch im Rahmen des Gebotes den Feiertag zu heiligen. – Das Blutvergießen in den Arenen und den für Kämpfe und Tierhetzen umgebauten Schauplätzen verstieß gegen Exodus 20,13 ›du sollst nicht morden‹; an Heiden durfte man keine Löwen und Bären verkaufen; (Strack/Billerbeck IV 1, S. 363 w.). Als Tänzer oder Pantomime am Schaugeschäft beteiligt zu sein war für einen Juden ein erniedrigender Beruf; auch war es verboten, mit denen, die zu einem heidnischen Fest gingen, Handel zu treiben; (Talmud, S. 216). 12 Strack/Billerbeck verweisen II S. 240 zu Lukas 18,11 auf Raba b. Josef b. Chama, gest. 352; Strack/Stemberger S. 99. Die Hellenisierung der vom Mosaischen Glauben geprägten Welt begann in der ersten Hälfte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts unter dem DiadochenHerrscher Antiochos IV. Epiphanes. In den beiden Makkabäer-Büchern werden die Ereignisse beschrieben; z. B. 1,1,47 die Anordnung, für die griechischen Götter einen Tempel zu errichten; 2,6,2 der Jerusalemer Tempel sollte Zeus geweiht werden. Auf einem Weihgeschenk aus Babylon, 166 v. Chr., wird Antiochos IV. Epiphanes hingegen als »sichtbar erschienener Gott und Retter von Asien«, dem Seleukiden-Reich, apostrophiert. – R. Merkelbach (Hg.) u. a.: Jenseits des Euphrat. Griechische Inschriften. 2005; S. 111: »Die Götter sind auf dem Olymp, uns unsichtbar, und kümmern sich nicht um uns; anders die Mächtigen auf der Erde, man kann sie sehen, und sie üben ihre Macht auch wirklich aus.« 13 Sinngemäß nach: Paul Riessler: Altjüdisches Schrifttum ausserhalb der Bibel. 1928; S. 1047/8; Vorbild des Textes ist Hesekiel 18, 1–13. 14 14 Zu Einzelheiten vgl. TRE ›Bild Gottes‹; ›Bilder‹, ›Gott‹; ›Theater und Religion‹, S. 190. Strack/Billerbeck IV 1, S. 386 mit a. und b. (S. 388) den Belegen aus Josephus: Antiquitates Judaicae betr. den Widerstand der Juden gegen Pontius Pilatus, der bei Nacht Bilder des Kaisers Tiberius nach Jerusalem bringen ließ. – Das Bilderverbot wurde im 3. Jahrhundert überwunden; vgl. G. Stemberger: Das klassische Judentum. 1979; S. 219ff.

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– Raub – wohl auch Habsucht – verstieß gegen Exodus 20,15 ›du sollst nicht stehlen‹; Unzucht gegen Exodus 20,14 ›du sollst nicht ehebrechen‹; (Strack/ Billerbeck III S. 75 Lasterkataloge). – Eitles und trügerisches Schwören mag auf Exodus 20,7 bezogen sein ›du sollst den Namen Gottes nicht missbrauchen‹ oder auf Exodus 20,16 ›du sollst nicht falsch gegen deinen Nächsten (unter Verwendung einer Schwurformel) aussagen‹. Die angeführten Worte der Rabbinen haben einen Bezugspunkt, die Zehn Gebote. Der gottesfürchtige Jude dankt Gott, dass ihn sein Weg in die Synagoge führt, und dass er nicht zu denen gehört, die in den Theatern herumsitzen, was ohnehin Unheil bedeutet (Strack/Billerbeck III S. 409/410; vgl. Seneca: Epistulae morales 1,7,3: damnosum bonis moribus … in aliquo spectaculo desidere, d. h. es ist schädlich für die guten Sitten in einer Schau müßig herumzusitzen) oder an den Strassenecken lungern; (a.O. I S. 401; S. 969 u. ö.). Späte Reflexe dieser Gedanken stehen im Koran in den Suren 6, 68–70 und 31,6. Theater und Arenen galten als Orte sinnloser Scherze für Narren (a.O. I S. 661): »Wie verdreht ist doch das Lachen, das die Völker der Welt in ihren Theatern und Zirkussen lachen«; (a.O. IV 1, S. 401; S. 404 k.; IV 2, S. 847). Die Zuschauer galten als Gottlose und Blutvergießer (a.O. IV 1, S. 401 a. aus Josephus: Antiquitates Iudaicae 15,8,1), ist doch ein Menschenleben soviel wert wie das ganze Schöpfungswerk (a.O. I S. 749; IV 2, S. 847 2.) und die Tora nach der Zerstörung des Tempels das einzige Israel verbliebene Gut (a.O. III S. 117 2.); die Götter der Heiden als Dämonen und Nichtse (a.O. III S. 51; IV 1, S. 391 k.; Demandt S. 416), der Götzendienst eine Gottlosigkeit und ein Gräuel, selbst Wohltaten letztlich nur Sünde, weil sie selbst-, nicht gottbezogen sind; (a.O. III S. 313)! In einer ›Apokalypse‹ (a.O. III S. 142/3) heißt es: »Jetzt sehen wir ja die Fülle des Wohlstandes der Völker; wir sinnen nach über die Schönheit ihrer Pracht, die Stärke ihrer grausamen Härte, während sie das Ende nicht bedenken und Gottes Güte verleugnen; wie eine Wolke, die vorüberzieht, werden sie vergehen« ; (Text gerafft).15

