Geschichte der deutschen Musik: Ihre Formen, ihr Stil und ihre Stellung im deutschen Geistes- und Kulturleben [3. Aufl. Reprint 2019] 9783111646060, 9783111262987

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Geschichte der deutschen Musik: Ihre Formen, ihr Stil und ihre Stellung im deutschen Geistes- und Kulturleben [3. Aufl. Reprint 2019]
 9783111646060, 9783111262987

Table of contents :
VORWORT
INHALT
I. Germanisch-heidnische Musik der Frühzeit
II. Christlich-katholische Musik bis zum Ausgang des Mittelalters
III. Weltliche Musik vom 6. bis 13. Jahrhundert (Spielmannsmusik)
IV. Der Minnesang des ritterlichen Mittelalters
V. Die Musik des bürgerlichen Mittelalters
VI. Die Entwicklung der Mehrstimmigkeit bis zum Höhepunkt des niederländischen Stils
VII. Die Musik im Jahrhundert der Reformation
VIII. Das Jahrhundert des Großen Krieges (Barockzeit)
IX. Das 18. Jahrhundert
X. Das Zeitalter der Französischen Revolution und des deutschen Idealismus
XI. Das 19.Jahrhundert
XII. Das 20. Jahrhundert
Anhang

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RUDOLF

MALS C H

GESCHICHTE DER DEUTSCHEN MUSIK I H R E F O R M E N , I H R STIL U N D I H R E S T E L L U N G IM D E U T S C H E N GEISTES- UND K U L T U R L E B E N

W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J. GUTTENTAG VERLAGSBUCHHANDLUNG - GEORG REIMER - K.J. TRÜBNER - VEIT & CO.

B E R L I N

1949

Dritte

Auflage

Mit 8 Bildtafeln, 5 Partiturseiten sowie zahlreichen Notenbeispielen und Textabbildungen

Archiv-Nr. 474749 Gedruckt im Druckhaus Tempelhof, Berlin Copyright 1949 by Walter de Gruyter & Co.

V O R W O

R T Der Mensch soll nicht vernünftiger, sondern menschlicher werden. Johann Gottfried Herder Zieht in den Kampf um die Seele unseres Volkes! Walther Rathenau

Als dieses Buch 1926 nach Jahren verwirrender Auflösung zum ersten Male erschien, da rechtfertigte das Vorwort die Besonderheit seiner Absicht mit den Sätzen: „In der Krise unseres modernen Geisteslebens, in der unter dem übermächtigen Einfluß von Technik, Wirtschaft und Sport der Nützlichkeitswert und die Zweckmäßigkeitsidee die allgemeine Weltanschauung immer stärker in ihren Bann geschlagen haben und die Seele zu verarmen droht, dämmert allmählich die Erkenntnis auf von der Unmöglichkeit und Unerträglichkeit einer rein verstandesmäßigen, materialistischen Einstellung zu den Lebensproblcmen lind die Sehnsucht nach geistiger Erneuerung unter bewußter Betonung und Pflege der Gefühlswerte, Damit rückt die in eine Randstellung gedrängte, zum bloßen Ornament erniedrigte Kunst wieder in das Zentrum der Lebenswerte; denn sie ist nicht nur die reinste Äußerung zweckfremder Innerlichkeit, sondern neben der Religion auch der Ausdruck metaphysischer Sehnsucht im Menschen. Keine der Künste aber ist dem deutschen Empfindungsleben so tief verwandt wie die Musik, in der die deutsche Seele sich selbst und der geistigen Kultur der Menschheit die wertvollsten Geschenke dargebracht hat. Nun könnte es fast scheinen, als wäre sie heute die sieghafteste aller Künste und bedürfte keiner weiteren Förderung im deutschen Volk. Ihr Sieg ist aber nur äußerlich; das eigentliche Verständnis und der Sinn für ihr Ethos sind in weitesten Kreisen verlorengegangen.- Soll sie wieder als vergeistigende, läuternde und emporziehende seelische Macht wirksam werden, sollen Urteil und Geschmack sich wieder heben, so muß vor allem die Jugend ein tieferes Verhältnis zur Musik finden." Die durchweg außerordentlich freundliche Beurteilung und Begrüßung des Buches und seiner kunsterzieherischen Einstellung

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seitens der Fachkritik und in den Kreisen suchender Menschen, sowie die nach kurzer Zeit nötige Neuauflage schienen der Absicht des Verfassers sowie dem hier eingeschlagenen Weg recht zu geben. Als dieses Buch aber in dritter Auflage erscheinen sollte, da hatte sich über das deutsche Land der Nebel einer Verwirrung gesenkt, die den Geist als ein Produkt aus „Blut und Boden" definierte und damit dessen eigenstes Wesen verdunkelte, nein, überhaupt in Frage stellte. Eine „deutsche Wissenschaft" wurde erfunden, und die Kunst sollte „arteigen" sein. Auch die Musik wurde von dieser Irreführung getroffen: Ihr Wesen wurde kunstfremden Kategorien unterstellt, sie sollte nur gelten und Wert haben, soweit sie Ausdruck der „germanischen Rasse" sei, und die Urteile über die Kunstwerke sollten sich einer vorgeschriebenen Wertung fügen. Diesen Forderungen konnte dieses Buch nicht Rechnung tragen; es wich daher der Vergewaltigung seitens einer politischen Irrlehre aus und harrte der Wiedergeburt des Geistes der Wahrheit. Ohne daß geleugnet werden soll, daß „Rasse" und Volkstum, dunkel und schwer faßbar, in Geist und Form der Künste wirksam sein können und daß die Heimat einen bedingenden Einfluß auf die künstlerische Schöpfung ausübt, so steht doch gerade die Musik als die stofffreieste Kunst unter ganz besonderen Bedingungen und Voraussetzungen. Sie ist Ausdruck des Metaphysischen und widerstrebt jeder Bindung und Bevormundung; mehr und.leichter als in anderen Künsten fließen außerdem in ihr die geheimnisvollen Ströme des Geistes von Land zu Land, von Volk zu Volk, und ihre Werke verlangen Freiheit von nationalistischer Einengung und chauvinistischem Vorurteil. Das Buch suchte weder neue musikhistorische Erkenntnisse, hatte vielmehr für solche in den früheren Vorworten vor allem den Musikhistorikern Joh. Wolf, Moser und Steglich zu danken; es erstrebte auch nicht Vollständigkeit in Namen oder Werken, sondern die Herausarbeitung der großen Leitlinien der musikalischen Entwicklung und zu besserem Verständnis der Entwicklung die Klärung der Ursachen jedes neuen Gestaltwandels durch Einbettung der Werke in die seelische Lage und die Kultur ihrer Zeit. Jedoch sollte diese für Erkenntnis und Urteil unentbehrliche historische Aufdeckung der zum Ausdruck drängenden Kräfte nur notwendige Vorbereitung für das Wesentlichste sein: Erleben der Kunstwerke, Versenkungen die Hochwerte unserer deutschen Musik, innere Rezeption. Nun ist gewiß das Erlebnis, jene blitzartig infolge innerer Wesensgleichheit sich einstellende innigste Beziehung zum KunstIV

werk, nicht künstlich oder durch Überredung hervorzurufen. Aber das Erlebnis will gerade in der Kunst vorbereitet sein. Kunstwerke richtig aufzunehmen will gelernt, will geübt sein. Und gerade die Musik bedarf mehr als andere Künste, weil sie die geringste Beziehung zu der den Sinnen sich darbietenden Außenwelt hat, einer weise leitenden Einführung in ihre Elemente und einer sorgsamen Pflege der Einfühlungsfähigkeit in ihre Bedeutungswerte als grundlegender Voraussetzung für ein tieferes Verhältnis zu ihr. Um hierbei der Gefahr inhaltsleerer Wortbegrifflichkeit zu entgehen, unter der Musikgeschichten mehr als andere Kunstgeschichten leiden, die aber gerade für den Bildungsuchenden in gesteigertem Maße blutleer bleiben muß, wurde jede wichtige Form-, Stil- und Inhaltserörterung an ein kennzeichnendes anschauliches Beispiel angeknüpft. Da nun das Buch jetzt, treu seinen früheren Idealen, wiedererscheinen darf, nachdem die Freiheit des Geistes neu gewonnen ist, findet es freilich nach einer Katastrophe ohnegleichen eine neue Situation vor, und die Frage könnte aufgeworfen werden, ob die gewandelte Zeit eine neue Blickrichtung verlangt. Die Mechanisierung ist weiter fortgeschritten, und die Seele ist zum Bettler geworden. Was gilt es heute, nachdem alles, aber auch alles zerbrochen ist ? Gilt es einen neuen Weg einzuschlagen? Schreitet die Dynamik des Lebens nicht rücksichtslos über alle idealistischen Wünsche und 'Hoffnungen hinweg, indem sie unaufhörlich zum Bewußtsein bringt, daß Wirtschaft und Politik vordringliche Aufgaben des Lebens sind, weil die drängenden vitalen Bedürfnisse des Menschen vor der Pflege des Geistes oder gar der Kunst Befriedigung heischen und daher wichtiger erscheinen ? Dieses Buch möchte durchaus nicht eines überlebten romantischen Illusionismus geziehen werden; aber kein Einsichtiger kann bezweifeln, daß gerade diese Irrmeinung uns in die Katastrophen des 20. Jahrhunderts gestürzt hat, und es wird eine zwar schwer verstandene, aber ewige Wahrheit bleiben: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele!" Verinnerlichung muß also nach wie vor die vordringliche Forderung einer kommenden Zeit sein, will die Menschheit nicht versinken und vor allem das kranke Deutschland sich nicht selber aufgeben. Woran aber muß ein Kranker genesen ? An der Wiedergeburt seiner eigenen Kraft. Daß aber die stärkste innerliche Wirklichkeit des Deutschen die Musik war, beweist der Inhalt dieses Buches und die weltweite Wirkung seiner Namen. Kunst macht V

zwar nicht satt, aber seelisch lebendig, frei, stark und human; nicht durch einen einzigen Trunk, wohl aber durch eine Anreicherung künstlerischer Essenzen, wie sie als feinste Auszüge des deutschen Wesens von den Größten seines Geistes gekeltert worden sind. Nun könnte heute vielleicht erst recht mancher meinen, die Musik sei ja täglich am Werke, da sie mit dem Radio in die letzte Hütte dringt, und sie bedürfe keiner weiteren Förderung. Aber noch mehr als vor zwanzig Jahren darf nach der materiellen und seelischen Katastrophe behauptet werden, daß sie immer mehr zum bloßen Ohrenschmaus weitester Kreise geworden und der Sinn für ihre seelenformende Wirkung, ihren Bildungscharakter verlorengegangen ist. Dazu beizutragen, Suchende und Werdende ein tieferes Verständnis und innigeres Verhältnis zur Musik finden zu lassen und zugleich die selbständige Urteils- und Geschmacksbildung zu fördern, darf auch jetzt wieder das Hauptziel dieses Buches sein. Die Musik müßte aber gerade heute auch deshalb sorgsamste Pflege und Förderung beanspruchen, weil sie mehr als alle anderen Künste imstande ist, Brücken von Volk zu Volk zu schlagen, um das immer notwendiger werdende Zusammenfinden aller Völker vorzubereiten; ist sie doch die Sprache, die alle ohne Esperanto verstehen. Aus diesem Grunde ist in dieser Auflage das äußere Blickfeld erweitert worden, und die Verflechtungen und gegenseitigen Befruchtungen der Nationalkünste sind deutlicher herausgearbeitet worden zu'r Erkenntnis der Tatsache, daß die deutsche Musik wie jede Nationalmusik zwar eine eigentümliche Sprache redet, daß aber die Kunstgebilde der Welt geschenkte Offenbarungen des großen allgemeinen und ewigen Geistes sind, der Nationen und Völker zu einer geistigen und menschheitlichen Gemeinschaft vereint. Den Weg aus der hier bewußt gesetzten räumlichen Beschränkung zu erweiterter Kenntnis und eigener Vertiefung weist die Angabe der jeweils besten Literatur und der musikalischen Quellen. Berlin, Ostern 1949 Dr. RUDOLF

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MALSCH

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T Seite

Vorwort

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I. Germanisch-heidnische Musik der Frühzeit

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II. Christlich-katholische Musik bis zum Ausgang des Mittelalters 1. Der Gregorianische Choral 2. D a s liturgische D r a m a 3. D a s geistliche Volkslied

6 8 18 20

III. Weltliche Musik vom 6. bis 13. Jahrhundert (Spielmannsmusik) ;.

24

IV. Der Minnesang des ritterlichen Mittelalters'

29

V. Die Musik des bürgerlichen Mittelalters 1. 2. 3. 4.

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D a s Volkslied Der Meistergesang D a s geistliche Singspiel Öffentliche und private Musikpflege im 15. Jahrhundert

V I . Die Entwicklung der Mehrstimmigkeit bis Höhepunkt des niederländischen Stils

44 55 64 69

zum

V I I . Die Musik im Jahrhundert der Reformation 1. Die Kirchenmusik des Protestantismus 2. Schul- und Hausmusik 3. Deutsche Renaissance im Zeitalter der Gegenreformation

73 85 86 98 107

V I I I . Das Jahrhundert des Großen Krieges (Barockzeit) 117 1. Der neue Stil, Heinrich Schütz und die protestantische Kirchenmusik vor B a c h 2. D a s weltliche Lied 3. Die Oper (bis 1742) 4. Instrumentalmusik in Haus, Collegium musicum und Öffentlichkeit ;

120 135 140 145

VII

Seite

I X . Das 18. Jahrhundert 1. Spätbarock, Pietismus, Aufklärung a) Bach b) Händel 2. Empfindsamkeit, Sturm und Drang a) Der neue Instrumentalstil b) Das Lied im 18. Jahrhundert c) Glucks Opernreform und das deutsche Singspiel . . . . 3. Die Wiener Klassiker a) Haydn b) Mozart

157 158 160 i78 187 191 199 206 216 218 231

X . Das Zeitalter der Französischen Revolution und des deutschen Idealismus 248 Beethoven 250 X I . Das 19.Jahrhundert 1. Die Romantik a) Die Frühromantik Schubert Loewe Weber und die romantische Oper vor Wagner b) Die Hochromantik Mendelssohn Schumann 2. Die Neuromantik a) Liszt und die Programm-Musik b) Wagner und das Musikdrama c) Bruckner d) Hugo Wolf und das moderne Lied 3. Brahms 4. Der Wiener Walzer und die Wiener Operette 5. Die Auflösung der Romantik a) Mahler b) Richard Strauß und die Krise der Oper c) Reger X I I . Das 20. Jahrhundert Neue Musik

272 272 276 276 287 293 304 '. . . 305 310 320 321 326 340 345 349 355 358 362 366 372 376 378

Anhang 399 1. Text der Hl. Messe 399 2. Partiturstücke. Bach, Haydn, Beethoven, R. Strauß, Hindemith 401 3. Bücher 406 4. Register 408

VIII

I. G E R M A N I S C H - H E I D N I S C H E M U S I K DER FRÜHZEIT Wie eine Mutter an den stammelnden Lauten ihres Kindes, die sie einst liebevoll als erste Regungen geistigen Lebens aufzeichnete, noch Freude hat, wenn längst aus dem Kind ein reifer Mensch geworden ist, so möchten wir wohl auch, nachdem die Sprache der herangereiften deutschen Musik in der ganzen Welt einen guten Klang bekommen hat, gern ihre frühesten Klänge kennen, selbst wenn sie dem Stammeln des Kindes glichen; vielleicht könnten wir aus ihnen auch die urtümliche Eigenart germanischen Musikempfindens als einer der Wurzeln der späteren deutschen Musikkultur rein und unverfälscht erkennen. Leider ist das unmöglich. Was alles an weltlicher oder gottesdienstlich-heidnischer Musik in germanischer Frühzeit erklungen sein mag, was etwa der Hirt auf einsamer Flur oder der Urwäldler beim Fällen der Bäume als Arbeitslied sang, was die Frau am Webstuhl vor sich hinsummte, oder was laut schallte, wenn der Metbecher kreiste, was erklang beim Leichenschmaus nach der Verbrennung eines Helden oder auf den weiten Fahrten wandernder Germanenvölker, das ist ebenso verweht wie so manches Märchen von Unholden und bösen Geistern; von Göttern und Riesen, das Großmutter am Herdfeuer ihren Enkeln erzählte. Die tastenden Äußerungen eines aufblühenden Kunstgewerbes, die ungefügen Pferdeköpfe am Dachfirst, die tönernen Töpfe mit Zierornamentik hatten es freilich auch leichter, die Jahrtausende zu überdauern, als der flüchtige Ton, der mit seinem Erklingen schnell wieder verwehte. Vielleicht haben auch die recht, die meinen, daß die germanische Musikübung jener Frühzeit an Wert hinter der Dichtkunst zurückgeblieben sei, deren Großartigkeit uns das Hildebrantslied und die aus alten Stoffen gestalteten mittelhochdeutschen Volksepen ahnen lassen: Es ist müßig, darüber zu streiten. Nicht unwichtig ist es jedoch, aus den Quellen zu sehen, welche große Rolle die Musik bei unseren Vorfahren spielte. Abgesehen von dem Vorhandensein altgermanischer Worte für gesungenes Lied (leod), gesungene Melodie (wisa: Weise) und 1 Malsch, Geschichte der deutschen Musik

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gespielte Melodie (gotisch laiks von laikan: hüpfen, mittelhochdeutsch leich, vgl. S. 38), gewinnt ein Berichterstatter für uns besondere Wichtigkeit, weil er zugleich der älteste Gewährsmann ist, der uns bestimmtes Zeugnis für das Vorhandensein germanischer Musik gibt: T a c i t u s . E r berichtet nicht nur von Waffentänzen der germanischen Krieger, zu denen Lieder beim Zusammenschlagen der Schwerter gesungen wurden, und von Liedern, deren Stoffe der Götter-und Heldensage entnommen waren, z. B. von Liedern auf Arminius, sondern er gibt uns auch den berühmten Bericht vom „Kriegsgesang" der Germanen. Er schreibt in seiner „ G e r m a n i a " : „ A u c h haben sie Lieder, barditus genannt, durch die sie sich anfeuern. Schon sein bloßer Klang wird als Wahrzeichen für den Ausgang der Schlacht gedeutet; je nachdem er durch die Schlachtreihe dröhnt, gilt der Schrecken den Feinden oder ihnen selbst: es ist, als ob sie darin nicht einen Zusammenklang der Stimmen, sondern einen Tapferkeitschor vernähmen. Sie haben es dabei vor allem auf die Rauheit des Klanges und dumpf dröhnenden Widerhall abgesehen, und um diesen zu erzeugen, halten sie die Schilde vor den Mund; so bricht sich der Ton in der Wölbung und schwillt mit verdoppelter K r a f t und Tiefe an." Daß das Wort „barditus" aus dem altnordischen Wort bardi: Schild abzuleiten ist und also soviel wie „Schildgesang" bedeuten soll, sagt uns freilich über die Form sehr wenig und scheint sich nur auf die Art der Ausführung zu beziehen, die durch das Hineinsingen in den Schildhohlraum etwas Schreckeneinflößendes bekommen sollte. Die falsche Auslegung des Wortes durch die Dichter des Göttinger Hainbundes als Gesang der „Barden", wie sich der Dichter- und Sängerstand der keltischen Völker nannte, führt uns zu der Frage, ob es bei den Germanen neben dem chorischen Gemeinschaftsgesang, der als „gartsanc" oder „gartleod" (ahd. gart: Kreis, Chor; leod: gesungene Melodie) bezeichnet wird, auch einen besonderen S ä n g e r s t a n d gegeben hat, dessen Angehörige als Einzelsänger auftraten oder etwa die Schöpfer der Gemeinschaftsgesänge waren. Auch hier tappen wir im dunkeln. Denn wenn wir bei den Westgermanen von einem „Scop" (bei den Nordgermanen „ S k j a l d e " ) als dem Dichtersänger im Gefolge des Königs hören, so können wir nur vermuten, daß damit ein schöpferischer Künstler gemeint ist, dessen Lieder dann von Mund zu Mund gingen und die Vorstufe für die späteren großen Heldenlieder-Zyklen wurden (Nibelungenlied, Gudrun). Solche Lieder von Göttern, Königen und Helden ertönten wohl als Sang beim Becherklang, und die Tatsache, daß dabei die 2

kleine, dreieckige H a r f e 1 ) von Hand zu Hand wanderte, setzte eine ziemlich allgemeine Vertrautheit mit der Technik des Instruments voraus, mindestens in den Kreisen der Vornehmen, bei denen diese Art musikalischer Betätigung zur Erziehung gehörte. Daß der Sänger bei den Germanen, ebenso wie bei den Griechen, eine besondere Verehrung genoß, ja eine geheiligte Person war, wie der nordische Skalde, der keltische Barde, das wissen wir aus mancherlei Zeugnissen. So heißt es in der „ L e x Anglorum et Verinorum, hoc est Thuringorum", daß derjenige, der einem Harfner die Hand durchbohre, dafür eine um ein Viertel höhere Buße zu zahlen habe als für einen gewöhnlichen Freien. Der altgermanisch-heidnische Sänger war eben kein bezahlter, angestellter Musikant wie die späteren Mimen (vgl. S. 25), sondern galt als etwas Höheres, als ein Gottbegeisterter, zu dem man aufschaute. Sein schönstes Abbild ist im Nibelungenlied Volker von Alzey am Hofe des Burgundenkönigs, der ein Künstler und ein Held zugleich war und der zu den einflußreichsten Persönlichkeiten im Hofstaate Gunthers gehörte, und im Gudrunlied Horant, der so „suoze sanc". Ob man mit der Harfe freilich akkordisch begleitete oder nur den Lure, Gesangston im Einklang stützte altgermanisches B l a s i n s t r u m e n t oder sie zu Vor- und Nachspielen verwendete, wissen wir nicht. Denn wenn wir im angelsächsischen „Beowulf" lesen: „ I n der Halle war Harfenklang und des Sängers lautes Singen", so verrät uns das eben leider nur die Verbindung von Vokal- und Instrumentalmusik. *) Spätlat. harpa bei Venantius Fortunatus als ein den Germanen 'eigentümliches sechsaitiges Saiteninstrument; vgl. frz. harpin: B o o t s h a k e n ; harpon: Harpune. Harfen wahrscheinlich „ m i t den Fingern z u p f e n " . Der älteste deutsche Fund s t a m m t aus einem Alemannengrab der Nachvölkerwanderungszeit; Original im Berliner Museum für Völkerkunde: A l e m a n n e n g r a b aus dem 6. Jahrhundert.

