Die Reichsidee. Geschichte und Zukunft einer übernationalen Ordnung 3850022285

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Die Reichsidee. Geschichte und Zukunft einer übernationalen Ordnung
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Die Reichsidee, integraler Bestand¬ teil einer zweitausendjährigen eu¬ ropäischen Geschichte, Idee einer Ordnung, die Stammes- und Lan¬ desgrenzen überspringt und die Welt - und dies bedeutete einst im wesentlichen Europa - eint unter dem Zepter eines universalen Kai¬ sertums. Diese römische Idee bildete seitdem die Grundlage für das abendländi¬ sche Kaisertum, unabhängig davon, ob es von einem Franken wie Karl dem Großen, einem Böhmen oder einem Spanier wie Karl V. repräsen¬ tiert wurde. Denn das Reich war heilig und römisch, und die Nation war deutsch, welsch, tschechisch und französisch, aber das war Ne¬ bensache. Wer weiß schon, daß die französische Stadt Besangon ebenso zum Reich gehörte wie Savoyen oder das Herzogtum Mantua? Aufklärung und Französische Re¬ volution haben die mit sakralen Ele¬ menten behaftete Reichsidee zugun¬ sten eines säkularisierten National¬ staatsgedankens überwunden, und Napoleon hat das alte Reich mit ei¬ nem Federstrich aufgelöst, nachdem zuvor schon aufgeklärte absolutisti¬ sche Fürsten die Autorität des Rei¬ ches zugunsten ihrer egoistischen Ziele ausgehöhlt hatten. Aber noch der Deutsche Bund enthielt Ele¬ mente dieses übernationalen Staats¬ prinzips, und erst Bismarck hat es mit seiner auf das preußische Hegemonialstreben zugeschnittenen Reichsgründung endgültig über Bord geworfen.

Otto von Habsburg Die Reichsidee

Otto von Habsburg

Die

Reichsidee Geschichte und Zukunft einer übernationalen Ordnung

Amalthea

Zweite, durchgesehene Auflage 1987 © 1986 by Amalthea Verlag Ges.m.b.H. Wien • München * Alle Rechte Vorbehalten Schutzumschlag: Christel Aumann, München Satz: Satzbetrieb Günther Wirth, München Druck und Binden: Wiener Verlag, Himberg bei Wien Printed in Austria 1987 ISBN 3-85002-228-5

Inhalt

Vorwort.

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Erbe des Reiches Die Macht der Geschichte . Reich und Recht . Kaiser des Abendlandes. Die Deutschen als Reichsvolk. Das Zwischenreich. Feldherr des Reiches. Reich im Donauraum. Reichische Symbole .

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Zwischen Reich und Barbarei Völkerordnung Die Welt nach Sarajewo. 79 Das Un-Recht von Jalta. 84 Lehren aus dem 8. Mai. 91 Die UNO als Blasphemie. 97 Der Dritte Weltkrieg.105 Gegen Terrorismus und Piraterie.117 Ein neuer Wiener Kongreß?.122 Europäische Ordnung Das baltische Beispiel.127 Ungarisches Wunder?.134 Kontinent der Menschenrechte.138 5

Roter Nationalismus.144 Nörgelnde Zwerge.147 Der Staat als Raubritter.151 Österreich im Abseits.155 Unsere Umwelt.160 Europaparlament - Motor der Einigung.166 Vaterland Europa.172 Innere Ordnung

Verfall des Rechtes.183 Bedrohter Rechtsstaat.189 Krise der Demokratie.193 Kriminalisierte Wirtschaft .204 Lebensgefahr für Europa.208 Brauchen wir Eliten?.211 Charakter - Bildung.214 Große Chancen durch die Kleinen.218

Seele des Reiches

Die fehlende Idee.235 Restauration und Geist.240 Ist Sozialismus reaktionär?.242 Bedroht uns der Islam?.247 Unsere jüdischen Wurzeln.250 Europas christliche Wiedergeburt.255 Register

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Vorwort

Hundertachtzig Jahre ist es her, seit Kaiser Franz die Krone des Reiches niederlegte. Man könnte lange darüber diskutie¬ ren, ob er dazu das Recht hatte. Das ändert allerdings nichts an der Tatsache. Dieser Schritt schien zumindest in der dama¬ ligen Zeit politisch unvermeidlich. Kaiser Franz wußte noch, was »Reich« bedeutet und was es heißt, ein echter Kaiser zu sein. Er stand jener argen Verzer¬ rung des Kaiserbegriffes, die das Imperatorentum Napoleon Bonapartes mit sich brachte, diametral gegenüber. Da er da¬ mit rechnete, daß der korsische Eroberer sich die höchste Würde des Reiches aneignen würde, um damit eine direkte Verbindung zu Karl dem Großen herzustellen, war es sein Be¬ streben, dieser Schändung der größten Institution des Abend¬ landes zuvorzukommen. Daher legte er die Kaiserkrone nie¬ der, wodurch ein Bruch in der Kontinuität des Reiches eintrat. Mag man auch den Beschluß von Kaiser Franz in der gegebe¬ nen Lage als berechtigt betrachten, so muß man doch den Um¬ stand, daß der Herrscher, besonders aber sein Kanzler Metter¬ nich, nichts taten, um aus Anlaß des Wiener Kongresses den Schritt von 1806 rückgängig zu machen, als schweres politi¬ sches Versäumnis werten. Es gab nicht wenige deutsche Für¬ sten, die dies beantragten und sie hatten recht. Leider sträubte sich Metternich gegen eine solche Geste. Als Mann der Auf¬ klärung hatte er keinen Sinn für die dem alten Reich zugrun¬ deliegende Idee. Er lebte in einer Zeit der beginnenden Natio¬ nalstaaten oder territorialen Herrschaften mit ihren zentralisti¬ schen administrativen Strukturen und oftmals traditionsfeind¬ lichen, streng rationalistischen Verwaltungen. Er war geformt in der Schule derjenigen, die auch die Verantwortung für die Säkularisation trugen, also für eines der größten kulturellen Vernichtungswerke der modernen Geschichte. Es fehlte die¬ sen Männern eben das Verständnis für Werte, die sich dem 7

pragmatischen Kalkül des aufgeklärten Staatsmannes entzie¬ hen, für eine Staatsidee, die von mehr als bloßen Nützlich¬ keitserwägungen getragen ist, und eine solche bildete das Reich. Es war ein säkularer Fehler von Kaiser Franz, daß er in dieser Frage auf seinen Kanzler hörte. Natürlich ist es heute schwer, all die Umstände zu ergründen, die den Kaiser damals zu sei¬ nem fatalen Entschluß bewogen. Man darf aber annehmen, daß eine andere Politik der Entwicklung des 19. Jahrhunderts eine neue Richtung gegeben hätte. Das Reich hätte mit seiner übernationalen Idee niemals Träger jener geistlosen »Restau¬ ration« sein können, die im deutschen Raum und anderswo so viel Unheil angerichtet hat. Unter dem Zepter eines universa¬ len Kaisertums hätte jene kleinkarierte Politik, die in den Jah¬ ren 1830 und 1848 gescheitert ist, nicht gedeihen können. Es soll damit keineswegs gesagt werden, daß das Werk des Wie¬ ner Kongresses nicht bewundernswert war. Es erwies sich aber als Irrtum, daß man ihm die Krönung versagte. Die Erinnerung an diese geschichtliche Gegebenheit drängt sich im Rahmen der europäischen Einigung förmlich auf. Wenn es auch bei manchen nicht populär ist, so bleibt doch unbestritten, daß das künftige Europa weitgehend aus reichischen Traditionen lebt. Es gab nun einmal die Antinomie Reich gegen Nationalstaat. Da die europäische Einigung auf dem Boden des tragischen Endes des Nationalismus und der Nationalstaaten entstanden ist, bleibt ihr nichts anderes übrig, als dort anzuknüpfen, wo es übernationale Werte in unserer Geschichte gibt. Als ich vor sieben Jahren das Glück hatte, in das erste durch das Volk gewählte Europaparlament entsandt zu werden, hat¬ te ich mir in Kenntnis des gewaltigen Arbeitsanfalles vorge¬ nommen, fortan keine Bücher mehr zu schreiben. Ich behielt nur meine wöchentlichen und monatlichen Artikel, weil diese mir die Möglichkeit geben, ein Zwiegespräch mit meinen Wählern und anderen europäischen Landsleuten zu führen. Es 8

war das gewiß keine leichte Aufgabe, doch konnte sie gemei¬ stert werden, ohne die parlamentarische Tätigkeit zu beein¬ trächtigen. Früh in meiner Jugend hatte ich eine wertvolle Lehre von meinem Onkel, Prinz Sixtus von Bourbon-Parma, erhalten. Ich hatte den energischen, zielbewußten, ungemein talentierten Mann zutiefst bewundert. Er hegte politische Am¬ bitionen, war aber in der Vorbereitungsphase als Entdecker, Forscher, ganz besonders aber als Schriftsteller tätig. Seine hi¬ storischen und politischen Bücher waren in glänzendem Stil geschrieben. In französischen literarischen Kreisen gab man ihm die Chance, schon vor seinem 50. Geburtstag Mitglied der französischen Akademie zu werden. Da er außerdem noch als Vortragender wirkte, stellte ich ihm die Frage, wie er über¬ haupt noch, bei all seinem Einsatz, dazu käme, Bücher zu ver¬ öffentlichen. Seine Antwort ist mir eine der wichtigsten Leh¬ ren fürs Leben geblieben: Ich verfasse sie in jenen fünf Minu¬ ten, die andere Menschen vertrödeln. Wer erkennt, daß es in seinem Dasein Leerräume gibt, manch¬ mal nur wenige Minuten, die man nützlich verwenden kann - eine reine Frage der Selbstdisziplin -, der wird sein sinnvol¬ les Leben um Jahre verlängern. Während solcher Minuten, in Flugzeugen und auf Flughäfen, an Eisenbahnstationen oder in Warteräumen, habe ich seit Jahren meine Artikel geschrieben. Diese sind die Grundlage des vorliegenden Buches. Das Ziel ist, die Erkenntnisse der ersten sieben Jahre im Eu¬ ropaparlament und frühere Gedanken zusammenzufassen. Wenn ich auch niemals Memoiren schreiben werde, so möchte ich doch gewisse Erfahrungen eines wechselvollen Lebens an¬ deren zur Verfügung stellen. Wenn ich mich entschlossen habe, dieses Buch aus meinen Schriften der letzten Jahre zu entwickeln, so ist das vor allem darauf zurückzuführen, daß im Bau Europas eines immer kla¬ rer wird: Technisch sind wir auf der Höhe. Der Gemeinsame Markt ist ein bewundernswerter Apparat, der sich aus eigenen Kräften, wenn auch langsam, entwickelt. Wesentlich aber ist 9

das politische Lenkungsinstrument. Dieses jedoch wird nur durch einen Willensakt entstehen. Hier haben wir mit dem Wi¬ derstand kleinkarierter Nationalregierungen und noch mehr reaktionärer Bürokratien in allen Staaten der EG zu tun. Wie der Erfolg des Beitritts Spaniens zur Gemeinschaft gezeigt hat, können diese Widerstände, die auch dort Hindernisse auf¬ bauen, wo sie keineswegs gerechtfertigt sind, nur überwunden werden, wenn man eine größere Idee einsetzt. Es wurde mit Recht gesagt, daß jedes Reich durch eine höhere Mission geschaffen wurde. Europa muß ein Reich werden, ob es nun diesen Namen trägt oder nicht. Als großer Markt wird es keine Dauer haben. Sucht man nach dieser Idee, wird man sie in der europäischen Geschichte finden. Europa war jeweils in seinen reichischen Perioden groß. Gingen diese zu Ende, trat der Verfall ein. In diesem Sinn soll dieses Buch wohl nicht ein abgeschlossenes Konzept darbieten, aber Elemente liefern für jene reichische Erneuerung Europas, die wir brauchen. Wir werden uns nur durch den Geist regenerieren. Unsere Zukunft kann weder durch Parteipolitik noch durch Technologie allein erreicht werden. Beide sind wichtig, aber nicht ausschlaggebend. Fort¬ schritte können nur errungen werden, wenn wir ein großes Ziel vor Augen haben und uns für dieses mit Mut und Opti¬ mismus einsetzen. Für letzteren gibt es mehr als genügend Gründe. Wer heute in Europa ein Pessimist ist, ist selber schuld. Dafür, daß dieses Buch geschrieben wurde und erscheinen konnte, bin ich vielen zu Dank verpflichtet. Ich möchte hier an erster Stelle meinen Verleger Herbert Fleissner nennen, der bei einem Treffen in München als erster die Idee aufgeworfen hat. Danken möchte ich dann auch meinem treuen parlamen¬ tarischen Assistenten und Bundesvorsitzenden der Paneuropa Jugend Deutschland, Bernd Posselt, der die harte Arbeit über¬ nahm, Kürzungen bei den vorhandenen Artikeln vorzuneh¬ men. Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schwierig diese Auf-

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gäbe ist und wie sehr sie verlangt, sich voll und ganz in die Ma¬ terie einzuarbeiten. Ein weiterer Dank gebührt meiner dynamischen Tochter Wal¬ burga von Habsburg, die nicht locker gelassen hat, mich zu schriftstellerischer Tätigkeit zu drängen, und selbst immer wieder in diese eingegriffen hat. Das alles wäre aber trotzdem noch immer nicht geglückt, wenn nicht meine Mitarbeiterin¬ nen Elizabeth von Gelsey, Ilse Haas, Hanni Schulz, Hilga Weiss und Eva Zingraff ihre Kräfte zur Verfügung gestellt hät¬ ten. Da man aus verständlichen Gründen unter Zeitdruck stand, kann ich nur sagen, wie dankbar ich bin, daß sie sich über die normalen Arbeitsstunden hinaus immer wieder be¬ reiterklärten, Texte abzuschreiben. Wichtig war auch der Ein¬ satz von Isabel von Kuehnelt im Münchner Paneuropa-Büro. Speziell beim Tippen dieses Manuskriptes half Frau Schmidt aus Starnberg. Ein besonderer Dank gebührt jenen Zeitungen und Zeitschrif¬ ten, deren Mitarbeiter ich bin und in denen die Artikel, auf denen die Studie fußt, erscheinen konnten. An erster Stelle möchte ich hier auf die »Vorarlberger Nachrichten« verwei¬ sen, jene Zeitung, die mir, als ich noch eine »Unperson« war und in Österreich so gut wie nicht genannt wurde, mit großem eigenem Risiko ihre Spalten öffnete, um mir die Gelegenheit zu geben, auch von meiner Seite her politisch in Österreich wirksam zu sein. Weiters möchte ich der »Deutschen Tages¬ post«, der »Sudetendeutschen Zeitung«, den »Dolomiten«, dem »Luxemburger Wort«, dem »Westfalen-Blatt« und ver¬ schiedenen Blättern außerhalb des deutschen Sprachraumes - in den Vereinigten Staaten, Kanada, Norwegen, Spanien und Brasilien - danken. Sehr viel schulde ich »Finanz und Wirtschaft« in Zürich und ihrem Herausgeber, Herrn Isler. Einige Kapitel sind auf seine Initiative zurückzuführen. Unter den vielen journalistischen Tätigkeiten ist mir meine regelmäßige Kolumne in »Finanz und Wirtschaft« ganz besonders wertvoll. Dasselbe gilt für die

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»Zeitbühne«, die heute in der Monatsschrift »Europa« er¬ scheint und von Stefan Bethlen redigiert wird. Schließlich, und zwar nicht zuletzt, möchte ich den »Bayern¬ kurier« und seinen Chefredakteur, Herrn Wilfried Scharnagl, nennen, der mich mit seinen brillanten Ideen immer wieder veranlaßte, Arbeiten auszuführen, und zwar im Eilzugstempo. Diese wären sonst niemals entstanden. Der »Bayernkurier« ist mir aber auch darum besonders wertvoll, weil es sich um das Organ der CSU in Bayern handelt, deren Vertreter für Ober¬ bayern im Europa-Parlament zu sein ich die Ehre habe. Möge das vorliegende Buch Ausdruck der Erfahrung sein, daß es für einen Europa-Parlamentarier, der oft auf einsamem Po¬ sten steht, wertvoll ist zu wissen, daß viele Menschen mit ihm denken, ihn unterstützen, seine Ideale teilen. Ich habe in den letzten sieben Jahren unzählige Beweise der Freundschaft und der Verbundenheit erhalten - gerade aus Oberbayern, einem Teil des schönen Bayernlandes, der noch an seiner alten Tradi¬ tion festhält und gleichzeitig eines der fortschrittlichsten Ge¬ biete unseres Europa ist. Hier leben zahlreiche meiner heimat¬ vertriebenen Landsleute, denen ich auch durch dieses Buch wieder sagen möchte: Euer Einsatz ist nicht umsonst. Ob wir persönlich die Verwirklichung des Rechtes auf Heimat erleben werden, kann niemand verantwortlich sagen. Eines aber ist sicher: Es wird ein Recht auf Heimat geben, es wird ein Reich in Europa geben, das allen seinen Bürgern eine echte Heimat sein kann. Wir dürfen auf unser Europa stolz sein. 6. August 1986

Otto von Habsburg

Erbe des Reiches

Die Macht der Geschichte

Zukunftsweisende Politik ist ohne Kenntnis der Geschichte unmöglich. Dies gilt besonders für ein so schwieriges Vorha¬ ben wie die Einigung Europas. Wer verschiedene Völker zu¬ sammenführen will, muß wissen, was sie verbindet und was sie trennt. Auch diejenigen, die sich vermeintlich nur mit aktuel¬ len Fragen befassen, tragen ein historisches Erbe in sich, das sie Tag für Tag beeinflußt. Ein typisches Beispiel dafür war vor einigen Jahren eine Ab¬ stimmung im Politischen Ausschuß des Europäischen Parla¬ mentes. Es ging dabei um Volksgruppen, Minderheiten und Sprachenfragen. Wir sollten zu einem Bericht des früheren Bayerischen Ministerpräsidenten Alfons Goppel über dieses Thema Stellung nehmen. Nach einer intensiv geführten De¬ batte wurde sein Entwurf mit knapper Mehrheit unterstützt. Das Interessanteste dabei war, daß diesmal nicht nach Par¬ teien abgestimmt wurde, wohl aber nach der historischen Geographie: Das übernationale Reich stand gegen den Nationalstaat nach Art der Bourbonen, Föderalismus gegen Zentralismus. Die meisten Deutschen, Norditaliener, Belgier, Luxemburger, Niederländer befürworteten die Annahme. Un¬ ter der Führung fast aller Franzosen stimmten jedoch etliche Engländer und Süditaliener gegen die Vorlage. Flier entstan¬ den auf einmal Fronten, von denen man ansonsten nur in den Geschichtsbüchern lesen kann. Die Einstellung der einzelnen ging auf tiefere Emotionen zurück, die mit der augenblickli¬ chen Politik relativ wenig zu tun hatten. Erst längere sachliche Gespräche führten dazu, daß man inzwischen begann, die Kluft zu überbrücken. Es gibt eben in den Völkern gewisse Überlieferungen, die wohl nur im Unterbewußtsein wirken, aber ihre Bedeutung nicht eingebüßt haben. Das übernationale, reichische Erbe Europas wurde auch bei einem anderen Anlaß fühlbar. Das war kurz vor der Erweite-

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rung der Europäischen Gemeinschaft um Spanien und Portu¬ gal. Eine Delegation von Katalanen unter der Führung des Regierungspräsidenten dieser spanischen Region, Jordi Pujol, besuchte zu politischen Gesprächen Brüssel und Straßburg. Vor den Verhandlungen waren die Katalanen aus allen Par¬ teien jedoch gemeinsam nach Aachen gereist, um im Dom Karls des Großen zu beten. Diese Geste schien ihnen selbst¬ verständlich, denn Europa ist für sie nicht nur ein großer Markt oder eine internationale Bürokratie, sondern das histo¬ rische Vaterland, in das sie zurückkehrten. Die Sozialisten un¬ ter den Katalanen reagierten empört, als sie für ihren symboli¬ schen Antrittsbesuch beim Kaiser des Abendlandes auf der Linken des Europäischen Parlamentes nur Spott und Geläch¬ ter ernteten. Ihr Geschichtsbewußtsein war noch überpartei¬ lich und prägte sie alle. Auch bei den Diskussionen, die das Europäische Parlament über institutioneile Reformen abhält, wird die Vergangenheit lebendig. Vor allem das Konzept einer europäischen Verfas¬ sung oder eines Vertrages über eine „Europäische Union“ ent¬ zweit häufig die Briten und das Festland. Viele gute Europäer glauben daher, die Engländer seien noch immer insular und hätten kein Verständnis für kontinentale Gegebenheiten. Das dürfte allerdings ein oberflächliches Urteil sein. Es handelt sich nämlich bei dieser Auseinandersetzung um die Frage, was wir überhaupt unter Grundgesetz und Institutionen verstehen. Die verfassungsrechtliche Geschichte unseres Erdteiles zeigt zwei Einstellungen: die der Angelsachsen und die der Konti¬ nentalen. Die Engländer - wie übrigens unter ihrem Einfluß ^die mei¬ sten Amerikaner - sind Pragmatiker. Sie glauben nicht an schöne politische Strukturen. Wenn sie ein Problem haben, schaffen sie eine Institution und lassen sie natürlich wachsen. Erst wenn sie erkannt haben, daß diese funktioniert, wird ein entsprechendes Gesetz beschlossen. Daher die ungeschriebe¬ ne Verfassung Großbritanniens, die Anpassungsfähigkeit der

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Einrichtungen des Staates und die lange Lebensdauer der Grundgesetze. Bei uns auf dem Kontinent ist es umgekehrt. Man wähnt sich intelligent und wissenschaftlich - cartesianisch würden es die Franzosen nennen

erfindet daher nach theoretischen Er¬

kenntnissen ein vollkommenes politisches System und stülpt dann dieses dem Leben wie eine Zwangsjacke über. Da aber letzteres eine solche Nötigung nicht hinnimmt und sich zur Wehr setzt, sind wir am Kontinent ein Friedhof von Verfas¬ sungen. Diejenigen, die nicht abgeschafft werden, muß man unzählige Male ändern. Beim Bau Europas stehen diese Auffassungen einander gegen¬ über. Die Engländer sind keine schlechten Europäer, haben aber ein instinktives Mißtrauen gegen Institutionen, die zuerst auf dem Papier geschaffen werden, bevor man sie in der Praxis ausprobiert hat. Daher das Unbehagen am Vertragsprojekt für eine Europäische Union, das das Europäische Parlament erarbeitet hat. Sie fürchten, den zweiten Schritt vor dem er¬ sten zu tun und fragen sich, ob ihre behutsame Methode langfristig gesehen - nicht die bessere Art ist, schwierige politi¬ sche Probleme zu lösen. Andererseits ist natürlich zu beden¬ ken, daß vor allem die mediterranen Europäer nach einem ge¬ schriebenen Recht verlangen. So bleibt nur eine gegenseitige Angleichung der Traditionen und Standpunkte zu einer euro¬ päischen Synthese. Voreilige Verurteilung des jeweils anderen wäre jedoch auf alle Fälle ein schwerer Fehler und müßte zum Scheitern des europäischen Einigungswerkes führen. Nicht anders ist es übrigens bei der Agrarpolitik. Hier kann man im Europaparlament den Unterschied zwischen Völkern sehen, die viele Hungersnöte kannten und jenen, die in den letzten Jahrhunderten nicht so zu leiden hatten. Diesseits des Kanals wird unsere Einstellung zu den Bauern und zur Land¬ wirtschaft durch den Mangel bestimmt, den wir während der Kontinentalsperre zu Napoleons Zeiten erleben mußten, ebenso im Ersten und Zweiten Weltkrieg beziehungsweise in

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der Nachkriegszeit. Großbritannien hatte demgegenüber, da es die See beherrschte, die Möglichkeit, sich Lebensmittel je¬ weils zu billigsten Preisen überall in der Welt zu verschaffen. Für die Engländer ist die Landwirtschaft irgendein Teil der Ökonomie und nicht notwendigerweise der wesentlichste. Man unterscheidet sie kaum von der Herstellung von Zigarren oder Schreibmaschinen. Es wird daher von britischer Seite nach buchhalterischen Gesichtspunkten vorgegangen. Ergeb¬ nis ist, daß es in Großbritannien kaum mehr kleine bäuerliche Familienbetriebe gibt und man daher bestrebt ist, die land¬ wirtschaftliche Produktivität über die Preise, also den Welt¬ markt zu regeln. Bei uns auf dem Kontinent hingegen gilt die Landwirtschaft in erster Linie als das wesentlichste Element der Sicherheitspoli¬ tik. Ob bewußt oder unbewußt, gehen wir immer von der Auffassung aus, daß man es nicht ausschließen kann, eines Ta¬ ges von den Überschüssen der restlichen Welt abgeschnitten zu werden. In diesem Falle könnten unsere Städte nur dank der kleinen Betriebe existieren, da die Agrarfabriken genauso krisenanfällig sind wie unsere sonstigen Großindustrien. Die Landwirtschaft ist der Natur nahe. In dieser aber hat der Kleine oft größere Chancen zu überdauern. Wenn Wölfe in ei¬ nen Wald einfallen, sind die Rehe lange vor den Kaninchen gefährdet. Viele Kontinentaleuropäer weigern sich daher, ein System anzunehmen, das zur Vernichtung der bäuerlichen Strukturen führen könnte. Sie wissen, daß diese ihnen einst das Leben retteten. Es ist bezeichnend, daß die Engländer, wenn man ihnen diese geschichtlichen Unterschiede klar macht, auch eine andere Haltung zur Agrarpolitik einnehmen. Sie bringen dann nicht nur Verständnis für die Bedenken auf dem Kontinent auf, sondern stellen sich auch ernstlich die Frage, ob nicht auch für ihre Insel, die heute die sieben Meere nicht mehr be¬ herrscht, eine andere als die derzeitige Auffassung angebracht wäre.

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Die Zusammenarbeit in der Europäischen Gemeinschaft kann Völkern helfen, ihrer nationalen Erstarrung zu entkommen. Ein Beispiel dafür ist Frankreich. Dort entstand unter den Bourbonen der Zentralismus, den die Französische Revolution noch verschärfte. Er trat in der Folge geschichtlicher Ereignis¬ se auf, wie etwa der Umzingelung des französischen Hexagons durch die Habsburger. Die französische politische Ordnung war typisch für eine belagerte Festung, die die Vorteile der in¬ neren Linie nützen wollte. Diese Kriegsstrukturen überlebten bis in die neueste Zeit. Es ist bezeichnend, daß mit dem Fort¬ schritt der europäischen Einigung, also der größeren Sicher¬ heit Frankreichs gegenüber den Nachbarn, der Zentralismus schwindet. Zahlreiche Franzosen - sofern sie nicht unheilbare Jakobiner sind - erkennen, daß der Föderalismus überlegen ist. Außenpolitisch sehen sie sich durch eine Dezentralisierung nicht mehr gefährdet. Die logische Folge dessen war die Re¬ gionalisierung des Landes, wie sie Präsident Mitterrand einge¬ leitet hat. Schon heute ist abzusehen, daß die historischen Landschaften Frankreichs wieder zu einem größeren Eigen¬ leben erwachen. Das wird allerdings noch einige Zeit dauern. Diese Beispiele zeigen die Kraft der Geschichte in der Politik. Wollen wir Erfolg haben, so dürfen wir die Vergangenheit nicht verdrängen, sondern müssen die Traditionen unseres Erdteiles für das Paneuropa der Zukunft nutzbar machen.

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Reich und Recht

Wenn man das Wort »Reich« ausspricht, setzt man sich häufig Fehldeutungen und unsachlichen Angriffen aus. Allzuviele Menschen denken in falschen oder verzerrten Begriffen. Das politische Gebilde Bismarcks, die Weimarer Republik oder gar das Schreckensregiment Hitlers waren, obwohl sie so hießen, keineswegs Reiche, sondern Nationalstaaten, also das Gegenteil eines Reiches. Dieses ist im Sinne unserer Überlie¬ ferung nicht als Territorialherrschaft zu verstehen. Man kann es auch nicht auf eine einzige Nation beschränken, denn seine Aufgabe ist es, als Klammer zwischen verschiedenen Völkern und Staaten zu wirken. Es fußt auf übernationalem Recht, un¬ sere neuzeitlichen Territorialstaaten hingegen auf nationalem. Um Mißverständnisse zu vermeiden: Hier soll nicht eine ver¬ goldete Vergangenheit einer finsteren Gegenwart vorbildhaft gegenübergestellt werden, wie das die Romantiker aller Zei¬ ten versuchten. Auch geht es nicht darum, unwiderruflich ver¬ gangene alte Formen künstlich wieder zu schaffen. Vielmehr gilt es, in einer Zeit europäischer Unionspläne übemationalreichische Konturen freizulegen, die im Gefolge der Französi¬ schen Revolution weitgehend mit grell nationalistischen Far¬ ben überpinselt worden waren. Die Geschichte zeigt, daß ein Reich im wahren Sinne, also nicht in der satanischen Verballhornung des Ausdruckes, wie sie im Dritten Reich erfolgte, jeweils von einer tragenden Idee ausgegangen ist. Wir sehen das außerhalb Europas am besten an den Vereinigten Staaten von Amerika. Lange bevor diese auch nur ein Begriff wurden, gab es bereits die verschieden¬ sten englischen Kolonien an der Ostküste. Da diesen aber je¬ des Sendungsbewußtsein, jede Reichsidee fehlte, waren sie nichts anderes als vom Mutterland abhängige Handelskontore. Sie entwickelten weder einen eigenen Stil noch eine eigene Zielsetzung. Erst als ein versprengtes Häufchen von Purita-

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nern, die »Pilgrim Fathers«;, mit ihren vom Alten Testament geprägten religiösen Idealen in Plymouth Rock landeten, ent¬ stand jene dynamische Konzeption, die den Nordamerikanern eine eigene Natur und Kraft gegeben hat. Daraus erklärt sich übrigens der bedeutende Unterschied zwischen den Europä¬ ern diesseits und jenseits des Atlantischen Ozeans. Wir hier in der Alten Welt sind weitgehend durch das Neue Testament, die Menschen in der Nordhälfte der westlichen Hemisphäre hingegen durch das Alte Testament geformt worden. Solche Beispiele ließen sich beliebig fortsetzen. Aus ihnen geht her¬ vor, daß der Verfall einer Idee immer auch das Reich oder die größere Gemeinschaft, die von ihr getragen wurde, mit sich gerissen hat. So müssen sich auch die Europäer des ausgehenden 20. Jahr¬ hunderts mit dem abendländischen Reichsgedanken auseinan¬ dersetzen. Dieser entsprang wie ein Funke dem Zusammen¬ prall zwischen den germanischen Stämmen und dem zugrunde¬ gehenden altrömischen Imperium in der Zeit der Völkerwan¬ derung. Die die damalige Welt umspannende Machtstellung Roms, die ruhmreiche militärische Vergangenheit seiner Cäsa¬ ren, seine organisatorischen Leistungen und sein grandioses Rechtsgebäude faszinierten die Germanen. Diese brachten wiederum freiheitliches Gedankengut ein, das heute noch als Föderalismus und Personalismus weiterwirkt. Konstantin der Große, der sein Imperium und zuletzt sich selbst zum Christentum bekehrte, konnte dadurch zwar nicht den Niedergang Roms aufhalten, aber das römische Erbe kam infolgedessen hundert bis zweihundert Jahre später auf Kirche und Papst. Wenn das Frankenreich zum eigentlichen Träger der römischen Kaisertradition wurde, während Ostrom bezie¬ hungsweise Byzanz für das Abendland ebenso an Bedeutung verlor wie die einem arianischen Christentum huldigenden germanischen Staaten, so lag das sowohl an seiner machtpoliti¬ schen Beständigkeit als auch am Bischof von Rom. Der Mero¬ winger Chlodwig, der Ende des fünften Jahrhunderts seine 21

Franken im Gebiet zwischen Somme und Loire zusammen¬ schloß, wurde nicht arianisch, wie es dem Zeitgeist entsprach, sondern katholisch. Er entwickelte sich somit zum Kristallisa¬ tionspunkt der Hoffnungen von unterdrückten katholischen Untertanen arianischer Germanenfürsten. Anders als die Go¬ ten oder Burgunder schafften es die Franken mühelos, die Keltoromanen zu integrieren, weil sie demselben Glauben an¬ gehörten und von der Staatsgewalt demnach menschlicher be¬ handelt wurden als anderswo. Die übernationale Haltung des Merowingers erwies sich so als energiespendend. Sein viel be¬ gabterer ostgotischer Rivale Theoderich, der schon früh nach der Erneuerung des römischen Reiches strebte, scheiterte hin¬ gegen sowohl an der römisch-katholischen Opposition als auch daran, daß er keinen direkten männlichen Erben hatte. Das Frankenreich aber wurde nicht nur »älteste Tochter der Kir¬ che«, sondern unter den Karolingern, die den Merowingern folgten, endgültig Träger des christlich geformten imperialen Gedankens. Es wäre ein schwerer Irrtum, wollte man die religiös begrün¬ dete Reichsidee ausschließlich als christliche Lehre verstehen und in allen Reichen, die es vor dem christlichen Rom, vor Byzanz und vor dem »Sacrum Imperium« des Mittelalters gegeben hat, nur Organisationen der menschlichen Gewalt er¬ blicken. Im Gegenteil, jeder reichische Herrscher leitete sich seit unvordenklichen Zeiten von einer göttlichen Einsetzung ab. Nur wer sich der Abstammung von den Göttern rühmen konnte, galt als legitim. Es war so bei den Griechen der mythi¬ schen Zeit, bei den Ägyptern, Babyloniern und Persern, beim germanischen Geschlecht der Merowinger, und so ist^es auch noch Ende des 20. Jahrhunderts beim japanischen Kaiserhaus. Zwar hat der Tenno nach dem Zweiten Weltkrieg die Lehre von der göttlichen Abstammung seines Hauses unter fremdem Druck offiziell verwerfen müssen, aber für viele Japaner ist er zweifellos weiterhin der Sohn der Sonne und verdankt seine Legitimität dieser göttlichen Herkunft.

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Das Christentum hat diesen Gedanken vergeistigt und geläu¬ tert. Der Herrscher ist seit Pippin, dem Vater Karls des Gro¬ ßen, nicht mehr ein Nachkomme der Götter, sondern »von Gottes Gnaden«. Anstelle des Geblütsrechtes tritt ein rein transzendentaler Bezug.

Gottesgnadentum bedeutet nicht

- wie vielfach fälschlicherweise behauptet -, daß der Inhaber ein besserer Mensch sei oder über dem Recht stehe, sondern daß er Träger einer von Gott verliehenen Macht und daher dem göttlichen Recht unterworfen ist. Es geht nicht von ihm aus, er ist nur »Arbiter«, oberster Richter und muß dem Schöpfer gegenüber Rechenschaft ablegen. Er gilt als Verwal¬ ter des Reiches, auf den durch die Erbfolge, durch eine unter Anrufung des Heiligen Geistes vollzogene Wahl oder auf eine andere Weise die Berufung des Amtes übergeht. Dieses erhält mit der Krönung und Salbung die höchste Weihe. Das seit Karl dem Großen wieder kaiserliche Reich ist also eher ein sakraler Wert und bedeutet nur im Zusammenhang mit einer oder besser mehreren Königskronen Gebiet und Macht. Nach mittelalterlichen Vorstellungen war das Reich von den Völkern des Orients über die Römer in letztlich christlicher Form auf die Franken und ihre Erben übergegan¬ gen. Dieses christlich-abendländische Konzept formt sich vor allem unter dem Eindruck der Geschichtsphilosophie des heili¬ gen Augustinus. Auch wenn wir nicht durch gut bezeugte Überlieferung wüßten, daß Karl der Große das Buch vom »Gottesstaat« selbst gelesen und hoch geschätzt hat, ließe sich bei diesem Herrscher wie bei vielen seiner Nachfolger der Ein¬ fluß der augustinischen Geschichts- und Staatsphilosophie nachweisen.

Sie unterschieden zwischen einem legitimen

Rechtsstaat, der auf göttlichen Prinzipien ruht, der »Civitas Dei«, und dem »Latrocinium«, der Räuberbande, die wohl auch Regeln kennt, doch reines Menschenwerk ist und daher in der Gesetzeslosigkeit enden muß. Das 20. Jahrhundert bekam die Richtigkeit dieser Auffassung in besonderer Weise zu spüren, als der Abfall Europas von der

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christlichen Lehre zu den grausamen Diktaturen Hitlers oder Stalins führte, die wohl dem Namen nach Recht setzten, in Wirklichkeit aber nur Instrumente menschlicher Willkür wa¬ ren. Für die Entstehung des europäischen Gedankens spielte sicher auch der heilige Benedikt, den Papst Paul VI. zum Patron Eu¬ ropas erkor, eine entscheidende Rolle. Er verwirklichte in sei¬ ner Person eine echte europäische Synthese: Evangelium und klassische Kultur. Ohne Benedikt von Nursia und seine Mit¬ streiter wären die Werte Athens und Roms verlorengegangen, hätten wir nicht die Hinterlassenschaft der Antike überneh¬ men können. Es waren die Klöster, die die großen Gedanken der vorchristlichen Welt bewahrten, die das, was in ihnen wertvoll war, ins Christentum übertrugen. Die abendländische Kultur und Zivilisation wäre ohne Benedikt unvorstellbar. Es ist kein Zufall, daß das Verfassungswerk Karls des Großen und damit die gesamte abendländische Reichsidee weitgehend durch die Regeln des heiligen Benedikt geprägt waren. Die Klöster schufen endgültig den Übergang von der Zeit der Jä¬ ger und Sammler in die Epoche der Bauern und Städter. Die benediktinische Idee einer Verchristlichung des römisch-grie¬ chischen Erbes drückte sich auch in anderen großen Heiligen unserer Geschichte aus, wie Bonifatius in Deutschland, Cyrill und Method bei den Slawen oder beim heiligen König Stefan von Ungarn. Die europäische Einigung war in den Tagen Karls des Großen eine Zukunftsvision, die über die Möglichkeiten der Zeit hin¬ ausging. Doch damals wurde ein Modell geschaffen. Seitdem ist die Sehnsucht nach einer übernationalen Einheit aus unse¬ rer Geschichte nicht mehr wegzudenken. Die Reichsidfee blieb von Otto dem Großen, der ab 936 das Imperium wieder auf¬ richtete, bis in unser Jahrhundert eine wesentliche Kraftquelle für Europa und vor allem dessen Mitte. National orientierte Historiker haben wiederholt die Meinung verfochten, daß das übernationale Kaisertum schweren Schaden angerichtet habe,

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da es die Energien der mit ihm betrauten deutschen Könige zu sehr nach Italien und in andere Gebiete Europas ablenkte und deshalb an der Schwäche Deutschlands schuld gewesen sei. Das mag rein äußerlich so wirken. Der eigentliche Grund für die innere Auszehrung der deutschen Königsgewalt lag aber darin, daß die ersten Dynastien nach wenigen Generationen ausstarben und somit in rascher Folge wechselten, was die den Monarchen wählenden Fürsten zur Machterweiterung nutz¬ ten. Daß Deutschland trotzdem nicht zerbrach und neben sei¬ nen Funktionen im Westen wie Süden auch die Integration des Ostens in das Abendland vorantreiben konnte, lag sicher am Sendungsbewußtsein des universal orientierten Kaisertums, das die nationalen Königswürden ergänzte. Bestimmend für die europäische Zivilisation waren auch die großen und damit die volle Entfaltung Europas ermöglichen¬ den Abwehrkämpfe gegen Anstürme von außen, wie die Re¬ conquista in Spanien oder die Türkenkriege im Donauraum. Sie haben dazu beigetragen, das europäische Bewußtsein zu formen, erfolgten sie doch im Zeichen des Kreuzes gegen den Halbmond. In der Reconquista entstand die imperiale Orien¬ tierung Spaniens, die seit Karl V. vor allem das Haus Öster¬ reich stark beeinflußte. In den Türkenkriegen vor mehr als dreihundert Jahren wiederum fanden sich die Europäer in ganz besonderer Weise zusammen. Das vom Islam bedrohte Wien verteidigten die großen Völkerfamilien unseres Erdtei¬ les, Germanen, Slawen und Romanen gemeinsam, wenn man von der Haltung des damaligen Königs von Frankreich ab¬ sieht. Ein großes Werk kann immer nur im Dienste einer höheren Idee erfolgreich vollbracht werden. Am Kahlenberg wurde nicht darum gekämpft, eine donauländische Freihandelszone zu errichten oder materielle Güter zu erlangen. Das Vielvöl¬ kerheer stritt für Gott und Reich, denn es galt, das christliche Abendland zu retten. Diese Einstellung verband Katholiken und Protestanten, die am Morgen der Schlacht vom Kahlen-

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berg einen ökumenischen Gottesdienst abhielten - für diese Zeit ein einmaliger Vorgang. Hätte man diesen Weg in Frie¬ denszeiten weiter beschritten, wäre der Untergang des Heili¬ gen Römischen Reiches, an dem die Glaubensspaltung ein gerütteltes Maß an Schuld trug, vielleicht zu verhindern ge¬ wesen. Kritiker der Reichsidee wenden ein, daß diese gar keinen europäischen Charakter besitze, da sie nur einen Teil der abendländischen Völker durchdrungen habe. Neben den Sla¬ wen werden vor allem die Franzosen oft von der reichischen Gemeinschaft ausgenommen. In der Tat war die Trennung von West- und Ostfranken folgenschwer, weil sich beide Na¬ tionen um das Erstgeburtsrecht als Reichsvolk stritten. Noch Albrecht Dürer hat, als er Karl den Großen als Urbild des Kai¬ sers malte, über dessen Haupt die französische Lilie neben den Reichsadler gesetzt. Als die Franzosen sich im 10. Jahrhundert vorübergehend Aachens bemächtigten, drehten sie den Adler auf der Grabeskirche Karls des Großen um, so daß er nach Westen statt nach Osten blickte. Sobald Otto II. die französi¬ schen Truppen aus der Krönungsstadt vertrieb, ließ er den Ad¬ ler abermals wenden, nun schaute er wieder nach Osten. Die¬ ser Bruderzwist zwischen Ost- und Westfranken drückte sich auch im vergeblichen Anspruch der Valois und Bourbonen auf die Führung im Reich aus, der die Ursache jahrhunderte¬ langer Kämpfe der Häuser Frankreich und Österreich war. Diese brachten den Franzosen zwar nicht die Kaiserkrone ein, fügten aber dem Heiligen Reich tödliche Wunden zu und störten es lange Zeit bei der Erfüllung seiner wichtig¬ sten Aufgabe, dem Kampf gegen die außereuropäischen Eroberer. * Schon der bis 1314 in Frankreich regierende Philipp der Schö¬ ne, ein Kapetinger, unternahm den Versuch, sich als »Kaiser« im französischen Königreich zu betrachten, also eine über den Völkern stehende Würde national zu vereinnahmen. Einer solchen Haltung entsprang auch der Konflikt zwischen Kaiser

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Karl V. und Franz I. von Frankreich im 16. Jahrhundert. Karl V. lebte noch aus der Universalität seines Kaiser- und Reichsbildes. Immer wieder dehnte er den Begriff des Impe¬ riums auf den ganzen »Orbis christianus«, die gesamte christli¬ che Welt aus. Da diese aus verschiedenen Nationen und Staa¬ ten besteht, kann die universelle Mission nur dann erfüllt wer¬ den, wenn sie sich scharf vom kleinlichen Nationalismus trennt. Dies führte zu den großen Schwierigkeiten, mit denen zum Beispiel Karl V. zu kämpfen hatte. Sein Auftreten trifft zeitlich mit den Auswirkungen der Renaissance zusammen, die das klassische Erbe von der christlichen Überlieferung ge¬ trennt hat. Heidnisches Gedankengut zerstörte zunehmend den transzendenten Inhalt des abendländischen Bewußtseins. In der Renaissance erkennen wir bereits die ersten Anzeichen des Materialismus, dessen logische Folge Nationalismus und Rechtlosigkeit sind. Der Materiahst stellt Macht über Recht, erkennt die naturgewachsenen Gemeinschaften nicht mehr an und will alles zentralisieren oder vereinheitlichen, womit die Allgewalt des Staates begründet wird. Franz I., Frankreichs nationaler König aus dem Hause Valois, ist zwar noch bekennender Christ, aber in seiner Handlungs¬ weise finden sich bereits neue heidnische Prinzipien der Re¬ naissance. Er lebt von der überkommenen geistigen Substanz, ist aber auch ein Werkzeug zu deren Zerstörung. Die Renais¬ sance, die von beiden Konfessionen verschuldete Glaubens¬ spaltung und das Aufbrechen nationaler Gegensätze höhlten die übernationale Ordnung des Abendlandes aus. Bodin, der Rechtsphilosoph der großen Bourbonenkönige, hat dann dementsprechend die Allmacht des Herrschers nach dem Beispiel der heidnischen Monarchen in Rom in den Vor¬ dergrund gestellt. Als gar die Französische Revolution die unbeschränkte

Volkssouveränität

proklamierte,

war

ein

Element der Totalität in den Staat eingedrungen, das sich wie ein Krebsgeschwür weiterfressen und schließlich die ganze Rechtsstruktur zerstören mußte. Denn von der Aus-

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rufung der unbeschränkten Gewalt des Herrschers oder des Volkes bis hin zu dem rückwirkenden Gesetz oder gar zum legalisierten Massenmord an angeblichen Klassen- und Rassenfeinden ist es nur noch ein Schritt. Diesen tat in bisher ungeahntem Ausmaß das 20. Jahrhundert. Der neuheidnische Nationalismus Hitlers hat im Zweiten Weltkrieg Millionen von Europäern das Leben, die Freiheit oder die Heimat ge¬ kostet. Das Reich soll im Sinne des Bibelwortes gar nicht primär von dieser Welt sein, sondern sie nur als jenseitiges Prinzip durch¬ dringen. Es geht deshalb alle Europäer etwas an, egal auf wel¬ cher Seite ihre Vorfahren einst gestanden waren. Deshalb gilt es, althergebrachte Mißverständnisse zu beseitigen. »Empire« war für die Franzosen ein zentralistischer Machtstaat. Dieser glich weit eher dem Imperium der Römer, einem abgegrenz¬ ten Herrschaftsbereich, als dem »Sacrum Imperium« des Mittelalters, das etwas ganz anderes sein wollte und war. Im Unterschied zum Französischen hat das Englische eine Ent¬ sprechung zum deutschen Wort »Reich«, nämlich »Common¬ wealth«, also Gemeinwesen, eine Ordnung des gemeinsamen Wohles. Reich wie Commonwealth heißt, daß neben oder über dem territorial begrenzten Souveränitätsbegriff eine staatliche, gesellschaftliche und geistige Ordnung besteht, die nicht auf Herrschaft, sondern auf Recht, nicht auf Befehl, son¬ dern auf eine richtende und schlichtende Autorität zielt; die sich nicht von der Einsetzung durch menschliche Willkür ablei¬ tet, sondern auf göttlichem Ursprung beruht. Man braucht auch hier nur an ein Bibelwort zu denken, nämlich an die Ant¬ wort, die Jesus dem mit seiner Gewalt drohenden Pilatus gibt: »Du hättest keine Macht über mich, wenn sie dir rticht von oben gegeben wäre.« Das Konzept einer übernationalen Rechtsordnung, die über den Rassen und Klassen steht und daher den Schwachen vor dem Starken schützt, war in der Ge¬ schichte zahlreichen Angriffen ausgesetzt. Obwohl auch heute noch nicht von allen verstanden, setzt eine Rückbesinnung auf

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diese Idee ein, die sich nicht als Ausdruck irgendeiner Reichs¬ romantik abtun läßt, sondern ein Gebot des Überlebens im Zeitalter der Atomwaffen ist.

Kaiser des Abendlandes

In der Zeit des Nationalismus stritten deutsche und franzö¬ sische Historiker erbittert über die Frage, ob Karl der Große eigentlich Deutscher oder Franzose gewesen sei. Wenn das heute lächerlich erscheint, so liegt das daran, daß uns die Aus¬ söhnung zwischen diesen beiden Herzvölkem Europas mittler¬ weile einen klaren, nicht ideologisch vernebelten Blick auf die geschichtlichen Tatsachen erlaubt. Schon die Merowinger hatten, wie beschrieben, christlich-jüdische, römisch-gallische und fränkisch-germanische Elemente zu einem Gemeinwesen verschmolzen, das Europa neue Konturen zu geben versprach, nachdem das Römische Reich endgültig in den Wirren der Völkerwanderung untergegangen schien. Die karolingischen Hausmeier des absteigenden Merowinger-Geschlechtes und Karls Vater, der erste Karolinger-König Pippin, vereinten be¬ reits die drei wesentlichen Grundorientierungen der nächsten Jahrhunderte. Sie strebten nach Italien und Rom, kämpften gegen den aus dem arabisch gewordenen Spanien heranstür¬ menden Islam und versuchten auf dem Weg über die Einigung aller germanischen Stämme, das Reich nach Osten hin auszu¬ dehnen. Als Karl der Große 742 geboren wurde, waren die Fundamen¬ te seines künftigen Wirkens schon gelegt. Sein Großvater Karl Marteil hatte die Muselmanen 732 zwischen Tours und Poitiers besiegt. Sein Vater Pippin war als erster fränkischer König mit heiligem Öl gesalbt worden, 751 durch Erzbischof Bonifatius, 754 ein zweites Mal durch Papst Stefan II. Karl erhielt wie sein Vater und sein Bruder den Titll »Patricius Romanorum«, also »Schutzherr der Römer«. Dies alles machte Karl, der wahrscheinlich im heutigen Frankreich zur Welt kam, am Weihnachtstag des Jahres 800 in Rom zum Kai¬ ser gekrönt wurde und 814 im heute deutschen Aachen starb, zum Ahnherrn Europas, zum ersten großen Kaiser des Abend-

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landes, dem Erneuerer des Imperium Romanum. Er schuf da¬ mit eine Reichstradition und ein Kaiserbild, die bis 1806, im Donauraum sogar bis 1918, gültig blieben. Mit der Unterwerfung und Christianisierung der Sachsen oder der Einverleibung Bayerns begann er, die deutsche Einheit zu bilden, der er allerdings keine nationale, sondern eine im rö¬ mischen Sinne übernationale Ausrichtung gab. Seine siegrei¬ chen Feldzüge gegen die Awaren, heidnische Eroberer aus dem Osten, ermöglichten einem Großteil der von diesen einst¬ mals beherrschten Slawen die - bis heute andauernde - geisti¬ ge Orientierung nach Westen. Das Verhältnis des Franken¬ herrschers zu den slawischen Völkern gestaltete sich wechsel¬ haft. Zum einen wurden Kriege geführt, zum anderen blühten wirtschaftliche und politische Verbindungen auf. Die Kroaten empfingen das Christentum aus Aquileia, die Slowenen aus Salzburg, die Tschechen und Wenden aus Regensburg, die Abodriten und Elbslawen aus Verden an der Aller. Ein Jahr¬ hundert später vollendeten die Slawenapostel Cyrill und Method das Werk, indem sie sich, aus dem Osten kommend, Rom anschlossen. Im Süden errang Karl die Langobardenkrone und nannte sich fortan »König der Langobarden und der Franken«, was eine frühe Form föderalistischer Einstellung zum Ausdruck brachte. Seitdem blieb Norditalien und mit ihm die ganze Apenninen-Halbinsel

ein

wesentlicher

Faktor im

Reich.

Durch die Errichtung der spanischen Mark und die Eroberung Barcelonas wurde ein Stück christlichen Frankens südlich der Pyrenäen geschaffen, das dem weitgehend vom Islam überroll¬ ten Iberien ein Zeichen der Hoffnung gab. Darin gründet die schon erwähnte Verehrung, die Karl der Große in Spanien und Portugal, vor allem aber in Katalonien genießt. Auch in England und Irland entwickelten sich Beziehungen. Dorther kamen etliche der Hofgelehrten Karls, die die »karo¬ lingische Renaissance« einleiteten, die für die abendländische Kultur so zukunftsweisend war. Karl erkor die besten Köpfe

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Europas zu seinen Beratern und Erziehern seiner Völker. Pau¬ lus Diakonus, Paulinus von Aquileia und Petrus von Pisa stammten aus Italien, Bischof Theodul von Orleans aus Spa¬ nien, Udo von Metz und Einhard, der spätere Biograph des Herrschers, aus Franken. Der Angelsachse Alkuin überragte sie alle. Das wirkte wieder nach England zurück. König Ekbert von Wessex, der am Hofe Karls groß geworden war, ver¬ einte die verschiedenen angelsächsischen Staaten um sich. Wenn man bedenkt, daß Karl auch mit dem rivalisierenden Byzanz Kontakte pflegte, erkennt man die europäische Di¬ mension seines Herrscherlebens. Das abendländische Kaiser¬ tum wäre ohne Karl den Großen undenkbar. Das drückt sich schon darin aus, daß Karl bis heute einer der beliebtesten Herrschernamen in ganz Europa ist und slawische Völker ih¬ ren Monarchen »Kral« nannten. Das Kaisertum wird nur zu oft einfach als eine Staatsform be¬ trachtet. Man übersieht dabei vollkommen, daß der Kaiserund Reichsgedanke, der so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Karl dem Großen, Karl V. oder Franz Joseph I. vor¬ schwebte, nicht eine Form, sondern eine Funktion ist. Sie ähnelt am ehesten dem »Schah in Schah«, also dem »Herr¬ scher der Herrscher« aus der persischen Geschichte, oder dem »Negus Negesti«, dem »König der Könige«, der bis zu Haile Selassie in Äthiopien regierte. In beiden Fällen war - wie beim abendländischen Kaisertum - keine territorial gebundene In¬ stitution, sondern eine höhere richterliche Funktion gemeint. Dem hohen Mittelalter war dies immer bewußt gewesen. Nicht nur die Kaiser selbst, die Salier, aber vor allem die Hohen¬ staufen, haben diesen höheren Rang der Kaiserwürde wie ihre extraterritoriale Stellung gekannt und behauptet. Aus den Chroniken der Mönche oder aus den Werken der Poeten spricht die Überzeugung von der Ausnahmestellung des Kai¬ sers, den es nur einmal geben kann. Der größte deutsche Dich¬ ter des Mittelalters, Walther von der Vogelweide, war durch¬ drungen von dieser Berufung des Kaisers zum Friedensrichter.

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Er spricht von den »armen küngen«, den im Unterschied zum Kaiser armen Königen, was keinesfalls materiell, sondern im Sinne einer geistigen und rechtlichen Ordnung gemeint war. Sein Herr, Friedrich II. von Hohenstaufen, stellte sich sogar in Selbstüberschätzung höher als der Papst und wollte »Ver¬ wandler der Welt« sein. Der bedeutendste reichische Denker italienischer Zunge, Dante, beklagte die Erhebung des franzö¬ sischen Königtums gegen den einen Kaiser und beschwor die Gefahr, daß Europa zu einem Ungeheuer mit vielen Köpfen werden könnte - zu Recht, wie wir heute wissen. Noch Grill¬ parzer besaß ein tiefes Verständnis für diese Idee, als er »vom Kaiser, der niemals stirbt« sprach. Im Kaisertum verbindet sich das ritterliche und das geistliche Element. Fehlte es in der Frühzeit des Reiches einem Fürsten an der körperlichen Eignung, selbst sein Heer zu führen, so konnte er nicht auf den Thron gelangen. Gerade das salische Kaiser- und Königshaus war bekannt für hohen Wuchs und Körperkraft. Aber schon die ersten Karolinger hatten ihr Amt weit über dessen weltliche und kriegerische Bedeutung hinaus zu einem geistigen und geistlichen Rang entwickelt. Und spätestens seit Otto dem Großen fühlten sich die deutschen Könige in ihrer Funktion als Römische Kaiser berufen, auch kirchliche Mißstände abzustellen und für die Auswahl würdi¬ ger Bischöfe und Päpste zu sorgen. Heinrich III. sah sich in idealer Weise als Beschützer und Reformer der Kirche. Er hat der Reformbewegung von Cluny die Tore nach Deutschland geöffnet und sie damit zu einer entscheidenden geistig-reli¬ giösen Kraft gemacht. Die Überspitzung des kaiserlichen An¬ spruches durch die Hohenstaufen darf keineswegs zu dem Irr¬ glauben verführen, daß das verinnerlichte Christentum des Hochmittelalters grundsätzlich im Gegensatz zur Kaiser- und Reichsidee habe stehen müssen. Selbst Heinrich IV., den Bis¬ marck und die liberalen Geschichtsschreiber des vorigen Jahr¬ hunderts zum typischen Repräsentanten der unabhängigen weltlichen Gewalt gegen klerikales Machtstreben hochstilisier-

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ten, bekämpfte nicht das Papsttum oder die Kirche an sich. Ihm ging es lediglich um die - seiner Meinung nach falsche Auffassung der gregorianischen Partei von der Rangordnung zwischen Papst, König und Bischof. Drei Jahrhunderte nach Otto dem Großen schien durch das Interregnum das Ende des Kaisertums gekommen zu sein. Erst die Wahl Rudolfs von Habsburg zum deutschen König, der faktischer, wenn auch nicht gekrönter Kaiser war, gab dem Reich und seiner Spitze eine zeitgemäße Orientierung. Rudolf, Anhänger der untergegangenen Staufer, richtete de¬ ren Institutionen wieder auf. Dabei trat etwas Interessantes zu Tage: Der formelle Sieg des Papstes über die Staufer und der Absturz der Kaiserwürde hat der Kirche nicht zur erwarteten Blüte verholfen, sondern sie entgegen allen äußeren Anzei¬ chen in eine Krise geführt. Mit dem erneuten Aufstieg des Reiches unter Rudolf von Habsburg begann auch die Gesun¬ dung des Papsttums. Dazu trug die gemäßigte und kluge Poli¬ tik des Habsburgers viel bei, weil sie sich durch ihr meist fried¬ liches Integrationsstreben sehr vom übermäßigen Machtrausch der - zweifellos großen - letzten Staufer unterschied. Rudolfs Werk fand eine hervorragende Fortsetzung nicht nur in seinem zwar begabten, aber manchmal etwas strengen Sohn Albrecht, sondern auch in dem vielgeschmähten Friedrich III. Dieser zählt zu den umstrittensten Persönlichkeiten unserer Geschichte. Die deutschnationalen Historiker hielten ihn für schwach und »faul«. Nach herrschender Auffassung bestand seine einzige Leistung darin, alle Gegner überlebt zu haben, indem der 54 Jahre meist zurückgezogen oder belagert »regier¬ te«. Einer gründlichen Untersuchung halten diese Klischees nicht stand. Friedrich III. vermittelt das Gefühl, er hcibe seine Erdentage bewußt als einen Übergang und ein geduldiges Be¬ harren gelebt, weil seine Seele von der Ahnung erfüllt war, daß große und entscheidende Dinge heraufziehen. Er verstand aber auch, daß die Zeit noch nicht reif sei. Hugo Hantsch sagte von diesem Kaiser: »Ein Pazifist, der nichts von Gewalt, alles

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von friedlicher Verständigung erwartete ... und der sich ängst¬ lich hütete, Unrecht zu tun ... Sein Wesen war von Würde, auch wenn sie keine Macht symbolisierte. Für ihn bedeutete das Kaisertum einen unübertrefflichen Vorzug, der auch durch Unglücksfälle nicht zu mindern war.« Und Leopold von Ranke, ein Gegner des Hauses Österreich, zog folgende Bilanz: »Die Regierung Friedrichs III. war mit¬ nichten so unbedeutend, wie man wohl anzunehmen pflegte. Namentlich seine letzten so bedrängten Jahre waren reich an großen Erfolgen. Da war einmal die habsburgische Macht durch den Besitz von Österreich und Niederland zu einer neuen europäischen Bedeutung gekommen, auch die Ansprü¬ che auf Ungarn waren in einem kurzen Feldzuge Maximilians zur Anerkennung gebracht worden. Dann waren die inner¬ deutschen Feindseligkeiten im ganzen beseitigt. Der Schwäbi¬ sche Bund sicherte dem Hause Österreich einen gesetzlichen Einfluß auf Deutschland, wie es ihn seit Albrechts I. Zeiten nicht besessen. Die Reichstage waren zu geordneten Formen gelangt und ziemlich befestigt, zur Ausbildung der gesamten Verfassung waren lebensvolle Anfänge vorhanden.« Friedrich III. hat durch sein geduldiges Ausharren inmitten der Kriege und Fehden so viel zur Festigung des Kaiser¬ tums beigetragen, daß dieses Maximilians glanzvolle, aber sprunghafte Persönlichkeit und das weltweite Integrations¬ werk Karls V. tragen konnte. Karl der Große, Karl IV. und Karl V. sind wohl die bedeu¬ tendsten Ahnherren des Europa von morgen. Karl der Große bildet die unverzichtbare Verbindung zwischen den Franzo¬ sen, die nach den Karolingern einen nationalen Sonderweg gingen, und der reichischen Idee einer übernationalen Ge¬ meinschaft. Der böhmische Luxemburger Karl IV. erneuerte nicht nur das Sacrum Imperium, er ist auch die Brücke nach Osten, vor allem zu den Slawen. Die Idee eines Orbis Europaeus Christianus, wie sie Karl V. verfocht, hat, anders als da¬ mals, inzwischen alle europäischen Völker erfaßt. In Karl V.

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fließen deutsche und italienische, französisch-burgundische und niederländisch-burgundische sowie iberische Geistesströ¬ me zusammen. Er und seine großen Vorgänger sind daher viel zeitgemäßer als die Anhänger der nationalistischen Kleinstaa¬ ten des 19. und 20. Jahrhunderts. Außer der übernationalen Idee bringt das versunkene Kaiser¬ tum noch einen anderen wesentlichen Gedanken ins 21. Jahr¬ hundert ein: Das ist die Vorstellung vom Vorrang der richterli¬ chen Funktion gegenüber der ausübenden und der gesetzge¬ benden Gewalt. Unabhängig von der Staatsform brauchen wir gerade in unserer technokratisch manipulierten Massengesell¬ schaft unabhängige Institutionen, die den Staatsinhalt und die Menschen gegen Gruppenegoismen oder politische wie private Willkür schützen.