R. Jehoschua b. Levi (um 250):

15 Das Verb z/ch/q bedeutet ›lachen‹, ›scherzen‹, ›heiter sein‹; das Nomen ›Spott‹, ›Gelächter‹. Talmud, S. 197 Beispiele für das Wort ›lächeln‹; vgl. RGG ›Lachen/Weinen‹. – Cyrillus von Jerusalem (4. Jh.; Lampe: A Greek-English Lexicon s.v. théama A.2.) sagt über die Darbietungen im Theater, dass sie ›die Seelen zurückbiegen‹, d. h. den Kopf zum Hohngelächter aufwerfen; Chrysostomos (a.O. s.v. théatron S. 617 B.) verwendet das lautmalende Verb anakagcházo, auflachen. Die Völker der Welt gelten als schadenfroh und damit hohnlachend, die Juden als mitleidvoll; (Strack/Billerbeck III S. 448 zu I Korinther 12,26).

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In der Endzeit, beim Kommen des Messias, (das vielleicht in einer ganz unerwarteten Weise verlaufen wird), »werden die Theater und Arenen des Römischen Weltreiches in Lehrhäuser der Tora umgewandelt werden.« Tiere werden ihr Leben dann nicht mehr in den Arenen lassen müssen; der paradiesische Tierfriede wird zurückkehren; (a.O. IV 2, S. 892). Gott wird die Heiden strafen, die Götterbilder vernichten (a.O. IV 2, S. 897 k.; S. 901 q.), eine Welt des Friedens und der Gerechtigkeit schaffen. Der Messias sitzt vor dem Tor Roms unter den Kranken und Elenden, die ja an den Zivilisationsgütern wenig Anteil haben. Alle Infrastruktur dient dem Eigeninteresse der Römer, z. B. die Brücken, um für deren Nutzung Zoll zu erheben (a.O. IV 1, S. 385), und wartet auf seinen Auftrag; (TRE ›Messias‹, S. 625, Zeile 7ff.).16

IV.