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Neben der Harfe kennen wir seltsame S-förmige Blasinstrumente aus Bronze, die sogenannten L u r e n (altnord. ludr: Horn), die in so wohlerhaltenen Stücken gefunden wurden, daß ihnen noch heute der posaunenartig tönende Schall entlockt werden kann, der das Instrument für gottesdienstliche Feier geeignet erscheinen läßt 1 ). Ob die Tatsache, daß sie stets paarweise aufgefunden wurden, und zwar beide in gleicher Stimmung, auf musikalische Zweistimmigkeit schließen läßt, ist höchst zweifelhaft. Vielleicht ertönten sie im Wechselklang oder verstärkten sich im Ein- oder Zweiklang. Daß das „ H o r n " für Jagd- und Kriegssignale in besonders hohen Ehren stand, so daß sein Verlust ebenso schimpflich war wie der des Schwertes, ist ja bekannt. Wer dächte nicht an Rolands Horn „Olifant" aus Elfenbein, dessen Schall acht Meilen weit tönte, oder an Siegfrieds Horn: ,,. . .Von rotem Golde führte der Held ein herrliches Horn", und an das fröhliche Hornsignal, das im Odenwald Gunthers und Siegfrieds Mannen zum Sammeln rief! Bei den Goten, dem anscheinend musikbegabtesten' der germanischen Stämme, scheint fein besonders reiches musikalisches Leben geherrscht zu haben; um öffentliches wie privates Leben schlang die Musik ihren Reigen. Hochzeit wie Tod zog die Musik zur Weihe heran; Umzüge bei jahreszeitlichen Festen, wie etwa beim Winteraustreiben oder bei der Winter- und Sommersonnenwende, waren ohne Musik ebensowenig denkbar wie heute eine Sonnwendfeier am brennenden Johannisfeuer2). Aber was helfen alle diese Feststellungen, da wir doch nicht wissen, wie diese altgermanische Musik klang3). Wir haben ja für diese Zeit in vieler Beziehung verzichten lernen müssen. Karl der Große, der erste, der den Wert des eigenen Volkstums erkannte, hat die Heldenlieder jener urtümlichen, wildbewegten Zeiten sammeln lassen; sein Sohn, der kirchenergebene Ludwig, ließ sie verbrennen, so daß uns von den sicher zahlreichen Die auf Island, in Norwegen, Schweden, Dänemark und in norddeutschen Mooren (Mecklenburg, Pommern) gefundenen Instrumente stammen aus der Bronzezeit um iooo v. Chr. Vgl. C. Sachs, „Geist und Werden der Musikinstrumente" (1929). Gedicht von Fontane „Lurenkonzert". Lurenschallplatte: Nordisk-Polyphon (Kopenhagen). 2) Vgl. E. Fehrle, „Deutsche Feste und Volksbräuche" (Natur und Geisteswelt). 3) Was sich theoretisch durch vergleichende Musikwissenschaft erschließen läßt, siehe C. Stumpf, „Die Anfänge der Musik" (1911); Moser, Geschichte der deutschen Musik, Bd. 1 (1923); Müller-Blattau in „Germanische Wieder-' erstehung", herausgegeben von Nollau. Der Dur-Charakter wird von den einen behauptet, von den anderen abgelehnt. Die pentatonische Wendung g-g-a-a-g-e in Kinderliedern, deren Texte mythisches Gut bewahren, ist vielleicht ein Überbleibsel aus ältester Zeit.

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Heldenliedern aus jener Zeit nur als kostbarstes Erbe und ältestes dichterisches Denkmal germanischer Kunst das balladenhafte Hildebrantslied erhalten ist, und das nur durch Zufall und als Bruchstück. In der uns erhaltenen Niederschrift in stabreimenden, ohne Gliederung aneinandergereihten Langzeilen ist aber aus dem ursprünglich gesungenen Heldenlied schon ein Epos geworden, das jedenfalls nicht eigentlich gesungen, sondern nur in einem feierlichen, singenden Deklamationston vorgetragen wurde, ebenso wie die erhaltenen Zaubersprüche und Runenlieder1). Es ist ewig schade, daß uns kein Klang, keine Melodie aus jenen Urzeiten unserer Vorfahren herübergrüßt. Denn wenn auch der römische Dichter Venantius Fortunatus, der Deutschland von Reisen her kannte, im 6. Jahrhundert spottete, daß bei den Germanen Heulen so viel Gewinn brächte wie Singen, und Gänseschnattem dem Schwanengesang gleich gelte; und wenn ein anderer Römer, Johannes Diaconus, in einer Lebensbeschreibung des Papstes Gregor I. noch im 9. Jahrhundert behauptete, das deutsche Singen gliche dem Herabpoltern eines Lastwagens vom hohen Berge —, wir Deutsche würden den altgermanischen Heldengesang doch lieben wie seinen späten weniger wilden Nachkommen, unser Volkslied; zum mindesten würden wir klarer erkennen, mit welchem musikalischen Eigenwert die Germanen in die neue Epoche eintraten, in der durch Verschmelzung germanischer Seelensubstanz mit christlich-römischem Geiste die deutsche Kultur des Mittelalters geboren wurde. ') Zur Dichtung vgl. A. Heusler, „Altgermanische Dichtung" (1923); zur Kultur und bildenden Kunst der germanischen Vor- und Frühgeschichte vgl. K. Schuchardt, „Vorgeschichte von Deutschland" (1928) und „Alteuropa" (1926).

II. CHRISTLICH-KATHOLISCHE MUSIK B I S ZUM AUSGANG DES MITTELALTERS Während in der germanischen Frühzeit Leben und Geist der Germanen sich ziemlich abgeschlossen und unberührt zu einer selbständigen, achtunggebietenden Originalkultur entfaltet hatten, beginnt seit dem Zusammenstoß der Germanen mit den Römern im deutschen Raum eine Kulturwende größten Ausmaßes, deren Ergebnis die Folgezeit der germanisch-deutschen Geschichte entscheidend bestimmt hat. Zwei Kulturströme münden in das bisherige Binnenmeer germanischen Volkstums ein: der Strom römischer Kultur, besonders nachdem der Grenzwall des Limes gefallen war, und das Christentum, nachdem irische und schottische Mönche, besonders aber Bonifazius, ihr Bekehrungswerk begonnen hatten. Zum ersten Male erlebt bodenständige Artung im deutschen Raum den Anprall fremder Kultur und ringt in einem jener fruchtbaren Mischungs- und Durclidringungsprozesse, wie sie immer wieder eigentümliches Schicksal der geistigen Entwicklung Deutschlands gewesen sind (vgl. S. 31, 80, 108, 127, 155, 186), um die Selbständigkeit eigener Leistung 1 ). Die Durchsetzung des germanischen Volkskörpers mit den neuen Gärungsstoffen geht in erster Linie von den Klöstern aus, die den Westen und Süden Deutschlands in dichtem Netz überziehen. Das Christentum hatte es nicht leicht, sich durchzusetzen. Die christliche Lehre mußte sich gewisse Angleichungen gefallen lassen, wie es zum Beispiel im „Heliand" zum Ausdruck kommt, wo Christus als „Gefolgsherr" erscheint und die freilich schwer begreifliche Forderung „Liebet eure Feinde" den herzensharten Germanen in besonderer Weise mundgerecht gemacht werden muß. Daß es sich aber durchgesetzt hat, dürfen wir mit Jacob Grimms „Deutscher Mythologie" als eine glückhafte Vollendung einer schon im heid1 ) Das Wort „deutsch" findet sich zum erstenmal in der Zeit Karls des Großen zur Bezeichnung für die Sprache der Ostfranken (theodisca lingua, ahd. theoda: Volk), und „deutsche" Kultur und deutsches Wesen haben sich erst mit der Rezeption des Christentums nach dem Zerfall des europäischen Reiches Karls des Großen (gest. 8i4) entwickelt.

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nischen Germanentum angebahnten seelischen Entwicklung ansehen. Vieles volkhaft Gewachsene ist in diesem K a m p f freilich ausgetilgt worden. Die alten Lieder wurden vernichtet, der alte Sängerstand starb ab. A n die Stelle der rhythmisch selbstherrlich-ungebändigten stabreimenden Langzeilen traten die ausgeglichenen Reimstrophen. Die Pflege der Literatur ging in die Hände von Geistlichen über, denen die Benutzung der lateinischen Sprache näher lag als die deutsche, weshalb Hauptwerke weltlicher Dichtung im io. Jahrhundert, wie das „Waltherlied" und der „ R u o d l i e b " , in lateinischer Sprache geschrieben sind; und erst das Erwachen des deutschen Nationalbewußtseins zur Zeit der Staufer gab der Dichtkunst K r a f t zu Schöpfungen eindeutig deutscher Prägung (vgl. S. 29ff.). Die germanisch-deutsche Baukunst des Holz- und Fachwerkbaues, wie sie der Heimat der Germanen, dem Urwald, organisch entwachsen war, weicht dem südlichen Mauerbau in Stein. Die Verehrung des Göttlichen nimmt ihren W e g aus dem heiligen Hain in die Kirche, deren Vorbild die römische Basilika wurde. K a r l s des Großen berühmte Aachener Palastkapelle mit ihren korinthischen Pfeiler- und Säulenkapitälen und ihren Mosaikbildern ist ganz nach südlichem Muster kopiert (San Vitale in Ravenna, 6. Jh.); Klosteranlagen und Kaiserpfalzen der Karolinger- und Ottonenzeit wachsen ebenso wie die Plastik dieser Zeit unmittelbar aus der altchristlichspätrömischen Kunst hervor. Erst mit der aus der bodenwüchsigen K u l t u r der Salier gespeisten ,.deutschen Sonderromanik" des 1 1 . und 12. Jahrhunderts (Speyer, Worms, Mainz) und dann seit den Staufern und dem Erwachen des deutschen Nationalbewußtseins im 13. und 14. Jahrhundert mit der „deutschen Sondergotik" (Magdeburg, Straßburg, Naumburg) kommt gegenüber starken französischen Einflüssen auch in Architektur und Plastik der deutsche Geist zum Bewußtsein und zum Ausdruck seiner auf naturhaften Individualismus und malerische Asymmetrie gestellten Eigenart 1 ). Wie wird sich die deutsche Tonkunst gestalten in dieser Zeit des K a m p f e s und der schicksalhaften Durchdringung germanischdeutscher K u l t u r mit christlich-romanischem Geist ? Vgl. R. Hamann, ,,Geschichte der Kunst" (1935) i H. Wölfflin, „Italien und das deutsche Formgefühl" (1931).

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i. D E R GREGORIANISCHE

CHORAL

E s ist klar, daß entsprechend den Trägern des neuen Geisteslebens die religiöse Musik im Vordergrund stehen mußte. Was die irischen Missionare aus ihrer Heimat, in der eine hohe Musikkultur zu Hause war, nach Deutschland mitbrachten, ist, abgesehen von den irischen Nationalinstrumenten, der Harfe und der Crotta, einem keltischen Streichinstrument, bedeutungslos geblieben im Vergleich zu der großartigen Organisation der kirchlichen Musik, die Bonifazius durch die Unterstellung der deutschen Kirche unter den römischen Bischof vorbereitet hat. In Rom hatte im Laufe der Jahrhunderte die Ordnung des Gottesdienstes, d. h. sowohl der täglichen Stundengebete als auch der Messe 1 ), textlich wie musikalisch feste Formen angenommen. Man bezeichnet diese Sammlung von Solo- und Chorgesängen liturgischer und hymnischer Art, die wahrscheinlich unter dem Papst Gregor I. (gest. 604) ihre endgültige Fassung bekommen hat (handschriftlich erst aus dem 9. Jahrhundert), als „Gregorianischen Gesang" oder „ G r e g o r i a n i s c h e n C h o r a l " 2 ) . F ü r den Stil dieser grundsätzlich einstimmigen Musik (unisono), die jegliche A r t von Instrumentalmusik schroff ablehnte, ist es bedeutsam, daß die psalmodischen Elemente, d. h. der musikalische Psalmen Vortrag, eine Weiterbildung der musikalischen Formen des jüdischen Synagogengesanges darstellen, während die Hymnen vom musikalischen Geiste des Orients und des Griechentums zehren3). x ) „Stundenoffizien": Vigilie, Prim, Terz, Sext, Non, Vesper, Completorium. „Messe": feierliche, unblutige Wiederholung des Opfers Christi. Name: Nach der ersten Hälfte der Messe (Staffelgebet, Introitus, Kyrie, Gloria, Kollekte, Epistel, Graduale, Evangelium, Credo) wurden die Katechumenen mit den Worten entlassen: ,,fte,missa est contio" (Geht, die Gemeinde ist entlassen); es folgte dann die „Gläubigen-Messe": Offertorium (Zurüstung), Konsekration (Weihe) und Kommunion (Opfermahl) mit den Gesängen „Sanctus", „Benedictus" und „Agnus Dei". „Missa solemnis": feierliches Hochamt. „Missa pro defunctis" (Anfangsworte: „Requiem aeternam dona eis"): Totenmesse. „Missae de tempore" (Proprium missae): nach den Festzeiten wechselnde Gesänge. Sämtliche Messetexte im „Missale Romanum"; neueste Ausgabe „Editio Vaticana" (Regensburg 1924). Die von den späteren Messekomponisten verwendeten, ständig gleichbleibenden Haupttexte (Ordinarium missae) im Anhang. Vgl. P. Wagner, „Geschichte der Messe, I. Teil: Bis 1600" (1913). 2 ) Vgl. P. Wagner, „Einführung in die Gregorianischen Melodien", 3 Bände (1911—1921); Johner, „Der Gregorianische Choral" (Engelhorns Musikalische Volksbücher, 1924). Die Gesänge zerfallen in ,,concentu§", das heißt wirkliche Melodien, und „accentus", das heißt Sprechgesang bei den Schriftlesungen. 8 ) Der Vermittler zwischen Orient und Okzident ist Ambrosius, der Bischof von Mailand (um 380), gewesen, der „Hymnen und Psalmen nach der Sitte des Morgenlandes" singen ließ, und zwar responsorial (Wechsel zwischen

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Die Texte sind natürlich lateinisch und fast ausnahmslos der Bibel entnommen, zum größten Teil den Psalmen. Die Pflege dieses Gesanges war nicht so einfach, weil man damals noch keine Notenschrift in unserem heutigen Sinne kannte. Man bezeichnete die Töne durch sogenannte „ N e u m e n " oder, wie dieses ursprünglich griechische Wort sagen will, durch „Gebärden".

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Die aus Punkten, Strichen und Haken bestehenden Notenzeichen sollten anzeigen, ob die Tonlinie fiel oder stieg; und wahrscheinlich waren sie auch nur für den Chorleiter bestimmt, der diese Zeichen dirigierend in der Luft nachzeichnete und so den Sängern andeutete, ob die Melodie stieg oder fiel, freilich nicht, um wieviel. Erst durch Erfindung der Notenlinien (ursprünglich eine!), auf die man zuerst die Neumen und später quadratische Punkte setzte, durch Guido von

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Dasselbe in heutiger Notenschrift

Arezzo im u . Jahrhundert ist es möglich geworden, die Melodien eindeutig festzulegen ( C h o r a l - N o t a t i o n 2 ) . Die Geltungsdauer der einzelnen Noten war damit freilich auch noch nicht festgelegt; der freie Rhythmus des Vortrages erwuchs aus dem dem Text selbst innewohnenden Rhythmus (vgl. die übertragenen Beispiele S. n f . 3 ) . Es ist klar, daß die Neumenschrift bei den Sängern eine Bekanntschaft mit den Melodien voraussetzte. Diese Kenntnis wurde in Rom durch die „schola cantorum" gepflegt und geübt. Das Singen aus dem Gedächtnis war also die Regel. Als Karl der Große, der in dem gemeinsamen Glauben ein Hauptbindemittel seines großen germanisch-romanischen Reiches sah, die Einführung der römischen Gesangbücher und der „cantilena Romana" im ganzen Reiche zur Pflicht machte, da entstanden auch nördlich der Alpen Sängerschulen, in denen ein reiches musikalisches Leben herrschte, so in Aachen die „schola palatina", andere in Metz, Trier, Fulda, Hirsau, Reichenau und St. Gallen. Im Anschluß an die Klosterschulen, die Träger damaliger Bildung, wurde hier praktisch und theoretisch Musik getrieben. Von den sogenannten „sieben freien Künsten" wurden im „Trivium" Grammatik, Rhe„ I c h sah das Wasser hervorbrechen aus dem T e m p e l auf der rechten Seite, Alleluia." Die Übertragung nach Wolf, ,.Handbuch der Notationsk u n d e " , Bd. i (1913), S. 104. Das Neumen-Original, das ich Herrn Prof. Wolf verdanke, aus der Preußischen Staatsbibliothek (Cod. theol. lat. quart. 11 fol. 48 r). 2) Vgl. J . W o l f , „ H a n d b u c h der Notationskunde", 1. B d . (1913); J. Wolf, „ D i e T o n s c h r i f t e n " (1924, Jedermanns Bücherei). 3) Eine Festlegung der einzelnen Notenwerte erfolgte erst m i t der „ M e n suralmusik" (mensura: das Maß; mensurabilis: meßbar); vgl. S. 76.

10

torik, Dialektik, im „Quadrivium" Astronomie, Geometrie, Arithmetik und Musik gelehrt. Der so von Italien nach Deutschland verpflanzte Gregorianische Gesang hat sich in der katholischen Kirche fast unverändert durch die Jahrhunderte bis heute erhalten. Sehen wir uns ein paar Stücke 1 ) aus dem alten Gregorianischen Gesang kurz an. Als Beispiel ganz einfacher Melodiebildung, bei der auf jede Note eine Textsilbe gesungen wird (syllabisch), sei folgender, besonders in deutschen Kirchen gern gesungener Hymnus angeführt (Tonart 2):

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Als Beispiel reicherer Ausbildung der Melodie durch Melismatik (Auszierung, Koloratur), wie sie vor allen Dingen das freudige Ausklingen (Jubilation) am Ende des Gradual-Hallelujas mit sich brachte, möge folgendes Stück (A und B) aus dem Gregorianischen Gesang dienen (Tonart 8): A.

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DreiHauptunterschiede kennzeichnen den Gregorianischen Gesang vor unserer heutigen Musikübung. E r kennt weder Taktstriche noch Pausenzeichen, noch eine Festlegung des Rhythmus durch bestimmte Notenwerte, also auch nicht den immer wiederkehrenden gleichmäßigen Takt, dessen Starrheit uns heute leider unentbehrlich erscheint, sondern wurde in einem aus dem Text erwachsenden freien Rhythmus vorgetragen. Die 2 ) Nach P. Wagner, „ D e r Gregorianische Gesang" (Adlers Handbuch der Musikgeschichte S. 94). Weitere Beispiele mit ästhetischer Würdigung in Johner, „Der Gregorianische Choral" (1924, Engelhorns Musikalische Volksbücher).