Die Deutschen als Reichsvolk

Die Tragödie der Deutschen, unter der wir heute noch leiden, begann mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches im Jahre 1806. Dieses hatte ihnen trotz vieler Schwächen und Konstruktionsmängel rund tausend Jahre lang ein schützendes Dach geboten, unter dem sie so leben konnten, wie es ihrem Wesen, ihrer Tradition und ihrer geographischen Lage ent¬ sprach. Ihr historischer Auftrag war nämlich seit altersher übernational und reichisch. Die deutschen Stämme im Herzen Europas haben keine natürlichen Grenzen. An den Rändern ihres Siedlungsgebietes sind sie bunt vermischt mit benachbar¬ ten Völkern wie den Italienern, Franzosen und Rätoromanen, den Slawen, den Magyaren, den Balten und den Skandinavi¬ ern. Ihre Berufung war und ist, ausgleichend zu wirken, zwi¬ schen Kulturen zu vermitteln und materielle wie geistige Güter mit den anderen auszutauschen. Natürlich sahen sie sich im¬ mer wieder in Kriege verwickelt, doch in den Blütezeiten stan¬ den sie im Mittelpunkt der Handelsströme, wurden von den anderen kulturell befruchtet und boten ihre Werte den Part¬ nern an. Sie wirkten so im schönsten Sinne des Wortes als Reichsvolk. Die Reichsidee steht über den Nationen, weshalb ihr Träger keinesfalls nach nationalistischer Vorherrschaft streben darf. Eine eng nationale Einstellung widerspricht die¬ ser geschichtlichen Funktion, weshalb Nationalismus, anders als die Nationalsozialisten glaubten, zutiefst undeutsch ist. Die deutsche Sprache war nicht nur im Kerngebiet des Heili¬ gen Römischen Reiches verbreitet, sondern zum Beispiel auch weit östlich in Rußland, im Donauraum oder auf dem Balkan. Die Deutschen wurden so zu einem Bindeglied und konnten Frieden wie Sicherheit nur in einem großen abendländischen Rahmen finden. In dem Moment, in dem versucht wurde, das Deutschtum abzugrenzen, von den anderen Völkern künstlich abzukapseln, war die Katastrophe programmiert. Deshalb

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mußte der kleindeutsche Nationalstaat Otto von Bismarcks über kurz oder lang scheitern. Eine solche Auffassung wird all¬ zuoft als einseitig süddeutsch, österreichisch oder katholisch abgetan. Doch gerade einige der bedeutendsten Köpfe, die Norddeutschland und Preußen im 19. Jahrhundert hervor¬ brachten, standen auf der Seite einer föderalistischen Reichs¬ ordnung und nicht auf der des teilweise zentralistisch-jakobi¬ nisch geprägten Kleindeutschland, wie es Otto von Bismarck schuf. Doch leider sind die entsprechenden Vorschläge der Gebrüder Gerlach oder eines Konstantin Frantz in Vergessenheit gera¬ ten, weil der Sieger in der Regel auch die Geschichte schreibt und die Berliner Machthaber das besonders nachhaltig taten. Außer den preußischen beziehungsweise norddeutschen Kon¬ servativen war es vor allem das uralte Herrschergeschlecht der Welfen, das im Norden des deutschen Raumes die Reichstra¬ dition aufrecht erhielt. Hannover zog 1866 für ein föderatives Europa in den Krieg und mußte die Niederlage mit dem Ver¬ lust seiner Staatlichkeit und der Vertreibung seiner Dynastie bezahlen. Erst im heutigen Bundesland Niedersachsen er¬ wachten die welfischen Überlieferungen zu neuem Leben. Sol¬ che Anmerkungen sollen bestimmt nicht wieder die alten Wunden aufreißen. Es bleibt aber festzuhalten, daß es im pro¬ testantischen Norden Deutschlands, vor allem im Königreich Hannover, aber auch in Preußen oder den Hansestädten Bre¬ men und Hamburg, ebenso Verfechter einer übernationalen Föderation gab, wie andererseits in Österreich auch deutsche Nationalisten auftraten, wobei diese häufig slawische Namen trugen. Es ist überhaupt interessant zu bemerken, daß die ärg¬ sten Deutschnationalen in der Habsburger Monarchie ober¬ flächlich germanisierte Tschechen oder Slowenen, viele slawi¬ sche Extremisten dagegen deutscher Abstammung waren. Die deutschen Könige hatten seit Otto dem Großen gleichzei¬ tig die übernationale Krone des durch Christianisierung »hei¬ lig« gewordenen Römischen Reiches getragen oder ange-

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strebt. Auch zwischen dessen Auflösung im Jahre 1806 und der Schlacht von Königgrätz, sechzig Jahre später, blieb sol¬ ches Gedankengut trotz des Anwachsens nationalistischer Strömungen in allen Teilen des deutschen Siedlungsgebietes wirksam. 1866 standen also weder Nord gegen Süd, noch Pro¬ testantismus gegen Katholizismus. Nicht einmal um Preußen oder Österreich, Hohenzollern oder Habsburg ging es, wie oft fälschlicherweise behauptet wird. Es galt vielmehr die Frage zu beantworten: Reich oder Nationalstaat? Föderalistisches Mitteleuropa im Sinne der Vorschläge des Fürsten Schwarzen¬ berg oder zentralisierendes Kleindeutschland? Der Wiener Kongreß hatte 1815 den Deutschen Bund geschaf¬ fen, dem die wichtigsten Gebiete des 1806 vernichteten Heili¬ gen Römischen Reiches angehörten. Die Initiative hierzu hat¬ ten Österreich und Preußen gemeinsam ergriffen. Der einsei¬ tig kleindeutsche Geschichtsunterricht vermittelte seitdem Ge¬ nerationen von jungen Deutschen ein Zerrbild dieses Bundes. Er galt und gilt vielfach noch als antideutsches Instrument Mettemichscher Intrigen, als reaktionäres Ungeheuer oder als handlungsunfähiger Fürstenclub. In der Tat war es ein Fehler gewesen, daß der Wiener Kongreß diesen Bund nicht mit einer verjüngten Kaiserwürde überhöhte, was dem Traum und den Wünschen der Deutschen einen neuen Kristallisationspunkt gegeben hätte. Wir dürfen nicht unterschätzen, daß der Unter¬ gang des tausend Jahre alten Heiligen Reiches, obwohl dieses in seiner Endphase ätzender Kritik preisgegeben war, im Den¬ ken des deutschen Volkes einen Leerraum hinterlassen hatte, der ausgefüllt werden mußte. Angesichts dieses mythischen Problems versagte der wohl geniale, aber rationalistische Met¬ ternich. Hinzu kam erschwerend, daß die innere Ordnung der meisten Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes sicher nicht dem Geist der Zeit entsprach. Immerhin vereinte er in der schwierigen Übergangszeit von 1815 bis 1866 fast alle Deutschen in sich anders als später der Bismarck-Staat, der die deutsche Bevöl-

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kerung der österreichischen Monarchie ausschloß und so die erste große deutsche Teilung herbeiführte. Der Widersinn deutschnationaler Angriffe auf den Deutschen Bund wird am Beispiel Böhmens deutlich. Das Königreich der Wenzelskrone gehörte seit altersher dem Heiligen Römischen Reich an. Die Berge, die den Böhmischen Kessel bilden, um¬ faßten Deutsche und Tschechen, die, von stürmischen Perio¬ den abgesehen, im großen und ganzen friedlich zusammenleb¬ ten. Auch während des Deutschen Bundes blieb das meist so. Doch die mit der Revolution des Jahres 1848 begonnene und 1866 wie 1871 fortgesetzte nationalstaatliche Entwicklung in Mitteleuropa mußte den habsburgischen Vielvölkerstaat in seiner Existenz gefährden und das zweisprachige Böhmen ins Verderben reißen, also auch die Deutschen. Der große tschechische Historiker Palacky sagte das schon 1848 in seinem berühmt gewordenen Absagebrief an den Fünf¬ ziger-Ausschuß zur Vorbereitung der deutschen Nationalver¬ sammlung in der Frankfurter Paulskirche voraus. Er warnte davor, daß ein deutscher Nationalstaat über kurz oder lang zum »Finis Austriae« führen müsse, was die Vorherrschaft der russisch-nationalistischen »Universalmonarchie« in Europa nach sich ziehe. Heute wissen wir, wie prophetisch der Gelehr¬ te war, denn diese russische Universalmonarchie reicht nun in kommunistisch-volksrepublikanischer Form bis an den Böh¬ merwald. Auch Bismarck sah durchaus diese Gefahr. Nach dem Sieg von 1866 war er gegen diejenigen Kräfte, die Öster¬ reich verstümmeln oder vernichten wollten. 1879 sagte er, daß Böhmen in russischer Hand »Deutschlands Verderben, Böh¬ men in unseren Händen aber Krieg ohne Gnade und Unterlaß mit dem russischen Imperium« bedeute. »Sie seher?«, meinte Bismarck, »es ist unser Interesse, daß Österreich lebe.« Trotz dieser Hellsichtigkeit war es gerade der »Eiserne Kanzler«, der mit seinem preußisch dominierten Kleindeutschland das Gleichgewicht in Mitteleuropa zerstörte. Böhmen konnte weder zu einem deutschen noch zu einem

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tschechischen Nationalstaat gehören, ohne daß eine der bei¬ den Nationen, die in ihm lebten, darunter leiden mußte. Das traurige Los der Sudetendeutschen in der 1918 bis 1938 beste¬ henden »tschechoslowakischen« Republik, die Unterdrückung der Tschechen in Hitlers »Protektorat« und die Vertreibung der Sudetendeutschen durch die zweite »Tschechoslowakei« bestätigen die Richtigkeit dieser These. Noch heute würdigt die Geschichtsschreibung die Bedeutung des Krieges von 1866 und seines tragischen Ausganges nicht genügend. Damals und nicht erst 1871 ereignete sich die große Wende im Schicksal Europas. Als der päpstliche Staats¬ sekretär Antonelli von der Niederlage des Deutschen Bundes und seiner österreichischen Präsidialmacht bei Königgrätz hör¬ te, rief er »Casca il mondo«, die Welt bricht zusammen! Denn mit dem Sieg des Nationalismus im deutschen Raum begann der Verfall Europas, das deutsche Reichsvolk wurde seiner Sendung untreu. Die deutsche Abkehr von der großen Idee des christlichen Abendlandes, des »Orbis Europaeus Christia¬ nus«, mußte sich zwangsläufig auf alle Nachbarn verheerend auswirken, denn sie zerstörte die Mitte des Kontinentes. Die sogenannte Erbfeindschaft zwischen Österreich und Preu¬ ßen war ein furchtbarer historischer Irrtum, nicht aber der Ausfluß grundlegender Differenzen zwischen den beiden. Wien wie Berlin trugen Schuld daran. Natürlich hat es in den Zeiten des aufbrechenden Nationalismus Konflikte gegeben, nicht zuletzt, weil sich viele Preußen - keineswegs alle, wie die schon erwähnten konservativen Denker zeigen - in Verken¬ nung der eigenen Lage dem kleindeutschen Geist verschrie¬ ben. Es wurde in Berlin leider nicht erkannt, daß der Nord¬ osten des deutschen Raumes auf Dauer keine nationalistische Fehlentwicklung ertragen kann. Solange Österreich im Deut¬ schen Bund war, bestand ein Gleichgewicht. Als dann Wien im Gefolge der Schlacht von Königgrätz aus Deutschland ver¬ drängt wurde, ging es damit zu Ende. Was sich seither abspiel¬ te, war gleichsam programmiert. Im Bismarck-Reich lag be-

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reits der Kern von Jalta. Ein Flugzeug kann nicht mit einem Flügel fliegen. Wenn diese Fakten durch längere Zeit in Vergessenheit gerie¬ ten, so vor allem, weil in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahr¬ hunderts eine politische Auseinandersetzung der Flistoriker eintrat, die auf beiden Seiten zu einer propagandistischen Ver¬ fälschung der Darstellung der Ereignisse führte. Das galt nicht nur für 1866, sondern man projizierte die Vorurteile des 19. Jahrhunderts in das vorhergehende reichische Jahrtausend und vernebelte so den Blick für dessen nützliche Lehren. Die Verantwortung tragen, um bekannte Namen zu nennen, in Preußen Treitschke, in Österreich Onno Klopp. Beide Wis¬ senschaftler haben trotz ihrer weitreichenden Kenntnisse den Fehler gemacht, der auch heute immer wieder begangen wird, die Vergangenheit im Lichte der jeweiligen Gegenwart zu be¬ urteilen. Dennoch sind die Traditionslinien nicht völlig abgeschnitten. Am Abend der ersten Europawahl vom 10. Juni 1979, als ich für die bayerische CSU ins Europa-Parlament einzog, meinte einer der führenden Politiker dieser Partei, das sei für ihn eine Art Wiedergeburt des Heiligen Römischen Reiches. Man habe nunmehr einen bayerischen Österreicher oder österreichi¬ schen Bayern in Europa. Ich konnte ihm kaum widersprechen, mußte allerdings betonen, daß dies alles schwer denkbar gewe¬ sen wäre, gäbe es nicht den vierten bayerischen Stamm, die Sudetendeutschen. Viele haben die Frage der Vertreibung der Deutschen aus¬ schließlich als ein tragisches politisches Ereignis gesehen oder sich nur mit dessen vordergründigen Auswirkungen, insbeson¬ dere der Politik der Integration und den einmaligen Leistun¬ gen der Heimatvertriebenen, beschäftigt. Man vernachlässigte darüber meist die große geisteschichtliche Bedeutung des Er¬ eignisses. Noch heute kennen wenige die Tatsache, daß nahe¬ zu ein Viertel der Gesamtbevölkerung der Bundesrepublik Deutschland aus jenem mitteleuropäischen Raum stammt, der

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sich zur Stunde direkt oder indirekt unter sowjetischer Okku¬ pation befindet. Ungefähr jeder vierte Bundesbürger hat seine Wurzeln entweder in der alten Donaumonarchie oder aber in dem früheren Preußen, Sachsen oder Thüringen. Das muß das Denken und Planen auch der Bundesrepublik beeinflussen. Erst in der Vertreibung haben viele erkannt, wie falsch die ein¬ seitige österreichische oder preußische Sicht gewesen war, da sie das einigende Band nicht zeigte. Die gemeinsame Tragödie von heute hat zur Folge, daß sich Sudetendeutsche, Pommern, Schlesier und Ostpreußen nun als Landsleute betrachten. Es ist kein Zufall, daß der Freistaat Bayern, der gleich nach dem Krieg die Schirmherrschaft über die Sudetendeutschen übernommen hatte, später ähnliches für die Ostpreußen tat. Hier schließt sich ein Kreis: eine widernatürliche Entwicklung endet. Wegen dieser tiefen gedanklichen Veränderung in der Bun¬ desrepublik Deutschland kann man auch von einem Unter¬ schied zwischen Bonn und Weimar sprechen. Weimar stand in der Kontinuität der nationalistischen Fehlentwicklung. Der Nationalsozialismus mit seiner zur nationalistisch-zentralisti¬ schen Karikatur des Großdeutschen verzerrten Vision füllte später diesen Rahmen, ohne auf viel Gegenwehr zu stoßen. In Bonn demgegenüber lebt ein wenig von der Tradition des al¬ ten Reiches weiter, etwa im betonten Föderalismus. Eine na¬ tionalsozialistische Entwicklung wäre daher in der heutigen Bundesrepublik schwer denkbar. Dazu ist sie viel zu sehr »austrifiziert« worden, nicht im Sinne des Habsburg und Wien hassenden antiösterreichischen Österreichers Hitler, sondern im Geist der übernationalen Reichsgeschichte, die der »Füh¬ rer« verachtete und auslöschen wollte. So gesehen war die Vertreibung nicht, wie so manche glauben, das Ende einer Entwicklung. Sie ist vielmehr ein Neubeginn im Sinne einer sehr alten Überlieferung. Es hat immer wieder eine »Translatio Imperii«, eine Übertragung des Reiches ge¬ geben. Je nach den politischen Bedingungen lag der Schwer-

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punkt in verschiedenen geographischen Räumen, während die Sendung die gleiche geblieben ist. Als der dem reichischen Ge¬ danken fremde nationalistische Staat 1866 und 1871 obsiegte, fand diese Idee ihre Heimat im alten Österreich. Durch die Vertreibung wiederum ist sie in das Herz Deutschlands zuriickgekehrt. Gerade die Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien hat¬ ten dereinst zu den loyalsten Stützen des Heiligen Römischen Reiches und später des großen Österreich gehört. Ihre Treue zur Monarchie war so offensichtlich, daß nicht einmal Bis¬ marck daran dachte, seine Kriegspropaganda an sie zu richten. Es ist bezeichnend, daß die Aufrufe der preußischen Heeres¬ leitung an die Völker Habsburgs, sich gegen ihre Heimat auf¬ zulehnen und mit dem Nationalismus gemeinsame Sache zu machen, nicht ein einziges mal die Deutschen erwähnten, son¬ dern sich an die Tschechen und Magyaren wandten, übrigens auch da mit sehr wenig Erfolg, wie der große Emil Franzei dar¬ stellte. In dieser Perspektive haben die Heimatvertriebenen eine ge¬ waltige Aufgabe. Sie sind eine lebende Brücke zwischen dem Gestern und dem Morgen. Das gilt auch für diejenigen aus Preußen. Der Hohenzollernstaat verkörperte, bevor er im deutschen Nationalismus aufging, auf vorbildliche Weise nicht nur Tugenden wie Pflichterfüllung, sondern war auch eine von einer großen Idee getragene Heimat für Deutsche, französi¬ sche Hugenotten und selbst manche Polen gewesen. Ehemali¬ ge Preußen oder Österreicher haben gerade gegenüber ihren Herkunftsländern die Verpflichtung, die Interessen des ver¬ sklavten Mitteleuropa schon jetzt im Westen zu vertreten. Das ist der Grund, warum die Heimatvertriebenen zu den besten Trägern des Europagedankens zählen. Aus keiner anderen Gruppe ging bei den ersten Europa-Wahlen im Jahre 1979 ein größerer Hundertsatz zu den Urnen. Auch in den europäi¬ schen Organisationen, vor allem in der Paneuropa-Union, sind sie ein wichtiges Element. Sie mußten am eigenen Leib erfah-

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ren, was es heißt, wenn es kein Europa, kein Reich und kein Recht gibt. Sie haben sich daher geschworen, alles zu tun, da¬ mit ihre Kinder nicht das gleiche Schicksal erleiden wie sie. Deutschland schwankte in unserem Jahrhundert wiederholt auf gefährliche Weise zwischen größenwahnsinnigem Vorherr¬ schaftsstreben und schwächlicher Selbstaufgabe. Beides kann nur durch eine reichisch übernationale Haltung überwunden werden. Wenn die Deutschen zu den Vorkämpfern eines euro¬ päischen Bundes gehören, der allein einmal Heimatrecht und Wiedervereinigung garantieren kann, erweisen sie sich ihrer großen Geschichte als Reichsvolk würdig.

Das Zwischenreich

Mit dem Vertrag von Verdun im Jahre 843 teilten drei Enkel Karls des Großen, Kaiser Lothar I., Ludwig der Deutsche und Karl der Kahle, das Frankenreich. Obwohl dieses eigentlich weiterhin eine geistige und rechtliche Einheit bilden sollte, be¬ gann damals die tragische Spaltung in Ost- und Westfranken, die erst die europäische Integrationsbewegung unserer Tage zu überwinden sucht. Zwischen den Vorläufern des heutigen Frankreich und des heutigen Deutschland wurde in Verdun ein merkwürdig langgestrecktes Mittelreich errichtet, das man Lothar, dem ältesten der karolingischen Brüder, übergab. Es dehnte sich von der holländischen Nordseeküste zwischen Rhein und Maas bis hinunter ans Mittelmeer, wo es das alte Burgund - das Arelat - sowie Norditalien umschloß. Zu ihm gehörten nicht nur die Kaiserstadt Aachen und, in gewisser Hinsicht, das päpstliche Rom, sondern auch das Grenzgebiet um Köln, das jetzt noch lothringische Metz, Straßburg, sowie die Regionen, in denen sich heute die Städte Brüssel und Lu¬ xemburg befinden. Dieser Raum war nicht nur kulturell sehr fruchtbar, wie die ein Jahr vor Verdun abgefaßten Straßburger Eide als älteste erhaltene Dokumente in althochdeutscher und altfranzösi¬ scher Sprache beweisen, sondern spielt bis in unsere Zeit eine politische Schlüsselrolle für alle übernationalen europäischen Bestrebungen. Grenzgebiete, und natürlich gerade die zwi¬ schen Deutschen und Franzosen, hatten unter dem Nationalis¬ mus immer besonders zu leiden, brachten aber auch Kräfte hervor, die nach dessen Beseitigung strebten. Obwohl das Reich Lothars schon dem Vertrag von Mersen von 870 zum Opfer fiel, blieb es als geistige Brücke zwischen Ost- und Westfranken bestehen. Die Habsburger als übernationale Dynastie des Heiligen Rö¬ mischen Reiches und der Donaumonarchie entstammten dem 46

einst zu Lotharingen gehörenden Elsaß und blieben dem Zwi¬ schenreich auf schicksalhafte Weise verbunden. Fast genau 200 Jahre, nachdem Rudolf von Habsburg aus dem alemanni¬ schen Raum nach Südosten gezogen war und dort das Haus Österreich gegründet hatte, fiel dieser Herrscherfamilie die burgundische Erbschaft zu. Diese ermöglichte ihr nicht nur den Aufstieg an die Spitze des Abendlandes, sondern veran¬ kerte sie erneut im Gebiet des ehemaligen Lotharingen. Es steht dafür, sich mit dem Phänomen Burgund näher zu be¬ fassen. Der germanische Stamm der Burgunder war um 400 an den Mittellauf des Rheines gewandert. Ihr sagenumwobenes Zentrum soll Worms gewesen sein. 443 wurden sie vom Rö¬ mer Aetius an Saöne und Rhone angesiedelt und mitsamt ihrer Königsstadt Lyon nur 91 Jahre später ins Frankenreich inte¬ griert. In der Nachfolge des fränkischen Lotharingen bilden sich 879 und 888 die Königreiche Hochburgund, das sich bis zum Genfer See erstreckte, und Niederburgund, das soge¬ nannte Königreich von Arles. Unter den Saliern und Staufern lose mit Deutschland oder Italien im Heiligen Römischen Reich verbunden, gerieten sie vom Beginn des 14. Jahrhun¬ derts an mehr und mehr unter französischen Einfluß. Der Name Burgund war unterdessen nordwärts gewandert. Er bezeichnete nun die Landschaft zwischen den Quellflüssen der Seine und dem Jura, die bis heute so heißt und das Herz jedes Weinkenners höher schlagen läßt. Auch dieses Burgund lebte im Spannungsfeld zwischen dem einstigen Ost- und dem einsti¬ gen Westfrankenreich, denn es wurde in das reiche französi¬ sche Herzogtum Burgund und in die gleichnamige Freigraf¬ schaft unterteilt, die zum Heiligen Römischen Reich zählte. Philipp der Kühne aus einem Seitenzweig des französischen Hauses Valois, der ab 1384 Herzogtum und Freigrafschaft in seiner Hand vereinte, war also zugleich ein Lehensmann der französischen wie der römisch-deutschen Krone. Durch seine Heirat mit der Tochter des Grafen von Flandern schuf Philipp der Kühne eine aus vielfältigen Teilen zusam-

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mengesetzte, territorial nicht geschlossene Herrschaft, die vom Ärmelkanal bis an den Genfer See reichte. Mit Flandern und dem 1430 erworbenen Brabant verfügten die burgundischen Herrscher, an deren Hof die ritterliche Kultur des Spät¬ mittelalters blühte wie sonst nirgendwo, über die mächtigsten Wirtschaftszentren Europas. Unter dem letzten Herzog Karl dem Kühnen, der 1477 bei Nancy fiel, war dieses Zwischen¬ reich am Höhepunkt seiner Ausdehnung angelangt. Neben dem französischen Lehen um Dijon, der Freigrafschaft um Besan$on und dem schon erwähnten Flandern beziehungsweise Brabant regierte er in Lothringen, Luxemburg, Limburg, dem Hennegau, der Picardie, dem von den Wittelsbachern geerb¬ ten Holland und Seeland sowie zahlreichen kleineren Gebie¬ ten. Burgund, in dem Deutsch, Französisch und Niederländisch gesprochen wurde, hatte eine funktionsfähige, einheitliche Verwaltung, die dennoch den einzelnen Gliedern des Staatsge¬ bietes ihre Traditionen und Freiheiten ließ. Es war somit ein Vorläufer des modernen europäischen Föderalismus. Die ritterliche und die, in den reichen Handelsstädten mächti¬ ge, bürgerliche Gesellschaft gingen in Burgund, anders als im übrigen Europa, eine fruchtbare Synthese ein. Religiös, gei¬ stig, wirtschaftlich, künstlerisch, literarisch, aber auch im Le¬ bensstil und der kulinarischen Kultiviertheit nahm es keine an¬ dere Region so rasch mit Burgund auf. Im Orden vom Golde¬ nen Vlies, der ritterliche Persönlichkeiten aus dem ganzen Abendland

auf

christlicher

Grundlage

zusammenfaßte,

schenkte es Europa eine übernationale Bruderschaft, die bis heute nicht an eine geographische Oberhoheit gebunden sein darf. Dieses ganze grandiose Erbe ging 1477 auf das Haus Habsburg über, als Kaiser Maximilian, der letzte Ritter, Maria von Burgund heiratete. Über seine Enkel, Karl V., in dessen Reich die Sonne nicht unterging, und Ferdinand I., strömte burgundischer Geist ins »Sacrum Imperium«, in den Donau¬ raum, nach Spanien und von dort in die Neue Welt. 48

Auch in den kritischen Tagen des ausgehenden 17. Jahrhun¬ derts entsprangen dem politisch längst untergegangenen Zwi¬ schenreich, das als ideelle Größe weiterwirkte, frische Kräfte für das Abendland. Es war ein Karl von Lothringen, unter des¬ sen Oberbefehl das europäische Heer 1683 bei Wien die Tür¬ ken schlug. Er förderte einen seiner jungen Soldaten, den Prinzen Eugen von Savoyen. Die Savoyer hatten dort, wo sich Italien und Frankreich überschneiden, an die Vergangenheit des alten Königreiches Burgund angeknüpft und Prinz Eugen, ihrem Seitensproß, fiel die Aufgabe zu, den Habsburgischen Vielvölkerstaat im Donauraum gegen die islamischen Erobe¬ rer zur Großmachtstellung emporzuführen. Als im darauffolgenden Jahrhundert die Habsburger im Man¬ nesstamme aussterben, gründet ihre herausragende Erbin Ma¬ ria Theresia mit Franz Stephan, dem letzten angestammten Herzog von Lothringen, eine neue Dynastie. Dennoch wird das Haus Habsburg-Lothringen, wie es jetzt hieß, bis heute nicht als solche angesehen. Die Lothringer lebten aus den völ¬ kerverbindenden Überlieferungen des Mittelreiches, weshalb sie harmonisch zu den Habsburgern paßten. Zwischen den Vorfahren Maria Theresias und den zahlreichen Nachkom¬ men, mit denen sie und ihr lothringischer Gemahl gesegnet waren, gab es weder einen Bruch der Tradition noch des Stils, der Regierungsmethode oder der Persönlichkeiten. So ist es zu erklären, daß man sowohl unverändert vom Hause Österreich sprach, als auch diese Herrscherfamilie bis heute weder Lo¬ thringer noch korrekt Habsburg-Lothringer, sondern meist einfach Habsburger nennt. Dies ist nicht so selbstverständlich, wie es heute scheinen mag. Andere Häuser verschwanden mit dem Ende des Mannes¬ stammes aus dem Bewußtsein der Völker. Deutlich wird das, wenn man über die häufig geäußerte, gut gemeinte Stamm¬ tischparole nachdenkt, es sei schade, daß Friedrich II. von Preußen und Maria Theresia nicht geheiratet hätten. Abgese¬ hen davon, daß eine solche Lösung aus vielerlei Gründen völ49

lig unmöglich war, hätte diese Ehe das Wesen des Hauses Österreich in sein Gegenteil verkehrt. Die Verbindung mit Lo¬ thringen hingegen erlaubte ihm die logische Fortsetzung seiner Mission. Das Lotharingen des frühen Mittelalters war schon nach weni¬ gen Jahrzehnten verschwunden. Doch immer wieder kam es zum Vorschein, sei es im burgundischen Königreich, in den Herzogtümern Burgund und Lothringen, in den Habsburgi¬ schen Niederlanden oder heute in den Beneluxstaaten. Doch wichtiger als seine wechselnden staatlichen Erscheinungsfor¬ men erwies sich seine geistige Macht, als es nach dem II. Welt¬ krieg darum ging, ein neues Europa zu schaffen. Diese beseel¬ te Konrad Adenauer ebenso wie Robert Schum an, denen wir die deutsch-französische Aussöhnung und die Gründung der Europäischen Gemeinschaften verdanken. Köln, die Heimat¬ stadt Adenauers, zählte einst ebenso zum karolingischen Lo¬ tharingen wie später, im hohen Mittelalter, zum Herzogtum Niederlothringen. Köln und die nahegelegene Bundeshaupt¬ stadt Bonn waren in guten wie in schlechten Tagen stets fran¬ zösischen Einflüssen ausgesetzt, was die europäische Orientie¬ rung des ersten deutschen Bundeskanzlers höchst begreiflich macht. Schuman, als Sohn lothringischer Eltern in Luxemburg geboren und wie seine Vaterstadt Metz einmal zu Deutsch¬ land, einmal zu Frankreich gehörig, personifizierte ebenfalls das Zwischenreich, seine schönsten Werte, aber auch sein im Zeitalter des Nationalismus grausames Schicksal. Schumans Europäertum war also angeboren. Auch ist es kein Zufall, daß General de Gaulle, der stets von der Versöhnung der Fran¬ ken sprach, im Kampf gegen Hitler und bei der Erneuerung Frankreichs unter dem Zeichen des Kreuzes von Lothringen antrat. Als ich 1979 ins europäische Parlament gewählt wurde, begann ich den größten Teil meiner Zeit in Straßburg, Luxemburg und Brüssel zuzubringen. Dort fühlte ich mich mühelos heimisch. In allen drei Europastädten wird nach lothringisch-burgundi50

scher Art französisch und deutsch beziehungsweise flämisch gesprochen. Brüssel erlangte seine Bedeutung als habsburgischer Regierungssitz der Niederlande. Luxemburg schenkte dem Heiligen Römischen Reich die gleichnamige Dynastie, die in Böhmen, Mähren und Schlesien wie in der Mark Bran¬ denburg herrschte und in Karl IV. Beispielgebendes vollbrach¬ te. Mehr als zwei Jahrhunderte zum Hause Österreich gehörig, leistet es auch heute wieder europäische Mittlerdienste. Das drückt sich in seinem Großherzog aus, der in seiner Person das deutsche Fürstenhaus der Nassauer und das französische Kö¬ nigshaus der Bourbonen, Linie Parma, vereint. Die Stadt Straßburg schließlich, die schon zur Zeit Kaiser Lo¬ thars I. und davor eine bedeutende Rolle spielte, dürfte in be¬ sonderer Weise dazu geeignet sein, die europäische Haupt¬ stadt zu werden. In Brüssel und Luxemburg sitzen heute die nationalen Regierungen der entsprechenden EG-Mitgliedsstaaten, die sich als solche in den Dienst der europäischen Idee gestellt haben. Beide Metropolen bieten eine Heimstatt für zahlreiche internationale und europäische Institutionen und sind mit diesen Funktionen, die die nationalen ergänzen, aus¬ gelastet. Straßburg aber hatten zentralistische und nationalisti¬ sche Kräfte jahrhundertelang zum Zankapfel gemacht oder zu einer bedeutungslosen Provinzstadt herabzuwerten versucht. Wenn es sich in den letzten Jahren zu einem politischen Brennpunkt Europas entwickelt, so bedeutet das Hoffnung nicht nur für das leidgeprüfte Elsaß, sondern auch für das in unseren Tagen unverzichtbare geistige Zwischenreich und da¬ mit für ganz Europa.

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Feldherr des Reiches

Des Prinzen Eugen gedenken wir als eines großen Europäers, der, aus dem teilweise burgundisch gefärbten Grenzgebiet zwi¬ schen Frankreich und Italien stammend, in Paris aufwuchs, kaiserlicher Feld- und barocker Bauherr in Wien wurde, als Statthalter in den Niederlanden und in Mailand wirkte, Un¬ garn von den Türken befreite, Belgrad eroberte, sich im Spa¬ nischen Erbfolgekrieg zu schlagen hatte und mit dem bedeu¬ tendsten britischen Kommandeur dieser Zeit eng befreundet war. Eine solche europäische Gestalt ist für das Selbstver¬ ständnis unseres Erdteils unverzichtbar. Das Reich blieb zwischen Karl dem Großen und dem Ende der Napoleonischen Kriege trotz aller Unvollkommenheit eine geistige Energiequelle. Gerade in der ausklingenden Zeit des »Sacrum Imperium« lebten einige Gestalten, die diesen Ge¬ danken noch hinaustrugen. Eine von ihnen war Eugen von Sa¬ voyen, der 1663 als Prinz eines italienisch-französischen Hau¬ ses zur Welt kam. Seine Karriere, derer man sich 1986, am 250. Jahrestag seines Todes, überall in Europa erinnerte, war zuerst einmal darum Ausdruck des Reichischen, weil sich die¬ ses nicht nationalistischer Beschränkung unterwerfen wollte. Das Reich war großzügig genug, jeweils Talente von dort zu holen, wo es sie gab, ohne auf den Zufall ihrer Geburt zu se¬ hen. Dadurch konnte ein savoyischer Prinz französischer Spra¬ che in den Dienst des Habsburger Kaisers treten. Übrigens hat diese übernationale Einstellung bis in unser Zeitalter fortge¬ wirkt: Noch Kaiser Franz Joseph dachte so. Er nahm f>ich ei¬ nen Ministerpräsidenten aus Sachsen und fand seinen besten Sozialpolitiker in Schwaben. In Österreichs Heeren dienten selbst im Ersten Weltkrieg Offiziere anderer Nationalität ne¬ ben den Soldaten, die aus den ohnehin zahlreichen Völkern der Monarchie stammten. Heute wäre das in den meisten Staa¬ ten unvorstellbar. 52

Hier möchte ich eine kurze persönliche Fußnote machen. Ein letztes Reservoir dieses reichisch-übernationalen Gedankens ist in der »Liberalitas Bavarica« zu finden. Der Autor hat seit 1979 die Ehre, Oberbayern im Europa-Parlament zu vertre¬ ten, und ist dabei kein gebürtiger Bayer, sondern stammt aus Österreich. Übrigens kam auch der sozialistische Vertreter der gleichen Region nicht im Freistaat Bayern zur Welt: Der So¬ zialist Jannis Sakellariou ist aus Griechenland. Es zeigt den freiheitlichen Genius des bayerischen Volkes, daß es uns gei¬ stige Gastarbeiter wie selbstverständlich angenommen hat. Eugen von Savoyen verbrachte eine unglückliche Jugend, da seine Familie ihn wegen seiner physischen Schwäche zum Prie¬ ster bestimmte, was er keinesfalls wollte. Im Alter von neun bis neunzehn Jahren mußte er die Soutane tragen. Sein wahres Interesse galt demgegenüber der Strategie, der Geschichte, der Mathematik. Glücklicherweise fand er einen Lehrer, der, anstatt ihm das einzutrichtern, was er ablehnte, ihn in diesen Wissensfächem unterrichtete. Oftmals wird eine unglückliche Jugend für Fehlschläge im späteren Leben verantwortlich ge¬ macht. Bei Eugen von Savoyen, der einen starken Charakter besaß, erwies sich genau das Gegenteil. Die unglückliche Ju¬ gend hat ihn größer und zu dem gemacht, was er heute für Europa bedeutet. Die Wende in seinem Dasein kam, als Ludwig XIV. ihm in arrogantester Weise den Eintritt in die französische Armee verweigerte. Demgegenüber nahm ihn Kaiser Leopold I. in Passau schlicht und freundschaftlich auf und gab ihm die Mög¬ lichkeit, eine militärische Laufbahn einzuschlagen, die zu ei¬ nem geradezu kometenhaften Aufstieg führte. Man beförderte ihn schon mit zwanzig Jahren zum Oberst und mit 22 zum Ge¬ neral. Dabei entsprang das keineswegs einer höfischen Protek¬ tion oder familiären Verbindung. Letztere setzte ihn ganz im Gegenteil mancher bösartigen Intrige aus. Doch sein Talent und sein Mut eröffneten ihm alle Möglichkeiten. Den Durch¬ bruch brachte schon seine Feuertaufe am 12. September 1683 53

in der Schlacht vom Kahlenberg, wo er sich gegenüber dem Türkenheer als derart erfolgreich und mutig erwies, daß ihm der kaiserliche Feldherr Karl von Lothringen die »Goldenen Sporen« verlieh. Die Historiker berichten, daß Eugen von Savoyen keineswegs aus kriegerischer Begeisterung so mutig war. Da von schwäch¬ licher Gesundheit, strebte er eigentlich vor allem nach Sicher¬ heit und Leben, spielte also keineswegs den Abenteurer. Sein Heldentum blieb stets mit kühlem militärischem Kalkül ge¬ paart. So erwarb er sich in kürzester Zeit ein militärisches Charisma - das, was die Araber »Baraka« nennen, ein Schick¬ salsglück, das anscheinend unverwundbar macht. Seine Kalt¬ blütigkeit verschaffte ihm einen gewaltigen Ruf. So ist es nicht erstaunlich, daß er bereits kurz darauf im Ungarn-Feldzug ei¬ ne prominente Rolle spielte. Ihm gelang es, Belgrad nach dem Angriff von Mustafa Pascha einzunehmen, vor allem dank der Klarsicht des Helden von Wien, Emst Rüdiger von Starhem¬ berg, der ihn als Präsident des Hofkriegsrates mit der Befehls¬ gewalt in Ungarn betraut hatte. Dies glich damals einem Him¬ melfahrtskommando, weil das kaiserliche Heer den Türken kräftemäßig sehr unterlegen war. Da zeigte sich das militäri¬ sche Genie Eugens in einer der glorreichsten Schlachten des Prinzen bei Zenta a. d. Theiss, wo 30000 Kaiserliche 100000 Türken besiegten. Kaum war dieser Erfolg errungen, bewies Eugen wieder jene Kaltblütigkeit, die ihn charakterisierte. Er drang jetzt auf einen Frieden mit den Türken, der zu Karlowitz 1699 geschlossen wurde und zum ersten Mal zu einem echten Ausgleich mit der Hohen Pforte, dem türkischen Hof, geführt hat. * Dafür war es auch höchste Zeit, denn durch den Tod König Karls II. von Spanien brach der Spanische Erbfolgekrieg aus, der Kampf zwischen den Hegemonialgelüsten der Bourbonen und der Habsburgischen Monarchie. In dieser Auseinander¬ setzung besaß der kaiserliche Oberkommandierende zunächst den entscheidenden Vorteil, über englische Verbündete zu

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verfügen, die mit wesentlich größeren materiellen Möglich¬ keiten ausgestattet waren als er. Das bewies besonders der Sieg von Höchstädt, den er zusammen mit Marlborough über die französischen Heere erfocht. Damals entstand die lebens¬ lange Freundschaft zwischen dem Briten und dem Prinzen von Savoyen. Kurz darauf ernannte ihn sein Kaiser zum Präsidenten des Hofkriegsrates und des Geheimen Rates. Eugen nützte dies aus, um wesentliche Verbesserungen in der Armee herbeizu¬ führen, unberechtigte Privilegien zu beseitigen und eine Struk¬ tur zu schaffen, die tatsächlich der eines modernen Heeres ent¬ sprach. Man wirft Eugen von Savoyen vor, seinen gewaltigen Einfluß nicht auch zu inneren Reformen der Donau-Monar¬ chie verwendet zu haben. Leider war ihm dies aus einem Grund nicht möglich: Dafür hätte man Frieden und Geld gebraucht. Beides fehlte Österreich. So mußte der Kampf weitergehen, wobei Eugen von Savoyen eine besondere Ge¬ nugtuung empfand, als er in der Schlacht von Superga den savoyardischen Truppen beim Entsatz von Turin gegen die Franzosen zur Hilfe kam. 1705 starb Kaiser Leopold und seine Nachfolge trat Joseph I. an, der sich dem Prinzen in tiefer Freundschaft verbunden fühlte. Es war eine seiner großen Tragödien, daß Joseph I. schon 1710 verschied und die Möglichkeit, den Spanischen Erbfolgekrieg mit einem konstruktiven Frieden zu lösen, an den allzu harten Bedingungen scheiterte, die Josephs Nach¬ folger Karl VI. stellte. Gleichzeitig erfolgte die Ernennung eines großen Soldaten, des Marschall de Villars, zum Ober¬ kommandierenden der französischen Armee. Damit entstand etwas ziemlich Einmaliges. Obwohl Villars einer der härtesten Gegner war, mit denen Eugen kämpfen mußte, blieb gerade er ihm in persönlicher Freundschaft verbunden. Einen schweren Schlag versetzte Eugen die Entlassung Marlboroughs durch ein wetterwendisches englisches Parlament, die trotz seiner Blitzreise nach London, die den Briten hätte

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retten sollen, erfolgte. 1714 kam es zum Frieden von Rastatt, der weitgehend zwischen den befreundeten Feinden Villars und Eugen von Savoyen ausgehandelt wurde und tatsächlich zu den konstruktiveren Friedensverträgen in jener Zeit gehörte. 1715 starb Ludwig XIV., des Kaisers und Eugens schlimmster europäischer Widersacher. Unter Ludwig XV., einem Kind, blieb Frankreich schwach, so daß Eugen vorschlug, gegen die Türken, die offensichtlich neue Angriffe auf das Reich plan¬ ten, vorzugehen. Letztere besaßen noch immer eine doppelte Übermacht. Trotzdem gelangen Eugen die beiden gewaltigen Siege von Peterwardein und Belgrad. Die Schlacht von Bel¬ grad besingt nicht nur das Prinz-Eugen-Lied, sondern sie ist tatsächlich weitgehend die Geburtsstunde des österreichisch¬ ungarischen Staates, der Mitteleuropa zweihundert Jahre sta¬ bilisierte. Nach diesem Sieg war übrigens die von Eugen mit Abstand am meisten geschätzte Gratulation diejenige seines früheren französischen Gegners Marschall de Villars. Der Kampf gegen die Türken endete mit dem Abkommen von Passarowitz, dem letzten großen Friedenswerk des Prinzen. Aus den Erfolgen von Wien bis Passarowitz ergab sich dann die große Aufgabe, den durch die fremde Besetzung verwüste¬ ten Donauraum wieder aufzubauen. Diese fiel an erster Stelle dem Heiligen Römischen Reich zu. Niemand wird die heroi¬ schen Leistungen der Magyaren und Polen mindern wollen, man muß aber feststellen, daß ohne das Reich und seinen Ein¬ satz Wien verlorengegangen wäre. Die ganze europäische Ge¬ schichte hätte damit eine andere Richtung erhalten. Da ein Gegenangriff nicht auszuschließen war, mußten die weithin entvölkerten Landstriche ohne Verzug besiedelt werden, um die wiedergewonnenen Gebiete zu sichern. Diese Aufgabe konnte die Armee nicht erfüllen; sie brauchten die Stütze ei¬ ner fleißigen und zuverlässigen Bevölkerung vor allem von Bauern, die damals wie heute Schützer und Erhalter des Bo¬ dens sind. Mit der Aufgabe, einen Schutzwall für das christliche Abend-

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land zu errichten, haben die Habsburger deutsche, vor allem schwäbische Siedler betraut. Der Griff war richtig, haben sich diese doch durch Fleiß, Mut und echte Frömmigkeit ausge¬ zeichnet. Sie uaben das in sie gesetzte Vertrauen gerechtfer¬ tigt. Das verwüstete Land blühte auf, und die Dynastie konnte stets mit der Zuverlässigkeit und Treue der Donauschwaben oder Siebenbürger Sachsen rechnen, um nur einige zu nennen. Zweieinhalb Jahrhunderte hat das Volk seine Sendung erfüllt - bis ein neuer Einbruch aus dem Osten einem Teil davon seine Heimat raubte und viele Südostdeutsche zwang, dorthin zurückzukehren, woher sie gekommen waren. Hier haben sie wieder gezeigt, daß die alten Tugenden nicht verschwunden sind. Wie ihre Ahnen haben sie erneut mutig angepackt und entscheidend zum deutschen Wunder nach dem Zweiten Welt¬ krieg beigetragen. Seit Passarowitz durfte Eugen von Savoyen zum ersten Mal in seinem Leben in Ruhe das tun, was ihn nebst dem militäri¬ schen Handwerk am meisten interessierte. In seinen Residen¬ zen in und bei Wien widmete er sich nunmehr der Entwicklung der letzten großen reichischen Kultur, des Barock. Noch heute sieht man in Österreich all das, was der Prinz den nachkom¬ menden Generationen geschenkt hat. Seine Bauwerke sind die Glanzstücke dieses Stils. Ihre Architekten, Fischer von Erlach und Hildebrandt, waren die wohl bedeutendsten Baumeister des Barock. Eindrucksvoll sind auch des Savoyers Sammlun¬ gen von Stichen, die in ihrer Zeit zu den besten Europas zähl¬ ten. Dazu kam seine Begeisterung für historische Dokumente. So erwarb er zum Beispiel die »Tabula Peutingeriana« für 30000 Gulden, damals eine gewaltige Summe, weswegen ihn Wiener höfische Kreise heftig kritisierten. Heute, im Rück¬ blick, erkennt man, welch unendliche Werte der Prinz geschaf¬ fen hat und wie kleinmütig die Kritiker waren. Das erinnert übrigens an künstlerische Projekte anderer Mäzene, die gleichfalls in ihrer Zeit nicht geschätzt wurden und heute den Nachfolgern sehr viel geben, wie etwa die der Wittelsbacher.

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So ist der große Kriegsheld und bedeutendste Diplomat seiner Zeit auch zum wahrscheinlich wichtigsten Kunstförderer sei¬ ner Epoche, also des ersten Drittels des XVIII. Jahrhunderts, geworden. Er war tatsächlich, gerade weil er reichisch einge¬ stellt war, ein »Uomo Universale« - eine Sorte Mensch, von der wir in unseren Tagen viel zu wenig haben. Prinz Eugen starb in der Nacht vom 20. auf den 21. April 1736, vor mehr als 250 Jahren. Seine Erinnerung ist heute lebendiger denn je. Wenn man die zahlreichen neuen Geschichtsbücher über ihn liest, nicht zuletzt die ausgezeichnete Studie von Ur¬ banski, wird man feststellen, daß wahrscheinlich der treibende Grund dieser Anerkennung für Eugen von Savoyen die unter¬ schwellige Sehnsucht der Europäer nach dem Reich ist. Hier wurde klar gedacht, Politik im Großen gemacht, hier hat man sich nicht in die kleine Enge des nationalstaatlichen Denkens einsperren lassen. In Eugen finden wir tatsächlich noch die alte Tradition, die von Karl dem Großen über Karl V. auf unsere Zeit herübergekommen ist.

Reich im Donauraum

Selbst gewisse sozialistische und alternative Kreise in Öster¬ reich gedenken heute nostalgisch der zerstörten Donaumonar¬ chie. Die Menschen in Norditalien feiern Kaiser Franz Joseph mit Volksfesten, gerade den Herrscher, den ihre irredentistischen Vorfahren erbittert bekämpft hatten. In Ungarn stellt man abgetragene Denkmäler österreichisch-ungarischer Herr¬ scher wieder auf, tschechische und slowakische Wissenschaft¬ ler beginnen sich von nationalistischen und klassenkämpferi¬ schen Propagandapamphleten gegen den alten Donaustaat zu distanzieren, um sich ernsthafter Forschung zu widmen. In den Schaufenstern österreichischer Buchhandlungen bestim¬ men Titel über die kaiserliche Zeit Mitteleuropas oftmals das Bild. Wer hinter all dem nur die Rückwärtsgewandtheit ewig Gestri¬ ger, eine romantische Flucht aus der Realität oder süßliche Fremdenverkehrsklischees

vermutet,

wird

den

Tatsachen

nicht gerecht. Die Donauvölker hatten den Zusammenbruch der alten Gemeinschaft zumindest im Unterbewußtsein bis heute nicht verkraftet. Die Menschen fühlen, daß ihre Heimat seit 1918 zu keiner wirklichen Ordnung gefunden hat. Sie pro¬ testieren dagegen, indem sie sich in augenfälliger Weise mit der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg befassen. Natürlich gab es auch damals weder eine heile Welt noch ein politisches System ohne Mängel. Aber gerade die Skandale, die Österreich und Italien in jüngster Zeit erschüttert haben, sowie die viel kras¬ seren Mißstände in den kommunistischen Donaustaaten schei¬ nen zu beweisen, daß mit dem Ende des Habsburger Reiches für viele auch das Ende der Rechtssicherheit gekommen war. Skandale gab es damals auch, doch hat man sie in der vorbild¬ lich korrekten Verwaltung der Franzisko-Josephinischen Aera nach strengeren Maßstäben beurteilt, als man sie heute anlegt. Sie wurden in der Regel auch rasch beseitigt. Das in Kaiser

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Franz Joseph verkörperte Pflichtgefühl des alten Staates erfa߬ te damals auch die Menschen in den entlegensten Provinzen. In der Reichshauptstadt Wien wurde ein Minister für Ver¬ säumnisse seiner Beamten zur Rechenschaft gezogen, die heu¬ te nicht einmal eine schönfärberische Pressekonferenz des Ressortchefs nach sich ziehen würden. Für Minderheiten und Volksgruppen wie die Juden oder die im Donauraum und in Böhmen verstreut siedelnden Deutschen bedeuteten die Er¬ eignisse von 1918 nur wenige Jahrzehnte später den Verlust ih¬ rer gesicherten Existenz. Millionen kamen um, Millionen wur¬ den vertrieben. Die internationale Geschichtsschreibung hat die Diffamierung der Monarchie als eines künstlichen, von der Dynastie zusam¬ mengeheirateten oder eroberten »Völkerkerkers« längst wi¬ derlegt. Der Habsburger Staat, der nach dem Ausgleich von 1867 Österreich-Ungarn genannt wurde, war eine strategische Notwendigkeit, nicht nur für die vielen kleinen Völker, die in ihm Schutz fanden, sondern darüber hinaus für ganz Europa. Ein Blick auf die Karte beweist uns das noch heute. Das Karpaten-Sudetenbecken umfaßt einen bunten Völkerteppich, bildet aber eine wirtschaftliche und geopolitische Einheit. Kar¬ paten und Sudeten waren von alters her eine Hauptverteidi¬ gungslinie unseres Kontinents. Sie beherrschten von Süden her Deutschland und Polen und bedrohten jede Invasion, die die nordeuropäische Ebene durchkreuzen könnte, in der Flan¬ ke. Im Osten überdachen die Siebenbürger Alpen die Mol¬ dauebene, den einzigen Zugangsweg zum Balkan. Im letzten Jahrhundert wurden Eroberungspläne Rußlands durch die ein¬ fache Maßnahme aufgehalten, daß Wien seine Truppen in Sie¬ benbürgen mobilisierte. Die Armee des Zaren mußte damals den Plan aufgeben, bis Konstantinopel vorzustoßen, weil sie ihre Verbindungslinien gefährdet sah. Diese Gegebenheiten führten dazu, daß den Völkern des Donauraumes die Verteidi¬ gung Europas gegen den türkischen Ansturm oder die Inva¬ sion aus dem Osten zukam. Einer solchen weltstrategischen

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und historischen Aufgabe konnten die in dieser Region leben¬ den Tschechen, Deutschen, Magyaren, Slowaken, Kroaten und die anderen Völker nur in einer übernationalen Einheit gerecht werden. Schon Albrecht II., der vierte Habsburger auf dem deutschen Thron, hatte im 15. Jahrhundert Böhmen und Ungarn mit den habsburgischen Erblanden vereinigt. Doch erst durch den Erbvertrag zwischen Habsburgern und Jagellonen aus dem Jahre 1491 und den Tod des letzten Jagellonenherrschers Lud¬ wig II. in der Schlacht bei Mohäcs gegen die Türken fallen die böhmische Wenzelskrone wie die ungarische Stephanskrone endgültig an das Haus Österreich. Wenn auch der größte Teil Ungarns zunächst mehr als hundert Jahre lang unter türkische Fremdherrschaft geriet, so blieben doch die Rechtstitel und das Zusammengehörigkeitsgefühl lebendig. Dies ermöglichte es den Habsburgern nach dem Sieg über die Türken 1683 bei Wien und den Befreiungsfeldzügen des Prinzen Eugen, end¬ lich Österreich, Böhmen und Ungarn zu einer übernationalen Föderation zusammenzuschweißen, die bis 1918 fortbestanden hat. Dies kann auch unserer Zeit eine Lehre sein. Wir dürfen we¬ der unsere Rechtsansprüche noch unser Gemeinschaftsbe¬ wußtsein bezüglich des anderen Teiles Deutschlands und Eu¬ ropas aufgeben, weil der Wandel das Grundgesetz der Ge¬ schichte ist. Eines Tages werden die Völker hinter dem Eiser¬ nen Vorhang Freiheit und Selbstbestimmung wiedererlangen. Bis dahin müssen wir ihnen nach Kräften helfen, ihre europäi¬ sche Identität zu bewahren, wie dies den Ungarn unter der islamischen Fremdherrschaft gelang.

Wir sind dazu ver¬

pflichtet, gegenüber den Entnationalisierungs- und Unterdrückungsmaßnahmmen der kommunistischen Regime klar aufzutreten und durch Exilschulen oder Freiheitssender wie Radio Free Europe, die Deutsche Welle, BBC oder Radio France International, zur Kulturbewahrung der Versklavten beizutragen.

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Das Haus Österreich stieg unter den drei Kaisern, denen Prinz Eugen diente, Leopold I., Joseph I. und Karl IV., zu einer Großmachtstellung auf. Dies beweist ebenso wie die Tatsache, daß unter den nächsten drei Herrschern, Maria Theresia, Jo¬ seph II. und Leopold II., tiefgreifende Reformen durchgeführt wurden, daß ein Vielvölkerstaat zu grandiosen Leistungen fä¬ hig ist. Durch das Haus Österreich geriet der Donauraum in den Brennpunkt übernationaler Einflüsse. Nicht nur die Tra¬ dition des Heiligen Römischen Reiches spielte dabei eine Rol¬ le, sondern damb zusammenhängend das Erbe Burgunds, Spa¬ niens oder Lothringens. Zweisprachige Länder wie Böhmen, Mähren, Schlesien, Stei¬ ermark und Kärnten schlugen die Brücke zwischen Deutschen und Slawen. Das von Deutschen, Italienern und Ladinern be¬ siedelte Tirol übernahm die Vermittlung zwischen Nord und Süd. Nach dem für die Monarchie sicher verhängnisvollen Aus¬ gleich des Jahres 1867, der Österreich und Ungarn zu getrenn¬ ten Reichshälften machte, versuchten einige der bedeutend¬ sten Köpfe, den Gegensatz zwischen Wien und Budapest da¬ durch zu erklären, daß ersteres die übernationale Tradition des Heiligen Römischen Reiches, letzteres einen zentralisier¬ ten Nationalstaat verkörpert habe. Niemand kann bestreiten, daß die Lösung von Nationalitätenproblemen in Österreich besser voranschritt als in Ungarn, das von heftigen Konflikten zwischen den herrschenden Magyaren auf der einen, den Sla¬ wen wie Rumänen auf der anderen Seite erschüttert wurde. Doch gerade auch Ungarn, das formell nie zum Heiligen Rö¬ mischen Reich gehörte, hat seine übernationale Vergangen¬ heit, auf die es stolz sein kann. Die Magyaren waren, histo¬ risch gesprochen vor relativ kurzer Zeit, aus Asien ins Herz Europas gekommen. In wenigen Generationen wurden sie ins Abendland integriert. Wahrscheinlich war es eine der wichtig¬ sten Taten der europäischen Geschichte, als der große König Ungarns, der heilige Stephan, zur Bekräftigung der Christiani-

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sierung seines Reiches um eine Krone aus altem christlichem Raum ansuchte. Zwei solche Zeichen der Herrschaft wurden ihm angetragen: aus Rom und aus Byzanz. Weit über die sym¬ bolische Bedeutung des Aktes hinaus stellt sich in diesem Au¬ genblick an Ungarn die Schicksalsfrage: Osten oder Westen? Indem der heilige Stephan die Krone des Byzantiners aus¬ schlug und sich dafür jene des Papstes in Rom aufs Haupt set¬ zen ließ, hat er das Schicksal seines Volkes nach Westen orien¬ tiert und damit ein für allemal festgelegt. Der heilige Stephan war es, der weise für ein übernationales Gebilde im Donau¬ raum eintrat und in seinem Testament davon sprach, daß ein Staat, der nur eine Nation und eine Sprache in seinen Grenzen habe, arm und bedauernswert sei. Er wollte damit nicht nur die seiner Krone unterstellten slawischen Völker schützen, sondern brachte auch bewußt Deutsche in den Donauraum, die das Land nicht überfremden, sondern zur Blüte bringen sollten. Er handelte, ebenso wie die großen slawischen Könige in Böhmen, in der richtigen Erkenntnis, daß Vielfalt Reichtum für alle bedeutet. Das ist nicht nur im kulturellen Leben so, sondern auch in der Politik. Die Geschichte zeigt uns, welche Gefahren von zen¬ tralisierten Nationalstaaten ausgehen. Ein Vielvölkerstaat, in dem ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den einzelnen Na¬ tionen besteht, ist schon durch seine Natur gezwungen, fried¬ fertig zu sein. Die Schweiz ist dafür ein klassisches Beispiel, da sie neben den Rätoromanen aus Deutschen, Franzosen und Italienern besteht, also mit Deutschland, Frankreich und Ita¬ lien Frieden und Ausgleich sucht. Kaum jemand ahnt, wie bunt die Völkerwelt der Monarchie war. Neben den Deutschen Österreichs und Ungarns, den sonst nur noch mit den Finnen verwandten Magyaren, den Ita¬ lienern und Rumänen, existierten kleine Gruppen, wie die schon erwähnten Ladiner, die Einwohner Friauls oder die jid¬ disch sprechenden Juden. Die Slawen gliederten sich nicht nur in Tschechen, Slowaken und Polen, auch die Slonsaken, die

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Wasserpolaken, Ruthenen, Huzulen, Bulgaren oder Goralen pochten auf Eigenständigkeit. Selbst die mährischen Tsche¬ chen legten Wert darauf, sich von denen in Böhmen zu unter¬ scheiden. Weiter im Süden ließen sich zwar Slowenen, Kroa¬ ten und Serben leicht auseinanderhalten, doch zerfielen etwa letztere in eine orthodoxe Mehrheit und eine katholische Min¬ derheit, was nicht nur die konfessionellen, sondern auch die nationalen Verhältnisse weiter komplizierte. In Bosnien sta¬ chen besonders die dort lebenden Mohammedaner hervor. Diese standen loyal zum katholischen Herrscherhaus und glie¬ derten sich erstaunlich harmonisch in das Gesamtgefüge der Monarchie und ihrer Armee ein. Dessen sollte man sich erin¬ nern, wenn in unseren angeblich weltanschaulich neutralen Staaten panische Angst vor dem Islam geschürt wird. Angesichts dieser schwierigen Lage mußte es im vorigen und erst recht in unserem Jahrhundert unter dem Einfluß der Fran¬ zösischen Revolution, des Liberalismus und der deutschen Ro¬ mantik, die den Nationalismus entstehen ließen, zu Krisen kommen. Österreich stand gegen Ungarn. Deutsche stritten sich mit Tschechen, Slowenen und Italienern. In Galizien prallten Polen und Ruthenen aufeinander. In Ungarn rebel¬ lierten Slowaken, Rumänen, Kroaten oder Serben, um nur einige zu nennen, gegen die Vorherrschaft der Magyaren. Auch Italiener und Kroaten bzw. Slowenen hatten ihre Pro¬ bleme miteinander. Hier konnte nur die übernationale Krone schlichten, was mit unterschiedlichem Erfolg gelang. Der vom Reichstag von Kremsier verabschiedete, aber nicht verwirk¬ lichte Verfassungsentwurf enthielt einen Artikel, der sämtli¬ che Völker und Volksgruppen der Monarchie, unabhängig von ihrer zahlenmäßigen Stärke, gleichstellte. Er wurde in sämtli¬ che späteren Grundgesetze bis 1918 übernommen, galt aber nach dem Ausgleich von 1867 praktisch nur noch für die öster¬ reichische Reichshälfte. Man hat Kaiser Franz Joseph oft vor¬ geworfen, dafür keine Ausführungsbestimmungen erlassen zu haben. Obwohl sicher auch die Regierung Versäumnisse be-

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ging, muß man die Schuld in hohem Maße dem österreichi¬ schen Parlament zuschreiben, das in sich so zerstritten war, daß zahlreiche vernünftige Entwürfe der Krone an der Ob¬ struktion der einen oder der anderen Seite scheiterten. Kaiser Franz Joseph, der nach seinen absolutistischen Jugendjahren konstitutionell regierte, konnte sich nicht einfach über die Volksvertretung hinwegsetzen. Dennoch war seine lange Regierungszeit von Reformen ge¬ prägt, die den einzelnen Völkern zunehmend nationale Entfal¬ tung ermöglichten, wenn auch etliche Versuche fehlschlugen. Als der Kaiser in den Jahren 1905 bis 1907 das allgemeine und gleiche Wahlrecht durchsetzte, erhoffte er sich von diesem Schritt eine Zusammensetzung des Parlamentes, die sich mehr den brennenden Soziaifragen widmen würde als dem seiner Ansicht nach fruchtlosen nationalen Volkstumskampf. In der Tat lösten Christlich-Soziale und Sozialdemokraten schon bei der ersten gleichen Wahl 1907 die alten Parteien ab. Doch die nationalistische Agitation dauerte an, zumal das allgemeine Wahlrecht für Ungarn an der im Budapester Parlament herr¬ schenden Schicht scheiterte. Auf regionaler Ebene, in einzelnen Kronländem, entstanden Regelungen zwischen den dort lebenden Volksgruppen, die heute noch als vorbildlich gelten dürfen. Nicht zu Unrecht nannte der Dichter Hebbel Österreich eine kleine Welt, in der die große ihre Probe hält. Der Mährische Ausgleich des Jahres 1905 zwischen den dortigen Deutschen und Tschechen war deshalb so bedeutsam, weil er das neuzeitliche Territorialitäts¬ prinzip zugunsten der altreichischen Personalität teilweise wie¬ der aufgab. Eine deutsche Mehrheit in einem Wahlbezirk soll¬ te nicht mehr die tschechische Minderheit einfach zahlenmäßig überflügeln können oder umgekehrt Deutsche und Tschechen wählten in national getrennten Kurien eine feststehende Zahl von Abgeordneten ihrer Nationalität. Wahlkämpfe sollten da¬ mit künftig nicht mehr Ausdruck des Sprachenstreites sein. Die Gemeinden durften selbst ihre Amtssprache bestimmen,

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mußten aber Eingaben auch in einer anderen Landessprache immer annehmen und meist in dieser erledigen. Zudem erhiel¬ ten beide Nationalitäten das Recht, ihre Schulverwaltung au¬ tonom zu regeln. Ein ähnlicher Ausgleich erfolgte 1910 in der Bukowina, dem Buchenland, in dem Deutsche, Juden, Rumänen und Ruthenen friedlich zusammenlebten. Heute ist dieses einst so idylli¬ sche Land zwischen der Sowjetunion und Rumänien geteilt, die Deutschen wurden vertrieben, die Juden ermordet oder in alle Winde verstreut. Ruthenen und Rumänen sind unter¬ schiedslos der kommunistischen Gleichmacherei unterworfen, wobei sie im sowjetischen Teil noch dazu entnationalisiert werden. Dabei hatte gerade die von Kaiser Franz Joseph ge¬ gründete Universität in Czernowitz nicht nur die nationale, sondern auch die religiöse Vielfalt des Buchenlandes widerge¬ spiegelt. In diesem Raum gab es zum erstenmal eine Fakultät für griechisch-orientalische Theologie. Von den 1198 Studen¬ ten des letzten österreichischen Friedensjahres 1913/14 waren 431 Juden und etwa drei Fünftel griechisch-orientalische Chri¬ sten. Hinzu kamen katholische, evangelische sowie eine Hand¬ voll armenische Christen. Das Modell Mährens und der Bukowina konnte wegen des Krieges und des damit verbundenen Endes der Monarchie nicht weiter verfolgt werden. Die angeblichen Nationalstaa¬ ten, die von den Siegermächten geschaffen wurden, bestanden ebenfalls aus den verschiedensten Völkern, da die Nationen im Donauraum nicht in scharf voneinander abgegrenzten und geschlossenen Sprachräumen lebten, sondern in miteinander verzahnten gemischten

Gebieten und

Sprachinsel^.

Alle

Grenzen mußten also zwangsläufig künstlich sein und Unzu¬ friedenheit auf beiden Seiten der Trennungslinie schaffen. Diese entlud sich schließlich im Nationalismus des Zweiten Weltkrieges und der ersten Nachkriegszeit, als man das Pro¬ blem durch Vertreibung oder Unterdrückung zu »lösen« be¬ gann. Der hoffnungsvolle Ansatz des mährischen Ausgleichs

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hingegen wurde erst in unserer Zeit, etwa zur Bewältigung des belgischen Sprachenstreits, wiederentdeckt. Die kommunistische Herrschaft im Donauraum hat die dorti¬ gen Volksgruppen-Fragen zunächst gewaltsam überdeckt, doch brodeln sie im Untergrund weiter. Speziell der Streit zwi¬ schen Ungarn und Rumänen um das von magyarisch sprechen¬ den Szeklem, Deutschen und Rumänen bewohnte Siebenbür¬ gen ist in den letzten Jahren wieder heftiger geworden und trat z.B. bei der KSZE-Kultur-Konferenz 1985 in Budapest zu Tage. Das beweist, daß es richtiger gewesen wäre, die Ver¬ suche des ersten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts nicht brutal abzubrechen, sondern sie im Interesse der Menschen fortzu¬ setzen. Man hört oft die Behauptung, im Zeitalter des Nationalismus wäre der Zerfall Österreich-Ungarns zwangsläufig gewesen. Auch ohne Anstoß von außen sei das Reich dazu verurteilt ge¬ wesen, von innen her zu zerfallen. Von neueren Historikern werden solche Thesen zunehmend zurückgewiesen. Die Völ¬ ker des so lange totgesagten Staates kämpften zwischen 1914 und 1918 tapfer für seine Bewahrung. Die tschechischen De¬ serteure aus der österreichisch-ungarischen Armee waren zah¬ lenmäßig unbedeutend, bis die Verschlechterung der militäri¬ schen Lage der alliierten Propaganda zu Hilfe kam, die den Tschechen im Falle ihrer Loslösung von Wien den Status eines Siegers versprach. Doch wissen wir heute, daß führende tsche¬ chische Politiker in der Heimat und im Exil, selbst Masaryk und BeneS, bis ins Jahr 1918 hinein nicht an ein Ende der Do¬ nau-Monarchie glaubten. Drei Jahre vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges schrieb Professor Seton-Watson, der später einer der geistigen Väter der »Tschechoslowakischen« Republik wurde, über den tschechischen Nationalisten Thomas G. Ma¬ saryk: »Zu freiheitlich, um ein Panslawist im russischen Sinne zu sein, glaubt er an die österreichische Sendung und an eine große Zukunft der Slawen unter der Herrschaft der Habsbur¬ ger.« Die Times meldete, daß es Kroatien war, »welches

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Österreich-Ungarn jene Truppen gab, die am allerlängsten am Isonzo und am Karst aushielten.« Die Magyaren, Slowaken, Polen und Deutschen der Monarchie standen ebenso zur Kro¬ ne wie die kleineren Völker. So läßt sich sagen, daß das Reich trotz gewisser Symptome des Verfalles und nationalistischer Streitigkeiten lebensfähiger war, als seine Feinde hofften. Bezeichnend ist, daß die nach 1918 geschaffenen Nachfolge¬ staaten im Donauraum angesichts des Ansturmes der hitlerischen Truppen eine ähnliche Widerstandskraft nicht besaßen. Die Tschechoslowakei zerbrach kampflos, Österreich ging in Deutschland auf, ohne daß ein Schuß gefallen war. Jugosla¬ wien löste sich nach nur viertägigen Kriegshandlungen in seine nationalen Bestandteile auf. Rumänien und Ungarn, von inne¬ ren Krisen geschüttelt, standen einander feindselig gegenüber, so daß sie in den Sog zuerst der deutschen, später der sowjet¬ russischen Übermacht gerieten. Polen wehrte sich heldenhaft, war jedoch dem Angriff nicht gewachsen. Als nach 1945 der Großteil des Donau-Karpatenbeckens unter kommunistische Gewaltherrschaft geriet, erwies sich endgültig, daß das Fehlen eines übernationalen Zusammenschlusses für die Donauvölker verhängnisvoll gewesen war. Der Tscheche Jiri Pelikan, ein »Reformer« des »Prager Früh¬ lings« von 1968 und seit 1979 sozialistischer Abgeordneter sei¬ ner italienischen Exilheimat im Europaparlament, hat einmal darauf hingewiesen, daß es während der letzten Jahrzehnte der Monarchie in Böhmen Arbeiterrechte und Parteienvielfalt gegeben habe, ganz im Gegensatz zu heute. In diesen Worten Pelikans, der alles andere als ein Monarchist ist, schwingt nicht nur Trauer über die derzeitigen Zustände in Prag mit,'sondern auch das Bewußtsein, daß der Kaiserstaat zeitgemäßer war, als seine späteren Kritiker behaupteten. Kaiser Franz Joseph hat¬ te aus der religiösen Verankerung seines Amtes heraus ein besseres Verständnis für die sozialen Probleme der ausbre¬ chenden industriellen Revolution als die meisten Persönlich¬ keiten der damals führenden Schicht. 1871 brachte er den Tü-

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binger Soziologen Professor Schäffle nach Österreich, einen sogenannten »Katheder-Sozialisten«, und beauftragte ihn mit der Vorbereitung von Reformen. Der österreichische Histori¬ ker und Journalist Hermann A. Griesser listet in seinem 1986 erschienenen Buch »Konfisziert - Österreichs Unrecht am Hause Habsburg« die wichtigsten sozialen Errungenschaften aus der Westhälfte der Monarchie auf: 1887 wurde die Unfall¬ versicherung der Arbeiter eingeführt, 1888 die Krankenversi¬ cherung für Arbeiter, 1888 außerdem die Kinderarbeit verbo¬ ten. 1883 erfolgte die Bestellung von Gewerbeinspektoren zur Kontrolle der Betriebe. 1917, das erste Regierungsjahr Kaiser Karls, brachte Österreich den Mieterschutz und das erste So¬ zialministerium der Welt. Zwei im kommunistischen Ungarn lebende und lehrende Hi¬ storiker, Imre Gonda und Emil Niederhauser, veröffentlichten im Jahre 1978 in der Volksrepublik ihr Werk »Die Habsbur¬ ger«. Selbstverständlich ist es trotz eines erstaunlichen Bemü¬ hens um Sachlichkeit teilweise marxistisch gefärbt. Ihre Ana¬ lyse über die sozialen Auswirkungen der Donau-Monarchie ist daher um so eindrucksvoller: »Die Führer der zweiten Interna¬ tionalen haben mehr als einmal erklärt, daß ein möglichst gro¬ ßes Staatsgebiet mit dementsprechend möglichst großer wirt¬ schaftlicher Einheit vom Standpunkt der Arbeiterklasse sich sehr günstig auswirkt... die Vorteile eines großen Reiches für die Arbeiterbewegung hat auch Lenin bei jeder Gelegenheit betont.« Auf die Frage, ob die Arbeiterklasse ein Faktor für die Auf¬ rechterhaltung der Monarchie gewesen sei, antworteten die beiden Wissenschaftler hinter dem Eisernen Vorhang: »Es ist eigenartig, aber die Antwort muß, wie oben dargelegt, ja hei¬ ßen.« Wie katastrophal die Zerreißung des donauländischen Wirt¬ schaftgebietes war, sah man in den zwanziger und dreißiger Jahren. Wo früher Handel und freies Reisen möglich waren, wurden im Zeichen angeblicher nationaler Souveränität le-

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bensunfähige Kleinstaaten, Schlagbäume und Zollgrenzen er¬ richtet. Nicht zuletzt darin liegt ein Grund für die gewaltigen ökonomischen Erschütterungen unseres Erdteils, die es dem Nationalsozialismus und seinen Verbündeten ermöglichten, ihn zu erobern. Gerade die Ärmsten litten darunter, denn sie konnten ihre Vermögen nicht ins Ausland verschieben oder in Sachwerte flüchten. Auch hier finden wir eine Parallele zu un¬ serer Zeit. Die Wirtschaftskrise der letzten Jahre war ähnlich schwer wie die der dreißiger Jahre. Doch die positive Einstel¬ lung der führenden Nationen des Westens zum freien Handel und der zollfreie große Binnenmarkt der Europäischen Ge¬ meinschaft fingen die schlimmsten Entwicklungen ab. Hätten die Regierungen nationalen Protektionismus betrieben, wie in den Dreißigern, wäre ein Desaster nicht zu vermeiden gewe¬ sen. Wissenschaftler haben errechnet, daß ohne Europäische Gemeinschaft allein in Deutschland die Arbeitslosigkeit um zwei Millionen Menschen angestiegen wäre. Wir dürfen diese Erfolge nicht durch einen neuen Nationalis¬ mus gefährden. Es ist eine schlimme Erfahrung, daß die Men¬ schen oftmals aus der Geschichte nicht lernen. Wir müssen es tun. Die Zerschlagung der natürlich gewachsenen Einheit nach dem Ersten Weltkrieg war schlichtweg eine Vergewalti¬ gung der historischen und geographischen Gegebenheiten. Das konnte nicht gut gehen. In Mitteleuropa entstand 1918 ein Leerraum, von dem Kaiser Karl voraussagte, daß er zuerst von Deutschland, dann von der Sowjetunion gewaltsam ausgefüllt werden würde. Die Völker leiden noch heute darunter, daß diese Annahme sich als prophetisch erwies. Ich erinnere mich, wie mein Vater in den letzten Lebensmonaten auf l^ladeira darunter litt, zur Untätigkeit verurteilt zu sein und das drohen¬ de Unheil für den Donauraum nicht abwenden zu können. Es ist eine Tatsache, daß die gleichzeitig ausbrechenden nationa¬ len und sozialen Konflikte in Mitteleuropa fast unlösbar schei¬ nen mußten. Von seiten der Verantwortlichen wurden sicher viele Fehler gemacht, weil jeder, der handelt, auch sündigt.