Ausblick

Das Thema bringt es mit sich, dass die vorgestellten Aussagen plakativ und unversöhnlich sind. In die antik-lebhaft-bunte ›Alte‹ Welt hatte sich etwas eingeschlichen und – vor allem in Rom – breitgemacht, das eine Entstellung war. Trotz gescheiter philosophischer Texte zum Thema ›Mensch und Gesellschaft‹ war das Menschenbild zu defizient, waren die Texte zu papieren. Die Spätantike, die Völkerwanderungszeit und die Ablösung der antiken Religionen durch den christlichen Glauben brachten dann die Endzeit für das antike Rom. Cassiodor (6. Jh.) sagt: »Wehe um die beklagenswerte Verblendung der Welt! Wenn es irgend Einsicht in das Recht gäbe, so würden ebensoviel Reichtümer zugunsten des Lebens der Menschen verwendet werden müssen, als man jetzt sie (in den ›Spielen‹) zu töten vergeudet!«; und: (In der Todesfurcht, angesichts der beängstigenden Zeitereignisse lachen wir noch!) »Man möchte glauben, das ganze römische Volk habe sich mit dem sardonischen, (grimmiges Lachen erzeugenden) Kraut gesättigt: es stirbt und es lacht!« (Gregorovius II 2,2; I 5,3 fin.). 16 Nach Strack/Billerbeck I S. 481; S. 1018 b.; II S. 340; IV 2 Exkurs: Diese Welt, die Tage des Messias und die zukünftige Welt. – Zum ›Herumlungern‹: Heinz Schröder: Jesus und das Geld. 1983 (3); S. 91 betr. Arbeitslose; S. 150 ›anerkannte Arme‹. – ›Der Messias sitzt vor dem Tor Roms‹; (Strack/Billerbeck I S. 481). Rom steht für die gesamte nichtjüdische Welt im Imperium Romanum. Da seit dem Hellenismus in vielen Ländern der Mittelmeerwelt Juden lebten (Demandt S. 430ff.), kann ›vor dem Tor Roms‹ auch direkt ›Stadt-Rom‹ meinen; (TRE ›Messias‹, S. 625, Zeilen 7–14). In der 3. Satire spottet Iuvenal über die Juden, die im Süden von Rom in einem Hain bei der Porta Capena sehr bescheiden leben und an der Via Appia Händler und Durchreisende anbetteln. Die Verse der Satire bespricht: Christoff Neumeister: Das antike Rom. Ein literarischer Stadtführer. 1991; S. 269–271. Negativ eingestellt gegenüber den Juden zeigt sich die lateinische Literatur ab Tacitus; dazu: René S. Bloch: Antike Vorstellungen vom Judentum. Der Judenexkurs des Tacitus im Rahmen der griechisch-römischen Ethnographie. 2002. Die ›Christlichen Adversus-Iudaeos-Texte und ihr literarisches und historisches Umfeld (1.–11. Jh.)‹ sind von Heinz Schreckenberg übersetzt und kommentiert. 1982.

Stimmen des Entsetzens über das, was in den Arenen Roms vorgeführt wurde

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Die antiken Götter- und Herrscherstatuen, äußerst farbenprächtig, standen allüberall herum; viele wurden nach dem Gesetz von 435 zerschlagen; andere überlebten bzw. lebten in einer Metamorphose wieder auf; allein der nicht abbildbare Gott war keinem Vergehen und keiner Umwandlung unterworfen. – Gregorovius I c. 5 fin.: »Die Erlösung Roms (nach dem Rückzug des Hunnenkönigs Attila im Jahr 452) gab zu einer späteren Sage Veranlassung. Man erzählte, dass (Papst) Leo … aus Freude (über seine erfolgreiche Vermittlung) … die Statue des Kapitolischen Jupiter eingeschmolzen und zu jener bronzenen Figur des Apostels (Petrus) umgeschmolzen habe, die man heute in St. Peter thronen sieht.«

– Gregorovius zitiert (a.O.) auch den an die Mehrzahl der Römer gerichteten Tadel des Papstes, sie seien den Dankgottesdiensten ferngeblieben und lieber den Spielen nachgerannt: »Wer kann im Angesicht der Gefangenschaft, (d. h. des Gotenkrieges in Italien), an den Circus denken? Wer zur Hinrichtung gehen und lachen?«17

Abkürzungen (…): Quellen; Erläuterungen; Hinweise von R.F. ›…‹: Referate; Titel; Betonungen »…«: Zitate

Informationen zum Thema enthalten: Demandt: DKlP: DNP: EÜ: Friedländer:

Alexander Demandt: Die Spätantike. 1989 Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike Der Neue Pauly. Lexikon der Antike Neue Jerusalemer Bibel. Einheitsübersetzung Ludwig Friedländer: Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms. I– IV. 1922; ND