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Hauptursache dafür ist, abgesehen vom Einfluß des ebenfalls frei psalmodierenden jüdischen Tempelgesangs, daß den Gesängen unrhythmische Prosatexte zugrunde liegen. Er war einstimmig, d. h. er bestand nur aus einer Melodie (unisono), die sich wegen ihrer gleich zu erörternden tonartlichen Besonderheit der Möglichkeit einer eindeutigen Harmonisierung in unserm heutigen Sinne völlig entzieht. Soweit damals von einer Mitwirkung der Orgel1) die Rede sein kann, beschränkte sie sich auf eine Unterstützung des Gesanges im Einklang. Ein belebendes Element ergab die Verteilung des Vortrages auf einen Solisten und einen Chor (responsorisch) oder auf 2 Chöre (antiphonisch). Vor allem bewegte er sich in den von unseren Dur- und Molltonleitern sehr abweichenden K i r c h e n t o n a r t e n , deren die damaligen Musiktheoretiker 8 aufstellten, und zwar 4 ursprüngliche (authentische) und 4 abgeleitete (plagale), ohne daß sich die vorhandenen Melodien freilich in diesem Tonartenschema restlos unterbringen Die Orgel, 180 v . Chr. von dem in Alexandria lebenden Mathematiker Ktesibios erfunden (ursprünglich Organum hydraulis: Musikinstrument, dessen Winddruck durch Wasser reguliert wurde), tritt im 7. Jahrhundert in Italien, Spanien, E n g l a n d a u f . Ins Frankenreich wurde sie durch ein Geschenk des byzantinischen Kaisers eingeführt und diente im allgemeinen im Mittelalter als weltliches Instrument (Palast, Volksfeste, Tanz) und als Hilfsmittel beim Musikunterricht in Klöstern. In der Kirche hat sich die Orgel erst langsam eingebürgert, allgemein erst im 14. Jahrhundert. Von der schwerfälligen T a s t a t u r stammt der Ausdruck „ d i e Orgel schlagen". Vgl. K . Nef, „Geschichte unserer Musikinstrumente" (1926, Wissenschaft und Bildung); C. Sachs, „ H a n d b u c h der Musikinstrumente" (1920). 12

ließen. Die neben der bloßen Zählung gebräuchlichen Namen, die von griechischen und kleinasiatischen Volksstämmen hergenommen sind, beweisen die Verwandtschaft dieses Tonartensystems mit dem griechischen. , 1 N H „ 1 M 1 „ 1 || n 1 | r. Tonart (dorisch): 2. Tonart (hypodorisch):

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3» 5.7 werden authentische; 2,4,6,8 plagaleTonarten genannt. Die großen Buchstaben stellen den sogenannten Schlußton (Finalis) dar, der den zusammengehörigen authentischen und plagalen Tonarten gemeinsam ist (z. B. Schlußton für 1 und 2: D), die fetten Buchstaben eine Art Dominante („keperkussionston": häufig wiederholter Ton), die in Haupt- und Nebentoriarten verschieden ist. Im 16. Jahrhundert wurde durch den Schweizer Theoretiker Glarean („Dodekachordon") bereits unter dem Einfluß der mehrstimmigen Tonkunst die Zahl der Kirchentöne auf 12 erhöht, indem er noch die in der Volksmusik längst verwendeten Tonarten hinzufügte 9. Tonart (ionisch): 10. Tonart (hypoionisch): .11. Tonart (äolisch): 12. Tonart (hypoäolisch):

Wie aus den Tonleitern ersichtlich ist, enthält jede 2 Halbtöne, deren Lage jedoch ganz verschieden ist. Bei der ionischen (9.) Tonart entspricht sie unserer heutigen Dur-Tonleiter (Halbtöne zwischen 3 und 4, 7 und 8), bei der äolischen (11.) Tonart unserer heutigen Moll-Tonleiter (Halbton zwischen 2 und 3, 5 und 6). Da wir nach

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diesen beiden Systemen heute alle unsere Tonleitern aufbauen, sind uns also von dem Tonartenreichtum der Kirchentöne nur die beiden letzten geblieben: die ionische und die äolische Tonart, Dur und Moll. An chromatischen Veränderungen kennt der Gregorianische Choral nur die Erniedrigung des h in b. Eine musikalisch und textlich höchst bedeutsame neuschöpferische Weitung der alten von Papst Gregor festgelegten Chorälen Gesangsstücke stellen seit dem 9. Jahrhundert die S e q u e n z e n dar (lat. sequentia: Tonfolge), deren Wurzeln in Nordfrankreich zu suchen sind (altkeltisch?). In Deutschland wurde die neue Form besonders in St. Gallen von N o t k e r Balbulus (gest. 912) gepflegt, der zu ihrer künstlerischen Ausprägung und Entwicklung wertvolle Beiträge und Vorbilder geliefert hat. „Sequentiae" hießen ursprünglich die melodischen Verzierungen (Melismen) des gregorianisch-liturgischen Alleluia-Jubelgesanges. Ihnen unterlegte Notker freigestaltete Strophen eigener dichterischer Eingebung, wobei er jeder Note eine Silbe zuteilte (syllabisch). Daß die textliche Neuschöpfung gerade bei den Alleluia-Melismen mit ihrer Gefühlshochspannung anknüpfte, mußte die künstlerische Erfindung beflügeln. Musikalisch bildete Notker dabei einzelne Teile der gegebenen Melodien in freier Weise weiter. Die Eigenart dieser Neubildung ersehen wir am besten aus einer Notkerschen Sequenz und deren Vorbild 1 ): ©regortanifc^eä 3llteluia: A

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A n f a n g und Schluß der Notkerschen Melodie stammt also aus dem Gregorianischen Gesang; das Zwischenstück ist Notkers eigene Komposition; dem Ganzen ist aber statt der bloßen AlleluiaJubilation ein notenweise verteilter T e x t unterlegt worden. Besonders der Vortrag der Sequenzen durch einen Chor oder 2 miteinander abwechselnde Chöre (antiphonisch) stellte eine Neuerung dar, die im Verein mit der Möglichkeit neuer Textschöpfung im Ii. Jahrhundert viele geistliche Musiker zur Nachahmung anreizte (Berno von Reichenau und Hermann der Lahme). Die Beliebtheit der Sequenzen, die bald in die meist mehrstrophische geschlossene Lied- und Hymnenform übergegangen sind, erhellt daraus, daß bereits im 16. Jahrhundert in vielen Messebüchern jede Messe ihre eigene Sequenz hatte. Sie wurden aber durch päpstlichen Erlaß (1568) abgeschafft bis auf fünf, von denen zwei noch heute berühmt sind: „Dies irae" von Thomas von Celano (um 1230) und „ S t a b a t mater" von Jacopone da Todi (um 1300 1 ). Die Sequenz ist das Vorbild der „Leiche" geworden, durchkomponierter Dichtungen der deutschen Minnesänger und Meistersinger (vgl. S. 38). In ihrer Melodik haben die Sequenzen aber auch stark auf das deutsche Kirchenlied eingewirkt. Eine ähnliche fruchtbare Erweiterung der römischen Gregorianik stellen die sogenannten T r o p e n dar. (grch. tropos: Umbildung), Texterweiterungen der Art, daß den Koloraturen des K y r i e Gesanges Note für Note syllabisch verteilte neue Worte unterlegt wurden; z. B. K y r i e (statt der Koloratur auf e folgt nun: rex genitor ingenite) eleison. Meist blieben die Melodien dabei unverändert. A u s der Pflege solcher Neudichtungen, als deren Erfinder T u t i l o , der Bildschnitzer von St. Gallen, gilt (gest. 915), haben sich später nicht nur selbständige lateinische Lieder entwickelt, sondern auch ') Die berühmten Neukompositjonen des „ D i e s irae" in den Requiems v o n Mozart, Cherubini, Berlioz und Verdi, des „ S t a b a t m a t e r " von Palestrina, Pergolesi, Rossini und Cornelius sind Ausdruck säkularisierter musikalischer Spätkultur. In alter F o r m werden beide Sèquenzen noch heute in der katholischen Liturgie gesungen.

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die Motette in der Zeit der Mehrstimmigkeit hat von hier aus entscheidende Anregungen empfangen. Schon sehr früh entstand der dialogische Weihnachtstropus „Hodie cantandus est nobis puer" (Laßt uns heute den Knaben besingen, den der Vater geheimnisvoll vor aller Zeit und die Mutter in der Zeit geboren hat), der mit der Weiterführung durch die Frage des Chores „Wer ist dieser Sohn . . . " und die darauf folgende Antwort: „Der ist es, den die Propheten . . . " die ersten Ansätze zur dramatischen Ausgestaltung der Weihnachtsgeschichte in Gestalt des liturgischen Dramas geschaffen hat (vgl. S. 19) Kennzeichnend für die nach völkischer Eigenart strebende Selbständigkeit der deutschen Musiker ist übrigens, abgesehen von der selbständigen Weiterbildung des Gregorianischen Gesanges in Sequenzen und Tropen, daß auch die Gregorianischen Melodien selbst nicht unverändert übernommen und gesungen wurden 1 ). Wo nämlich in der romanischen Form sich die Melodie im Sekundschritt bewegt, etwa in Schlüssen wie d e d, sang man in Deutschland d f d ; wo die Romanen a h sangen, sangen die Deutschen a c; und auch in anderen Fällen wird die Spitze einer Linie gern nach oben geführt. Dunkel und rund sind die romanischen Melodien; hell und hochstrebend, den Geist der Gotik kündend, die germanischen Gesangsweisen. Übrigens war das schon im Mittelalter dem Aribo von Freising aufgefallen, der schreibt, daß die deutschen Sänger energische Tonbewegung und Sprünge liebten, während die romanischen gleitende Bewegung, Sekundschritte vorzögen (vgl. Volkslied S. 5if.).Die Römer beurteilten diese Selbständigkeit natürlich ganz anders und machten spöttische Bemerkungen. In einer Lebensbeschreibung Gregors I. finden sich folgende, nicht gerade höflichen Worte: „Unter den Nationen Europas waren es besonders die Germanen oder Gallier, die sich immer wieder bemühten, die Süßigkeit des römischen Gesanges zu erlernen. Sie waren aber nicht imstande, ihn unverderbt zu bewahren, teils weil sie leichtsinnig Eigenes einmischten, teils wegen ihrer angeborenen Wildheit. Denn entsprechend ihrem mächtigen Körper haben sie gewaltige Stimmen und können die Melodien nicht sanft wiedergeben, weil die Heiserkeit ihrer Säufergurgeln sie die zarten Weisen mit Holpern und Schreien ausführen läßt, wie wenn ein Lastwagen vom Berge über Stock und Stein herabpoltert." *) P. Wagner, „Germanisches und Romanisches im frühmittelalterlichen Kirchengesang" (Musica sacra, Oktober 1925).

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Auch in den Nonnenklöstern, die im allgemeinen ganz nach dem Vorbild der Mönchsorden musizierten, regte sich selbständiges musikalisches Leben. Abgesehen von der dichtenden und komponierenden sächsischen Nonne H r o t s u i t (Roswitha) von Gandersheim (um iooo), der ersten Frau in der deutschen Geistesgeschichte von männlicher Bildung, fällt vor allem die heilige H i l d e g a r d (gestorben 1179) auf, Äbtissin von Eibingen und Rupertsberg (bei Bingen), sowohl durch die Zahl (35 Antiphonen, 19 Responsorien, 9 Sequenzen, 5 Hymnen, ein Kyrie und ein geistliches Singspiel), als auch durch die aus Gregorianik und volkstümlichen Klängen seltsam gemischte Eigenart ihrer Musik1). Wie reich und vielseitig das musikalische Leben vor allem in den alemannischen Klöstern um den Bodensee gewesen sein muß, und wie interessiert und strebsam die Mönche an ihrer musikalischen Ausbildung und Vervollkommnung arbeiteten, beweist uns der Bericht Walahfried Strabos, des Abtes von Reichenau, für das J a h r 824: „Der eine spielte die Orgel, die allein zur Begleitung des Gesanges im Münster angewendet wird, der andere schlug die Harfe, ein dritter blies die Flöte oder die Trompete und Posaune; einige spielten die dreieckige Kithara oder die dreisaitige L y r a ; alle erhielten der Reihe nach Anleitung dazu und verwandten einen großen Teil ihrer Zeit darauf, sich in diesem Fach vollständig auszubilden." Auch wissen wir, daß die deutschen Kaiser von den Karolingern bis zu den Saliern bei ihren Besuchen in den alemannischen Klöstern ihre Freude an der dortigen Musikpflege gehabt haben. Die Tatsache, daß die von Italien eingeführte Gesangsart in Deutschland so weite Verbreitung fand, drängt natürlich die Frage auf, ob diese musikalische Invasion für Deutschland Nutzen oder Schaden gebracht hat. W. Pastor schreibt in seinem Buche „Die Geburt der Musik", das Auftreten des Chorals in Deutschland und die Jahrhunderte gregorianischer Oberherrschaft seien als ein kaum wiedergutzumachendes Nationalunglück anzusehen, weil damit eine rassefremde, katakombendumpfe Kunstanschauung die heimische Tonübung aus ihrer eingeborenen Bahn abgedrängt habe. Und H. J . Moser meint in seiner „Geschichte der deutschen Musik", „daß ohne die melodische Hochkultur des cantus Gregorianus die rein germanische Harmonik wohl nie über die Ausdrucksgrenzen des ') Herausgegeben von J . Gmelch, „Die Kompositionen der heiligen Hildegard in 32 Lichtdrücktafeln" (1913). ,,12 ausgewählte Lieder",hrg. von der Abtei St. Hildegard (1929). 2 Malsch, Geschichte der deutschen Musik

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Tiroler Jodlers und des Schweizer Kühreigens hinausgelangt wäre" Wenn uns auch letztere Meinung die wahrscheinlichere dünkt, mindestens soweit sie das Tempo der Entwicklung betrifft, so ist doch das Mißliche für eine Entscheidung zwischen beiden Urteilen, daß wir von der germanischen Musik vor der romanischen Invasion keinen Ton kennen. Zweifellos ist, daß das Eindringen des Gregorianischen Gesanges mit seiner reichen Melodik, seinem durchgebildeten musikalischen Grundgefühl und seinem auf feste Regeln gegründeten System einen Markstein in der deutschen Musikgeschichte darstellt, der den Beginn einer neuen musikalischen Epoche anzeigt. Vielleicht erscheint er manchem wegen seiner Einstimmigkeit auf zu einfache, wegen seiner Kirchentonarten auf uns fremd gewordene Mittel gestellt. Demgegenüber muß gewarnt werden vor einer Beurteilung dieser von unsinnlicher, unendlicher Feierlichkeit gespeisten Musik vom Standpunkt unseres harmonisch-polyphonen Musikempfindens aus. Nicht zu bezweifeln ist aber seine Einwirkung auf die weitere Entwicklung der deutschen Musik. Minnesang, Meistergesang, Volkslied sind so, wie sie geworden sind, ohne den Gregorianischen Gesang nicht denkbar. Sein außerordentlicher Melodienreichtum hat die Gesangskultur späterer Zeiten vorbereitet. Wer aber ganz tief in ihn hineinlauscht, hört in ihm schon geheimnisvoll die Wasser rauschen, die schließlich in den großen Meistern der Kirchenmusik (Palestrina, Bach) zu Strömen angeschwollen sind.

2. D A S L I T U R G I S C H E

DRAMA

Wie St. Gallen die Heimat der Sequenzen und Tropen ist, so ist es auch, im Anschluß daran, die Wiege des geistlichen Dramas geworden, das aus Tutilos Erfindung des Tropus herausgewachsen ist 1 ). Bereits um 900 wurden Weihnachten und Ostern vor der Messe tropische einstimmige Wechselgesänge von zwei Halbchören yorgetragen, so etwa Ostern folgender Wechselgesang: !) Vgl. Mone, „Schauspiele des Mittelalters", 2 Bände Texte (1846). Schubiger, „Das liturgische Drama des Mittelalters und seine Musik" (1876). Stammler, „Das religiöse Drama im deutschen Mittelalter" (1925).

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.Die Melodien sind einstimmig notiert. Nun sehen wir aber auf. unserem Minnesänger-Bild (S. 40) auch Instrumente, die offenbar der Begleitung dienten, und unser Notenbeispiel zeigt j a ein Vorspiel und ein Zwischenspiel. Ü b e r die A r t der Begleitung sind wir jedoch schlecht unterrichtet. So viel wissen wir allerdings, daß wir sie uns nicht e t w a so *) Dorische Kirchentonart (vgl. S. 13). Text von Hugo von Montfort, Weise von Burk Mangolt wie auch bei zehn anderen Liedern Hugos derselben Handschrift. Übertragung nach Wolf, „Handbuch der Notationskunde" (Bd. 1, S. 178).

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Wasser- und Weinlieder, Wander- und Scheidelieder, Natur- und Heimatlieder 1 ). Landschaftlich betrachtet, fließt der Liederquell am spärlichsten inNiederdeutschland. Das Sprichwort: „ F r i s i a n o n c a n t a t " bestätigt sich auch hier. Schwaben, Bayern, Franken, das Rheingebiet und das bayrisch-österreichische Alpengebiet treten in ihrer Sangesfreudigkeit wie heute, so auch damals am stärksten hervor. • Welche musikalischen Charakterzüge heben nun das Volkslied als etwas Besonderes, Neues von der bisher vorhandenen und besprochenen Musik der Gregorianik und des Minnesangs ab ? Es ist natürlich hier unmöglich, die reiche musikalische Architektonik des Volksliedes eingehend zu durchmustern. Es sollen nur einige wesentliche Züge im Angesicht des Volksliedes an wenigen Beispielen veranschaulicht werden. Aus dem erwähnten Berliner Liederbuch stammt folgende wehmütig-schlichte Liebesklage 2 ) (textlich ein selbständiger Sprößling der antiken Hero-Leander-Sage, die später in dem niederdeutschen Volkslied ,,Et wassen twe Küniges Kinner" wieder auftritt):

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Melodie des Volksliedes steigt nicht zum T e x t herunter, sondern zieht ihn in die klingende Höhe einer unveränderlichen G e s a m t stimmung. Das ist künstlerisch keine Enge, sondern nur stärkste B e t o n u n g der Idealität. Zu größeren Reibungen kommt es in dieser Beziehung übrigens schon deshalb nicht, weil j a auch die Strophen meist eine übereinstimmende Gesamthaltung haben. Jede-Strophe unseres Liedchens besteht aus 4 Zeilen, und jeder Zeile entspricht ein musikalischer Gedanke, eine „melodische Periode". Die Textzeilen sind nicht, wie bei den Meistersingern, nach einem starren T a k t (auf — ab — auf — ab) mit Silbenzählung, sondern nach dem altgermanischen Gesetz der H e b i g k e i t (2 Haupthebungen) gebildet, wie fast immer beim Volkslied. Die Zahl der Hebungen kann vermindert werden, w o f ü r im metrischen Gefühl dann eine Pause entsteht („wie gern w ä r ich bei dir — " ) ; die Ausfüllung durch unbetonte Silben ist beliebig („so rinnen zwei tiefe Wässer"). Dieser bewegliche Versbau hat das Volkslied v o r metrischer und musikalischer Einförmigkeit b e w a h r t (vgl. die nächsten Lieder). Eigentümlich wird jeden, der die Melodie spielt oder singt, etwas anderes berühren. Anfangs glauben wir, das Lied s t ü n d e i n d-moll und moduliere im 4. T a k t nach C-dur. U m aber von C-dur wieder nach d-moll zu kommen, brauchen wir nach unserem modernen harmonischen Empfinden ein Cis, das als „ L e i t t o n " 1 ) im vorletzten T a k t auftreten müßte. Daran, daß es fehlt, erkennen wir, d a ß wir es hier noch nicht mit d-moll zu tun haben, sondern mit der alten dorischen Kirchentonart (vgl. S. 13), und zwar in ihrer plagalen F o r m (hypodorisch); das Lied hat sich in dieser nur melodisch, nicht harmonisch empfundenen F o r m eben noch nicht v o m Einfluß der Kirchentonarten frei gemacht. Sehen wir aber von dieser kleinen Fremdartigkeit ab, so zeigt die Melodie eine Schmiegsamkeit und Geschlossenheit, die es zu einem kleinen K u n s t w e r k stempeln. Wie ist in diesen 8 T a k t e n nicht nur die schwermütig-sehnsuchtsvolle Gesamtstimmung eingefangen, wie steigt die melodische Linie bedeutsam in die Höhe bei der liebevollen A n r u f u n g „Eislein mein", u m dann beim B e w u ß t w e r d e n der tragischen Trennung zurückzusinken! Wie schließen sich aber auch, abgesehen v o m Ausdruck, die einzelnen, den Textzeilen entsprechenden musikalischen Perioden organisch und mit zwingender K r a f t zu einem geschlossenen Ganzen zusammen! Andere Lieder wieder stehen auf der Grenze zwischen KirchenHalbton unter der Tonika, der zu ihr hinleitet, wie H zu C, Fis zu G.

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t o n a r t und modernem Dur-Moll-Empfinden, so d a ß ihre Zugehörigkeit nicht leicht zu bestimmen ist. Sie scheinen zu einer H a r m o nisierung herauszufordern und widerstreben ihr dann doch, wie e t w a eins unserer ältesten Volkslieder, das Hildebrantslied, das den altgermanischen Epenstoff in bänkelsängerhafter Strophenliedf o r m wieder aufnimmt und wahrscheinlich schon u m 1200 ents t a n d e n ist (siehe S. 27). W i e sehr aber das immer stärkere Eindringen des „ L e i t t o n e s " im Sinne unseres modernen harmonischen Dominantbewußtseins ein Hauptkennzeichen der Volksliedmelodie ist, das sie unserem musikalischen Gefühl sofort näher rückt als die Minnesängermelodien, beweist die Tatsache, d a ß die größte A n z a h l der vorhandenen Melodien in vollständig eindeutigem D u r oder Moll e m p f u n d e n ist. Eins der edelsten alten Liebeslieder aus dem L o c h a m e r Liederbuch soll davon zeugen 1 ):

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Zeitloser Spiegel deutschen Fühlens! W u r d e es vor einem halben J a h r t a u s e n d geschrieben ? Wie herzlich und überzeitlich klingt die Versicherung innigster Verbundenheit! In der knappen Fassung dieser Fülle ist schon der T e x t ein kleines K u n s t w e r k , obwohl er in seiner Schlichtheit und metrischen Freiheit fast kunstlos zur Liebsten hingesprochen scheint. Die Melodie hat jede kirchentonliche E r i n n e r u n g abgestreift. In hellem D u r spannt sich der Melodiebogen über die W o r t e , die sehnsüchtige Stimmung des T e x t e s musikalisch ausweitend. Die formale Gliederung in Stollen-StollenM i t K l a v i e r b e g l e i t u n g v o n J. B r a h m s in seinen „ D e u t s c h e n V o l k s l i e d e r n " ( E d . B r e i t k o p f ) . M a g m a n c h e m die A u s d e u t u n g a l t e r Melodien d u r c h m o d e r n e H a r m o n i s i e r u n g als gesteigerter R e i z erscheinen, ihre Z e i t e c h t h e i t w i e ihre Zeitlosigkeit m u ß melodisch und r h y t h m i s c h a u s der eins t i m m i g e n Melodie h e r a u s e m p f u n d e n werden.