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Der Christ weiß, daß es auf Erden kein Paradies geben kann. Alle menschlichen Institutionen sind, wie der österreichische Schriftsteller Erik von Kühnelt-Leddihn hervorhebt, letztlich Ausdruck der Erbsünde und daher unvollkommen. Doch es gab in den letzten Jahrzehnten der Monarchie bahnbrechende Vorschläge: Das Brünner Nationalitäten-Programm der »K. u. K.-Sozialdemokratie«; die Bestrebungen des deshalb von ser¬ bischen Nationalisten ermordeten Thronfolgers Franz Ferdi¬ nand, Südslawen und Tschechen den Deutschen und Magya¬ ren gleich- und sie damit zufriedenzustellen; die noch viel mo¬ dernere Idee eines Kaisers Karl, den Habsburger-Staat in eine Föderation freier Völker zu verwandeln. Eine solche hätte dem Donauraum sicher eine bessere Zukunft ermöglicht, als die Wahnideen eines Benes, Hitler oder Stalin. Toter Traditionalismus ist ebenso abzulehnen wie blinder Fortschrittsglaube. Doch wir können aus der Geschichte des Vielvölkerstaates im Herzen unseres Erdteils viel für das Eu¬ ropa von morgen lernen. Es ist kein Zufall, daß der Gründer der Paneuropa-Bewegung, Richard Graf Coudenhove-Kalergi, aus Böhmen kam. Westeuropa darf bei seiner Einigung nicht die kleinen Völker und Volksgruppen vergessen, son¬ dern muß auf die mährischen Erfahrungen zurückgreifen. Echter Friede kann erst dann wiederhergestellt werden, wenn alle europäischen Völker - auch die des Donauraumes - ihr Selbstbestimmungsrecht genießen und in einem europäischen Bund Zusammenleben dürfen. Der tschechische Historiker Palacky, ein scharfer Kritiker mancher Zustände in der Mon¬ archie, sagte im vorigen Jahrhundert, daß man Österreich, wenn es nicht schon bestünde, schaffen müsse. Das freie und einige Mitteleuropa als Teil eines politisch zusammengeschlos¬ senen Kontinentes, das heute diese Funktion übernehmen könnte, gibt es noch nicht. Es zu bauen, ist die Herausforde¬ rung an uns.

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Reichische Symbole

Wer die Wiener Schatzkammer besucht, findet dort nicht nur kostbare Schmuckstücke wie an ähnlichen Orten, sondern eine einzigartige Fülle reichischer Symbole: die Insignien des Heiligen Römischen Reiches, also vor allem die herrliche Reichskrone, aber auch Reichsapfel, Reichsschwert, Reichs¬ kreuz und nicht zuletzt das Reichsevangeliar Karls des Gro¬ ßen. Hinzu kommen die Herrschaftszeichen der Habsburger als kaiserliche Familie des Abendlandes, die 1804 bei der Gründung des Kaisertums Österreich zu den offiziellen Insig¬ nien dieses kleineren Reiches erklärt wurden, und der Schatz des Ordens vom Goldenen Vlies, der bis heute die übernatio¬ nale Ritterlichkeit des alten Burgund verkörpert. Obwohl die ausgestellten Schätze von ungewöhnlich hohem materiellem und künstlerischem Wert sind, wird dieser bei weitem von ihrer Aussagekraft übertroffen. Als die Reichs¬ idee noch das Gestaltungsprinzip eines großen Teiles von Eu¬ ropa war, befanden sich die verschiedenen Kleinodien weit verstreut im heutigen Belgien oder Deutschland. Der Kaiser residierte wohl meist in Wien, doch für das Reich waren Frankfurt und Aachen, Prag, Regensburg oder Brüssel ebenso bedeutsame Zentren. Erst als die Französische Revolution Europa mit ihrem nationalistisch-egalitären Terror überzog, fand das Reich auch mit seinen äußeren Symbolen Zuflucht in Wien. Nach dem Ende des Heiligen Römischen Reiches im Jahre 1806 wurde der ehemalige Römische und jetzige Kaiser von Österreich, Franz II. beziehungsweise I., zum Sachwalter sowohl der reichischen Idee als auch ihrer Ausdrucksformen. Man hat die österreichische Monarchie durchaus mit Recht das »Heimliche Römische Reich« genannt. Der Schriftsteller Willy Lorenz verweist in seinem Buch »A.E.I.O.U.« darauf, daß Kaiser Franz zwar nach dem Ende der napoleonischen Kriege das Sacrum Imperium nicht wiederherstellte, aber im

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Donaustaat bewußt an die altreichische Tradition anknüpfte. Die bisherige »sekundäre römische Krone«, die die Habsbur¬ ger immer getragen hatten, wenn sie in ihrer kaiserlichen Wür¬ de auftraten, wurde weiterhin verwendet. Die historischen Reichsfarben Schwarz-Gelb wurden auf Österreich übertra¬ gen, weshalb sie heute allzuviele nur noch mit dem Donaustaat identifizieren und nicht mit dem Heiligen Römischen Reich, aus dem sie eigentlich kommen. Dasselbe gilt für den Doppel¬ adler, den wir in Südamerika, Spanien oder den Niederlanden genauso finden wie in den östlichen Imperien, die sich auf By¬ zanz berufen. Er ist eben ein Reichssymbol im universellen Sinn und keinesfalls ein rein österreichisches. Die Ausstrahlung der alten kaiserlichen Würde trug wesent¬ lich dazu bei, die Donaumonarchie trotz schwerster Bela¬ stungsproben bis in unser Jahrhundert hinein zusammenzuhal¬ ten. Die Nachfolgestaaten wie auch die Weimarer Republik in Deutschland scheiterten nicht zuletzt daran, daß diese in jeder Hinsicht glanzlosen Gebilde kaum eine Identifikation zwi¬ schen dem Staat und seinen Bürgern zustande brachten. Erst die österreichischen Bundeskanzler Dollfuß und Schuschnigg kehrten - zu spät und oft mit den falschen Mitteln - zu den al¬ ten Symbolen zurück, um einen Patriotismus zu entfachen, der den Widerstand gegen die Ausbreitung des Nationalsozialis¬ mus stärken sollte. Umgekehrt gelang es Hitler und seinem ge¬ nialen Propagandisten Goebbels, die Menschen unter Mi߬ brauch des Wortes »Reich« mittels Fahnen, Uniformen oder Herrschaftszeichen (wie dem Hakenkreuz) in einen vaterlän¬ dischen Rausch zu versetzen. Die Verfremdung mancher eigentlich wertvoller Worte, Melo¬ dien oder Zeichen durch die Nationalsozialisten führte nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer erneuten gefährlichen Ab¬ kehr von allen Sinnbildern der Gemeinschaft. Mit Verachtung sprach man von denen, die so wahnwitzig gewesen seien, einer Fahne, einem »Fetzen Tuch«, ins Verderben zu folgen, und kam sich aufgeklärt vor. Während in Großbritannien oder

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Frankreich, im Ostblock oder bei den Bewegungen der Linken der psychologische Wert von Symbolen weiterhin verstanden wurde, taten sich in Deutschland wie in Österreich der Staat und die nicht-sozialistischen Parteien damit schwer. Selbst die Kirche, die aufgrund zweitausendjähriger Erfahrung wußte, daß etwas vermeintlich Äußerliches, wie die Liturgie, dem Menschen einen Halt in dieser chaotischen Welt gibt, begann in den sechziger Jahren altehrwürdige Riten und Zeichen über Bord zu werfen. Natürlich müssen äußere Dinge immer wieder geändert oder erneuert werden, um die ewigen Werte besser zu bewahren. Doch ohne Sinnbilder gibt es weder echte Volksfrömmigkeit noch ein lebendiges Staatsgefühl oder Staatsbewußtsein. Das hat in vorbildlicher Weise die bayerische CSU erkannt, als sie auf Betreiben von Strauß, Streibl und Tandler begann, alle ihre Schriften, Plakate, Versammlungssäle oder Aufkleber mit den Symbolen »Löwe und Raute« zu schmücken. Der bayeri¬ sche Patriotismus identifizierte sich daher zunehmend mit die¬ ser Partei, die unter der Regierung Goppel zudem die Bayern¬ hymne wiederbelebte. Auch die Europaarbeit wird auf Dauer ohne wirkungsvolle »Reichssymbole« nicht auskommen. Das wußte schon Coudenhove-Kalergi, der Vater der Europa-Idee. Das 1923 von ihm entworfene rote Kreuz vor gelber Sonne zieht bis in unse¬ re Tage als Wappen der Paneuropa-Bewegung viele Menschen in seinen Bann. Heute haben wir es in die Mitte des Sternenkranzes auf blauen Grund gestellt. Die Wirkung ist durch¬ schlagend: Immer, wenn die Paneuropa-Jugend bei Großver¬ anstaltungen mit solchermaßen gestalteten Fahnen erzieht, erregt sie mehr Aufsehen, wird öfters photographiert oder ge¬ filmt als viele vergleichbare Gruppen. Die Europäische Gemeinschaft, die wir zu einer übernationa¬ len Rechtsordnung im Sinne des alten Reiches machen wollen, litt von Anfang an daran, daß sie den Menschen nur als büro¬ kratischer Körper erschien. Ihr fehlten die Weihe durch Sym-

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bole, die Leidenschaft, die Seele. Mit der Abschaffung der Zölle oder der Harmonisierung technischer Vorschriften kann man, so löblich und begrüßenswert das alles ist, die Völker auf Dauer nicht begeistern. Der Schriftsteller Robert Ingrim präg¬ te in der Diskussion um die Europäische Verteidigungsge¬ meinschaft (EVG) das kluge Wort, daß eine Vielvölkerarmee ohne gemeinsame Fahne, ohne europäischen Patriotismus, ih¬ re Aufgabe nicht erfüllen könne. Das gilt auch für die heutige EG. Deshalb haben meine Kollegen Alfons Goppel, Heinrich Aigner, Ingo Friedrich und ich schon vor der Europawahl 1979 ein gemeinsames Programm vorgelegt, in dem wir eine Euro¬ pafahne, eine Europahymne, einen Europapaß und einen europäischen Führerschein forderten. Kaum gewählt, gelang es mir rasch, die Mehrheit der Parlamentarier für den Paß zu gewinnen, obwohl Sozialisten über die Idee spotteten und Bü¬ rokraten alles versuchten, dieses Gemeinschaftsdokument zu verhindern. Erst in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre ha¬ ben wir nach zermürbendem Kampf gegen nationalistische Rückzugsgefechte den burgunderroten Europapaß und den entsprechenden Führerschein einführen können. Man mag dies als Kleinigkeit ansehen, doch ist es für jemanden, der den Zweiten Weltkrieg erlebt hat, ergreifend, daß heute Men¬ schen, die noch aufeinander geschossen haben, den gleichen Ausweis mit sich tragen. Ebenso bedeutsam war die Schaffung einer offiziellen Europa¬ fahne. In den fünfziger Jahren schien sich trotz der Proteste Coudenhove-Kalergis das weiße »E« auf grünem Grund, oft ironisch »Churchills Unterhose« genannt, durchzusetzen. Es bedeutete weder eine Idee noch war es ein echtes Symbol, son¬ dern eher ein Beweis geistiger Armut, die nur noch einem Buchstaben huldigen wollte. Europa schien damit endgültig zu einem künstlichen Gebilde zu degenerieren. Inzwischen ist es gelungen, das Blatt zu wenden. Auf Antrag von Ingo Friedrich aus Mittelfranken und mit Unterstützung der Mehrheit des Europaparlamentes proklamierte der EG-Kommissar Ripa di

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Meana 1986 die zwölf gelben Sterne auf blauem Grund zur endgültigen Fahne für die Gemeinschaft. Darüber freuten sich nicht nur christliche Kreise, die im Sternenkranz die Marien¬ krone sehen, sondern auch alle, die an ein größeres Europa glauben. Die neue Flagge ist nämlich nicht auf die EG be¬ schränkt, sondern wurde ursprünglich durch den 21 Staaten umfassenden Europarat gehißt und, wie gesagt, auch in das Zeichen der Paneuropa-Bewegung übernommen. Ein solches Europasymbol ist im wahren Sinne des Wortes reichisch, weil es keine widernatürlichen Grenzen kennt. Ähnliche Bedeu¬ tung hat die schon 1926 beim ersten Paneuropa-Kongreß in Wien gespielte Europahymne - die Melodie von Beethovens »Ode an die Freude«, die auch von der EG mehr und mehr verwendet wird. Die Schaffung von Reichssymbolen für das Europa von mor¬ gen, die Erweckung eines europäischen Patriotismus könnten die Wirkung einer »moralischen Kohle- und Stahlgemein¬ schaft« haben. Die Europabegeisterung wurde von den Stati¬ stiken der EG verschüttet. Wenn wir sie ausgraben, werden wir ähnlich wie einst die Bürger des Römischen Reiches sagen können: »Civis Europaeus sum«.

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Zwischen Reich und Barbarei

Völkerordnung

Die Welt nach Sarajewo

An einem strahlenden Sommertag, dem 28. Juni des Schick¬ salsjahres 1914, feuerte ein fanatischer Anhänger des natio¬ nalistischen Zeitgeistes, der Serbe Gavrilo Princip, auf Erz¬ herzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin. Die Schüsse töteten nicht nur das österreichisch-ungarische Thronfolger¬ paar, weil Franz Ferdinand zielstrebig auf eine föderative Neuordnung Mitteleuropas hingearbeitet hatte. Sie trafen auch das alte Europa, das im nun ausgelösten Ersten Welt¬ krieg zugrundeging. Das Zeitalter des Nationalismus brach an. Zeichen dessen war sowohl das heimtückische Attentat, das großserbische Kreise unter den Belgrader Machthabern propagandistisch wie orga¬ nisatorisch vorbereitet hatten, als auch die Reaktion verschie¬ dener wientreuer Einwohner der bosnischen Landeshaupt¬ stadt Sarajewo. Diese, meist Kroaten oder muselmanische Bosniaken, waren zunächst in verständlicher Empörung de¬ monstrierend durch die Straßen gezogen. Plötzlich jedoch be¬ gann ein Teil von ihnen in die Läden und Wohnungen von Ser¬ ben einzudringen und diese zu verwüsten. Sie reagierten also auf den niederträchtigen serbischen Terrorismus mit der Zu¬ weisung von Kollektivschuld an ein ganzes Volk und Selbst¬ justiz. Wenn auch die K. u. K.-Armee an jenem 28. Juni noch einmal das Recht wiederherstellte, so blieben doch die Bilder, die Sarajewo an diesem Tag gesehen hatte, grausame Leitmotive unseres Jahrhunderts. Zwischen dem staatlich geförderten Terror, den damals Belgrad betrieb, und den Verbrechen ei¬ nes Oberst Gadhafi besteht lückenlose Kontinuität. Kollektive

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Verfolgung und Selbstjustiz mußten mittlerweile fast alle Völ¬ ker oder Volksgruppen Mittel- und Osteuropas erleiden. Ge¬ wiß hat es schon vor 1914 Unterdrückung und Gewalt gege¬ ben. Doch nach Sarajewo erreichten sie eine neue Dimension, die uns heute zwingt, rasch zu einer gerechten, die Nationen verbindenden Völkerordnung zu gelangen. Voraussetzung da¬ für ist, zu erkennen, welche Faktoren uns in den Ersten Welt¬ krieg geführt haben. Sicher, die Ermordung Franz Ferdinands bewegt heute noch die öffentliche Meinung. In einer Flut von Artikeln wurde und wird die Frage aufgeworfen, ob die Ereig¬ nisse des Jahres 1914 unvermeidlich waren und wer die Schuld daran trägt. Doch leider enthalten sie vielfach nur Geschichts¬ klitterungen. Typisch war, daß 1984, am siebzigsten Jahrestag der Bluttat, ausgerechnet die Fernsehanstalten Österreichs und Deutschlands Programme ausstrahlten, die erwiesene Tat¬ sachen verdrehten, nur um das eigene Land zu verurteilen. So¬ lange wir Ideologien des Selbsthasses nachlaufen und die Wirklichkeit nicht sehen wollen, werden wir niemals die richti¬ gen Folgerungen aus dem Geschehen ziehen. Natürlich haben die Regierungen der Mittelmächte, in Wien wie in Berlin, schwere Fehler begangen. Das dürfte aber nicht genügen, um die anderen, insbesondere die Russen, zu entla¬ sten. Eine sachliche Studie der Geschichte zeigt, daß es auf al¬ len Seiten falsche Reaktionen gegeben hat. Ein unabhängiger Historiker wie der Franzose Alfred Fabre Luce hat in seiner Analyse über den Ausbruch des Ersten Weltkrieges schlüssig dargelegt, daß 1914 niemand einen Krieg gewollt hat, ausge¬ nommen einige Minister des Zaren, wie der aggressiv nationa¬ listische Alexander Iswoljski. Deren Bauern auf dem Schach¬ brett waren die direkt auslösenden Kräfte hinter dem Mord am Erzherzog-Thronfolger, wie Oberst Dimitrijevic (Apis) und Ministerpräsident Pasic von Serbien. Diese allein wären jedoch niemals in der Lage gewesen, einen Weltkrieg vom Zaun zu brechen. Die wahren Gründe lagen also anderswo. Die Völker und ihre

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Regierungen hatten seit dem Wiener Kongreß rund hundert Jahre zuvor keinen gesamteuropäischen Konflikt mehr ge¬ kannt und konnten sich einen solchen überhaupt nicht mehr vorstellen. Zudem fehlte ihnen jede Erfahrung, wie man eine Politik der aktiven Friedenserhaltung betreiben könne. Das Konzert der Mächte, das die klugen Staatsmänner nach den napoleonischen Kriegen dirigiert hatten, war schon seit einiger Zeit verstummt. Viele Europäer glaubten, sich nationale Dis¬ harmonien leisten zu können, da sie sich an deren schädlichen Folgen, wie sie Anfang des neunzehnten Jahrhunderts aufge¬ treten waren, nicht mehr erinnern konnten. Die furchtbare Dynamik der Sommertage 1914 sollte also we¬ niger Anlaß zur sattsam bekannten Vergangenheitsbewälti¬ gung bieten, sondern uns auf die Probleme von heute auf¬ merksam machen. Denn so verschieden auch die Bedingungen sein mögen, eines bleibt: Weniger als ein Drittel der Mensch¬ heit hat heute noch persönliche Erfahrung mit der Entstehung eines großen Krieges. Das ist einerseits erfreulich, anderer¬ seits aber nicht unbedenklich. Gewiß, die Gefahr ist gering, daß die junge Generation des ausgehenden zwanzigsten Jahr¬ hunderts mit Begeisterung in einen Krieg ziehen würde. Die Jubelstürme von 1914 wären heute unvorstellbar, zumal im Ernstfall angesichts der modernen Waffen die Zeit dazu fehlen würde. Doch je mehr Menschen glauben, Frieden und Freiheit seien ein selbstverständliches Gut, auf das man Rechtsan¬ spruch besitze, ohne etwas zu leisten, desto größer wird das Risiko, daß wieder einmal alles zusammenbricht. Dem kann nur ein gründliches Studium der Geschichte entgegenwirken. Denn wer nicht aus den Fehlern der Ahnen lernt, ist verurteilt, diese zu wiederholen; angesichts unserer technischen Möglich¬ keiten allerdings mit viel schlimmerer Wirkung. Kriege sind in der Regel vor allem dort entstanden, wo föde¬ rierende Mächte verschwanden und an ihre Stelle kleine, na¬ tionalistische, meist wirtschaftlich lebensunfähige Staaten tra¬ ten. Der Erste Weltkrieg war die Folge der Zerschlagung

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des türkischen Großreiches auf dem Balkan. Der Zweite Welt¬ krieg entsprang der Zerstörung der Einheit im Donauraum. Auch heute gilt, daß in kritischen Zonen der Friede nur durch größere Zusammenschlüsse bewahrt werden kann. Das dürfte heute zusammen mit dem Umweltschutz das wesentlichste Ar¬ gument für die politische Einigung Europas sein. Wir sind der¬ zeit der Balkan des nördlichen Wohlstandsgürtels. Gelingt es nicht, hier eine echte friedliche Großmacht zu schaffen, ist die Möglichkeit eines neuen Weltkonfliktes nicht von der Hand zu weisen. Langfristig müssen wir erkennen, daß auf dem afrikanischen Kontinent für die Zeit nach dem Jahr 2000 ähnliche Gefahren drohen. Diesen Erdteil, den die Kolonialmächte mit allen ih¬ ren Schwächen zumindest wirtschaftlich geeint hatten, löste man in kleine, extrem nationalistische Staaten auf. Tatsache ist, daß es heute südlich der Sahara überhaupt nur zwei Länder gibt, die wirtschaftlich halbwegs lebensfähig sind: die weltweit bekämpfte und vielfach falsch konstruierte Republik Südafri¬ ka und vielleicht, dank seines Ölreichtums, das politisch kri¬ sengeschüttelte Nigeria. Afrika wird von Grenzen durch¬ schnitten, die nicht dessen Realität, die Stämme, anerkennen. Es ist somit eine tickende Zeitbombe für das kommende Jahr¬ tausend, während Europas heutiger Zustand das Risiko der nächsten Jahre darstellt. Nebst dieser Erkenntnis der wirtschaftlichen und geographi¬ schen Gegebenheiten, die zu Spannungen führen können, zeigt uns das Drama des Jahres 1914 auch, welche Gefahr der Nationalismus für den Frieden und damit für das Überleben der Völker bedeutet. Immer wieder verwechselt man ihn mit Patriotismus. Natürlich haben beide Emotionen im Grunde die gleiche Wurzel, nur ist die eine positiv, die andere negativ. Der Nationalist vergötzt sein Volk und verachtet die andern. Der Patriot liebt das seine und hat gerade darum auch Ver¬ ständnis für dessen Nachbarn. Jeder Mensch braucht ein höheres Wesen. Weigert er sich,

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Gott anzuerkennen, so tritt an seine Stelle über kurz oder lang ein angebetetes Kollektiv wie die Nation oder die Klasse. Die Fehlentwicklung des zwanzigsten Jahrhunderts, die sich in Sa¬ rajewo ausdrückt, ist so gesehen die Folge des Verrates an un¬ serer christlichen Sendung und der darin verankerten überna¬ tionalen Völkerordnung.

Das Un-Recht von Jalta

Als die Verträge von St. Germain und Trianon nach dem Ersten Weltkrieg den seit zweihundert Jahren geeinten Do¬ nauraum zerstörten, trat anarchistisch-nationalistische Klein¬ staaterei an die Stelle des alten Reiches. Die einstige Festung Europas gen Osten war damit sturmreif geworden. Deutsch¬ land, vom Versailler Vertrag nicht nur materiell und territorial erheblich beschnitten, sondern außerdem schwer traumatisiert, war zwangsläufig ein Element der Unsicherheit gewor¬ den. Ausgeplündert und geistig-seelisch verwundet, mußte es unberechenbar werden. Die sogenannten Staatsmänner der siegreichen Entente, die Europa mit ihren angeblichen Friedensverträgen ins Chaos ge¬ stürzt hatten, erkannten das nicht. Das ist um so unver¬ zeihlicher, als es kluge Beobachter gab, die warnend die Stim¬ me erhoben und zur Umkehr aufriefen. Einer von ihnen war der große Franzose Jacques Bainville, der schon in seinem 1919 erschienenen Buch auf die fatalen »Consequences politiques de la paix« hinwies. Er prophezeite, ebenso wie wenige Jahre später Graf Coudenhove-Kalergi, einen zweiten Welt¬ krieg als Folge des mit den Pariser Verträgen endgültig freige¬ setzten Nationalismus. Coudenhove-Kalergi sagte bereits da¬ mals, daß Europa nach einem neuen Völkerringen zwischen den USA und der Sowjetunion geteilt werden würde. Der Keim der Katastrophe in den Jahren 1938 bis 1945 war also von den Siegern des Ersten Weltkrieges gelegt worden, woran man denken sollte, wenn immer wieder von der deutschen Al¬ leinschuld die Rede ist. Damit soll die Verantwortung Hitlers und seines Regimes keineswegs vermindert werden, doch muß man wissen, daß sich die Tragödie der vierziger Jahre längst anbahnte, als der »Führer« noch ein verspotteter Querulant in Münchner Wirtshäusern war. Leider zog der Westen aus alledem keine Lehren. Bei der

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Konferenz von Jalta im Februar 1945 wurden die Fehler von 1919 nicht nur wiederholt, sondern weit übertroffen. Wenn die nach Jalta erfolgte Spaltung Europas in zwei Teile und die den europäischen Völkern von Fremden aufgezwungene UnRechtsordnung noch keinen weiteren blutigen Konflikt ausge¬ löst haben, so liegt das vor allem an den Nuklearwaffen. Ohne diese wäre der Dritte Weltkrieg wahrscheinlich schon im er¬ sten Jahrzehnt nach der Krim-Konferenz ausgebrochen. Als der amerikanische Präsident Roosevelt aus Jalta zurückge¬ kommen war, faßte er, schon von schwerer Krankheit gezeich¬ net, seine Eindrücke im Gespräch mit einem meiner Brüder zusammen: »Stalin wußte alles im vorhinein. Ich hatte das Ge¬ fühl, er liest in meinem Hirn.« Es war wohl nicht nur der nahende Tod, der den US-Präsidenten so pessimistisch stimmte. Instinktiv spürte er die Folgen ei¬ ner Tatsache, die wir heute kennen. Einer seiner engsten Ver¬ trauten, Alger Hiss, war ein Verräter im Dienste Moskaus. Schon darum ging der Westen in einer geschwächten Position nach Jalta. Nur wer seinerzeit die Verzagtheit der westlichen Politiker er¬ lebt hat, kann Moskaus damalige Stärke ermessen. Der Zwei¬ te Weltkrieg wurde, was man heute meist verdrängt, mit dem Ribbentrop-Molotow-Pakt eingeleitet, der unter dem Namen Hitler-Stalin-Pakt bekannt geworden ist. Doch der »Führer« war nicht nur am Anfang des Krieges der Verbündete der Sowjets, er blieb es auf gespenstische Weise bis 1944/45, ob¬ wohl Moskau bereits auf der anderen Seite kämpfte. Denn wer von einer Koalition besiegt wird, hat eine letzte Wahl, er kann sich seinen Bezwinger aussuchen. Hitler entschied sich dabei eindeutig für Stalin. Er warf seine letzten Reserven nach We¬ sten und verheizte sie bei der militärisch völlig sinnlosen Ardennen-Offensive. Die Anstrengungen im Osten waren ver¬ gleichsweise gering - Berlin mochte, wenn das Dritte Reich schon unterging, in die Hände des Kreml-Herrn fallen. Der braune Diktator wünschte also den Sieg der Roten Armee.

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Schon 1940 hatte mir der letzte belgische Geschäftsträger in Berlin, Baron de Gruben, gleich nachdem er im Zuge des Aus¬ tausches der Diplomaten über Amerika nach England gekom¬ men war, erzählt, er sei nicht nur von der endgültigen Nieder¬ lage des Nationalsozialismus überzeugt, sondern wisse außer¬ dem aus seiner persönlichen Beobachtung Hitlers, daß der Schluß wie die Götterdämmerung sein werde. Der »Führer« plane, sein eigenes Volk sehenden Auges ins Unheil mitzurei¬ ßen. Gruben ahnte also schon fünf Jahre zuvor das Inferno von Berlin. Die teuflische Saat der braunen Jakobiner ging auf. Die deut¬ sche Kampfkraft in den Ardennen hatte die Amerikaner so tief beeindruckt, daß sich das unmittelbar auf die Konferenz der »großen Drei« auf der Krim auswirkte. Meine Gesprächs¬ partner in der amerikanischen Regierung waren beinahe aus¬ nahmslos der Meinung, der Krieg werde noch mindestens bis 1946 daueren. Weder Roosevelt noch seine Mitarbeiter glaub¬ ten meiner These, daß das Ende unmittelbar bevorstünde - im Gegenteil, sie nahmen sogar an, daß Deutschlands japanischer Verbündeter noch jahrelang weiterkämpfen könne. Aus die¬ ser Stimmungslage heraus wird begreiflich, warum sie den Russen in Jalta von vornherein so große Zugeständnisse ma¬ chen wollten, zumal die Sowjets in Mitteleuropa und auf dem Balkan militärisch zusehends an Boden gewannen. Moskau war von der Konzessionsbereitschaft des Westens völ¬ lig überrascht gewesen. Als Hitler 1941 seinen einstigen Spie߬ gesellen Stalin überfiel, dachte der sowjetische Diktator, trotz der allgemeinen Verwirrung, die in jenen Tagen herrschte, nicht zuerst an vordergründige taktische Maßnahmen, sondern umriß klar die Kriegsziele seines Landes. Schon in der letzten Juniwoche des Jahres 1941 wurden unter seiner Leitung die diesbezüglichen Richtlinien ausgearbeitet. Er gewann damit von Anfang an einen entscheidenden Vorsprung vor seinen westlichen Partnern, die kein eigenes konkretes Konzept besa¬ ßen. Im Falle eines Sieges wollte der kommunistische Selbst-

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herrscher seinem Lande eine Stellung in Europa sichern, die ihm spätere Vorstöße ermöglichen sollte, ohne es schon jetzt mit allzu vielen neueroberten Gebieten zu belasten. So entstand die in den Jahren 1942 in westlichen Staatskanz¬ leien bekanntgewordene Stalin-Linie. Rußland verlangte da¬ nach die Oberherrschaft über Rumänien, Siebenbürgen und die baltischen Staaten. Außerdem strebte es die Einverleibung des überwiegend weißrussisch und ukrainisch besiedelten Ost¬ polen sowie Ostpreußens an. Diese von Stalin anvisierte Selbstbeschränkung hätte sich für die Sowjetunion äußerst günstig ausgewirkt. Rußland hätte einen vernüftigen und poli¬ tisch maßvollen Eindruck gemacht, für den es in den ohnehin mehr und mehr moskaufreundlichen angelsächsischen Län¬ dern Sympathien geerntet hätte. Die Amerikaner wären rasch nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges abgezogen, die Westeuropäer hätten abgerüstet, und unser Erdteil wäre den Sowjets aufgrund ihrer günstigen strategischen Position wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen. Dieser Plan Stalins scheiterte bei den Konferenzen von Teheran und Jalta, auf de¬ nen die Westmächte derart weich auftraten, daß der Georgier den Wünschen seiner Umgebung nach größeren Eroberungen nicht mehr widerstehen konnte. Das hat einerseits über Mit¬ teleuropa viel Unglück gebracht, andererseits erhöhte die ge¬ waltsame Sowjetisierung weiter Teile unseres Kontinents die Wachsamkeit des Westens. Zudem sind die 1945 dem Roten Imperium einverleibten hundert Millionen Europäer eine schwere Belastung für Moskau, da diese sich niemals mit ihrer Versklavung abfinden werden. Roosevelt war in Jalta von einer Illusion beherrscht, die ty¬ pisch für viele amerikanische Politiker ist. Er glaubte, politi¬ sche Fehler und voreilige Zugeständnisse durch wirtschaftliche Maßnahmen korrigieren zu können. Mehrmals während des Krieges hatte er mir im Gespräch zu verstehen gegeben, daß ihn die ökonomische Macht seines Landes fasziniere und poli¬ tisch hoffnungsfroh stimme.

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Alle diese Faktoren erklären, warum letztlich in Jalta zwei nichteuropäische Mächte — Churchill war geschwächt und mehr oder minder nur Staffage - das Schicksal Europas be¬ stimmten, wobei sich die Sowjets weitgehend durchsetzten. Deutlich wurde dies, als man sich darauf einigte, die polni¬ schen Ostgebiete bis zur Curzon-Linie an Moskau abzutreten, Warschau mit den deutschen Ostgebieten zu »entschädigen« und die Macht in Polen oder Jugoslawien den mit Demokraten garnierten prokommunistischen Kräften wie dem Lubliner Komitee oder den Tito-Partisanen zuzuschanzen. Jalta war, obwohl der Text der Schlußerklärung von Demokratie und freien Wahlen sprach, eine Katastrophe für Europa, weil die tatsächliche Herrschaft in der Mitte unseres Erdteils an die So¬ wjets und ihre Satrapen überging. Allein General de Gaulle protestierte damals laut und vernehmlich, nicht nur weil Frankreich von der Konferenz ausgeschlossen war, wie viele argwöhnen, sondern weil er sich durchaus als »Stimme des eu¬ ropäischen Gewissens« empfand. Wer ihn persönlich kannte, weiß, daß er bei allem taktischen Geschick ein großer Staats¬ mann war, der sich wohltuend von den Politfunktionären, die heute oftmals die Szene bestimmen, unterschied. Wenn er da¬ mals »auch im Namen der kleinen Völker Europas« gegen Jalta zu Felde zog, so verband sich in ihm französischer und europäischer Patriotismus. So gesehen ist es kein Zufall, daß die neueste Diskussion über die Beseitigung des nach Jalta benannten Systems vom franzö¬ sischen Staatspräsidenten Frangois Mitterrand ausgelöst wur¬ de. Dieser, der trotz aller Gegensätze außenpolitisch in der Tradition des Generals steht, war schon zu Beginn de*- achtzi¬ ger Jahre dem Drängen des Europäischen Parlamentes gefolgt und hatte sich in einer aufsehenerregenden Neujahrsanspra¬ che gegen die Zweiteilung Europas gewandt. Er stellte die Rechtmäßigkeit von Jalta in Frage und forderte die Europäer diesseits und jenseits der Stacheldrähte auf, mit friedlichen Mitteln für das Selbstbestimmungsrecht aller Völker zu kämp-

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fen. Dabei genoß er die Unterstützung des damaligen Opposi¬ tionsführers Jacques Chirac, der später, nach dem Wahlsieg der Mitte über die Sozialisten im Jahre 1986, sein Premiermi¬ nister wurde. Als der US-Vizepräsident Bush Wien besuchte, zeichnete auch er das Bild eines freien Mitteleuropa, in dem es keinen Eisernen Vorhang mehr gibt. Noch deutlicher wurde Präsident Reagan, als er in seiner historischen Rede vor dem EuropaParlament am 8. Mai 1985 dazu aufrief, die europäische Eini¬ gung von Lissabon bis in die Sowjetunion hinein auszudehnen. Die propagandistische Gegenoffensive der Sowjets beein¬ druckte weder Amerikaner noch Franzosen, das Zittern vor der Bezeichnung »Revanchist« scheint ein typisches Phäno¬ men der Sühnedeutschen zu sein. Es war beschämend, daß der vierzigste Jahrestag von Jalta von den Deutschen, die unter der europäischen Teilung besonders zu leiden haben, ängstlich totgeschwiegen wurde, sieht man einmal von der grandiosen Haltung eines Franz Josef Strauß, den Aktionen der Paneuropa-Bewegung oder der deutschen Heimatvertriebenen ab. In der Beurteilung der Aussage von Jalta gibt es zwei Schulen: jene, die das damalige Abkommen aufkündigen will, und die andere, die die Sowjetunion seines Bruches beschuldigt und fordert, man solle der UdSSR ihre einstigen Versprechungen Vorhalten. Das britische Unterhaus ergriff eine solche Initiati¬ ve. Die Antragsteller protestierten in einer Resolution gegen die Aufteilung Europas in Interessensphären und bekannten sich zum Selbstbestimmungsrecht der Völker Ost- und Ostmit¬ teleuropas, das in Jalta garantiert und von den Sowjets verletzt worden sei. Welchen Standpunkt man auch immer zu der Fra¬ ge einnimmt, ob Jalta ein Vertrag für oder gegen die Teilung Europas war - die westlichen Regierungen sind sich einig, daß es gilt, die Freiheit der Völker hinter dem Eisernen Vorhang wiederherzustellen. Von den sozialistischen Abgeordneten aus den romanischen Ländern über die linksliberale Simone Veil, die als Jüdin im KZ saß, bis hin zu den britischen Konservati-

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ven reicht die Unterstützung für das Selbstbestimmungsrecht der Deutschen und der anderen Europäer. Deutsche Soziali¬ sten hingegen waren es, die gemeinsam mit kryptokommunistischen Labourabgeordneten aus Großbritannien versuchten, mich niederzuschreien, als ich in der Jalta-Debatte des Euro¬ paparlaments in diesem Sinne das Wort ergriff. Es hat mit den absurden Pangermanismus-Vorwürfen, wie sie der italienische Außenminister Andreotti 1985 erhob, nichts zu tun, wenn man deutlich sagt, daß das, was auf der Krim ge¬ schaffen wurde, geschichtlich gesehen keine Dauer haben kann. Widernatürliche Trennungslinien wären nur durch die völlige Ausrottung der Bevölkerung endgültig zu festigen. Da dies aber nicht einmal die Sowjetunion zustande brächte, wer¬ den sich die Grenzen über kurz oder lang verschieben. Aller¬ dings ist es die Frage, ob nach Osten oder nach Westen. Wir können nur durch die politische Einigung zunächst EG-Europas verhindern, daß die Jalta-Grenze eines Tages bis an die Atlantikküste verlegt wird. Gelingt uns das, bedeutet das Hoffnung - für die versklavten Mitteleuropäer und, auf lange Sicht, für alle Völker.

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Lehren aus dem 8. Mai

Selten wird soviel Unsinn gesagt und geschrieben wie beim jährlichen Gedenken an den 8. Mai 1945, an dem der Natio¬ nalsozialismus endgültig zusammenbrach. Die Ursache auch dafür ist vor allem, daß meine Generation, die noch Krieg und Tyrannei erlebt hat, in Westeuropa zu einer kleinen Minder¬ heit der Gesamtbevölkerung geworden ist. Ich sage bewußt »Westeuropa«, denn diejenigen, die das Unglück erlitten, öst¬ lich der Jaltalinie zu landen, sind von einer Diktatur nahtlos in eine andere, nicht weniger schlimme übergegangen. Das soll¬ ten sich jene vor Augen halten, die den 8. Mai immer nur als Befreiungstag bejubelten und diesen womöglich noch gemein¬ sam mit der Sowjetunion begehen wollen. Alfred Dregger hat zu Recht klar gegen solche Kräfte, auch in seiner eigenen Par¬ tei, Stellung bezogen. Verhängnisvoll ist in diesem Zusammenhang, daß die meisten Politiker und Massenmedien peinlichst das Wort »Totalitaris¬ mus« vermeiden. Sie versuchen, die Verbrechen des National¬ sozialismus so darzustellen, als ob es sich um etwas Einmaliges gehandelt habe. Wer die Desinformationsdienste der kommu¬ nistischen Mächte aus den Erfahrungen der Vergangenheit kennt, wird die Technik ihrer genialen Propagandaoperation nur bewundern können. Augenfällig war dies beim Gedenken an die Befreiung der Konzentrationslager im »Jubiläums«-Jahr 1985. Hier wurde auf geschickte Weise der Eindruck vermit¬ telt, daß nur die Deutschen solcher Greueltaten fähig seien. Die Tatsache, daß es in unserer Zeit genauso große, wenn nicht größere KZ’s gibt als in den Tagen Hitlers, nämlich die Gulags in der Sowjetunion, wurde so gut wie nie erwähnt. Als Präsi¬ dent Reagan etwas sagte, das in diese Richtung wies, wurde er systematisch totgeschwiegen oder kritisiert. Der 8. Mai 1985 sollte eben nicht das sein, was er wirklich hätte bedeuten kön¬ nen, eine Versöhnungsfeier unter den Völkern, sondern etwas

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gänzlich anderes: der Versuch, das Sowjetsystem wieder ein¬ mal als Teil der freien Welt darzustellen. Auch im Europaparlament muß ich ständig erleben, daß die mit den Kommunisten mehr oder weniger verbündete Linke ideologisch blind ist. Sie behauptet, daß mit dem 8. Mai 1945 eine Ära der Freiheit in der Welt angebrochen sei. Jeder Ver¬ such darzulegen, daß dem nicht so ist und daß der Feind »To¬ talitarismus« weiter besteht, wird sofort als Faschismus denun¬ ziert. Dabei verhalten sich manche Politiker, die nicht genug daran tun können, ihre eigene demokratische Einstellung zu unterstreichen, ähnlich wie seinerzeit die Kollaborateure Hitlers. Sie sind bewußt einäugig, wobei das noch sehende Au¬ ge gebannt auf die Vergangenheit blickt. Gegenüber dem to¬ ten Diktator ist es leicht, Heldenposen einzunehmen, oder wie in einigen Fällen - den damals nicht geleisteten Wider¬ stand heute verbal nachzuholen. Vor den lebenden Tyrannen aber, etwa vor den Hitler-Epigonen in Moskau, katzbuckelt man oder verschweigt ihre Verbrechen. Dabei wären doch gerade

die

Gedenkstunden

in

den

Konzentrationslagern

der richtige Anlaß dafür, über die vielen Menschen zu spre¬ chen, die heute in der Sowjetunion und in anderen kommuni¬ stischen Staaten wegen ihres Glaubens, ihrer freiheitlichen Einstellung oder ihrer »rassischen« Zugehörigkeit eingesperrt sind. Es ist für junge Leute in unserer Zeit oft unfaßbar, daß eine große Mehrheit derer, die ihre Stimme in wirtschaftlicher oder nationaler Verzweiflung dem Nationalsozialismus gegeben hatten, ganz bestimmt nicht wollten, was dann daraus gewor¬ den ist. Zwar wurde mit Recht gesagt, daß so ziemlich jedes Verbrechen im Buch »Mein Kampf« angekündigt wurde. Das stimmt. Nur durfte man bloß von wenigen erwarten, daß sie dieses Machwerk wirklich lasen. Es war das eines jener Bü¬ cher, die man kaufte, um sie ungeöffnet, aber sichtbar liegen zu lassen. Ich mache daraus niemandem einen Vorwurf. Da ich mich gezwungen hatte, »Mein Kampf« schon vor 1933

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zu studieren, weiß ich, daß es eine recht unchristliche Selbst¬ bestrafung war. Konrad Heiden hat dieses dicke Pamphlet mit Recht »Mein Kampf gegen die deutsche Sprache« genannt. Ganz abgesehen vom Inhalt, war es auch stilistisch ein ausge¬ sprochenes geistiges Gruselium. Doch von den Politikern der Weimarer Republik und des westlichen Auslandes hätte man erwarten können, daß sie das Buch ernstnahmen. Das wäre ihre Verpflichtung gewesen, hätten sie die Völker vor Schaden bewahren wollen. Dies frei¬ lich erinnert an gewisse sogenannte Staatsmänner der Gegen¬ wart. Diese sollten nämlich, bevor sie über sowjetische Politik reden, nicht nur irgendwelche zurechtfrisierte Publikationen, sondern die Reden Gorbatschows lesen. Vielleicht kämen sie dann zu einem realistischeren Urteil und nicht zur Illusion, es gäbe so etwas wie einen demokratischen Neubeginn im Osten. Der verstorbene italienische Kommunistenführer En¬ rico Berlinguer, der bis zu seinem Tod bei uns im Europa¬ parlament saß, tat uns einen wichtigen Dienst, als er in einer seiner letzten Reden sagte: »Nehmt doch endlich ernst, was die Sowjetunion spricht.« Der hitlerische Rassismus wurde von allzuvielen nicht in seiner ganzen Abscheulichkeit erfaßt. Man hat nicht verstanden, daß es kaum etwas Schlimmeres gibt, als Menschen zu diskriminie¬ ren nur wegen des Zufalls ihrer Geburt. Damit tat sich ein Ab¬ grund auf, die Zerstörung jeglicher Rechtsgrundlage. Wenn wir heute die seinerzeitige Sacharow-Hetze in der UdSSR betrachten und wissen, daß der große Gelehrte nicht zuletzt darum gepeinigt wurde, weil er Jude ist, spüren wir den Zu¬ sammenhang zwischen braunem und rotem Totalitarismus. Eine um so größere Schande war die Verleihung des Friedens¬ nobelpreises 1985 an einen der übelsten Sacharow-Feinde Tschasow, der diese fragwürdige Auszeichnung für die »Ärzte gegen den Atomkrieg« entgegennahm. Auch ein gewisser Friedensnobelpreisträger in der Bundesrepublik, der stets auf hoher moralischer Warte von Frieden und Gerechtigkeit pre-

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digt, fand es nicht der Mühe wert, gegen diese abscheuliche Verhöhnung des Märtyrers von Gorki zu protestieren. Dem allem entspricht eine weitverbreitete Geschichtsklitte¬ rung. Ständig wird nur vom Widerstand der Linken gegen Hitler geredet. Man verschweigt bewußt, wie viele freiheitli¬ che Menschen der Mitte und der Rechten zumindest genausoviel gelitten haben. Die Kommunisten wiederum, die sich gern als eigentliche Träger des Widerstandes auf spielen, sollten be¬ scheidener werden. Ohne die Hilfe Stalins hätte das Dritte Reich nie den Zweiten Weltkrieg entfesseln können. Ich erin¬ nere mich noch gut daran, daß viele französische Kommuni¬ sten aktiv mit den deutschen Truppen gegen ihre eigene Ar¬ mee zusammengearbeitet und sich den Nationalsozialisten zur Verfügung gestellt haben, weil sie sich an den Hitler-StalinPakt gebunden fühlten. Daß sich dies nach dem Angriff des Dritten Reiches auf die Sowjetunion schlagartig änderte, ist unleugbar, zeigt aber nur, daß die Behauptung der Kommuni¬ sten, sie seien Patrioten, nicht stimmt. Der große französische Sozialdemokrat Leon Blum hatte recht, als er den Kommuni¬ sten zurief, sie seien keine französischen, sondern nur sowjeti¬ sche Patrioten. Ihr Platz befinde sich weder rechts noch links, sondern im Osten. Außer der verheerenden Friedensunordnung des Jahres 1919 und der Verkennung der Natur des Totalitarismus ermöglich¬ ten noch zahlreiche andere Faktoren den Aufstieg des Natio¬ nalsozialismus. Die Weimarer Verfassung schuf einen relativ zentralistischen Nationalstaat, dem noch dazu die Zustim¬ mung der Bürger und verbindende Symbole fehlten. Aufgrund der gefährlichen Verwechslung zwischen Gleichheit »und Ge¬ rechtigkeit stülpte man den Deutschen jenes proportioneile starre Listenwahlrecht über, das der Demokratie ihr menschli¬ ches Gesicht raubt. Die meisten nationalsozialistischen Mit¬ glieder des Reichstages wären in einer Persönlichkeitswahl niemals durchgekommen. In der ideologischen Polarisierung zwischen den Parteilisten fanden sie ihre Chance. So gab es

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schon vor der Machtergreifung im Deutschen Reichstag keine demokratische Mehrheit mehr. Der Reichstag war durch das Zusammenspiel von Nationalsozialisten und Kommunisten handlungsunfähig geworden. Ich selbst habe vor der Ernen¬ nung Hitlers zum Reichskanzler rote und braune Streikposten brüderlich vereint in Berlin im Einsatz gesehen. Zu diesen strukturellen Schwächen der Weimarer Republik kam das schwere soziale Elend mit Millionen von Arbeitslo¬ sen. Die 1919 den Besiegten aufgezwungenen Reparationszah¬ lungen, die nationale Blindheit der Regierungen in den zwan¬ ziger und dreißiger Jahren und die Zerreißung der Welt in le¬ bensunfähige,

einem

absurden Wirtschaftsprotektionismus

huldigende Kleinstaaten trugen die Schuld daran. Ohne den sozialen Sprengstoff wäre der Siegeszug des Nationalsozialis¬ mus nicht möglich gewesen. Wer das damalige Elend miterlebt hat, kann niemandem einen Vorwurf machen, wenn er wie ein Ertrinkender wild um sich schlug und dabei Fehlgriffe machte. Als Verfolgter des Nationalsozialismus und überzeugter Geg¬ ner des Hitlerregimes weiß ich, daß niemand leichtfertig über die Menschen des Jahres 1933 zu Gericht sitzen sollte, der die Prüfung von damals nicht durchgestanden hat. Hitler hat im Laufe seiner Karriere als Agitator und danach als Chef einer totalitären Regierung starke Unterstützung auch außerhalb Deutschlands gefunden, also nicht nur bei verunsicherten klei¬ nen Leuten, sondern bei Politikern, die es hätten besser wissen sollen. Es kommt nicht von ungefähr, daß bei den Nürnberger Prozes¬ sen die Frage, wer bei der Finanzierung des Nationalsozialis¬ mus vor 1933 mitgewirkt habe, ausgeklammert wurde. Die Antwort wäre für manche Staaten äußerst peinlich gewesen. In den letzten Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg machten es vor allem Appeasement-Politiker wie Chamberlain und Daladier sowie die britische Labour Party oder der liberale Lloyd George den deutschen Widerstandsgruppierungen ge¬ gen den »Führer« unmöglich, wirksam in Erscheinung zu tre-

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ten. Aus dieser Mitverantwortung schwindelte man sich nach dem Krieg heraus, indem man Deutschland einfach kollektiv aburteilte und damit sein eigenes Versagen bemäntelte. Be¬ sonders skandalös war, daß ein sowjetischer Richter bei den Nürnberger Prozessen mitwirken durfte, der einen Terrorstaat vertrat, dessen »Justiz« dem Volksgerichtshof Freislers noch heute in nichts nachsteht. Dies alles sind nicht nur historische Betrachtungen. Es ist unmöglich, eine bessere Völkerordnung zu schaffen, ohne die totalitäre Gefahr genau zu kennen. We¬ niger als ein Sechstel der UNO-Mitgliedsstaaten sind freiheit¬ lich-demokratisch. Alle übrigen sind kommunistisch, totalitär, Einparteienstaaten oder Militärdiktaturen. Die Freiheit ist heute noch genauso bedroht wie zu den Zeiten, als Adolf Hit¬ ler die Welt in Schrecken versetzte. Der Weltfriede wird erst dann gesichert sein, wenn es keine totalitären Regime mehr gibt, denn Totalitarismus führt über kurz oder lang zum Krieg.

Die UNO als Blasphemie

Die uralte Sehnsucht der Menschheit nach einem Rechts¬ system, das der Allmacht örtlicher Potentaten Grenzen setzt, fand ihren Ausdruck etwa in der »Pax Romana« oder im Heili¬ gen Römischen Reich. Die unbeschränkte nationale Souve¬ ränität hingegen, die zu internationalem Anarchismus führt, war eine der gefährlichsten Irrlehren der letzten zweihundert Jahre. Um 1900 herum schien es, als sei der Gedanke einer größeren Gemeinschaft jenseits der Einzelstaaten endgültig gestorben. Die großartige Initiative des russischen Zaren, den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu schaffen, der trotz erheblicher Mängel bis heute besteht, war eher die Aus¬ nahme. Erst nach dem Ersten Weltkrieg schien eine Wende einzutre¬ ten. Der damals vom amerikanischen Präsidenten Wilson ge¬ gründete Völkerbund entsprang dem Glauben an eine univer¬ selle Demokratie, die die Reichsidee ersetzen sollte. Der Feh¬ ler dabei lag in der ausschließlich säkularen Begründung dieser Rechtsordnung. So entartete der Völkerbund zu einem politi¬ schen Apparat, der den 1919 verstärkten nationalstaatlichen Anarchismus widerspiegelte, aber keineswegs beseitigte. Nach diesen Erfahrungen war es unbegreiflich, daß man später die UNO genauso falsch anlegte. Hitlers Terror hatte der Welt gezeigt, wohin unbeschränkter Nationalismus von motorisier¬ ten Barbaren, praktiziertes Faustrecht und die Leugnung Got¬ tes führten. Trotzdem restaurierte man gedankenlos die dahin¬ gesunkenen Formen der Vorkriegszeit. An der Wiege der Ver¬ einten Nationen stand also eine reaktionär den Nationalstaat wiederherstellende unheilige Allianz. Unheilig war sie des¬ halb, weil die Mehrheit ihrer Gründer den Vorschlag der isla¬ mischen und einiger südamerikanischer Staaten ablehnte, die neue Völkerordnung unter Berufung auf Gott oder zumindest ein höheres Wesen zu gründen, wie dies bisher bei allen be-

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deutenden Verträgen der Fall gewesen war. So wurde die UNO eine zur Institution gewordenen Blasphemie. Viele Amerikaner, allen voran Präsident Roosevelt, litten in den dreißiger und vierziger Jahren schmerzlich an der Tatsa¬ che, daß seinerzeit der Völkerbund eine amerikanische Idee gewesen war, die USA ihm aber nach einem Anfall von Isola¬ tionismus nicht angehört hatten. Dadurch entstand in Wa¬ shington ein Minderwertigkeitskomplex, der sich später bei der Entstehung der UNO auswirkte. Nach dem Eintritt Ame¬ rikas in den Zweiten Weltkrieg sprachen Roosevelt und seine engsten Berater Harry Hopkins und Sumner Welles von der Notwendigkeit, am Ende des Konfliktes eine internationale Friedensorganisation zu schaffen. Dieser Wunsch wurde durch die Sorge bekräftigt, die Allianz des Krieges auch in der Nach¬ kriegszeit zu erhalten. Der damals noch einflußreiche Bot¬ schafter William C. Bullitt warnte zwar immer wieder und ver¬ wies darauf, daß zwischen Amerika und der Sowjetunion so grundlegende Differenzen bestünden, daß man das Zweck¬ bündnis zwischen Moskau und Washington nicht auf die Zeit nach der Kapitulation Hitlers ausdehnen könne. Roosevelt mit seinen beschränkten Geschichtskenntnissen sah demgegen¬ über nicht, daß noch niemals eine Kriegskoalition die Errei¬ chung ihres Zieles überlebt hat, es sei denn, die Alliierten ver¬ band mehr als nur der gemeinsame Feind. Der amerikanische Präsident glaubte offensichtlich, es sei möglich, die Sowjets derart einzubinden, daß sie die Grundsätze einer demokra¬ tisch-rechtsstaatlichen internationalen Ordnung annähmen, wie er mir selbst in einem Gespräch im Sommer 1942 versi¬ cherte. Auf sein Drängen trat die Konferenz von Dumbarton Oaks zu¬ sammen, bei der drei Männer beauftragt wurden, die ersten Richtlinien der neuen Weltorganisation auszuarbeiten. Für die Vereinigten Staaten war es der Außenminister Hüll, den aller¬ dings ständig Alger Hiss vertrat, der später als Sowjetspion entlarvt wurde. Aus Großbritannien kam der verhängnisvolle 98

Anthony Eden und für die Sowjetunion der hochintelligente Maxim Litwinow. Unleugbar war vor allem er es, der in den wichtigen Fragen häufig das letzte Wort hatte. Viele Teile des Dokumentes tragen seine Handschrift. Von Anfang an gab es in Dumbarton Oaks zwei unterschied¬ liche Linien. Die Amerikaner wollten der Organisation mög¬ lichst große Macht geben und glaubten, daß dies auch die So¬ wjetunion befürworten müsse. Litwinow wiederum, der aus der Erfahrung früherer Generationen gelernt hatte und die Ambitionen seiner Regierung kannte, wußte, daß der Konflikt zwischen den beiden Großmächten unvermeidlich war. Sein Ziel war es demnach, das neue Instrument so zu gestalten, daß es niemals gegen Moskau eingesetzt werden könnte wie seiner¬ zeit der Völkerbund im Finnlandkrieg. Dieser war nämlich in¬ sofern wirkungsvoller als die UNO gewesen, als er Aggres¬ soren wie die Sowjetunion und das Italien Mussolinis mit Mehrheit ausschließen konnte. Die UNO hingegen ist derart konstruiert, daß sie im Falle einer Meinungsverschiedenheit zwischen den Supermächten völlig wirkungslos bleibt, weil der eine große Partner den anderen durch ein Veto im Sicherheits¬ rat blockieren kann. In Dumbarton Oaks hatten die USA mehr Gewicht auf die Generalversammlung, die Sowjets den Schwerpunkt auf das Vetorecht der Großmächte gelegt. Grund dafür war die heute längst vergessene Tatsache, daß die westlich demokratisch orientierten Staaten in der Zeit vor der Dekolonisierung die Mehrheit in der Weltorganisation bildeten. Als kurz nach Kriegsende die Entfremdung zwischen Washington und Mos¬ kau eintrat, zeigte sich die Bedeutung des Vetos zur Lähmung der internationalen Organisation. Im Koreakrieg des Jahres 1950, der im Auftrag der Generalversammlung, also im Na¬ men der UNO, gegen den kommunistischen Angriff geführt wurde, war es den Amerikanern zum letzten Mal vergönnt, die Vereinten Nationen zugunsten der Freiheit einzusetzen. Als dieser Waffengang durch ein auf beiden Beinen hinkendes 99

Stillstandsabkommen beendet wurde, gelang den Sowjets un¬ ter der Federführung von Außenminister Molotow ein genia¬ ler politischer Schachzug, der die Entmachtung der USA ein¬ leitete. Damals entstand das Schlagwort von der »Universali¬ tät« der UNO. Dieser Begriff ist nirgendwo in der Charta ent¬ halten, wurde aber so geschickt propagiert, daß schließlich fast jedermann glaubte, dies sei ein Grundgesetz der Weltorgani¬ sation. Jeder Staat schien nun das Recht zu haben, ihr beizutreten, nur weil er unabhängig war. Die Forderung nach Einhaltung der Menschenrechte und demokratischer Prinzipien, von de¬ nen die Charta, allerdings in unverbindlichen Worten, sprach, wurde damit stillschweigend fallengelassen. Die Amerikaner erkannten die Falle nicht, in die sie tappten. So entstand jenes Paket, durch das eine Menge neuer Länder aufgenommen und die Generalversammlung mit einem Schlage grundlegend ver¬ ändert wurde. Die Mehrheit der neuen Mitglieder hatte kei¬ nerlei internationale und wirtschaftliche Erfahrung. Sie mach¬ ten die Versammlung unberechenbar und politisch weitgehend nutzlos. Die unverantwortliche Einstellung der jetzt hinzuge¬ kommenen Regierungen erlaubte Moskau, sich durch extreme Stellungnahmen und weltweite Demagogie eine, wenn auch schwankende, Mehrheit zu schaffen und im Laufe der Jahre Amerika und Europa vollends an die Wand zu spielen. Das wiederum führte zur Aufwertung des Sicherheitsrates, die dem Westen aber auch nichts brachte, da die Sowjets das Vetorecht besaßen. Erschwert wurde diese Lage dadurch, daß im Sinne der Uni¬ versalität weder Einwohnerzahl noch Beitragsleistung tjer Mit¬ gliedsländer berücksichtigt wurden, sondern jeder Staat unge¬ achtet seiner Größe über eine Stimme verfügte. Einzige Aus¬ nahme ist natürlich die Sowjetunion, die in der Generalver¬ sammlung dreimal vertreten ist, weil auch die ukrainische und die weißrussische Sowjetrepublik zu den Vereinten Nationen zählen. Moskau hat den Llkrainern und Weißrussen also nicht

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nur gewaltsam das Selbstbestimmungsrecht verweigert, son¬ dern verhöhnt diese freiheitsliebenden europäischen Völker noch dadurch, daß es in ihrem Namen in der Generalver¬ sammlung auftritt. Mit der Unabhängigkeit zahlreicher poli¬ tisch unterentwickelter Kleinstaaten entstanden Mehrheiten, die keiner greifbaren Realität entsprechen. So kann man in der UNO heute 104 Staaten finden, die rund zwei Drittel der Stimmen in der Generalversammlung abgeben, aber zusam¬ men nicht einmal die Bevölkerung der USA zählen. Wirtschaftlich sind die Unterschiede noch größer. Es gibt in den Vereinten Nationen achtzehn Länder mit einem Brutto¬ sozialprodukt, das geringer ist als dasjenige des ärmsten deut¬ schen Landkreises. Kein Wunder, daß eine solche Körper¬ schaft zu einer auch nur halbwegs rationellen Politik unfähig ist. Das erklärt viele der ansonsten unverständlichen Beschlüs¬ se in New York. Diese organische Schwäche hat dazu geführt, daß auch die gesunden Teile der Weltorganisation wie die Hilfsorganisation, die größten Teils Erbe des Völkerbundes waren, politisch vergiftet wurden. Der Verfall wirkte sich zuerst auf die Verwaltung aus. Im Sin¬ ne der angeblichen Universalität führte man einen nationalen Proporz ein. Dessen Ergebnis war die Aufblähung des Appa¬ rates und die Besetzung wichtiger Posten durch völlig unfähige Leute, die ihr Amt nur erhielten, weil sie aus irgendeinem neu entstandenen Staat stammten und daher in hohen Stellen un¬ tergebracht werden mußten. So kam es zu der vielgeübten Pra¬ xis, an die Seite von führenden Beamten aus Entwicklungslän¬ dern einen weiteren Funktionär aus der industrialisierten Welt zu stellen, der einen wesentlich geringeren Rang hat, aber die ganze Arbeit seines Chefs tun muß. Die übernationale Verwal¬ tung wurde somit zu einer Ansammlung politischer Drohnen. Die kommunistischen Staaten haben alle ihnen zufallenden Posten mit qualifizierten Leuten besetzt, die fast ausnahmslos aus den Nachrichtendiensten oder der Geheimpolizei stam¬ men und sich auch weiterhin, anders als ihre Kollegen aus dem

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Westen, als nationale Beamte fühlen. Das erzeugte in der Or¬ ganisation berechtigtes Mißtrauen, ein System der Bespitze¬ lung und Unterdrückung, das die Arbeit erheblich beeinträch¬ tigt. So hat sich der Apparat politisiert. Entscheidungen wer¬ den kaum noch nach sachlichen Gesichtspunkten gefällt. Auch der Rassismus spielt eine gewaltige Rolle, da viele neue Staa¬ ten systematisch eine Haltung gegen die Weißen einnehmen. Noch gravierender ist dabei, daß bei der Mehrheit der Sinn für eine juristische Ordnung fehlt, so daß es keine Rechtssicher¬ heit in der UNO und ihren Gliederungen mehr gibt. Am be¬ sten veranschaulichen das Vorschläge der internationalen Bü¬ rokratie wie etwa der Entwurf einer Seerechtskonvention, die sogenannten Wiener Protokolle, die Vorlage über Technolo¬ gietransfer und nicht zuletzt die Beschlüsse der UNESCO zur Informationspolitik, deren Ziel es ist, diese dem Willen der Regierungen zu unterwerfen und die freie Nachrichtenüber¬ mittlung zu behindern. Das hat in den USA das Faß zum Überlaufen gebracht. Zwi¬ schen Weihnachten 1983 und Neujahr 1984 übergab die dama¬ lige Botschafterin der Vereinigten Staaten bei der UNESCO in Paris, die schöne und intelligente Jeanne Gerard, der Ver¬ waltung

in

Abwesenheit

von

Generalsekretär

Mokhtar

M’Bow, der, wie meist, auf Urlaub war, eine Note, mit der ihr Land seine Mitgliedschaft aufkündigte. Die Reaktion war nicht so stark, wie es zu anderen Zeiten zu erwarten gewesen wäre. Die Medien schienen zu sehr mit den Feiertagen bezie¬ hungsweise mit den letzten Aktionen des internationalen Ter¬ rorismus beschäftigt. Die europäischen Regierungen zeigten sich in einigen Gesten unsolidarisch mit dem Verbündeten nach dem Muster ihrer »Haltung« zu Grenada oder Namibia. Sie gaben damit wieder einmal ohne Not ein Stück des morali¬ schen Kapitals der für sie lebenswichtigen atlantischen Allianz preis. Das wird sich auf die Dauer summieren. Zu den USA standen lediglich die Briten und in der Bundesrepublik Deutschland Franz Josef Strauß.