17 DKlP ›Attila‹. Zu den letzten Spielen 498/9 vgl. Demandt S. 407. – Gregorovius II 1,2 das Kolosseum in der Spätantike. – Demandt S. 417ff. das Fortleben der heidnischen Kulte; der Jupiter-Tempel in Baalbek im Libanon wurde z. B. erst 554 zerstört (a.O. S. 421). – N. Gramaccini: Das Nachleben antiker Statuen vor der Renaissance. 1996; S. 23 betr. Baalbek; S. 45 Trümmerdenkmäler. – Die christlichen Gesetze des 4. und 5. Jahrhunderts zur Abschaffung des Heidentums stehen im Codex Theodosianus 16,10; Nr. 2 ›der Aberglaube soll aufhören‹; Nr. 19 ›niemand besuche die Tempel und blicke zu den Götterbildern empor‹; Nr. 19 ›Tempel sollen als öffentliche Gebäude genutzt werden‹; Nr. 25 aus dem Jahr 435 ›alle Kultbauten sind zu zerstören‹.

256 Gauly: Gregorovius: Haag: Noethlichs: RGG: Riessler: Schmid: Schneider: Strack/Billerbeck: Talmud: TRE: Zürcher Bibel:

Renate Frohne

Bardo Gauly: Musa Tragica (Edition der Fragmente der griechischen Tragiker). 1991 Ferdinand Gregorovius: Die Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. 1859–1872; ND Herbert Haag u. a.: Bibel-Lexikon. 1968 Karl Leo Noethlichs:Das Judentum und der römische Staat. 2005 Religion in Geschichte und Gegenwart Paul Riessler: Altjüdisches Schrifttum ausserhalb der Bibel. 1928 Konrad Schmid: Literaturgeschichte des Alten Testaments. 2008 Carl Schneider: Kulturgeschichte des Hellenismus. I–II. 1969 vgl. Anm. 8 Der Babylonische Talmud. Ausgewählt, übersetzt und erklärt von Reinhold Mayer. 1963(6) Theologische Realenzyklopädie Der Kommentar zur Zürcher Bibel. I–III. 2011 (2)

Autorenverzeichnis

Andreas Deutsch, Dr. iur., Honorarprofessor am Institut für geschichtliche Rechtswissenschaft (Germanistische Abteilung) der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg Julia Dreyer, Ass. iur., Wissenschaflliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Institut für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht (Zivilrechtliche Abteilung) von Herrn Professor Thomas Hoeren an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Renate Frohne, Dr. phil. Kantonsschulprofessorin i. R., Trogen (Schweiz) Thomas Gergen, Dr. iur. Dr. phil., Maître en droit, Professor für Internationales und vergleichendes Zivil- und Wirtschaftsrecht mit Immaterialgüterrecht und Direktor des Forschungsbereiches »Geistiges Eigentum: Grundlagen und Anwendungen« der ISEC Université Luxembourg Bernd-Rüdiger Kern, Dr. iur., Professor em. für Bürgerliches Recht, Rechtsgeschichte und Arztrecht an der Universität Leipzig David von Mayenburg, Dr. iur., M.A., Professor für Neuere Rechtsgeschichte, Geschichte des Kirchenrechts und Zivilrecht an der Goethe Universität Frankfurt a.M. Christoph-Eric Mecke, Dr. iur. habil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Leibniz Universität Hannover Stephan Meder, Dr. iur., Professor für Zivilrecht und Rechtsgeschichte an der Leibniz Universität Hannover

258

Autorenverzeichnis

Alexander Nebrig, Dr. phil., Professor für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Heinrich Heine Universität Düsseldorf Thomas Rüfner, Dr. iur., M.A., Professor für Bürgerliches Recht, Römisches Recht, Neuere Privatrechtsgeschichte sowie Deutsches und Internationales Zivilverfahrensrecht an der Universität Trier Fedor Seifert, Dr. iur., Rechtsanwalt, Notar a.D., Fachanwalt für Gewerblichen Rechtsschutz, Berlin