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Abgesang (mit Rückkehr zum Stollenausgang), wie wir sie bei den Minnesängern bereits kennenlernten (vgl. S. 3 6 ! ) , findet sich also auch beim Volkslied. Betrachten wir die Melodie im ganzen, so fallen die mehrfachen Tonsprünge auf (i. zum 2., 7. zum 8., 10. z u m 11. T a k t ) ; darin lebt als kennzeichnende Eigenart deutscher Melodiebildung gegenüber der romanischen Vorliebe für Sekundund Terzschritte etwas vom Geiste gotischer Zackigkeit, den schon die merkwürdige Umbildung gregorianischer Melodien ahnen ließ (vgl. S. 16). Singen wir nun den ersten Stollen, nachdem wir uns den T e x t recht ausdrucksvoll vorgesprochen haben, so kommt es vielleicht manchem zunächst mißlich vor, daß die von a zu d ansteigende Melodielinie das beim Sprechen unbetonte „die" so stark hervorhebt ; beim Singen des zweiten Stollens wird uns aber klar, daß die Erfindung der Stollenmelodie offenbar von hier ausgegangen ist und das wichtigste Wort dieser Zeile wie des ganzen Gedichtes „einziger" diese kraftvolle Wölbung des Melodiebogens hervorgetrieben hat. Wir ziehen die Lehre daraus, daß die Volksmelodien nicht jede einzelne Zeile ausdeuten, sondern wurzelhaft aus dem Wesentlichen wachsen. Für das Gleiche zeugt ja auch die Tatsache, daß die stimmungs mäßig oft verschiedenen Strophen mit der gleichen Melodie gesungen werden, wie es noch Goethe selbst für die Kunstlyrik für dä§ R i c h t i g § t o h i e l t . Wie dann im Abgesang der Melodiebogen nach den ersten besinnlichen Takten wieder kraftvoll ansteigt, das wirkt überzeugend im Ton eindringlichster Beschwörung und Beteuerung, die dann mit dem Quintensprung im Sinne verläßlicher Bestätigung männlich ausklingt. Musik und Text sind hier aus einem Geist zu einer unmittelbar und zeitlos wirkenden Einheit, zu einem Stück unverwelkliehen deutschen Lebens geworden. Das Fehlen metrischer Glättung und Regelmäßigkeit der Texte stellte den melodieschaffenden Musiker immer wieder vor neue Aufgaben sowohl hinsichtlich des formalen Aufbaus, der nicht immer mit dem ,,Stollen-Abgesang"-Schema zu gestalten war, als auch hinsichtlich der Melodiegliederung und Phrasierung (Folge: Taktwechsel, Polyrhythmik) 1 ). Gerade dieses häufige Fehlen einer gleichmäßigen Taktmessung innerhalb einer Melodie verleiht aber dem alten Volkslied im Gegensatz zu dem späteren taktgebundenen einen großen Formenreichtum und den Reiz des Naturhaften und Ursprünglichen. Vgl. z. B . Sahr, „ D a s deutsche Volkslied 11" (Göschen), S. 74 u. a.

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Ausgabe ins Neuhochdeutsche übertragen und eingerichtet von GümbelSeiling: „Deutsche Volksspiele des Mittelalters" Nr. 7 (Breitkopf & Härtel), gibt trotz der Modernisierung einen Einblick in Stoff und Aufführungspraxis (mit Noten). Ebenda noch der „Sündenfall" und das „Christgeburtsspiel" aus Oberufer, „Theophilus", und „Das Spiel von den 10 Jungfrauen". „Der verlorene Sohn" von Burkard Waldis in Kallmeyers Verlag.

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Von musikalischer Geschlossenheit, einem einheitlichen dramatischen Stil konnte unter diesen Umständen natürlich keine Rede sein. Das musikalische Material wurde genommen, wo es sich bot, aus dem Gregorianischen Gesang, dem volkstümlichen geistlichen und weltlichen Lied. Das Musikalische und Literarische wurde mit der Zeit aber sowieso immer mehr überwuchert vom rein Theatralischen. Und wenn wir in einem Wiener Spiel um 1300 Maria von Magdala singen hören (Moser): l

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Seine tiefe Wirkung bezeugt uns z. B. der Bericht über jene denkwürdige Aufführung (1322) der „Klugen und törichten Jungfrauen" vor dem thüringischen Landgrafen, der nach der Aufführung von so heftiger innerer Erregung über die ewige Verdammnis der törichten Jungfrauen ergriffen wurde, daß er in Tiefsinn und Siechtum verfiel, wovon ihn nach i } / 2 Jahren der Tod erlöste1). Und von solchen reinen Formen der mittelalterlichen Volksspiele aus gesehen, ist es zu bedauern, daß sie im 16. Jahrhundert fast völlig verschwanden. Die Gegnerschaft des Protestantismus, vor allem Luthers selbst, dem die Schaustellung des Leidens Christi auf der Bühne und das bedenkliche komische Beiwerk widerstrebte, hat im 16. Jahrhundert die alten Volksspiele, vor allem das Passionsspiel, in abgelegene Gegenden, besonders Bayerns und Österreichs, verdrängt, und dort hat man sie im 19. Jahrhundert wieder aufgespürt2) und dabei festgestellt, wie sie sich da, liebevoll von Generation zu Generation weitergepflegt, fast unverändert erhalten haben. In anderer, zu Prunk und Schaustellung im Dienste der Gegenreformation umstilisierter Form des sogenannten „Jesuitendramas" finden wir einen letzten Schößling des alten Volksdramas im Oberammergauer Passionsspiel erhalten, bei dem nach den verschiedenen modernisierenden textlichen und musikalischen Umbildungen in seiner heutigen Form von dem mittelalterlichen Charakter freilich so gut wie nichts übriggeblieben ist3). Wieweit die im Mittelalter sehr beliebten „Totentänze" Anlaß zu musikdramatischen Aufführungen gegeben haben, ist leider nicht bekannt4). Völlig aus dem unliterarischen Geiste realistischer Komik heraus entfaltet sich in der mittelalterlichen Stadt das F a s t n a c h t s s p i e l , das im Wirtshaus oder im Freien auf fliegender, schnell aufgeschlagener Bühne aufgeführt wurde, und in dem sich, besonders in Franken und Bayern, das nationale Leben der Zeit in Leid und Freud des Alltags spiegelte. Ihren Höhepunkt erreicht diese erste Fornrt. des deutschen Lustspiels in Nürnberg mit den Stücken von Hans Sachs. Aber hier, wo derber Witz und Satire Trumpf wsren, „Deutsche Volksspiele des Mittelalters" Nr. 8. Vgl. K . HeLdnann,„Mittelalterliche Volksspiele in den thüringisch-sächsischen Landen" (1908). 2 ) Vgl. „Volksschauspiele. In Bayern und Österreich-Ungarn gesanmelt von A. Hartmann. Mit vielen Melodien nach dem Volksmund aufgezeiclnet" (1880). 3 ) Vgl. „Das Oberammergauer Passionsspiel in seiner ältesten Gesialt." Herausgegeben von A. Hartmann (1880). 4 ) Vgl. W. Fehse, „Der Ursprung der Totentänze" (1907).

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war kein Raum mehr für die Entfaltung der musikalischen Kunst. Bis sich Lustspiel und Musik im deutschen Singspiel und der komischen Oper zusammenfanden, bis dahin hatte die deutsche Kunst noch einen Weg von fast 300 Jahren zu durchmessen.

4. Ö F F E N T L I C H E UND P R I V A T E M U S I K P F L E G E IM 15. J A H R H U N D E R T Selbst wenn das bürgerliche Mittelalter in Stadt und Land nicht so fest- und feierfreudig gewesen wäre, wie es der Fall war, blieben doch noch genug Anlässe übrig, wo Volkslied und Meistergesang nicht ausreichten, um den Festcharakter zu unterstreichen und den Musikbedarf zu befriedigen.Wenn draußen auf dem Dorf Erntefest, Hochzeit oder Kindtaufe gefeiert und unter der Linde das Tanzbein geschwungen wurde und es hoch herging, da war der Spielmann unentbehrlich, der die Fiedel unermüdlich strich, bis ihm der Arm lahm wurde und er nach dem Feste, mit Kleidern, Schuhen und anderen Gaben beschenkt, als fahrender Musikant weiterzog. E r blieb der alte, unstete Vagant, wie wir ihn schon im frühen Mittelalter kennenlernten, der noch in Dürers Holzschnitten zu finden ist. Stärker als auf dem Dorfe war der Bedarf an instrumentaler Gebrauchsmusik natürlich in der Stadt. Gar nicht zu reden vom unentbehrlichen musikalischen Nachtwächter, der im nächtlichen Dunkel der mittelalterlichen Stadt jede Stunde sein „Hört, ihr Herrn, und laßt euch sagen" musikalisch fast genau so sang, wie ihn Wagner in seinen „Meistersingern" (Schluß des zweiten Akts) singen läßt. Man brauchte Musik bei Familienfesten und städtischen Feierlichkeiten, wie Empfängen und Banketten, bei Aufzügen und Schützenfesten, zu Fastnacht und zur Kirch weih, zum Ständchenbringen, im Wirtshaus, wie bei den geistlichen Spielen und in der Kirche zur Begleitung der Messe, in immer wachsendem Umfang Vor allem der Tanz2) war eins der städtischen Haupt vergnügen. Wie stark das Tanzbedürfnis des bürgerlichen Mittelalters war, beweist eine Nachricht, daß 1 5 1 3 bei einer Kirchweih in Metz 600 Menschen 4 Tage lang getanzt haben sollen. Tanzte man auf Alte Türmersignale, Hochzeitsmusiken, Ständegesänge, Nachtwächterlieder, Stadtpfeifermärsche u. a. in H. J . Mosers „Tönende Volksaltertümer" (Hesse, 1935). 2 ) Vgl. Böhme, „Geschichte des Tanzes in Deutschland", B d . 1 (1886).

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dem Dorfe unter der Linde den „Scharrer, Kotzentanz, Tütelei, Firlefei, Hupfeldrei", so in der Stadt auf der Ratsst'ube oder im städtischen Tanzhaus die „Hof- und Geschlechterdäntz". Bei so lebhaftem Musikbedarf war der Musikant unentbehrlich, und so hielten die Instrumentalisten unter den fahrenden Spielleuten (vgl. S. 25) schon früh in der Stadt ihren Einzug; aus den Fahrenden wurden hier aber seßhafte Bürger, aus den ehrlosen Vaganten wurden nach dem Grundsatz „Stadtluft macht fre'i" wohlbestallte Beamte, die nach festgelegtem Lohntarif den amtlichen und privaten Musikbedarf zu befriedigen hatten. Wie die Handwerker schlössen sie sich zu ihrer wirtschaftlichen Sicherung in Zünften mit Meistern, Gesellen, Lehrjungen zusammen und bildeten in städtischem Dienste die „ S t a d t p f e i f e r e i " , wie sie manchenorts bis in die neueste Zeit bestanden hat, deren Tun und Lassen vom hohen Magistrat geordnet und kontrolliert wurde. J a , der mittelalterliche Genossenschaftsgedanke führte sogar zur Bildung größerer Landesverbände in Gestalt der sogenannten „Pfeiferkönigreiche", deren größtes und bekanntestes im Elsaß unter dem Schutz der Herren von Rappoltstein geblüht hat, und dessen „ P f e i f e r t a g e " eine strenge innere Disziplin übten und sich größten Ansehens erfreuten 1 ). Freilich eine andere Gruppe der ehemals fahrenden Musikanten, die sich zu dem hochangesehenen Stand der fürstlichen „ H o f trompeter und Pauker" entwickelte, hat ihre bürgerlichen Brüder in Apoll trotzdem immer über die Achsel angesehen. Beide aber, die Stadtpfeifer wie die Hoftrompeter, dünkten sich wieder hoch erhaben über den Stand der immer noch vorhandenen fahrenden Musikanten, der „Schergeiger, Bierfiedler, Lotter, Aftermusikanten, Stümper", zu deren Ahnen sie freilich einst auch gehört hatten. Fragen wir nun allerdings, wie die Musikantenmusik des bürgerlichen Mittelalters geklungen habe, so sind wir mit unseren Kenntnissen schlecht dran, weil sie wahrscheinlich in den meisten Fällen improvisiert wurde oder sich einfach an die geistliche und weltliche Gesangsmusik anlehnte oder, wie in der Tanzmusik, sich auf einfache, immer wiederholte rhythmische Motive beschränkte, die man nicht der Aufzeichnung für wert hielt, sondern aus dem Gedächtnis vortrug und innerhalb der Musikantenschaft von Generation zu Generation weitervererbte. Die Musikanten waren eben Handwerker, wie die Schuster und Schneider auch, die überlieferte Formen des täglichen Gebrauches weitergaben, und unter denen x ) Vgl. W. Jensens Roman „Der Pfeifer von Dusenbach" und Max von Schillings Oper „Der Pfeifertag" (1899).

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der Künstler in unserem modernen Sinne nicht zu finden w a r ; und so ist es bis ins 16. Jahrhundert geblieben. Die Spuren von Instrumentalmusik, die wir für das ausgehende Mittelalter in Deutschland nachweisen können, reichen jedenfalls nicht aus, um uns ein Bild von ihr zu machen. Erst im 16. Jahrhundert wird das Bild fester umrissen. Inzwischen hatte aber in Deutschland eine ganz neue Art der Musikübung ihren Einzug gehalten, die uns keinen Rückschluß auf das 15. Jahrhundert erlaubt. Außer den Berufsmusikern gab es, schon seit dem 14. Jahrhundert, bürgerliche Vereinigungen von Geistlichen und Laien, Männern und Frauen, die neben dem städtischen Organisten als K i r c h e n c h ö r e („Brüderschaften") im Verein mit den Schulchören unter Leitung des Kantors beim Meßgesang mitwirkten; da dieser im 15. Jahrhundert unter dem Einfluß der niederländischen Polyphonie immer mehr zum kunstvollen Chorgesang wurde (vgl. S. 82), setzte die Mitwirkung dabei eine nicht geringe musikalische Übung und Sicherheit voraus. Wie gut unterrichtet der Laie im kontrapunktlichen Können .war, wie wenig der einzelne sich als Laie gegenüber dem Fachmusiker fühlte, zeigt auch die Ende des 15. Jahrhunderts aufblühende H a u s m u s i k . Die für vokale und instrumentale Hausmusik bestimmten polyphonen Volksliedsätze, wie wir sie im Lochamer, Berliner und Münchener Liederbuch (vgl. S. 46) finden, sind jedenfalls von Liebhabern aufgezeichnet und auch ausgeführt worden, wofür die Kunst, Flöte, Schalmei und Fiedel zu spielen, unbedingte Voraussetzung war. Sicher spielte man sich zu Haus auch oft selbst zum Tanz auf, denn eine Reihe dieser Instrumentalsätze tragen die Bezeichnung von Tänzen, wie der „Rattentanz" (statt Tanz heißt es immer „schwantz" von schwänzeln), der „Fuchstanz", der „Pfauentanz", der „Kranichschnabel". Schauen wir die Melodie eines dieser mehrstimmig gesetzten Tänze an, etwa den „Kranichschnabel" 1 ),



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VI. D I E E N T W I C K L U N G D E R M E H R S T I M M I G K E I T B I S ZUM H Ö H E P U N K T D E S N I E D E R L Ä N D I S C H E N STILS E s ist ein nicht leicht aufzuhellendes, aber höchst bedeutsames und folgenschweres Kapitel der deutschen Musikgeschichte, wie die für unser Gefühl so selbstverständliche vokale und instrumentale Mehrstimmigkeit sich ihren Platz neben der bisherigen Einstimmigkeit des Chorals, Minnesangs, Meistergesangs und Volksliedes erobert hat 1 ). Wenn möglicherweise schon früh in Deutschland beim volkstümlichen Singen, wie wahrscheinlich auch im nördlichen Europa in Norwegen, Dänemark, England, eine Zweistimmigkeit in Terzen oder Sexten geübt worden war (Neidhards Lieder „ze terze" und „ze prime", und Königsaaler Chronik im 13. Jahrhundert: „die Laien singen überall auf Märkten und Tanzböden zweistimmig in kleinen Sexten"), so war das sicher eine kunstlose, rein gefühlsmäßige Übung, wie sie heute das Volk noch pflegt. Es war keine Kunstübung, die die Mehrstimmigkeit zum Grundsatz erhob und als besondere Kunst pflegte. Denn entscheidend blieb doch immer die Melodie, die zweite Stimme war eine bloße Begleiterscheinung ohne Selbständigkeit. Unwiderlegliche Zeugnisse bewußter Mehrstimmigkeit als Kunstmittel begegnen uns erst viel später, und zwar zu einer Zeit, wo in Außerdeutschland die Mehrstimmigkeit schon eine längere Geschichte hinter sich hatte und schon auf einem gewissen Höhepunkt mehrstimmiger Kunstübung an gekommen war. Die Ursachen für dies Zögern in der Übernahme der neuen Musikübung sind schwer zu finden. Fast wäre man versucht, in der Hochblüte des einstimmigen Volksliedes im 15. Jahrhundert, das für Frankreich und Italien eine Blüte der Mehrstimmigkeit zeitigte, etwas wie einen unbewußten inneren Protest gegen die Verkünstelung, die die Vereinigung und Verschlingung mehrerer Stimmen mit sich brachte, zu erblicken, wie umgekehrt die einstimmigen deutschen Volkslieder jener Zeit im Ausland auffällig unbekannt waren. Die neue Kunst setzte übrigens auch rein technische, sängerische Fähigkeiten voraus, in denen die Deutschen ja schon in früheren Zeiten offenbar hinter den romanischen Nationen zurückstanden Vgl. M. Schneider, „Geschichte der Mehrstimmigkeit", 3 B d e .

(1934).

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(vgl. S. 16). Und doch konnte sich auch Deutschland der neuen Kunst nicht verschließen. Denn in ihr lag, gegenüber der bisherigen Einstimmigkeit, die Zukunft. Sie stellt eine der umstürzendsten Tatsachen der abendländischen Musikgeschichte dar; hat sie doch das musikalische Schaffen und Empfinden so umgestaltet, daß seitdem die mehrstimmige Musik die fast ausschließliche Ausdrucksform künstlerischen Musikschaffens geworden ist. Wir können es nicht umgehen, einen kurzen Blick auf die außerdeutsche Entwicklung zu werfen, weil hier eine Reihe von Begriffen und Formen zum ersten Male auftauchen, die später von deutschen Künstlern übernommen und weitergebildet worden sind, und deren Kenntnis uns das Verständnis späterer Erscheinungen erleichtert. Die Kenntnis dieser Vorgänge ist auch interessant, und zwar deshalb, weil es für uns, denen die Mehrstimmigkeit selbstverständlich und geläufig ist, erstaunlich ist, wie unbeholfen die Anfänge der neuen Kunst sind, in einer Zeit, wo bildende Kunst und Literatur bereits reifste Kunstleistungen hervorgebracht haben. Es soll hier nicht die Rede sein von dem bereits im 7. Jahrhundert in Rom heimischen, aus der mittelgriechischen Musiktheorie hervorgegangenen zweistimmigen Kirchengesang in Quinten und Quarten (Paraphonie), auch nicht von jener „Organum" genannten Zweistimmigkeit in Quarten und Quinten, wie sie in dem, einem flandrischen Mönch Hucbald (um 840—930) zugewiesenen „Musikalischen Handbuch" beschrieben wird, die jedenfalls auf die römische Praxis zurückgeht. Gestreift sei auch nur, daß sich aus dem schon erwähnten, seit dem 12. Jahrhundert in Norwegen, Dänemark, England heimischen volkstümlichen zweistimmigen Singen in Terzen oder Sexten (cantus gemellus, Gymel: Zwillingsgesang) ein Akkordgesang in Quartparallelen mit Kontratenor in Sext- oder Oktavlage entwickelt (Fauxbourdon: falscher Baß); erwähnt sei auch nur, daß der aus England stammende berühmte, leider bis jetzt einzig dastehende „Sommer-Kanon" uns für das 1 3 . Jahrhundert schon eine ziemlich entwickelte Stufe kunstvoller volkstümlicher Mehrstimmigkeit zeigt x ), in einer musikalischen Form, die uns erst ein Jahrhundert später wieder durch Beispiele belegt ist. Die als „Polymelodie" oder „ P o l y p h o n i e " (Vielstimmigkeit) in die Zukunft weisende Stufe der Mehrstimmigkeit, d. h. der 4 Oberstimmen singen kanonartig: „Sumer is icomen in, lhude sing cuccu" (Sommer ist ins Land gekommen, Kuckucksruf erschallt), während 2 Grundstimmen in ständiger Wiederholung singen: „Sing cuccu, nu sing cuccu". Abgedruckt mit anderen Beispielen und historischen Erläuterungen zur Geschichte des Kanons bis zur Gegenwart in „Musikalische Formen in historischen Reihen", Bd. 17: „Der Kanon", bearb. von F. Jöde (Vieweg).

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Gleichzeitigkeit mehrerer Stimmen, die sich im Gegensatz zum „Organum" in ziemlicher Selbständigkeit zueinander bewegen, wurde im 12. Jahrhundert in Frankreich erreicht mit der Einführung des „Discantus" (dis-cantare: abweichend singen), einer zweiten obreren, selbständig sich entfaltenden Stimme (Gegenmelodie). Ausgangspunkt bei dieser Zweistimmigkeit war die Stimme des „Ténors" („Halter" von tenere: halten); er sang den „Cantus firmus", der dem Gregorianischen Gesang entnommen wurde, während die zweite Stimme „diskantierte", d. h. einen einfachen oder verzierten Nebengesang darüber ausführte. Zu diesen zwei Stimmen gesellten sich bald noch zwei andere: Dem Tenor legte man als Contratenor bassus (tiefer Kontratenor) eine wahrscheinlich instrumentale tiefere Stimme unter, woraus unsere Stimmbezeichnung „ B a ß " entstanden ist; und von ihm spaltete sich dann noch ein Contratenor altus (hoher Kontratenor) ab, woraus unsere Stimmbezeichnung „ A l t " entstanden ist, während der Diskant dann um 1500 den Namen „Sopran" (ital. Soprano von lat. supremus : höchste Stimme) bekommen hat. Solche mehrstimmige Musik wurde wahrscheinlich sowohl instrumental als auch vokal ausgeführt, und die im 1 3 . J a h r h u n d e r t in Frankreich entstandene Hauptform mehrstimmiger Musik war, abgesehen von dem Rondeau (Rondo) und der Ballade, die „ M o t e t t e " (jedenfalls nicht von motus brevis cantilenae, sondern vom franz. mot : das Wort, der Spruch, ital. motto), Gesangsstücke, in denen das zugrundeliegende „ W o r t " des Tenors durch die Oberstimmen textlich und musikalisch eine weitere Ausführung erhielt. Eigenartig erscheint uns dabei, daß manchmal die Einzelstimmen Texte verschiedener Sprache und verschiedenen Inhalts sangen 1 ), so daß eine inhaltliche Einheit also gar nicht vorhanden war. Ein solcher mehrstimmiger Satz stellt die vollkommenste Ausprägung des „linearen Kontrapunktes" dar, weil jede Einzelstimme als selbständige Melodielinie geführt wird, ohne Rücksicht auf den Zusammenklang, für den man nur für die schweren Taktzeiten einen „Wohlklang" (Terz, Sexte, Oktave) verlangte. Im übrigen nahm man an „Dissonanzen" keinen Anstoß (Sekunden, Quarten, Septimen). Soweit die Motetten kirchlich waren, dienten sie der Ausschmückung des Gottesdienstes vor oder nach der Meßliturgie oder wurden auch in diese eingeschoben. Beispiele in J . Wolf, „Geschichte der Musik" („Wissenschaft und Bildung") und A. Einstein, „Beispielsammlung zur älteren Musikgeschichte" (Natur und Geisteswelt). Der bedeutendste französische Motettenmeister war Guillaume de Machaut (1300—1371).