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Die Kennzeichen der UNO bleiben daher weiterhin eine un¬ verantwortliche Finanzpolitik, Korruption, besonders bei der Ernennung von Beamten, und eine dauernde demagogische Hetze gegen die freie Welt. Typisch dafür sind die Gleichset¬ zung von Zionismus und Rassismus wie auch die Politik gegen¬ über Südafrika. Zweifellos hat dieses Land vieles falsch ge¬ macht und man kann die Apartheidspolitik nicht gutheißen. Aber jeder Angeklagte hat das Recht, gehört zu werden. Das aber verweigert die UNO der Südafrikanischen Republik. Hinzu kommt die einseitige Zu- und Aberkennung des Selbst¬ bestimmungsrechtes. Warum darf die UNO erklären, daß die PLO alle Palästinenser und die SWAPO die ganze Bevölke¬ rung von Namibia vertritt? Wie kann eine Organisation sich zum Sprachrohr der Demokratie erklären, in der nur ein Bruchteil der Mitgliedsstaaten noch im weitesten Sinne als de¬ mokratisch angesehen werden kann, während die erdrückende Mehrheit aus Gewaltregimen besteht? Der amerikanische Schritt gegenüber der UNESCO muß Fol¬ gen auf anderen Gebieten haben, wenn die UNO nicht bereit ist, eine neue und verantwortliche Politik einzuleiten. Wenn Präsident Reagan sagte, daß Israel, falls es aus der Weltorga¬ nisation scheiden müsse, diese nicht allein verlassen würde, so hat er etwas ausgesprochen, was noch vor wenigen Jahren un¬ denkbar gewesen wäre. Die Geduld der USA ist erschöpft. Schon heute wird in verantwortlichen Kreisen in Amerika al¬ len Ernstes darüber gesprochen, wie man eine neue Organisa¬ tion aufbauen könnte, falls die UNO unreformierbar bleibt. Diese wurde einst als ein Instrument der Friedenserhaltung gegründet. Das hat sich als Illusion erwiesen. Man hielt ihr dann zugute, sie sei eine brauchbare Plattform für den interna¬ tionalen Dialog. Auch das ist durch die ideologische Verzer¬ rung der Debatten fraglich geworden. Wenigstens, so tröstete man sich bis in jüngste Zeit, gibt es funktionsfähige Fachorga¬ nisationen. Durch die Politisierung des gesamten Körpers wer¬ den auch diese bis vor kurzem intakten Teile unbrauchbar

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gemacht, wie es der Fall UNESCO zeigt. Dabei steigen die Kosten, die vor allem diejenigen Staaten bestreiten müssen, gegen die die Weltorganisation politischen Krieg führt. Und der Apparat bläht sich unaufhörlich auf. Die einzige Stelle, die diese Entwicklung noch aufhalten könnte, ist die UNO selbst. Ob sie dazu noch in der Lage ist, ist bedauerlicherweise zwei¬ felhaft.

Der Dritte Weltkrieg

Im Weltbild unserer »Friedensbewegten« spielt ein apokalyp¬ tischer Krieg eine besondere Rolle. Systematisch schüren sie im Westen die Angst, daß die Katastrophe, die endgültige Vernichtung der Menschheit, nahe bevorstehe. Daher die fanatische Überzeugung bei vielen, die bereits gänzlich der Gehirnwäsche erlegen sind, daß ein weltweites Hiroshima un¬ ausweichlich sei. Gewiß soll nichts verharmlost werden. Theo¬ retisch ist eine Totalvernichtung der Erde nicht mehr ausge¬ schlossen. Das ist schlimm genug. Allerdings stellt sich auch die Frage der Wahrscheinlichkeit. Das ist der Punkt, an dem die Friedensbewegten in der Regel abschalten und nicht mehr bereit sind, weiter sachlich zu diskutieren. Hier rührt man nämlich an den Dogmen, dem »Credo quia absurdum«. Seit es die Menschheit gibt, haben Angreifer zwei Ziele ver¬ folgt: sich die Reichtümer ihrer Opfer anzueignen und die Menschen ihren Zielen dienstbar zu machen. Würde also ein Aggressor ein Land bei der Eroberung in eine Strahlenwüste verwandeln, die er selbst meiden müßte, würde er damit den Sinn seines Unternehmens vernichten. Es wäre das eine äu¬ ßerst unrationelle Vorgehensweise. Zwar kennt die Geschich¬ te durchaus Beispiele eines unvernünftigen Verhaltens, doch muß man eines klar sehen: Ein Krieg hat so gut wie niemals dort angefangen, wo der vorhergehende aufhörte. 1914 rech¬ nete man noch mit unwiderstehlichen Reiterattacken. 1939 glaubte man, weil der Erste Weltkrieg in einer Wolke von Giftgas versank, werde diesmal genau das gleiche stattfinden. Nach zwei Jahren erst sah man den Irrtum und legte die Gas¬ masken ab. Heute scheint es berechtigt, die Frage zu stellen, ob der Beginn eines Dritten Weltkrieges unbedingt dem Ende des Zweiten ähneln müsse, das im Zeichen der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki stand. Gewisse Strategen schla¬ gen gerne die Schlachten von gestern. Das ist der Grund, war-

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um die Israeli nach ihren Kriegen sofort mit der Pensionierung von siegreichen Generälen beginnen. Sie wollen neue Ideen. Daher ihre Erfolge. Umgekehrt kann man das Beispiel Frank¬ reichs nennen, das 1940 zwar mit einer guten Armee angetre¬ ten war, aber auch mit den Kommandeuren des Jahres 1918. Wir wissen, wie sich dies auswirkte. Heute stehen wir nicht nur in der Waffentechnik vor völlig neuen Entwicklungen, sondern in der Kriegsführung schlecht¬ hin. Der Kreml strebt nach Weltherrschaft, will dabei aber die atomare Katastrophe vermeiden. Der große russische Schrift¬ steller Alexander Solschenizyn hat uns deshalb beschworen, endlich einzusehen, daß wir umsonst auf einen Dritten Welt¬ krieg warten. Moskau habe diesen Kampf, der aus Propagan¬ da, Terror und Subversion bestehe, bereits gegen uns eröffnet. Leider hätten wir wenig Verständnis für seine Gesetzmäßig¬ keiten, befänden uns daher auf dem besten Wege, ihn zu ver¬ lieren. Es sollte auch dem Westen auffallen, daß auf den sowjetischen Militärakademien weit eher der subversive Krieg gelehrt wird als die klassischen Methoden. Heute ist Sun Tsu, der chinesi¬ sche Altmeister des psychologischen Kampfes, wichtiger als Clausewitz. Daß die herkömmliche Rüstung dennoch weiter¬ hin ihre Bedeutung hat, ist klar. Diese braucht man, um sie nicht verwenden zu müssen. Sie gilt als notwendig im Gleich¬ gewicht der Kräfte, ist aber hauptsächlich darum geboten, weil sie freie Hand in der politischen Auseinandersetzung gibt. Die Waffen spielen somit heute die Rolle der starren Verteidi¬ gungslinie im Bewegungskrieg. Letzterer bringt aber die Ent¬ scheidung. % Der eigentliche Feldzug wird auf zwei Ebenen geführt: auf der psychologischen und durch den Einsatz von Stellvertretern. Im Ringen um die Seelen ist die Desinformation die wesentlichste Waffe des Ostens. Es gibt im Westen wohl auch Ansätze pro¬ pagandistischer Arbeit, Meister bleibt aber die Sowjetunion. An jeder Botschaft der UdSSR ist derzeit eine Anzahl von

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Sachverständigen auf diesem Gebiete tätig. Sie haben den kommunistischen Kräften geholfen, den Vietnamkrieg zu ge¬ winnen. Heute geschieht ähnliches bezüglich Mittelamerika. Daß dabei »fünfte Kolonnen« in der freien Welt entscheidend mitwirken, ist klar, wobei ihre gefährlichen Hilfstruppen, meist unbewußt, Lenins berühmte »nützlichen Idioten« sind. Zeitungen wie die »WASHINGTON POST«, »NEW YORK TIMES« oder »LE MONDE« haben für Moskau mehr gelei¬ stet als viele Divisionen. Das Erfolgsgeheimnis Moskaus be¬ steht darin, daß es auf diese Waffen nahezu ein Monopol be¬ sitzt. Im Ostblock bestehen weder eine freie Presse noch ein zur Wahrheit verpflichteter Rundfunk, deren wir uns zu unse¬ rer Verteidigung bedienen könnten. Den Westen hindern au¬ ßer diesen strukturellen Unterschieden auch moralische Rück¬ sichten daran, bewußt zu lügen oder von Staats wegen ge¬ fälschte Dokumente zu verbreiten. Eines der wesentlichsten Mittel der Desinformation ist die Schaffung eines schlechten Gewissens beim Gegner. Hier er¬ rang der sowjetische Dienst einen seiner durchschlagendsten Erfolge, weil er unser verzerrtes Geschichtsbild für seine Zwecke nutzen konnte. Wer glaubt, für seine Vergangenheit auf ewig sühnen zu müssen, hat bereits verloren. Während bei uns also viele vor dem propagandistischen Trom¬ melfeuer aus dem Osten in die Knie gehen, versucht die So¬ wjetunion alles, um ihr Ansehen aufzupolieren. Es ist fast ge¬ spenstisch zu beobachten, wie seit Lenins Zeiten jeder KremlHerrscher als Reformer bejubelt wird, der sich von seinem illiberalen Vorgänger so vorteilhaft unterscheide. Von 1985 an erlebten wir das auf fast klassische Weise mit dem neuen Diktator Gorbatschow. Er wurde als verkappter Demokrat dargestellt. Vor allem rechnete es man ihm zur Ehre an, daß er eine »elegante Frau« habe, gerne und leicht mit den Menschen verkehre und sich modisch kleide. Daraus schlossen angeblich fortschrittliche Kommentatoren, daß der »Menschenfreund« tatsächlich für das Volk wirken wolle, weshalb ihm ein gehöri-

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ger Vertrauensvorschuß zuzugestehen sei. Solches las man vor allem in der schon erwähnten »WASHINGTON POST« und im »STERN«, gerne übertragen durch die öffentlich-rechtli¬ chen Rundfunk- und Fernsehanstalten

lauter Medien, von

denen man mit Recht annehmen darf, daß sie dem Kreml, meist unbewußt, als Träger gezielter Desinformation dienen. Wer sich jemals mit KGB-Operationen befaßt hat, kennt de¬ ren strategisches Schema. Bei kleineren Anliegen benützt man Zeitungen oder Rundfunkanstalten in den Entwicklungslän¬ dern, um Nachrichten in Umlauf zu setzen, die dann die demo¬ kratische Welt übernimmt. Bei größeren Problemen wiederum versorgt man eines der großen linksliberalen oder linken Orga¬ ne im Westen mit »gezielten Indiskretionen«, die dann von an¬ deren Publikationen automatisch und gedankenlos übernom¬ men werden. Gorbatschow war die verspätete Antwort des Kreml auf das Fernsehzeitalter, in dem sich Ronald Reagan von Anfang an so sicher bewegte. Natürlich sah der neue Sowjet-Herrscher besser aus als die Zombies, die vor ihm die Moskauer Mi߬ stände verwalteten. Doch mit welchem Recht verkünden unsere Entspannungseuphoriker, daß die jetzt im Osten antretende Generation aus pragmatischen Menschen und nicht mehr aus doktrinären Kommunisten bestehe? Die neue Linie ist weitgehend nichts als Schein. Der geänderte Stil dient den alten Zielen. Es genügt, die russischen Zeitungen zu lesen, um zu wissen, daß die Weltrevolution immer noch als wichtigste Aufgabe der UdSSR verkündet wird. Diese aber ist, wie Hans Graf Huyn treffend formulierte, eine dauernde Kriegserklä¬ rung an alle Völker, die sich noch nicht unter dem Diktat Mos¬ kaus befinden. Wenn Gorbatschow im Gegensatz zu seinen Vorgängern eher bereit zu sein scheint, über Abrüstung zu verhandeln, so liegt das ausschließlich an der in der Reagan-Aera wiedergewonne¬ nen Stärke des Westens. Solange das Politbüro der KPdSU glauben konnte, durch Protestaktionen im Inneren der Bun-

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desrepublik den NATO-Doppelbeschluß unterlaufen zu kön¬ nen, war es nicht gesprächsbereit. Erst die Entschlossenheit von Reagan und Kohl, die einseitige Schwäche des Westens zu überwinden, holte die Sowjets an den Verhandlungstisch. Die UdSSR kann ökonomisch bei den Verteidigungsanstren¬ gungen der USA nicht mithalten. Wer wie ich im Zweiten Weltkrieg erlebt hat, was die amerikanische Produktionsma¬ schinerie leisten kann, wenn sie einmal angeworfen ist, mag den russischen Respekt ermessen. Die katastrophale Lage in¬ nerhalb des östlichen Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) beweist, daß aus diesem Raum mit seinem verfehl¬ ten marxistischen System nicht mehr viel herauszuholen ist. Gorbatschow hat deshalb in einer im Westen wenig zur Kennt¬ nis genommenen Rede gesagt, daß es fortan nicht mehr genü¬ gen werde, wenn die Armee Wünsche äußere, diese müßten auch durchführbar sein. Da Moskau beim derzeitigen Tempo im Rüstungswettlauf außer Atem kommen mußte, ist sein Be¬ streben durchaus verständlich, die Geschwindigkeit zu brem¬ sen und eine Situation herbeizuführen, in der es ohne allzu große politische Verluste eine Pause erreichen kann. Nicht zuletzt deshalb beginnt der Kreml nunmehr stärker auf die modernen Waffen wie Desinformation, Destabilisierung, Subversion und Terrorismus umzuschalten. Das drückt sich im inneren Gefüge des roten Imperiums aus. Die Macht der No¬ menklatura ruht auf drei Säulen: Armee, Partei und Geheim¬ dienst, also vor allem KGB. Bis zum Machtantritt Gorbat¬ schows besetzte das Militär die Schlüsselpositionen, weil man bis in die höchsten Stellen annahm, daß früher oder später ein Krieg im klassischen Sinne ausbrechen könne. Gorbatschow, ein Realist, weiß, daß dies unwahrscheinlich geworden ist. Die Armee wurde deshalb zwar nicht völlig aus der Führung ver¬ drängt, aber sie mußte ins zweite Glied treten. An der Spitze steht jetzt der KGB, dessen Vertreter seit Mitte der acht¬ ziger Jahre alle wichtigen Funktionen einnehmen. Das war auch der wirkliche Grund für die sogenannte Antikor-

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ruptionskampagne Gorbatschows. Diese diente dem doppel¬ ten Zweck, den Diktator einerseits als Saubermann darzu¬ stellen, andererseits freie Stellen für Geheimdienst-Apparatschiki zu schaffen. Deren bekannteste Repräsentanten waren schon kurz nach dem Amtsantritt Gorbatschows Außenmini¬ ster Shevardnadse, Vizepremier Alijew und die neuernannten Spitzenfunktionäre in Innenpolitik und Wirtschaft. Während man also den Demokraten eine Liberalisierung vorspielt, er¬ folgt die Machtergreifung der Geheimdienste. Der subversive Krieg gegen den freien Westen wird nicht nur durch die sattsam bekannten Tarnorganisationen geführt, son¬ dern auch unmittelbar über kommunistische Parteien. Diese werden wegen ihrer geringen Mitgliederzahl und ihren lächer¬ lichen Wahlergebnissen oft unterschätzt. Doch gerade Split¬ tergruppen wie die DKP in Deutschland und die kommunisti¬ sche Partei Großbritanniens verfügen über erhebliche Mittel. Die DKP ist wahrscheinlich die wohlhabendste Partei der Bundesrepublik. Natürlich entsendet sie trotz größter An¬ strengungen keinen einzigen Abgeordneten in ein Parlament, doch hat sie sich zum wirkungsvollen Kader entwickelt. Sie durchsetzt mit ihrem Personal politische Bewegungen, die un¬ abhängig von ihr entstehen, und führt sie somit aus der Ferne. Während die DKP wesentlich zur Umfunktionierung der deut¬ schen Grünen und der sogenannten Friedensbewegung beige¬ tragen hat, kontrolliert ihre britische Schwesterpartei viele Gewerkschaften. Es ist bei den Kadern also etwas gelungen, was man, wenn man nur in parlamentarischen Kategorien denkt, nicht für möglich halten würde. Auch in den Volksvertretungen findet die östliche Agitation ihren Resonanzboden. Natürlich nicht bei Sozialdemokraten alter Prägung, die immer mehr von neuen Kräften verdrängt werden, aber in den Kreisen um Brandt. Im Lager des Präsi¬ denten der Sozialistischen Internationalen laufen zwei Ströme zusammen. Auf der einen Seite haben wir das, was man die Tauroggen-Deutschen nennen könnte. Es sind das alte natio-

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nalistische Kräfte, die noch immer von einer deutsch-russi¬ schen Allianz träumen. Zahlenmäßig wenig bedeutend, besit¬ zen sie trotzdem starken Einfluß. Egon Bahr dürfte ihnen nahestehen. Einer aus diesen Kreisen hat einmal seine Gedan¬ ken wie folgt ausgedrückt: »Die Russen sind stärker als wir und wir tüchtiger beziehungsweise erfolgreicher als sie. Wenn wir uns mit Moskau verbündeten, werden über kurz oder lang die Russen das Pferd und wir der Reiter sein.« Das ähnelt den Motiven früherer Nationalsozialisten, die der Sowjetunion im Rahmen der »DDR« wertvolle Dienste leiste¬ ten. An Anhängern weit bedeutsamer ist eine andere Gruppe. Ihr läßt sich Brandt zurechnen. Diese Menschen sind stark mate¬ rialistisch orientiert und betrachten daher die Erhaltung des gegenwärtigen Scheinfriedens, also ihres persönlichen Wohl¬ befindens, als erstes und wesentlichstes Gut. Für sie hat die Freiheit einen verhältnismäßig untergeordneten Stellenwert. Wie seinerzeit die Verfechter der Sonnenfeldt-Doktrin glau¬ ben die »Lieber-rot-als-tot-Patrioten«, daß wir alles Interesse haben müßten, die Stellung der UdSSR in Mittel- und Ost¬ europa zu stärken. Sie fürchten nämlich, daß eine Krise im sowjetischen Herrschaftsbereich die Gefahr einer Flucht nach vorne heraufbeschwören würde. Sie sind deswegen bereit, sich Ruhe und Wohlstand auf dem Rücken der unterdrückten Völ¬ ker hinter dem Eisernen Vorhang zu erkaufen. Daher ihre politische Einäugigkeit, um deretwillen sie Menschenrechts¬ verletzungen in Lateinamerika eher verurteilen als jene im anderen Teil Deutschlands und Europas. Die Armee des chilenischen Generals Pinochet oder die Südafrikaner haben Europa niemals bedroht, so daß man ihnen gegenüber ruhig Heldenposen einnehmen konnte, um zu verdecken, daß man gleichzeitig vor Moskau kuscht. Um einer solchen Haltung ei¬ ne höhere Weihe zu geben, prägte man den Begriff Sicher¬ heitspartnerschaft. Daß eine solche zwischen Ost und West ab¬ surd ist, liegt auf der Hand, denn sie müßte sich zwangsläufig

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gegen jenen richten, von dem die Spannung ausgeht. Das aber ist die Sowjetmacht, die halb Europa und einen großen Teil Deutschlands besetzt hält. Zwischen der Einstellung der Baracke in Bonn und den Ziel¬ setzungen des Kreml gibt es unleugbar viele Parallelen, auch wenn die einfache Erklärung, Teile der deutschen Sozialdemo¬ kratie würden von Drahtziehern im Kreml abhängen, kaum zutreffen dürfte. Vielmehr handelt es sich hier um eine auto¬ nome politische Überlegung, die allerdings objektiv wesent¬ lich gefährlicher ist, als wenn es sich um eine fünfte Kolonne im klassischen Sinne des Ausdruckes handeln würde. Diese Formationen gehen nicht nur auf die Tage zurück, als Brandt 1969 das Adenauersche Konzept einer europäischen Union als Vorbedingung der deutschen Wiedervereinigung über Bord warf und den Gedanken einer Integration im We¬ sten auf dem Altar der Ostpolitik opferte. Ein entscheidender Zeitpunkt war vielmehr auch, als Brandt nach dem Sturz Helmut Schmidts die Kontrolle seiner Partei wieder voll in Händen hatte und in deren Führungsgremien die Vertreter der traditionellen Sozialdemokraten durch seine Anhänger ersetz¬ te, welche mit dem Aufkommen der Friedensbewegung und der Grünen ein neues Gewicht erhielten. So erlebte man die Anbiederung der SPD an Extrem-Pazifi¬ sten und Alternative, die Teilnahme Brandts an Demonstra¬ tionen gegen die Vereinigten Staaten und damit den zuneh¬ menden Antiamerikanismus in einem Flügel der großen deut¬ schen Linkspartei. Es ist mit Recht festgestellt worden, daß der Antizionismus meist nichts anderes ist als eine Maske für den alten Antisemitismus, den man nicht mehr öffentlich zu verkünden wagt. Im gleichen Sinne muß der Antiamerikanis¬ mus nur als Alibi für diejenigen herhalten, die sich bereits in¬ nerlich mit der Vorherrschaft des Kreml über Europa abgefun¬ den haben, sich aber noch nicht trauen, dies der Bevölkerung zu sagen. Dem entsprechen auch die Bestrebungen linker deutscher Po-

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litiker, die »DDR« als gleichwertig mit der Bundesrepublik anzuerkennen und ihr den Status eines legitimen deutschen Staates zu sichern. Die einzelnen Etappen auf diesem Weg sind klar erkennbar. Das geht über die Vorschläge zur Aner¬ kennung einer eigenen »DDR-Staatsbürgerschaft« bis hin zu Grenzdiskussionen, in denen man sich plötzlich alte Forderun¬ gen des Ostens zu eigen macht, was große Sozialdemokraten wie Kurt Schumacher noch als Hochverrat bezeichnet hätten. Auch der abwegige, selbst in sogenannten bürgerlichen Krei¬ sen geäußerte Gedanke, die »Volkskammer« der kommunisti¬ schen Diktatur mit dem frei gewählten deutschen Bundestag gleichzustellen, ist auf solchem Boden gewachsen. Die immer wiederkehrenden Versuche, das Wiedervereini¬ gungsgebot aus der Präambel des Grundgesetzes zu streichen oder das Wort Deutschland im allgemeinen Sprachgebrauch zugunsten des sowjetisch ersonnenen Kürzels BRD zurücktre¬ ten zu lassen, sind des selben Geistes Kind. Wer BRD sagt, verwischt den Unterschied zwischen einem freiheitlichen, für alle Deutschen sprechenden Gemeinwesen und dem sowjeti¬ schen Satellitenregime. Ich bin glücklich, daß es mir gelungen ist, beim seinerzeitigen Präsidenten der EG-Kommission Ga¬ ston Thorn durchzusetzen, daß in offiziellen EG-Dokumenten nicht mehr von der BRD die Rede sein darf. Zu dieser psychologischen Kampfführung des Ostens, die bei uns im Herzen Europas ihre Helfer findet, kommt der Stell¬ vertreterkrieg auf anderen Kontinenten. Während Libyen sich zur Speerspitze des Terrorismus entwickelte, ruhte die direkte militärische Last in den letzten Jahren vor allem auf den Schul¬ tern Kubas. Die Sowjets hatten früh erkannt, welch ungeheure Bedeutung dieses Land für sie besitzen könnte. Die Machtergreifung auf der karibischen Insel leitete daher bereits 1944 der damalige sowjetische Botschafter in Mexico, Konstantin Umansky, ein. Er schuf mit Hilfe des spanischen Bürgerkriegsgenerals Alberto Bayo die »Legion del Caribe«, von der die meisten

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Untergrundbewegungen in diesem Raum ausgegangen sind. Jener Schule entstammten auch Che Guevara und Fidel Ca¬ stro, also fast die gesamte ältere Garnitur der derzeitigen mar¬ xistischen Kräfte in Süd- und Mittelamerika. Die Wahl des Ortes war von erheblicher Bedeutung. Wer die weltweite strategische Lage betrachtet, weiß, daß es heute zwei kritische Punkte gibt. Das Kap der Guten Hoffnung und den Panama-Kanal. Gelänge es, den Seeweg um Afrika zu blockieren, würde die industrielle Struktur Westeuropas zer¬ fallen. Das ist der Grund, warum Angola, Mogambique, Na¬ mibia und Südafrika für West wie Ost so wichtig sind. Angola ist heute einer der wesentlichsten atlantischen Posten, auf den die Sowjets so lange zählen können, als die kubanische Besat¬ zungsmacht dort bleibt. Daß es europäische Politiker gibt, die auch Namibia oder Südafrika wissentlich oder unwissentlich unter die Autorität Moskaus bringen wollen, beweist die Ver¬ blendung von Personen, für die die Ideologie die Vernunft er¬ setzt hat. Der Panama-Kanal wiederum kann aus Kuba oder Nicaragua direkt gefährdet werden. Daher die gewaltigen Anstrengun¬ gen aller sowjetischen Desinformationsdienste, die amerikani¬ sche Politik in Mittelamerika zu durchkreuzen. Reagan hat klar erkannt, daß es hier um eine der wichtigsten Schlachten im psychologischen »Dritten Weltkrieg« geht. So gesehen war die Befreiung Grenadas von seiner marxistischen Putschregie¬ rung durchaus berechtigt, denn sie setzte ein Signal für den ganzen Raum. Die weltpolitischen Entscheidungen der Zu¬ kunft werden vor allem in Afrika, Lateinamerika und der Ka¬ ribik fallen. An diesen Orten stoßen die Supermächte durch Dritte aufeinander. Erfolgreich wird derjenige sein, der die besseren Nerven behält. Wer sich angesichts dieses Szenarios entmutigt fühlt, sollte be¬ denken, daß es auch in der Sowjetunion eine innere Heraus¬ forderung gibt, die viel mächtiger ist als die im Westen. Die Erfolge unserer Marktwirtschaft und die Freiheit, die unser

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parlamentarisch kontrollierter Rechtsstaat bietet, sind eine ständige Verlockung für die Völker unter kommunistischer Herrschaft. Im Zeitalter der Informationsexplosion und der modernen Medientechnologien kann man den Unterschied in Lebensstandard und Lebensqualität auf die Dauer nicht ver¬ bergen. Wir sind daher sogar für geeichte östliche Funktionäre ein Leitbild, das die Existenz des Nomenklatura-Regimes be¬ droht. Deshalb das ständige Gerede vom »Wandel durch An¬ näherung« durch prosowjetische Kräfte im Westen, die diesen dadurch seiner Ausstrahlung berauben wollen. Im Osten hingegen werden die gleichen Ideen brutal verfolgt, weil man sich von ihnen eine Minderung der eigenen Stellung er¬ wartet. Wir haben große Chancen, wenn wir nur wollen. Es gilt, das westliche Bündnis zu bewahren und zu kräftigen, den unab¬ hängigen Teil Europas zu einigen, Befreiungsbewegungen wie die im afghanischen Volk zu stärken und im Interesse der Eu¬ ropäer hinter den Stacheldrähten die modernen Medientech¬ nologien offensiv zu nutzen. Die Menschen jenseits der JaltaLinie hungern nach Information. Es läge im Interesse der freien Welt, dieses Bedürfnis zu befriedigen. Das wäre auch juristisch unangreifbar, nachdem die sowjetischen Sendungen in den Westen etwa zehn mal so stark sind wie unsere Pro¬ gramme für den von Moskau besetzten Raum. Von jeher waren totalitäre und tyrannische Herrscher be¬ strebt, die Bürger ihres Staates von den Nachrichten des Auslandes abzuschneiden und ein Informationsmonopol zu schaffen. Die Völker fordern daher unter dem Eindruck der hitlerischen und stalinistischen Gewaltregime am Ende des Zweiten Weltkrieges, den freien Informationsfluß zum Be¬ standteil einer neuen Völkerordnung zu machen. So heißt es schon in der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom Dezember 1948: »Jeder hat das Recht auf freie Meinungsäuße¬ rung. Dieses Recht umfaßt die Freiheit, Meinungen unange¬ fochten anzuhängen und Informationen und Ideen mit allen

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Verständigungsmitteln ohne Rücksicht auf Grenzen zu su¬ chen, zu empfangen und zu verbreiten.« Dennoch setzt die Sowjetunion seit Februar 1948 Störsender ein, was der UNO-Konvention über zivile und politische Rechte von 1966 ebenso widerspricht wie der KSZE-Schlu߬ akte von 1975. Das Europäische Parlament hat daher im Jahre 1985 meinen Bericht über Störsender verabschiedet, indem der Kreml aufgefordert wird, diese teuren und freiheitsfeind¬ lichen Apparate abzubauen, sollte das Wort von den »ver¬ trauensbildenden Maßnahmen« mehr als nur eine Phrase sein. Daß so etwas nicht völlig utopisch sein muß, haben Rumänien und Ungarn bewiesen, die ihre Störmanöver im Äther einstell¬ ten. Als im Jahre 1940 Hitler die britischen Rundfunkprogramme stören ließ, die für die von den Nationalsozialisten besetzten Teile Europas ausgestrahlt wurden, forderten verschiedene Stellen die BBC auf, das gleiche gegenüber den »AchsenStaaten« zu tun. Damals antwortete die Londoner Anstalt: »Wer Sendungen stört, gibt zu, daß er im Dienst einer schlech¬ ten Sache steht. Er hat ein schlechtes Gewissen. Er fürchtet den Einfluß der Wahrheit. Diese Furcht kennen wir in unse¬ rem Land nicht.« Solcher Geist sollte uns auch heute noch erfüllen. Eine trag¬ fähige Völkerordnung kann nur auf freiheitlichen Fundamen¬ ten errichtet werden. Sollen die fürchterlichen Massenzerstö¬ rungswaffen auf Dauer schweigen, muß die Stimme der Wahr¬ heit weltweit über Freiheitssender und das neue Satelliten¬ femsehen der Zukunft zu hören sein. Das ist das Instrument, mit dem wir Solschenizyns »Dritten Weltkrieg« erfolgreich be¬ enden können.

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Gegen Terrorismus und Piraterie

Zum politischen Kampf Moskaus gegen die freie Welt gehören Terrorismus und Piraterie. Die UNO steht diesen Krebsübeln weitgehend hilflos gegenüber, was angesichts ihres gegenwär¬ tigen Zustandes verständlich sein mag. Terrorismus und alte Begriffe wie Wegelagerei und Piraterie sind heute voneinander untrennbar. In beiden findet man ge¬ meinsame Motive, weil in unseren Tagen ideologische Ursa¬ chen die in früheren Jahrhunderten ausschlaggebenden mate¬ riellen in den Hintergrund gedrängt haben. Darin schlägt sich die wachsende Politisierung unseres Lebens nieder, was nicht heißen soll, daß nicht die Menschheitsbeglückung für manche Gewalttäter nur ein Vorwand ist, sich zu bereichern. Fest steht, daß wir heute in einer vollkommen neuen Dimension le¬ ben, die sich ganz wesentlich vom Bisherigen unterscheidet. Dafür gibt es vier wesenthche Gründe: An erster Stelle steht auch hier die Tatsache, daß es einen mili¬ tärischen Konflikt im herkömmlichen Sinne angesichts der Massenvernichtungswaffen kaum noch geben kann, was, wie schon dargelegt, Stellvertreterkriege auslöst. Diese ziehen je¬ doch magisch junge Menschen aus allen Nationen an, da es nun einmal Personen gibt, die von Natur aus Soldaten sind und sich ein Leben ohne wirklichen oder vermeintlichen Herois¬ mus nicht vorstellen können. Deshalb die fanatische Bereit¬ schaft zur Selbstaufopferung bei vielen Terroristen oder Luft¬ piraten. In zweiter Linie spielt das Ende des Raumes eine Rolle. Dies ist nicht nur strategisch zu verstehen, etwa im Sinne der treffsi¬ cher gewordenen Interkontinentalraketen oder der hochent¬ wickelten Spionagesatelliten, sondern auch bezüglich der In¬ formationsexplosion. Ein Ereignis, das irgendwo auf der Welt stattfindet, wird heute gleichzeitig überall miterlebt, teilweise, über das Fernsehen verzerrt, noch stärker als am Ort des Ge-

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schehens selbst. Die im Zeitraffer dargebotenen und ideolo¬ gisch einseitig aufbereiteten Bilder aus dem Vietnamkrieg ha¬ ben viele idealistische Wirrköpfe

auf die terroristischen

Schlachtfelder der siebziger und achtziger Jahre gerufen. Dar¬ an hat sich nicht viel geändert, wenn auch Vietnam jetzt Nica¬ ragua und Südafrika heißt, weil in Indochina inzwischen nur noch die Kommunisten die Zivilbevölkerung abschlachten, womit diese Region offenbar ihre politisch-erotischen Reize verloren hat. Das führt zum dritten Grund, nämlich zum Ende des interna¬ tionalen Rechts durch Politisierung. Je mehr weltweit die ge¬ meinsamen Wertvorstellungen schwinden und die richterliche Gewalt ausgehöhlt wird, desto verhängnisvoller ist diese Ent¬ wicklung. Unsere internationalen Institutionen sehen juristi¬ sche Fragen nur noch als Hilfsmittel politischer Einseitigkeit. Mit automatischen Mehrheiten, die sich keineswegs scheuen, am selben Tag widersprüchliche Entscheidungen zu fällen, wird hemmungslos nicht nur Recht gesprochen, sondern auch Geschichte umgeschrieben. Dessen bedient sich der Terror zu seiner Legitimation. Am allerwesentlichsten allerdings ist das Überhandnehmen des Totalitarismus durch den Verfall der transzendenten Reli¬ gionen. Denn mit dem Schwinden des Glaubens hört das Stre¬ ben nach absolut gültigen Antworten nicht auf. Wer im Dies¬ seits Unfehlbarkeit und Dauerhaftigkeit beansprucht und das Paradies auf Erden schaffen will, wird sich dieses notfalls her¬ beibomben. Die Tragödie unserer Zeit besteht darin, daß wir den Ereignis¬ sen und Tatsachen um mehrere Gedanken hinterhejhinken. Wir leben technologisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich nicht nur im zwanzigsten, sondern schon im einundzwanzig¬ sten Jahrhundert, während die meisten Politiker und viele Juristen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts steckengeblieben sind. Auch die Europäer, die angesichts ihrer Geschichte eine Pio-

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nierfunktion erfüllen sollten, bieten ein Bild des Jammers. Als wir bei der großen Terrorismuskonferenz der königlich-ma¬ rokkanischen Akademie im Frühjahr 1986 in Rabat Bilanz zogen, war diese niederschmetternd. Der Europarat hatte zwar einen ausgezeichneten Vertragsentwurf ausgearbeitet, der aber bis zu diesem Zeitpunkt an der Obstruktion der Iren und der maltesischen Sozialisten gescheitert war. In Frank¬ reich wiederum hatte seinerzeit Präsident Giscard d’Estaing den Gedanken eines europäischen Rechtsraumes zur Bekämp¬ fung des Terrorismus geboren. Doch weder er noch sein Nach¬ folger oder die anderen EG-Regierungen ließen den starken Worten Taten folgen. Sie versteckten sich weithin hinter öden Phrasen, wobei sie vergaßen, daß der Schutz der Sicherheit des Bürgers die Grundlage des staatlichen Legitimitätsanspru¬ ches ist. Schüler und Kinobesucher, die Gäste von Diskotheken und Kaffeehäusern, Flugzeugpassagiere und Teilnehmer von Mit¬ telmeerkreuzfahrten verbluten, weil es den Verantwortlichen vielfach an politischem Willen mangelt. Das zeigt sich sehr klar, wenn man sich mit dem wesentlich un¬ bedeutenderen Ausbruch des Anarchismus im neunzehnten Jahrhundert befaßt. Dieser konnte erst unter Kontrolle ge¬ bracht werden, als sich die Regierungen endlich entschlossen, ihn einfach als gemeines Verbrechen zu erklären und danach zu behandeln. Der Anarchismus war von Anfang an schwä¬ cher als der Terror im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert, weil es keine Regierungen gab, die ihn schützten. Heute fin¬ den wir in fast allen Weltteilen Regime, die den Terrorismus ideologisch rechtfertigen, materiell fördern oder in denen sich der Gewalttäter sicher fühlen kann. Die Schwäche der Völkergemeinschaft Europas oder der Machthaber in den angeblich souveränen Nationalstaaten erinnert fatal an die Zustände, die Rudolf von Habsburg vor¬ fand, als er die »die kaiserlose, die schreckliche Zeit« des Mit¬ telalters beendete. Verschärfend kommt jedoch hinzu, daß

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die heutigen Räuber und Wegelagerer, die vom Verfall des Rechts profitierenden Gewalttäter, bessere technische Mög¬ lichkeiten haben als ihre Ahnen. Dem muß man nicht nur durch entschlossene Politik begegnen, sondern auch dadurch, daß man endlich wieder zu sauberen Definitionen zurück¬ kehrt. Zunächst gilt es, den Begriff des politisch-ideologisch ausge¬ richteten Totalitarismus, aus dem der Terrorismus hervorgeht, eindeutig zu umschreiben. Etwa so: Er fußt auf einer Lehre, die sich selbst als diesseitig unfehlbar und endgültig betrachtet, von allen Menschen bedingungslos äußere und innere Unter¬ werfung wie Zustimmung fordert und jede abweichende Auf¬ fassung als Verbrechen ahndet. Aus dieser Weitsicht heraus hält der totalitär eingestellte Terrorist jedes Mittel, auch das brutalste, für gerechtfertigt, wenn es seinen Zielen dient. Ebenso muß man sich mit dem Wort »Rassismus« befassen, weil es mit dem Totalitarismus eng zusammenhängt. Seine Be¬ deutung ist schwammig geworden, weil man es meist wahllos als »Killer-Phrase« gegenüber jenen benutzte, gegen die man etwas hatte. Richtig verstanden bedeutet Rassismus den Aus¬ schließlichkeitsanspruch einer angeblichen

Rasse

auf ein

Gebiet oder eine Rechtsordnung, während man anderen Völ¬ kern, Sippen oder Rassen, die ein gleiches legitimes Anrecht darauf besitzen, ein solches verweigert. Daraus entsteht die Verfolgung wirklich oder vermeintlich Andersartiger aufgrund des Zufalls der Abstammung. Nimmt man diese Definitionen an, gelangt man im Lichte un¬ serer Tradition gegenüber solchen Systemen zu einem Wider¬ standsrecht, das allerdings Leben und Eigentum ni^ht direkt Beteiligter achten muß. Gegenüber allen anderen Regierun¬ gen sind Gewalt und Terrorismus unzulässig, müssen also von seiten der Zuständigen als »gemeines«, also nicht »politi¬ sches«, Verbrechen geahndet werden. Nur aufgrund einer sol¬ chen Klärung der Begriffe wäre es möglich, weltweit oder min¬ destens zunächst in Europa eine vernünftige Konvention über

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Terrorbekämpfung auszuarbeiten. Die Völker werden auf Dauer Politiker und Regime nicht dulden, die sich an diesen Lebensfragen durch Geschwätz vorbeischwindeln.

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Ein neuer Wiener Kongress?

In der neueren Geschichte erlebte unser Kontinent, der bis zum Zweiten Weltkrieg der Mittelpunkt der meisten weltpoli¬ tischen Ereignisse war, zwei lange Perioden des Friedens. Die erste dauerte vom Wiener Kongreß 1815 bis zum Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Kriege, die während dieser Zeit¬ spanne ausbrachen - wie 1848,1866 und 1870 - wurden lokali¬ siert. Die übernationale Ordnung, die Wien geschaffen hatte, erwies sich als stark genug, eine Ausdehnung blutiger Ereig¬ nisse zu verhindern. Die zweite solche Epoche trennt uns nun¬ mehr vom Ende des Hitler-Krieges. Zwischen diesen beiden Abschnitten der Geschichte besteht allerdings ein tiefer Unterschied. Im neunzehnten Jahrhundert herrschte echte Sicherheit. Zwar hat der Krieg in den Gedan¬ ken der Menschen immer eine gewisse Rolle gespielt, aber die Furcht aus der napoleonischen Zeit war gebannt. Der allge¬ meine Fortschritt und das weitverbreitete Wohlbehagen be¬ ruhten auf international anerkanntem Recht, das vom Konzert der Mächte garantiert wurde. Was hingegen 1945 mit der Kon¬ ferenz von Jalta begann, ist lediglich ein Zustand des NichtKrieges, einem Produkt des »Gleichgewichts des Schreckens«. Daher herrschen oft Angst und Unruhe - anders als nach Wien. Die Staatsmänner, die den Wiener Kongreß führten - Metter¬ nich, Talleyrand und Castlereagh - wußten, daß es nicht ge¬ nügte, die Lage, die durch den Sturz Napoleon Bonapartes entstanden war, vorübergehend zu bereinigen. Vielmehr galt es, eine übernationale Rechtsgemeinschaft zu bilden' die es den Völkern erlauben würde, in Sicherheit zu leben. Die allge¬ meine Furcht, die viele Europäer seit den erfolgreichen Feld¬ zügen der französischen Revolution befallen hatte, mußte überwunden werden. Die Aufgabe bestand daher nicht so sehr darin, abzurüsten oder Grenzen festzulegen - das waren zweit122

rangige Gesichtspunkte - sondern jene Prinzipien herauszu¬ arbeiten, die eine allgemein gültige Lösung der Probleme er¬ laubten. Die Staatsmänner hatten darüber hinaus verstanden, daß es zu einem echten Frieden gehört, die Besiegten wie die Sieger an der Verantwortung für die Zunkunft teilhaben zu lassen. Es wäre so gesehen falsch gewesen, Frankreich ein Diktat aufzu¬ legen, obwohl dieses eine der schwersten Niederlagen seiner Geschichte erlitten hatte. Daher luden die Verbündeten den Vertreter der Franzosen Talleyrand ein, gleichberechtigt am Friedensvertrag mitzuwirken. Dadurch wurden sein Land und er von vomeherein eingebunden. Dem diente ein für alle glei¬ chermaßen verpflichtender Grundsatz, der die Entscheidun¬ gen des Kongresses bestimmen sollte; die Legitimität, die zu jener Zeit vor allem dynastisch war. Diese konnte sich einmal zugunsten der Sieger, dann wieder der Besiegten auswirken. Natürlich gab es auch hier Ausnahmen von der Regel, doch er¬ laubte das gemeinsame Maß eine zusammenhängende, für alle annehmbare Ordnung herzustellen, die Frankreich ebenso wie Österreich, Rußland, Großbritannien oder Preußen ver¬ pflichtete. Das wesentlichste Element des Wiener Vertrages war die Rechtssicherheit. Sobald Frankreich die gemeinsam erarbeite¬ te Regelung ohne äußeren Zwang freiwillig akzeptiert hatte, bedeutete das für die Sieger, daß sie Rache der Besiegten nicht mehr fürchten mußten. Letztere hatten ebensoviel Interesse wie sie selbst daran, das Bestehende zu erhalten. Während der Ausarbeitung der Kongreßakte gelang es Talleyrand mehr als einmal, für sein Land große Vorteile herauszuholen und in vie¬ len Fragen geradezu der Schiedsrichter des Kongresses zu wer¬ den. Dieser Frieden durch Recht erzeugte eine Atmosphäre, die es erlaubte, die Armeen schrittweise abzubauen. Hier zeigt sich, daß Friede niemals die Folge der Abrüstung, wohl aber die Abrüstung die Folge des Friedens ist. Waffen sind neutral, al123

so weder gut noch böse. Ihre moralische Qualifizierung hängt von jenen ab, die über sie verfügen. Mit Recht hat Mao Zedong gesagt, daß das Gewehr in der Hand seines Gegners ihn nicht interessiere. Was er kennen müsse, seien die Gedanken des Mannes, der hinter dem Ab¬ zug steht. Rüstung verhält sich zu Spannung wie das Fieber zur Krankheit. Sie ist nicht die Krankheit selbst. Wenn ein Arzt nichts anderes könnte, als nur das Fieber zu senken ohne des¬ sen Ursache zu heilen, wäre der Tod des Patienten oftmals nicht zu verhindern. Abrüstung ist demnach nur die Folge ei¬ ner Lösung der politischen Probleme und nicht die Vorbedin¬ gung dazu. Darum fordern potentielle Aggressoren immer Abrüstungskonferenzen, da sie wissen, daß diese nirgendwo hinführen, während sie bei ihren Feinden den Eindruck er¬ wecken, daß sie wirklich Frieden wollen. Von diesem Ge¬ sichtspunkt aus wäre es klug, gerade in unseren Zeiten die Re¬ den Adolf Hitlers nach seiner Machtergreifung über die Frage »Friede und Abrüstung« zu lesen. Seine Redewendungen und Schlagworte unterscheiden sich kaum von jenen, die wir heute von den »Friedensaposteln« im Kreml hören. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges hat der große italienische Historiker Guglielmo Ferrero ein Meisterwerk über den Kon¬ greß von Wien geschrieben, das er offenbar an jene richtete, die nach dem Sieg über den Nationalsozialismus Frieden schließen sollten. Liest man dieses Buch und die darin enthal¬ tene Aufzählung der Fehler, vor denen gewarnt wird, hat man das Gefühl, Ferrero hätte bereits 1939 gewußt, was sich im Fe¬ bruar 1945 in Jalta abspielen würde. Das Diktat von der Krim, das kein juristisches Prinzip, sondern nur die Willkür einiger weniger Potentaten kennt, ist der eigentliche Grund 'für die derzeitige Hochrüstung. Wer heute ständig vom Sicherheitsbe¬ dürfnis der Sowjetunion spricht, vergißt, daß der Kreml vor den Westmächten bestimmt nicht zu zittern braucht. Die Er¬ eignisse seit 1945 haben klar bewiesen, daß diese keine aggres¬ siven Pläne hegen. Wäre dies der Fall gewesen, hätte Amerika 124

die UdSSR zu jener Zeit, als es noch das nukleare Monopol hatte, angegriffen, anstatt die »open skies policy« anzubieten. Was die Sowjetunion wirklich fürchtet, sind die hundert Mil¬ lionen versklavter Menschen, die die erste Gelegenheit wahr¬ nehmen würden, um sich vom fremden Joch zu befreien. Schon Bismarck sagte, daß man mit Bajonetten alles machen kann, außer darauf zu sitzen. Dem entspringt die Unruhe der sowjetischen Führung, die von keiner westlichen Zusicherung oder einseitigen Vorleistung gebannt werden kann. Das vielzi¬ tierte Klima des gegenseitigen Vertrauens könnte schlagartig entstehen, müßte sich die Sowjetunion nicht aus eigener Schuld vor ihren Vasallen hüten, die ihre Herrschaft ablehnen - dies umsomehr, als eine ähnliche Situation wie in Europa auch in den islamischen Teilen der UdSSR und in Sibirien be¬ steht. Ein echter Friede verlangt gebieterisch nach einer gerechten Völkerordnung. Was zur Zeit von Wien die dynastische Legiti¬ mität war, hat heute nicht mehr die gleiche Dynamik wie zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts beziehungsweise be¬ steht in vielen Staaten überhaupt nicht. Unsere Zeit bekennt sich zumindest in Worten allgemein zur Demokratie. Es ist be¬ zeichnend, daß in den Tagen der legitimen Dynastien die Usurpatoren wie Napoleon alles unternahmen, um sich durch Einheirat in ein altes Herrscherhaus oder durch Nutzung reli¬ giöser Autoritäten einen Status in der bestehenden Ordnung zu sichern. Heute erleben wir genau das gleiche. Die große Mehrheit der Mitglieder der Vereinten Nationen sind wie ge¬ sagt totalitäre oder autoritäre Staaten. Aber alle nennen sich Demokratien. Einer der schlimmsten von ihnen, die UdSSR, bezeichnet sich gar als Volksdemokratie, wobei diese groteske Tautologie verdeutlicht, daß sogar die Diktatoren im Kreml gezwungen sind, dieser Idee ihre Reverenz zu erweisen. Entkleidet man das Wort Demokratie seines ideologischen und demagogischen Beiwerks, bedeutet es im internationalen Leben Selbstbestimmungsrecht der Völker. Leider hat man 125

von diesem seit der Jahrhundertwende zwar oft gesprochen, es aber selten redlich angewandt. Die vierzehn Punkte Wilsons gegen Ende des Ersten Weltkrieges wurden sofort vergessen, nachdem die Entente gesiegt hatte. Wenn das gleiche 1945 mit der Atlantik-Charta geschah, so hat das die moralische Kraft und psychologische Bedeutung eines solchen Konzeptes nicht zerstört. Die Nationen glauben an das Selbstbestimmungs¬ recht und wollen es praktisch durchführen. Natürlich ist diese Feststellung heute reine Theorie. Schwäch¬ liche Gestalten meinen daher immer wieder, man solle auf et¬ was, was momentan nicht durchsetzbar sei, lieber verzichten. Gegen diesen Opportunismus halten vor allem die Heimatver¬ triebenen an der Selbstbestimmung der Völker und Volks¬ gruppen fest, womit sie für die ganze Menschheit Wertvolles leisten. Die Erfahrung lehrt uns, daß der Wandel das Grund¬ gesetz der Geschichte ist. Wer glaubt, daß das Heute ewig be¬ stehen wird, ist kein Realist. Wer sich mit dem Zeitgeist ver¬ heiratet, wie viele Politiker, wird sehr bald verwitwet sein. Die große Weisheit der Chinesen bestand stets darin, daß sie die Uhr und den Kalender wegwarfen, wenn sie sich für ein Ziel entschieden hatten. Einmal schlägt auch die Stunde für einen neuen Wiener Kongreß, wenn wir zäh und geduldig darauf hinarbeiten.

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Europäische Ordnung

Das baltische Beispiel

Die Kolonialisierung und Ausbeutung halb Europas durch die Sowjetunion begann nicht erst 1945, sondern schon fünf Jahre zuvor. Estland, Lettland und Litauen, die drei baltischen Staa¬ ten, wurden im Juni 1940 - unter Nutzung der deutschen Siege in Frankreich - von der Roten Armee besetzt. Obwohl zahlrei¬ che westliche Demokratien, wie die USA, Australien, Kanada und Großbritannien, diese Okkupation des Baltikums bis heu¬ te nicht anerkennen, ist dessen Schicksal bei vielen in Verges¬ senheit geraten. Das könnte sich eines Tages verhängnisvoll auch auf alle anderen Europäer auswirken. Denn die Sowjet¬ union greift seit Jahrzehnten ständig in die inneren Angelegen¬ heiten unseres Erdteiles ein, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Deutschland ist gewaltsam geteilt. Österreich und, in schlimmerem Maße, Finnland wurden auf entwürdigende Weise gezwungen, Souveränitätsrechte abzutreten. Sie konn¬ ten damit aber immerhin ein relativ hohes Maß an Freiheit bewahren. Den Menschen in Jugoslawien und Albanien hinge¬ gen gelang es nie, die Systeme abzuschütteln, die ihnen zu Zei¬ ten Stalins auferlegt worden waren, obwohl ihre Länder inzwi¬ schen nicht mehr zum offiziellen Ostblock gehören. Zu diesen Opfern indirekter sowjetischer Gewalt kommen diejenigen, die durch »Warschauer Pakt« und »RGW« unmit¬ telbar dem Moskauer Kolonialismus unterworfen wurden. Es sind dies, außer den Millionen Deutschen hinter Mauern und Stacheldrähten, vor allem die Polen, Slowaken, Tschechen, Magyaren, Rumänen und Bulgaren. Doch auch ihnen ließ man, mit Ausnahme der Slowaken und der kleineren Volks¬ gruppen, wenigstens die Fiktion staatlicher Unabhängigkeit, 127

die sie nutzten, um einen winzigen Spielraum zu erlangen. Ein solcher wurde den in »Sowjetrepubliken« lebenden Balten oder Ukrainern niemals gewährt. Estland, Lettland und Litauen, drei Staaten, die aus westlicher Sicht unverändert das Recht auf Unabhängigkeit besitzen, sind nicht irgendwelche Randgebiete im Osten. Vielmehr stel¬ len sie das sowjetische Modell für Europa dar. Ohne die An¬ wesenheit amerikanischer Truppen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa gäbe es von den Grenzen Ru߬ lands bis zum Atlantik wahrscheinlich nicht einmal eine »Un¬ abhängigkeit« bulgarischer Art, sondern Zustände wie im Baltikum. Diese dürften uns schon deshalb nicht gleichgültig sein. Die baltischen Völker gehören eindeutig dem westlichen Kul¬ turkreis an. Ihre Schrift ist lateinisch und nicht kyrillisch, ihre religiöse Tradition abendländisch. Die meisten Esten und Let¬ ten bekennen sich zum Protestantismus, die Litauer sind rö¬ misch-katholisch . Trotz vielfältiger Beziehungen zu den benachbarten Deut¬ schen und Slawen hatten sich die kleinen Nationen des Balti¬ kum durch die Jahrhunderte ihre sprachliche und geistige Ei¬ genständigkeit bewahrt. Mit der Besetzung der drei Staaten begannen 1940 die gezielten Versuche Moskaus, den Balten ihr Volkstum zu rauben und ihre natürlichen Reichtümer aus¬ zubeuten. Stalin ließ etwa zweihunderttausend Menschen de¬ portieren, um - wie er selbst zu US-Staatssekretär Byrnes sag¬ te - den estnischen, lettischen und litauischen Nationalbegriff durch Vernichtung der intellektuellen Elite auszulöschen. Un¬ ter den Nachfolgern des Diktators wurden die gleichen Ziele mit etwas anderen Methoden weiterverfolgt. Dem dienten vor allem die systematisch geförderte Masseneinwanderung von Russen sowie die Verfolgung baltischer Patrioten, deren Ge¬ fühle als »bourgeoiser Nationalismus« strafrechtlich geahndet wurden. Die Zahlen sind der traurige Ausdruck dieser abscheulichen

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Kolonialpolitik. Vor dem Zweiten Weltkrieg gab es in den bal¬ tischen Staaten nur dreihunderttausend Russen, obwohl diese Gebiete bis 1917 zum Zarenreich gehört hatten. 1970 waren es bereits 1,3 Millionen. Die brutale Russifizierung brachte es al¬ so zustande, daß die Zahl der Nichtbalten in Estland zwischen 1940 und 1970 von acht auf vierzig Prozent, in Lettland von fünfundzwanzig auf dreiundvierzig Prozent und in Litauen von sechzehn auf zwanzig Prozent anstieg. Litauen steht relativ am besten da, weil es in erster Linie landwirtschaftlich orientiert ist und seine katholische Bevölkerung eine höhere Geburten¬ rate aufweist, als dies bei den evangelischen Nachbarn der Fall ist. Die Denationalisierungspolitik wird dadurch gekennzeichnet, daß die Russen in den Städten bei der Zuteilung von Wohnun¬ gen Vorrang gegenüber den Einheimischen genießen. Letztere sind daher in Riga bereits unter vierzig Prozent herabgesun¬ ken. Die Balten leiden nicht nur unter dem Kommunismus wie die Russen selbst, Moskau versucht außerdem, ihre Identität zu zerschlagen. In den kommunistischen Parteiorganisationen der estnischen, lettischen und litauischen Sowjetrepubliken, die das öffentliche und private Leben beherrschen, wird der baltische Einfluß immer weiter zurückgedrängt. Das ging aus einem offenen Brief hervor, den siebzehn lettische Kommuni¬ sten 1972 publizierten. Sie beklagten sich bitter über die syste¬ matische Denationalisierung auch in der Partei und die Verfol¬ gung sich als Letten bekennender Marxisten-Leninisten. Die Sprache der Führungsgremien ist russisch. Etwas anderes wäre ja auch gar nicht möglich, denn dort befindet sich höchstens noch eine Handvoll Menschen, die wenigstens nach ihrer Ab¬ stammung als Balten angesehen werden könnten. Die Wirtschaft, vornehmlich in den beiden hochindustrialisier¬ ten Staaten Estland und Lettland, ist ohnehin fast völlig von Moskau abhängig, weshalb die meisten Güter in den russi¬ schen Teil der UdSSR geleitet werden. Das gilt auch für we¬ sentliche Rohstoffe wie Ölschiefer und Phosphorit aus Est-

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land. In typisch kolonialer Manier wird Raubbau betrieben. Der wertvolle Ölschiefer dient dem unwirtschaftlichen Anhei¬ zen von thermischen Kraftwerken, die die russischen Gebiete mit Strom versorgen. Hinzu kommt, wie überall im Kommu¬ nismus, die Umweltverwüstung, gegen die achtzehn estnische Forscher in einem Schreiben protestiert haben. Das Meer ist weitgehend verschmutzt, die Gegenden von Maardu, KohtlaJärve und Toolse wurden in Mondlandschaften umgewandelt. Das ist die Folge einer von außen oktroyierten Politik, weil die Entscheidungsträger, die nicht im Land selbst leben, beden¬ kenlos das Wohl der Balten ihren übermäßigen Produktions¬ zielen opfern, um die Zentrale zu versorgen. Besonders hart wird die Bevölkerung durch die Religions¬ verfolgung getroffen. Zu Beginn der sowjetischen Besetzung waren achtundsiebzig Prozent der Esten Protestanten. Der Anteil an lutheranischen Letten betrug fünfundfünfzig, der an lettischen Katholiken vierundzwanzig von Hundert. Einund¬ achtzig Prozent der Litauer bekannten sich zum Katholizis¬ mus, zehn Prozent waren evangelisch. Die beiden großen Wel¬ len der Deportation wirkten wie ein gewaltiger Aderlaß für den Klerus. Bischöfe und Erzbischöfe wurden hingerichtet. Der Religionsunterricht ist in allen Schulen untersagt. Will ein Geistlicher einen Sterbenden besuchen, braucht er dazu die Erlaubnis des örtlichen Sowjets. Gleichzeitig ist die atheisti¬ sche Propaganda in den baltischen Staaten noch stärker als an¬ derswo in der Sowjetunion. Die Menschen leiden schwer. Die weitverbreitete Hoffnungs¬ losigkeit führt zu einem überdimensionalen Geburtenrück¬ gang und nicht zuletzt zu Alkoholismus, der in den baltischen Staaten katastrophale Ausmaße angenommen hat *ind den Verfall der Bevölkerung beschleunigt. So gesehen, kann man von einem schrittweisen kalten Völkermord sprechen, der im krassen Gegensatz zu den Grundsätzen der KSZE-Schlußakte von Helsinki, aber auch der UN-Charta steht. Immer wieder flackert heldenhafter Widerstand auf. In allen

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baltischen Staaten, vor allem aber in Litauen gibt es eine akti¬ ve Samizdat-Presse, die im Untergrund religiöse und nationale Werte aufrechterhält. Charakteristisch für die Haltung der vie¬ len Priester und Laien, die wegen ihres Glaubens und ihrer Volkszugehörigkeit verurteilt werden, war die Verteidigungs¬ rede einer jungen Frau, Nijole Sadunaite, die drei Jahre Zwangsarbeit und drei Jahre Verbannung erhielt: »Dies ist der glücklichste Tag meines Lebens ... es ist mein herrliches Los, nicht nur für die Rechte des Volkes und für die Wahrheit zu kämpfen, sondern auch dafür verurteilt zu werden. Ich gehe freudig in die Sklaverei, damit andere die Freiheit genießen und ich bin bereit zu sterben, damit andere leben können.« Solcher Mut verpflichtet uns, denn die baltischen Staaten ge¬ hören zu Europa. Sie waren in der Vergangenheit Teil unserer Gemeinschaft der Freien und - zwischen den beiden Weltkrie¬ gen - Mitglieder des Völkerbundes. Als die Paneuropa-Bewegung in den zwanziger Jahren einen ersten Anlauf zur Eini¬ gung unseres Kontinents unternahm und sich über den franzö¬ sischen Außenminister Aristide Briand an die europäischen Regierungen wandte, kamen die positivsten Reaktionen von den Verantwortlichen in Estland, Lettland und Litauen. Da¬ mals an der Grenze zwischen Freiheit und Unfreiheit gelegen, die heute vor unserer Haustür ist, wußten sie um die drohende Gefahr. Weil das restliche Europa nicht die Weitsicht der Bal¬ ten besaß und den Zusammenschluß versäumte, brach der Zweite Weltkrieg aus und Esten, Letten wie Litauer wurden die ersten Opfer der östlichen Kolonialmacht. So gesehen war es nur recht und billig, daß sich das europäi¬ sche Parlament schon in seiner ersten Legislaturperiode nach der Direktwahl 1979 mit den Sowjetkolonien im Baltikum be¬ faßte. Im Jahre 1983 legte ich dem Straßburger Plenum einen Bericht vor, in dem die Aufforderung an die EG-Außenminister enthalten war, die sowjetischen Verbrechen in Estland, Lettland und Litauen vor den Dekolonisierungs-Unteraus¬ schuß der UNO zu bringen. Diesem Vorschlag schloß sich

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nicht nur die freiheitlich-konservative Mehrheit der Europäi¬ schen Volksvertretung an, auch einige Sozialdemokraten der alten Schule unterstützten uns. Sie bekannten sich damit zu den Rechten der Balten, obwohl der Präsident der Sozialisti¬ schen Internationalen, Brandt, alles versucht hatte, sie davon abzubringen. Es ist bezeichnend, daß der scheinheilige Frie¬ densnobelpreisträger schon wenige Tage später sein - ohnehin kaum wahrgenommenes - Europamandat niederlegte und Ge¬ rüchten zufolge verlauten ließ, er könne meinen Anblick ein¬ fach nicht mehr ertragen. Noch beschämender war, daß die EG-Außenminister dem An¬ trag des Europaparlamentes, also der legitimen Vertretung der europäischen Völker, die baltische Frage vor die UNO zu bringen, nicht folgten. Vor allem der deutsche Außenminister versäumte damit eine historische Chance, waren Estland, Lettland und Litauen doch im Gefolge des Hitler-Stalin-Paktes in den sowjetischen Völker-Gulag geraten. Ein solches Verhalten ist nicht nur unmoralisch, sondern ver¬ rät auch Mangel an politischer Klugheit. Die Europäer könn¬ ten in der Weltorganisation endlich einmal in die Offensive übergehen, wenn sie dort auf den sowjetischen Kolonialismus mitten in Europa hinweisen würden. Die UNO ist nicht zuletzt wegen unserer eigenen Schwäche zum Instrument Moskaus gegen den Westen geworden. Gelänge es uns, angesichts der Probleme des Baltikums den Spieß umzudrehen, fänden wir mehr Sympathisanten, als wir glauben. Die Sowjetunion ist die letzte große Kolonialmacht auf Erden. Die Ausplünderung Sibiriens durch Moskau erbittert die Chi¬ nesen. Diese haben den Begriff von den »zwölf ungleichen Verträgen« geprägt, die es zu revidieren gelte. In Pdking hat man sich mit den angeblichen Realitäten also nicht abgefun¬ den. Die meisten islamischen Regierungen wiederum verübeln der kommunistischen Weltmacht sowohl die dauernde Verfol¬ gung ihrer Glaubensbrüder in Russisch-Zentralasien als auch die gewaltsame Besetzung Afghanistans. In Afrika schließlich,

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das vom roten Imperium zwar keine Entwicklungshilfe be¬ kommt, aber mit Waffen und den kubanischen Hilfstruppen Moskaus überschwemmt wird, mehren sich ebenfalls die kriti¬ schen Stimmen. Die großen alten Männer Schwarz-Afrikas, wie Leopold Senghor oder Felix Houphouet-Boigny, sind längst nicht mehr die Ausnahme. Auf die USA können wir ohnehin zählen. Das heißt, daß wir in der Welt keineswegs allein stehen. Es liegt an uns, das europäische Schicksal, das auch die Balten umfaßt, endlich in die eigenen Hände zu nehmen. Wenn wir handeln, ist uns Hilfe gewiß. Jedoch kann niemand von den anderen erwarten, daß sie europäischer sind als die Europäer selbst.

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Ungarisches Wunder?

Wer aus den Staaten kommt, die seit Jalta zum Hegemonialbereich der Sowjetunion gehören, lobt immer wieder das, was viele »ungarisches Wunder« nennen. Man preist die Atmo¬ sphäre relativer Freiheit in diesem Land wie auch die unleug¬ bare Liberalisierung. Sicher hat Ungarn heute unter allen kommunistischen Staaten noch das verhältnismäßig humanste Regime. Doch sind solche Begriffe in einem totalitären System wirklich nur relativ zu verstehen. Kein Westeuropäer wäre bereit, sich selbst den Be¬ schränkungen zu unterwerfen, die man die Ungarn anschei¬ nend gerne ertragen läßt. Diese dürfen zwar normalerweise ausreisen, aber die Zahl der Fahrten ist beschränkt. Es besteht private Meinungsfreiheit, aber die Presse ist weiter absolut konformistisch. Auch die Gewerkschaften besitzen nicht die Rechte, die bei uns selbstverständlich sind. Wer aus dem We¬ sten nach Ungarn fährt, empfindet einen negativen Unter¬ schied; umgekehrt hat derjenige, der aus einem anderen Ost¬ blockstaat, etwa der Tschechoslowakei oder Rumänien, die ungarische Grenze überschreitet, das Gefühl, er sei bereits im Vorzimmer des Westens. Viele fragen sich, ob diese beschränkte Liberalisierung in Un¬ garn zum Vorbild für weitere kommunistische Staaten werden kann. Man spricht davon, daß in marxistischen Führungskrei¬ sen das Problem des ungarischen Weges< und dessen Anwen¬ dung im COMECON/RGW diskutiert werde. Wer die Dinge sieht, wie sie wirklich sind, wird eine solche Entwicklung lei¬ der bezweifeln müssen.