Personenregister

Apuleius

183, 248

Bergmann, Theodor 165f. Beseler, Georg 117, 122 Bluntschli, Johann Caspar 191, 199, 219, 227 Brecht, Bertolt 181, 186f. Denza, Luigi 7, 123–125, 130f., 133 Dietrich, Marlene 150f. Fettmilch, Johann Eitel

46–48

Gareis, Karl 232 Gerber, Carl Friedrich 191, 193, 195–199, 203, 222–231, 235 Gillhausen, Ludwig 62 Gleditsch, Johann Gottlieb 88–90, 93 Gobler, Justin 40, 44, 59 Goethe, Johann Wolfgang 171f., 183, 257 Goldschmidt, Levin 110, 122 Gründgens, Gustav 149 Herodes [Gaius Iulius] 249f. Hesse, Johann Stephan 86–88, 91–94 Holzapfel, Dominicus 102f., 105–107 Kohler, Joseph 122, 138, 140–144, 176, 189–191, 219f., 225, 229–235, 237, 242 Mann, Klaus 39, 48, 68, 74, 77, 87, 149, 233 Marx, Karl 171

Mauß, Peter 40f., 44, 46, 48–51, 54–56, 58, 60 Moscherosch, Johann Michael 69, 72–74, 76–78, 82, 95 Neustetel, Leopold Joseph 232 Nolde, Emil 150 Noren, Heinrich 125–130, 133 Philostrat, Flavius

248

Raba [bar Josef bar Chama] 252 Rem, Georg 27, 43, 45f., 52, 54f., 57–59, 64 Rüttgers, Johann Joseph Franz 102f., 105– 108 Sacher, Anna 156, 159, 163f. Sacher, Eduard, jun. 156f. Sacher, Eduard, sen. 158 Schlößern, Johann Jacob 103, 105 Scriver, Christian 71f., 86–90, 92f. Seneca [Lucius Annaeus] 183, 247–249, 253 Simonis, Christian 102–105, 148 Steinhaus, Otto Joseph 102–104 Strauss, Richard 7, 123–134 Süstermann, Johann Melchior 72, 86–95 Thöl, Heinrich 117, 122 Torberg, Friedrich 155, 159f., 163f., 167 Turco, Giuseppe 124

260 Vec, Milosˇ 171f., 176f. von Bismarck, Otto 138, 140

Personenregister

von Hillern, Charlotte 112 von Hillern, Hermann 117

Sachregister

actio injuriarum 201–203, 206–209, 211, 214, 219, 232–236, 239, 242 Allgemeines Persönlichkeitsrecht 145, 150 Aprikotierung 158f., 164, 167 Aufführungsrecht 113, 116–119, 121, 132f.

Komödie 2, 246 Kunsturhebergesetz (KUG) 135–137, 143– 145, 147–154 Kupferstich 67–69, 72f., 75–79, 81f., 86, 91, 93–95

Buchdrucker 31, 39, 54, 74, 77f., 84, 86f., 92, 94f. Bücherauktionen 69–72 Bücherkommission 90, 174 Büchernachdruck 53f., 69f., 76, 86, 93–95, 175, 232 Buchmarkt 171f., 179f., 182

Leipziger Theaterprozess 117 Lizenzhandel 172 Lizenzierung 170, 173, 183, 187

Constitutio Criminalis Carolina

38, 94

Datenschutz-Grundverordnung (DS-GVO) 7, 135f., 151–154 Echt

58, 110, 159f., 165f., 194f., 220, 222

geistiges Eigentum 170, 177, 189, 221, 257 Gemeinfreie Werke 186f. Individualrecht 141–143, 190, 204, 219, 225, 230–232, 234f. Judentum

Magistrat der Stadt Köln 108 Melodienschutz 126–128 Nachdruckprivileg

85, 90

Obsession 249 Original 7, 45, 58f., 68, 82, 121, 139, 155, 158–160, 162–167, 173, 175f., 178, 180f., 192, 195, 199f., 202–217 Persönlichkeitsrechte 135f., 141, 144–147, 149–151, 190, 212, 214, 219, 232, 242 Plagiat 1, 9, 12, 44f., 47, 50–54, 56–59, 169, 194, 222 Privileg 26–35, 52–55, 61, 80f., 83–87, 89– 93, 100–108, 175, 177, 215, 238 privilegia impressoria 7, 85, 97–99