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Die Schwierigkeit der Ausführung solcher Sätze mit selbständigen Einzelstimmen hat eine neue, sehr wichtige Erfindung gezeitigt: die Einführung einer neuen Notenschrift. An die Stelle der bisher für den „Gregorianischen Gesang" verwendeten, nur die Tonhöhe anzeigenden „Choralnotation" (vgl. S. 9) trat die „ M e n s u r a l n o t a t i o n " 1 ) , die auch die Dauer des einzelnen Tones festlegte, weil es sonst ja gar nicht möglich gewesen wäre, die textlich und musikalisch selbständigen Stimmen zusammenzuhalten.

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Schon diese beiden Stellen zeigen wesentliche Züge des Haßlerschen a-cappella-Liedes 3 ) und des neuen deutschen Stiles überhaupt: die oberste Stimme führt als Melodie; nach einer linearen Selbständigkeit der übrigen Stimmen wird nicht so sehr gestrebt wie nach ihrer Einordnung in das harmonische Gefüge (vgl. damit den Innsbruck-Satz Isaaks S. 82). Dieses aber bekommt eine große Beide Sammlungen, hrg. von Saalfeld, im Bärenreiter-Verlag. -) Nebst 9 weiteren Haßler-Liedern im ,, Volksliederbuch für gemischten Chor" (Peters). 3 ) Zwei vierstimmige Lieder aus seiner 4—8stimmigen Sammlung „Neue teutsche Gesang nach Art der welschen Madrigalien und Kanzonetten" (1596) in Leichtentritt, „Deutsche Hausmusik aus vier Jahrhunderten" (Hesse). 8 Malsch, Geschichte der deutschen Musik

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Geschmeidigkeit im Dienste der Textausdeutung (Modulation nach D-Dur bei „Jungfrau zart"). Die Rhythmik strebt im Vergleich zu der rhythmischen Kompliziertheit des alten polyphonen Satzes nach Ausgeglichenheit und Einfachheit. Die Melodie aber, in der von Kirchentonarten nichts mehr zu spüren ist, verrät den eigentlich deutschen Zug Haßlers: sie quillt wie die des alten Volksliedes aus gemütvoller deutscher Treuherzigkeit und weist Haßler mit den meisten seiner Melodien in die erste Reihe der großen deutschen Liederkomponisten. Ähnliche Merkmale des Übergangs: Neuerungen nach A r t der Italiener und treue Bewahrung der alten Art zeigt die Kunst seines älteren österreichischen Zeitgenossen Jacobus G a l l u s (eigentlich Handl, 1550—1591), des „deutschen Palestrina", Ein besonders berühmtes Stück von ihm ist die vierstimmige lateinische Motette „Ecce quomodo moritur iustus", die noch bis in Bachs Zeiten häufig als Begräbnisgesang verwendet wurde 1 ) und der man trotz des akkordischen Satzes keine übertriebene Neuerungssucht nachsagen könnte. Wie stark aber auch er unter dem Einfluß des venezianischen Musikideals steht, beweist nicht nur die Verwendung der Echochöre in seinen Motetten und das Streben nach musikalischer Ausdeutung des Textes, sondern vor allem eine Stelle wie die folgende, die ihn mehr als Haßler im Banne der italienischen Chromatik 2 ) zeigt: com-mix - ti - 0 - nem

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Das waren freilich südliche Klänge, an die sich deutsche Ohren damaliger Zeit erst gewöhnen mußten. Neben der leidenschaftlich vorwärtsdrängenden Kunst dieser beiden Meister steht die bedächtiger zurückhaltende A r t von Meistern wie Joachim a Burgk (1546—1610), und vor allem des bedeutenden Leonhard L e c h n e r (1550—1606), dessen Verschmelzung von alter und neuer A r t uns Lieder von ganz eigenartig herbsüßem 1 ) „Siehe, so stirbt der G e r e c h t e . " „ V o l k s l i e d e r b u c h für gemischten C h o r " , Nr. 25. 2) A u s seinem an chromatischer H a r m o n i k reichen „ M i r a b i l e m y s t e r i u m " (^stimmige Motette).

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Reiz geschenkt hat 1 ). Und als der schon früher erwähnte LassoSchüler, der Herzoglich Preußische Vizekapellmeister Johannes E c c a r d , 1589 in Königsberg seine „Neuen geistlichen und.weltlichen Lieder" erscheinen ließ, da war mit ihnen der Liedsatz im Madrigalstil bis in die fernste Ecke Deutschlands gedrungen und hat dabei eine letzte Blüte des mehrstimmigen deutschen a-cappellaLiedes gezeugt, die die musikalische Bildung des Gesamtvolkes noch einmal in hellem Licht erstrahlen läßt 2 ). Einer besonderen Hervorhebung bedürfen noch die ebenfalls durch Haßlers Vorbild geförderten Anfänge einer selbständigen deutschen O r c h e s t e r m u s i k . E s wurde schon mehrfach darauf hingewiesen (vgl. S. 104), daß bisher f ü r das Musizieren mit Instrumenten als Vorlage die mehrstimmigen Sätze von Liedern und Motetten benutzt wurden und eine strenge Scheidung von Vokal- und Instrumentalmusik nicht existierte. Nur f ü r den Tanz traten schon im Mittelalter kleine selbständige Instrumentalstückchen auf, und im 15. J a h r h u n d e r t begegneten uns schon solche anspruchslosen, mehrstimmigen Sätzchen, die nur f ü r Instrumente bestimmt waren und seltsame Namen trugen, wie Pfauenschwanz, Katzenpfote, Kranichschnabel, Rattenschwanz (vgl. S. 7 1 ) ; und die Tanzlust bürgerlicher und adliger Kreise brachte in der Mitte des 16. Jahrhunderts in Deutschland gedruckte Sammlungen von instrumentaler Tanzmusik aus aller Herren Länder hervor. Zur Höhe künstlerischer Produktion hebt unter dem Einfluß der neu entwickelten italienischen Instrumentalmusik erst Haßler.diese Gattung, indem er einem seiner Liederbücher „ I n t r a d e n " beifügt, feierliche instrumentale Einleitungsmusik für alle möglichen Festzwecke 3 ). Eine erstaunlich reiche Produktion selbständiger Instrumentalmusik schließt sich in den nächsten zwei Jahrzehnten daran an, und zwar gilt sie in erster Linie der Tanz- und Festmusik 4 ). Seine „Neue Teutsche Lieder mit 5 und 4 Stimmen" und andere Werke im Bärenreiter-Verlag. 2 ) Sammlungen: C. Thiel, „Motetten und Madrigale" (Sulzbach); Jöde, „ A l t e Madrigale und andere A cappella-Gesänge aus dem 16. Jahrhundert" (Kallmeyer). Herrmann, „Deutsche Madrigale aus dem 16. und 17. J a h r hundert" (Tonger). Eccards „Geistliche Lieder" bei Kallmeyer. Des zeitgenössischen Engländers Dowland Madrigale im Bärenreiter-Verlag. 3 ) Zwei sechsstimmige Intraden für 3 Violinen, 2 Violen und Violoncello, herausgegeben von Schering (Kahnt. „Perlen alter Kammermusik"). 4 ) Festmusiken und Tänze des 16. bis 18. Jahrhunderts in „InstrumentalSpielbuch", hrg. von Fortner (Ed. Schott). „Tänze des 16. und 17. J a h r hunderts" in Klaviersatz, hrg. von Antone (Bärenreiter-Verlag).

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Den älteren Formen der P a v a n e n (oder Paduanen, weil angeblich aus Padua) im Yiertakt, „fürnemlich zu gravitätischen Täntzen ordinirt und gerichtet", aber auch für feierlichen Festzug verwendet, sowie der G a i l l a r d e n (ital. Gagliarda) im Dreitakt, ursprünglich ein schnellerer Nachtanz (Proporz) zum Reigentanz der Pavane, gesellen sich als modernere Formen bald A l l e m a n d e n und C o u r a n t e n ; und die Frische und Herzlichkeit dieser Kompositionen, besonders der Pavanen, spiegelt die Ehrlichkeit und Geradheit des alten deutschen Bürgertums wider: „Wie Albrecht Dürer sie hat gesehn : Ihr festes Leben und Männlichkeit, ihre innre Kraft und Ständigkeit" (Goethe). Wichtig für die Weiterentwicklung aber war, daß, wieder nach dem Vorbild italienischer Komponisten, ein Zusammenschluß solcher Tanzformen zu einem mehrsätzigen Stück vorgenommen wurde, dessen künstlerische Einheit durch eine gemeinsame Melodie gewahrt wurde. Es entstand die Form der „ S u i t e " („Folge", oft auch „ P a r t i t a " genannt), deren Einzelsätze, in der gleichen Tonart stehend, Variationen des gleichen musikalischen Gedankens sind („Variationen-Suite"). Nach den ersten deutschen Versuchen des Steyrer Organisten P e u r l (1611) -wurde kurz darauf ihr bedeutendster Vertreter der Leipziger Thomaskantor Johann Hermann S c h e i n mit seinem

„Banchetto musicale, Neuer anmutiger Padouanen, Gagliarden,

Couranten und Allemanden a 5, auff allerlei Instrumenten, bevoraus auf Violen lieblich und lustig zu gebrauchen" (1617 1 ). Das Werk enthält 20 Studentenmusiken, in denen besonders die Allemanden durch ihre kernige, volkstümliche Art auffallen, während die übrigen Stücke stärker unter dem Einflüsse des rhythmisch und harmonisch unruhigeren venezianischen Stils stehen. Jedenfalls stellen seine Suiten den Höhepunkt der älteren deutschen Orchestersuite dar und den Ausgangspunkt der selbständigen deutschen Instrumentalmusik: Alles in allem: Gesunde Lebensfreude, starkes Kraftgefühl und festes Selbstbewustsein schienen um 1600 alle der deutschen Bürgerkultur des Reformationsjahrhunderts drohenden Gefahren bannen zu können. Da zog Deutschlands bisher größtes Nationalunglück herauf: der Dreißigjährige Krieg. J. H. Schein, „Fünf Suiten für Instrumente zu vier und fünf S t i m m e n " (Kallmeyer). Gesamtausgabe von Prüfer in Ed. Breitkopf.

VIII. DAS J A H R H U N D E R T D E S G R O S S E N K R I E G E S (BAROCKZEIT) In die Blüte kulturellen Lebens des 16. Jahrhunderts brach wie ein verheerender Sturmwind der Krieg ein, der 30 Jahre lang Deutschland verwüsten und fast als Trümmerhaufen zurücklassen sollte 1 ). Das Reich war geborsten, die Einheit der nationalen Kultur zersplittert. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung war zugrunde gegangen, Krankheit, Not und Tod hatten fürchterlich gehaust. Das deutsche Bürgertum, im 16. Jahrhundert im Gegensatz zu der Ausländerei der Höfe Hort deutschen Fühlens und Wollens, war materiell und moralisch tief gesunken. Unzählige Scharen verwilderter Soldaten aller Länder Europas hatten nicht umsonst jahrelang Deutschland überschwemmt : deutsche Sprache und deutsches Wesen waren mit Fremdem durchsetzt worden, und wie nach dem Verglimmen des großen Kriegsbrandes die Fürsten und kleineren Potentaten, die als einziger Stand dem „ S t a h l b a d " des Krieges gestärkt entstiegen waren, keinen größeren Ehrgeiz kannten, als mit dem Geld ihrer Untertanen ihren Hof zu einem möglichst getreuen Abbild des französischen „Sonnenkönigstums" zu machen, so griff auch in breiten Schichten des seelisch geschwächten, seines Selbstgefühls beraubten Volkes eine würdelose Nachäffung „alamodischen" französischen Wesens in Kleidung und Benehmen immer mehr um sich, und Sprachgesellschaften kämpften einen verzweifelten Kampf um die notdürftige Reinhaltung der mit Brocken aus allen Ländern Europas durchsetzten Sprache. Mit Recht konnte Logau (gest. 1655) die bitteren Worte prägen: „ A l a m o d e Kleider, alamode Sinnen, W i e sich's w a n d e l t außen, so wandelt sich's auch innen."

Weltanschaulich zeigt das Jahrhundert, das man nach dem neuen dekorativen Prunkstil der bildenden Kunst auch das Barockzeitalter nennt, seltsame, jedoch aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung begreifliche Gegensätze. Der mit der Renaissance beginnende große Säkularisierungsprozeß hat die alte, Irdisches und Himmlisches umspannende „civitas Dei" zerbrochen, ein neues Weltbild beginnt sich zu entwickeln. Religion und Kirche haben ihre beherrschende Großartiges G e s a m t b i l d : Ricarda Huch, „ D e r große Krieg in Deutschl a n d " (3 B d e . 1912).

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Stellung verloren, und die weltlichen Dinge lösen sich immer mehrvon ihrer Beziehung auf Gott. In der Physik, Mathematik und Medizin werden die Grundlagen eigenständiger Entwicklung gelegt; Erfindungen (Thermometer, Barometer, Mikroskop, Fernrohr) zeugen von der wachsenden Beherrschung der Natur. Eine neue Philosophie (Descartes: cogito, ergo sum) schmiedet im Glauben an die Vernunft die Waffen f ü r die beginnende „ A u f k l ä r u n g " . Daneben quillt eine neue religiöse Inbrunst auf (Jakob Böhmes Mystik), die in schroffem Gegensatz zu der neuen Naturbetrachtung steht; und neben kritischer Wissenschaft machen sich Alchimie und Astrologie (Wallenstein!), Wunder- und Aberglauben breit. So wird das 17. Jahrhundert zum Kampffeld der Auseinandersetzung zwischen Mittelalter und Neuzeit, Jenseits und Diesseits, Weltverneinung und Weltbejahung, Glauben und Vernunft. Daß eine solche Zeit kriegerischer Wirren und weltanschaulicher Zwiespältigkeit keinen gesunden Nährboden für die Kunst bieten konnte, ist klar; sie offenbart deutlich die Unsicherheit des zwischen Welt und Gott schwankenden Lebensgefühls, wie es die dichterisch bedeutendste Leistung jener Zeit, Grimmelshausens „Simplicius Simplicissimus" deutlich spiegelt. Die Dichter selber verlieren das Selbstgefühl, und die Dichtung büßt ihr selbstsicheres Wachstum ein. Dichter wie Opitz meinen, daß die Kunst „durch Ergötzen belehren" solle, Harsdörfers „Poetischer Trichter", eine Anleitung, „die deutsche Dichtkunst in 6 Stunden einzutrichtern", hält dichterisches Schaffen für lehrbar; mangels eigener Schöpferkraft sieht man das Heil in der Nachahmung fremder Literaturen, besonders der antiken und französischen; aber aus dem barocken Prunkstil, dem „galanten" Schwulst, der Geziertheit und Lüsternheit der zweiten_schlesischen Dichterschule (Gryphius, Lohenstein, Hofmannswaldau), deren Götter die italienischen Barockdichter waren, gähnt uns eine erschütternd leere Pracht entgegen, und in den byzantinistischen „Hofpoeten" erreicht die deutsche Poesie .ihren größten Tiefstand. Gelang wirklich einmal ein deutsches Gedicht, so kam es gewiß aus einem gepreßten Herzen, das seinen Schmerz über die Not der Zeiten klagte oder in Resignation seine Sache Gott anheimstellte (Fleming, Paul Gerhard), ohne dabei freilich noch die Glaubensgewißheit früherer Zeiten zu besitzen. Die bildende Kunst schwieg völlig in einem Jahrhundert, in dem die Barockkunst Italiens (Bernini), der Niederlande (Rubens, Rembrandt) und Spaniens (Velasquez, Murillo) unerhörte Leistungen vollbrachten und für die Baukunst wie für die Malerei ein neues Raumgefühl geboren wurde. Erst um die Jahrhundertwende 118

erwachte das deutsche Kunstschaffen in der Baukunst zu neuer Schöpferkraft (Fischer von Erlach, Schlüter, Pöppelmann), nachdem auch wirtschaftlich allmählich die schlimmen Folgen des großen Krieges überwunden.waren. Das auf dem Boden des gediegenen Handwerks blühende Kunstgewerbe der Reformationszeit war vernichtet. Und die Musik ? Das deutsche Volkslied verstummte, die alten Volkslieder wurden von den „Gebildeten" als Gassenhauer angesehen; die bisherigen Hauptpflegestätten der Gemeinschaftsmusik: die Schulchöre und Kantoreien (vgl. S. 94) gingen ein, die fürstlichen Kapellen konnten aus Mangel an Mitteln nicht aufrechterhalten werden, und man sollte meinen, daß 1648, als Paul Gerhardt sang: „Gottlob, nun ist erschollen das edle Fried- und F r e u d e n w o r t . . . " , alle Keime ferneren musikalischen Wachstums in dem „von Blutwellen gleichsam überschwemmten Vatterland teutscher Nation" erstickt gewesen wären. Nachdem sich dann die fremden Kriegsvölker verlaufen hatten, begann mit dem Zeitalter des Absolutismus und der politischen Ohnmacht Deutschlands „italienische Zeit", in der das deutsche Musikleben von italienischen Künstlern und italienischer Kunst förmlich überschwemmt wurde, und zwar einer Kunst, die im Vergleich zum bisherigen deutschen Musiksystem von einem ganz neuen Geist getragen wurde, der die Quellen bodenständiger deutscher Kunst zu verschütten drohte. Es ist für die Unverwüstlichkeit deutscher Musikalität kennzeichnend, daß sie trotz der schweren Zeitläufte und des verführerischen Reizes der neuen italienischen Kunst nicht einer geistlosen Nachahmung verfallen ist, sondern durch einen bedächtigen, fruchtbaren Aneignungsprozeß Altes und Neues, Eigenes und Fremdes zu einer neuen Einheit verschmolz und so trotz ihres Übergangscharakters Werke von durchaus deutschem Eigenwert hervortrieb. Sie hat so die sehr gefährdete Stetigkeit der deutschen Musikentwicklung gewahrt und die unentbehrlichen Voraussetzungen für den Aufschwung der deutschen Musik im 18. Jahrhundert geliefert. Die folgenden Abschnitte werden das zu belegen und damit, wie schon einmal (vgl. S. 80), zu beweisen haben, wie es zwar ein stets sich wiederholendes Schicksal deutscher Kultur und Kunst gewesen ist, Fremdes aufzunehmen, wie aber gerade darin sich deutsche Art bewährt hat, daß aus der Beimischung von fremden, besonders südlichen Säften zu germanischem Grundstoff, durch die Vereinigung von südlicher Schönheit mit nordischem Ausdrucksstreben, von Renaissance und Gotik, wahrhaft Großes entstand, das über die deutschen Grenzen hinaus wertbildend wurde (vgl. Schütz, Bach, Händel, Haydn, Mozart). 119

i. D E R N E U E STIL, H E I N R I C H UND DIE PROTESTANTISCHE

SCHÜTZ

KIRCHENMUSIK

VOR BACH E s w a r ein k a u m zu überschätzender Segen f ü r die d e u t s c h e M u s i k e n t w i c k l u n g , daß in dieser Zeit der G e f ä h r d u n g der geistigen S e l b s t ä n d i g k e i t Deutschlands, der (bis zu Mozart währenden) l e t z t e n g r o ß e n Auseinandersetzung zwischen südlichem u n d n ö r d l i c h e m Musikgeist, ein Mann von überragendem seelischem W u c h s der d e u t schen Musik erstanden w a r , der, alle übrigen Musiker des 17. J a h r h u n d e r t s überschattend, richtunggebend und zielsetzend d u r c h d a s J a h r h u n d e r t der geistigen Übergangs- und V o r b e r e i t u n g s z e i t s c h r e i t e t : H e i n r i c h S c h ü t z ( 1 5 8 5 — 1 6 7 2 , geb. in K ö s t r i t z 1 ) . 55 J a h r e lang, bis zu seinem T o d e , ist er oberster L e i t e r der K u r f ü r s t l i c h Sächsischen K a p e l l e in Dresden gewesen, hat sie mit K o m positionen f ü r Kirche und „ K a m m e r " , d. h. f ü r weltliche F e s t l i c h keiten, v e r s o r g t und sie mit A u f w e n d u n g eigener Mittel in s c h w e r e n Zeiten v o r völligem Verfall b e w a h r t . In g a n z D e u t s c h l a n d a b e r h a t er sich als Mensch und K ü n s t l e r so sehr die Liebe u n d V e r e h r u n g seiner Zeitgenossen erworben, d a ß sie ihn den „ V a t e r der d e u t s c h e n M u s i k a n t e n " nannten. Dieser Titel g e b ü h r t i h m aber a u c h d e s h a l b , weil er als Senior am A n f a n g der langen Reihe g r o ß e r d e u t s c h e r Meister s t e h t , mit denen die musikalische V o r h e r r s c h a f t in E u r o p a e n d g ü l t i g auf Deutschland übergeht. I h m ist es auch zu danken, d a ß v o n nun an die p r o t e s t a n t i s c h e K i r c h e n m u s i k ihren eigenen, fortschrittlichen d e u t s c h e n W e g g e h t i m G e g e n s a t z zur katholischen K i r c h e n m u s i k dieser Zeit, die w o h l a u c h W e r k e voji selbständigem W e r t h e r v o r b r i n g t , deren S c h ö p f e r aber e n t w e d e r Italiener sind oder so unter italienischem E i n f l u ß stehen, wie e t w a der Münchner H o f k a p e l l m e i s t e r K e r l l ( 1 6 2 7 — 1 6 9 3 ) u n d d e r als K o m p o n i s t nicht unbedeutende K a i s e r L e o p o l d I. ( 1 6 4 0 — 1 7 0 5 ) , daß sie f ü r die selbständige W e i t e r e n t w i c k l u n g d e r d e u t s c h e n Musik ohne ausschlaggebende B e d e u t u n g geblieben sind. 2) Vgl. H . J . Moser, „Heinrich Schütz, Leben und W e r k " (1936). „ G e sammelte Briefe und Schriften" (Bosses Deutsche Musikbücherei, B d . 45). „Die Kompositionslehre H. Schützens", herausgegeben von Müller-Blattau (1926).