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In Ungarn herrschen Bedingungen, die etwas ermöglichen, was anderswo wenig wahrscheinlich ist. Ein wesentlicher Fak¬ tor ist die relative innenpolitische Unabhängigkeit Budapests bei gleichzeitiger Präsenz russischer Truppen auf ungarischem Boden. Moskau weiß, daß die Rote Armee wie im Jahr 1956

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jederzeit eingreifen kann, wenn die Ungarn die durch die So¬ wjets gesetzte Grenze überschreiten. Man läßt daher den Un¬ garn eine gewisse Freiheit - was sich wirtschaftlich zweifels¬ ohne zu Gunsten des gesamten COMECON/RGW auswirkt und braucht nicht zu fürchten, daß das unerträgliche politische Folgen haben könnte. In Ländern demgegenüber, in denen sich die fremde Besatzung nicht so durchsetzen kann, wäre eine solche Politik für die Nomenklatura lebensgefährlich. Vor allem die Sowjetunion selbst, von der man mit Recht sagen darf, daß sie durch die eigene Armee okkupiert ist, glaubt, sich eine solche Liberalisierung nicht leisten zu können. Es gä¬ be nämlich im Falle, daß in Moskau die Lockerung des Sy¬ stems außer Kontrolle geriete, keine kommunistischen Heer¬ scharen mehr, die man herbeirufen könnte. Noch wichtiger allerdings als diese Sachlage ist die Tatsache, daß sich die Ungarn die kleinen Freiheiten, die sie genießen, durch den Mut Einzelner, aber auch durch die Unbeugsamkeit des ganzen Volkes erkämpft haben. Das ungarische Trauma wirkt weiter stark im Bewußtsein der sowjetischen Führung. Damals, im Jahre 1956, war das Rote Regime tatsächlich ge¬ fährdet. Die ungarischen Nachbeben haben dem Kreml ge¬ zeigt, daß er wohl nach außen die Grabesruhe wiederherstel¬ len konnte, daß aber der Geist ungebrochen blieb. Da man nicht die brutalen Machtmittel wie im Baltikum anwenden konnte, lag es durchaus im Interesse der sowjetischen Politik, den Ungarn einige unvermeidbare Zugeständnisse zu machen, um die Bevölkerung nicht in die Verzweiflung zu treiben. Das zeigt sich übrigens auch in der Frage der Religion. Zwar wird weiter alles versucht, den Glauben so weit es irgendwie geht zu ersticken. Man wagt aber nicht, dabei so aufzutreten, wie man es andernorts tut - vor allem in der UdSSR selbst. Es wird eine Politik auf sehr lange Sicht verfolgt. Symbol des ungarischen Widerstandes ist ein Mann, der in Mariazell, dem gemeinsamen Heiligtum aller Mitteleuropäer, begraben liegt. Man hat Kardinal Mindszenty von vielen Sei-

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ten, auch innerhalb der Kirche, wegen seiner Härte kritisiert. Ihm wurde nicht zuletzt im Westen viel Unrecht zugefügt. Die Haltung gewisser Hierarchen war kein Ruhmesblatt in der Kir¬ chengeschichte. Trotzdem erwies sich dieser Mann des Glau¬ bens als stark genug, alles durchzustehen, ohne in der Treue zu Kirche und Papst zu wanken oder seine Pflicht als Primas Ungarns der Opportunität zu opfern. Es hat in unserer Zeit wenige so energische, unbeugsame Männer gegeben wie Josef Mindszenty. Er zeigte in den Gefängnissen der kommunisti¬ schen Gewaltherrscher, im inneren Exil in der amerikanischen Botschaft und schließlich im erzwungenen Exil eine Geradli¬ nigkeit, die sein Volk bis heute zutiefst beeindruckt. Wenn die Ungarn in den letzten Jahrzehnten eine erstaunliche Haltung an den Tag legten, so war das möglich, weil sie ein Beispiel vor Augen hatten, an dem sie sich auch in den schwersten Stunden aufrichten konnten. Die übrige Welt hat Kardinal Mindszenty vielleicht vergessen. In Mitteleuropa demgegenüber ist sein Name so lebendig wie eh und je. Dem verstorbenen ungarischen Primas gebührt ein großes Verdienst bei der relativen Humanisierung des Regimes in sei¬ nem Land. Dieses wird ihm in der Regel nicht zuerkannt. Tat¬ sächlich aber sind die kleinen Verbesserungen nicht etwa der Milde der Regierenden, sondern der Unbeugsamkeit der Un¬ terdrückten zu verdanken. Hier haben wir eine Parallele zu Österreich. Es war die Solidarität des österreichischen Volkes, sein Widerstand gegen die sowjetische Besatzung und sein Mut in den kritischsten Stunden, die schließlich den Abzug der Roten Armee brachten. Gewiß gab es auch die Leistungen von Politikern wie Raab und Figl. Dadurch konnte eine weltpoli¬ tisch einmalige Konjunktur genutzt werden. * In totalitären Regimen von Wundern zu sprechen ist immer irreführend. Man darf auch nicht an die Menschlichkeit von Gewaltherrschern glauben. Wenn es Fortschritte gibt, so nur, weil sich die Völker nicht fürchten und über Männer und Frauen verfügen, die bereit sind, für ihre Ideale die schwersten

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Risiken auf sich zu nehmen. Diesbezüglich haben die Mittel¬ europäer Großes geleistet, wenn auch nicht alle mit soviel Glück wie die Ungarn. Die Völker hinter dem Eisernen Vor¬ hang geben ein gutes Beispiel für jene westlichen Politiker, die noch immer glauben, man könne Frieden, Freiheit und Wohl¬ stand mit Kniefällen erkaufen.

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Kontinent der Menschenrechte

Unsere europäische Zivilisation hat seit Jahrhunderten einen hohen Freiheitsbegriff entwickelt. Menschenrechte in unserem Sinne sind nicht Ausdruck unklarer humanistischer Gefühle, sondern Bestandteil unseres christlichen Erbes. Der Mensch ist nach abendländischer Auffassung ein von Gott geschaffe¬ nes Wesen, das Rechte besitzt, die ihm keine Rasse, keine Klasse, kein Staat und kein Kollektiv gegeben haben, weshalb diese sie ihm auch nicht wieder nehmen dürfen. In der Vertei¬ digung jener Werte spielt das entstehende politische Europa eine wichtige Rolle. Die Verwirklichung seiner Freiheit ist dem Menschen nämlich nicht automatisch in die Wiege gelegt, wie naive fortschrittsgläubige Gemüter meinen. Freiheit ist vielmehr ein Kunstwerk, der Höhepunkt einer langen geisti¬ gen Entwicklung. Gerade weil unsere Zivilisation, die uns zu einer Insel inmitten von Diktaturen gemacht hat, einen so ho¬ hen Menschenrechtsbegriff schuf, ist sie wie alle Errungen¬ schaften sehr gefährdet. Ein Schlag auf einen rohen Stein rich¬ tet keinen Schaden an. Ein feingegliedertes Kunstwerk aber kann mit einem Hammer binnen weniger Minuten zerstört werden. In dieser Dimension ist die Vereinigung Europas zu sehen. Unser Ziel ist es nicht, die USA oder gar die Sowjetunion nachzuahmen. Uns geht es nicht um Einigung um jeden Preis. Wäre es so, könnten wir sofort die Hände in den Schoß legen, denn unser Kontinent wird sicher zusammengeschlossen. Die Frage ist nur, ob das unter fremden Vorzeichen geschieht, durch Gewalt von außen - oder im Sinne unserer christlichfreiheitlichen Tradition. Deshalb war es nur konsequent, daß die nichtsozialistische Mehrheit des Europäischen Parlamentes seit der Direktwahl 1979 ein besonderes Gewicht auf die Menschenrechtsarbeit ge¬ legt hat. Als wir antraten, wurden auf internationaler Ebene

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meist lediglich die Verstöße in Chile oder Südafrika angepran¬ gert. Es bleibt das Verdienst der Konservativen, Christdemo¬ kraten, Liberalen und Gaullisten, in Straßburg durchgesetzt zu haben, daß das Europaparlament nicht mehr nur »Klagemauer des Weltgewissens« ist, sondern entsprechend seinem Wähler¬ auftrag vor allem für die Menschen im anderen Teil Europas eintritt. Ein kommunistischer Abgeordneter hat mir einmal gestanden, für ihn sei der größte Rückschlag seiner Straßburger Laufbahn gewesen, daß »ihr uns die Waffe der Menschenrechte genom¬ men habt.« Mit anderen Worten: Die Menschenrechte dienen fortan nicht mehr ausschließlich den propagandistischen An¬ griffen der kommunistischen Unterdrücker gegen den Westen, das freie Europa forderte sie vielmehr energisch bei den Machthabern in Ost- und Mitteleuropa ein. Damit haben wir uns nicht immer nur Freunde gemacht. Lei¬ der gibt es im Westen noch zahlreiche Politiker, die an eine »neue Phase der Entspannungspolitik« glauben oder zumin¬ dest bestrebt sind, diesen Eindruck zu erwecken. Die Tatsa¬ chen widersprechen diesen Wachträumen. Anstatt einer Öff¬ nung im Osten hat auf der ganzen Linie eine Verhärtung ein¬ gesetzt. Das, was 1975 von der KSZE-Konferenz in Helsinki erhofft wurde, ist nicht eingetreten. Zwar tröstet man sich, indem man Ungarn herausstreicht, aber dies ist aufgrund der geschilderten historischen Entwicklung bestenfalls die Aus¬ nahme, die die Regel bestätigt. In Polen haben die Urteile gegen Gewerkschaftsführer ge¬ zeigt, wohin das Jaruzelski-Regime von Anfang an steuerte. Der General, den kurzsichtige Geister im Westen als polni¬ schen Patrioten bezeichneten, hat seit dem Tag seiner Macht¬ übernahme als moskautreuer Politruk gehandelt.

In der

Tschechoslowakei wie in den baltischen Staaten setzte die Kir¬ chenverfolgung erneut mit voller Kraft ein. Die »DDR« zeigt nicht das leiseste Anzeichen dafür, daß eine grundlegende Än¬ derung des Regimes in Fragen der Menschenrechte zu erwar-

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ten ist. Einige spektakuläre Gesten waren Propaganda, sonst nichts. In der Sowjetunion gibt es weiterhin Millionen politischer Häftlinge. Bürgerrechtler werden zu langen, man darf sagen: tödlichen Haftstrafen in Zwangsarbeitslagern verurteilt. Die von der Polizei eingerichteten angeblich psychiatrischen An¬ stalten funktionieren schlimmer als in den Tagen Stalins. Die Ausreise vor allem von Deutschen und Juden wird willkürlich beschränkt, so daß von Freizügigkeit nicht die Rede sein kann. Wenn die Rumänen einige Deutsche freilassen, so nur, weil sie diese in einer neuen Form des Sklavenhandels gegen harte De¬ visen an die Bundesrepublik verkaufen. Ähnliches gilt für das Konzentrationslager, das sich »DDR« nennt. In mitteldeutschen Gefängnissen werden Tausende von Menschen mißhandelt, weil ihre religiöse oder politische Überzeugung den Gewaltherrschern nicht paßt. Die Haft¬ anstalten unterscheiden sich kaum von denen Adolf Hitlers. Die Technik ist die gleiche geblieben, denn es handelt sich nicht um Gefangenschaft, wie wir sie im Westen verstehen, sondern um Vernichtungslager. Und da diskutiert man die Gleichstellung der »DDR«-Volkskammer mit dem Bonner Parlament! Ein tapferer Kämpfer für die Freiheit, Hans Graf Huyn, hat bei einer Debatte im deutschen Bundestag zwei Berichte von Häftlingen vorgelesen, die die heutige Wirklichkeit in der »DDR« darstellen. Hier die Texte: »Im Zuchthaus Bautzen I gibt es eine Sonderabteilung, die man zynisch >die Sonnenseite< nennt. Sie wird von Oberleut¬ nant Sersch und Leutnant Brauner geleitet. Die Dreckarbeit, Mißhandlungen und Schikanen leisten kriminelle Häftlinge. Diese sind mit Schlagstöcken und Handschellen ausgerüstet. Um das Selbstbewußtsein der politischen Häftlingd zu bre¬ chen, werden diese ans Gitter krumm geschlossen. Mir sind mehrere Opfer bekannt. In den Selbstmord trieb man den Häftling Peter Marx. Er rieb sich mit Bohnerwachs ein und

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steckte sich an. Er ist tot. Der politische Häftling M. Roskinsky ist herzkrank und wurde monatelang in Einzelhaft ge¬ halten. Er hat mehrfach versucht, seinem Leben ein Ende zu setzen. Mir wurde auch ein vorsätzlicher Todesfall bekannt: Der schwer herzkranke Häftling Neuschäfer starb, weil er nicht behandelt wurde.« Der zweite Bericht lautete: »Im Seitenflügel des Hauses I im Zuchthaus Cottbus befindet sich der EB 12, im Knastjargon Terrorstation genannt. Diese besteht aus 16 Tigerkäfigen. Diese Einzelzellen, noch aus der Hitlerzeit stammend, wurden zum Nachteil der Häftlinge um¬ gebaut, also weiter beschränkt ... Wegen jeder Kleinigkeit, etwa wenn sich der Häftling auflehnt, kommt er in einen sol¬ chen Tigerkäfig. Oft wird er auch zusätzlich mit Handschellen angeschnallt, oft wird er grundlos geschlagen. Wie bei Raub¬ tieren wird das Fenster mit einer Eisenvorrichtung von drau¬ ßen geöffnet oder geschlossen.« Solange es im Herzen Europas solche Zustände gibt, bleibt es die vornehmste Pflicht des Europäischen Parlamentes und al¬ ler freien Europäer, für die Menschenrechte einzutreten. Das Europaparlament hat in seiner Arbeit wertvolle Unterstützung durch Organisationen erhalten, die nicht auf dem linken Auge blind sind, wie zum Beispiel die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte (IGfM), das Brüsewitz-Zentrum oder die »Medecins sans frontiere«. Natürlich wird uns immer wieder entgegengehalten, daß es besser sei, Menschenrechtsprobleme der stillen Diplomatie zu überlassen. Man verlangt daher, wir sollten uns von den genannten Verbänden distanzieren, da diese laut protestieren, was den Verfolgten im Osten nur scha¬ de. Die Erfahrung der letzten Jahre lehrt uns das Gegenteil. Wenn wir klar auftraten und Namen nannten, wurden die Häftlinge, die in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerieten, verhältnismäßig häufig freigelassen. Auch der größte Tyrann hat Angst vor der Publizität. Die öf¬ fentliche Meinung ist also unser bester Verbündeter. Ich selbst

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hatte eine Zeitlang diesbezüglich meine Zweifel, doch die Menschen, die aus dem Osten zu uns kommen, haben mich vom Gegenteil überzeugt. Natürlich bedarf es manchmal be¬ sonderer Umstände, um in den schwierigsten Fällen Erfolge zu erreichen. In diesem Zusammenhang ist Rainer Bäurich zu nennen, mit dem das Europaparlament mehr als einmal befaßt war. Ihm hat die persönliche Intervention von Franz Josef Strauß bei Erich Honecker schließlich die Freiheit gebracht. Bäurich hat erklärt, daß ihm unter den schrecklichsten Bedin¬ gungen seiner Haft das Bewußtsein, daß das Europäische Par¬ lament hinter ihm stehe, stets inneren Halt gegeben habe. Nachrichten über die Straßburger Menschenrechtsarbeit ge¬ langen also oftmals auf verschlungenen Pfaden in die versteck¬ testen Kerkerzellen. Was für den einzelnen Häftling gilt, trifft auch auf die ver¬ sklavten Völker insgesamt zu. Es hilft ihnen schon, wenn wir uns zu ihnen bekennen. Allzu viele, die keine persönliche Er¬ fahrung mit dem Totalitarismus haben, können nicht ermes¬ sen, was symbolische Gesten für Unterdrückte und Einge¬ sperrte bedeuten. Das Ärgste für Gefangene - und das sind die Völker unter der Fremdherrschaft - ist das Gefühl, man hätte sie abgeschrieben. Wir besitzen nicht viele Mittel, den Europäern, die von uns ge¬ trennt sind, unsere Solidarität zu beweisen. Das Europäische Parlament versuchte seiner Verpflichtung dadurch gerecht zu werden, daß es einen Bericht des britischen Europaabgeord¬ neten Adam Fergusson verabschiedete, der auf einen Antrag von mir zurückging. Darin unterstreicht die europäische Volksvertretung ihre Verbundenheit mit den Völkern Ostund Ostmitteleuropas und hält symbolisch einen Stuhl für sie frei, um damit auszudrücken, daß Europa erst dann wirklich geeint sein wird, wenn auch die Menschen hirfter dem Eisernen Vorhang Freiheit und Selbstbestimmungsrecht ge¬ nießen. Manche auf der Linken haben uns wegen des Berichtes ver-

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lacht. Dasselbe gilt für angebliche Rechte, die sich vor den Tyrannen beugen und bestrebt sind, mit ihnen profitable Ge¬ schäfte zu tätigen. Ihnen seien die Erfahrungen aus der Zeit des Zweiten Weltkrieges entgegengehalten. Unterwürfigkeit hat niemals zu Frieden und Freiheit geführt. Eine klare Spra¬ che hingegen war und ist gefragt. Das V für Victory, das die BBC in den Kriegsjahren ständig ausstrahlte, war förmlich ein Lebenselexir bis hinein in die Konzentrationslager. Solchen Zwecken dienen auch Gesten der Solidarität, wie sie das Euro¬ päische Parlament mit dem »leeren Stuhl« gemacht hat. So et¬ was dringt bis in die Gulags. Wer Europa wirklich will, kann nur den ganzen Erdteil meinen.

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Roter Nationalismus

Es ist viel zu wenig bekannt, welche Fortschritte trotz aller Schwierigkeiten zumindest die geistige Einigung Westeuropas gemacht hat. Insbesondere diejenigen, die den Institutionen und Vertragstexten eine übertriebene Bedeutung beimessen, scheinen zu übersehen, daß diese wohl wichtig, nicht aber ent¬ scheidend sind. Viel wesentlicher ist die Einstellung der Men¬ schen. Diese zu verändern fällt sicher nicht leicht. Der Mensch ist das am wenigsten wandelbare Element der Schöpfung. Die Mentalität alter Völker zu beeinflussen erweist sich demnach als eine schwierige Aufgabe. Gerade das ist jedoch bei der europäischen Integration gelungen. Noch vor wenigen Jahrzehnten galten die Deutschen für einen jungen Franzosen als Erbfeind. Jeder Europäer erwartete, ir¬ gendwann im Laufe seines Lebens gegen andere Europäer kämpfen zu müssen. In meiner Jugend empfand man die Sta¬ cheldrähte am Rhein vielleicht als betrüblich, nahm sie aber als unabänderliche Tatsache hin. Erzählt man so etwas den Kindern oder Enkeln, sind sie erstaunt. Die sogenannten Erb¬ feindschaften sind ihrer Begriffswelt entrückt. Eine Meinungs¬ umfrage in Frankreich ergab, daß dort heute bereits neunund¬ sechzig Prozent der Einwohner die Deutschen als ihre besten Partner betrachten, weil ihnen diese am ähnlichsten seien. Das schlägt auch auf die Politik durch. Ein Verantwortlicher mach¬ te zu Recht die Bemerkung, man müsse darauf achten, die Freundschaft zwischen Bonn und Paris nicht zu deutlich zu zei¬ gen, da das bei den anderen Mitgliedern der EG langsam Mi߬ trauen errege. Das Wort von der deutsch-französischen Achse macht bereits die Runde. Es ist somit gelungen, den alten Nationalismus in Westeuropa aus der Gedankenwelt der Bevölkerung zu verdrängen. Natür¬ lich finden sich hier und dort noch immer nationalistische Nester und primitive Reaktionen. Diese werden aber Jahr für

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Jahr seltener. Das verdanken wir nicht nur dem Europarat und der Europäischen Gemeinschaft, sondern auch dem DeutschFranzösischen Jugendwerk und dem lebhaften Austausch jun¬ ger Leute insgesamt. Die Menschen lernen sich kennen, wo¬ durch ihre Vorurteile schwinden. Würde heute jemand zur »Wacht am Rhein« aufrufen, hielte man ihn für geistes¬ krank. Während der Nationalismus im Westen fast völlig verstummt ist, bleibt er im Osten weiterhin tonangebend. Dort herrscht vielfach noch der Ungeist des neunzehnten Jahrhunderts. Deutsche und Slawen, Polen und Tschechen, Ungarn und Ru¬ mänen, um nur einige Beispiele herauszugreifen, werden von der staatlichen Propaganda planmäßig aufeinander gehetzt. In Jugoslawien häuft sich Sprengstoff zwischen den Nationen auf, und im Kosovo, in dem Albaner und Serben Zusammenstößen, brennt bereits die Lunte. In Bulgarien wird die türkische Min¬ derheit mißhandelt, man raubt ihr sogar die Namen. Am schlechtesten geht es den Deutschen in den polnisch »verwal¬ teten« Ostgebieten oder in der Tschechoslowakei, in Rußland oder Rumänien, deren Los sich auch dadurch nicht verbessert, daß man bei uns darüber betreten schweigt. Während also der Westen, wenn auch mangelhaft, die Fehler der Vergangenheit überwindet, spielt sich hinter dem Eisernen Vorhang genau das Gegenteil ab. Das System ist durch seine totalitären Strukturen förmlich gezwungen, Negatives zu bewahren. Auch angebliche Reformen sind nur wie die Be¬ handlung von Krebs mit Aspirin, die zwar für kurze Zeit die Symptome abschwächt, aber keine Heilung bringt. Marxismus und Nationalismus, Kinder der Französischen Re¬ volution, sind immer wieder Hand in Hand gegangen. Unmit¬ telbar nach dem Zweiten Weltkrieg hat Moskau alles getan, um eine Verständigung der Balkanvölker und die Schaffung einer Föderation unter ihnen zu verhindern. Ein bewährter alter Kommunist wie der Bulgare Georgii Dimitroff, der an einem solchen Zusammenschluß arbeitete, ist unter äußerst

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verdächtigen Umständen von der Bildfläche verschwunden. Die Erklärung Josef Stalins, er würde niemals dulden, daß Sonderverbindungen zwischen den kleinen Staaten im Hegemonialgebiet der Sowjetunion entstehen, gilt nach der Restalinisierung, die Gorbatschow offensichtlich vornimmt, unver¬ mindert weiter. So ist Moskau nicht nur die Ursache der Spannung zwischen Ost und West, es heizt auch den roten Nationalismus inner¬ halb seines Imperiums an. Der alte römische Grundsatz »divide et impera«, »teile und herrsche«, hat hinter dem Eisernen Vorhang seine Bedeutung noch nicht verloren. Deshalb rea¬ giert der Kreml äußerst nervös auf das Streben seiner Vasallen nach Freizügigkeit. Dasselbe gilt für die Aussöhnung der un¬ freien Völker - im Untergrund wie im Exil - oder für die Be¬ reitschaft der deutschen Heimatvertriebenen zu einem friedli¬ chen, gerechten Ausgleich. Nichts gefährdet die Vormachtstellung der Sowjetunion mehr als die Verständigung der Menschen an den Diktatoren vor¬ bei. Die Überwindung des Nationalismus in ganz Europa könnte über kurz oder lang auch den ihm verwandten Kom¬ munismus zu Fall bringen. Es ist daher unverständlich, daß Westeuropas Regierungen dennoch immer wieder in lächer¬ liche Kleinstaaterei versinken.

Nörgelnde Zwerge

Trotz aller Bemühungen des Europa-Parlamentes waren die letzten Jahre alles, nur nicht gut für den Ruf Europas in der Welt. Unsere Regierungen erwiesen sich gegenüber der totali¬ tären Bedrohung als ebenso schwach wie besserwisserisch. Die Kämpfe am Golf, die Wirren im Libanon und im Nahen Osten oder die Mittelmeerkrise des Jahres 1986, die durch den Ter¬ rorismus der Libyer hervorgerufen wurde, betrafen stets vor allem uns. Es wäre daher zu erwarten gewesen, daß unser einst mächtiger Kontinent eine eindeutige und glaubwürdige Politik verfolgen würde. Was

demgegenüber die

EG-Außenminister mit wenigen

rühmlichen Ausnahmen taten, war ein zaghaftes Taktieren nach dem Muster der verhängnisvollen Politik, die seinerzeit in den Zweiten Weltkrieg geführt hat. Man übertraf aber die Appeaser der Jahre 1938/39 noch um ein gutes Stück. Chamberlain und Daladier waren fast energisch, wenn man sie mit ihren schwächlichen Epigonen in unseren Tage vergleicht. Sie hatten außerdem wenigstens die Ausrede, sie würden einem mächtigen Feind mit ungenügenden Mitteln gegenüberstehen. Die heutigen Minister können so nicht argumentieren, da die EG an Bevölkerung inzwischen stärker ist als die USA oder die UdSSR. Und diese potentielle Großmacht tritt jammernd, weinerlich und zitternd jedem Zirkus-Cäsar gegenüber. Der Elefant steht in schlotternder Angst vor der Maus - und findet das sogar noch staatsmännisch. Manche »Willenserklärung« der Außenminister in der - sonst eigentlich sehr guten - Europäischen Politischen Zusammen¬ arbeit (EPZ) betonte, man sei einig und entschlossen, nur fehlte die Aussage darüber, worin. Angesichts der Gefähr¬ dung der freien Welt durch Gadhafi distanzierte man sich von der klaren Reaktion der USA, indem man eine »politische Lö¬ sung« des Konfliktes forderte. Dabei vermied man sorgfältig,

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dieses schwammige Wort zu erklären. Das war ein besonders ekelhafter Fall von Heuchelei. Wie soll man denn eine »politi¬ sche Lösung« mit einem wildgewordenen Terroristen finden? Man hat in der Libyenkrise und bei anderen Anlässen darüber gejammert, daß uns die Amerikaner vor ihren Beschlüssen nicht gefragt haben. Warum aber hätten sie das tun sollen, wenn sie doch keine eindeutige und einheitliche Antwort er¬ warten konnten? Solange die Europäer nur wie nörgelnde Zwerge auftreten, werden sie weiter nur Objekt, nicht aber Subjekt der Weltpolitik sein. Das alles wird noch verschärft durch die mangelnde Hand¬ lungsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft auf anderen Gebieten. Dies könnte sich, wie die Vergangenheit zeigt, fatal auswirken. In der Geschichte Mitteleuropas war die Teilung Polens eines der düstersten Kapitel. Gegen den Protest von Kaiserin Maria Theresia wurde dieses Land zwischen Preußen, Rußland und Österreich geteilt. Das wäre aber niemals er¬ folgt, hätte sich die polnische Politik nicht vorher selbst zu¬ grundegerichtet. Im dortigen Verfassungsleben gab es das sogenannte »Liberum Veto«, das heißt, Beschlüsse konnten nur einstimmig gefaßt werden. Diese Einrichtung machte das Land restlos unregierbar und gab den ausländischen Mächten die Möglichkeit, in die Innenpolitik des unglücklichen, in sich zerstrittenen Wahlkönigreiches einzugreifen. In jeder großen Versammlung gibt es kriminelle Elemente. Es genügte dem¬ nach, einen Verräter zu finden oder zu kaufen, um den gesam¬ ten Staatsapparat zu blockieren. Einstimmigkeit ist im politischen Leben unerreichbar. Hängt eine Gemeinschaft vom Konsensus aller ab, hört sie auf, hand¬ lungsfähig zu sein. Hier liegt das Unheil des Luxemburger Pro¬ tokolls von 1966. Als General de Gaulle damals in»der EG durchsetzte, daß der EG-Ministerrat in »lebenswichtigen Fra¬ gen« nur einstimmig beschließen dürfe, was den klaren Be¬ stimmungen der Römischen Verträge widerspricht, erklärte er, dies würde höchstens in Ausnahmefällen zwei- oder drei-

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mal eintreten. Bestimmt dachte er auch so. Tatsache ist aber, daß der angebliche Kompromiß zu einem »Liberum Veto« entartete. Fragen, die nur irgendwie kontrovers sein könnten, auch wenn es sich um kleine technische Angelegenheiten han¬ delt, werden im EG-Ministerrat aus Angst vor einem Veto ein¬ fach nicht entschieden. Die Folge ist ein Berg unerledigter An¬ träge, die das Europaparlament, das nach dem Mehrheitsprin¬ zip arbeitet, zügig vorgelegt hat, bis sie in der Sackgasse Mini¬ sterrat landen. Verschlimmert wird das durch den wachsenden Einfluß der Beamten. Regierungsmitglieder wissen kaum mehr, was im Rat vorgeht. Voll informiert sind nur die Bürokraten. Diese wiederum fürchten sich vor ihren Vorgesetzten und wollen daher keine Anträge Vorbringen, die diesen Schwierigkeiten bereiten könnten. Das Ergebnis ist, daß die hohe Bürokratie schon bei der Vorbereitung der Tagesordnungen, und ohne die politisch Verantwortlichen zu fragen, all jene Probleme ausklammert, von denen sie Ärger erwartet. Die Europäische Gemeinschaft ist seit der Abfassung der Rö¬ mischen Verträge nicht nur geographisch, sondern auch in ihren tatsächlichen Zuständigkeiten gewachsen. Sie besitzt heute wirtschaftlich, aber in gewisser Hinsicht auch schon poli¬ tisch große Macht. Eine solche hat immer komplizierte und manchmal gefährliche Beschlüsse zu fassen. Wenn aber an ih¬ rer Spitze Menschen stehen, die lediglich alles tun, um peinli¬ che Entscheidungen hinauszuschieben, lähmt das den ganzen Apparat. Das belastet die Europäische Gemeinschaft, in der Wirtschaft wie in der Politik. Es ist mit Recht bemerkt worden, daß die nationalen Regie¬ rungen durch die geforderte Einstimmigkeit im Rat zur Brem¬ se der europäischen Entwicklung geworden sind. Ganz kön¬ nen sie diese nicht aufhalten, denn gewisse Zwänge des prakti¬ schen Lebens sind stärker als der Wille der sich verzweifelt wehrenden Bürokratien, denen es nur um ihre Tintenburgen und Papierfestungen geht. Dank mancher Fehlkonstruktion

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hat Europa aber auf fast allen Gebieten die Initiative verloren. Es ist bezeichnend, daß mir noch jeder Minister unter vier Au¬ gen gesagt hat, er halte die Einstimmigkeitsregel für ein Un¬ heil. Sobald er aber Teil des gesichtslosen Ungeheuers, ge¬ nannt Rat, wird, sieht er die Sache anders. Dagegen helfen weder frontale Angriffe noch das Spiel mit schönen institutioneilen Plänen. Entscheidend ist der dauern¬ de zähe Kampf des Europäischen Parlamentes, der zu einer allmählichen Lockerung der Einstimmigkeitspraxis führen kann. Erste Schritte dazu wurden auf Drängen von Bundes¬ kanzler Helmut Kohl getan. Die Zukunft Europas hängt von der Handlungsfähigkeit der EG ab. Sie ist der dynamische Kern des Kontinents, auf den auch die anderen direkt oder indirekt angewiesen sind. Ein stures Verharren auf dem »Status quo« wäre der kürzeste Weg ins Unheil, wie uns die Geschichte Polens lehren sollte.

Der Staat als Raubritter

In den Schwächeperioden des mittelalterlichen Reiches traten Raubritter auf, die Kaufleute und Reisende überfielen und ih¬ nen ihr Geld abknöpften. In der Europäischen Gemeinschaft von heute haben die nationalen Regierungen diese unwürdige Rolle übernommen. Eines der Fundamente der Römischen Verträge ist die Freizü¬ gigkeit der europäischen Bürger. Diese steht bis in unsere Ta¬ ge vielfach nur auf dem Papier. Natürlich haben wir unter dem Druck der zweiten Europawahl 1984 einige Erfolge erzielt. Zwischen den Kernstaaten der Gemeinschaft wurde endlich mit dem Abbau der illegalen Binnengrenzen begonnen. Das ist jedoch längst noch nicht zufriedenstellend. Ich bin zu Be¬ ginn der Sommerferien mehrere Male im kilometerlangen Stau vor den Schlagbäumen herumgegangen und habe mit den betroffenen Bürgern gesprochen. Daher weiß ich, daß uns die Menschen die europäische Einigung nicht abnehmen, wenn sie innerhalb der EG zwei oder drei Stunden lang, vergiftet von Autoabgasen, auf ihre Abfertigung warten müssen. Auch für die Grenzbeamten sind diese Zustände unmenschlich. Als ich mit einigen Mitarbeitern an einer Kontrollstelle Flugblätter für deren Abbau verteilte, wurde uns nach fünfzehn Minuten so schlecht, daß wir alles nur mehr blau und tränend gesehen ha¬ ben. Unsere Beamten sind demnach die Hauptleidtragenden der - angesichts der Motorisierung völlig veralteten - Zustän¬ de mitten in Europa. Sie können ihre Aufgabe, wenn über¬ haupt, nur unter äußerster Anstrengung erfüllen und müssen nach relativ kurzem Dienst unter die Sauerstoffdusche. Nie¬ mand kann behaupten, daß diese hochqualifizierten Leute nicht sinnvoller und gesundheitsschonender eingesetzt werden könnten. Unser Ziel ist die Vergeistigung der gegenwärtigen Binnen¬ grenzen in der EG. Wir wollen, daß diese endlich nur noch so-

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viel Bedeutung haben wie etwa die Grenze zwischen BadenWürttemberg und Bayern. Von dieser merken wir nichts, wenn wir sie überfahren. Nur ein paar Schilder weisen uns dar¬ auf hin, daß nunmehr ein neuer Verkehrsfunk-Sender einzu¬ stellen ist. Den Verfechtern dieses Gedankens wird immer wieder entge¬ gengehalten, daß die Grenzen gebraucht würden, etwa um Terroristen zu fangen. Das ist eine Beleidigung unserer Poli¬ zei. In den USA gibt es ebensolche Terroristenprobleme wie bei uns, aber ich habe bei meinen Reisen dorthin noch keinen Amerikaner getroffen, der gesagt hätte, man solle Grenzkontrollen zwischen den 51 Bundesstaaten errichten, um der Verbrecher Herr zu werden. Den Amerikanern ge¬ lingt das also auch so, und ich habe genügend Respekt vor unseren Ordnungshütern, um ihnen zuzutrauen, Ähnliches zu leisten. Die Listen von bei Grenzkontrollen verhafteten Straftätern, die die Regierungen zur Verteidigung der Binnengrenzen vor¬ zeigen, sind in der Tat eindrucksvoll lang. Liest man sie aber gründlich, wird man finden, daß unsere Machthaber eine epochale Erfindung gemacht haben: Sie verfügen über ein Netz, in dem nur die kleinen Fische hängenbleiben, während die großen anstandslos durchschwimmen. Mit Recht hat der tschechisch-italienische Europaabgeordnete Jiri Peükan ein¬ mal gesagt, man würde die Groß-Terroristen schon deshalb nicht schnappen, weil diese grundsätzlich mit Diplomatenpäs¬ sen reisen. Die ganze Bevölkerung zu belästigen und ihr die sauer erworbene Freizeit zu stehlen, nur um einige Zuhälter, Taschendiebe oder Zigarettenschmuggler abzufangen, ist ab¬ surd. In Europa gibt es zwei Gebiete, in denen man den Bürgern be¬ reits seit langem volle Freizügigkeit zugesteht: die BeneluxStaaten und Skandinavien. Dort ist die Kriminalität mitnich¬ ten höher geworden, aber man läßt die Bürger ungeschoren. Nur bei konkreten Hinweisen werden fliegende Kontrollen

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aufgestellt, die überraschend und daher wirksamer sind, gegen die aber niemand protestiert. Das System funktioniert seit vie¬ len Jahren zur allgemeinen Zufriedenheit. Niemand würde mehr daran denken, es abzuschaffen. Warum es also nicht in der größeren Gemeinschaft probieren? Es ist geradezu lächerlich, wenn wir auf den weltweiten Ter¬ ror kleinstaatlich-national antworten. Die Binnengrenzen sind nichts anderes als die Geßlerhüte unserer Regierungsbüro¬ kratien. Sie stören höchstens die Polizeiorgane, die an ihnen haltmachen müssen, aber keinesfalls die international operie¬ renden Gangster. Mit den Errungenschaften der modernen Technik und dem Schrumpfen des Raumes hat die Gewalt eine neue Dimension bekommen. Neben den weltweiten Verflech¬ tungen gibt es bereits ein geeintes Europa des Terrors, wie die Zusammenarbeit deutscher Terroristen mit der Irisch-Repu¬ blikanischen Armee und der baskischen ETA zeigt. Gegen¬ über diesem Angriff auf breitester Front ist unsere Verteidi¬ gung noch immer durch überholte Souveränitätsbegriffe be¬ hindert. Die Terroristen verhalten sich entsprechend den Ge¬ boten des 20. und 21. Jahrhunderts. Unsere Regierungen hin¬ gegen sind im 19. steckengeblieben, weil sie sich bisher nicht bereitgefunden haben, den Tatsachen Rechnung zu tragen und eine echte europäische Polizeibehörde und einen europäischen Rechtsraum zu schaffen. Die Europäische Gemeinschaft braucht natürlich nach außen hin sichere Grenzen, weil von dort Rauschgift und Gewalt zu uns kommen. Im Innern hingegen sollte die Freizügigkeit von einer starken Exekutive garantiert werden, die politische oder andere Verbrechen in Spanien und Frankreich genauso verfol¬ gen kann wie in Deutschland. Dasselbe gilt für die sogenannte Einwanderungsproblematik. Während die Europäer innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft nach wie vor an den Schlagbäumen sekiert werden, sind wir nach außen vielfach offen wie ein Wirtshaus. Diesen unerträg¬ lichen Zustand können wir nur beenden, wenn wir eine euro-

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päische Staatsbürgerschaft und ein europaweit einheitliches Asyl- und Einwanderungsrecht schaffen. Nationalstaatlich-bürokratische Unvernunft hat den Europäer nun schon seit Jahrzehnten Zeit, Nerven und sehr viel Geld gekostet. Es wäre höchste Zeit, daß in den Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft wieder echte Staatsmänner auftreten, die sich noch gegen den eigenen Apparat durchset¬ zen können. Es ist aber eine traurige Tatsache, daß die nationalen Regie¬ rungen, weil sie über politische Gebilde herrschen, die nicht mehr in unsere Zeit passen, deren Absurdität mit einer Ver¬ bissenheit verfechten, die einer besseren Sache würdig wäre. Würde man das gleiche Maß an Mut und Erfindungsgabe auf unsere äußere Verteidigung anwenden, wäre es um Europa wesentlich besser bestellt. Der verewigte frühere Präsident der Europäischen Kommis¬ sion, der Belgier Jean Rey, erzählte mir einmal, er habe in einem Fernsehprogramm auf die Frage der Grenzkontrollen hingewiesen. Daraufhin sei der Brief eines Grenzbeamten ein¬ getroffen, in dem ihm dieser mitteilte, er habe, nachdem die Regierungen nicht bereit seien, die Kontrollen aufzuheben, den Dienst quittiert, um sich nach einer vernünftigeren Be¬ schäftigung umzusehen. Der Mann erteilte damit eine gute Lektion, die die Minister beherzigen sollten. Sie sind schlie߬ lich angehalten, für das Wohl der Bevölkerung zu wirken und Schaden von ihr abzuwehren. Was die nationalen Regierungen heute, als »Rat« verkleidet, treiben, ist genau das Gegenteil. Sie schaden unserer Bevölkerung und ihrer Wirtschaft und versäumen es, das Wohl Europas zu fördern, obwohl es in ihrer Reichweite liegt.

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Österreich im Abseits?

Im Zusammenhang mit der Abschaffung der Binnen- und der Stärkung der Außengrenzen der EG wird immer wieder über den Sonderfall Österreich diskutiert. Im Herzen Europas gelegen und jahrhundertelang ein geistiger, kultureller und politischer Mittelpunkt, scheint es heute außerhalb der euro¬ päischen Entwicklung angesiedelt zu sein. Wir sehen das schon an den Verkehrs- und Handelsströmen. Lieblos »Transitland« genannt, wirkt Österreich - trotz seiner kulturellen und landschaftlichen Schönheit - auf viele Men¬ schen, die innerhalb der EG von Bayern nach Norditalien rei¬ sen oder Handel treiben möchten, lediglich wie ein lästiges Hindernis. Die natürlichen Verbindungen in Mitteleuropa wurden näm¬ lich durch die Welle des Nationalismus nach dem Ersten Welt¬ krieg entscheidend beeinträchtigt. Der Verfall einer großen Hafenstadt wie Triest zum Beispiel, die früher eine wichtige Rolle spielte, begann 1918 mit der Errichtung nationaler Schlagbäume im einst reichischen Mitteleuropa. Noch weit zerstörerischer wirkte sich aber die Teilung unseres Erdteils aus - die Folge der Konferenz von Jalta und der Besetzung des Donauraumes durch die Rote Armee. Der Eiserne Vorhang durchtrennt eine alte Völkergemeinschaft - sehr zum Nachteil aller Einwohner Zentraleuropas. Inzwischen suchen die EGMitglieder Griechenland und Italien wieder nach den besten Handels- und Transportwegen in das industrialisierte Herz Westeuropas. Diese entsprechen den historischen Straßen, auf denen die Kaufleute schon im Mittelalter zwischen dem östli¬ chen Mittelmeer und dem deutschsprachigen Raum hin- und herwechselten. Wenn aber trotz der weiteren Anwesenheit raumfremder Kräfte im Zentrum unseres Erdteiles erneut über die Neueröffnung dieser traditionellen Handelsrouten von Deutschland an das Mittelmeer gesprochen werden kann,

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so verdanken wir das vor allem vier Tatsachen: Dem ungebro¬ chenen Lebenswillen der Einwohner von Triest und Friaul, die seit Jahrzehnten im wirtschaftlichen Windschatten dahinvege¬ tieren müssen; der Selbstbehauptung Griechenlands wie der Türkei als Bollwerke der Freiheit im östlichen Mittelmeer; der Fähigkeit Österreichs, die fremde Okkupation zu überleben, erfolgreich zu beenden und seither die Unabhängigkeit zu be¬ wahren; der harten Arbeit des deutschen Volkes, das aus Trümmern wieder eine blühende Wirtschaft schuf. Diese geopolitischen und historischen Gegebenheiten haben das Europäische Parlament dazu bewogen, wieder für eine europäische Regionalpolitik unter Einbeziehung Österreichs einzutreten. Kein freier Staat in Europa hat heute ein Interes¬ se daran, die bestehenden Grenzen national hin- und herzu¬ verschieben. Alle hegen aber den Wunsch, die Verbindungen auszubauen und widernatürliche Hindernisse wegzuräumen. Die Europäische Gemeinschaft bietet uns damit die Möglich¬ keit, ohne das Risiko eines Konfliktes die Fehler vergangener Jahrzehnte zu korrigieren. In den ersten Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkrieg konnte man davon nur träumen. Öster¬ reich und die seit den Tagen des »Sacrum Imperium« mit ihm verbundenen Regionen Norditaliens sind wieder einmal aufge¬ rufen, eine europäische Friedensmission zu erfüllen. Hierin liegt das höhere Interesse aller Mitgliedsstaaten der Europäi¬ schen Gemeinschaft, auch jenseits der handfesten materiellen Argumente, die in dieselbe Richtung weisen. Die Übergänge über die Alpen, ob mit Bahn oder Straße, sind nur unter größten Kosten auszubauen. Ein kleines Land wie Österreich, das nur über beschränkte Mittel verfügt, kann das allein niemals leisten. Deshalb wäre es nur berechtigt, daß die EG der Wiener Regierung, wenn sie im Interesse der^Gemeinschaft handelt, einen Teil der Lasten abnimmt. Die Prämie für solche europäischen Finanzhilfen läge in kräftigen Impulsen für den internationalen Handel - nicht zuletzt, weil das Ende des neu ausgebauten alpenüberschreitenden Weges Bayern,

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das Kalifornien Deutschlands, mit seiner bedeutenden indu¬ striellen Zukunft wäre. Alle Staaten der Alpenregion und des Mittelmeeres könnten daran gewinnen. Wenn das Europäische Parlament mit der Durchsetzung dieser Vorhaben auf immer neue Schwierigkeiten stößt, so liegt das nicht nur am Krämergeist im EG-Ministerrat und an der büro¬ kratischen Schwerfälligkeit der EG-Kommission, sondern auch daran, daß in Wien seit Jahrzehnten kaum Europapolitik gemacht wurde. Man hatte manchmal den Eindruck, Öster¬ reich liege im Nahen Osten. Ein Blick auf die Karte hätte den Politikern zeigen müssen, daß die Beziehungen Österreichs zur EG eine Lebensfrage des Staates sind. Sechzig Prozent des Außenhandels wird mit EG-Mitgliedsstaaten abgewickelt. Wirtschaft, Landwirtschaft, Umweltschutz, Güter- und Perso¬ nenverkehr oder Fragen des Tourismus sind auch in Öster¬ reich nur noch im europäischen Zusammenhang lösbar. Da der europäische Binnenmarkt der Vollendung entgegengeht, können entsprechende Initiativen nicht mehr auf alle Zeiten hinausgeschoben werden. Österreich muß sich den gemein¬ schaftlichen Präferenzen stellen. Wien aber bleibt trotz kleiner Besserungen nach wie vor zu passiv. Es fehlt offensichtlich der politische Wille. Zur Be¬ gründung der Untätigkeit wird behauptet, man könne nichts unternehmen, da das Land neutral sei und der Staatsvertrag einen Beitritt zur EG verhindere. Das internationale Recht und die Studien bedeutender Gutachter wie des österreichi¬ schen Professors Schweitzer an der Universität Passau bewei¬ sen aber, daß dies eine billige Ausrede ohne ernstliche Be¬ gründung ist. Natürlich kann Österreich wegen seiner Neutra¬ lität die Römischen Verträge nicht uneingeschränkt unter¬ zeichnen. Es gibt darin aber nur wenige Artikel, die als nicht tragbar anzusehen sind. In diesen Fällen sollte es unbedingt möglich sein, eine Sonderregelung zu erreichen. Da die EG kein Militärbündnis ist, könnte sie Österreich beim Eintritt eine Neutralitätsklausel zubilligen.

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Der wahre Grund der eigenartigen Verweigerung einer positi¬ ven Politik liegt in der Struktur der österreichischen Wirt¬ schaft. Diese ist weitgehend sozialisiert. Das gilt nicht nur für die direkt verstaatlichten Unternehmen, sondern auch für die Konzernbetriebe der in öffentlicher Hand befindlichen Ban¬ ken. Die Römischen Verträge hingegen sind marktwirtschaft¬ lich orientiert. Das würde manche der bisherigen Praktiken ausschließen. Die EG schützt das Interesse der Bevölkerung und der Konsumenten, während die Geschäftspraxis des öster¬ reichischen Staates - man denke nur an die Skandale um die VÖEST - meist durch bürokratische Sonderinteressen be¬ stimmt wird. Verstaatlichung dient eben nicht, wie man oft be¬ hauptet, der Allgemeinheit, sondern war in Österreich die Machtergreifung von Parteifunktionären in der Wirtschaft. Diese führen noch Rückzugsgefechte aus Positionen, die auf Dauer nicht zu halten sind. Österreichs Eintritt in einen gro¬ ßen freien Binnenmarkt bei gleichzeitiger Privatisierung und Modernisierung der Industrie könnte nach kleineren Über¬ gangsschwierigkeiten zu einer ökonomischen Blüte in ganz Mitteleuropa führen. Nicht zuletzt geistig-kulturell wäre es eine Katastrophe, würde sich Österreich weiter abkapseln. Wien besitzt eine große An¬ ziehungskraft für die Völker Mittel- und Osteuropas. Auch das benachbarte Italien hat unter anderem kräftige österreichi¬ sche Wurzeln. In der Bundesrepublik Deutschland leben Mil¬ lionen von heimatvertriebenen Altösterreichem, die sich Wien noch innerlich verbunden fühlen. Ähnliches gilt für Emigran¬ ten aus Mitteleuropa, die vor allem in den USA und Großbri¬ tannien in höchste politische, wirtschaftliche und wissenschaft¬ liche Funktionen gelangt sind. In einst habsburgischen Län¬ dern wie den Beneluxstaaten oder Spanien, aber auch in Frankreich oder Portugal liegt ein bis heute gewaltiges Sympa¬ thiekapital, das Österreich jahrhundertelang angehäuft hat. Dies gilt es heute im Interesse des Landes und seiner Bürger zu heben.

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Sinnentleerte,

zu

Schlammschlachten

degenerierte

Wahl¬

kämpfe als Zeichen des Verfalles politischer Institutionen, Korruptionsskandale oder Selbstmitleid bieten ebensowenig einen Ausweg aus der gegenwärtigen Misere wie der süße Irr¬ glaube, auf einer Insel der Seligen zu leben. Dieser schwindet allerdings mehr und mehr. Österreich hat nur dann eine Zukunft, die seiner großen Ver¬ gangenheit entspricht, wenn es sich endlich entschließt, eine europäische Rolle zu spielen. Die Paneuropa-Bewegung ist in den zwanziger Jahren nicht zufällig von Wien ausgegangen. Es wäre eine Schwächung für den ganzen Kontinent, bliebe Österreich im Abseits.

Unsere Umwelt

Umweltprobleme sind heute im Rahmen eines Einzelstaates kaum mehr lösbar, was gerade Österreich beweist. Die Ver¬ schmutzung des Wassers wie der Luft wirken grenzüberschrei¬ tend. Die Gefährdung unseres Lebensraumes ist daher ein ent¬ scheidendes Argument für die europäische Einigung. Denn es läßt sich beim besten Willen nur mehr gemeinschaftlich weiter¬ kommen. Hier besteht noch ein großer Nachholbedarf. Zwar hat das Europaparlament auf Betreiben von Abgeordneten wie Ursula Schleicher und Siegbert Alber verhältnismäßig viel getan, insbesondere bezüglich der Autoabgase, der Großfeue¬ rungsanlagen sowie der Reinhaltung der Gewässer. Doch allzu vieles ist am handlungsunfähigen Ministerrat oder den natio¬ nalen Bürokratien gescheitert. Gewisse links-altemative Kreise nehmen das Ganze zum An¬ laß, unsere nationalen Regierungen nur als Handlanger privat¬ wirtschaftlicher Interessen zu verleumden. Dabei zeigt uns die Erfahrung eines ganz klar: Selbständige Unternehmer sind es keineswegs, die vernünftige Schutzmaßnahmen blockieren. Die entscheidenden Widerstände gehen vielmehr von verstaat¬ lichten Betrieben aus, wie der langwierige Kampf des Europa¬ parlamentes gegen die französischen Kaliwerke von Mühlhau¬ sen beweist. Weil hier nicht ein flexibler Mann der Wirtschaft, sondern die Pariser Zentralbürokratie der Verhandlungs¬ partner war, leiteten diese weiterhin - trotz heftigster Pro¬ teste - ihr Salz in den Rhein ab und machten die bemerkens¬ werten Anstrengungen Deutschlands, der Niederlande und der Schweiz größtenteils wieder zunichte. Dabei hätte man ja eigentlich das Umgekehrte annehmen müssen, da Betriebe in öffentlichem Besitz theoretisch der Gemeinschaft gehören und eher auf die Verordnungen ihrer Autoritäten hören müßten als etwa ein freier Bürger. Doch Verstaatlichungen verändern eben das Gleichgewicht

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der Kräfte. Wenn eine Regierung pflichtgemäß darüber wa¬ chen soll, daß ihre Gesetze befolgt werden, fällt diese Aufgabe praktisch der Verwaltung zu. Diese muß kontrollieren, ob die gültigen Richtlinien für den Umweltschutz eingehalten wer¬ den. Das funktioniert recht und schlecht, solange sich die Be¬ triebe nicht in den Händen der Bürokratie befinden. Diese Vorbedingungen ändern sich aber, sobald die Beamtenschaft die Produktionsmittel besitzt und sich demzufolge selbst zu überprüfen hätte. In diesem Fall - und das ist durchaus logisch - nehmen plötzlich die unternehmerischen Gesichtspunkte, also die Verringerung der Herstellungskosten, in den Über¬ legungen des Staatsapparates den ersten Platz ein. Wenn der Verschmutzer zum Überwacher der Umweltbestimmungen er¬ nannt wird, ist es höchst unwahrscheinlich, daß er diese gegen sich zur Anwendung bringt. Solch eine Wechselwirkung ist übrigens mit der Rolle verstaatlichter Banken bei der Kre¬ ditbeschränkung zu vergleichen. In diesem Fall wird näm¬ lich eine Verzerrung des Wettbewerbes fast unvermeidlich, nachdem die staatlichen Banken wohl das Kreditvolumen verkleinern, aber die verfügbaren Summen nicht etwa dem freien Markt zur Verfügung stellen, sondern den eigenen Konzernen zukommen lassen. Das wirkt sich auf die Wirt¬ schaft aus, wie eine schiefziehende Bremse auf die Fahreigen¬ schaften eines Autos. Wenn also eine Regierung nahezu unfähig ist, sich gegenüber einem verstaatlichten Betrieb im Interesse der Allgemeinheit durchzusetzen, so ist das im Westen schon schlimm genug. Ka¬ tastrophal jedoch sind die Zustände im Ostblock. Man hat sich oft gefragt, warum gerade dort der Lebensraum in gewissen¬ losester Weise vernichtet wird, wobei die Auswirkungen auch bei uns spürbar sind. Die Antwort ist ganz einfach: Östlicher Sozialismus ist die absolute Herrschaft der Umweltverschmut¬ zer, die noch dazu die Möglichkeit haben, jeden Kritiker ihrer Verbrechen gegenüber Mensch und Natur kurzerhand ein¬ sperren zu lassen. Das führt zu entsetzlichen Mißbräuchen.

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Unter dem Titel »Rettet das Sudetenland« hat die Sudeten¬ deutsche Landsmannschaft eine erstklassige Broschüre über die Umweltzerstörung in Böhmen und Mähren herausgege¬ ben. Tote Wälder, die Abwanderung der nach der Vertrei¬ bung angesiedelten Bevölkerung und der Verfall einer herrli¬ chen Kulturlandschaft sind ein Zeichen dafür, daß sich Sozia¬ lismus und Ökologie genauso ausschließen wie Sozialismus und Produktivität. Bisher wurden zugunsten der freien Marktwirtschaft vor allem das Argument der größeren Rentabilität und eventuell das der sozialen Gerechtigkeit gebraucht. Unsere Zeit muß erkennen, daß der Markt zur Rettung der Umwelt lebenswichtig gewor¬ den ist. Die konsequente Trennung von Verwaltung und Wirt¬ schaft und die möglichst weitgehende Ausdehnung des Privat¬ sektors sind die letzte Chance zur Gesundung der Natur. Sonst könnten auch bei uns Zustände wie im Sudetenland oder dem asiatischen Teil der Sowjetunion eintreten. In den Zonenrand¬ gebieten spüren wir schon die Anzeichen. Es ist bezeichnend, daß gerade politische Kräfte, die als rein produktionsorientiert verteufelt werden, weil sie marktwirt¬ schaftlich denken, auf ökologischem Gebiet besonders viel ge¬ leistet haben. Eine Vorreiterrolle für ganz Europa besaß hier die bayerische Staatsregierung, die unter Alfons Goppel das erste Umweltministerium der Welt schuf. Minister wie Max Streibl und Alfred Dick haben daraus ein wirkungsvolles In¬ strument gemacht. Wenn in ganz Europa Schutzmaßnahmen ergriffen würden wie im von links geschmähten weißblauen Freistaat, müßten wir uns nicht um die Menschen, Pflanzen und Tiere auf unserem Kontinent sorgen. In Großbritannien wieder, wo man wegen der Insell^ge nicht so viel Sinn für die Luftverschmutzung hat, wurde unter Mar¬ garet Thatcher Vorbildliches für die Gewässerreinhaltung ge¬ tan. Die gute Nachricht, daß in den Quellflüssen der Themse nach hundertfünfzig Jahren plötzlich wieder Lachse aufge¬ taucht sind, hat man in unseren Medien jedoch weitgehend

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verschwiegen, da sie nicht in das Bild von der kapitalistischen Ausbeuterin in London paßten. Es gibt leider kaum einen Sektor, auf dem derart schamlos Demagogie betrieben wird wie beim Umweltschutz. Das sah man besonders eindringlich nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl. Mit großer Geschicklichkeit und organisatorisch¬ propagandistischer Tüchtigkeit haben Elemente der linken Szene die Frage der Verantwortung für das Unglück, das sich in der Sowjetunion abgespielt hat und an dessen Auswirkung viele nicht beteiligte Länder leiden mußten, in einer Weise aufgefangen, die die Einzelverantwortung in eine Kollektiv¬ schuld verwandelte. Diesem Ziel diente das weltweit verwen¬ dete Schlagwort »Tschernobyl ist überall«. Dabei sprechen die Tatsachen eine ganz andere Sprache. Natürlich können auch bei uns Unfälle passieren. Eine absolute Sicherheit gibt es auf Erden nicht. Doch sind die russischen Reaktoren nachweislich wesentlich gefährlicher als diejenigen, die derzeit in der westli¬ chen Welt verwendet werden. Es ist bekannt, daß die sowjeti¬ schen Kraftwerke nur etwa ein Viertel derjenigen der westli¬ chen Länder kosten. Das ist nicht erstaunlich, denn 75 Prozent der Ausgaben bei uns machen die Sicherheitsvorrichtungen aus. Dies ist weitgehend auf den Druck der öffentlichen Mei¬ nung zurückzuführen, der in Demokratien möglich ist. Wir müssen also glücklich sein, daß wir in der freien Welt von un¬ seren Regierungen Respekt für die Menschen fordern und den Technokraten Schranken setzen können. Das bürokratische Monopol im Osten hingegen ermöglicht, daß in russischen Re¬ aktoren vielfach Materialien verwendet werden, die bei uns längst verboten sind. Sogar in der Sowjetunion hat sich be¬ reits, zumindest in Fachkreisen, die Unzufriedenheit mit die¬ ser gewissenlosen Verfahrensweise geregt. So hatte schon ein Jahr vor Tschernobyl eine junge Wissenschaftlerin in der Ukraine von der Möglichkeit eines Unfalls mit schwerwiegen¬ den Folgen gesprochen. Geschehen ist jedoch gar nichts, und auch die primitivsten Sicherheitsmaßnahmen fehlten. Es war

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der schlimmste Ausdruck bürokratischer Unfähigkeit in einem diktatorischen System, daß nach dem »Super-Gau« die Orts¬ feuerwehren ohne besondere Ausrüstungen ins Verderben ge¬ schickt wurden. Präsident Dwight D. Eisenhower hat schon in den fünfziger Jahren in seiner berühmten »open skies«-Rede der Sowjetuni¬ on vorgeschlagen, man möge, um eine atomare Abrüstung zu erreichen, gegenseitige Inspektionen einrichten. Moskau und Washington müßten zumindest den Flugzeugen der Gegensei¬ te erlauben, einzufliegen, um die Reaktoren aus der Luft zu beobachten. Besser noch wäre es, wenn man Wissenschaftler und Sachverständige austauschen würde, die nach eigenem Er¬ messen die verschiedenen Betriebe besuchen könnten, um die Durchführung der Abmachungen zu überwachen. Dieser An¬ trag, der übrigens auch heute noch gilt, wurde damals von der Sowjetunion schroff zurückgewiesen. Die russische Souveräni¬ tät erlaubte es nicht, daß Beobachter anderer Länder ihr Ge¬ biet frei durchreisten. Wäre seinerzeit der Eisenhower-Plan in Kraft getreten, hätten wir es uns wahrscheinlich ersparen kön¬ nen, uns den Namen Tschernobyl zu merken. Es hätte kein so mörderisches atomares Wettrüsten geben können, das die So¬ wjetunion dazu veranlaßt, ohne Rücksicht auf Schutzmaßnah¬ men solche Reaktoren wie in der Ukraine zu betreiben. In der Politik wie in der Technologie gibt es keine hundertpro¬ zentige Gewißheit. Man kann aber ein Unglück unwahrschein¬ licher machen. Je energischer die Kontrolle, desto größer die Sicherheit. Der Eisenhower-Plan zeigt die Lösung unseres Problems. Nur eine geschlossene Haltung des Westens, das heißt der USA und einer starken EG, wie die Bereitschaft, wir^chaftliche Macht in Verhandlungen mit den Kommunisten einzuset¬ zen, kann die Umwelt-Spannung zwischen Ost und West be¬ seitigen. Damit wäre ein wesentlicher Schritt zu einem friedli¬ chen Zusammenleben in Europa gemacht. Unsere Umwelt verlangt nach grenzüberschreitender Solidarität in ganz Eu-

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ropa. Als deren Vorkämpfer ist das Europäische Parlament schon in den ersten Jahren seines Bestehens unverzichtbar ge¬ worden.

Europaparlament - Motor der Einigung

Die Europäische Gemeinschaft wurde wiederholt mit einem riesigen Tanker verglichen, der sich nur langsam manövrieren und schwer wenden läßt. Das Bild ist nicht schlecht. Eine deutsche Fernsehsendung zum 25. Jubiläum der Unterzeich¬ nung der Römischen Verträge hieß »Und sie bewegt sich doch«, womit die EG gemeint war. Der Einigungsprozeß geht tatsächlich ständig weiter, wenn auch nicht so schnell, wie sich dies viele wünschen. Ein Supertanker läßt sich nicht blitz¬ schnell umdirigieren. Natürlich müßte er nicht ganz so lang¬ sam sein, wenn nicht zwölf Kapitäne, nämlich die nationalen Regierungen, auf der Kommandobrücke stünden. Ein einheit¬ licher politischer Wille sollte die Richtung bestimmen. Diesen nach und nach zu entwickeln und durchzusetzen, ist die histo¬ rische Aufgabe des Europäischen Parlamentes. Es gehört zu den wesentlichsten Erfahrungen meiner parla¬ mentarischen Tätigkeit, daß die nationalen Regierungen meist nur noch Fassade sind. Sie haben kaum etwas zu sagen. In un¬ seren Staaten regieren heute in Wirklichkeit die großen Büro¬ kratien, weil allein sie einen Überblick über die Aktenlage haben. Ich mußte selbst bei Konzertationen zwischen Europa¬ parlament und Rat erleben, daß die von Konferenz zu Konfe¬ renz hetzenden Minister in der Regel wenig von dem Thema wissen, über das sie zu verhandeln haben. Sie tragen höchstens Papiere vor, die ihnen einer ihrer Mitarbeiter kurz nach der Landung auf den Flugplätzen von Brüssel oder Straßburg in die Hand gedrückt hat. Gehen die Fragen der Abgeordneten über die Vorgaben hinaus, sind die Vertreter der Exekutive oftmals weitgehend hilflos. Man kann ihnen diesbezüglich keinen Vorwurf machen. Allein der Haushaltsplan, den wir im Europäischen Parlament bera¬ ten müssen, hat mehrere tausend Seiten. Ein solcher Berg von Papier ist gar nicht mehr zu lesen, nicht einmal, wenn man das

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ganze Jahr nur dafür verwenden würde. Den Ministern geht es natürlich noch wesentlich schlechter, weil sie mit viel mehr Dokumenten überschüttet werden. Manchmal habe ich den Eindruck, daß diese Papierflut bewußt erzeugt wird, weil sie zu einer unsichtbaren Machtübertragung von den gewählten Verantwortlichen in andere Kreise führt. Der Ministerrat wird so zur Achillesferse der Gemeinschaft. EG-Kommissare und Abgeordnete, die sich täglich ausschließlich mit europäischen Problemen beschäftigen, haben eher die Möglichkeit, sich ge¬ gen bürokratische Anmaßungen zur Wehr zu setzen, als der nationale Minister, der, von einer UNO-Konferenz kommend, sich schon wieder einem regionalen Wahlkampf in seiner Hei¬ mat zuwenden möchte und beim Zwischenstop völlig übermü¬ det noch die komplizierten Probleme der europäischen Eini¬ gung lösen soll. Angesichts solcher institutioneller Fehlentwicklungen ist es die Hauptaufgabe des Europäischen Parlamentes, Unfug zu ver¬ hindern. Das ist nicht spektakulär, doch mindestens so wich¬ tig, wie Neues einzuleiten. Hier liegen die außerordentlichen Verdienste des vom Oberpfälzer Europaabgeordneten Hein¬ rich Aigner geschaffenen Haushaltskontroll-Ausschusses. Die¬ ser mußte am Nullpunkt beginnen und die seit Jahrzehnten weitgehend

unbeaufsichtigt

wuchernde

Verwaltung

einer

strengen Prüfung unterziehen. Das begann mit dem Tag der Direktwahl. Der Ausschuß war so erfolgreich, daß ihn der FDP-Parlamentarier Ulrich Irmer in einem Artikel scherzhaft »das Schreckenskabinett des Dr. Aigner« nannte. Die euro¬ päische Volksvertretung hat das mit Abstand modernste Haushaltskontrollsystem der Welt geschaffen, weshalb Delega¬ tionen aus aller Herren Länder nach Straßburg kommen, um dieses zu studieren und auch bei sich anzuwenden. Wir haben dank der Arbeit des Aigner-Ausschusses schon in den ersten Jahren nach der Direktwahl von 1979 mehr als zwölf Milliar¬ den Mark eingespart, das ist ein Mehrfaches von dem, was die europäische Volksvertretung trotz Wanderzirkus und teueren

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Übersetzungsdiensten kostet. Unser Parlament ist somit nicht ein geldverschlingender Moloch, wie manche glauben, son¬ dern es wirft im Sinne des Steuerzahlers durch seine Tätigkeit Gewinn ab. Es ist kein Zufall, daß Aigner nach der zweiten Direktwahl 1984 als einziger von den vielen Ausschußvorsit¬ zenden des Parlamentes in seinem Amt bestätigt wurde. Meine Bemühungen konzentrierten sich vor allem auf die europäische Außenpolitik. Eine solche bestand vor 1979 nicht. Nach intensiven Vorarbeiten gelang es uns 1981, die Euro¬ päische Politische Zusammenarbeit (EPZ) verpflichtend zu machen und dieses Gremium der Außenminister mit dem Europaparlament zu verbinden. Das wirkte sich besonders stark im Falklandkrieg aus, in dem die Gemeinschaft trotz un¬ terschiedlichster Interessen geschlossen hinter Großbritan¬ nien stand, was wesentlich dazu beigetragen hat, den Kon¬ flikt zu verkürzen. Schwäche erzeugt nämlich nicht Frieden, sondern verlängert lediglich den Krieg, weil der Gegner glaubt, die Uneinigkeit des anderen irgendwann nutzen zu können. Auch bei der KSZE-Nachfolgekonferenz in Madrid sprach die Gemeinschaft mit einer Stimme, obwohl die außenpolitische Bandbreite von Margaret Thatcher bis zu Griechenlands Pre¬ mierminister Andreas Papandreou sehr groß war. Das wäre ohne Druck des Europäischen Parlamentes niemals gelungen. In den nächsten Jahren wird der Schwerpunkt unserer Tätig¬ keit auf dem Ausbau des Sekretariates für politische Zusam¬ menarbeit zu einem europäischen Außenministerium liegen. Wenn der Weg dorthin auch noch weit sein mag, ist es doch er¬ mutigend, daß heute bereits die.zwölf EG-Botschafter in jeder Hauptstadt der Welt einmal in der Woche Zusammentreffen, um die gemeinsame Marschroute abzustecken. Dem ent¬ spricht, daß die diplomatischen Vertretungen von EG-Ländem nach und nach baulich zusammengelegt werden sollen. Die EPZ hat sich also trotz der geschilderten Schwäche gegen¬ über Libyen im großen und ganzen bewährt.