188, 250–252, 254, 256

Kaiserliche Reservatrechte 97f., 101, 103 Kalenderdrucke 99f. Kommentar 1, 3, 15, 37f., 40f., 43–48, 50– 53, 55–60, 82, 164f., 175, 250f., 256

Recht am eigenen Bild 135f., 141, 145, 147f., 154, 212, 214 Reichshofrat (RHR) 81, 85, 97–105, 107f. Reichsoberhandelsgericht 7, 109f., 113– 115, 117f., 120, 122, 191

262 Rezepttreue

Sachregister

159, 163–166

Sachertorte 7, 155–160, 162–167 Schutzfrist 35, 85, 113–116, 120, 180–182, 208, 237, 239 Tantiemenbewegung 131–133 Theaterdirektor 112, 114–116 Theaterkultur 246f.

Übersetzungen 104f., 107, 170, 173–176, 178, 180–186, 250 Übersetzungsrecht 7, 169, 171, 173–181, 185–188 Verlagswesen 49, 52 Verwertung 127, 129f., 170, 181, 186f. Verwertungsgesellschaft 123, 132f. Volksmusik 124 Zuschauer

246f., 253

Beiträge zu Grundfragen des Rechts Herausgegeben von Stephan Meder Die drei Grundfragen des Rechts, die vor gut zweihundert Jahren der Rechtsgelehrte Gustav Hugo formulierte – »Was ist Rechtens?«, »Wie ist es Rechtens geworden?« und »Ist es vernünftig, daß es so sey?« – stellen sich bis heute. Die Frage nach dem geltenden Recht zielt heute nicht nur auf dessen Prinzipien und Regeln, sondern auch auf das Verhältnis von Gesetz und Recht, juristischer Geltung und sozialer Wirklichkeit. Die Frage nach der Geschichte des Rechts betrifft auch das sich wandelnde Verhältnis zwischen den Rechtsquellen sowie das Verhältnis von Tradition und Gegenwartsbezug der Rechtsinhalte. Die Frage nach den richtigen Inhalten des Rechts bezieht sich heute vor allem auf das rechtliche Verhältnis zwischen der größtmöglichen Freiheit des Einzelnen und dem notwendigen Mindestmaß sozialer Gleichheit und Gemeinwohlbindung des Rechts. So sind die Grundfragen des Rechts niemals von lediglich theoretischer Bedeutung, sondern haben einen unmittelbar praktischen Bezug zur Rechtsentstehung, Rechtsauslegung und Rechtsanwendung. Antworten auf diese Fragen versuchen aus unterschiedlichen Perspektiven die Beiträge dieser Reihe zu geben. Weitere Bände dieser Reihe: Band 33: Alexander Ihlefeldt Carl Bulling (1822–1909) Pandektist und Vordenker der Gleichberechtigung 2020, 319 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-1100-9 Band 31: Wolfgang Hummes Freier Beruf oder Gewerbe? Über die Sinnhaftigkeit einer traditionellen Unterscheidung im Recht 2019, 254 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-0964-8 Band 30: Albert Janssen Der Staat als Garant der Menschenwürde Zur verfassungsrechtlichen Bedeutung des Artikels 79 Abs. 3 GG für die Identität des Grundgesetzes 2018, 85 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-0961-7 Band 29: Marko Oldenburger Kindeswohl im Recht Begründung, Ausgestaltung und Verlust der elterlichen Sorge 2018, 223 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-0922-8 Band 28: Dimitrios Devetzis Die dingliche Surrogation als Rechtsprinzip Extra legem – intra ius 2018, 270 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-0902-0 Band 27: Stephan Meder / Vincenzo Omaggio / Gaetano Carlizzi / Christoph Sorge (Hg.) Juristische Hermeneutik im 20. Jahrhundert Moral und Recht als Regelsysteme für Frieden zwischen Menschen und zwischen Staaten 2018, 340 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-8471-0871-9

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