2 ) Vgl. O. Ursprung, „Die katholische Kirchenmusik" (Bückens H a n d buch 1931). Nach dem Verfall der katholischen Kirchenmusik im rationalistischen 18. J h . und dem „Cäcilianismus" des romantischen 19. J h . s t r e b t die katholische Kirchenmusik der Gegenwart wieder zum Gregorianischen Choral und der altklassischen Polyphonie Palestrinas zurück, weil sie in ihnen die E i n h e i t von religiös-liturgischer Bedeutung und musikalischer K u n s t verkörpert sieht. Vgl. S. 388.

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Als Schütz, wie einst Haßler (s. S. 112), 1609 zum ersten Male nach Venedig pilgerte, um dort bei dem groi3en Giovanni Gabrieli bis zu dessen Tode (1613) zu studieren, und gar als er, ein ewig Strebender, zu weiterem Studium 1628 ein zweites Mal Venedig aufsuchte, weil dort mit Monteverdi ein neuer Stern am musikalischen Himmel aufgegangen war, da hatte die italienische Musik seit Haßlers Studienj a h r eine gewaltige Entwicklung durchgemacht. Was sich damals keimhaft gezeigt hatte, war jetzt voll entwickelt, und umstürzend Neues war hinzugekommen. Die Renaissance d r ä n g t e schon seit Michelangelo über die Formgebundenheit hinaus, zur Überwindung des Ruhenden durch die Bewegung, zur leidenschaftlichen Äußerung seelischer Erregung, wie sie religiös in der lodernden Leidenschaft der sogenannten „Gegenreformation" in Erscheinung t r a t und als „ B a r o c k " in der vorher unerhörten, auf Unbegrenztheit zielenden Raumgestaltung wie in den Werken eines Bernini (1598—1680) ihren glänzendsten Ausdruck gefunden hat. Ähnliches vollzieht sich in der Musik. Sie lehnt sich auf gegen die unpersönliche, sachliche Gebundenheit des kontrapunktisch-polyphonen Stils der Madrigalzeit und schafft um 1600 einen „neuen Stil": die M o n o d i e , d.h. den frei deklamierenden, scharf individualisierenden, von Instrumenten begleiteten kunstvollen Sologesang. Die übertriebene Vielstimmigkeit des Madrigalismus (s. S. I i i ) schlug also in ihr tiegenteil um. Das seelenhaite Wort, das wir schon früher als den Anreger der musikalischen Renaissance erkannten, wird jetzt zur Haupttriebkraft gefühlsdurchzitterten musikalischen Geschehens. Sinngemäße Vertonung des subjektiv nachempfundenen Wortes wird das Hauptziel, die musikalisch-klangliche Wirkung steht an erst zweiter Stelle. Die Wiege des neuen Stils ist Florenz, und die ausschlaggebende Rolle in der raschen Entwicklung des neuen Stils h a t weniger die Lyrik (Caccini [1602], Arien und Madrigale für eine Stimme), sondern eine ganz neu erfundene Kunstgattung gespielt: die „ O p e r " (lat. opus: das Werk), besser das „ d r a m m a per musica". Das vor allem in Florenz betriebene Studium der Antike h a t t e die Erkenntnis von der überragenden Bedeutung der Musik f ü r die griechische Tragödie g e z e i t i g t ; und da man diese Musik nicht kannte, Die Chöre der griechischen Tragiker (Äschylos, Sophokles, Euripides) dienen in ihren Dramen lyrischer Betrachtung zur Vertiefung der S t i m m u n g , verdeutlichen den Handlungssinn, wirken auf die Personen der H a n d l u n g ein und verbinden die einzelnen Szenen. Sie wurden von der Orchestra aus mit Instrumental-Verstärkung (2 Aulosbläsern und 1 Kitharaspieler) im Einklang gesungen; kontrapunktische Mehrstimmigkeit und Harmonie waren unbekannt. Wahrscheinlich wurden auch besonders gefühlsbetonte

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unternahm man es, sie zu rekonstruieren. Die theoretischen Erörterungen hierüber wurden in Florentiner Salons von kunstphilosophisch gerichteten Dichtern, Literaten und Musikern gepflogen, unter denen sich auch der Vater des berühmten Astronomen Galilei befand; und das erste Ergebnis der schicksalsschweren, weit in die Zukunft weisenden „Erneuerung der antiken Tragödie" in Gestalt eines Musikdramas war das Schäferspiel „ D a f n e " (Text von Rinuccini, die nicht erhaltene Musik von Peri), das 1597 unter großer Begeisterung im Hause eines Florentiner Edelmanns aufgeführt wurde. Aber weder diese Oper, noch zwei weitere Versuche von Peri und Caccini sind für den neuen Stil und für die Geschichte der neuen Kunstgattung so entscheidend gewesen, wie das Werk eines K o m ponisten, der schon in seinen Madrigalen 1 ) ein kühner Neuerer gewesen war: die Oper „Orfeo" (Orpheus) von M o n t e v e r d i (1567 bis 1643), die 1607 in einem Saal der Residenz von Mantua das Licht der Öffentlichkeit erblickte. Ihr Schöpfer wurde 1613 nach Gabrielis Tode an die Markuskirche in Venedig berufen und war in der Lagunenstadt tonangebend, als Schütz bei seiner schon erwähnten zweiten Italienfahrt dort Studien machte. Diese Oper enthält liedhafte Stellen und Chore in dem bisher entwickelten Madrigalstil, auch geschlossene Instrumentalsätze in den bisher gebräuchlichen Formen. Das Neue und Entscheidende aber sind die durchkomponierten dramatischen Dialoge, d. h. der Sologesang, dessen Hauptziel die Deutlichkeit des Dichterwortes im Gesänge und die Beseelung des Dichterwortes durch den Gesang ist. Ein paar Takte aus dem ,,Orfeo" mögen das Wesen des neuen Stils verdeutlichen 2 ) (siehe nebenstehend). Es leuchtet ein: die oberste, gesungene Stimme stellt keine melodische Linie dar, die nur aus der unsinnlichen Triebkraft ihres eigenen Wesens heraus sich entfaltet, sondern ausdrucksvolle, dem Stellen des Dialogs in gesanglich, gesteigertem Ton vorgetragen. Daß die musikalische Gesamtwirkung sehr eindringlich gewesen sein muß, ja, daß die .Griechen der Musik eine sittlich-erzieherische Wirkung zuschrieben, bezeugt die Überlieferung; die in Griechenland ursprünglich heimische „dorische" Tonart (vgl. S. 13) galt als Ausdruck des Heldischen. Daß das Dichterwort ausschlaggebend war, bezeugt Plato ( „ S t a a t " III, 11): „Der Text hat die Führung über Melodie und Takt, nicht umgekehrt". Die Musik selbst ist uns nur aus kleinen Bruchstücken bekannt. Vgl. C. Sachs, „Musik des Altertums" (1924); A. Abert „ D i e Lehre vom Ethos in der griechischen Musik" (1899); Nietzsche, „ D i e Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik". ') „20 Madrigale" Monteverdis, herausgegeben von Leichtentritt (Ed. Peters). 2) Monteverdi-Gesamtausgabe, hrg. vonMalipiero, inderUniversal-Edition. „Orpheus", „ D e r Tanz der Spröden", „Die Klage der Ariadne", in freier deutscher Nachgestaltung von Orff in Ed. Schott.

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S p r a c h a k z e n t und Gehalt des Wortes sich eng anschließende D e k l a m a t i o n d e s T e x t e s . M a n n a n n t e dies „Stile r e c i t a t i v o " o d e r „ s t i l e r a p p r e s e n t a t i v o " , w a s w i r als m e l o d i s c h - d r a m a t i s c h e n S p r e c h g e sang oder Deklamationsstil bezeichnen könnten2). D a s Auf und A b d e r die B e g l e i t u n g b e h e r r s c h e n d e n m e l o d i s c h e n L i n i e zeigt leidens c h a f t l i c h e , s ü d l ä n d i s c h e E r r e g t h e i t , die M o d u l a t i o n v o n a - m o l l n a c h E - d u r G e s c h m e i d i g k e i t u n d sinnliche W e i c h h e i t . D e r T a k t w e c h s e l zeigt die S p r e n g u n g d e s e i n h e i t l i c h e n R h y t h m u s , n i c h t n u r weil im T e x t f r e i e R h y t h m e n z u g r u n d e liegen,' s o n d e r n 1

) „Gegen meinen Willen schleppt und führter mich an das verhaßte L i c h t . " ) Aus dieser melodischen Fixierung der mit stärkstem Gefühlsausdruck deklamierenden Sprache hat sich Mitte des 17. Jahrhunderts in Kantate und Oper durch Spaltung einerseits das recitativo s e c c o (trockenes Rezitativ, von lateinischen recitare: erzählen) mit mir akkordstützender Cembalo-Begleitung für schnell abschnurrende Stellen des- Dialogs, und das recitativo a c c o m p a g n a t o (begleitetes Rezitativ) mit untermalender Orchesterbegleitung für gefühlsgesteigerte Stellen entwickelt (vgl. Beispiele S. 1 3 2 und 210); andrerseits die A r i e als breit ausgesponnener lyrisch-melodischer Gefühlsausdruck, die besonders nach dem Auftreten der dreiteiligen da capo-Arie ( a — b — a , vgl. S. 144) immer mehr zum Hauptbauglied der Oper, und infolge des schnell überwuchernden Verzierungswesens (vgl. Beispiel S. 138) zum äußerlichen Prunkstück der Gesangsvirtuosen wurde. Gegen diese Opernform hat Gluck angekämpft (vgl. S. 208); aber erst Wagner hat mit seiner „unendlichen Melodie" die Teilung in rezitativische und melodische Stellen wieder beseitigt und ist so, wenn auch bei seiner theatralischen Pathetik und chromatischen Harmonik fern der edlen Einfalt und stillen Größe Monteverdis, zu dem ursprünglichen Ideal der Opernerfinder zurückgekehrt (vgl. S. 3 3 1 ) . 2

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weil sich das Wort in seinem poetischen Gehalt und Sprachakzent restlos auslebt; fast dauernder Wechsel der Taktart ist ein Hauptkennzeichen dieser vom Gefühlsimpuls des Wortes getragenen „ B a rockmusik" (vgl. S. 159). Die spätere Hauptform der Oper, die Arie, findet sich in der italienischen Frühoper noch nicht, wohl aber erhebt sich der rezitativische Stil an Stellen höchsten Empfindungsüberschwanges zu „arioser" Feierlichkeit, wie noch folgende Stelle aus dem berühmten „Klagegesang der Ariadne" („Laßt mich sterben"), dem einzigen erhaltenen Stück aus Monteverdis zweiter Oper (1608) beweisen möge:

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Mit zwei letzten Werken „ I I ritorno d'Ulisse in p a t r i a " und „L'incoronazione di Poppea" wurde er, schon ein Siebziger, sogar noch der eigentliche Begründer der „Opera b u f f a " , die erst hundert J a h r e später zur wirklichen Entfaltung gekommen ist (vgl. S. 144). Die letzte Folgerung der völligen Indienststellung der Musik an den Text zog Monteverdi in der Komposition der Kampfszene zwischen Tancred und Clorinde aus Tassos „Befreitem Jerusalem", indem er der begleitenden Instrumentalmusik (Streicher-Tremolo) die Schilderung des Kampfgetümmels bis zur naturalistischen Nachahmung des Rossegetrappels übertrug. Auch damit ist er seiner und der folgenden Zeit weit vorausgeeilt, die ihn etwa 250 J a h r e lang so vollkommen vergessen hat, daß ein Richard Wagner eine Entwicklungsgeschichte der Oper schreiben konnte, ohne den Namen Monteverdi auch nur zu erwähnen. 124

Daß Musik, die dem Empfindungsüberschwang allerpersönlichster A r t diente und in der Ausführung das Individuum als Solisten in den Vordergrund stellte, nicht mehr als Ausdruck eines Gemeinschaftsgefühles gelten konnte, liegt auf der Hand. Kunst wird immer mehr zu einem subjektiven Bekenntnis ihres Schöpfers zum Zweck der Darstellung menschlicher Leidenschaften und zur solistischartistischen Leistung der ausführenden Künstler, denen die Allgemeinheit nur als ,,Publikum" gegenübersteht, zumal in der weiteren Entwicklung die gesteigerten technischen Anforderungen solcher Musik die K l u f t vertiefen halfen; denn sie schufen den „Virtuosen" des „bei canto" und der „gorgia" (Gurgel, d. h. Gesangsverzierung), dessen Künste, der Allgemeinheit unerreichbar, Selbstzweck wurden und damit meist der Veräußerlichung und seelischer Verflachung anheimfielen. Ebenso ist es klar, daß dieser im bewußten Gegensatz zur bisherigen Polyphonie stehende Stil zugleich die Gefahr einer Verarmung gegenüber der Vielgliedrigkeit und dem Reichtum des polyphonkontrapunktnischen Stils in sich barg; denn gegenüber der herrschenden Solostimme sanken die anderen zur bloßen nebensächlichen Begleitung herunter, eine Entwicklung, die sich von der Vokalmusik schließlich auch auf die Instrumentalmusik übertragen hat. Diese Gefahr wurde noch gesteigert durch den gleichzeitig aufkommenden Gebrauch, neben den vorgeschriebenen oder jeweils vorhandenen Orchesterinstrumenten ein Akkordinstrument wie Orgel, Cembalo, Laute zur Auffüllung des Klanges mitwirken zu lassen und der Einfachheit halber für dieses Instrument nur einen „ b a s s o c o n t i n u o (generale)" aufzuzeichnen, d. h. nur die unterste Stimme; Zahlen deuteten dann an, welche Akkorde sich über dem „ G e n e r a l b a ß " aufbauen sollten. Den so angedeuteten akkordischen Satz mußte der „ A k k o m p a g n i s t " , d. h. der etwa mit dem Cembalo Begleitende, der meist auch zu gleicher Zeit die Rolle des Dirigenten spielte, während der Aufführung aus dem Stegreif gestalten 1 ). Daß ein solcher Akkompagnist ein sattelfester Musiker sein mußte, ist klar; daß aber trotzdem eine Gefährdung der Mittelstimmen eintreten konnte, weil ihr Schicksal dem Belieben und der augenblicklichen Eingebung des Begleiters überlassen war, liegt auf der Hand. Die einfache Handhabung der Niederschrift war aber f ü r die Komponisten so verführerisch bequem, daß sie allgemein wurde und auch Deutschland auf fast zwei Jahrhunderte bis zur Zeit Haydns erobert hat, so daß man deshalb die Musikgeschichte von 1600 bis um Vgl. die Beispiele S. 1 3 7 , 4 0 1 , und das B i l d S. 1 7 1 . 125

1790 auch als die „Generalbaßzeit" bezeichnet. An diesem Siegeszug änderte nichts, daß mancher gewissenhafte deutsche Kantor auf das „Lumpenwerk" dieser Notierung schimpfte, weil sie einer soliden Satztechnik alten Stils widersprach. Es darf aber andrerseits auch nicht vergessen werden, daß die Kunst des „Improvisierens", d. h. der Fähigkeit, aus dem Stegreif musikalische Gedanken zu entwickeln, durch dife Generalbaßpraxis außerordentlich gefördert worden ist und die Entwicklung der „Variation" als Kompositionsform begünstigt hat. 1 ). Will man aber Werke des Generalbaßzeitalters, etwa von Schütz, Bach oder Händel, stilgerecht aufführen, so darf das Continuo-Instrument (nicht das moderne Klavier, sondern Cembalo mit seinem silberig-schwirrenden Klang!) nicht fehlen. Und noch eine dritte Neuerung in der Musikübung sollte für Schütz und die deutsche Musikentwicklung von vorbildlicher Bedeutung werden: das geistliche „ K o n z e r t " (von lat. concertare: einen Wettstreit haben), dessen Vorbild die 1602 erschienenen „Geistlichen Konzerte" des Mantuaner Domkapellmeisters Viadana waren. Man verstand darunter das Musizieren mit abwechselnder Einsetzung und Zusammenfassung der verschiedensten Klangkörper: Geringstimmiger oder voller Chor, Sologesang, Instrumentalstücke. Ob man diese Art nun Symphoniae, Harmoniae oder Cantiones sacrae nannte: im ganzen 17. Jahrhundert bis zu Bach bildet in der deutschen Kirchenmusik die Konzertmanier die Form geistlicher Musik, die die alte, freilich immer noch gepflegte Motette immer mehr in den Hintergrund drängt, den örtlichen Ausführungsmöglichkeiten und dem individuellen Geschmack größten Raum läßt und schließlich zum Gipfel der Bachschen „Kantaten" geführt hat. Nur nebenbei sei noch erwähnt, daß damals in Italien auch erstmalig Vorschriften über Zeitmaße (adagio, presto) und Stärkegrade (forte und piano) auftraten, die bis heute in der Musik aller Länder üblich sind; p und f wurden jedoch bis ins'18. Jahrhundert wie Licht und Schatten als Echoeffekte nebeneinandergestellt (Terrassendynamik, vgl. S. 1 7 1 , 197). Überschauen wir diese Feststellungen: Es glich wirklich beinahe einer Revolution, wie in Form und Stil das musikalische Schaffen in Italien um 1600 umgestaltet wurde; und es konnte Deutschland nicht erspart bleiben, sich mit den Neuerungen abzufinden, zumal die Wandlung des religiösen Gefühls im 17. Jahrhundert vom Gemeinschaftsgefühl der Reformationszeit zur individualistischen *) Vgl. A. Schering, „Aufführungspraxis alter Musik" (1931); H. Keller, „Schule.des Generalbaßspiels" (Bärenreiter-Verlag).

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Religiosität die seelische Voraussetzung dazu schuf. Ein bloßes Nachahmen, „wie die Affen tun", konnte für die Selbständigkeit der deutschen Musik die größten Gefahren bringen. Es galt, die neuen Mittel der alten Musikübung einzugliedern. Der gesunde Sinn der Deutschen für eine organische, bodenständige Entwicklung kam dem freilich entgegen, wie wir einer musiktheoretischen Schrift des Braunschweigischen Hofkapellmeisters Michael Praetorius ( 1 5 7 1 — 1 6 2 1 ) entnehmen können: „Derweilen etlichen unter uns Deutschen . ; . diese Art des italienischen Sologesanges nicht so gar wolgefället . . . " Und so sehen wir nicht nur P r a e t o r i u s selbst in seinem Schaffen („Musae Sioniae" 1 ), sondern auch den Thomaskantor Hermann S c h e i n (1586—1630 2 ) und den Hallenser Organisten und Kapellmeister Samuel S c h e i d t (1587—1654 3 ) eifrig bemüht, sich mit Monodie, Generalbaß und Konzertmanier im deutschen Sinne abzufinden. Haben auch sie ihre nicht zu unterschätzenden Verdienste, besonders in der Fortbildung der Choralbearbeitung (vgl. S. 135) und des vollstimmigen Instrumentalsatzes, ihr aller Meister und der Lehrer seines ganzen Jahrhunderts ist H e i n r i c h S c h ü t z . Durch ein Lebenswerk von äußerer und innerer Großartigkeit ist er zum Vermittler zwischen zwei völlig gegensätzlichen Kunstperioden geworden, indem er italienische Art in deutsche umbildete, nichts von altem, bewährtem Musikgut aufgab, Altes und Neues zu organischer Weiterbildung verschmolz. Das sei an Einzelheiten noch kurz bewiesen4). Als erster in Deutschland hat er der Oper seinen Tribut gezollt. Für eine fürstlich-sächsische Hochzeit schrieb er zu Opitz' Verdeutschung des schon erwähnten italienischen Schäferspiels von Rinuccini „Daphne", der ersten italienischen Oper, eine Musik. Leider ist sie verloren, so daß wir nicht wissen, wie Schütz sich mit der neuen Kunstform abgefunden hat. Die Neigung zum dramatischen Stil lag ihm aber offenbar im Blute, und so ist sie auch seinen geistlichen Kompositionen zugute gekommen, die er im Sinne des italienischen Konzerts ausbaut. Textlicher Ausgangspunkt war für ihn meist das Luthersche Bibelwort, dessen bedeutendster musikalischer Ausdeuter er geworden Biographie, Gesamtausgabe und Sonderausgaben von F. Blume (Kallmeyer) . 2 ) Biographie von A. Prüfer (1895). Gesamtausgabe in Ed. Breitkopf. 3 ) Gesamtausgabe im Bärenreiter-Verlag. 4 ) Literatur vgl. S. 120. Gesamtausgabe, hrg. von Spitta in Ed. Breitkopf. „GroßeChorwerke' , „KhineChorwerke", ,, Geistliche Chormusik 1648" (29 Motetten), „Geistliche Konzerte" in Auswahl im Bärenreiter-Verlag.