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Ein besonders feines Gespür hat das Europaparlament für die Bedrohung durch die sowjetische Großmachtpolitik entwikkelt. Schon im Herbst 1979 nahm es meinen Antrag an, vor der bevorstehenden Invasion Moskaus in Afghanistan zu war¬ nen. Wir wurden zwar damals von den westlichen Regierun¬ gen nicht ernst genommen, weil diese glaubten, wir würden Gespenster sehen. Aber als unsere Warnungen im Dezember 1979 leider bestätigt wurden, trug dies viel zum moralischen Ansehen der Straßburger Volksvertretung bei. Die von ihrer nichtsozialistischen Mehrheit geprägte außenpolitische Linie fand weltweit Anerkennung. Wir galten daher auf anderen Kontinenten zunehmend als die Stimme Europas. Unser größter Erfolg war, daß wir das Selbstverständnis der Europäischen Gemeinschaft grundlegend geändert haben. Als ich 1979 nach Straßburg kam, war eine Mehrheit der Überzeu¬ gung, daß Europa nur aus den damals neun Mitgliedsstaaten bestünde. Alles weitere ginge uns nichts an. Ein langer und harter Kampf war nötig, um zuerst im Parlament, später auch in Kommission und Ministerrat das Bewußtsein zu verankern, daß die EG nur der Ausgangspunkt des größeren Europa von morgen ist. Seitdem stehen alle Gemeinschaftsorgane zum Selbstbestimmungsrecht der Völker hinter dem Eisernen Vor¬ hang und treten mit allen friedlichen Mitteln für dieses ein. So entstand durch das Parlament ein neues Europakonzept der EG im Sinne der Paneuropa-Bewegung. Auch auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik haben wir große Fortschritte gemacht. Noch 1979 waren siebzig Prozent der Abgeordneten der Meinung, daß diese eigentlich nicht in den Rahmen der Römischen Verträge gehöre. Als Kai-Uwe von Hassel seinerzeit eine Anfrage zum Thema Rüstungsstandar¬ disierung einbrachte, brach ein derartiges Geheul aus, daß Pessimisten schon den Rückfall Europas in die reine Wirt¬ schaftsgemeinschaft befürchteten. Inzwischen hat nicht nur das Parlament einen Unterausschuß für Sicherheitsfragen noch vor einigen Jahren undenkbar -, auch die zwölf Regie-

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rungen haben sich auf die Erweiterung der Gemeinschaftspolitik durch eine sicherheitspolitische Dimension geeinigt. In der Wirtschaftspolitik, der Technologie und Forschung, beim Umweltschutz oder bei den Maßnahmen für das »Europa der Bürger« sind wir dank der Straßburger Versammlung wei¬ tergekommen, um nur einige Beispiele zu nennen. Selbst die vieldiskutierte Agrarpolitik wäre ohne den Einsatz des Euro¬ päischen Parlamentes viel schlechter gelaufen. Trotzdem läßt sich nicht wegleugnen, daß die europäische Volksvertretung noch nicht ihre volle Wirksamkeit entfalten konnte, weil die Staats- und Regierungschefs wohl die Direktwahl erlaubten, dann aber erschraken und den Abgeordneten nicht die ent¬ sprechenden Zuständigkeiten zumessen wollten. Damit hängt auch unser schlechtes Verhältnis zu vielen Massenmedien zu¬ sammen. Doch eine Europäische Gemeinschaft ist ohne Europäisches Parlament undenkbar. Die nationalen Volksvertretungen ha¬ ben viele Zuständigkeiten an die europäische Ebene verloren. Vierzig Prozent der Gesetze werden schon in Brüssel gemacht. Deshalb ist es um so schlimmer, daß das Europaparlament noch nicht die nötigen Rechte hat, um die legislativen Funktio¬ nen, die etwa der Bundestag bereits verloren hat, zu überneh¬ men. Davon profitieren nur die bürokratischen Kräfte. Wir sind heute über den Punkt, von dem aus es noch ein Zurück geben könnte, hinaus. Jeder Nationalstaat, der die Gemeinschaft verlassen wollte, würde damit Selbstmord bege¬ hen. Das gilt nicht nur für die Kleinen, sondern genauso für Deutschland, Großbritannien oder Frankreich. Das wissen übrigens selbst die nationalen Politiker, auch wenn es nur rühmliche Ausnahmen wie Helmut Kohl zugeben.

*

Besser als die Politiker ist jedoch die Bevölkerung. Dieser kann man längst nicht mehr ein X für ein U vormachen. Als das dänische Parlament Anfang 1986 die europäischen Refor¬ men verhindern wollte, haben die Dänen in einer Volks¬ abstimmung für Europa bewiesen, daß sie klüger sind als die

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selbsternannten Staatsmänner. Darin liegen die großen Mög¬ lichkeiten des Europäischen Parlamentes als Motor der Eini¬ gung. Wenn die Abgeordneten nicht Anhängsel nationaler Funktionäre, sondern Vorhut der europäischen Völker sind, werden sie als Baumeister des »Vaterlandes Europa« in die Geschichte eingehen, mögen heute provinzielle Presseorgane oder politische Lokalgrößen noch so sehr über sie spotten.

Vaterland Europa

In den Tagen, da Robert Schuman seinen Plan für eine Kohleund Stahlgemeinschaft ausarbeitete, hatte ich öfters Gelegen¬ heit, mit ihm über den besten Weg zur Einigung Europas zu sprechen. Lange Zeit war der große französische Staatsmann keineswegs davon überzeugt, daß die Marschroute, die einzu¬ schlagen er gezwungen war, die richtige sei. Er meinte, es wä¬ re falsch, in einer Armee die Intendanz an die Front und die Kampftruppen in die Etappe zu schicken. Damit wollte er sagen, daß man nicht mit der wirtschaftlichen Einigung beginnen dürfe, um dann von dieser Basis aus in der Politik zu enden. Letztere ist in allen menschlichen Gemein¬ schaften das wichtigste Lenkungsinstrument. Wenn sich Schu¬ man trotzdem blutenden Herzens entschließen mußte, mit der Kohle- und Stahlgemeinschaft anzufangen, so lag das an den unumstößlichen Gegebenheiten der damalige Zeit: Es war nicht möglich, in einer Epoche, in der die Wunden des Zwei¬ ten Weltkrieges kaum verheilt waren, die Deutschen gleichbe¬ rechtigt in eine politische Union einzubringen. So mußte man dort ansetzen, wo das Vorhaben durchführbar schien. Aller¬ dings bestand weiterhin die Hoffnung, daß eine neue politi¬ sche Dimension bald die wirtschaftliche ergänzen werde. Schuman hat niemals die Illusion Hallsteins geteilt, daß sich aus der Wirtschaft eine automatische Rückkoppelung in die Politik ergeben könne. Die Richtigkeit seiner Auffassung wurde in den letzten Jahr¬ zehnten immer wieder unter Beweis gestellt. Vor allem der EG-Ministerrat und die ihn manipulierenden nationalen Büro¬ kratien traten häufig mit falschen Prioritäten auf und vergaßen den Satz von Charles Maurras »Politique d’abord«, das heißt: Politik zuerst! In diesem Zusammenhang ist es interessant, Vergleiche zwi¬ schen zwei großen Einigungsbewegungen der Gegenwart zu

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ziehen, der Europäischen Gemeinschaft und den ASEANStaaten. Es wird oftmals bedauert, daß die wirtschaftliche In¬ tegration im Fernen Osten weit hinter der politischen zurück¬ geblieben sei. Eine Beobachtung an Ort und Stelle zeigt, daß in Asien der richtige Pfad beschritten wurde. Bei aller Unter¬ schiedlichkeit der Bedingungen entstehen dort jene Entschei¬ dungsinstrumente, die in Europa oft nur Projekte sind. Daß die aggressive Politik des kommunistischen Vietnam viel zur Vernunft der Verantwortlichen in Südostasien beiträgt, kann vielleicht als schwache Entschuldigung für unsere europäi¬ schen Politiker gelten. Europas Regierungen hätten längst erkennen müssen, daß es für uns langfristig keine Alternative zur Einigung gibt. Gelingt diese in absehbarer Zeit nicht, wird die alte Welt zwangsläufig von der Bühne der Weltgeschichte abtreten. Das gilt nicht zuietzt in den Fragen der Sicherheit. Heute ist die Lage West¬ europas schon darum unmöglich, weil wir für das Überleben von Entscheidungen abhängen, auf die wir keinen direkten Einfluß besitzen. Unsere Freiheit hängt allein von dem ab, was in Washington geschieht. Westeuropa ist also ein »selbstver¬ schuldetes Protektorat« der Vereinigten Staaten. Diesen ge¬ bühren Dank und Respekt dafür, daß sie ihre Macht nicht in einer Weise ausnutzen, die zum Nachteil unseres Erdteiles wä¬ re. Die Regierungsära Jimmy Carters hat aber auch bewiesen, mit welchen Folgen wir rechnen müssen, wenn Washington ei¬ nen politischen Schwächeanfall erleidet. Auch ökonomisch hängen wir auf Gedeih und Verderb von einer grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere der Einigung Europas ab. Das wirtschaftliche Schwergewicht der Welt droht, sich vom Atlantik an den Stillen Ozean zu verlagern. Im Fernen Osten spielen sich Ereignisse ab, die die amerikanische Außenhandels- und Wirtschaftspolitik verän¬ dern werden. Die japanische Dynamik und die großen Roh¬ stoffreserven der ASEAN-Staaten ziehen die USA, die im Pa¬ zifik nach Partnern suchen, mächtig an. Das könnte sich eines

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Tages auch auf unsere äußere Sicherheit auswirken. Dasselbe gilt für Forschung und Technologie, wo wir trotz unseres unge¬ heuren Potentials durch Mangel an Einheit und Willenskraft auf dem besten Weg in die Unterentwicklung sind. Währenddessen erfolgt auch innerhalb der Vereinigten Staa¬ ten eine neue Gewichtung. Die amerikanische Bevölkerung und mit ihr die modernen Industrien ziehen nach Westen und Süden. Die Bedeutung der Ostküste, die sich mit Europa immer verbunden fühlte, nimmt ab. Spätestens seit Reagan hat Kalifornien das Sagen erhalten. Das bedeutet, daß der Blick der USA sich mehr und mehr auf den Stillen Ozean richtet. Das sind die Imperative, die gebieterisch fordern, das »Vater¬ land Europa« endlich zu einen. Wenn in dieser Situation nichts geschieht, begehen wir mittelfristig Selbstmord. Wir könnten unter diesen Umständen höchstens noch vom Fremdenverkehr leben und als Museumswächter mit den Trinkgeldern der Amerikaner und Japaner unser Brot verdienen. Eine eigen¬ ständige europäische Existenz dürfte es dann nicht mehr ge¬ ben. Vielleicht aber droht uns sogar Schlimmeres. Der Vater Paneuropas, Richard Coudenhove-Kalergi, sagte kurz vor seinem Tod, daß Europa auf die Dauer nur die Wahl habe, entweder eine große Schweiz oder eine große Tschechoslowakei zu wer¬ den. Letztere entstand nach dem Ersten Weltkrieg als ein von An¬ fang an zum Scheitern verurteilter zentralistischer National¬ staat und wurde schließlich die Beute der Nationalsozialisten und der Kommunisten. Ihre Volksgruppen wurden zu Minder¬ heiten degradiert, dann vertrieben oder entnati#nalisiert. Auch das sogenannte Mehrheitsvolk ist heute nicht mehr Herr seines eigenen Schicksals. In der Schweiz hingegen lebt der übernational tolerante Geist des alten Reiches weiter, aus dem diese wohl seinerzeit aus¬ schied, aber vielleicht gerade deshalb einige seiner wesentlich-

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sten Elemente in eigenständigen Formen bewahrte. Das hat Coudenhove-Kalergi beeindruckt. Natürlich dachte er nicht an eine blinde Nachahmung der Eidgenossenschaft, wie sie heu¬ te, noch dazu in falsch verstandener Weise, zuweilen in Öster¬ reich angestrebt wird. Wohl aber wollte er auf die Lehren hinweisen, die Europa zu seiner Konstruktion von der Schweiz und ihrem erfolgreichen Experiment ableiten kann. Zwischen dem Alpenstaat und unserer Gemeinschaft bestehen erstaunliche Parallelen, natürlich aber auch gewichtige Unter¬ schiede. Europa bewundert die Schweizer, weil es ihnen gelungen ist, dem Konflikt der Großen zu entgehen. Das war nicht zuletzt möglich, weil die Eidgenossenschaft von Natur aus arm ist. Diese Bemerkung mag schockieren, da die Schweiz als eines der reichsten Länder gilt. Man vergißt häufig, daß dieser Wohlstand ausschließlich auf Erfindungsgabe, Technologie und Arbeit bemht. Unter dem Schweizer Boden gibt es Stei¬ ne, sonst nichts. Zerstört man, was Menschenhand geschaffen hat, bleibt daher nichts mehr übrig. Dazu kommt, daß die Schweiz an keiner der großen Heeres¬ straßen der Geschichte liegt. Die Schlachten von gestern und die politischen Auseinandersetzungen von heute spielten sich immer wieder an denselben Orten ab. Das sind die große nordeuropäische Ebene, das Donautal und die Engen des Mit¬ telmeeres. Die Schweiz wird aber durch ihre unwegsamen Ber¬ ge geschützt. Anders Europa als ganzes, das nur eine Halb¬ insel des Euro-Asiatischen Kontinentes ist. Dessen mißliche strategische Lage angesichts der weltweiten Dimension von Konflikten unterscheidet sich unvorteilhaft von der günstigen Situation der Schweiz in jenem Zeitalter, als die Probleme noch rein innereuropäisch waren. Dennoch gibt es Ähnlichkeiten, was das Potential betrifft. So wie die Schweizer unter geschickter Nutzung ihrer Geographie den Außenhandel weit besser gestreut haben als alle anderen europäischen Staaten, könnte dies auch ein geeintes Europa

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weltweit tun. Es ist über die Ozeane Nachbar der meisten Kontinente, wie die Schweiz an die wichtigsten Staaten des europäischen Festlandes grenzt. Daraus ergibt sich für die Schweiz im Kleinen und für Europa im Großen eine Mittelpunktsfunktion. Unsere besten Produktionsstätten befinden sich unweit der Meere. Wir verfügen über ausgezeichnete, leicht befahrbare natürliche Häfen. Selbst die Industrie Bay¬ erns oder Österreichs liegt nahe am Meer, auch wenn politi¬ sche Unvernunft das zuweilen vergessen läßt, wie wir am Bei¬ spiel Triests schon gesehen haben. Europa könnte mit einer gezielten Handelspolitik durch Nutzung seiner maritimen Stel¬ lung relativ billig in die verschiedensten Richtungen liefern. Heute gibt es keine Autarkie mehr. Zwar glauben schlichte Geister immer noch, man könne sich in dieser oder jener Re¬ gion von der übrigen Welt abkoppeln, wie sie von atomwaffen¬ freien Zonen als Zuflucht träumen. Doch Louis Armand hat schon seinerzeit mit Recht gesagt, in unserer Welt gäbe es nicht einmal mehr für Erdteile Autarkie. Die einzige Form, in der man sich wirtschaftliche Unabhängigkeit sichern könne, sei, für den Nächsten ebenso lebenswichtig zu sein, wie dieser für einen selbst. Dieses Gesetz hat die Schweiz beispielgebend verstanden, was sie auch in dieser Hinsicht zu einem Vorbild für Europa macht. Wenn man sich wundert, wieso die kleine Eidgenossenschaft heute noch gegenüber der Sogwirkung des Gemeinsamen Marktes relative Handlungsfreiheit bewahrt hat, so erklärt sich das in erster Linie daraus, daß ihr Handel und ihre Dienstleistungen nicht einseitig festgelegt sind. Den¬ noch wird sie langfristig wohl kaum darum herumkommen, enge Beziehungen zur EG einzugehen. In der Schweiz ist patriotischer Idealismus mit Nüchternheit gepaart. Die Treue zur Heimatgemeinde oder zum Kanton steht nicht im Widerspruch zur Bejahung des Bundes. So wie eidgenössische Vaterlandsliebe die zum Kanton nicht ersetzt, sondern harmonisch überwölbt, ist der europäische Patriotis¬ mus, den wir dringend brauchen, die logische Ergänzung des

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nationalen. Solche Werte sind unverzichtbar. Ein echter Staatsmann wie der Schweizer Heilige Nikolaus von der Flüe hat verstanden, daß der im öffentlichen Leben gebotene Prag¬ matismus ohne geistig-moralische Inhalte zum Scheitern ver¬ urteilt ist. So wurde die helvetische Konföderation davor be¬ wahrt, in einem allzu krassen Materialismus zu versinken, was Europa bevorstehen könnte, würde es sich lediglich auf die wirtschaftliche Einigung beschränken. Es gibt keine rein ökonomische Lösung, weil nichts riskanter ist, als gleichzeitig reich und schwach zu sein. Reichtum for¬ dert den Neid heraus und Schwäche den Aggressionstrieb. Die Tschechoslowakei mit ihren bedeutenden Bodenschätzen und ihrer in der Donaumonarchie entwickelten Industrie wurde zur Beute des Angriffes aus Ost und West, weil sie auf eine fal¬ sche Idee gegründet war und weder ihre Bürger noch das Aus¬ land sie ernstlich verteidigten. Anders die Schweizer mit ihrer wehrhaft patriotischen Friedenspolitik. Die Regierungen der Eidgenossenschaft wußten, daß ihr Land als kriegerischer Staat über kurz oder lang zugrunde gehen würde. Es war nicht leicht, das den Schweizern klar zu machen, denn sie blieben in der Seele Soldaten. Doch weil sie die blutigen Lehren der Ge¬ schichte verstanden, war ihre Friedenspolitik nicht Pazifismus, denn beide Begriffe schließen einander eigentlich aus. Pazifis¬ mus, wie er heute gepredigt wird, ist Realitätsverweigerung. Die Schweiz ist ein lebendiger Beweis für die Tatsache, daß man Frieden noch nie mit Manifesten, Erklärungen, Umzügen oder Schlagworten erreicht hat. Dieser ist nur dann gesichert, wenn der Friedfertige stark genug ist, daß der Kriegslüsterne es nicht wagt, ihn anzugreifen. Daher die Wehrhaftigkeit, die es den Eidgenossen erlaubte, in zwei Weltkriegen neutral zu bleiben. Ohne die Schweizer Landesverteidigung wäre das nicht gelungen. Das Schicksal Belgiens im Jahre 1914 unter¬ mauert diese Feststellung. Die patriotische Friedfertigkeit der multinationalen Schweiz nach außen geht Hand in Hand mit der Toleranz gegenüber

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den verschiedenen Sprachengruppen im Inneren. Es wurde schon im Zusammenhang mit dem »Reich im Donauraum« dargelegt, wie positiv es sich für die Schweiz auswirkte, daß in ihr die nächsten Verwandten der jeweiligen Nachbarvölker re¬ lativ einträchtig Zusammenleben. Jede Einseitigkeit in den Au¬ ßenbeziehungen wäre auch im Innern eine unerträgliche Bela¬ stung gewesen. Daher entstand ein erfreuliches Gleichgewicht im föderalistischen Sinne. Daran sollte sich auch die europäi¬ sche Einigung ausrichten. Die Schwäche der derzeitigen EG liegt darin, daß sie wohl Romanen und Germanen, aber keine Slawen beherbergt. Nachdem wir aber für einen dauerhaften Frieden auch mit der benachbarten Großmacht im slawischen Raum auskommen müssen, sobald diese ihre Vorherrschafts¬ gelüste aufgegeben hat, sind die slawischen Völker als Brücke zwischen Europa und dem Osten unverzichtbar. Von den kulturellen und politischen Rechten, die die einzel¬ nen Nationalitäten der Schweiz genießen, kann das östliche Mitteleuropa gegenwärtig nur träumen. Masaryk und Benes hatten bei den Pariser Verhandlungen nach dem Ersten Welt¬ krieg versprochen, aus der ÖSR eine zweite Eidgenossenschaft zu machen. Weil sie dieses Wort brachen und den Sudeten¬ deutschen, Slowaken und Magyaren ihre legitimen Rechte vorenthielten, scheiterten sie. Das Schweizer Modell hingegen hätte den Tschechen und ihren anderssprachigen Landsleuten die Freiheit bewahrt. Allerdings ist nicht alles einfach über¬ tragbar. Angesichts der Vermischung der Nationalitäten im Sudeten-Karpatenbecken hätte man abgeschlossene Kantone kaum schaffen können. Deshalb sind für ein künftiges Paneuropa neben dem Schweizer Beispiel vor allem die Erfahrun¬ gen des alten Österreich hilfreich, mit seinem Konzept des mährischen Ausgleiches. Zur territorialen Autonomie hat auch eine personale zu treten. Schließlich zeigt uns die Schweiz, wie früher das alte Öster¬ reich ein »Europäisches Vaterland« im kleinen, welche Vor¬ teile es bietet, eine Integration bescheiden anzufangen. Noch

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heute heißt sie Konföderation, obwohl sie längst zum Bundes¬ staat geworden ist. Für Europa dürfte das gleiche gelten. Eine Föderation ist nichts anderes als eine gelungene Konfödera¬ tion. Es war daher von Anfang an ein Fehler, sich in Diskus¬ sionen über eine perfektionistische, institutionelle »Theolo¬ gie« zu entzweien. Man muß das jeweils Mögliche tun und größte Toleranz üben in der Überzeugung, daß auch ein klei¬ ner Erfolg langfristig weitere Schritte nach sich zieht. Gemeinschaftsbewußtsein und innere Dezentralisation gehö¬ ren im Interesse der Freiheit zusammen. Zentralismus ist un¬ serem Erdteil wesensfremd. Seine Vielfalt verlangt eine föde¬ rative und regionalistische Ordnung ebenso wie den Respekt vor den Rechten aller Völker und Volksgruppen. Die über¬ nationale Organisationsform des Heiligen Römischen Reiches war nach damaligen Maßstäben diesen historischen Tatsachen angemessen. Der zentralistische, aus dem Jakobinertum kom¬ mende, aile Souveränitätsrechte verlangende Nationalstaat er¬ wies sich hingegen als uneuropäische Fehlentwicklung. Die Staaten müssen heute, wollen sie nicht in der babyloni¬ schen Gefangenschaft der Sowjetunion enden, wesentliche Zuständigkeiten nach oben - an die europäische Ebene - und nach unten - an die Länder und Regionen - abgeben. Europäi¬ scher Regionalismus ohne die Schaffung eines europäischen Volksgruppenrechtes wäre jedoch zu wenig. In der EG gehö¬ ren mehr als zwanzig Millionen Menschen sogenannten Min¬ derheiten, also nicht dem jeweiligen Staatsvolk an. In ganz Europa dürften es fünfzig bis sechzig Millionen sein. Wenn die europäische Einigungsbewegung diese Minderheiten, die bes¬ ser Volksgruppen genannt werden sollten, nicht einbezieht, besteht die Gefahr, daß sie zum Sprengsatz unserer politischen Welt werden. Ein Europa, das lediglich auf nationalen Gebil¬ den errichtet wird und die anderen natürlichen Gemeinschaf¬ ten vernachlässigt, ist nur ein Über-Nationalstaat und eben¬ falls zum Mißerfolg verurteilt. Südtiroler, Basken, Elsässer, Katalanen oder die in völliger Rechtlosigkeit heimatverbliebe-

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nen Deutschen im polnischen Machtbereich sind genauso Eu¬ ropäer wie die Repräsentanten der sogenannten Staatsvölker in Paris, Bonn oder Warschau. Deshalb hat sich das Europäische Parlament aufgrund einer gemeinsamen Initiative des Südtiroler Abgeordneten Joachim Dalsass und mir dazu entschlossen, an einer europäischen Volksgruppencharta zu arbeiten. In der ersten Legislatur¬ periode nach der Direktwahl verabschiedeten wir den Bericht des italienischen Sozialdemokraten Arfe zur Pflege der Regio¬ nalsprachen und Kulturen. Der ehemalige bayerische Mini¬ sterpräsident Alfons Goppel legte dann den ersten juristischen Entwurf vor, der zwar im politischen, leider aber nicht im federführenden Rechtsausschuß befürwortet wurde. Doch nach der zweiten Europawahl 1984 hat das Europa-Parlament Graf Stauffenberg aus Oberfranken mit den weiteren Tätigkei¬ ten beauftragt. Weder diese noch andere Aktivitäten zur Einigung Europas können erfolgreich sein, wenn sie Mitteleuropa ausklammem. Ein liberaler Europaabgeordneter aus Italien, Enzo Bettiza, hat einmal den klugen Satz geprägt, es sei die Tragödie Paneuropas, daß dieses zwar aus der Vielvölkertradition Zen¬ traleuropas geboren worden sei, jetzt aber auf den relativ monolithischen Nationalstaaten des Westens gebaut werden müsse. Doch auch das Westeuropa von heute lebt vielfach von mittel¬ europäischen Impulsen. Das gilt vor allem für das Europäische Parlament. Obwohl Österreich dort nicht vertreten ist, spielen Menschen, die sich seiner Tradition verbunden fühlen, eine wichtige Rolle. In der ersten Legislaturperiode entsandte die Bundesrepublik zwei, in der zweiten drei Sudetei\deutsche, allen voran Egon Klepsch, den langjährigen EP-Vizepräsiden¬ ten und Fraktionsvorsitzenden der Christdemokraten. Hin¬ zu traten verdiente Förderer dieser Volksgruppe wie Alfons Goppel oder Fritz Pirkl. Aus Italien kamen der sozialistische Tscheche Jiri Pelikan, der erwähnte Südtiroler Joachim Dal-

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sass, zahlreiche norditalienische »Austriacanti« sowie als wei¬ terer Mitteleuropäer der Pole Jas Gawronski. Auch Frank¬ reich und Großbritannien schickten Parlamentarier, deren ursprüngliche Wurzeln im Donauraum liegen. Dieser ist also trotz seines traurigen Schicksales nach wie vor fruchtbar. Es war daher verdienstvoll, daß Mitte der achtziger Jahre im Schloß Duino in der Nähe von Triest auf Anregung des Gene¬ ralsekretärs der Paneuropa-Union, Vittorio Pons, weithin be¬ achtete Gespräche über Mitteleuropa stattfanden. An diesen nahmen prominente Auswanderer und Flüchtlinge wie Sir Karl Popper und Eugene Ionesco, aber auch Wissenschaftler, die im kommunistischen Mitteleuropa wirken, teil. Wer mit offenen Augen umherreist, weiß, daß es heute noch viel Ge¬ meinsames zwischen Triest und Wien, Budapest und Prag, Preßburg und Agram, Laibach und Krakau gibt. Die Sprachen sind verschieden, aber der Geist hat die gleiche Wellenlänge. Ost und West stoßen nirgendwo aufeinander. Es muß eine Mitte geben, gerade auch für das neue Paneuropa. Dieses zu schaffen, bleibt uns vielleicht nicht mehr viel Zeit. Auch hier sollte uns die Geschichte zu denken geben. Nach¬ dem Coudenhove-Kalergi 1922 zum erstenmal von einem ge¬ einten Europa sprach und 1923 seine Bewegung gegründet hatte, waren Staatsmänner aus ganz Europa seinem Rufe ge¬ folgt, unter ihnen der Franzose Briand und der Deutsche Stresemann. Obwohl beide erheblichen Einfluß auf die öffentliche Meinung besaßen und ihre Stimme überall gehört wurde, ge¬ lang es den Bürokraten, alles zu verwässern und zu verschlep¬ pen. Dann kamen jene schwarzen Tage, in denen gleichzeitig das Unheil von allen Seiten hereinbrach. Stresemann starb un¬ erwartet in relativ jungen Jahren, Briand wurde gestürzt. Der New Yorker Börsenkrach leitete die Weltwirtschaftskrise ein, während zum ersten Mal eine bis dahin nur am Rande tätige Partei, die NSDAP, Wahlsiege errang. Der erste europäische Anlauf scheiterte. Man ist versucht, sich auszumalen, was geschehen wäre, wenn

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Briand und Stresemann ein Jahr früher gehandelt hätten. Man könnte durchaus annehmen, daß heute unser ganzer Erdteil noch frei wäre. Die weltweite Dekolonisierung hätte in ge¬ ordneten Bahnen erfolgen können, ohne jene Spannungen zu erzeugen, die uns noch in das nächste Jahrtausend be¬ gleiten. Natürlich ist es sinnlos, historische Vorgänge im Sandkasten zu wiederholen. Doch als europäische Patrioten haben wir nicht nur die Möglichkeit, sondern sind es künftigen Genera¬ tionen schuldig, aus dem Geschehenen schleunigst angemes¬ sene Schlußfolgerungen zu ziehen. Europa ist ein Wesen sui generis. Es hat eine ihm eigene Mission, die weder die USA noch die Sowjetunion übernehmen können oder dürfen. Sein Freiheitsbegriff ist den Einsatz wert, zu dem wir aufgerufen sind.

Innere Ordnung

Verfall des Rechtes

Wer unsere Freiheit weder im schwammigen Begriff der »Menschheit« begraben will, noch an einer europäischen Technokratie ohne christliche Grundwerte interessiert ist, ge¬ langt automatisch zum Begriff des Rechtes. Dieser hängt eng mit der römischen und der christlich-abendländischen Reichs¬ idee zusammen. In der Politik, der Lehre vom Leben und Handeln der Gemeinschaft also, stellt sich nämlich zuerst die Frage nach der Quelle des Rechtes. Gibt es eine solche über¬ haupt oder ist es nur Ausfluß der Macht? Versteht man den Menschen lediglich als sinnloses Wesen, als eine Anhäufung von Zellen wie die Materialisten, kann ihm gegenüber kein Unrecht begangen werden. Er ist dann wie ein Gegenstand, mit dem dessen Eigentümer mehr oder weniger nach eigenem Gutdünken umgehen darf. Hier liegt die Trenn¬ linie zwischen den Anhängern des Totalitarismus und jenen der Freiheit. Erstere haben ein Menschenbild, demzufolge es keine mit Würde ausgestattete Person, also keinen eigenen Rechtsträger gibt. Letztere betrachten den Einzelnen nicht als Objekt, sondern als Subjekt. W'enn jemand zu oft vom Individuum spricht, wird vielfach versucht, ihn zu diskreditieren, indem man behauptet, dies sei der Liberalismus des neunzehnten Jahrhunderts. Das ist schon deshalb keine so schwere Beleidigung, weil dieser für unsere Entwicklung viel bedeutet hat und wir seinem Erbe manches schulden. Auf der anderen Seite war er natürlich bloß das Phä¬ nomen einer ganz bestimmten Zeit, in der er seine Berechti¬ gung hatte, während heute, in der Ära der Sozialen Marktwirt¬ schaft, Werte des Liberalismus mit denen der gemeinschaftli-

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chen Solidarität verbunden werden müssen. Es war die Schwä¬ che von vielen, aber keineswegs allen Liberalen, daß sie sich zwar um die persönliche Freiheit im bürgerlichen Leben ver¬ dient machten, deren jenseitige Begründung aber ablehnten. Doch die Menschen suchen nun einmal nach einer letzten Erklärung unserer Existenz, weshalb sie, wenn der Glaube schwindet, zwangsläufig im diesseitigen Totalitarismus landen. Echter Liberalismus kann nicht materialistisch sein, da er sol¬ che Gefahren vermeiden will. Er lehnt im Sinne unseres christ¬ lichen Erbes jeden Kollektivismus ab. Dieser ist nämlich nichts anderes als die Übertragung einer pervertierten Idee vom buddhistischen Nirwana auf die Politik. Das Ich soll im Allgemeinen aufgehen, also verschwinden. Doch der Europä¬ er muß ein Ich bleiben, will er nicht seine Identität verlieren. Hält er sich nur mehr für den Bestandteil eines Kollektivs, hört er auf, Europäer zu sein. Für jeden gläubigen Christen gibt es einen höheren Gesetz¬ geber, der über der Autorität des Staates steht und der Welt gewisse Grundsätze vorgeschrieben hat, die niemand mißach¬ ten darf: das Naturrecht. Anders sieht das der Rechtspositivis¬ mus, der bei uns oft vorherrscht. Er bedeutet die Ausschaltung der Moral aus der Rechtsordnung. Es wird zwar die Notwen¬ digkeit von Gesetzen anerkannt, diesen aber keine höhere Rechtfertigung als der politische Wille einer menschlichen In¬ stitution zuerkannt. Daher birgt diese Auffassung die Möglich¬ keit in sich, juristische Regeln nach dem sich wandelnden Wil¬ len der Mehrheit oder eines Diktators beliebig zu ändern - und das sogar rückwirkend. Dieser Rechtspositivismus hat leider auch in den Demokratien immer mehr um sich gegriffen. Er ist kein Monopol c^r totali¬ tären Diktatur, wohl aber eines ihrer wesentlichsten Elemen¬ te. Das wußte schon das antike Griechenland. Aristoteles warnte davor, daß schrankenlose Mehrheitsherrschaft zwangs¬ läufig in der Tyrannis münden werde. Es kommt also nicht nur darauf an, daß man die Legislative so oder so gestaltet, son-

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dem daß das Recht gewissen Normen entspricht, die jenseits der Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers stehen und an de¬ nen er nicht rühren darf. Um einen Vergleich aus der Wirtschaft heranzuziehen: Der große Vorteil des Goldstandards war es, daß die jeweiligen staatlichen Autoritäten den Wert des Edelmetalls nicht festset¬ zen konnten und daher in Währungsfragen an gesunde Grund¬ sätze gebunden waren. In dem Augenblick, als man den Gold¬ standard abschaffte und einen Papierstandard an seine Stelle setzte, den Parlament oder Regierung je nach Wunsch mani¬ pulieren konnten, zogen Unrecht und Unsicherheit in die Wirtschaft ein. Die weltweite Inflation ruinierte vor allem die kleinen Existenzen. Die Leugnung dauerhafter Grundsätze, Rechtsunsicherheit und staatliche Willkür treffen also in erster Linie die Schwa¬ chen. Das ist der schlimmste Aspekt der - ohnehin furchtba¬ ren - weitgehenden Freigabe der Abtreibung. Die sogenannte Liberalisierung der entsprechenden Paragraphen unterhöhltb die Fundamente des Rechtsstaates, indem sie zunächst einmal diejenigen, die sich am wenigsten wehren können, des staatli¬ chen Schutzes beraubte. Die Bevölkerungsgruppe der Unge¬ borenen war für einen Gesetzgeber, der sich nicht mehr an Gott als Quelle des Rechtes orientierte, uninteressant, weil sie nicht über Wählerstimmen verfügt, ganz im Gegensatz zu den abtreibungswilligen Müttern. Logisch ist daher, daß Materiali¬ sten, deren Rechtsverständnis nicht jenseitig verankert ist, den Abtreiberinnen gegenüber dem stummen Kleinkind den Vor¬ zug geben. Die Größe des Verbrechens ist ihnen dabei nicht klar, weil sie die Gottesebenbildlichkeit des Menschen nicht anerkennen. Damit gefährden sie aber die freiheitliche Demo¬ kratie. Diese ist nur in Verbindung mit einem echten Rechts¬ staat denkbar. Eine Demokratie, die von Zufallsmehrheiten abhängt, ist nicht besser als die Willkürherrschaft von Diktato¬ ren oder sogenannten Sachverständigen. Die christlichen Kräfte haben die Schlacht um die Abtrei-

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bungsgesetzgebung in den siebziger Jahren größtenteils ver¬ loren, wenn man von rühmlichen Ausnahmen wie Irland ab¬ sieht. Das hat in den achtziger Jahren zu erheblichen Weite¬ rungen geführt. Alarmiert durch Berichte des Weltbundes der Kinderfreunde »AMADE« und anderer Organisationen habe ich 1983 einen Entschließungsantrag im Europaparlament ein¬ gebracht, der sich mit Experimenten an ungeborenen Kindern und dem Handel mit Embryonen beschäftigte. Anlaß war die Entdeckung eines Lastwagens mit gekühlten menschlichen Embryonen aus dem Ostblock, die für die kosmetische Indu¬ strie in Frankreich bestimmt waren. Während eine unheilige Allianz von Kommunisten, Soziali¬ sten und Linksliberalen meine Initiative im federführenden Rechtsausschuß erstickte, gab der Ausschuß für Energie, For¬ schung und Technologie eine hervorragende Stellungnahme ab, die der italienische Christdemokrat Alberto Ghergo ver¬ faßte. Dieses Dokument bestätigt, daß »die Nutzung der Fö¬ ten ein dichtes Netz wirtschaftlicher Interessen hat entstehen lassen, die vom Handel unter Verwendung finanzieller Anrei¬ ze, um die Bereitschaft der Spendermutter zu fördern, bis zur Manipulation im Laboratorium gehen ... Es existieren offen¬ sichtlich Banken für fötales Gewebe, die zahlreiche Laborato¬ rien beliefern. Hierbei handelt es sich um Laboratorien für Embryologie, Zulieferer der kosmetischen Industrie für die Zubereitung von Schönheitspräparaten (Puder, Cremes und so weiter), Laboratorien, in denen sogenannte therapeutische Produkte (Verjüngungsmittel, Präparate zur Bekämpfung der Zuckerkrankheit, des Zwergwuchses und so weiter) hergestellt werden, und schließlich Laboratorien, in denen, wie es heißt, reine Forschung betrieben wird. In den EmbryologieLaboratorien werden Versuche mit zwölf bis einundzwanzig Wochen alten Föten unternommen, die durch eine Hysteroto¬ mie (Kaiserschnitt) dem Mutterleib unversehrt und lebend entnommen werden.« Als ich um die Jahreswende 1983/84 durch Presseerklärungen

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und -konferenzen auf diese empörenden Tatsachen hinwies, erntete ich von höchsten Regierungsstellen bis hin zu vielen Journalisten Unglauben und Unverständnis. Doch ein einzel¬ ner hessischer Landtagsabgeordneter, Roland Rösler, schloß sich meiner Aktion an und wurde in der Folge zu ihrer treiben¬ den Kraft. Kaum hatten wir das Tabu, zu dem man dieses The¬ ma gemacht hatte, gebrochen, häuften sich die Berichte über Nebengeschäfte von Ärzten und Krankenschwestern mit abge¬ triebenen Kindern. Auch großangelegte Versuche, mensch¬ liche Embryonen in Entwicklungsländern industriell auszu¬ beuten, wurden bekannt. Langsam, nach einem hinhaltenden Abwehrkampf, begannen sich die staatlichen Stellen mit die¬ sen Mißständen zu befassen. Gipfel des Zynismus war dabei eine Stellungnahme der hessischen Landesregierung, die das Problem nur als einen Aspekt des »Abfallbeseitigungsgeset¬ zes« sah. Doch inzwischen sind die Verantwortlichen aufge¬ rüttelt. Es hat also einen Sinn, sich einzusetzen. Schon die Römer sag¬ ten: Qui tacet consentire videtur!

Wer - zur Untergrabung

des Rechts auf Leben - schweigt, macht sich mitschuldig! Gewiß, es wird einem entgegengehalten, die Vertreter des Le¬ bens stünden heute auf verlorenem Posten, da sie nur eine Minderheit angesichts der abtreibungsfreundlichen Mehrheit bildeten. Ganz abgesehen davon, daß dies keineswegs sicher ist, würde es an den Grundsätzen überhaupt nichts ändern. Gerade ein Demokrat weiß, daß die Minderheit von heute die potentielle Mehrheit von morgen ist. Hätten die Sozialisten im neunzehnten Jahrhundert genauso gedacht wie gegenwärtig so manche Christen, sie hätten niemals ihre große Chance im zwanzigsten Jahrhundert gehabt, sondern resigniert. Eine Minderheit ist berufen, alles zu tun, um die Mehrheit mit sich zu reißen. Minderheit zu sein, ist eine Herausforderung und kein Vorwand zur Kapitulation. Viele verweisen entschuldigend auf die Kirche und werfen die¬ ser vor, sie tue nicht genug. Das ist leider teilweise richtig.

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Doch wir dürfen nicht vergessen, daß die Kirche nicht nur aus ihren Amtsträgern besteht, sondern aus allen Gläubigen. Je¬ der christliche Europäer ist mitverantwortlich, wenn Grund¬ prinzipien der Ethik verletzt werden.

Bedrohter Rechtsstaat

Als die sogenannte »Studentenrevolte« in Frankreich unter dem Gewicht der persönlichen Autorität General de Gaulles zusammenbrach, ohne daß ein Tropfen Blut geflossen war, und die »68er-Revolution« auch in den anderen Staaten all¬ mählich im selbstgemachten Sumpf versank, prägte Rudi Dutschke das Wort vom »langen Marsch durch die Institutio¬ nen«. Er spielte dabei auf den »langen Marsch« des Mao Zedong an, der schließlich zu dessen Erfolg führte. Die Drohung wurde damals auf die leichte Schulter genommen. Niemand fragte sich ernstlich, ob nicht das, was der talentierte Studen¬ tenführer verkündete, eine echte Bedeutung habe. An den Universitäten und in der staatlichen Verwaltung lebte man ge¬ nauso weiter wie vorher. So konnten die Extremisten in politi¬ schen Parteien, in der Beamtenschaft, der Wirtschaft und auf den Universitäten untertauchen und ihre Wühlarbeit fortset¬ zen. 1978 war ich in China. Dort sagte mir ein Vertrauter Tschu En Lais: »Die Kulturrevolution bei uns hat unter denen, die sie trugen, unheilbare geistige und moralische Schäden hinterlas¬ sen. Es muß unser wichtigstes Bestreben sein, alles zu tun, um zu verhindern, daß diese Menschen jemals einen Einfluß auf das Schicksal unserer Nation erhalten.« Daran mußte ich Jahre später bei einer Diskussion mit einem prominenten deutschen Rechtsanwalt denken. Er bemerkte, daß sich in seinem Beruf etwas Grundlegendes geändert habe. Noch vor fünfzehn Jahren sei es möglich gewesen, einem Klienten, bevor dieser vor Gericht ging, eine ehrliche Antwort über seine Prozeßchancen zu geben, indem man dafür frühere Urteile und die Rechtslage zu Rate zog. Heute sei ihm dies versagt. Man könne die Aussichten nicht mehr nach juristi¬ schen Kriterien, sondern häufig nur mehr nach der Persönlich¬ keit und der politischen Einstellung des Richters werten. Es

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gäbe zwar noch einige Gebiete, wo dies nicht der Fall sei, aber auch diese würden relativ bald verschwinden. Das ist erschreckend. Rechtssicherheit in unserer Gemein¬ schaft war eine der großen Errungenschaften der Zivilisation. Der Richterstand bot dem Menschen und seiner Freiheit den wesentlichsten Schutz. So ist es heute in manchen Ländern im¬ mer noch, insbesondere in Großbritannien und der Schweiz. Anderswo hat aber eine Veränderung des Rechtsbewußt¬ seins eingesetzt, die das Wohlergehen der Bürger ernstlich bedroht. Angefangen hat diese Entwicklung in Frankreich. Folgen¬ der Vorgang war dort das erste Alarmzeichen: Ein kleiner, frustrierter, äußerst links eingestellter und schlagzeilensüch¬ tiger Richter hielt einen angesehenen Notar wegen eines Mordfalles lange in Untersuchungshaft, obwohl objektive Be¬ obachter einschließlich der Berufskollegen sagten, es gäbe kei¬ ne emstzunehmenden Indizien gegen ihn. Mehrfach wurde der Notar durch Beschwerde freigesetzt, doch jedesmal erreichten seine Gegner wieder eine Verlängerung der Haft. Schließlich blieb dem mit der Frage befaßten Staatsrat, dem höchsten Ap¬ pellationsorgan in Frankreich, nichts anderes übrig, als den Richter zu versetzen. Gefährlich war, daß sich dieser auf die Massenmedien stützen konnte und anstatt eines juristisch ein¬ wandfreien, diskreten Vorgehens bei jedem Schritt eine Pres¬ sekonferenz einberief, bei der er alles tat, um den von ihm Verfolgten in einem schlechten Licht erscheinen zu lassen. Da¬ bei fanden seine oftmals aus der Luft gegriffenen Anklagen weit mehr Beachtung, als die Richtigstellung der Anwälte. Jenseits der Schuldfrage im Einzelfall geht es hier also um die unfaire Methode, die mit Rechtsstaatlichkeit nichts piehr zu tun hat. Noch ärger ist die Situation in Italien. Dort kann man Men¬ schen praktisch unbeschränkt in Untersuchungshaft halten. Man erinnere sich nur an den Fall eines der höchsten Militärs des Landes, den ein marxistischer Untersuchungsrichter fast

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zwei Jahre lang ins Gefängnis steckte, obwohl seine Schuld nicht nachzuweisen war. 1984 erregte in Italien ein Beschluß der Radikalen Partei einiges Aufsehen. Diese ließ einen der Zusammenarbeit mit Gangstern verdächtigen Fernsehkom¬ mentator für das Europaparlament kandidieren, um ihn mit¬ tels dei Immunität des Abgeordneten aus einer langen Unter¬ suchungshaft zu befreien. Natürlich lagen gegen den Mann gewisse Indizien vor, und er stellte sich später freiwillig der Justiz, weil er selbst eine Klärung der Sache wollte. Es bleibt aber dabei, daß es ungeheuerlich ist, jemanden ohne Urteil durch zwei Jahre einzusperren, um so mehr, als er nach den italienischen Gesetzen sogar bei erwiesener Unschuld kein Recht auf Entschädigung für die Zeit hinter Gittern besitzt. In Deutschland geben die Praktiken gewisser jüngerer Staats¬ anwälte Anlaß zur Sorge. Es war schockierend, wie diese bei Ermittlungen - etwa gegen den ehemaligen Bundeswirt¬ schaftsminister Graf Lambsdorff - vorgegangen sind. Doku¬ mente wurden der Presse zugespielt, während, ja manchmal bevor sie dem Angeklagten selbst zu Kenntnis gebracht wur¬ den. Der Sensationalismus dieser Staatsanwälte, zumindest teilweise Revoluzzer des Jahres 1968, hat bestimmt nicht zur Würde und zum Ansehen der Justiz beigetragen, die diese Leute mit aller Macht poütisieren wollen. Ähnliches geschah bei manchen Prozessen gegen Beschuldigte aus der Hitlerzeit. Hier wurden neben wirklichen Verbrechern Männer vor Gericht gezerrt, von denen die deutsche Justiz frü¬ her eindeutig befunden hatte, daß ihnen keine strafwürdige Tat nachzuweisen sei. Seit dem Ende des Nationalsozialismus waren mehr als vier Jahrzehnte vergangen, so daß die Mög¬ lichkeit einer objektiven Prozeßführung kaum noch bestand. Viele Zeugen konnten sich nicht mehr wirklich zuverlässig daran erinnern, was vorgefallen war. Wieder andere, die Ent¬ scheidendes hätten zur Wahrheitsfindung beitragen können, sind längst verstorben. Auch in diesem Zusammenhang konn¬ te man sich des Eindruckes nicht erwehren, daß die Verfah-

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rensweise der Staatsanwaltschaft nicht durch juristische Über¬ legungen, sondern vor allem durch politische Motive im Sin¬ ne einer ewigen Vergangenheitsbewältigung bestimmt wurde. Daß dies der Rechtssicherheit in Deutschland nicht dient, ist klar. Früher war es selbstverständlich, daß man sich einem Urteil beugte. Urteilsschelte gab es verhältnismäßig selten. Das hat sich gewandelt. Darüber wird in gewissen Kreisen bewegte Klage geführt, besonders bei Richterorganisationen. In Wahr¬ heit aber wären es die Juristen, die Richter und die Staatsan¬ wälte, die ernstlich prüfen sollten, warum ihre Beschlüsse zu¬ nehmend in Frage gestellt werden. Sie würden dann vielleicht erkennen, daß manche ihrer Berufskollegen selbst den Anlaß zu diesen Zweifeln an ihrer Unabhängigkeit gegeben haben. Vielleicht würden sie sich dann auch entschließen, einen kla¬ ren Trennungsstrich gegenüber jenen zu ziehen, die nur Rich¬ ter oder Staatsanwälte geworden sind, um auf diese Weise den »langen Marsch durch die Institutionen« erfolgreich fortzuset-

Krise der Demokratie

Die Welt wird heute weitgehend durch eine Tatsache be¬ stimmt, die der deutsche Schriftsteller Winfried Martini schon vor Jahrzehnten als das »Ende aller Sicherheit« bezeichnet hat. Wir befinden uns in einer Zeit der Wende, des Umden¬ kens, der Suche nach neuen Bindungen. Zu den merkwürdi¬ gen Begleiterscheinungen solcher Epochen gehört das Auftre¬ ten extremer Bewegungen, wie das bei uns die kompromißlo¬ sen Pazifisten und radikalen Ökologen sind. Sie suchen weit über die Grenzen legitimer politischer Forderungen - wie Schutz der Umwelt oder Aufrechterhaltung des Friedens hinaus ein irdisches Paradies, in dem sie ohne Arbeit und Fortschritt trotzdem die Vorteile des industriellen Zeitalters in vollen Zügen genießen wollen. All dies zeugt von Des¬ orientierung, vom Abschied von der Sachbezogenheit und vom logischen Denken. Hinzu kommt die Unkenntnis der Geschichte, die hinsichtlich der Zukunftsprognosen ein eigenartiges Nebeneinander von himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt mit sich brachte. Ende der sechziger Jahre glaubten viele Zukunftsforscher, sie hätten den Stein der Weisen gefunden. Ein Buch wie die »Amerikanische Herausforderung« von Jean Jacques ServanSchreiber versprach uns damals den Himmel auf Erden. Weni¬ ge Jahre später erschien der Club von Rom, in dessen Namen Professor Meadows mit seinen Datenverarbeitungsmaschinen das Weitende vorhersagte. Keines von beidem stimmte. Es wird weder eine vollkommene Ordnung auf Erden noch in ab¬ sehbarer Zeit die Apokalypse geben. Der Glaube an die Ex¬ treme hatte aber traumatische Folgen für jene, denen ohne ausreichende Geschichtskenntnis der sachliche Maßstab zur Beurteilung der Gegenwart fehlte. Gerade in der derzeitigen Krise der Demokratie ist es not¬ wendig, sich an die Jahre der Machtergreifung Hitlers zu erin-

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nern. Dabei drängen sich förmlich einige Worte von damals auf. An erster Stelle eine Bemerkung von Hermann Rauschning, dem hochintelligenten, allerdings auch schillernden frü¬ heren nationalsozialistischen Senatspräsidenten von Danzig, der die Bewegung Adolf Hitlers als die »Revolution des Nihi¬ lismus« bezeichnete. Ein anderer ehemaliger Weggenosse des »Führers«, der noch rechtzeitig erkannte, wohin die Reise ging, Otto Strasser, hatte in Hitler den »Kork der deutschen Revolution« gesehen. Am Ende des »Tausendjährigen Rei¬ ches« im Sommer 1945 wiederum erklärte der weise Felix Somary: »Hitler ist nicht gestorben. Er wird auferstehen, sobald die Menschen ihn vergessen haben. Nur diesmal wird er sich als Überdemokrat bezeichnen und von der äußersten Linken kommen.« Diese drei Aussprüche sind hilfreich, wenn man versucht, die Fehler zu analysieren, die uns den Sieg des Nationalsozialis¬ mus beschert haben. Wie konnte ein kluges, ruhiges und ar¬ beitsames Volk, wie es nun einmal die Deutschen sind, auf einen derartigen Irrweg gelangen? Bestimmt nicht durch eine Verschwörung von Kapitalisten und Junkern, wie die linke Mythologie nach dem Krieg behauptete. Hitler hat es einfach verstanden, bedeutende Teile der Bevölkerung, die über die innere und äußere Lage des bestehenden Staates und über ihre persönliche Situation verzweifelt waren, für sich zu gewinnen, indem er ihnen Mut machte und eine Aufgabe zuwies. Das hat seiner Bewegung ihren unwiderstehlichen Schwung ver¬ liehen. Hier zeigen sich gefährliche Parallelen zur Gegenwart. Auch im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert gibt es wieder Schichten, die sehr unzufrieden sind. An erster Stelle steht das intellektuelle Proletariat - Ergebnis einer verfehlt&i Schulund Universitätsplanung. Hinzu kommen viele Mittelständler, die ihre Existenzgrundlage schwinden sehen und nicht zuletzt jene Bauern, die infolge einer falschen Agrarpolitik vor dem Ruin stehen. Selbst die Heimatvertriebenen tragen trotz ihrer

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erheblichen Friedensleistungen und der erfolgreichen Integra¬ tion tiefe Wunden und fühlen sich von den Regierenden in der Bundesrepublik Deutschland oft nicht ausreichend verstan¬ den. Ihre Anfälligkeit für radikale Strömungen ist allerdings aufgrund ihrer historischen Erfahrungen bewundernswert ge¬ ring. Zu diesen soziologischen Erscheinungen tritt ein tiefer, wenn auch stiller Zorn vieler Europäer über die Tatsache, daß ihr Erdteil in weniger als einem Jahrhundert vom ersten Platz zum Balkan der Politik herabgesunken ist. Die kriecherische Hal¬ tung europäischer Regierungen gegenüber der sogenannten Dritten Welt, die Art, wie sich Europa ständig in der UNO mißhandeln läßt und dafür noch zahlt, oder der allzu häufige Servilismus gegenüber den östlichen Diktaturen tun weh. Das könnte einmal zu einer übertriebenen Reaktion im Sinne ex¬ tremer Alternativen führen. Schließlich spielt die Unfähigkeit unserer Regierungen, mit den wirklichen Problemen der Gegenwart fertig zu werden, eine Rolle. Sie begnügen sich oft nur mehr damit, das Be¬ stehende schlecht und recht zu verwalten. Zukunftsperspek¬ tiven bieten sie so gut wie keine mehr. Gleichzeitig mit diesen dauernden Belastungen unserer derzeit bestehenden Strukturen wächst die Distanz zwischen dem Bürger und dem Staat. Er ist tatsächlich jenes eiskalte Unge¬ heuer geworden, dem sich der einzelne ausgeliefert fühlt. Be¬ zeichnend dafür ist ein Verwaltungssilo in Kopenhagen, bei dem es keine einzige Türe für den Parteiverkehr gab. Das er¬ zeugt die berechtigte Sehnsucht nach einem Staat mit mensch¬ lichem Gesicht, die allerdings leicht in einen Führerkult

Um¬

schlagen kann. Dieser tritt natürlich nicht in den alten Formen an. Gemäß der Einsicht des Felix Somary bezeichnen sich die Herausforderer unserer Ordnung mittlerweile als Demokraten, wenn sie auch ausgesprochen

arrogant-antidemokratisch

denken.

Etliche

Grüne in Deutschland entsprachen mit ihrer totalen Vernei-

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nung unserer Ordnung und ihrem irrationalen Haß auf alles Bestehende der Mentalität des »Herrenmenschen«, ohne die¬ sen Begriff aus dem Nationalsozialismus erneut zu gebrau¬ chen. Man tröstet sich angesichts solcher Phänomene meist da¬ mit, daß es keine Persönlichkeit gäbe, die dieses Potential zu einer echten politischen Gefahr machen könnte. Das ist leicht¬ sinnig. Es hat immer eher die Situation den Führer geschaffen als umgekehrt. Daher das Strassersche Bild vom »Kork der deutschen Revolution«. Gewisse Kreise beruhigen sich damit, daß die Revolution sei¬ nerzeit im Zeichen des Militarismus angetreten sei, heute da¬ gegen unter der Fahne des Pazifismus agiere. Der Unterschied ist nur rein äußerlich. Der Pazifismus ist in seiner Einäugigkeit nichts anderes als die Vorhut des sowjetischen Militarismus. Wird das Programm unserer extrem Friedensbewegten durch¬ geführt, steht die Rote Armee am Atlantischen Ozean. Wir müßten dann das erleiden, was Winston Churchill seinerzeit Neville Chamberlain voraussagte: »Sie glaubten die Wahl zwi¬ schen Ehrlosigkeit und Krieg zu haben. Sie wählten die Ehr¬ losigkeit und Sie werden den Krieg erhalten.« Nach Jahren der Stabilität scheint in den westeuropäischen Demokratien vieles in Fluß zu geraten. Zweifel an den beste¬ henden Institutionen und ihren Repräsentanten greifen um sich. Wer in einer solchen Stunde die Probleme unter den Tep¬ pich kehrt, leichtfertig behauptet, dies sei nur eine augenblick¬ liche Verirrung und nicht bereit ist, sich den Tatsachen zu stel¬ len, handelt töricht. Es wäre ein tödlicher Fehler, die Kritiker unseres politischen Systems zu verteufeln, ohne sich selbst zu fragen, was in den vergangenen Jahren falsch gemacht wurde. Nur auf diese Weise kann man eine Wiederholung dessen ver¬ hindern, was wir Älteren schon einmal erlebt haben' Am schlimmsten ist die Unklarheit der Sprache. In der Politik gibt es nichts wichtigeres als die Übereinstimmung von Worten und Gedanken. Leider ist das kaum noch der Fall, was nicht zuletzt für den tragenden Begriff unserer Tage, nämlich De196

mokratie, gilt. Dieser wurde zu einer Ideologie verfälscht. Dabei kommt es auf seine praktische Bedeutung an: Die erste Aufgabe der Gemeinschaft ist, die Freiheit und Sicherheit des Bürgers zu gewährleisten. Politische Organe sind dazu da, die¬ sem Ziel zu dienen. Jede Institution des Staates ist Menschen¬ werk, daher auf keinen Fall vollkommen. Wenn wir die rechts¬ staatliche Demokratie bejahen, so geschieht das nicht um der reinen Lehre willen, sondern nur, weil sie bei richtigem Ein¬ satz Freiheit und Sicherheit bewahrt. In der Politik gilt es näm¬ lich, Maß zu halten. Alles Maßlose wird zwangsläufig schäd¬ lich. Also muß es Grenzen geben. Es ist einer der wesentlichen Gründe für das Unbehagen an der Demokratie, daß der an sich verständliche Begriff zu wuchern begonnen hat. Er wurde auf Bereiche wie Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft erwei¬ tert, in denen er nichts verloren hat. Im staatlichen Leben ist das Gefährlichste die Gefälligkeits¬ demokratie. Ein Staat, der nicht mehr die Fähigkeit besitzt, klar und eindeutig nein zu sagen, hört auf, legitim zu sein. Vie¬ le glauben, der Staat könne alles, die Regierung sei demnach dazu da, sämtliche Wünsche zu erfüllen. Damit weist man den politischen Machthabern Aufgaben zu, denen sie nicht ent¬ sprechen können, ohne totalitär zu werden. Gott ist allmächtig, der Staat nicht. Wird von den Regierungen zu viel gefordert, versuchen sie zwar aus Schwäche und Angst vor dem Wähler auch die unbilligen Wünsche zu erfüllen, sind dabei aber gezwungen, Mittel zu gebrauchen, die sich langfri¬ stig katastrophal auswirken. Die Politiker verlieren so die Möglichkeit, über den Tag hinaus zu planen und reißen ein Loch auf, um ein anderes zu stopfen, was uns schließlich in ei¬ ne ausweglose Lage führt. In einer solchen befinden wir uns heute, wenn wir die innere und äußere Verschuldung unserer Staaten betrachten. Diesen droht der finanzielle Zusammen¬ bruch. 1985 zum Beispiel betrug die Neuverschuldung der Menschheit täglich über zwanzig Milliarden Schilling oder fast drei Milliarden Mark. Bei dieser rasenden Fahrt in den Ab-

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grund belügen wir uns selbst, indem wir uns vormachen, daß die Schuldverschreibungen zahlreicher Regierungen und pri¬ vater Einrichtungen noch irgend etwas wert sind. Würde man nämlich die Dinge beim Namen nennen, müßten viele Gro߬ banken morgen ihren Bankrott erklären. Um diese Stunde der Wahrheit hinauszuschieben, werden ständig alle möglichen ge¬ danklichen Kunststücke vollbracht. Natürlich ist die Gefahr nicht unabwendbar. Doch in der Dritten Welt und im Ost¬ block türmen sich bereits die Probleme. Wir würden gut daran tun, uns auf künftige Erschütterungen vorzubereiten. Wenn die freiheitlichen Kräfte von der Krise überrascht werden, könnten wieder alle Arten von ideologischen Quacksalbern auftreten und aus dem Elend politisches Kapital schlagen, wie das in der Zeit nach 1929 der Fall war. Eine bedrohliche Begriffsverwirrung ist auch die Vermischung von Demokratie mit Gleichheit. Letztere ist auf unserer Erde undenkbar. Es wird immer Unterschiede geben. Weist man der Gemeinschaft die Aufgabe zu, die Gleichheit aller Men¬ schen durchzusetzen und gibt dieser einen ethischen Inhalt im Sinne der Französischen Revolution, zwingt man die Regie¬ rungen zu größter Ungerechtigkeit und zu dauernden Ein¬ schränkungen gegenüber jenen, die über das Mindestmaß hinausragen. So bestrafen viele Staaten, auch Demokratien, systematisch den Tüchtigen und verwandeln das Leben in eine Art Konvoi, in dem der Langsamste und Unfähigste die allge¬ meine Geschwindigkeit bestimmt. Die gegenwärtige wirt¬ schaftlich-technologische Krise der Sowjetunion ist ein schla¬ gender Beweis für die Schädlichkeit dieses Vorganges. Zur Krise der Demokratie gehört noch ein weiteres: das Aus¬ einanderklaffen von Verfassungsauftrag und Verfassungswirk¬ lichkeit. Ersterer ist eindeutig, letztere längst nicht mehr. Der Staat nimmt seine Aufgaben in der gegenwärtigen Form im¬ mer schlechter wahr. Wir gehen zwar in großen Schritten auf das einundzwanzigste Jahrhundert zu, in der Politik ist aber seit dem neunzehnten kaum eine neue Idee aufgetreten. Ein

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führender Schweizer hat mit Recht gesagt, es sei ein wahnwit¬ ziges Beginnen zu versuchen, die Probleme unserer Tage mit dem Instrumentarium unserer Großeltern zu lösen. Die Im¬ potenz der Regierungen führt nicht nur zum Wuchern der Bürokratie, sondern auch zum Schwinden der öffentlichen Verantwortung. Skandale in den meisten Staaten zeigen dies. Die Ministerverantwortlichkeit ist vielfach zu einem schlech¬ ten Witz geworden. Der Minister kann kaum noch wissen, was sich in seinem Ressort abspielt. Regieren bedeutet vor allem Information. Deren Fluß ist aber zu einem gewaltigen Strom angeschwollen, den der angeblich oder wirklich Verantwortliche nicht mehr meistern kann. In Schlüsselstellungen sitzen Bürokraten, die immer mehr über immer weniger wissen. Der von seiner Umwelt isolierte Spe¬ zialist ist der vorherrschende Typus in der Verwaltung, wäh¬ rend universelle Menschen praktisch nicht mehr existieren. Aus meiner eigenen parlamentarischen Erfahrung kann ich sa¬ gen, daß auch die Mandatare längst heillos überfordert sind. Es ist physisch unmöglich, die endlosen Texte zu lesen, ganz abgesehen von deren unverständlicher Sprache. Wer die letzte Entscheidung fällt, ist meist beim besten Willen nicht mehr auszumachen. Daher erleben wir in vielen demokratischen Staaten den Ver¬ fall der echten Volksvertretung und deren Ersatz durch die Herrschaft des anonymen Begriffes Partei. In Italien wird das mit gutem Grund Partitokratie genannt, was die Bürokratisie¬ rung der Politik meint. Vor allem dort, wo das Listenwahl¬ recht und die Verstaatlichung eines großen Teiles der Wirt¬ schaft das öffentliche Leben bestimmen, wird der Bürger von der Teilnahme an der Politik immer mehr ausgeschlossen und das Individuum durch den Funktionär ersetzt. Man braucht sich nur die berufsmäßige Aufgliederung unserer Parlamente herzunehmen, um zu wissen, was sich abspielt. Die breiten Schichten der Bevölkerung sind kaum noch vertre¬ ten, was vor allem auf die Arbeiter in den sogenannten Arbei-

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terparteien zutrifft. Das verändert in gefährlicher Weise die Mentalität. Selbst bei persönlich integeren Funktionären läßt sich feststellen, daß unter ihnen die Achtung vor dem Steuer¬ zahler verschwunden ist. Man betrachtet das Geld der Allge¬ meinheit als das Eigentum der Politbürokraten, die dieses nach Ermessen verschleudern dürfen. Wer sich heute erlaubt, an den Steuerzahler zu denken und auszusprechen, daß öffent¬ liche Mittel schließlich die Frucht der Arbeit der kleinen Leute sind, für welche diejenigen, die das Geld verwalten, nur Treu¬ händer zu sein haben, gilt als lebendiger Anachronismus. Eine solche Einstellung ist weiter verbreitet, als die meisten glau¬ ben. Deshalb stellt sich uns die dringende Frage, wie wir unter den gegenwärtigen Bedingungen Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in der Demokratie bewahren können. Fast überall brauchen wir ein neues Verfassungskonzept. Informationssammlung und Informationsverteilung bedeuten heute die größte Macht im Staate. Dieser benötigt ein inneres Gleichgewicht, um funktionieren zu können. Früher war das einfach. Es gab die gesetzgeberische, die ausübende und die richterliche Gewalt, also Legislative, Exekutive und Judikative. Je näher wir der Jahrtausendwende kommen, desto wichtiger werden die kultu¬ relle und die wirtschaftüche Komponente. Diese dürfen kei¬ nesfalls der Herrschaft der Bürokratie ausgeliefert werden, sondern sind in ihrer Unabhängigkeit zu stärken. Ihre Zusam¬ menballung in der Hand der Regierenden wäre zum Schaden für die Allgemeinheit. Gerade die Folgen der modernen Tech¬ nologie und der damit verbundenen Machtmöglichkeiten le¬ gen uns die Dezentralisierung nahe, um die Entscheidungen wieder näher an den Einzelnen, und die natürlichen Gemein¬ schaften zu bringen.