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ist, und zwar, was für Schütz besonders wesentlich ist, in einer religiösen Gesinnung und Glaubensbereitschaft, die dem Geiste Luthers und der deutschen Mystik innig verwandt ist und infolgedessen Bibelwort und Ton zu einer vor und nach ihm nie wieder erreichten Einheit hat werden lassen. Im kleinsten Rahmen finden wir die dramatische Gestaltung in geistlichen D i a l o g e n , wo etwa Jesus, Joseph und Maria im Tempel, oder der Pharisäer und der Zöllner, oder Maria und Jesus im Wechselgespräch gegenübergestellt werden 1 ). Die Monodie, das Solo wird hier zur textbedingten Forderung, da j a Einzelpersonen sprechen. Wie sehr Schütz dabei den Text als den Erreger des musikalischen Geschehens empfindet und die Melodielinie tondichterisch zum eindrucksvollen Empfindungsausdruck des Textwortes steigert, zeigt etwa der Anfang des Osterdialogs:

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Aber Schütz tut in der musikalischen Gestaltung den weiteren wichtigen Schritt zu einer Charakterisierung der Einzelpersonen durch thematisch verschiedenartige Gestaltung. So wird die Demut des Zöllners (Tenor) durch die absteigende weiche Melodielinie gekennzeichnet:

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Wie Schütz ferner mit den Mitteln einer wohlbedacht angewandten Chromatik einen den Herzschlag stocken lassenden Augen„Drei biblische Szenen" (aus den „ S y m p h o n i a e sacrae"): i . Pharisäer und Zöllner; 2. Osterdialog; 3. Der zwölfjährige Jesus im Tempel. Klavierauszug in E d . Breitkopf.

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blick überweltlicher Verzauberung schaffen kann, zeigt im Osterdialog die Stelle, wo der auferstandene Christus Maria anredet, und sie mit dem Ausdruck unsagbarer Demut antwortet: pp znSl

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Die zwei Takte zeigen aber auch deutlich, was schon oben erwähnt wurde, wie es Händel beim Chorsatz in erster Linie auf die strahlende Massenwirkung und den vertikalen akkordischen Zusammenklang der Stimmen ankommt, nicht auf die kunstvolle kontrapunktische Führung der Einzelstimmen, wie es bei Bach der Fall ist (vgl. Partiturstück im Anhang). Die südliche Sonne, die Händeis Genius gereift hat, leuchtet am stärksten in seinen I n s t r u m e n t a l w e r k e n , den mehrsätzigen Orchesterstücken (12 Concerti grossi, vgl. S. 1 5 1 ) , den Violin- und Triosonaten (Flöte, Violoncell, Violine, Oboe, Fagott in verschiedensten Zusammenstellungen mit Cembalo), den Klavier- und Orgelwerken 1 ); ihr unverwelklicher Ruhm ist lichte'Klarheit, freudige Daseinsbejahung, jedoch nie ohne geistige Größe und Vornehmheit, urwüchsiger Spieltrieb mit Freude am schönen Melos und am festlichen, strahlenden Klang. Ein englischer Zeitgenosse schwärmt von Händeis Orgelkonzerten, !) Concerti grossi, bearb. für Klavier zu vier Händen in Ed: Breitkopf; ebenda Kammersonaten und Kammertrios. Ausgewählte „Aylesforder Klavierstücke" in E d . Schott. Vgl. Brahms' Händel-Variationen für Klavier (op. 24). ,,Orgel-Konzerte", hrg. von Walcha in E d . Schott.

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die durch die Anwendung des damals in England erfundenen Jalousie-Schwellers eine starke gefühlsmäßige Note erhielten: O seht, wenn er, der mächt'ge Mann, Der Orgel Kräfte läßt ertönen: Die Grollenden selbst bewegt; und dann Mahnt tiefe Regung zum Versöhnen.

Er charakterisiert damit nicht nur Händeis Orgelkunst, sondern zugleich seine Gesamtart, die vom eigenen, leicht bewegten starken Gefühl aus seinem Publikum ans Herz greifen will. Welch weiter Weg von hier zu Bachs in kontrapunktische Probleme eingesponnenen besinnlichen Orgelchorälen und tiefsinnigen Fugen ,,ad maiorem dei gloriam", zum größeren Ruhme Gottes! Wir fragen nun zum Schluß wieder: Bach oder Händel ? Beide erinnern uns in ihrem Werden wie früher Schütz (vgl. S. 121) an das Schicksal der deutschen Musik, fortgesetztem Einstrom ausländischen Musikgeistes gegenüber um Selbständigkeit und Eigenart ringen zu müssen. Um 1700 hatte dieser Einstrom einen Höhepunkt erreicht, und 1705 durfte der Franzose Lecerf de Vieville über die Deutschen noch sagen, daß sie „keinen großen Ruf in der Musik" hätten. Als 1745 Scheibe in seinem „Critischen Musikus" die bedeutendsten lebenden deutschen Komponisten aufzählte, da stellte er Bach und Händel an die Spitze und durfte hinzufügen: „ W i r sind also nicht mehr Nachahmer der Italiener.. . Ja, wir haben endlich auch in der Musik den guten Geschmack gefunden, den uns Italien noch niemals in seiner völligen Schönheit gezeigt hat." Und der italienische Komponist Lotti bestätigte zu gleicher Zeit neidlos: ,, .../die wahre Komposition findet sich in Deutschland." Und selbst Frankreich entschloß sich zögernd zur Anerkennung, die allerdings in erster Linie den stark romanisierten deutschen Modekomponisten Telemann (vgl. S. 144) und Hasse (vgl. S. 173) galt. Für uns Heutige gipfelt die Tonkunst im Zeitalter des Spätbarocks, der Aufklärung und des Pietismus in Bach und Händel, in deren Musik romanische' und germanische Art eine selbständige Einheit gefunden haben. Freilich stellen beide sehr verschiedene, für die Spannweite der deutschen Seele kennzeichnende Ausprägungen der Verschmelzung nordisch-germanischer Geistigkeit und Innerlichkeit mit südlicher Form- und Klangfreude dar; das Mischungsverhältnis dieser Grundelemente ist infolge der verschiedenen seelischen Artung beider voneinander abweichend, das Gesamtergebnis ihres Persönlichkeitsstils ist aber selbständig, groß und deutsch. Der einzelne mag und wird 186

sich je nach seiner Veranlagung mehr dem einen oder dem anderen zuneigen; für eine Wertung ihrer Leistung als Ausdruck und Vorbild deutscher Musikkultur kann die Entscheidung nur heißen: Bach u n d Händel 1 ). 2. E M P F I N D S A M K E I T , S T U R M U N D D R A N G Als der Preußenkönig Friedrich II. zu dem reichsfeindlichen, sieben Jahre währenden Eroberungskrieg gegen seine Kaiserin Maria Theresia aufbrach, Europa in zwei Lager für und gegen ihn spaltend und den schicksalhaften Dualismus Preußen-Oesterreich heraufbeschwörend, aber zugleich nach Goethes Zeugnis durch seine Taten „den ersten wahren und höheren eigentlichen Lebensgehalt" in der deutschen Poesie hervorrufend, da schied er um seines politischen Ehrgeizes willen aus einem geistig-heiteren Lebenskreis, den èr sich mit seinem bedeutenden antibarocken Musikerkreis und eigener musikalischer Betätigung geschaffen hatte (vgl. S. 1 7 1 ) ; er entsagte einer Atmosphäre, die ihm sein künstlerischer Helfer von Knobeisdorff im Innern seines „Zauberpalastes", des der italienischen Oper gewidmeten Berliner Opernhauses, und mit seinem Lustschloß „Sans-Souci" sichtbar hatte Gestalt werden lassen in den kennzeichnenden Formen des Rokokos. Dieser neue Schnörkel- und Zierstil, der dem Spiel des Daseins die lächelnde Maske aufsetzte, war im Frankreich des Rokokokönigs Ludwig X V . (1715—1774) geboren worden als befreiende Reaktion gegen die hintergründige, prunkvoll-festliche Schwere der Barockkunst und fand in dem Maler Watteau seinen genialsten Meister, dessen „Einschiffung nach der Insel Cythere" mit ihrem Gegenstand, ihren zarten Farben und graziösen Formen geradezu als das Symbol der ganzen Rokokoepoche bezeichnet werden kann ; und in der französischen Musik werden François Çouperin (1668—1733) und Rameau (1683—1764) vor allem mit ihren Klavierwerken die hervorragendsten Vertreter des graziösen „style rocaille" 2 ) und des ihn tragenden Lebensgefühls heiterer Weltfreude und spielerischer Lebensformen. Der Einfluß der französischen Rokokokunst auf Deutschland war vielfältig, das Ergebnis sehr verschieden. In der Malerei versuchte sich Chodowiecki in Watteaus Manier, ohne ihn bei seiner handfesteren realistischen Art zu erreichen; und wenn Goethe in der Dichtung mit seiner „Laune des Verliebten" seine jugendlichen *) Vgl. Müller-Blattau, Jahrbuch der Musikbibliothek Peters 1926. 2 ) Vgl. die Sammlungen „Rococo" (Ed. Breitkopf und Steingräber).

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Liebesschmerzen in das Gewand der arkadischen Schäfermaskerade hüllte, und die „Anakreontiker" (Hagedorn, Gleim, Uz) ihre Lebensgefühle rokokohaft-oberflächlich vertändelten, so sind diese Dichtungen für uns heute wesenlos geworden. Selbständiger und eindrucksvoller nahm die Gebrauchskunst die Formen des neuen Kunststils auf : Türschnitzereien, Möbel, Geräte, Ornamentik und Schmuckstücke beschwingt der neue Rhythmus, und den Erzeugnissen der Meißener Porzellanmanufaktur verleiht er ihr damals wie heute beglückendes reizvolles Gepräge. Bis in Putz, Kleidung, Tänze vor allem der höfischen Gesellschaft lassen sich die Ausstrahlungen dieser heiter und genußfroh, oft leichtsinnig („galant"), doch stets graziös tändelnden Kunst verfolgen, dieser letzten Blüte am Stamme des „ancien régime". Die schwere Allonge-Perücke, die einen Bach geziert hatte, weicht der duftigen Puderperücke, ohne die wir uns Mozart nicht denken können, und in seiner und anderer Meister Musik (vgl. S. 173, 194, 199, 234) hat das Rokoko deutliche Spuren hinterlassen. Jedoch tiefer als diese hauptsächlich in äußerer Form sich erschöpfende, von Frankreich als etwas Fremdartiges fertig übernommene höfische Kultur griff in die deutsche. Seele eine andere geistige Bewegung. Gegen den seit Descartes von Frankreich ausgehenden Geist der Aufklärung, der mit seiner einseitigen Forderung rein vernunftgemäßer Weltanschauung und Lebensführung den „gesunden Menschenverstand" auf den Schild gehoben hatte, erhob sich jetzt nicht nur in Frankreich selbst die Stimme Rousseaus mit dem Ruf „Zurück zur Natur!" im Leben wie in der Kunst, sondern auch in Deutschland erfolgte ein Rückschlag gegen die Einseitigkeit aufklärerischer Weltanschauung. Es ist nun bei der von Hause aus dem bloß Verstandesmäßigen durchaus fernen Art des deutschen Menschen, der immer die vernunftfremden dunklen Abgründe der menschlichen Seele besonders stark empfunden hat, nicht verwunderlich, daß das zurückgedrängte Gefühl seine Ansprüche mit besonderer Heftigkeit geltend machte. Zum ersten bedeutenden Sprecher der neuen Generation wurde Klopstock; und wie nahe er mit seinen gefühlserregten Oden dem Geiste seiner Zeit stand, beweist am deutlichsten jene berühmte Stelle aus Goethes „Werther" (1774), die auf Klopstocks Ode „Frühlingsfeier" anspielt: „Es donnerte abseitwärts, und der herrliche Regen säuselte auf das Land . . . sie sah gen Himmel und auf mich, ich sah ihr Auge tränenvoll, sie legte ihre Hand auf die meinige und sagte Klopstock . . ." 188

Die Figur Werthers selbst ist das bis zur letzten Möglichkeit gesteigerte Urbild des geistigen Menschen jener Zeit, der sich gefühlvoller, leicht melancholischer Schwärmerei und überschwenglicher tränenseliger Rührung wie einem süßen Genuß hingab. Lessing, der in seiner Verstandesklarheit dieser Gefühlsübersteigerung zeitlebens fernstand, die „große Gärung des Geschmacks" aber deutlich erkannte, hat ihr den treffenden Namen „Empfindsamkeit" gegeben, und wie die Erregung dieser Gefühlswelle literarisch von England stark beeinflußt ist (Richardson, Young), so stammt auch die Bezeichnung „sentimental" aus England. Die Musik spielte aber bei der Erregung solcher schwebenden Empfindungen eine Hauptrolle. Im „ W e r t h e r " lesen wir: „Heut saß ich bei ihr — saß, sie spielte auf ihrem Klavier mannigfaltige Melodien, und all den Ausdruck! all! all! . . . mir kamen die Tränen in die Augen . . . " Nicht Erbauung, Erhebung ins Überpersönliche, Religiöse oder etwa nur Unterhaltung verlangte man von der Musik, sondern Erschütterung, Entfesselung des persönlichen Gefühls; man wollte seufzen, schwärmen, gerührt, zum mindesten erregt werden. Daß die solcher Gefühlshaltung entsprechende Musik anders sein mußte als die monumentale, heldische Kunst eines Bach oder Händel, erscheint selbstverständlich. Die Seele wird aber zugleich beweglicher; sie beobachtet sich selber und empfindet dabei stärker als früher ihre persönliche Eigenart gegenüber den anderen, sie empfindet auch ihre wechselnden Zustände stärker als bisher. Goethes Worte in seinem „ G e sang der Geister über den Wassern": „Seele des Menschen, wie gleichst du dem Wasser!" spiegeln das neue Gefühl deutlich. Die Phantasie beginnt ihre Schwingen stärker zu regen. Die bisherige Betonung des Zuständlichen und Bleibenden in Seele und Welt wird damit abgelöst von dem Gedanken des Werdens, Sichentwickelns, der dann später in Goethes Weltanschauungssatz „ S t i r b und werde!" und wissenschaftlich in seiner Entwicklungslehre („Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre") seinen Höhepunkt erreicht hat. Voraussetzung für den Glauben daran ist ebenso wie bei Rousseau ein starker Optimismus, der sich zutraut, in Gesellschaft, Staat, Religion und Kunst neue Grundlagen zu schaffen. Diese Grundlagen werden aber immer zuversichtlicher auf dem Glauben an deutschen Eigenwert gebaut; und so wird die Epoche des Sturms und Drangs zugleich eine Epoche nationaler Selbstbesinnung. 189

Goethe, der den „Werther" schrieb und damit das „Wertherfieber" erregte, schrieb ja auch den „ G ö t z " als die Verherrlichung des kraftvollen deutschen Menschen, pries „deutsche A r t und K u n s t " und ihre „feste Art und Männlichkeit". So keimt aus der Epoche der Empfindsamkeit schließlich die zukunftsfrohe Bejahung des empfindungsvoll angeschauten nationalen Lebens, und diese wird zum Mutterboden der deutschen Kunst am Ende des 18. Jahrhunderts. Und wie Goethe und Schiller nicht denkbar sind ohne Klopstock und den revolutionären literarischen Sturm und Drang, dem sie selbst entwachsen sind, so auch Haydn, Mozart nicht ohne den musikalischen Sturm und Drang, der in der Instrumentalmusik, im Lied und in der Oper in Form und Ausdruck ganz neue Bahnen beschritten hat; sie führten aus der Strenge und Überpersönlichkeit der Bach-Händel-Zeit zu persönlicher Gefühlsaussprache und volkstümlicher Schlichtheit, aus kirchlichem Dämmer und feierlichen Barockfestsälen in den intimeren, heiterfestlichen Rokokoraum, aus den repräsentativen Parks mit beschnittenen Hecken geradeswegs hinaus in „duftendes Grün und Waldesschatten".

Chodowiecki, R o k o k o - K o n z e r t in einem Gartensaal (Aus K . Meyer, „ D a s K o n z e r t " )

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a) D E R N E U E I N S T R U M E N T A L S T I L Bach und Händel standen noch in der Vollkraft ihres Schaffens, da begann mit der geschilderten allgemeinen seelischen Wandlung die Neubildung auf musikalischem Gebiet sich zuerst in der Instrumentalmusik bemerkbar zu machen. Gegenüber dem hohen Pathos und dem gravitätischen Ernst der bisherigen Musik strebte man nach Natürlichkeit und Leichtigkeit ; gegenüber der Schwere des vielstimmigen Satzes nach Einfachheit. Wurde ferner früher ein musikalischer Satz, wie wir es etwa bei Arie und Fuge sahen (vgl. S. 174), aus einem einheitlichen musikalischen Gedanken und einem gleichbleibenden Rhythmus herausgesponnen, weil man ja gerade das Einheitliche betonen und seinen ganzen Gehalt erschöpfen wollte, so verlangte das neue erregte Lebensgefühl im Bewußtsein der Wandelbarkeit und Entwicklungsfähigkeit seelischen Lebens auch Entwicklung und Weiterführung des musikalisch-seelischen Geschehens durch Erregung und Gegensatz; die schweifende, immer neue Vorstellungen hervortreibende Phantasie verlangte auch in der Musik ihr Recht. Musikalisches Gestalten aber braucht wie alles künstlerische Gestalten eine Form, wenn es nicht zum unübersehbaren wogenden Tönemeer werden und zerfließen soll wie eine schwebende Stimmung. Da bot sich noch einmal ein italienisches Formvorbild an, die aus den neapolitanischen Sinfonien herausgewachsene „ S o n a t e n form". Wie wir schon früher sahen, bezeichnete man ursprünglich in Italien alle instrumentalen Sätze als Sonaten oder Sinfonien; der Name Sonate fiel dann im besonderen der Solo- und Kammermusik zu (vgl. S. 146), während mit Sinfonie vor allem die rauschenden instrumentalen Operneinleitungen bezeichnet wurden, die eigentlich nur den Zweck hatten, „das verwirrte Murmeln der Zuhörer zu stillen". Ursprünglich frei gebildet, war ihr Formengrundriß von dem Neapolitaner Opernkomponisten Alessandro Scarlatti (1659 bis 1725) auf „schnell — langsam —• schnell" festgelegt worden, also auf die in den Musikformen so häufig wiederkehrende Dreiteiligkeit, und schließlich löste sich die Sinfonie von der Oper und wurde zum selbständigen Orchesterstück, in das als erster Italiener von größerer Bedeutung der Mailänder Sammartini (1701—1775) seine leichtgeschürzten, ganz auf melodische Erfindung gestellten Kompositionen kleidete. Diese Form aber zu einer vorbildlichen Kunstnorm durchgebildet und ihr tieferen Gehalt zugeführt zu haben, ist das Verdienst 191

deutscher Musiker: der S ö h n e B a c h s , die besonders die „Klaviersonate" 1 ) ausgebildet haben, und der sogenannten „ M a n n h e i m e r S c h u l e " , deren grundlegender Arbeit wir unsere klassische „ S y m phonie" verdanken. Über diese neue Form müssen wir uns aber schon jetzt grundsätzliche Klarheit verschaffen, weil aus ihr wie aus einer Keimzelle fast alle Instrumentalwerke unserer Klassiker hervorgegangen sind. Entsprechend dem italienischen Grundriß werden drei selbständige Sätze aneinandergereiht: allegro — andante (oder adagio) — allegro (oder presto) 2 ); besonders durch das Vorbild der Mannheimer Schule nistete sich zwischen dem dritten und letzten Satz dann noch als Rest der alten Suite (vgl. S. 146) ein „Menuett" in ruhigem 3 / 4 -Takt ein, dessen Mittelsatz als „Trio" bezeichnet wird. Andere freiere Zusammenstellungen, z. B. zwei- oder mehrsätzige, bei denen sich aber immer ein Menuett fand, nannte man „Divertimenti" (Unterhaltungsmusik), wie sie später noch Mozart als Tafelmusiken für den erzbischöflich salzburgischen Hof schrieb. Während nun der zweite liedhaft schlichte Satz zum Spiegel tiefen Empfindens wurde, wirkte sich besonders im ersten Satz der Gedanke der Entwicklung durch den Gegensatz aus („Sonatenform" im engeren Sinne3). Wie bei der Fuge wird ein musikalisches Thema ausgesprochen, sagen wir ein Gedanke; während aber die Fuge meist nur ein Thema hat, das in rein musikalischer Entwicklung von allen Stimmen nacheinander aufgenommen wird, blitzt hier nach einem kürzeren Überleitungsstück, das zu einer verwandten Tonart führt, ein neues, melodisch und harmonisch ganz andersgeartetes Thema auf, beinahe wie eine Gegenäußerung; danach schließt der Satz wie mit einer besinnlichen Schlußäußerung (Epilog), nachdem also mit Thema und Gegenthema oder Kraft und Gegenkraft (wie in der Exposition des Dramas) festgestellt worden ist, um was es sich handelt. Der ganze erste Halbsatz wird nun wiederholt, um das Ziel noch einmal deutlich zu betonen. Darauf beginnt in der nächstverwandten Tonart die zweite Hälfte des ersten Satzes, der „Durchführungsteil", in dem nun die Zum Namen vgl. S. 154. ) Allegro: lustig, schnell, bewegt; andante: in gehender Bewegung; später ziemlich langsam; adagio: langsam; presto oder prestissimo: schnellstes Tempo; vivace = allegro; vivacissimo = presto. 3 ) Als Beispiel vgl. die Analyse zu Haydns „Londoner" Sinfonie, S. 222f. Die Baugleichheit von „Sonate und Residenz" sucht nachzuweisen K.Weidle, „Bauformen in der Musik" (1925). Vgl. Schenker, „Vom Organischen der Sonatenform". A. Halm, „Von zwei Kulturen der Musik" (1920). 2