*

Auf den Aufgabenfeldern, die nur noch national, europäisch oder weltweit zu lösen sind, brauchen wir wieder gemischte In¬ stitutionen mit voneinander unabhängigen Gewalten, wie sie Aristoteles forderte. Kaiser Franz Joseph hat schon zu Beginn

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des Jahrhunderts in einem Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten Theodore Roosevelt, dem ersten und weniger be¬ kannten US-Staatsoberhaupt dieses Namens, bemerkt, die we¬ sentlichste Aufgabe eines Monarchen bestehe heute darin, sein Volk vor der Regierung zu schützen. In diesem Satz steckt eine tiefe Wahrheit. Die Möglichkeiten der Exekutive, das heißt der diese lenkenden Bürokratie, breiten sich krebsartig aus. Die Erfindung der Interkontinental-Raketen hat wieder¬ um auf internationaler Ebene die Grenzen des Schreckens be¬ seitigt. Es gibt keinen sicheren Punkt auf Erden mehr, denn jeder kann zu jeder Zeit überall getötet werden. Im Einzel¬ staat schwindet die Privatsphäre. Eine Regierung, die bereit ist, ihre Machtmittel unbeschränkt von sittlichen Hemmungen voll einzusetzen, kann jeden Bürger seiner Freiheit berauben, ja sogar seine Gedanken zum Teil kontrollieren. Daß dies nicht nur in totalitären Regimen wie kommunisti¬ schen Diktaturen geschieht, sondern auch in angeblichen Mu¬ sterdemokratien, beweist Schweden. Unter dem Deckmantel »soziale Gerechtigkeit« oder »soziologische Studien« wird ge¬ handelt, wie es einem Hitler oder Gorbatschow durchaus ent¬ sprechen würde. In Schweden, aber auch anderswo im We¬ sten, besteht die Auffassung, daß die regierende Kaste fort¬ schrittlich und daher allwissend sei. Sie fühlt sich berufen, das Volk oder richtiger den Untertan des Wohlfahrtsstaates zu sei¬ nem Glück zu zwingen. Wehrt sich dieser dagegen, ist das ein Zeichen geistiger und sittlicher Verworfenheit, die dem beam¬ teten Wohltäter das Recht gibt, ihn solange als reaktionär zu züchtigen, bis auch er seinen Widerstand aufgibt und in das kollektivistische Paradies auf Erden eingeht. Ein erschreckendes Beispiel dafür hat die Stockholmer Zei¬ tung »Dagens Nyheter« entdeckt. Eine Arbeitsgruppe von So¬ ziologen unter der Leitung eines Professors Jansson führte ein Projekt unter dem Namen »Metropolit« durch. Einhundert¬ fünfzigtausend Personen des Jahrganges 1953 wurden auf¬ grund eines Intelligenztestes in der Schule, dessen Sinn ihnen

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nicht erklärt wurde, mit den verschiedensten Daten erfaßt, die man speicherte und seit dieser Zeit mit Unterstützung der Be¬ hörden dauernd analysiert. Diese Überwachung soll bis zum Tod der ehemaligen Schüler weitergehen. Polizei, Steuerbe¬ hörden, Gerichte, Sozialversicherungen, Gesundheitsdienste, Meldeämter und Lehranstalten sind in das Projekt eingebaut und haben sich bereitwilligst zur Verfügung gestellt, alle Infor¬ mationen zu liefern, ohne die Betroffenen davon zu verständi¬ gen. Die Privat- und Intimsphäre dieser hundertfünfzigtau¬ send Menschen besteht nicht mehr. Trotz vieler Proteste von Schweden aus dem fraglichen Jahr¬ gang soll die Untersuchung fortgesetzt werden, ja es ist angeb¬ lich unmöglich, den einzelnen zu sagen, ob sie Objekt des Ex¬ perimentes sind oder nicht. Die Datenschutzbehörde hat sich nicht entblödet zu behaupten, daß sie infolge der Masse der gesammelten Unterlagen resigniert habe. Mit anderen Wor¬ ten, alles geht weiter wie zuvor. Noch niemand scheint auf den einfachen Gedanken gekommen zu sein, das ganze Material kurzerhand zu vernichten und die Menschenrechte von Tau¬ senden wiederherzustellen. Dabei steht Schweden derzeit als Sprecher des Weltgewissens an der Spitze aller europäischen Staaten. Es hat den Vietnam¬ protest angeführt, trauert über angebliche Berufsverbote in Deutschland, verurteilte die Amerikaner wegen Grenada und der

Hilfe

für

die

Freiheitsbewegungen

in

Angola

und

unterstützte mit reichlichen Zuwendungen die in Managua herrschenden roten »Menschenfreunde«. Wer sieht, was das Stockholmer Regime mit seinen eigenen Bürgern treibt, kann nur mit Erstaunen feststellen, daß es offensichtlich keine Grenzen für Heuchelei und doppelte Moral gibt. Der Ab¬ grund, der sich hier auftut, erinnert gespenstisch an Men Ro¬ man »1984« von George Orwell. Der weitsichtige Autor hat in der Sache recht, auch wenn die Wahrheit seiner Vorhersage erst einige Jahre später aktenkundig wurde. Hier liegen die großen Aufgaben der Konservativen, die die

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Freiheit gegen die Technokraten verteidigen wollen. Der Be¬ griff konservativ wird vielfach mit reaktionär verwechselt. Dabei ist der Konservative alles, nur nicht das. Richtig ver¬ standen, meint man mit diesem Wort jemanden, der große Zeiträume überschaut, die Verbindung zum Vergangenen nicht verloren hat und daher die Fähigkeit besitzt, das Künfti¬ ge zu erkennen. Die Konservativen führten daher meist jene Reformen durch, von denen die sogenannten »fortschrittli¬ chen Kräfte« nur redeten. Nach konservativem Verständnis ist die erste Aufgabe des Staates, Sachwalter der Freiheit zu sein. Gelingt das der rechtsstaatlichen Demokratie trotz ihrer au¬ genblicklichen Krise, behält sie ihre Legitimität für die Zu¬ kunft.

Kriminalisierte Wirtschaft

In der deutschen und österreichischen Wirtschaft kann man et¬ was beobachten, das wohl noch nicht allgemeingültig ist, aber nicht mehr übersehen werden sollte. Manche Unternehmen haben mehr und mehr Schwierigkeiten, junge, wirklich fähige Talente zu rekrutieren. Kinder von Führungskräften, die eine Erziehung erhielten, die sie auf eine Karriere in der Wirtschaft vorbereiten sollte, sind nicht mehr gewillt, Stellen anzuneh¬ men, die ihrer Vorbildung entsprechen. Sie sind bestrebt, au¬ ßerhalb der Industrie ihr Auskommen zu finden, wenn sie nicht aussteigen oder auf Kosten der Eltern vegetieren. In an¬ deren europäischen Staaten, insbesondere in Großbritannien und Frankreich, ist dergleichen noch eine Ausnahme. Aber auch dort greift eine ähnliche Stimmung um sich. Fragt man die jungen Leute nach dem Grund ihrer eigen¬ artigen Haltung, erhält man häufig die Antwort, sie seien aus moralischen Gründen nicht mehr bereit, eine Karriere in der Industrie anzustreben. Die bisherigen Methoden der Wirt¬ schaft seien falsch gewesen, ihre Eltern hätten schwere Schuld auf sich geladen. Untersuchungen ergeben, daß der Einfluß, der zu dieser Entscheidung geführt hat, meist entweder bei Fa¬ milien mit stark religiöser Bindung auftritt, die der »antikapi¬ talistischen« Propaganda junger Priester zum Opfer fielen, oder aber auf die Massenmedien zurückzuführen ist. Diese ha¬ ben die jungen und idealistischen Leute - es handelt sich fast ausnahmslos um Menschen der intellektuellen Elite - über¬ zeugt, daß eine Tätigkeit in der Industrie mit ethischen Grund¬ sätzen unvereinbar sei. Bei vielen vorgebrachten Argumenten spielen krypfo-marxistische Auffassungen eine Rolle. So wird angenommen, die In¬ dustrie beute die Menschen aus, und es gebe innerhalb der Betriebe große Ungerechtigkeiten. Dazu kommt die weitver¬ breitete Meinung, die Firmen hätten aus reinem Profitstreben

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gewissenlos die Produktion ausgeweitet und damit das Gleich¬ gewicht der Natur zerstört. Die Wirtschaft habe außerdem durch ihre Subventionen an politische Bewegungen zu der Korrumpierung des öffentlichen Lebens beigetragen. Die glei¬ che Kritik spart die Gewerkschaften und das von ihnen nur zu oft zweckentfremdete Geld aus. Die Programme des Fernsehens und in geringerem Ausmaß die Presse wie der Rundfunk zeigen eindeutig die Tendenz, wirtschaftliche Betätigung zu kriminalisieren. Berichterstat¬ tungen sind meist bewußt verfälscht und einseitig. Gewiß gibt es vieles, das kritisiert werden kann und soll. Es muß aber fest¬ gestellt werden, daß der Grundsatz »audiatur et altera pars« wenig beachtet wird und Gegendarstellungen meist verzerrt dem Zuschauer vorgeführt werden. Diese Politik der Massenmedien ist nicht nur Ausdruck ihrer starken

linken Unterwanderung,

sondern vor allem des

Zwangs zur Sensation. Das, was normal ist, fesselt und unter¬ hält die Menschen nicht. Ein Student, der studiert, ein Arbei¬ ter, der arbeitet, ein Geistlicher, der an Gott glaubt, sind nicht femsehwürdig, da sie das tun, was man von ihnen erwartet. Erst wenn sie das Gegenteil machen, erregen sie die Aufmerk¬ samkeit. Bei der Wirtschaft wiederum langweilt Forschung, Entwicklung und Produktion; publikumswirksam sind aber ge¬ heimnisvolle Umtriebe, korrumpierende Einflüsse oder Poli¬ zeieinsätze zum Schutz der bösen Kapitalisten. Hier wirkt sich die Tatsache aus, daß die kleinste Minderheit im praktischen Leben fast immer die größte Mehrheit in der Traumwelt des Fernsehens bildet. Das hat einen verzerrenden Einfluß, der insbesondere in der Politik fühlbar wird. Die Dar¬ stellung eines Unternehmers als J. R. in der Serie »Dallas« sprach den weitverbreiteten Neid an. Dieser entwickelt eine große Dynamik, so daß Menschen, die Erfolg haben wollen und keine moralischen Hemmungen kennen, ihn als Waffe einsetzen. Offensichtlich verkraften die Menschen den Wohl¬ stand schwerer als das Elend. Der miserable Lebensstandard

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im Sowjetblock wird als etwas Natürliches hingenommen. Den Reichtum im Westen aber betrachten viele, die ihn genießen, als Unrecht. Man glaubt an die groteske sozialistische These, daß Wohlstand grundsätzlich auf der Ausbeutung der anderen beruhe. Dabei sind sein Fundament vor allem harte Arbeit, Forschung und Entwicklung. Nur weil die Europäer und die Amerikaner bereit waren, anzupacken und sich selbst zu hel¬ fen, sind sie zu dem geworden, was sie heute sind. Das verfälschte Bild vom Ursprung des Reichtums wird um so leichter verkauft, als es in unserer Gesellschaft Schichten gibt, die zu den Elementen der Wirtschaft kein direktes Verhältnis haben. Man staunt heute vielfach darüber, wieso es gelungen ist, absurde sozialistische Phrasen in den Klerus hineinzutra¬ gen. Der Grund ist nicht schwer zu erraten: Die Priester haben schon infolge ihres Berufes kein direktes Verhältnis zur pro¬ duktiven Wirtschaft. Die bürgerliche Gesellschaft aber hat es unterlassen, ihrem Klerus die Grundwahrheiten der National¬ ökonomie beizubringen. Dadurch wurde es möglich, mit tu¬ gendhaft klingenden Theorien bei Menschen Erfolg zu haben, die aus eigener Erfahrung gar nicht die Möglichkeit besitzen, deren Richtigkeit oder Unrichtigkeit zu prüfen. Das gleiche gilt übrigens bis zu einem gewissen Grad auch für das Militär. Man war zu Unrecht erstaunt, als man in Spanien entdeckte, wie viele Offiziere mit dem Sozialismus sympathisierten. Die Menschen, die zum Klerus oder zur Armee gehen, sind meist von idealistischen Motiven geleitet. Sie sind deshalb für gro߬ herzige Worte anfällig. Es war ein Geniestreich des sowjeti¬ schen Systems, diesen Schwachpunkt der bürgerlichen Gesell¬ schaft zu erkennen und zu nutzen. Ein schlechtes Gewissen be¬ einträchtigt den Verteidigungswillen. Wer nicht an die Ge¬ rechtigkeit der eigenen Sache glaubt, wird den letzteÄ Einsatz nicht wagen. Das birgt neben den langfristigen sicherheitspolitischen Ge¬ fahren auch das kurzfristige Risiko starker Auswirkungen auf die Wirtschaft in sich. Gerade wir Europäer dürfen nicht ver-

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gessen, daß unser Reichtum Technologie und Wissenschaft sind. Wir haben Überfluß weder an Rohstoffen noch an Ar¬ beitskräften. Dieser befindet sich in anderen Erdteilen. Zer¬ stören wir demnach die einzige wirkliche Grundlage unseres Wohlstandes, so könnten wir die Entwicklungshilfeempfänger des einundzwanzigsten Jahrhunderts werden. Ob wir dann al¬ lerdings noch jemanden finden würden, der uns etwas gibt?

Lebensgefahr für Europa

Einer der besten Demographen Frankreichs ist das Mitglied des Französischen Institutes Pierre Chaunu. Wer seine Schrif¬ ten und Studien jahrelang verfolgt hat, weiß, daß er von allen Sachverständigen wahrscheinlich die richtigsten Vorhersagen machte. Dabei wurde er vielfach als Pessimist bezeichnet. Lei¬ der hat ihm die Entwicklung ständig recht gegeben, so daß es sich lohnt, auf ihn zu hören. Vor Jahren hat Chaunu festge¬ stellt, daß in Schweden seit 1967 die Sterblichkeit über der Ge¬ burtenrate liege; kurz darauf, 1969, ist das in Deutschland und 1975 in Frankreich eingetreten. Man könnte also von einem langsamen Tod Europas sprechen. Die Entwicklung ist aber nicht beim langsamen Tod stehenge¬ blieben, sie wird immer stürmischer. Direkt bedroht sind heu¬ te Schweden, Deutschland, Dänemark, Norditalien, Holland, die Schweiz und weitgehend auch Österreich. Frankreich dürf¬ te in wenigen Jahren nicht besser daran sein. Man kann, so Chaunu, tatsächlich von einem Verzicht auf Nachkommen¬ schaft sprechen. Dieser zweite plötzliche Abstieg geht Hand in Hand mit der Entwertung der Ehe als der normalen Form des Zusammenlebens der Menschen. Es ist bezeichnend, daß noch zu Anfang des Jahrhunderts 97 bis 99 Prozent der Menschen eine normale Familie gründeten. Vor dreißig Jahren gab es die ersten Vorzeichen der Krise. Von 1965 bis 1972, also in sieben Jahren, ist die Zahl der Ehen in Schweden um fast die Hälfte zurückgegangen. In Frankreich wiederum hätte es 1985, wenn die Zahl der Eheschließungen im Verhältnis zur Entwicklung der Bevölkerungsstruktur auf der Höhe von 1972 gpblieben wäre, 450000 Heiraten geben müssen, tatsächlich waren es aber nur 282000. Anstelle der traditionellen Institutionen tritt das Zusammenleben ohne Trauschein. Damit geht in der Re¬ gel die Ablehnung der Kinder einher. Es gibt immer mehr Frauen ohne Nachkommenschaft, so daß unser Bevölkerungs-

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Wachstum mit wenigen Ausnahmen bereits tief unter jener Ra¬ te liegt, die notwendig wäre, um den Stand der Einwohner¬ schaft auch nur auf der derzeitigen Höhe zu halten. Vielleicht noch alarmierender ist eine weitere Feststellung Chaunus zur Lage in Frankreich: Allein im Jahre 1984 ist die Zahl der Ehen ebenso schnell zurückgegangen wie in der Zeit zwischen 1980 und 1984. Das bedeutet eine Vervierfachung der Geschwindig¬ keit des Verfalles. Die frevelhafte Manipulation mit der menschlichen Natur wirkt sich mächtig aus. Sie erklärt auch die gesellschaftlichen Probleme, die nunmehr auf uns zukommen. So wird dem¬ nächst eine schwere Krise unserer gesamten Sozialstruktur ausbrechen, weil es nicht mehr genug Menschen im produkti¬ ven Alter geben kann, um die wachsende Anzahl von arbeits¬ unfähigen Pensionisten zu erhalten. Zu erwarten sind auch Spannungen auf einer anderen Ebene, nachdem offensichtlich ganze Berufssparten an Nicht-Europäer übergehen. Bezeichnend ist, daß trotz der alarmierenden Perspektiven die Gesetzgebung in fast allen europäischen Staaten das außerehe¬ liche Zusammenleben indirekt unterstützt. In manchen Län¬ dern der EG ist es so weit, daß die Beamten jungen Leuten ra¬ ten, eine Ehe nicht mehr einzugehen. Die steuerliche Struktur wiederum und die amtliche Geringschätzung der Frauen, die sich noch einer Familie widmen wollen, führt dazu, daß immer mehr Menschen entmutigt werden. Zwar spricht man in Politi¬ kerkreisen viel von »Familienpolitik«. Praktisch geschieht je¬ doch leider sehr wenig. Man fördert manchmal bewußt, aber meist unbewußt, durch die staatliche Wirtschaftspolitik die jet¬ zige lebensgefährliche Entwicklung. Somit ist eine politische Katastrophe für Europa program¬ miert. Die Natur erträgt keinen Leerraum. Weigern sich die Europäer, für Nachkommenschaft zu sorgen, werden andere Völker ihre leergewordenen Stellen übernehmen. Es ist sicherlich noch möglich, die Entwicklung zuerst zu bremsen, dann zu wenden. Dazu wäre es aber notwendig, eine

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echte Familienpolitik für verehelichte Paare zu machen. Das Kind ist bei der heutigen Steuerstruktur noch immer eine ge¬ waltige Belastung, die viele nicht mehr ertragen. Es wäre so¬ mit an der Zeit, daß die Regierungen endlich erkennen: Die Europäer sind in Lebensgefahr. Ehe und Familie müssen da¬ her baldigst wieder jenen Stellenwert erhalten, der ihnen in den letzten vierzig Jahren systematisch geraubt wurde.

Brauchen wir Eliten? Unsere Zukunftsplanung muß immer zwei grundlegende Be¬ dingungen im Auge behalten. Europa befindet sich in einer unmöglichen geostrategischen Lage. Ein Blick auf die Karte zeigt, wie klein unser Raum ist. Wir sind eine Halbinsel des euro-asiatischen Kontinents. Der politische Wind bläst bei uns fast immer von Osten nach Westen. Daher die Bedeutung ge¬ wisser geschichtlicher Verteidigungsstellungen wie der Enns, des böhmisch-mährischen Raumes oder der großen Flüsse wei¬ ter nördlich. In der Weltwirtschaft wiederum sind wir der an Rohstoffen ärmste Erdteil. In dieser Gesamtsituation gibt es für uns eigentlich nur eine einzige originäre Quelle für Reichtum und Sicherheit: die Qualität der Menschen. Die Bürger Europas haben dessen Reichtum begründet. Sie schufen durch eine richtige Politik sowie den Einsatz ihres Wissens und Könnens Werte, die die natürlichen Beschränkungen des Erdteiles überwinden. Das erklärt, warum die ewig wiederholte Behauptung, die Euro¬ päer seien Ausbeuter gewesen, nicht stimmt. Der europäische Lebensstandard ist auf Arbeit aufgebaut; der Besitz von Roh¬ stoffen wiederum ist eine Gabe der Natur, zu der der Mensch nur insofern etwas beiträgt, als er sie entdeckt und verwendet. Das war die Leistung der Europäer in Übersee. Ist somit die Grundlage der europäischen Entwicklung fast ausschließlich der Mensch, kann man daraus mit Recht schlie¬ ßen, daß dessen weitere Fortschritte ausschlaggebend für un¬ sere Zukunft sein werden. Hier aber zeigt uns die Geschichte, daß Spitzenleistungen von Minderheiten, das heißt Eliten, er¬ bracht werden. Der göttliche Funke zündet immer nur bei ei¬ ner beschränkten Zahl. Sie wird erfolgreich sein, wenn es ihr gelingt, die Mehrheit von dem Erdachten zu überzeugen und sie zum Nachvollziehen zu veranlassen. Müßte man für eine Neuerung auf eine Initiative der Mehrheit warten, wären die Aussichten reichlich düster.

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So gesehen, ist die Frage der Bildung von Eliten ein Lebens¬ problem des Kontinents. Der Kampf gegen diese, ihre Diskre¬ ditierung, der schlechte Beigeschmack, den man dem Wort »elitär« gegeben hat, zeugen von einem Todeswunsch. Bei der mechanischen sozialen Gleichmacherei spielt die Ver¬ zerrung des Begriffes »Chancengleichheit« eine fatale Rolle. Das führt zu einer Verwirrung der Geister. Nivellierung er¬ schlägt den Fortschritt, die Initiative und führt zu einer Ver¬ knöcherung, wie wir sie insbesondere in sozialistischen Staaten erleben. Der Begriff »Elite« muß klar umschrieben werden. Man darf nicht »Elite« mit »Macht-Elite« verwechseln. Macht allein ver¬ wandelt niemand zu einem fähigeren Menschen. Eine gesunde Elite kann ausschließlich nach intellektuellen und moralisch¬ sittlichen Kriterien bestimmt werden. So gesehen, ist die erste Bedingung für echte Elitebildung die Freiheit. Nur in diesem Rahmen kann sich der elitäre Mensch entwickeln und seine Talente zum Tragen bringen, ohne dem anderen den Weg zu verstellen. Eine freiheitliche Elite er¬ neuert sich ständig. Eliten sind keine Kasten, und bloß durch Privilegien schafft man sie nicht. Demjenigen, der überdurch¬ schnittliche Leistungen erbringen kann, muß stets der Weg nach oben offenstehen. Elite bedeutet ferner eine moralische Haltung. Sie fordert von demjenigen, der ihr angehört, einen sauberen Charakter, Op¬ ferbereitschaft und Einsatz für die Gemeinschaft. Das Mit¬ glied einer wahren Elite lebt nicht nur für sich selbst, sondern auch für seinen Nächsten. Bei ihm müssen das Wort und die Tat übereinstimmen. Das ist auch die Vorbedingung einer richtigen Erziehung der Jugend. Die ältere Generation trägt Verantwortung für ihre Nachkommen. Erziehungsprobleme bestehen meist dort, wo die Eltern etwas anderes predigen, als sie tun. Die Jugend ist hellhöriger, als es sich die Alten im all¬ gemeinen vorstellen. Es wird behauptet, Eliten seien heute in einer demokratischen

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Ordnung nicht mehr möglich. Das ist nachweislich falsch. Wir sehen das an der merkwürdigen Haltung gegenüber PseudoEliten, die es heute bei uns gibt und die kaum je Anstoß er¬ regt. Die größten Gleichheitsapostel anerkennen eine Sonder¬ stellung für Spitzensportler, Schauspieler oder beliebte Sän¬ ger. Da wir vielfach zu dem System des »panem et circenses« zurückgekommen sind, wird diese Schicht als moderne Aristo¬ kratie angesehen. Das stimmt zwar nicht, zeigt aber das Be¬ dürfnis nach Vorbildern. Der in Deutschland wirkende öster¬ reichische Schriftsteller Gerd Klaus Kaltenbrunner hat das in einem Band der Herder-Initiative »Rechtfertigung der Elite wider die Anmaßungen der Prominenz« hervorragend darge¬ stellt. Europa kann demnach ruhig an die Neuschaffung und den Ausbau seiner Eliten gehen. Gelingt es uns nicht, sind wir zum Abstieg in die geistige, wirtschaftliche und politische Be¬ deutungslosigkeit verurteilt. Diesbezüglich gilt das Beispiel des alten Griechenland. Es war führend in der Welt, solange es gewillt war, geistig-moralisch vorbildlich zu sein. Sobald das nicht mehr der Fall war, wurden aus den Graeci des Altertums die Graeculi, wie sie die Römer verächtlich nannten. Genau das gleiche droht uns in Europa, wenn wir nicht bereit sind, echte Eliten zu bilden.

Charakter - Bildung

Während sich der Mensch, wenn überhaupt, kaum ändert, ist auf dem Gebiete des Wissens und daher auch der Wissens¬ übermittlung viel geschehen. In den letzten Jahrzehnten haben sich die Kenntnisse exponential vervielfacht, und dabei sind wir erst in den frühen Phasen einer dynamischen Entwicklung. Die neuen elektronischen Hilfsmittel haben die Monatsarbeit von Tausenden von Sachverständigen durch einen einzigen Druck auf den Knopf ersetzt. Die Bedeutung von Forschung und Entwicklung hat derart zugenommen, daß man von einer echten Explosion sprechen kann. Das Ergebnis ist, daß die Masse der Kenntnisse unvorstellbar groß geworden ist. Der geistige Raum aber engt sich zwangsläufig ein, und eine erfolg¬ reiche Formel für die Zusammenarbeit, die die winzig kleinen Zellen überdacht, ist noch nicht gefunden. Das muß sich auch auf die Wissensübertragung auswirken, dies um so mehr, als das, was man weitergibt, speziell bei den Naturwissenschaften in allerkürzester Zeit bereits überholt ist. Wenn ich das, was ich in der Schule gelernt habe, mit dem ver¬ gleiche, was meinen Kindern unterrichtet wurde und was nun¬ mehr auf meine Enkel zukommt, gibt es einfach kaum mehr Gemeinsamkeit. Erst so kann man ermessen, wieviel objektiv Überflüssiges gelehrt wurde, das in seiner Zeit durchaus sinn¬ voll erschien, mit dem man aber heute, so man es nicht verges¬ sen hat, kaum etwas anfangen kann. Daher das Gebot, auf all diesen Gebieten umzudenken. In früheren Jahrhunderten gab es den »Uomo universale«. Das war ein Mensch, der so ziemlich auf allen Wissensgebieten das Wesentliche kannte, der also eine echte Allgemeinoildung besaß. In meiner Jugend habe ich noch einige dieser »Uomini universali« kennengelernt. Heute hingegen würde man so gut wie umsonst nach solchen Umschau halten. Es ist eine Erfahrungstatsache, daß man universale Menschen

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schon darum braucht, weil sie einen Gesamtblick haben, der dem Spezialisten abgeht, aber für die Strategie in Politik und Wirtschaft unabdingbar notwendig ist. Es ist daher anzuneh¬ men, daß es eine der wichtigsten Aufgaben der Schulen der Zukunft sein wird, jungen Menschen das wesentliche, also überzeitliche Wissen beizubringen und zu versuchen, allzuviel rein Zeitgebundenes auszuschalten. Man muß allerdings be¬ fürchten, daß ein solches umfassendes Konzept noch nicht er¬ arbeitet worden ist. Vielfach vermitteln die Schulprogramme nämlich den Eindruck, es handle sich um ein altes Haus, dem man, je nach den Bedürfnissen, da einen Erker, dort einen Turm anbaut. Dadurch wird es immer größer, aber auch im¬ mer weniger übersichtlich. Dies ist auf keinen Fall eine Lösung des Problems, das sich uns stellt. Wir brauchen wieder Men¬ schen, die eine Synthese und nicht nur solche, die Analysen machen können. Sie müssen die Fähigkeit haben, unabhängig und eigenständig zu denken. Ihr Denkprozeß darf nicht von Maschinen abhängig sein, sondern sie sollen den Blick für das Wesentliche besitzen. Dies ist übrigens keine Erkenntnis unserer Tage. Ich selbst erinnere mich an meine Studentenzeit an der Universität Lö¬ wen in Belgien vor dem Zweiten Weltkrieg. In den ersten zwei Jahren hatten die Juristen Kurse auf den verschiedensten Gebieten zu absolvieren, einschließlich der Philosophie, die durch den Tomismus geprägt war, ja, wir studierten sogar Anatomie, Chemie und Biologie. Dabei ist mir aufgefallen, daß anläßlich der mündlichen Endprüfungen diejenigen, die sich mit Philosophie befaßt hatten, im allgemeinen weit besser abschnitten als diejenigen, die nur auf die Naturwissenschaf¬ ten spezialisiert waren. Der Grund war: In der mündlichen Prüfung spielt die Fähigkeit, rasch zu denken, eine wesentliche Rolle. Das konnten jene, die ein Allgemeinwissen besaßen, während sich die Spezialisten viel schwerer taten. Bei der weltweiten Dimension des Wissens, die auf uns zu¬ kommt, wird die Kenntnis von Sprachen entscheidend sein.

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Darunter verstehe ich genauso die lebenden wie die sogenann¬ ten toten Sprachen. Erst in späteren Jahren mit konkreten Er¬ fahrungen erkennt man zum Beispiel den unschätzbaren Wert des Latein- und des Griechischunterrichts. Auch ich war in meiner Jugend keineswegs ein begeisterter Anhänger des La¬ teins, eher das Gegenteil. Rückblickend habe ich verstanden, wie sehr gerade diese tote Sprache eine geistige Ertüchtigung ist, weil sie durch das Gewicht, das man im Lateinischen stets auf die Grammatik gelegt hat, zur Schärfung des Denk¬ prozesses beiträgt. Ich bezweifle, ob das Zurückdrängen des Lateins in unseren Schulen langfristig gesehen wirklich jener Fortschritt ist, den wir den kommenden Generationen wün¬ schen. Zur Wissensübermittlung kommt, wie bereits erwähnt, die Frage des Charakters. Wir benötigen nicht nur gebildete Men¬ schen, noch wichtiger sind Frauen und Männer, die Mut und innere Überzeugung haben. Wer wie ich in der Politik steht, weiß, daß wir nicht so sehr am Mangel an intelligenten Leuten kranken als viel mehr daran, daß glaubwürdige Personen zur Seltenheit geworden sind. Was wir brauchen, sind Menschen, die es wagen, die Dinge beim Namen zu nennen, die das sa¬ gen, was sie wirklich denken. Hier kann die Schule Gewaltiges leisten, denn die Heranbildung des Charakters ist zwar vor allem Aufgabe des Elternhauses, aber auch der Schule über¬ tragen. Daß Charakter, gerade weil er so vielen fehlt, bei der Bevöl¬ kerung geachtet wird, zeigt der Erfolg derjenigen, die sich trauen, im öffentlichen und privaten Leben nicht um den heißen Brei herumzureden. Intelligente und schwatzhafte Politiker haben wir genug; wirkliche Persönlichkeiten sind viel zu selten. Wenn man zum Beispiel in England den Xufstieg von Margaret Thatcher erlebte, so war dieser nicht auf irgend¬ eine überragende Intelligenz zurückzuführen, auch wenn man die geistigen Qualitäten der Premierministerin nicht unter¬ schätzen darf. Das wesentliche war, daß die Menschen stets

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wußten, daß das, was Margaret Thatcher sagt, wirklich ihre Ansicht ist. Die Menschen hatten Vertrauen zu ihr, weil sie von ihrer Ehrlichkeit überzeugt waren, auch dann, wenn sie ihre Auffassung nicht teilten. Daher konnte sich Margaret Thatcher erlauben, unpopuläre Maßnahmen vorzuschlagen und aufgrund dessen - Wahlen zu gewinnen. Natürlich muß auch der stärkste Charakter mit voller Einsatzbereitschaft Hand in Hand gehen; Wissen und Persönlichkeit gehören zu¬ sammen. In der Politik spricht man nur zu oft von unwiderstehlichen Strömungen, die um so beeindruckender wirken, wenn man sie mit einem Fremdwort tauft: Trend. Wer nur ein wenig im öffentlichen Leben tätig ist, weiß, daß diese angeblichen Trends nicht bestehen. Sie sind allerdings nützlich, um am Abend einer verlorenen Wahl zu erklären, warum man nicht schuld an einer Niederlage ist, die man durch mangelnde Aus¬ sage oder Faulheit verursacht hat. In Wirklichkeit gibt es in der Politik nur drei Elemente, die zählen: Glaubwürdige Per¬ sönlichkeit, eine klare, unzweideutige Aussage, und schlie߬ lich unermüdliche Basisarbeit. Dafür gibt es keinen Ersatz, sie sind die Vorbedingung des Erfolges.

Grosse Chancen durch die Kleinen

Bei Diskussionen mit jüngeren Leuten stößt man häufig auf tiefe Entmutigung. Es wird gesagt, man sei in eine Zeit der Arbeitslosigkeit geboren worden, für die es keine Lösung ge¬ be. Die Lebensaussichten seien demnach düster. Verschärft wird diese pessimistische Grundhaltung durch die Prognosen von Wirtschaftsinstituten, die aufgrund angeblich wissen¬ schaftlicher Erkenntnisse Vorhersagen, wie viele Arbeitslose es in den Jahren 1995 oder 2000 geben wird. Solche Extrapola¬ tionen sind in der Regel mehr als fragwürdig. Sie haben aber für ihre Autoren nicht zu unterschätzende Vorteile: Sie ma¬ chen im Augenblick einen tiefen Eindruck. Bis die Vorhersage eintreten soll, ist sie jedoch fast immer vergessen. Stimmt sie aber tatsächlich einmal, erntet der Prophet unverdienten Ruhm. Er hat halt richtig getippt. Die Geschichte lehrt, daß es in allen Zeiten Perioden der Ar¬ beitslosigkeit gegeben hat. Bei Ägyptern oder Römern, Grie¬ chen oder Arabern ist Beschäftigungsmangel immer dann auf¬ getreten, wenn die Regierungen eine liederliche Finanzpolitik verfolgt hatten.

Geldmanipulationen und Arbeitslosigkeit

hängen zusammen. Sie sind fast Siamesische Zwillinge. Umge¬ kehrt kann man feststellen, daß eine Rückkehr zu klassischem und verantwortlichem Gebaren in der Regel in relativ kurzer Zeit die Vollbeschäftigung wiederhergestellt hat. Die Äuße¬ rung eines von seinen Zeitgenossen überschätzten deutschen Politikers, ihm seien fünf Prozent Inflation lieber als fünf Pro¬ zent Arbeitslosigkeit, war mehr als fragwürdig. Die Vergangenheit zeigt, daß die Entwicklung der Menschheit nicht etwa linear erfolgt, sondern daß es gewaltige Brüche und Sprünge gibt. Solche bringen in der Regel schwere soziale Pro¬ bleme. Es dauert immer eine Weile, bis sich die Lage wieder eingependelt hat. So gesehen, wird die derzeitige Krise auf dem Arbeitsmarkt durch zwei Kräfte bestimmt.

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Wir haben eine falsche Geldpolitik, die nicht zuletzt aus dem Abkommen von Bretton Woods stammt, für die aber wir Europäer die wesentlichste Verantwortung tragen. Wir hätten erkennen müssen, daß das Ungleichgewicht zwischen dem Dollar und den europäischen Währungen Unheil stiften wür¬ de. Weil es im Rahmen des Systems kein europäisches Gegen¬ stück zum amerikanischen Dollar gab, erhielt Washington das furchtbare Privileg, Schulden mit Geld zu bezahlen, das man selbst druckte. Der Dollar als einzige Weltwährung bedeutete eine Versuchung für die Amerikaner, der sie nicht widerste¬ hen konnten - umgekehrt hätten die Europäer es auch nicht besser zustandegebracht. Die Tatsache, daß die Europäer nicht bereit waren, sich politisch zu einen, also eine Autorität zu schaffen, die die Kreditschöpfung in den einzelnen Staaten kontrolliert, war das auslösende Element der internationalen Geldverschlechterung. Ein Europa-Geld hätte die schädliche Monopolstellung des Dollars und damit die exportierte Infla¬ tion verhindert. Schwer ins Gewicht fiel auch der technologische Fortschritt. Durch die Beschleunigung von Forschung und Entwicklung haben wir in kürzester Zeit Schlag auf Schlag zwei Revolutio¬ nen in unserer gesamten Wirtschaftsstruktur erlebt. Dem wirt¬ schaftlichen Atomzeitalter folgte die post-industrielle Ära auf dem Fuß. Die Mikroelektronik stellt den zweiten qualitativen Sprung in wenigen Jahrzehnten dar. Das mußte soziale Er¬ schütterungen bringen. Aus diesem Grunde ist die Krise auf dem Arbeitsmarkt kein Wunder. Dabei sollte man erkennen, daß in Europa die Ar¬ beitslosigkeit nicht annähernd so schlimm ist, wie sie ohne den größeren Binnenmarkt im Rahmen der EG geworden wäre. Eine jüngst veröffentlichte wissenschaftliche Studie hat ge¬ zeigt, daß wir ohne die Gemeinschaft in Europa zumindest drei Millionen Arbeitslose mehr gehabt hätten. Allerdings »negative Erfolge« nimmt man nicht zur Kenntnis. Die rückläufige Zahl der Arbeitsstellen in unseren Groß-

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betrieben liegt in der Logik der Entwicklung. Der Zwang zur Rationalisierung, nicht zuletzt unter dem Druck der Gewerk¬ schaften, führt zu Einsparungen bei den Arbeitsplätzen. Aller¬ dings müßte sich das bei uns nicht zwangsläufig negativ auswir¬ ken. Nur haben wir eine Politik gemacht, die unter dem Ein¬ fluß eines falschen Fortschrittswahnes kleine und mittlere Be¬ triebe, ganz besonders aber den Mittelstand, schwächte. Man braucht diesbezüglich nur die Steuerpolitik der europäischen Staaten zu betrachten. Die Mittelständler werden so übermä¬ ßig belastet, daß viele von ihnen entmutigt werden. Noch ge¬ fährlicher ist die Wiedereinführung des Frondienstes des Mit¬ telalters. Wie man weiß, bestand dieser in Tagen und Stunden unbezahlter Arbeit, die der Leibeigene für seinen Grundherrn leisten mußte. Das System war sozial so abscheulich, daß es bereits relativ früh wieder abgeschafft wurde. Heute aber wird es in unserem fortgeschrittenen zwanzigsten Jahrhundert wie¬ der eingeführt, denn die Tage und Stunden unbezahlter Pa¬ pierarbeit, die die Kleinunternehmer für das Finanzamt zu lei¬ sten haben, sind nichts anderes. Daß diese unter dem doppel¬ ten Druck zeitweilig aufgehört haben, ein wesentlicher Faktor der Arbeitsbeschaffung zu sein, sollte nicht erstaunen. In Ja¬ pan, einem Lande, in dem es noch einen wohlhabenden Mit¬ telstand gibt, war es hingegen möglich, die Stellen, die in den Großbetrieben verloren gingen, auf mittelständischer Ebene wieder zu ersetzen. Das Problem ist also nicht ein zwangsläufiger Verlust von Ar¬ beitsplätzen, sondern deren Übertragung aus einem Sektor in einen anderen. Die Frage ist, ob dies die Zuständigen erken¬ nen und bereit sind, dementsprechend zu handeln. Hier hat sich leider nur zu oft erwiesen, daß die Regierungen mehr denn einmal den Überblick verloren haben und alles nur aus der Perspektive ihrer Tagespolitik beziehungsweise der Not¬ wendigkeit, die nächsten Wahlen zu gewinnen, beurteilen. So erfolgt in den industrialisierten Staaten Europas der dirigisti¬ sche Eingriff meist nicht nach wirtschaftlichen Gesichtspunk-

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ten, sondern nach parteipolitischen Interessen, und das ist für jede Wirtschaft tödlich. Erschwerend ist die Politik vieler Gewerkschaften, die bei ih¬ ren Forderungen jeweils die höchsten Möglichkeiten in den Spitzenbetrieben vor Augen haben und ohne Rücksicht auf Verluste versuchen, diese zum allgemeinen Maß zu erheben. Das gilt nicht zuletzt für die 35-Stunden-Woche. Es ist nicht zu leugnen, daß der technologische Fortschritt in manchen Berei¬ chen der Produktion eine solche Verkürzung der Arbeitszeit erlaubt. Allerdings müßte man dabei nicht nur die internatio¬ nale Konkurrenz berücksichtigen, sondern auch die Tatsache, daß viele kleinere und schwächere Unternehmen damit end¬ gültig überfordert werden. Eine Politik, die allen zumutet, was nur den Reichsten und Bestorganisiertesten abverlangt wer¬ den kann, muß zwangsläufig Arbeitsplätze zerstören. Man kann in der Wirtschaft nicht alles über einen Kamm scheren. Das Verwechseln von Gleichheit mit Gerechtigkeit führt zu den größten Ungerechtigkeiten. Bei dem derzeitigen Transfer der Arbeit gibt es eine Entwick¬ lung in zwei einander widersprechenden Richtungen: Es exi¬ stiert eine kleine Schicht von Kräften, die wesentlich mehr lei¬ sten, als es früher der Fall war. Es gibt daneben eine große Gruppe, deren Arbeitszeit ständig zurückgeht. Das muß sich auf die Dauer nicht nur sozial, sondern auch politisch gefähr¬ lich auswirken. Wer mehr arbeitet, fordert zwangsläufig grö¬ ßeren Einfluß. Daher der Begriff der Meritokratie, die eine politische Realität wird. Auf die Dauer wird sich diese nicht ausbeuten lassen. Über kurz oder lang ist eine meritokratische Revolution gegen die derzeitige Ordnung durchaus denkbar. Schon jetzt spielen extrem elitäre Bewegungen mit diesem Gedanken, der keineswegs so abwegig ist, wie es heute den Anschein haben könnte. Unter diesem Aspekt muß man auch die Gewerkschaften se¬ hen. Die Statistiken zeigen, daß derzeit in allen Staaten die Massengewerkschaften zurückgehen. Sie haben zwar noch 221

großen politischen Einfluß, Tatsache ist aber, daß sich die Ge¬ wichte schnell verschieben. Schon in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg hat der intelligente, allerdings auch schil¬ lernde amerikanische Gewerkschaftsführer Sidney Hillman geäußert, die Zukunft gehöre den sogenannten Crafts Unions, also, um einen mittelalterlichen Ausdruck zu gebrauchen, den Zünften. Diese Entwicklung ist in den letzten vierzig Jahren weitergegangen. Der Einfluß der Massengewerkschaften sinkt unerbittlich ab, während die kleinen spezialisierten Organisa¬ tionen mächtiger werden. So gesehen sind wir auf dem Wege vom Gewerkschaftsstaat, so wie er heute besteht, in eine Ord¬ nung der Zünfte nach dem Beispiel des Mittelalters. Ob man allerdings diese überhaupt als Gewerkschaften bezeichnen kann, ist fraglich. In Wirklichkeit sind sie etwas anderes, denn sie sind, anders als jene, für eine gesunde Mitbestimmung durchaus geeignet. Sie fühlen sich mehr an ihre kleinen und mittleren Betriebe gebunden. Daher identifizieren sie sich mit diesen und haben weit mehr vernünftigen Einfluß als von außen her kommende Gewerkschaftsfunktionäre. Hier ent¬ wickelt sich eine neue soziale Ordnung, die in einigen Jahr¬ zehnten die tragende Struktur sein kann. Es ist kein Zufall, daß schon heute in allen europäischen Staa¬ ten mehr als zwei Drittel der technischen Fortschritte aus dem mittelständischen Sektor kommen. Er ist wesentlich dynami¬ scher als die Großbetriebe, die nur zu oft beinahe schon so bürokratisiert sind wie die Staaten. Bei den kleineren sind noch unternehmerische Tugenden entscheidend, die sich in den Großbetrieben mit ihren bürokratischen Strukturen kaum mehr entfalten können. Es ist somit anzunehmen, daß die Zukunft der Arbeit in den kleinen und mittleren Firmen der Produktion, der Dienstlei¬ stung sowie der kulturellen Betreuung liegt. Es wird nicht die massive Arbeitslosigkeit geben, die manche befürchten, da hier bei richtiger Politik noch viele potentielle Stellen beste¬ hen. Gleichzeitig werden die Massengewerkschaften in die Be-

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deutungslosigkeit versinken, während die kleinen, hochquali¬ fizierten Zünfte einen entscheidenden Einfluß auf die soziale und wirtschaftliche Entwicklung ausüben können. Dies wird auch für die Zukunft der Freiheit von Bedeutung sein. Diese kann man nur in überschaubaren Räumen erhalten. Da die Freiheit gleichzeitig auch die wesentlichste Vorbedingung des wirtschaftlichen Fortschrittes ist, besteht guter Grund zum Optimismus. Die großen wirtschaftlichen Organisationen, ob gigantische Betriebe oder Staaten nach dem Typus der Sowjet¬ union, werden durch die Ereignisse überholt. Die Zukunft ge¬ hört dem Unternehmungsgeist und der Initiative des Einzel¬ nen, also des Kleinen. Nicht zuletzt deshalb ist es ein Gebot der Stunde, auch die bäuerüchen Familienbetriebe gegen die privatindustriellen oder staatlichen Agrarfabriken zu stärken. Es wäre falsch, die Welt als eine Art »Tischlein-deck-dich« zu betrachten, das jeweils demjenigen zur Verfügung steht, der am lautesten seine Wünsche zum Ausdruck bringt. Verantwortliche Politik muß vor allem von dem Gedanken »primum vivere«, »zuerst einmal leben«, ausgehen. Das ist der Grund, warum eine sach¬ liche Betrachtung der wirtschaftlich-politischen Zusammen¬ hänge der Landwirtschaft mit Abstand den ersten Platz einräu¬ men muß, ganz gleich, ob derzeit viele oder wenige in ihr tätig sind. Es ist eine unleugbare Tatsache, daß der Mensch, wenn es wirklich nicht anders geht, so gut wie ohne alle Errungen¬ schaften des industriellen Zeitalters bestehen kann. Das Indi¬ viduum aber ist noch nicht erfunden worden, das ohne Nah¬ rung zu leben vermag. Neben der Lebensmittelbeschaffung sind der Landwirtschaft insbesondere zwei Aufgaben gestellt: die Vorsorge für eventu¬ elle der Gemeinschaft drohende Gefahren und die Erhaltung der Umwelt. Beide sind die Vorbedingungen eines gesunden Gleichgewichtes. Das mangelnde Verständnis für diese Seite der Landwirtschaft unterscheidet diejenigen, die man als Schönwetter-Politiker bezeichnen kann, von den Realisten,

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die aus der Erfahrung der Menschheit heraus wissen, daß man Krieg und Krise ins Kalkül stellen muß. Die Richtigkeit oder Falschheit einer Politik erweist sich immer nur in Zeiten der Rückschläge. Eine gute Politik zu machen, wenn alles normal verläuft, ist keine Kunst. In unseren Tagen war ein typischer Ausdruck der Schönwet¬ ter-Politik die Linie, die seinerzeit ein Mitglied der Europäi¬ schen Kommission, der niederländische Sozialist Sicco Mans¬ holt, gegenüber den Bauern verfolgen wollte. Als Schreib¬ tischbauer, der seine wichtigsten Erkenntnisse als Leiter einer großen Teeplantage in Indonesien gewann, legte Mansholt der Landwirtschaft den Maßstab des Buchhalters an. Dieser hat bloß mit Zahlen zu tun und besitzt nicht die Möglichkeit, das, was wichtig, aber nicht meßbar ist, in die Bilanz einzusetzen. Mansholt fehlte offensichtlich der Blick für die vielen nicht sta¬ tistisch erfaßbaren Vorteile einer bäuerlichen Ordnung wie Si¬ cherheit oder Schutz der Umwelt. Seine Berechnungen wur¬ den in der Erwartung gemacht, daß alles immer gut gehen wird. Mansholt hat demnach den wirklichen Sinn der Agrar¬ politik außer acht gelassen zugunsten der reinen Optimierung des Ertrages - eine Einstellung, die zu den Grundsätzen einer gesunden Agrarpolitik in Widerspruch steht. Daher seine Plä¬ ne für standardisierte Größenordnungen der bäuerlichen oder angeblich bäuerlichen Wirtschaften, die das praktische Ende des Familienbetriebes bedeutet hätten und die Notwendigkeit mißachteten, im überschaubaren Raum wenigstens das Le¬ bensminimum für diejenigen zu produzieren, die keine land¬ wirtschaftliche Tätigkeit ausüben. Für ihn und vielleicht noch mehr für seine Schüler in der heutigen EG-Bürokratie ist der Agrarsektor irgendein Teil der gesamten Wirtschaft, der nach rein technokratischen Gesichtspunkten gelenkt wercffen soll. Geblendet vom Beispiel der Vereinigten Staaten und ohne Rücksicht auf die gänzlich anderen Umstände, haben die gro¬ ßen und kleinen Mansholts bei uns in Europa versucht, aus der Landwirtschaft ein Anhängsel der Industrie zu machen. Sie

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haben dabei vergessen, daß sich die Natur nicht in eine Zwangsjacke stecken läßt. Für uns dient Landwirtschaftspolitik an allererster Stelle jenen rund 85 Prozent der Europäer, die in Städten und industriellen Ballungszentren leben. Für sie erhält der Bauer die Umwelt, für sie produziert er die Lebensmittel, die die Städter vor einer risikoreichen Zukunft bewahren. Bis heute ist es noch nicht recht gelungen, die urbane Gesellschaft von dieser Wahrheit zu überzeugen. Es ist das nicht zuletzt ein Fehler der bäuerli¬ chen Politik. Man hat sich nur zu oft gegenseitig auf dem Lan¬ de überzeugt, anstatt die Argumente dort zu verkünden, wo sie am meisten bekannt werden sollten - auf dem Asphalt. Damit sie dieser Funktion der Lebenssicherung der Städte ge¬ nügen kann, müssen wir die Landwirtschaft in einem entspre¬ chend leistungsfähigen Zustand erhalten. Das wieder hängt von zwei wesentlichen Voraussetzungen ab: Bäuerliche Arbeit soll sich lohnen; es muß auf dem Lande ein Lebensstandard gewährleistet sein, der es auch den Jungen erlaubt, dort zu bleiben. Der bäuerliche Familienbetrieb hat weiterhin die strukturelle Grundlage zu sein. Denn es ist eine alte Erfah¬ rung, daß in Zeiten von Krieg und Krise die Großbetriebe weitaus gefährdeter sind als die Kleinen. Letztere sind daher die einzig sichere Quelle der Ernährung für die Städte. Viele nehmen heute an, eine Diskussion über die Möglichkeit eines Lebensmittelmangels bei uns in Europa sei angesichts der Überschüsse an Agrarprodukten abwegig. Eine sachliche Betrachtung der Welt zeigt, daß dem nicht so ist. Man muß nämlich angesichts der gegenwärtigen Entwicklung durchaus mit der Möglichkeit, ja sogar der Wahrscheinlichkeit rechnen, daß das, was wir 1973 auf dem Gebiete der Energie erlebt ha¬ ben, bald auch bei der Ernährung eintreten kann: ein schwerer Schock. Das seinerzeit hochgejubelte Wunder der »grünen Revolution« zeigt beängstigende Zeichen der Erschöpfung, sogar einer rückläufigen Entwicklung. Noch mehr fällt aller¬ dings die Tatsache ins Gewicht, daß aus politischen Gründen

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die Lebensmittelproduktion in der Welt mit der zunehmenden Bevölkerung nicht Schritt hält. Ursache dafür ist an erster Stelle, daß der Kommunismus, der in der Zeit vor dem Zwei¬ ten Weltkrieg nur sechs Prozent der Menschheit beherrschte, nunmehr seinen Einfluß auf 35 Prozent ausgedehnt hat. Dar¬ unter befinden sich einst so reiche Gebiete wie die Staaten des östlichen Mitteleuropa, Rußland und weite Regionen in Asien. Ein bis zum Überdruß bewiesenes Gesetz der Natio¬ nalökonomie sagt: Wo der Marxismus in die Wirtschaft ein¬ dringt, hört die Produktivität auf und fängt das Elend an. Rußland, das zu Beginn unseres Jahrhunderts, als es dort noch individuelle Bauern gab, das erste Agrarland der Welt war, ist auch heute noch an führender Stelle - allerdings als Lebens¬ mittelimporteur. Ein Staat, in dem nahezu fünfzig Prozent der Bevölkerung auf dem Lande lebt und arbeitet, ist nicht mehr fähig, die Einwohner der Städte und industriellen Ballungs¬ zentren zu ernähren. In Schwarzafrika wiederum hat das staat¬ liche Chaos bewirkt, daß die Lebensmittelproduktion in den zwanzig Jahren nach 1965 um fast 30 Prozent zurückgegangen ist und der Verfall nunmehr bei zwei Prozent jährlich liegt. Daß dies nicht auf Naturkatastrophen zurückzuführen ist, son¬ dern auf die Politik, beweist die Tatsache, daß in der gleichen Zeit die Lebensmittelerzeugung der Republik Südafrika um 54 Prozent zugenommen hat, was es diesem vielgeschmähten Land erlaubte, seine Nachbarn zu ernähren. Dadurch sind im Rest des südlichen Afrika menschenvernichtende Hungersnö¬ te verhindert worden. Ähnliche Beispiele gibt es auch aus an¬ deren Teilen der Erde, insbesondere aus Südamerika. All dies führt zu der Erkenntnis, daß eines der wesentlichsten Ziele einer vorausschauenden Politik in Europa sein muß, aus dem eigenen Boden den Grundbedarf an Nahrungsmitteln zu erwirtschaften. Dies bis zu 92 Prozent erreicht zu haben, ist ei¬ ne der bedeutendsten Leistungen der Europäischen Gemein¬ schaft. Es bleibt ein großer Erfolg, daß Europa, welches an landwirtschaftlicher Bonität einer der ärmsten Kontinente der

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Erde ist, heute dem nahenden Lebensmittelschock weit gelas¬ sener entgegensehen kann als viele Regionen, in denen der Boden zwar besser, die Bedingungen der landwirtschaftlichen Arbeit aber wesentlich schlechter sind als bei uns. Natürlich bringt der Grüne Markt der Europäischen Gemein¬ schaften seine Probleme mit sich. Allerdings sind es in der Re¬ gel nicht diejenigen, die in den Medien in den Vordergrund gestellt werden. Man spricht viel von den gewaltigen Kosten der europäischen Agrarpolitik. Das ist nicht ganz richtig. Wür¬ de man heute den Grünen Markt auflösen und seine Aufgaben auf die einzelnen Staaten verteilen, dürften die Ausgaben be¬ reits im ersten Jahr um ein Drittel ansteigen. Daß im EGHaushalt die Agrarpolitik eine überdimensionale Bedeutung hat, ist nicht nur auf eine falsche Methodik der Buchführung zurückzuführen, sondern auch auf die Tatsache, daß in der Gemeinschaft derzeit nur die Landwirtschaft restlos integriert ist. Wäre die Industrie bereits genauso fortgeschritten, würde der Haushalt der Gemeinschaft wesentlich anders aussehen. Sicher ließe sich noch viel an den Gemeinschaftsstrukturen verbessern. Alles Menschliche ist unvollkommen. Man müßte gewiß mehr leisten, um den Hunger in der Welt zu bekämp¬ fen, wobei der Gedanke, man könne durch mehr Geld oder mehr Lebensmittellieferungen die Not auf Dauer beseitigen, abwegig ist. Eine organische Lösung, die es vermeidet, aus ei¬ ner Reihe von Völkern berufsmäßige Sozialhilfeempfänger zu machen, kann nur gefunden werden, wenn wir unsere gesam¬ ten Entwicklungsprogramme neu überdenken. Man muß an¬ dere Prioritäten als bisher setzen, insbesondere der landwirt¬ schaftlichen Produktivität - etwa in Afrika - den ersten Platz einräumen. Das Ziel der Entwicklungshilfe muß es sein, selbst überflüssig zu werden, das heißt den anderen beizustehen in dem Bestreben, sich selbst zu helfen. Daß dies bisher nicht er¬ reicht wurde, weil die Entwicklungspolitik schlecht durchdacht war, beweisen die Zahlen. Seit Beginn der Entwicklungshilfe haben die industrialisierten Staaten bereits über hundert Mil-

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liarden Dollar in die armen Länder geschickt. Wenn man das mit den 16 Milliarden Dollar der Marshallhilfe vergleicht, mit denen Europa aus den Ruinen des Zweiten Weltkrieges aufge¬ baut wurde, sieht man, welche gigantischen Fehlinvestitionen getätigt wurden. Ein schwieriges Problem wird nie durch einen größeren Scheck, wohl aber durch ein besseres Konzept ge¬ löst. Man sollte sich daran erinnern, daß vor fünfzig Jahren Hitler vom deutschen Volk als einem »Volk ohne Raum« sprach, das sich nicht selbst ernähren könne und daher Ostgebiete erobern müsse, um genügend Anbaufläche zu haben. Durch den Krieg wurde Deutschland um die Hälfte verkleinert, ihm seine be¬ sten Böden genommen. Seine Bevölkerungsdichte vermehrte sich durch Millionen von Heimatvertriebenen. Trotzdem ist es dank unserer europäischen Agrarpolitik gelungen, aus Deutschland ein Überschußland zu machen. Wenn wir demgegenüber die kommunistischen Staaten be¬ trachten, so müssen wir feststellen, daß dort genau die umge¬ kehrte Entwicklung stattgefunden hat. Hier führte die Poütik zum Ruin der Landwirtschaft. Marxismus fußt auf dem Ge¬ danken, daß die Bürokratie allwissend ist. Dazu leidet er an inneren Widersprüchen, weil er die tiefsten menschlichen Ele¬ mente in der Wirtschaft außer acht läßt und ein theoretisches Menschenbild geschaffen hat, das den Tatsachen nicht ent¬ spricht. Er kann daher nicht anders, als ständig Zwang auszu¬ üben, dem wiederum seine Untertanen mit stillem Widerstand begegnen. Die Bürokratie, die den Apparat lenkt, kann keine richtigen Beschlüsse fassen, weil sie sich an politischen Zielset¬ zungen orientieren muß und und in Wirtschaftsfragen zu wenig sachkundig ist. Das Ergebnis sind die ständigen inneren Span¬ nungen, die dazu führen, daß man in einem potentiell reichen Land nicht mehr fähig ist, den Grundbedarf an Nahrungsmit¬ teln zu produzieren. Die älteren Menschen meiner Generation können sich noch erinnern, welch wohlhabende Länder Polen und Rumänien im

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Europa vor dem Zweiten Weltkrieg waren. Wenn man heute das unbeschreibliche Elend in diesen beiden Staaten nach Jahrzehnten marxistischen »Aufbaues« betrachtet, muß man erkennen, daß die mangelnde Produktivität die logische Folge der politischen Strukturen ist. Andererseits ist eine ökonomi¬ sche Reform innerhalb des bestehenden Systems schon des¬ halb undenkbar, weil es noch niemals gelang, den wirtschaftli¬ chen Unterbau ohne tiefgreifende Auswirkungen auf den poli¬ tischen Überbau zu verändern. Nachdem aber die regierende »Nomenklatur« unter keinen Umständen eine Wandlung ihrer Machtstrukturen annehmen kann und will, ist es unmöglich, die Wirtschaft wie in demokratischen Staaten zu reformieren. Daher der zwangsläufige Verfall der Landwirtschaft in diesen Ländern. Wenn das kommunistische System bis zur gegenwärtigen Stunde noch nicht ganz zugrunde gegangen ist, so ist das vor allem darin begründet, daß die marktwirtschaftlich geord¬ neten Staaten immer wieder den Marxismus vor dem Zu¬ sammenbruch bewahrt haben. Das zeigen jene Milliarden, die der »Rat für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW)«, meist COMECON genannt, den westlichen Staaten schuldet, das zeigen die gewaltigen Lebensmittelimporte des Ostblocks. Die Stunde der Wahrheit naht in der Finanzpolitik wie in der Indu¬ strie und nicht zuletzt auf dem Gebiete der Landwirtschaft, weil die Überschüsse des Westens nicht unbeschränkt ver¬ mehrbar sind. Wenn einmal die zu erwartende weltweite Le¬ bensmittel-Krise eintritt, wird nicht zuletzt für die kommuni¬ stischen Staaten die Frage akut, ob sie mit ihrem gegenwärti¬ gen System fortfahren können. Daß dies eine gefährliche Stun¬ de für die Menschheit sein wird, ist klar. Als der große Chinese Mao Zedong seine Theorie der Gueril¬ lakriege entwickelte, stellte er die damals durchaus nicht selbstverständliche These auf, man könne einen Staat weit eher vom Lande als von den Städten aus erobern. Diese These stand in klarem Widerspruch zu allen offiziellen Lehren des

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marxistischen Lagers. Die Ereignisse haben gezeigt, daß Mao Zedong recht hatte. Genau das gleiche gilt auch für die Wirt¬ schaft. Wer nicht von der landwirtschaftlichen Produktivität, von der Erhaltung gesunder ländlicher Strukturen ausgeht, wird niemals dauernden Erfolg haben. Daß auf diesem Gebiet die europäischen Gemeinschaften trotz schlimmer strukturel¬ ler Mängel Bahnbrechendes geleistet haben, gibt dem Westen in der weltweiten Konkurrenz eine einmalige Chance. So gese¬ hen, hat sich der Grüne Markt mit all seinen Schwächen und Unzulänglichkeiten bewährt, obwohl er vielfach reformiert werden mußte und muß. Seine Grundsätze gelten langfristig auch für die Nicht-EG-Staaten. Die Priorität der Landwirt¬ schaft besteht im industriellen Zeitalter genauso wie eh und je. Die bäuerliche Landwirtschaft mit ihren kleinen und mittleren Betrieben ist trotz vieler Krisen nicht die Nachhut einer hinge¬ sunkenen Zeit, sondern die Vorhut der Zukunft. Wenn man von der europäischen Integration spricht, darf man auch deren große Gefahren nicht aus dem Auge verlieren. Freiheit wird in der Wirtschaft und Landwirtschaft, aber auch in der Politik durch die kleinen, überschaubaren Einheiten er¬ halten. Das Subsidiaritätsprinzip, wonach die größere Einheit niemals Aufgaben übernehmen darf, die die kleinere zufrie¬ denstellend lösen kann, ist heute aktueller denn je. Es müßte zu denken geben, daß in der Regel unsere Gemeinden kaum durch das Unbehagen an der Demokratie betroffen sind. Das ist verständlich, denn der Bürgermeister muß vor seiner eige¬ nen Haustür, vor seinen Nachbarn für seine Entscheidungen geradestehen. Je weiter der Sitz der Macht von den Bürgern entfernt ist, desto weniger werden deren Rechte geachtet. Das gilt schon bei unseren Staaten, um wieviel mehr für Europa. Dieses kann demnach als vereinigtes Staatswesen n\ir dann segensreich wirken, wenn die Integration mit einer konse¬ quenten Dezentralisation Hand in Hand geht. Rechte in den politischen Gemeinschaften kommen niemals von oben, sie werden von unten abgetreten. Die ersten Rechtsträger sind

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der einzelne und die Familie. Dann folgen Gemeinden, Län¬ der, Regionen und Staaten. Nur was diese nicht leisten kön¬ nen, sollte von Europa übernommen werden. Das allerdings ist leichter gesagt als getan: Dezentralisieren ist weit schwieriger als Zentralisieren, weil der Mensch von Natur aus bestrebt ist, seine Machtsphäre auszudehnen. Nur in den seltensten Fällen ist er bereit, die Macht an andere abzutreten. Das gleiche gilt übrigens für die Gesetzgebung. Wie viele Poli¬ tiker rühmen sich der Zahl an Gesetzen, die sie eingebracht haben, obwohl die meisten die Freiheit einschränken. Wirklich groß wären jene, die versuchen würden, Gesetze abzuschaffen und dem Bürger Fesseln abzunehmen. Die Eindämmung der Bürokratie im Staat und erst recht in der Wirtschaft ist so gesehen das Gebot der Stunde.



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Seele des Reiches

Die fehlende Idee

Europa, das heißt jener Kern, den die Staaten der Europäi¬ schen Gemeinschaft bilden, wurde durch den Beitritt Spaniens und Portugals zur ersten Wirtschaftsmacht auf Erden. Was das bedeutet, ist auch den meisten Politikern bislang nicht klar ge¬ worden. Die Völker Ost- und Ostmitteleuropas wie die Men¬ schen auf den anderen Kontinenten erwarten heute etwas von uns, das die EG trotz ihres Potentials offensichtlich noch nicht leisten kann. Das glaubt uns aber niemand wegen des großen Schattens, den wir werfen. Während die meisten Westeuro¬ päer geistig noch immer an den Spätschäden der Dekoloni¬ sierung leiden, erhofft die Welt von ihnen, daß sie zunehmend eine Führungsrolle spielen. Wenn die Wirklichkeit anders ist, so nicht, weil uns die Mittel fehlen. Zugegeben, die meisten Minister, die heute an wichti¬ ger Stelle stehen, sind nicht auf der Höhe ihrer Aufgabe. Das ist aber auch anderswo der Fall. Unser größtes Element der Schwäche ist derzeit der Mangel an Willen. Ohne einen sol¬ chen aber gibt es keine Politik. Diese lenkt man oder man er¬ leidet sie. Materielle Mittel können Entschlossenheit nicht er¬ setzen, wohl aber umgekehrt. In der Anfangszeit der europäi¬ schen Integration besaß ein kleines Land wie Luxemburg überdurchschnittlich viel Einfluß. Der Grund war die Persön¬ lichkeit eines einzigen Mannes, nämlich Josef Bech, der mit Intelligenz und Freundlichkeit, aber auch mit eisernem Willen die Ideen seines Volkes in der übernationalen Gemeinschaft zum Tragen brachte. Daß er außerdem noch über die innere Größe verfügte, auf äußere Anerkennung zu verzichten und deshalb, außer in Historikerkreisen, weitgehend unbekannt blieb, rundet nur das Bild ab. Entschlossenheit allein kann schon stark machen. Trifft sie auf wirtschaftliche Kräfte, wie sie unser Kontinent entwickelt, bie¬ tet das einzigartige Chancen. Diese werden nicht ergriffen, ob-

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wohl wir noch in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts Kraft und Vitalität ausstrahlten. Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg lieferten die Europäer unglaubliche Beispiele von Heroismus, wobei dieser leider dazu diente, den Kontinent insgesamt zu schwächen. Unsere Völker haben die Kriege des zwanzigsten Jahrhunderts gemeinsam verloren, gleich ob sie formell Sieger oder Besiegte waren. Gewiß hat sich Deutschland im Ersten Weltkrieg nicht durch¬ setzen können und wurde nach dem Zweiten grausam ver¬ stümmelt. Die größten Verluste in den beiden europäischen Bürgerkriegen erlitten jedoch die Briten und Franzosen, die auf dem Papier zu den Gewinnern zählten. Wer noch die Grö¬ ße des britischen »Empire« beziehungsweise der »Communaute Frangaise« erlebt hat und weiß, was heute daraus geworden ist, kann das volle Maß der Katastrophe verstehen, die beide Staaten getroffen hat. Sie sind wirklich vom Gipfel der Welt¬ macht auf das Niveau von Mittelstaaten abgesunken. Dieses Trauma wirkte sich in der französischen »Vierten Republik« aus. Doch die Franzosen hatten das einmalige historische Glück, in einer der schwärzesten Stunden ihrer Geschichte ei¬ nen außergewöhnlichen Staatsmann an der Spitze zu haben, General de Gaulle, der den weltpolitischen Niedergang und seine Folgen in einen moralischen Wiederaufstieg umwandel¬ te. Großbritannien erlebte erst mit Margaret Thatcher ähnli¬ ches. Es bleibt aber bei der Tatsache, daß Deutsche, Briten und Franzosen, die drei großen Nationen Westeuropas, die seelischen Auswirkungen der Zusammenbrüche unseres Jahr¬ hunderts noch nicht gänzlich verarbeitet haben. Das läßt sich mit anderen Beispielen der Geschichte verglei¬ chen. Die Entwicklung Österreichs in der ersten Republik ist dafür bezeichnend. Was 1918 vom Donaureich übfig blieb, hatte keinerlei Überlebenswillen, war also nicht existenzfähig. Das Gebrechen war zwar nicht tödlich, aber der Patient wollte sterben. Daraus erklärt sich die Anschlußbewegung in der er¬ sten Republik ebenso wie die Anziehungskraft, die der ver-

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meintliche Wunderheiler Hitler auf viele Österreicher ausüb¬ te. Durch den Zweiten Weltkrieg trat dann genau die entge¬ gengesetzte Reaktion ein. Man zog einen Schlußstrich unter die Vergangenheit, weil Österreich 1945 zumindest halbwegs ungeschoren davonkam, wenn auch der sogenannte Staatsver¬ trag zahllose Ungerechtigkeiten gegen das österreichische Volk beinhaltet. Heute stellt niemand mehr Österreich in Frage,

von

wenigen

unverbesserlichen

Sektierern

abge¬

sehen. Eine ähnliche Entwicklung hat in Großbritannien und Frankreich zwar eingesetzt, ist aber noch nicht abge¬ schlossen. Ein Sonderfall ist Deutschland. Hier gab es nicht nur das Trau¬ ma der Niederlage in zwei Weltkriegen. Nicht minder zerstö¬ rend war die »Re-education« oder »Umerziehung«, die im Geiste des Morgenthauplanes von linksliberalen Kreisen in den USA in die Wege geleitet wurde. Dessen politische und wirtschaftliche Aspekte wurden zwar nie verwirklicht, da Wa¬ shington zur Einsicht gelangte, daß ein Volk unmündiger Hir¬ ten im Herzen Europas ein strategisches Unding sei. Geistig¬ psychologisch ging man allerdings den falschen Weg weiter, und die Wende kam viel zu spät. Als ich während des Krieges in Washington mit Henry Morgenthau jun. über die künftige Deutschland-Politik diskutier¬ te, stellte dieser die eigenartige Behauptung auf, daß man die Geschichte ausmerzen müsse, um ein guter Demokrat zu wer¬ den. Es gelte, den Deutschen jedes historische Bewußtsein zu nehmen. Auf meine Entgegnung, daß gerade die Amerikaner sich doch sehr um ihre eigene Vergangenheit bemühten, wie man es aus den unzähligen Tafeln an den Straßen des Landes ersehen kann, kam die erstaunliche Antwort: »Es gibt eben Geschichte und Geschichte. Die eine, auf die darf man stolz sein, die andere sollte verdrängt werden.« Meine These, daß Verdrängung von Tatsachen nur dazu füh¬ re, daß man eines Tages von diesen überfahren werde, tat Morgenthau mit einem Achselzucken ab. Diese Unterredung

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fand lange vor der offiziellen Ausformulierung seines Planes statt. Allerdings muß ein Umstand gesehen werden, der die Schuld der Amerikaner mindern könnte: die Tatsache, daß die Morgenthaus in Deutschland viele begeisterte Mitarbeiter fanden. Re-education war in breiten Kreisen, nicht nur der Linken, geradezu eine Existenzgrundlage geworden. Hierzu gibt es hervorragende Untersuchungen des Schriftstellers Caspar von Schrenck-Notzing. Hitler mußte auf Biegen oder Brechen zum zwangsläufigen Gipfelpunkt der Deutschen Geschichte erklärt werden, weshalb diese ganz auszulöschen war, wollte man wirklich neu beginnen. Das führt uns den bedeutenden Unterschied zwischen den bei¬ den Objekten amerikanischer Umerziehung vor Augen: Japan und Deutschland. General Mac Arthur, der im fernen Osten wie ein Vizekönig regierte, war sicher vernünftiger als Roosevelts Finanzminister Morgenthau. Trotzdem geschah auch auf der ostasiatischen Insel allerhand Negatives. Es wirkte sich aber nicht so stark aus, weil sich die Japaner weigerten, ihre Tradition zu verleugnen und den Boden zu verlassen, auf dem sie nun einmal stehen müssen, wollen sie nicht hilflos von den Zeitströmungen umhergetrieben werden. Gewisse deutsche Bundesländer wie Hessen waren hingegen entschlossen, den Geschichtsunterricht einzudämmen oder ganz abzuschaffen. Das Ergebnis ist das, was ein englischer Politiker den »Morbus germanicum europae« nannte. Damit wird ein mangelndes Nationalbewußtsein in Deutschland, der Ausstieg aus der eigenen großen Geschichte, umschrieben. Die sich daraus ergebenden Minderwertigkeitskomplexe bela¬ sten die Bundesrepublik Deutschland schwerstens. Opfer des¬ sen ist vor allem die junge Generation. Diese ist keineswegs schuldig, aber man hat ihr das wesentlichste Lenkungsinstru¬ ment der Politik vorenthalten, weshalb es keineswegs erstaun¬ lich ist, daß sie teilweise abwegigen Auffassungen nachhängt. Wenn sich all das auf den ganzen Erdteil auswirkt, weil er

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nicht gesünder sein kann als seine wichtigsten Staaten, so ge¬ nügt das dennoch nicht, um die Schwäche Europas zu erklä¬ ren. Alle historischen Rückschläge, Niederlagen und auch die Umerziehung könnten im Zeichen einer stärkeren Idee über¬ wunden werden. Existiert diese im Zusammenhang mit dem Konzept eines europäischen Zusammenschlusses, der schon deshalb notwendig ist, weil Leerräume den Sturm anziehen? Das kleine Rom setzte sich gegen die Großen seiner Zeit durch, nicht zuletzt gegen den wirtschaftlichen Riesen Kartha¬ go, weil es von der Vorstellung eines »Imperium Romanum« als Weltordnung beseelt war. Die Impulse des Propheten Mo¬ hammed wiederum genügten, um in kurzer Zeit und mit primi¬ tivsten Mitteln eine gewaltige Macht zu begründen. Das Werk Karls des Großen wäre ohne den christlichen Glauben un¬ denkbar gewesen. Die schon geschilderte Entstehung der USA aus dem Alten Testament findet ihre Entsprechung in der Sowjetunion. Die Kombination des Byzantinischen Erbes mit der weltrevolutionären Ideologie Lenins hat der Sowjet¬ union jenen Schwung geschenkt, der erst jetzt langsam zu schwinden beginnt. Ein großer Mann wie Napoleon hat dies übrigens längst vor¬ hergesehen. Seine Gespräche auf St. Helena, die seine Sorgen über die Zukunft Rußlands widerspiegeln, zeigen, daß er be¬ reits diese eigenartige Kombination von Messianismus und So¬ zialrevolution als Bedrohung für das gesamte Abendland er¬ kannt hatte. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß Europa zu seiner Erneuerung eine starke geistige Kraft braucht, eine tragende Idee. Fehlt sie uns?

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Restauration und Geist

Konservative, also Menschen, die nicht auf die Ideologien der Französischen Revolution eingeschworen sind, müssen es sich immer wieder gefallen lassen, als restaurativ und reaktionär verleumdet zu werden. Solche An würfe sind grotesk. Ein Konservativer lebt aus seiner religiösen Überzeugung und der Erfahrung der Geschichte. Schon deshalb weiß er, daß alles Irdische vergänglich ist. So kommt er gar nicht darauf, sich wie der Materialist an veraltete Formen zu klammern. Die Restauration von Äußerlichkeiten ist noch niemals ge¬ glückt. Nicht auf diese kommt es an, sondern auf die dauernd gültigen Werte. Sie verbinden die Generationenkette der Ver¬ storbenen, der Lebenden und der Ungeborenen. Die Anhän¬ ger der Reichsidee wollen keineswegs zurück in die Zeit vor 1806, selbst wenn sie das könnten. Sie versuchen lediglich, den Schatz einer reichen Überlieferung zu mehren und weiterzuge¬ ben, um so zu rechtfertigen, daß dieses wertvolle Erbe auf sie überkommen ist. Das Reich Gottes ist nicht von dieser Welt. Keine noch so voll¬ kommen durchdachte politische Ordnung kann es ins Diesseits herüberholen; sie sollte aber danach streben, möglichst viel davon widerzuspiegeln. Das ist bei den gegenwärtigen Zu¬ ständen meist nicht der Fall. Der geistige, religiöse und mora¬ lische Fortschritt hat mit dem materiellen Höhenflug nicht Schritt gehalten. Jede Enträtselung der Natur schenkt dem Menschen einen weiteren Teil von Gottes Allmacht, allerdings nur im Negativen. Er kann zwar nichts erschaffen, aber seine Welt vernichten. Ein solches Potential ist jedoch nur zu ver¬ kraften, wenn man innerlich im Glauben und in der Tradition verankert ist. Das gilt besonders für den politisch Handelnden. Wer jemals die Gelegenheit hatte, im öffentlichen Leben zu stehen, weiß, daß Macht für denjenigen, der sie besitzt, zerstö¬ rend sein kann. Sie gibt vielen Menschen das Gefühl der Un-

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beschränktheit, erzeugt in ihnen die Wahnidee, wie der Über¬ mensch Nietzsches jenseits von Gut und Böse zu sein. Wenn die Reichsidee dazu dient, diese Versuchung zu bändigen, er¬ füllt sich ihre Mission, die auch heute weuerbesteht. Wer das als restaurativ abkanzelt, hilft dadurch der menschlichen Will¬ kür Tür und Tor zu öffnen. Die Gestalt des Reiches war immer wieder Wandlungen unter¬ worfen. Nicht so seine Seele, um die die verschiedensten Mächte ringen.

Ist Sozialismus reaktionär?

Die Menschen hegen zutiefst zwei Hauptwünsche: Glück und Unsterblichkeit. Die großen Bewegungen des Geistes wie die Religionsstiftungen geben Antwort auf diese letzte Sehnsucht. Damit hängt der Begriff des Paradieses zusammen, in dem jenseits der Schmerzen, Leiden und Rückschläge dieser Welt, die Person ihre Erfüllung findet. Das beinhaltet die Botschaft aller fünf großen Religionsgrün¬ der der Geschichte, auch die des jüngsten in dieser Reihe, Karl Marx. Allerdings gibt es zwischen dem Erlöser wie den Propheten einerseits und dem Mann des neunzehnten Jahr¬ hunderts

andererseits

einen

grundlegenden

Unterschied:

Während das Paradies der echten Glaubensväter, ob es nun Nirwana oder Himmel heißt, jenseits der Reichweite der Sterblichen liegt, hat der Vertreter des Materialismus sein Land der Seligen auf unserer Erde in Aussicht gestellt. Ihm schien es geboten, eine diesseitige Utopie zu schaffen, die bei den älteren, wirklichkeitsnäheren Religionsstiftem keineswegs notwendig war. Auch sonst kann man einen großen Unter¬ schied zwischen Marx und den eigentlichen Religionsgründem erkennen: Letztere haben mit ihrem Leben Zeugnis für ihre Lehre abgelegt. Sie waren Helden mit einer im höchsten Sinne des Wortes würdigen, aber auch tragischen Laufbahn auf Er¬ den. Generationen gaben sie ein Beispiel. Anders Karl Marx. Bei ihm kann man nicht von einem erbaulichen Vorbild spre¬ chen, sondern von einem abscheulichen, spießerischen Da¬ sein, geprägt von menschlicher Kleinheit bis hin zu zweifelhaf¬ ter Redlichkeit. Das nimmt ihm übrigens nichts von seiner Genialität. So merkwürdig es im Lichte des Triumphzyges des Marxismus klingen mag: dessen Erfinder war ein durchaus un¬ glücklicher, gescheiterter Mensch. Zu alledem kommt eine besondere Tragödie, die der bärtige Ideologe aus Trier allerdings nicht mehr erlebt hat. Marx, der

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hart arbeitete und viel schrieb, erstellte zahlreiche nachweis¬ lich falsche Analysen. Daneben gab es grandiose Ausblicke, die man als Prophezeiungen bezeichnen könnte. So war er je¬ ner Autor, der mit Abstand am klarsten vorhersagte, wie sich das Moskauer Imperium dereinst entwickeln würde. Seine Ar¬ tikel, die er für die amerikanische Presse über Rußland verfa߬ te, sind eine hellsichtige Warnung. Anders sein wirtschaftlich¬ sozialpolitisches Hauptwerk, mit dem er den Marxismus schuf. Darin ging er von seiner Zeit aus, um eine Projektion auf die Zukunft vorzunehmen. Die Gegenwart zeigt, wie beeindrukkend falsch seine Prognosen waren. Sie fußten auf einer Reali¬ tät, deren Entwicklung aber dank der Technologie und des Systems der Sozialen Marktwirtschaft in eine vollkommen an¬ dere Richtung ging, als Marx geglaubt hatte. Das Furchtbare für den Trierer ist, daß man sich seiner heute fast nur mehr we¬ gen jener Irrtümer erinnert. Seine richtigen Vorhersagen sind in Vergessenheit geraten. Die diesseitige Mythologie des Marxismus, aufbauend auf dem Materialismus des neunzehnten Jahrhunderts, weist eigenarti¬ ge Parallelen mit den Kirchen des Alten und Neuen Testamen¬ tes auf. Marx hat, vielleicht unbewußt, eine Gegenreligion, eine Gegenkirche geschaffen, in der der Begriff des Glücks kollektiv verstanden, die Heilslehre durch den Klassenkampf und die Unsterblichkeit durch die Utopie der klassenlosen Ge¬ sellschaft ersetzt wurde. Anstelle Gottes ist in der Kirche des Karl Marx der dialektische Materialismus getreten. Hier wird die Wissenschaft zur Glaubenslehre erhoben und damit ein Determinismus geschaffen, der dem Einzelnen ein Gefühl der Geborgenheit geben soll. Für Marx gilt, was Ernst Jünger gesagt hat: Dämonen bewoh¬ nen die verlassenen Altäre. Marx kam in eine Zeit, in der die transzendenten Religionen geschwächt waren. Er hat diesem Zustand Ausdruck verliehen. Seine philosophischen Überle¬ gungen entsprechen daher genau seinen ökonomischen Analy¬ sen. Beide sind einer kurzfristigen geistesgeschichtlichen Si-

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tuation verhaftet. Trotzdem hat sich seine Lehre - nach dem Prinzip des sinkenden Kulturgutes - in dem Augenblick am breitesten ausgewirkt, in welchem sie bereits überholt war. Daher die Tragik einer Figur, die man, ohne es im apokalypti¬ schen Sinn zu verstehen, als den Antichrist des neunzehnten Jahrhunderts bezeichnen kann. Das Erfolgsgeheimnis der Anhänger des Karl Marx war, daß es ihnen gelang, das Wort Sozialismus, den Ausdruck für die Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft, mit Beschlag zu belegen und so ein gedankliches Monopol zu schaffen. Damit entstand ein populärer Begriff, der dem authentischen Inhalt nicht entspricht. Das erklärt, warum die marxistischen Systeme stets an dem Auseinanderklaffen zwi¬ schen Theorie und Praxis leiden und diesem nur dadurch ent¬ gehen, daß sie ihr Versagen jeweils auf meist verstorbene Per¬ sonen abschieben. Es kommt nicht von ungefähr, daß ein Be¬ griff wie »Destalinisierung« im sozialistischen Raum entstan¬ den ist. Daher auch die dauernden Säuberungen und Hexen¬ jagden des realen Sozialismus. Der Mensch besteht aus Leib und Seele. Betrachtet ihn eine politische Ordnung nur als Teil der Materie, als ein seelenloses Geschöpf, wird sie unmenschlich. Jeder Totalitarismus trifft auf zwei Kräfte, an denen er langfristig scheitern muß: den Tod und die Liebe. So verdrängen die marxistischen Regime, obwohl sie mörderisch sind, den Begriff des Todes und ma¬ chen eine der Liebe feindliche Politik. Die Anwendung des Marxismus ist naturwidrig. Will man ei¬ nen »neuen Menschen« schaffen, muß man ständigen Druck ausüben. Daher der Zwang im Sozialismus, mit extremen Mit¬ teln eine rein äußerliche Fiktion zu schaffen. Zwar wird dann das Wort beibehalten, man gibt ihm aber eine andere Sub¬ stanz, um es als Instrument der Machtausübung mißbrauchen zu können. Dies erklärt die Spannung im sozialistisch-marxi¬ stischen Bereich: Auf der einen Seite steht die Diktatur des Kommunismus, also das einzig konsequent totalitäre System,

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auf der anderen jene Sozialdemokratie, die sich auf einer gefährlichen Gratwanderung zwischen Realismus und der Weiterentwicklung des Wohlfahrtsstaates in die Unfreiheit befindet. Wir haben daher heute im Sozialismus zwei Modelle, die wohl theoretisch Zusammenhängen, aber daraus zu verschiedenen Folgerungen gelangen. Allerdings enden beide auf verschiede¬ nen Wegen in der Herrschaft der Bürokratie. Man darf die Bedeutung eines Wucherns des Staates in unse¬ rer Zeit nicht unterschätzen. Es entstehen Strukturen, die den negativen Auswüchsen des Feudalismus ähneln. Die Verwal¬ tung ist häufig nur noch Selbstzweck und wird es immer mehr, je weiter man die Macht des Staates ausdehnt. Das gilt insbe¬ sondere für Maßnahmen, die unter sozialen Vorzeichen zu ei¬ ner totalen Bevormundung des Bürgers führen. Ein Beispiel sind die sogenannten Verstaatlichungen, also der Übergang, so behauptet man, der Produktionsmittel in die Hände der Allgemeinheit. In Wahrheit hat das damit nur mehr ganz we¬ nig, falls überhaupt etwas zu tun. Man geht zwar vom Begriff des Obereigentums des Staates aus, aber die »Nationalisierun¬ gen« sind nichts anderes als die Machtergreifung der Bürokra¬ tie in der Wirtschaft. Der marxistische Sozialismus steckt in einer schweren Krise. Auf der ganzen Linie widerlegt, überlebt er bloß als Instru¬ ment der Herrschaft der Funktionäre, als politisch-ideologi¬ scher Ausdruck der Bürokratie. Das zeigt, worum es wirklich geht. Die Zukunft hängt davon ab, ob es gelingt, die Schreib¬ tisch-Tyrannei zu brechen oder ob wir ein neues bürokrati¬ sches Feudalzeitalter ansteuern. Der Kampf ist durchaus noch unentschieden. Das gilt insbesondere für Rolle und Einfluß der »jungen«, meist diktatorischen, Staaten in der Welt. So ge¬ sehen war Willy Brandt richtig beraten, als er beschloß, das Schwergewicht der Sozialistischen Internationale weg von Europa in die Entwicklungsländer und in die internationalen Organisationen zu legen. Er oder vielmehr seine Vordenker

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haben erkannt, daß es in Europa infolge der freien Marktwirt¬ schaft keinen Klassenkampf mehr gibt, wodurch dieses we¬ sentliche Prärequisit der sozialistischen Agitation verschwun¬ den ist. Daher das Bestreben, mit Hilfe der internationalen Organisationen, einen weltweiten Klassenkampf zwischen Völkern und Rassen zu entfesseln, wie es die Krisen innerhalb der UNESCO und anderer Gliederungen der UNO zeigen. Das aber ist nicht mehr Marxismus, wie ihn sich sein Gründer vorgestellt hat, sondern typischer weltweiter Bürokratismus unter sozialistischer Flagge. Die große Schlacht findet nicht zwischen dem »Sozialismus« und dem freiheitlichen Konzept statt, es stehen sich Bürokratismus und Freiheit gegenüber. Die Entscheidung dürfte in nicht zu ferner Zukunft fallen. Sie wird vor allem davon bestimmt, ob es den freiheitlichen Kräf¬ ten endlich gelingt, ihre durch nichts berechtigte, lähmende Furcht vor dem, was sich Sozialismus nennt, zu überwinden, und sich genauso anzustrengen wie diejenigen, denen die reak¬ tionäre Ideologie des Karl Marx persönliche Macht und priva¬ te Privilegien bringt. Es geht also um den Mut zum Einsatz. Das stellt der bürgerlichen Gesellschaft und den bürgerlichen Menschen die Existenzfrage. Die Antwort darauf nimmt uns niemand ab.

Bedroht uns der Islam?

Im Zuge der Diskussion über die Gastarbeiter, die sich vor al¬ lem an den Türken in Deutschland sowie den Algeriern und Marokkanern in Frankreich entzündet hat, wird immer häufi¬ ger von Überfremdung und den Gefahren, die diese für die Zivilisation

bedeute,

gesprochen.

Es ist bemerkenswert,

dabei zu beobachten, daß ausgerechnet Personen, die im nor¬ malen Leben wenig innere Beziehung zur Religion haben, die Bedrohung des christlichen Europa durch den Islam beschwö¬ ren. Demnächst, so sagen sie, würde in manchen Teilen unse¬ res Kontinents die Zahl der Moscheen diejenige der christli¬ chen Kirchen übersteigen. Dazu kommt die Angst vor den Koranschulen, die man förmlich als Vorhut der wilden Horden des Ayatollahs sieht. Die weitverbreitete Furcht wird dadurch verstärkt, daß die meisten Menschen bezüglich des Islam nur sehr unklare Vorstellungen haben. Viele der Europäer, die sich überhaupt mit dem Problem befassen, setzen diesen Glau¬ ben mit dem Regime im Iran gleich. So betrachteten sie Khomeini, von dem sie vorher nichts wußten, nach seiner Macht¬ übernahme in Teheran als den Papst der Mohammedaner. In Wahrheit deckt der Begriff Islam ganz verschiedene Aussa¬ gen, wie das auch beim Christentum der Fall ist. Es gibt nicht nur die beiden großen Gemeinschaften der Sunniten und der Schiiten, von diesen leiten sich wiederum viele kleinere Sekten ab. Zwar berufen sich alle auf den Koran wie die Christen auf die Bibel, aber die Deutung der Schrift ist doch sehr unter¬ schiedlich. Das gilt insbesonders für den immer wieder beschworenen Ayatollah Khomeini. Dieser war stets eine Randfigur. Die Schiiten, die als eine Häresie des eigentlichen Islam gelten, der von den Sunniten getragen wird, sind stark messianisch einge¬ stellt. Sie warten auf die Ankunft des 12. Kalifen, dessen Auf¬ gabe es sein soll, den Islam zu einen, alle Religionen der

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Menschheit im Zeichen des Koran zusammenzufassen und eine irdische Gottesherrschaft zu errichten. Immer wieder kommt es bei den Schiiten zu Phasen, in denen sie die Ankunft des Ersehnten nahe glauben. Jedesmal gibt es dann Ausbrüche des wildesten Fanatismus, wie man sie seinerzeit beim Wüten der Assassinen-Sekte beobachten konnte. Historisch gesehen ist Khomeini also keine Einzelerscheinung. Er wird aber von der Mehrheit des Islam eindeutig und energisch abgelehnt. Er ist genauso wenig repräsentativ für seinen Glauben wie etwa Pastor Paisley oder Hitlers Reichsbischof Müller für die Chri¬ sten. Man darf annehmen, daß die meisten dieser Gestalten subjektiv ehrlich sind. Sie zeigen aber leider auch, daß ein Ausbruch des primitiven Fanatismus in allen Religionsgemein¬ schaften möglich ist. Wer die Geschichte des sunnitischen Islam verfolgt, wird fest¬ stellen, daß dieser in der Regel gegenüber anderen Konfessio¬ nen Toleranz übte. Ausdruck dessen waren zum Beispiel das »Königreich der drei Religionen« in Toledo oder etwa das Ka¬ lifat von Cordoba, in dem sich die besten theologischen Schu¬ len des Islam, des Judentums und der Christenheit friedlich nebeneinander entwickeln konnten. Unser verfälschtes Islambild stammt aus der Reconquista in Spanien und dem Krieg gegen die Türken im Donauraum. Es ist mit Recht festgestellt worden, daß Volkskriege deshalb so mörderisch sind, weil eines ihrer wesentlichsten Elemente die Propaganda ist. Ein Mann, der das Soldatenhandwerk frei ge¬ wählt hat, braucht nicht beeinflußt zu werden, um zu tun, was zu seinem Beruf gehört. Schickt man aber einen Zivilisten in die Schlacht, damit er einen anderen Menschen, den er nicht kennt, töte, muß man ihn stärkstens motivieren. Daher wird der Gegner als Ausbund allen Übels dargestellt. Bei 'hns zeigt sich das im Unterschied zwischen den Kabinettskriegen des achtzehnten Jahrhunderts und den sogenannten Volkskriegen des zwanzigsten. Der Kampf gegen den Islam gleicht letzteren. Die dabei geschaffene verzerrte Perspektive besteht auch heu-

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te noch weiter. Die Beschreibung der Lehre des Propheten in vielen unserer Bücher hat mit den Realitäten fast nichts zu tun. Die karikierende Darstellung ist Teil der allgemeinen Furcht vor den Mohammedanern. Dabei übersieht man, daß heute gänzlich andere Bedingungen wie seinerzeit bestehen. Auch in unseren Tagen gibt es Religionskriege. Diese spielen sich aber nicht mehr zwischen der einen und der anderen Konfession ab, sondern als geistige Auseinandersetzung zwischen dem Glau¬ ben an Gott und dem militanten Atheismus. Wie der Islam vor Jahrhunderten eine Gefährdung des Abendlandes war, so sind es heute der totalitär-materialistische Marxismus und, wenn auch in abgeschwächter Form, der Verrat des Westens an sei¬ ner geistigen Tradition. Gegenüber beidem sind all jene, die an einen Gott glauben, solidarisch. Der Koran hat viel christliche Substanz. Ein großer Kirchen¬ lehrer wie der selige Raimund Lull bezeichnete den Islam da¬ her bereits im 12. Jahrhundert als eine christliche Häresie. Daß er ein Seliger der Kirche wurde, ist Beweis genug, daß seine Auffassung keine Irrlehre ist. Man kann eine große Ge¬ meinsamkeit des kulturellen Erbes zwischen uns und den isla¬ mischen Völkern feststellen. Kutubia und Giralda gehören zu¬ sammen, wie Ibn Batuta und Magalhäes. Gewiß, es gibt auch gewaltige Unterschiede. In der heutigen Zeit ist aber das, was uns eint, viel wesentlicher als das Trennende. Das sollte man sich vor Augen halten, wenn immer wieder von einer Bedrohung der christlichen Zivilisation durch Mohammedaner gesprochen wird. Angesichts des totalitären und des schleichenden Materialismus ist der Islam unser natür¬ licher Verbündeter.

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Unsere jüdischen Wurzeln

Der jüdische Wissenschaftler und Schriftsteller Prof. Dr. Tho¬ mas Chaimowicz weist mit Recht darauf hin, daß die Krone des Heiligen Römischen Reiches neben dem Bildnis Christi auch diejenigen der Könige David und Salomon sowie des Propheten Jesaiah trägt. Wer das ehrwürdige Symbol in Wien besichtigt, erfährt so in augenfälliger Weise von den jüdischen Wurzeln des Abendlandes. Hätte das Judentum nichts anderes hervorgebracht, als das Alte Testament, müßten wir ihm schon größte Anerkennung zollen. Dieses Buch enthält nicht nur grundlegende göttliche Offenbarungen wie die Schöpfungsgeschichte, es ist zudem die erste Schule unseres Denkens und der Ausgangspunkt unserer Entwicklung. Die in ihm geschilderten historischen Gegeben¬ heiten fanden unweit des Mittelmeeres statt, das einst nicht den Rand, sondern die Drehscheibe der europäischen Staaten¬ welt bildete. Das Alte Testament kann somit als die maßgebli¬ che Chronik der europäischen Ursprünge gelten. Unser geisti¬ ges Profil ist Ausdruck des gemeinsamen christlich-jüdischen Erbes. Die in der Geschichte wiederholt aufgetretenen Mißverständ¬ nisse dürfen Christen und Juden nicht endgültig trennen. Ihre Zusammenarbeit könnte vielmehr zu einer Ausweitung des re¬ ligiösen Bewußtseins führen, da das Neue Testament, das die europäische Christenheit in erster Linie geprägt hat, ohne das Alte nicht denkbar wäre. Alles ist so eng miteinander verfloch¬ ten, daß es nicht gelingen will, eine klare Trennungslinie zwi¬ schen christlicher und jüdischer Überlieferung zu ziehen. Erstere hat letztere in sich aufgenommen, wenn schorf nicht im Wort, so doch zumindest im Geist. Ich habe schon in anderem Zusammenhang auf das Beispiel des toleranten Königreiches der drei Religionen von Toledo hingewiesen. Leider brachte die konfessionelle Spaltung die

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katholische Kirche dazu, ihre Stellung gegenüber den Prote¬ stanten nach und nach zu verhärten, und, in logischer Folge dessen, auch gegenüber dem muselmanischen wie dem hebräi¬ schen Glauben. Ohne die innere Krise der Christenheit wäre das Modell Toledo vielleicht erhalten geblieben, da es poli¬ tisch, künstlerisch und moralisch Einzigartiges hervorgebracht hat. Die hebräischen und muselmanischen Aspekte verbanden sich mit den katholischen sowohl in der bildenden Kunst - das zeigt eindrucksvoll die Kathedrale in der alten kastilischen Stadt - als auch in der Schriftstellerei. In Toledo herrschte zwischen den drei Gemeinschaften eine echte friedliche Ko¬ existenz. Gerade die Juden, denen die Greuelpropaganda in den verschiedensten Jahrhunderten unterstellte, Zwietracht zu säen, stellten einen wertvollen Integrationsfaktor dar. In zwei Jahrtausenden der Diaspora wurde vor allem der Teil der jüdischen Gemeinde immer wieder vor den Kopf gesto¬ ßen, der den Ausgleich wollte. Teils wurde er von den Chri¬ sten abgelehnt, teils von den eigenen Glaubensbrüdern, meist sogar von beiden gleichzeitig. Als Folge der Enttäuschungen, die sie schon sehr früh erleben mußten, zogen sich viele jüdi¬ sche Gemeinden völlig auf ihre eigenen Probleme zurück. Die Synagogen wurden ein abgeschlossener Kosmos, dessen Be¬ treten man dem »Goi« untersagte, weil gerade die »Goim« die Realität waren, gegen die sich die Gebetswelt aufrichtete. Die¬ se Tradition ist noch in unseren Tagen lebendig, bis nach Israel hin. Viele Juden mußten ihren unzerstörten Glauben eben un¬ ter schwersten Bedingungen bewahren. Die Christen ihrerseits kapselten die Juden ab. Man sah sie als finstere Elemente an, eingesperrt im Ghetto, denen man mi߬ traute. Gleichzeitig versuchte man, der Welt einzureden, daß ein Jude ohnehin niemals aus seinem Bezirk heraus wolle. Das entsprach freilich bloß insofern der Wahrheit, als den Juden, wenn sie sich außerhalb der Ghettomauern bewegten, viel¬ fache Gefahren drohten. Das Mittelalter und die frühe Neu¬ zeit kannten vorbildliche Schutzmaßnahmen der Kaiser und

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Könige ebenso wie Diskriminierungen und Pogrome, letztere vor allem im slawischen Osten. Die Judenemanzipation des 18. und 19. Jahrhunderts brachte zwar zunächst erhebliche Besserung, aber mit dem Erwachen des Nationalismus wurden die Verhältnisse wieder schlechter. Vielfach galten die Juden als national unzuverlässig, als hei¬ matlos im Sinne des »ewigen Juden«. Sie lebten verstreut zwi¬ schen Portugal und dem Ural. Welche Sprache sie auch immer annahmen, sie gaben ihr oftmals einen eigenen Klang. Das Jiddische war damals ihr Esperanto, weil es Jakob in Kiew ge¬ nauso verstand wie Salomon in Wien oder Ehe in Straßburg. Diejenigen, die so ungehindert über Grenzen hinweg mitein¬ ander redeten, wie Juden oder Aristokraten, übernationale Elemente also, erregten bald zweifach Ärgernis: dadurch, daß sie anders waren oder wirkten als ihre Mitbürger und dadurch, daß sie ihre Sprache mit Angehörigen vieler anderer Länder teilten. In einer Epoche, in der nationaler Zentralismus, Gleichmacherei und die zwangsweise Assimilierung von Min¬ derheiten zu Hauptanliegen der Innenpolitik wurden, genügte weniger als das, um Personen oder Gruppen als Faktor der »Desintegration« zu verleumden. Fast zwangsläufig sahen die großen Europäer, die den Natio¬ nalismus überwinden wollten, in den Juden hervorragende Verfechter ihrer Ideen. Aber auch die einzelnen Länder unse¬ res Erdteils fanden in ihren Reihen treue Patrioten - Beweis dafür, daß vaterländische Gesinnung und Streben nach größe¬ ren Gemeinschaften einander bestens ergänzen. Dafür sei ein Beispiel aus der Geschichte des Donauraumes angeführt: Der Maria-Theresien-Orden war in mehr als einer Hinsicht sehr österreichisch. Et verdankt seinen Namen der Kaiserin, die ihn während des Siebenjährigen Kriegei gründe¬ te und seinen Statuten ein Paradoxon zugrundelegte, das nur am Wiener Hof möglich war. Von allen Kriegsorden, die dazu dienen sollten, militärische Leistungen auszuzeichnen, war dieser der einzige, den man sogar für Ungehorsam bekam.

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Wer also erfolgreich Heldentaten beging, indem er auf eigene Faust handelte oder sich über die vorgegebenen Befehle hin¬ wegsetzte, erhielt dieses höchste militärische Ehrenzeichen. Maria-Theresien-Ritter waren in besonderem Maß berühmt für Kühnheit und Weitblick, mehr als jene, die nur starr den Kommandos gehorchten. Die Auszeichnung wurde sehr selten verliehen, kaum öfter als das »Victoria-Cross« an die briti¬ schen Offiziere. Die damit Geehrten erfreuten sich - über Pri¬ vilegien wie Nobilitierung und Leibrente hinaus - eines allge¬ meinen und hohen Ansehens. Wenn man nun die Liste der Maria-Theresien-Ritter betrachtet, ist festzustellen, daß unter den im Krieg 1914 bis 1918 Dekorierten der Anteil an Juden relativ höher ist, als der anderer Religionen. Dies alles ist ein eindrucksvoller Beweis für den Patriotismus, für das Pflichtgefühl der Juden gegenüber dem Staat, in dem sie lebten. Die Juden bildeten keineswegs eine geheimnisvolle Weltverschwörung, wie das antisemitische Greuelmärchen suggerierten, sondern sie kämpften tapfer wie ihre Landsleute aus anderen Glaubensgemeinschaften für ihr Vaterland, ob dieses Österreich-Ungarn, Deutschland, Frankreich, USA oder Rußland hieß. Genauso streiten heute die Israeli für ihre Heimat. Dennoch wurden die Juden allein wegen ihres Glau¬ bens oder ihrer Abstammung durch nationalistische Kleingei¬ ster als »vaterlandslose Gesellen« diffamiert. Schwerer als dieser soldatische Aspekt wiegen die Verdienste, welche sich jüdische Bürger durch Werke des Friedens erwor¬ ben haben. Die Juden, die in unserem angeblich so fortschritt¬ lichen Jahrhundert verfolgt und ermordet wurden wie nie zu¬ vor, haben gerade in den letzten Jahrzehnten durch Erfinder¬ geist und Opferbereitschaft Gewaltiges zum Wohl und Fort¬ schritt aller Völker beigetragen. Dasselbe gilt für die Kultur. Kaum jemand wußte so genau um die völkerverbindende Funktion des alten Österreich wie dessen große jüdische Dich¬ ter, allen voran Josef Roth und Uriel Birnbaum. Solche Werte christlich-jüdischen Zusammenwirkens geben der heutigen

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Einigungsbewegung Kraft. Papst Johannes Paul II. hat des¬ halb auf kirchlicher Ebene das richtige Zeichen gesetzt, als er 1986 eine der ehrwürdigsten Synagogen, nämlich die von Rom besuchte.

Europas christliche Wiedergeburt

Wir Paneuropäer treten, um mit de Gaulle zu sprechen, für »eine gewisse Idee von Europa« ein. Wie jeder große Begriff umfaßt nämlich das Wort »Europa« verschiedene Realitäten. Für mich ist er untrennbar verbunden mit den christlichen Ge¬ boten, mit Toleranz und Vielfältigkeit, sowie der geistigen Be¬ gründung des Handelns im öffentlichen Leben. Eine politische Diskussion, die zu Ende geführt wird, muß zwangsläufig in der Theologie münden. Diese gibt nämlich die letzte Rechtferti¬ gung menschlicher Institutionen, die Antwort auf die Frage, warum wir überhaupt auf dieser Erde sind. Erst unter dieser Perspektive hat die Politik ihren Sinn. Viel zu oft wird heute über Wirtschaft und soziale Problema¬ tik, über Macht und deren Ausübung die geistige Dimension vergessen. Das ist übrigens ein Fehler, der ebenso rechts wie links gemacht wird. Nicht nur der Marxismus ist rein materiali¬ stisch, also wirklichkeitsfremd. Auch auf angeblich konservati¬ ver Seite, vor allem in Frankreich, wählt eine Schule bei der Frage »Athen oder Jerusalem« ersteres. Wir wollen demge¬ genüber eine Integration der gesamten europäischen Tradi¬ tion. Das Abzeichen der Paneuropa-Union spricht das klar aus: Das Kreuz Christi mit der Sonne der griechischen Weis¬ heit im Hintergrund. Bei uns steht also das Kreuz vorne, Jeru¬ salem übertrifft Athen. Der europäische Gedanke ist tief im Christentum verwurzelt. Daher die Erkenntnis, daß es ohne eine religiöse Erneuerung keine europäische Zukunft geben kann. Hier wird uns aller¬ dings entgegengehalten, heute, gegen Ende des zwanzigsten Jahrunderts, sei mit der religiösen Idee nichts mehr anzufan¬ gen. Die Kirchen hätten sich geleert, der Glaube schwinde, ein neues, nicht mehr gottverbundenes Zeitalter sei angebrochen. Wer das sagt, hat den Blick für die großen Zusammenhänge verloren und schätzt daher die Gegebenheiten falsch ein. Es 255

ist leicht, die Vorboten mit der Nachhut zu verwechseln. Wir erleben heute nicht die Vorzeichen einer materialisti¬ schen Ära, sondern die letzten Zuckungen einer sterbenden Epoche. Das zeigt uns die Geschichte des materialistischen Siegeszuges in Europa. Dieser begann mit der Renaissance, als das einheit¬ liche Weltbild des Mittelalters zerbrach. Früher hingen alle Wissenschaften zusammen. In ihrer Mitte stand die Erkennt¬ nis Gottes, die Theologie. Später haben sich die Naturwissen¬ schaften für autonom erklärt und nur mehr anerkannt, was sie messen, wiegen und greifen konnten. Es folgten dann im Lau¬ fe der Generationen der Bruch zwischen Glaube und Philoso¬ phie, das Auftreten des Rechtspositivismus und die Abkehr vom Naturrecht. Die Aufklärung mit ihrem grenzenlosen Glauben an die Möglichkeiten des menschlichen Geistes eb¬ nete auf der einen Seite dem technischen Fortschritt und der Industrialisierung den Weg, setzte aber auf der anderen die geistige Elite Europas den Gefahren des Nihilismus aus. Vom Vernunftkult der Französischen Revolution führt ein gerader Weg zum Historischen Materialismus und zum Totalitarismus. Im neunzehnten Jahrhundert erreichte diese Entwicklung ih¬ ren Höhepunkt, als die Theologie, früher Königin der Wissen¬ schaften, an den Rand gedrängt und lediglich als Relikt eines alten Aberglaubens geduldet wurde. Wenn ein Mann wie Louis Pasteur sich noch ungestraft als praktizierenden Katholi¬ ken bezeichnen durfte, so nur, weil er aufgrund seiner weltbe¬ wegenden Entdeckung unangreifbar war. Die Wende kam mit der Quantentheorie von Max Planck. Hier begann ein neuer Vormarsch der Naturwissenschaften, der durch Einstein und Heisenberg in unsere Zeit wies. Die menschlichen Erkenntnisse haben jetzt Dimensionen Erreicht, die die künstlichen Mauern, die der Materialismus zwischen Diesseits und Jenseits aufrichtete, durchstoßen. Das große Er¬ eignis unserer Epoche ist, daß die Spitzenwissenschaftler nun an jenem Punkt sind, von dem einer ihrer bedeutendsten sag256

te, man habe nur mehr die Wahl zwischen Glauben und Selbst¬ mord. Sogar Einstein, ein Agnostiker sein Leben lang, hat kurz vor seinem Tod erkannt, daß jenseits der sichtbaren Welt ein unsichtbarer Orchesterdirigent sei, der unser Gutes wolle und alles ordne - mit anderen Worten, er gelangte zum Got¬ tesbegriff. Diese Umkehr bei den führenden Geistern, die auch in der Sowjetunion, dem offiziell atheistischen Staat, fühlbar wird, ist langfristig von größerer Bedeutung als die Entfesselung der Atomenergie. Hier hat eine geistige Erneuerung eingesetzt. Wie der Siegeszug des Materialismus mit dem Abfall der Spit¬ zenwissenschaftler vom Glauben begann, und sich erst im Lau¬ fe der Jahrhunderte ausbreitete, so haben wir heute die umge¬ kehrte Entwicklung. Während die Massen unter dem Einfluß überholter Gedanken die Kirchen noch verlassen, betreten die führenden Köpfe unserer Zeit diese durch einen anderen Ein¬ gang. Wer die Geschichte auch nur ein wenig verfolgt, weiß, daß man mit Recht sagen kann: Wir stehen am Vorabend ei¬ nes großen religiösen Zeitalters. Dieses kann schneller heranbrechen, als meist angenommen wird. Das ist nicht zuletzt auf die allenthalben feststellbare Tatsache zurückzuführen, daß unser technischer Fortschritt mehr Fragen aufwirft, als er zu beantworten vermag. Die Zahl der Probleme nimmt zu und nicht ab. Daß die Menschen in solchen Zeiten erkennen, wie unendlich klein sie gegenüber der Schöpfung sind, und daß sie durch ihre Verlorenheit zu Gott geführt werden, ist nicht erstaunlich. Daß dies vielfach mit eigenartigen Phänomenen Hand in Hand geht, sollte nie¬ mand verwundern. Jede Erneuerung hat ihre Sturm- und Drangperiode. In dieser Perspektive müssen wir unsere Europaarbeit sehen. Wir können feststellen: Optimismus ist durchaus berechtigt, weil das echte Europa einen christlichen Gedanken verkörpert und die Zukunft der Religion gehört. Unsere Bedürfnisse kann der Markt allein nicht befriedigen. Europa ist nicht 257

an erster Stelle ein Wirtschaftsgebilde, sondern eine geistige Größe. Das haben übrigens schon seinerzeit die großen Väter der eu¬ ropäischen Einigung gewußt. Coudenhove-Kalergi, ein Mann von unheimlichem Klarblick, entwickelte ein tiefes Verständ¬ nis für unser christliches Erbe. Er erkannte die geistig-religiöse Aufgabe Europas. Dabei war Coudenhove kein Christ im en¬ geren Sinne des Wortes. Auf Grund seiner Jugend und unter dem Einfluß seiner Mutter ist er zweifelsohne dem Buddhis¬ mus näher gestanden als den christlichen Konfessionen. Er hat sich aber trotzdem zeitlebens niemals ganz von seinen christli¬ chen Wurzeln lösen können. Damit besaß er etwas, das fast einmalig war. Geistig konnte man ihn dem Osten zuzählen, in seinem Ausblick aber war er ein Mann des Westens. Er hat da¬ mit Werte aus beiden Räumen zusammengebracht und viel¬ leicht gerade aus einer gewissen inneren Distanz besser gese¬ hen, um was es in Europa geht, als jene Technokraten, die glauben, man könne diesen Erdteil auf Grund gemeinsamer Märkte und Handelsabkommen einen. Das gleiche trifft auf Männer wie Schuman, Adenauer und De Gasperi zu, die Katholiken waren. Das Christentum die¬ ser drei Staatsmänner war wohl aus höchsten Idealen gespeist. Sie behielten aber die Füße auf dem Boden. Dadurch besaßen diese Führungspersönlichkeiten jenen Realismus, der in aller praktischen Politik notwendig ist. Er wurde aber jeweils durch das Ideal verklärt, das ihnen vor Augen schwebte. Es hat Publizisten gegeben, die dieses als »Kulturpatriotismus für Europa« bezeichneten. Der Ausdruck ist nicht schlecht ge¬ wählt. Die europäische Kultur ist nun einmal ohne ihre christ¬ liche Grundlage undenkbar. Sie ist aber auch diesseitig hand¬ lungsfähig, was heute allzu oft durch sich christlich n&mende Bewegungen verneint wird. So gesehen ist die oftmals verbreitete Ansicht, daß der Osten eine Idee habe, der Westen aber keine, nachweislich falsch. Unser Freiheitskonzept zeigt seine Überlegenheit allein schon 258

mit der Tatsache, daß der Osten gezwungen ist, seine Völker hinter Stacheldraht und Minenfeldern in Konzentrationslager zu sperren, während wir offene Grenzen haben und diese schrittweise ganz abschaffen. Der östliche Totalitarismus, der Kommunismus, ist geistig bereits überwunden. Wenn es ihm bis zur Stunde noch gelungen ist, weiterhin viele Völker zu be¬ herrschen und die Weltrevolution zu predigen, ist das eine Fol¬ ge der Schwäche westlicher Politik. Der französische Sozialde¬ mokrat Jean Frangois Revel hat mit Recht gesagt, der Marxis¬ mus könne nur mehr als Parasit am Körper der Marktwirt¬ schaft existieren. Wir haben den Totalitarismus durch Mangel an christlicher So¬ lidarität mit den Völkern, die sich heute unter seiner Herrschaft befinden, künstlich handlungsfähig erhalten. Zu lan¬ ge haben wir ertragen, daß die totalitären Kräfte bei uns Sub¬ version und Terrorismus organisieren, während gleichzeitig die Bereitschaft, den Freiheitsbewegungen jenseits der Sta¬ cheldrähte zu helfen, als »Kalter Krieg« abgetan wurde. So ist das Ungleichgewicht in der Welt entstanden, das einseitig den Kommunismus begünstigt. Darum ist die Zeit gekommen, gei¬ stig offensiv zu werden. Das ist heute durchaus möglich dank der neuen Dimensionen, die die Massenmedien erhalten. Wir können uns direkt an die Völker unter der totalitären Herr¬ schaft wenden - derzeit noch über den Rundfunk, morgen über das entstehende weltweite Satelliten-Fernsehen. Bei sol¬ chen Überlegungen muß man ernst nehmen, was Menschen aus dem sowjetisch besetzten Mitteleuropa immer wieder sa¬ gen: Das wesentliche sind die religiösen Sendungen. Die Völ¬ ker des roten Imperiums, ob Christen oder Mohammedaner, sehnen sich nach der Verkündigung des Glaubens. Leider ha¬ ben dies noch viele unserer Verantwortlichen nicht ausrei¬ chend erkannt. Würden wir im Zeichen Gottes zum Osten sprechen, könnten wir jenen Prozeß der inneren Umwandlung in die Wege leiten, der die größte Hoffnung zur Erhaltung des Weltfriedens ist. 259

Christen haben nicht das Recht, wie der Pharisäer oder der Levit, auf dem Weg nach Jericho am Verwundeten vorbeizu¬ gehen, ohne ihm zu helfen. Für uns Europäer bedeutet das an allererster Stelle, für diejenigen Völker unseres Erdteiles ein¬ zutreten, die derzeit noch von einer fremden Macht kolonisiert werden. Wir sind berufen, ihr Recht auf Selbstbestimmung mit allen friedlichen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen, zu ver¬ treten. Es ist unchristlich und unmoralisch, wenn wir Freiheit und Wohlstand in vollen Zügen genießen, dafür aber bereit sind, nach dem Rezept einer - bei der intellektuellen Schickeria angesehenen - deutschen Wochenzeitung die Rechte etwa des polnischen Volkes auf dem Altar unseres satten Ruhe¬ bedürfnisses zu opfern. Wir sind die Hüter unserer Brüder und für sie vor Gott verantwortlich. Deshalb sind wir aufgerufen, mehr Mut zu zeigen, wobei die¬ ser eigentlich gar nicht so etwas Besonderes sein müßte; wir wissen ja, daß der Erfolg unser ist. Was die Welt wieder braucht, ist eine Botschaft. So gesehen ist es falsch, Christen¬ tum und Kirche mit Bürgerinitiativen zu verwechseln, deren Aufgabe es ist, Einzelaspekte des Lebens zu verändern. Un¬ sere Leerräume sind nicht so sehr politischer und wirtschaft¬ licher, sie sind geistiger Natur. Weltliche Dinge gehören nicht zu den Aufgaben der Kirchen, sondern des Staates. Letzterer wird sie auch besser verstehen. Bischöfe sind nicht Strategen und Polizisten keine Theologen. Der Klerikalismus, so oder so, war immer ein Unglück. Er hat den Kirchen Aufgaben zu¬ gewiesen, die ihrem Heilsauftrag nicht entsprechen. Das galt für das alte Bündnis von Thron und Altar genauso wie heute für den »invertierten Klerikalismus«, der die Kirche als sozia¬ les Wohlfahrtsinstitut oder als »Think Tank« für Friedensfor¬ scher sieht. i Es wird manchmal behauptet, ein echter Glaube fördere Un¬ duldsamkeit. Das ist falsch. Wer seiner Wahrheit sicher ist, kann tolerant sein. Der Ökumenismus ist nicht ein Aufgeben der eigenen Grundsätze, sondern die Bereitschaft, dem An260

dersgläubigen offen und freundschaftlich gegenüberzutreten und seine Auffassung zu achten, auch wenn man sie selbst nicht teilen kann. Er besteht darin, das Gemeinsame heraus¬ zuarbeiten und das Trennende ohne Haß oder Mißgunst fest¬ zustellen. Wir brauchen die aktiv gläubige und ökumenische Einstellung, gerade weil der Kampf gegen den totalitären Ma¬ terialismus durchgestanden werden muß. In dieser Auseinan¬ dersetzung gibt es eine breite Gemeinschaft der Gläubigen, ob es sich um die verschiedenen christlichen Konfessionen oder um die schon beschriebenen Welten des Islam oder des Juden¬ tums handelt. Wir alle glauben an den einen Gott, Schöpfer des Himmels und der Erde, und das ist das Entscheidende. Wie in vergangenen Zeiten, wird sich die Auseinandersetzung in und um Europa abspielen. Bei uns prallen heute die Strö¬ mungen hart aufeinander. Worte allein genügen nicht; viel wirksamer noch ist das Bei¬ spiel. Hier steht an erster Stelle die Frage des Rechtes auf Le¬ ben, des geborenen wie des ungeborenen Kindes. Wir dürfen den Schwächeren nicht dem Stärkeren opfern. Wer dabei nicht klar Farbe bekennt, ist kein echter Christ und zur Erneuerung Europas ungeeignet. Es ist unerträglich zu beobachten, daß das Schicksal junger Robben die Gefühle vieler Menschen auf¬ peitscht, während man teilnahmslos zuschaut, wie das unschul¬ dige Kleinstkind im Mutterleib ausgelöscht wird. Hier darf es keinen Opportunismus geben. Charakterlosigkeit hat niemals langfristigen Erfolg gezeitigt. Die Bevölkerung ist klüger, als Politiker in der Regel annehmen. Sie weiß es zu achten, wenn jemand sich klar zu seinen Grundsätzen bekennt und nicht dem anderen nach dem Munde redet. Eine Politik, die sich nach den Ergebnissen der Meinungsumfragen orientiert, ist dieses Namens nicht würdig. Wir brauchen Politiker, die ihre Ansicht offen vertreten. Ihre Aufgabe ist es, den Bürgern de¬ ren Richtigkeit darzulegen, nicht aber den vorgefaßten Mei¬ nungen nachzulaufen. Das ist nur dann möglich, wenn es wieder echte Überzeugun-

261

gen gibt. Europas Dome sind nicht durch Duckmäuser gebaut worden. Die Vorväter haben Gott vertraut, fest angepackt und unsere unvergleichliche Zivilisation geschaffen. Statt stolz auf sie zu sein, reden wir nur noch von Europas Schuld. Wir bitten jeden Barbaren um Vergebung, daß wir der Welt die Idee der Freiheit geschenkt haben. Natürlich haben wir, wie alle Menschen, gesündigt, doch dürfen Christen deshalb nicht in weinerliche Untätigkeit verfallen. Die Zukunft unseres Erd¬ teiles, der Friede zwischen unseren Völkern, die Weiterent¬ wicklung unserer Kultur werden davon abhängen, ob es ge¬ lingt, die nach uns kommende Generation zu motivieren. Ich glaube an die junge Generation. Sie ist besser als der Ruf, den man ihr anhängt. Mit Gottes Hilfe kann sie das Werk vollen¬ den.

Personenregister

Adenauer, Konrad 50, 112, 258

Bodin, Jean 27

Aetius, Flavius 47

Bonaparte, Napoleon 7, 17, 52,

Aigner, Heinrich 75, 167f.

72, 81, 122, 125, 239

Alber, Siegbert 160

Bonifatius 24, 30

Albrecht I., Röm. und dt. König

Brandt, Willy 110-112, 132, 245

etc. 34f. Albrecht II., Röm. und dt. Kö¬ nig etc. 61

Brauner, Leutnant 140 Briand, Aristide 131, 181, 182 Brüsewitz, Oskar 141

Alijew, Geijdar 110

Bullitt, Wüliam C. 98

Alkuin 32

Bush, George 89

Andreotti, Giuüo 90

Byrnes, James Francis 128

Antonelli, Giacomo, Kardinal 41 Arfe, Gaetano 180

Carter, James Earl (Jimmy) 173

Aristoteles 184, 200

Castlereagh, Robert Stewart

Armand, Louis 176 Augustinus 23

Marquis of Londonderry 122 Castro, Fidel 114 Chaimowicz, Thomas 250

Bäurich, Rainer 142 Bahr, Egon 111

Chamberlain, 95,

Arthur

Neville

147, 196

Bainville, Jacques 84

Chaunu, Pierre 208 f.

Bayo, Alberto 113

Chirac, Jacques 89

Bech, Josef 235

Chlodwig, Fränk. König 21

Beethoven, Ludwig van 76

Churchill, Sir Winston

Benedikt von Nursia 24

75, 88,

196

Benes, Edvard 67, 71, 178

Clausewitz, Karl von 106

Berlinguer, Enrico 93

Coudenhove-Kalergi, Richard

Bettiza, Enzo 180

Nikolaus Gf. von 71, 74f.,

Birnbaum, Uriel 253

84, 174f., 181, 258

Bismarck, Otto Fürst von 20, 33, 38-41, 44, 125 Blum, Leon 94

Curzon, George Nathaniel Marquess of Kedleston 88 Cyrill 24, 31

263

Daladier, fidouard 95, 147 Dalsass, Joachim 180 Dante Alighieri 33

Franz Ferdinand, Ehg. v. Österr. 71, 79f. Franz

Joseph

I.,

Kaiser

v.

David, König 250

Österr., König v. Ungarn u.

Dick, Alfred 162

Böhmen etc.

Dimitrijevic, Dragustin (Apis) 80

32, 52, 59f.,

64-66, 68, 200 Franzei, Emil 44

Dimitroff, Georgii 145

Freisler, Roland 96

Dollfuß, Engelbert 73

Friedrich, Ingo 75

Dregger, Alfred 91

Friedrich II. von Hohenstaufen,

Dürer, Albrecht 26

Röm. Kaiser, dt. König etc.

Dutschke, Rudi 189

33 Friedrich II., König v. Preußen 49

Eden, Sir Anthony 99 Einhard 32

Friedrich III., Röm. Kaiser, dt. König etc. 34f.

Einstein, Albert 256f. Eisenhower, Dwight D. 164

Gadhafi, Muamar al 79, 147

Ekbert, König von Wessex 32

Gasperi, Alcide De 258

Eugen, Prinz von Savoyen 49,

Gaulle, Charles de 50, 88, 148,

52-58, 61 f.

189, 236, 255 Gawronski, Jas 181 Genscher, Hans-Dietrich 132

Fabre Luce, Alfred 80

Gerard, Jeanne 102

Ferdinand I., Röm. Kaiser, dt.

Gerlach, Ernst-Ludwig und

König etc. 48

Leopold von 38

Fergusson, Adam 142

Ghergo, Alberto 186

Ferrero, Guglielmo 124

Giscard d’Estaing, Valery 119

Figl, Leopold 136

Goebbels, Joseph 73

Fischer von Erlach, Johann

Gonda, Imre 69

Bernhard 57 Frantz, Konstantin 38 Franz I., König v. Frankr. 27 Franz I. Stephan, Röm. Kaiser, dt. König etc. 49 Franz II., Röm. Kaiser, dt. Kö¬

Goppel, Alfons

15, 74f., 162,

180 Gorbatschow, Mikhail 92f., 107-110, 146, 201 Griesser, Hermann A. 69 Grillparzer, Franz 33

nig etc. (als Kaiser v. Österr.

Gruben, Herve Baron de 86

Franz I.) 7f., 72

Guevara, Ernesto »Che« 114

264

Haas, Ilse 11 Haile Selassie, Kaiser von Abes¬ sinien 32

Jean, Großhzg. v. Luxemburg 51 Jesaiah, Prophet 250

Hallstein, Walter 172

Johannes Paul II., Papst 254

Hantsch, Hugo 34

Joseph I., Röm. Kaiser, dt. Kö¬

Hassel, Kai-Uwe von 169 Hebbel, Friedrich 65 Heiden, Konrad 93 Heinrich III., Rom. Kaiser, dt.

nig etc. 55, 62 Joseph II., Röm. Kaiser, dt. Kö¬ nig etc. 62 Jünger, Ernst 243

König etc. 33 Heinrich IV., Rom. Kaiser, dt. König etc. 33 Heisenberg, Werner 256 Hildebrandt, Johann-Lucas von 57

Kaltenbrunner, Gerd Klaus 213 Karl, Hzg. v. Lothringen 49, 54 Karl I., Kaiser v. Österr., König v. Ungarn u. Böhmen etc. 69-71

Hillman, Sydney 222

Karl II., König v. Spanien 54

Hirohito, Kaiser v. Japan

Karl IV., Röm. Kaiser, dt. u.

(Tenno) 22 Hiss, Alger 85, 98 Hitler, Adolf 20, 24, 28, 41, 43, 50, 68, 71, 73, 84-86, 91-98, 115 f., 122, 124, 132, 140, 191, 193f., 201, 228, 237f., 248 Honecker, Erich 142

böhm. König etc. 35, 51 Karl V., Röm. Kaiser, span. u. dt. König etc. 25, 27, 32, 35, 48, 58 Karl VI., Röm. Kaiser, dt. Kö¬ nig etc. 55, 62 Karl der Große, Röm. Kaiser,

Houphouet-Boigny, Felix 133

fränk. König etc. 7, 16, 23f.,

Hopkins, Harry 98

26, 30-32, 35, 46, 52, 58, 72,

Hüll, Cordeil 98

239

Huyn, Hans Gf. 108, 140

Karl II. der Kahle, Röm. Kai¬ ser, westfränk. König 46

Ibn Batuta 249 Ingrim, Robert 75 Ionescu, Eugene 181 Irmer, Ulrich 167 Iswoljski, Alexander 80

Karl der Kühne, Hzg. v. Bur¬ gund 48 Karl Martell, Fränk. Hausmeier 30 Karlmann, Fränk. König 30 Khomeini, Ayatollah Ruhollah 247 f.

Jansson, Professor 201

Klepsch, Egon-Alfred 180

Jaruzelski, Wojciech 139

Klopp, Onno 42

265

Kohl, Helmut 109, 150, 170

Marx, Karl 242-246

Konstantin I. der Große, Röm.

Marx, Peter 140 Masaryk, Thomas G. 67, 178

Kaiser 21 Kuehnelt-Leddihn, Erik Ritter

Maurras, Charles 172 Maximilian I., Röm. Kaiser, dt.

von 71

König etc. 35, 48 Lambsdorff, Otto Gf. Lenin,

Wladimir

191

Iljitsch

M’Bow, Amadou Mokhtar 102 69,

107, 239

Meadows, Professor 193 Method 24, 31

Leopold I., Röm. Kaiser, dt. König etc. 53, 55, 62 Leopold II., Röm. Kaiser, dt. König etc. 62

Metternich, Clemens Fürst von 7f., 39, 122 Mindszenty, Josef 135 f. Mitterrand, Francois 19, 88

Litwinow, Maxim 99

Mohammed 239, 249

Lloyd George, David 95

Molotow, Wjatscheslaw 85, 100

Lorenz, Willy 72

Morgenthau, Henry jr. 237f.

Lothar I., Röm. Kaiser 46, 51

Müller, Ludwig 248

Ludwig II., König v. Ungarn u.

Mussolini, Benito 99

Böhmen 61

Mustafa Pascha 54

Ludwig XIV., König v. Frankr. 25, 53, 56 Ludwig XV., König v. Frankr. 56 Ludwig der Deutsche, Ostfränk. König 46

Neuschäfer, H.

141

Niederhauser, Emil 69 Nietzsche, Friedrich 241 Nikolaus II., Zar 97 Nikolaus von der Flüe 177

Lull, Raimund 249 Mac Arthur, Douglas 238

Orwell, George 202

Magalhäes, Fernäo de 249

Otto I. der Große, Röm. Kaiser,

Mansholt, Sicco 224

dt. König etc. 24, 33f., 38

Mao Zedong 124, 189, 229, 230 Maria von Burgund 48

Otto II., Röm. Kaiser, dt. König etc. 26

Maria Theresia, Kaiserin, Köni¬

t

gin v. Ungarn u. Böhmen etc.

Paisley, Ian 249

49, 62, 148, 252f.

Palacky, Frantisek 40, 71

Marlborough,

John

Hzg. von 55 Martini, Winfried 193

266

Churchill

Papandreou, Andreas 168 Pa§ic, Nikola 80 Pasteur, Louis 256

Paul VI., Papst 24

Sacharow, Andrej 93

Paulinus von Aquileia 32

Sadunaite, Nijole 131

Paulus Diakonus 32

Sakellariou, Jannis 53

Pelikan, Jifi 68, 152, 180

Salomon, König 250

Petrus von Pisa 32

Schäffle, Albert 69

Philipp II. der Kühne, Hzg. v.

Schleicher, Ursula 160

Burgund 47

Schmidt, Helmut 112

Philipp IV. der Schöne, König v. Frankr. 26

Schrenck-Notzing, Caspar Frhr. von 238

Pilatus, Pontius 28

Schumacher, Kurt 113

Pinochet, Augusto 111

Schuman, Robert 50, 172,

Pippin III. (der Jüngere), Fränk. König 23, 30

258 Schuschnigg, Kurt von 73

Pirkl, Fritz 180

Schwarzenberg, Felix Fürst von

Planck, Max 256

39

Pons, Vittorio 181

Schweitzer, Michael 157

Popper, Sir Karl 181

Senghor, Leopold Sedar 133

Princip, Gavrilo 79

Sersch, Oberleutnant 140

Pujol, Jordi 16

Servan-Schreiber, Jean Jacques 193 Seton-Watson, Robert William

Raab, Julius 136

67

Ranke, Leopold von 35

Shevardnadse, Edvard 110

Rauschning, Hermann 194

Silvester II., Papst 63

Reagan, Ronald 89, 91, 103,

Sixtus, Prinz v. Bourbon-Parma 9

108 f., 114, 174 Revel, Jean Francois 259

Solschenizyn, Alexander 106, 116

Rey, Jean 154 Ribbentrop, Joachim von 85

Somary, Felix 194f.

Ripa di Meana, Carlo 75/76

Sonnenfeldt, Helmut 111

Rösler, Roland 187

Sophie, Hzgn. von Hohenberg

Roosevelt, Franklin D.

85-87,

Roosevelt, Theodore 201 Rosinsky, M.

79 Stalin, Josef 24, 71, 85-87, 94,

98, 238 141

Roth, Josef 253 Rudolf I. von Habsburg, Röm. u. dt. König 34, 47, 119

115, 128, 132, 140, 146 Starhemberg, Emst Rüdiger Gf. von 54 Stauffenberg, Franz Ludwig Gf. 180

267

Stephan I. der Heilige, König v. Ungarn 24, 62

Thorn, Gaston 113 Tito, Josip (Broz) 88

Stefan II., Papst 30

Treitschke, Heinrich von 42

Strasser, Otto 194, 196

Tschasow, Jewgeni 93

Strauß, Franz Josef 74, 89, 102,

Tschu En Lai 189

142 Streibl, Max 74, 162

Udo von Metz 32

Stresemann, Gustav 181, 182

Umansky, Konstantin 113

Sun Tsu 106

Urbanski, Hans von 58

Talleyrand-Perigord, Charles

Veil, Simone 89

Maurice de 122 f.

Villars, Claude-Louis-Hector

Tandler, Gerold 74 Thatcher, Margaret

Hzg. von 55 f. 162, 168,

216f., 236 Theoderich der Große, Ostgot. König 22 Theodul von Orleans, Bischof 32

Walther von der Vogel¬ weide 32 Welles, Sumner 98 Wilson, Thomas Woodrow 97, 126

Aber die Reichsidee war nicht tot. Bis 1918 lebte sie im Vielvölkerstaat der Donaumonarchie weiter. Sie überstand auch das Ende der mittel¬ europäischen Kaiserreiche in Ver¬ sailles und St. Germain und fand später ihren reinsten Ausdruck in der von Richard Graf CoudenhoveKalergi begründeten PaneuropaBewegung. Reiche gibt es nicht mehr. Mit sa¬ kraler Weihe behaftete staatliche Ordnungsprinzipien sind nüchter¬ nen Verwaltungsgenossenschaften gewichen. Aber noch existiert Eu¬ ropa, und wenn es seine nationalen Egoismen, die soviel Blut gekostet haben, überwindet, sich auf seine europäische Identität besinnt, dann mag auch die Reichsidee - in ver¬ änderter Form freilich — wieder auferstehen.

Der Autor:

Otto von Habsburg, geboren am 20. November 1912, Sohn von Erz¬ herzog Karl von Österreich (dem nachmaligen Kaiser von Österreich, König von Ungarn) und Zita. In Österreich bis März 1919, bis 1921 in der Schweiz, bis 1922 auf Madeira, wo sein Vater im Exil starb. Dann in Spanien und Belgien, seit 1954 in Pöcking, Oberbayern. Präsident der Paneuropa-Union, seit 1979 Mitglied des Europäischen Parlaments.

Die Reichsidee, das Prinzip einer über¬ nationalen Ordnung unter dem Zepter eines universalen Kaisertums, hat das Abendland geprägt - von den Römern bis zum Ende Österreich-Ungarns. In der Überwindung nationalstaatlicher Egoismen mag sie ein Leitbild sein auf dem Weg zu einem geeinten Europa.

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