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beiden Themen entsprechend ihrer gegensätzlichen Natur fortgesponnen, weiterentwickelt, umgebildet werden; jedes Thema wirkt die ihm innewohnende Entwicklungsfähigkeit aus, als ob gezeigt werden sollte, welche weiteren Folgerungen sich aus den ursprünglich knapp ausgesprochenen Behauptungen ergeben können. Schließlich erfolgt eine Rückkehr zur ursprünglichen Tonart, in der beide Themen noch, einmal ausgesprochen werden (Reprise), worauf meist eine „Coda" (Schwanz) den Beschluß macht. Das ergibt folgendes Schema für den Sonatensat'z: i. Thema — Überleitung — 2. Thema — Epilog, Durchführung (1. und 2. Thema) — Reprise — Coda. Das dramatische Prinzip der Entwicklung einer spannungsreichen Handlung, angetrieben durch Widerspruch und Gegensatz und zum Austrag gebracht durch eine klärende und läuternde Auseinandersetzung, hat sich damit im Zeitalter der durch Lessings Bemühungen aufblühenden Dramatik der absoluten Musik bemächtigt, und die Sonate wird zur Form des instrumentalen Dramas unter dem Prinzip der Einheit der Tonart (Einheit des Ortes), des Tempos (Einheit der Zeit) und des musikalischen Ziels (Einheit der Handlung). Der gleiche Aufbau aus gegensätzlichen Themen kommt übrigens auch im zweiten und im letzten Satz vor, doch sind beide meist freier gebildet: das Andante als reine Gefühlsausdehnung ähnlich der dacapo-Arie, der letzte Satz oft als Rondo, d. h. mit einem öfter wiederkehrenden Hauptthema, zwischen das immer neue Zwischenthemen eingeschoben werden, etwa wie bei dem bekannten Gesellschaftslied: „ E s geht ein Rundgesang." Daß dieser kurz angedeutete Grundriß der Sonatenform kein Skelett blieb, um das nur Flitter gehängt wurden zur Verdeckung innerer Hohlheit, sondern zu einer äußerst fruchtbaren Gestaltungsform wurde, das ist unseren deutschen Meistern zu danken, die wir dieser Form hingegeben finden werden. In welcher Weise hat nun der neue Zeitgeist den musikalischen Ausdruck verändert ? Es ist eigenartig, daß es gerade Söhne S e b a s t i a n B a c h s sind, bei denen der musikalische Stilumschwung deutlich in Erscheinung tritt: F r i e d e m a n n , der sogenannte „Hallesche Bach" (1710 bis 1784), dessen Leben zwar bürgerlicher verlief als in dem phantastischen Roman Brachvogels, aber nach Organistenjahren in Dresden und Halle doch in bitterer Armut in Berlin endete, weil er mit seiner seltsam zwischen Alt und Neu gemischten Kunst bei seinen 13 Malsch, Geschichte der deutschen Musik

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Zeitgenossen kein Verständnis fand 1 ); P h i l i p p E m a n u e l ( i 7 i 4 b i s 1788), der „Berliner B a c h " , später der „Hamburger", der nach siebenundzwanzigjähriger Tätigkeit als Kammercembalist Friedrichs des Großen (vgl. S. 173) als hochangesehener Kirchenmusikdirektor in Hamburg starb, freundschaftlich verbunden mit Klopstock, Lessing, Claudius und Voß; Joh. C h r i s t o p h F r i e d r i c h Bach (1732—1795), der „Bückeburger B a c h " genannt, wegen seiner Tätigkeit als lippescher Kapellmeister in Bückeburg; und das „Nesthäkchen" Johann C h r i s t i a n (1735—1782), der „Mailänder" oder „englische Bach", der nach Kontrapunktstudien bei dem berühmtesten Theoretiker jener Jahrzehnte, Padre Martini in Bologna, zum Katholizismus übertrat, darauf Domorganist in Mailand wurde und schließlich als Musikmeister der englischen Königin und Leiter der die Händeische Tradition in London fortsetzenden öffentlichen Konzerte („Bach-Abel-Konzerte") europäische Berühmtheit erlangte. So stark aber seine in leichter Rokokograzie tändelnde oder empfindsam schwärmende daseins- und genußfrohe Kunst 2 ) auf den jungen Mozart und seinen Stil eingewirkt hat, nachdem dieser, als dreizehnjähriges Wunderkind in London konzertierend, seine Bekanntschaft gemacht hatte, so war doch der von seiner Zeit als Führer allseitig anerkannte und für die Weiterentwicklung bedeutendste Bach der „Hamburger" P h i l i p p E m a n u e l Baclj. E r hat ein lange Zeit berühmtes Buch geschrieben: „Versuch über die wahre Art, das Klavier zu spielen" (1753) 3 ), das nicht nur technische Anweisungen gibt, sondern sich auch über das Wesen der neuen „galanten" Musik ausspricht. Da heißt es, daß die „gearbeitete"" Musik, womit er den alten kunstvollen Fugensatz und die Polyphonie seines Vaters meint, nicht mehr lebensfähig sei. So komponiert er denn auch in der neuen Form der „Sonate", zu deren formaler Durchbildung und Einbürgerung er sehr viel beigetragen hat, und im neuen Stil. Sehen wir uns ein paar Takte eines Adagios aus den dem Herzog Karl Eugen von Württemberg, seinem Klavierschüler, gewidmeten Sonaten an 4 ): *) Vgl. M. Falck, „Friedemann Bach" (Scherings „Studien" I, 1913). Klavierkonzerte, hrg. von Riemann (Ed. Steingräber) ;_Fugen und Polonaisen, hrg. von Niemann (Ed. Peters); Klaviersonaten, hrg. von Blume (Ed. Nagel). 2 ) „Zehn Klaviersonaten", hrg. von Landshoff (Ed. Peters). Für den Vergleich mit Mozart siehe besonders Nr. 4, 1. Satz und Mozarts Sonate B-dur, Kochel 333, ferner Nr. 5, Andante! „Zwölf Konzert-u.Opernarien" in Ed. Peters. 3 ) Gekürzte Ausgabe von W. Niemann (Kahnt). Vgl. O. Vrieslander, „Ph. E. B . " (1923). 4 ) Die für den Herzog Karl-Eugen geschriebenen „Württembergischen Sonaten" und die Friedrich dem Großen gewidmeten „Preußischen So-

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Zunächst fällt auf, wie die Melodiestimme arienhaft das Übergewicht hat, die übrigen Stimmen der Hauptstimme gänzlich untergeordnet sind und zu einer bloßen Stütze werden. Wie duftende Girlanden über Säulen hängt der neue ,,galante" Stil musikalische Gedanken und Melodien über die tragenden Akkorde und vollendet so den mit der Schöpfung der Oper in Italien beginnenden Siegeszug der „Homophonie" (Monodie). Freilich war Ph. Emanuel Bach genug Vollmusiker und nicht umsonst durch die strenge Schule seines Vaters gegangen, um den tragenden Akkordsatz nicht zu bildungsloser Begleitung herabsinken zu lassen, sondern ihm durch Eigenbewegung wenigstens den Schein der Mehrstimmigkeit zu wahren. E r wendet sich in seinem Buche sogar ausdrücklich gegen die „faulen oder gar Trommelbässe". Für die kleineren Geister war die Gefahr aber sehr groß, der linken Hand bloße Begleitungsfiguren 1 ) zu übertragen und so Erfindung und Spieltechnik verkümmern zu lassen, eine Schwäche, die erst durch Beethovens Klaviersatz wieder ganz überwunden worden ist. Als Ersatz für die Polyphonie macht sich auch bei Ph. Emanuel Bach in der Auszierung der führenden Stimme viel „galantes", freilich echt klaviermäßiges Spiel- und Schnörkelwerk im Geiste des französischen Rokokos breit, wie Vorschläge, Triller, Pralltriller, Mordente und Doppelschläge. . Sehen wir aber auf den seelischen Ausdruck der wenigen Takte, so fühlen wir unbedingt die Zartheit und Innigkeit der neuen, empfindungsvollen Zeit, die beim Anhören solcher Musik sogar Tränen vergießen konnte. Zur Erhöhung der Empfindsamkeit trug übrigens beim Vortrag auf dem jetzt eine neue Blüte erlebenden Clavichord naten", hrg. von R. Steglich (Ed. Nagel). Ebenda „Kleine Stücke von Ph. E. Bach". Andere Klavierwerke bei Steingräber und in der UniversalEdition. E r schrieb außerdem Oratorien, Passionsmusiken, Kantaten, Sinfonien, Konzerte für Cembalo und Streichorchester. Zu den Liedern vgl. S. 200 f. ') „Murk'ybässe": Abwechslung von Grundton und höherer Oktave; „Albertische Bässe": fortgesetzte gleichartige Akkordbrechungen; letztere z. B. in Mozarts Sonaten sehr häufig (vgl. S. 235).

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(vgl. S. 101) noch die auf dem heutigen Klavier nicht mehr mögliche „Bebung" bei, bei der durch leichtes Wiegen des Fingers auf der Taste ein sanftes Erzittern des Tones hervorgerufen werden konnte, wie es heute nur noch bei Streichinstrumenten, Zither und beim Gesang möglich ist. Gerade Ph. Emanuel Bach soll durch solches Spiel einen „beweglichen Ton des Schmerzes und der Klage aus seinem Instrument zu ziehen" gewußt haben. Harmonische Kühnheiten, fein abgewogene Stärkegrade, rhythmische Feinheiten wie freie Behandlung des Tempos (rubato), Taktdehnungen durch ritardando und Fermaten, Gefühlsstockungen durch plötzliche Pausen, um zu spannen, zu überraschen und zu erregen, vollenden den Gesamtklang der durchaus eigenwertigen Musik dieses bedeutenden Musikers, in dessen Kunst graziöständelndes Rokoko, Empfindsamkeit, leidenschaftlicher Überschwang, Streben nach Natürlichkeit und deutsch-romantische Sehnsucht nach Verinnerlichung zu einer durch strenge Formgestaltung gebundenen Einheit zusammenfließen, die schon die kommende Klassik ahnen läßt. Seine Kunst ist zum wichtigsten künstlerischen Vorbild für Haydn, Mozart, Beethoven geworden. Stärker, heftiger und mit äußerlich noch weiterreichender Wirkung prägt sich der neue Musikstil in der sogenannten „ M a n n h e i m e r Schule"aus, einer Gruppe von böhmischen Österreichern, die infolge der Ungunst der Zeiten (1740—1763 sind die österreichischen Kriege Friedrichs des Großen) aus ihrer Heimat auswanderten. Auf ihren Werken1) ruht die Weiterentwicklung der modernen Orchestermusik, wie sie rund 50 Jahre später in Beethovens Sinfonien gipfelt, deren Kraft und Schönheit die wichtigen Vorarbeiten der Mannheimer freilich haben vergessen lassen, obwohl zu ihrer Zeit die Mannheimer „Sinfonies d'Allemagne" die Konzertsäle Frankreichs, Englands und der Niederlande beherrschten. Bedeutsam tritt damit Mannheim in die Reihe deutscher Kulturstätten ein, die für Musik und Literatur Pionierdienste geleistet haben. 1782 ging von hier mit der berühmten ,,Räuber"-Aufführung Schillers Weltruhm aus. Aber nicht geringeres Aufsehen hatte vorher die neue Musik der Mannheimer Schule erregt. 1 ) Werke der „Mannheimer" J . Stamitz, F. X . Richter, Holzbauer, Cannabich, Filtz in Riemanns „Collegium m u s i c u m " (Ed. Breitkopf). Vgl. W . Werkmeister, „ D e r Stilwandel in deutscher Dichtung und Musik" (1936). Sinfonie und Kammermusik wurden damals nicht streng geschieden; das Kammerwerk wird zur „ S i n f o n i e " durch stärkere Besetzung und Hinzunahme von Blasinstrumenten.

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Ihr Begründer war der feurige deutschböhmische Kantorssohn J o h a n n S t a m i t z (1717—1757), der von dem kunstsinnigen Kurfürsten Karl Theodor von der Pfalz 1745, also noch zu Lebzeiten Bachs und Handels, zum Leiter seiner Mannheimer Konzert- und Kammermusik berufen wurde. Die Zeitgenossen waren vor allem begeistert von der außerordentlichen, neuartigen Vortragskunst, der „feurigen, seelenvollen Exekution" des von Stamitz glänzend erzogenen und vor allem auf die Wirkung der Streichinstrumente gestellten Orchesterkörpers, in dem eine Reihe selbst als Komponisten im neuen Stil bedeutende Musiker (Richter, Filz) mitspielten. Im Gegensatz zu der bisherigen, durch die Art der Kompositionen bedingten „Terrassendynamik" (vgl. S. 126,171), die forte und piano meist schroff gegeneinanderstellte wie Ruf und Echo, wurde jetzt das (für den Gesang bereits bekannte) Anschwellen von piano zum forte (crescendo) und das Wiederabnehmen (diminuendo) auf die Orchestermusik übertragen. Selbstverständlich war dieser Effekt schon in der Komposition vorempfunden, wie die folgende Stelle aus Stamitz' op. 3 zeigt:

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Es ist für uns beinahe spaßig, wie stark dieser als Ausdruck des neuen gärenden Zeitgeistes zu wertende, uns selbstverständlich gewordene Klangeffekt auf die musikhingegebenen empfindsamen Zeitgenossen wirkte. Zuhörer, die diesen Effekt zum ersten Male hörten, sollen sich beim Crescendo allmählich von den Sitzen erhoben und beim Diminuendo wieder Luft geschöpft haben, weil ihnen der Atem ausgegangen sei. Daneben blieben natürlich die Kontrastwirkungen zwischen piano und forte bestehen, ja stark hervorgehobene Töne (sforzato) oder plötzliches Umschlagen vom forte zum piano wurde von den Mannheimern sogar zum Kunstmittel von besonders erregender Wirkung ausgebildet. Lächelnd lesen wir Daniel Schubarts bombastische Worte in seinen „Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst", mit denen er seine 197

Begeisterung über die Gesamtwirkung des Orchesters zum Ausdruck bringt: „Kein Orchester der Welt hat es je in der Ausführung den Mannheimern zuvorgetan. Sein Forte ist ein Donner, sein Crescendo ein Catarakt, sein Diminuendo ein in die Ferne hinplätschernder Kristallfluß, sein Piano ein Frühlingshauch." Das malerische Empfinden eines Zeitgenossen, daß „piano und forte musikalische Farben sind, die so gut ihre Schattierungen haben als Rot und Blau in der Malerei", machte sich aber auch in der Instrumentation geltend, die seit der Mannheimer Schule allmählich „farbiger" zu werden beginnt. Der zur Akkordfüllung nun über 100 Jahre ständig verwendete „Generalbaß" (Cembalo, Orgel, Laute), dessen Ausführung der Kunst des Akkompagnisten überlassen war (vgl. S. 125), beginnt seit den Mannheimern trotz mancherlei konservativem Widerspruche zu verschwinden. Damit gewannen aber nicht nur die Einzelstimmen an Wichtigkeit und Leben, sondern der wie eine stets gleiche Untermalung wirkende starre Zitherklang des Cembalo wurde von dem lebendigeren, reicheren Klang und der Vielfarbigkeit der Einzelinstrumente abgelöst. Für die Auffüllung des Klanges und die Bindung des Gesamtklanges durch lange Töne bekamen jetzt die Waldhörner besondere Bedeutung. Es ist nur eine notwendige Folge dieser Auflockerung des Orchesterklanges, daß bald, vor allem seit Mozarts Orchestermusik, das Gefühl für die Eigenart der einzelnen Instrumente die Instrumentation immer stärker beeinflußte (vgl. S. 238). Aber am wichtigsten war doch der musikalische Ausdruck selbst. Das „Zurück zur Natur" ließ auch hier verzichten auf „gearbeiteten" polyphonen Satz zugunsten der auf schlichten harmonischen Hintergrund gezeichneten Melodielinien. Wenn es in einer Sinfonie von Stamitz heißt:

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so ist das weder harmonisch noch melodisch anspruchsvoll, aber sicher naturhaft frisch und im besten Sinne volkstümlich, wie die Kompositionen der Mannheimer überhaupt. Der dritte Takt zeigt aber noch eine besondere, viel angewendete Eigentümlichkeit des Mannheimer Stils, die neben den neuen, zum Teil überspitzten Vortragsverfeinerungen von Mozart trotz der Warnung des Vaters vor dem „vermanirierten Mannheimer goüt" übernommen und reichlich verwendet und selbst bei Beethoven 198

noch nicht völlig verschwunden ist (op. 31 Nr. 3!): der „Mannheimer Seufzer". E r kann auch in folgenden Formen auftreten:

tr r 11 Lr r n Er stammt aus der neapolitanischen Gesangsmelodik, besteht in einem Hinübergleiten zum Hauptton von einem drüber oder drunter liegenden Ton und trägt zweifellos wie das heute noch bei manchen Sängern beliebte Hinüberschleifen von einem Ton zum anderen (portamento) etwas Gefühlsschwelgerisches in sich, entsprach also durchaus dem empfindsamen Zeitgeschmack. F ü r unseren Geschmack hat er durch zu häufige rein äußerliche Verwendung späterer Nachahmer an Reiz verloren wie so mancher damals beliebte Rokokoschnörkel der Mannheimer: F#=ri

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Alles in allem bei den Söhnen Bachs und den Mannheimern: Ein neuer Geist hat in der deutschen Instrumentalmusik seinen Einzug gehalten. Die Sonate trat ihren Siegeszug an; Melodik, Harmonik, Stimmführung, Dynamik wandelten neue Bahnen, die zunächst von der Kunst Bachs und Händeis weit wegführten; sie führten hin zu der Kunst Haydns und Mozarts.

b) D A S L I E D IM 18. J A H R H U N D E R T Erinnern wir uns zuerst, daß die im 17. Jahrhundert treibenden gesunden Keime eines neuen Liederfrühlings um 1700 durch die überwuchernden Schlingpflanzen der Opernarie und Solokantate erstickt worden waren (vgl. S. 139). Auf die Dauer konnten beide aber das Musikgefühl der Allgemeinheit um so weniger befriedigen, als sie zunehmender Veräußerlichung und virtuoser Entartung verfielen. Mußte nicht gerade in diesem eigentümlich deutschen Bezirk der Ruf „Zurück zur N a t u r ! " mit besonderer Eindringlichkeit erhoben werden in einer Zeit, wo Deutschland sich wieder entdeckte und das erwachende Bürgertum im Banne eines neuen Lebensgefühls (Werther!) sich nach einem Ausdruck seiner seelischen Empfindungen sehnte ? 199

Der Volksliederborn, der den Durst nach gesundem Trank hätte stillen können, war anscheinend für immer versiegt; ein Spätling, wie der um 1700 entstandene wundervolle „Prinz Eugen, der edle Ritter',', ist eine Einzelerscheinung geblieben. Ersatz bieten für den Mangel an gediegener Liedmusik konnte aber weder des lustigen Benediktinerpaters R a t h g e b e r für Studentenkreise bestimmte buntscheckige Sammlung „Augsburgisches Tafelkonfekt" (1733—1742), die neben neuen Weisen auch Volkslieder brachte, wenn sie auch eine für die Neubelebung des volkstümlichen Liedschaffens bedeutsame Erscheinung ist; noch viel weniger des Schlesiers S p e r o n t e s „Singende Muse an der Pleiße" (1736), da in ihr wohl gute Dichter wie Günther vertreten waren, die Melodien aber aus zeitgenössischen, meist französischen, teilweise ganz unsangbaren Instrumentalstücken, Tanzweisen und Märschen übernommen waren1) (Parodie: Textunterlegung unter bestehende Melodien). Auch ein Konkurrenzunternehmen des Braunschweiger Postrats Gräfe (1743), das Dichter wie Geliert, Hagedorn, Günther und Komponisten wie Ph. Em. Bach, Graun, Giovannini und Hurlebusch als Mitarbeiter hatte 2 ), konnte auf die Dauer weder textlich noch musikalisch fesseln und genügen, nicht nur wegen der Ungleichwertigkeit der Beiträge, sondern weil mit dem geschilderten neuen Zeitgeist auch ein neues Liedideal geboren wurde. Das lag in der Richtung einer Neugestaltung des Verhältnisses zwischen Wort und Ton. Vielen gilt es heute für selbstverständlich, daß das Dichterwort für den gestaltenden Liederkomponisten auch in Einzelheiten eine ausschlaggebende Rolle spielt. Bei der Arie jedoch und dem größten Teil der von ihr abhängigen Liedliteratur war, wie wir auch bei Bach sahen (vgl. S. 168), der Text nur der unentbehrliche Träger der sich frei ausschwingenden Musik. Er gab nur den „Affekt", den die Musik dann frei gestaltete, oft unter rücksichtsloser Mißhandlung des Textes. Jetzt meldete die Poesie ihre unterdrückten Rechte an. Auswahlen: „Augsburger T a f e l k o n f e k t " , hrg. von Pudelko (Bärenreiter-Verlag); „Singende Muse", hrg. von Seiffert (Kistner). Vgl. H. Kretzsehmar, „Geschichte des neueren deutschen Liedes" I ( 1 9 1 1 ) ; M. Friedländer, „ D a s deutsche Lied im 18. J a h r h u n d e r t " 1902 mit Beispiel-Band; G. Müller, „Geschichte des deutschen Liedes vom Zeitalter des Barock bis zur Gegenwart (1925). 2 ) Vgl.Moser „ A l t e Meister des Deutschen L i e d e s " (Ed. Peters). In Gräfes Sammlung stehen auch Arien von Giovannini, dessen Lied „Willst du dein Herz mir schenken" (aus Bachs „Notenbüchlein für A. M. B a c h " ) fälschlich J . S. Bach zugeschrieben wurde (Brachvogel, „Friedemann B a c h " ) . Lieder von Ph. E . Bach in Auswahl, hrg. von Frieslander (Drei-Masken-Verlag).

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Sie durfte es init um so größerer Berechtigung, als ja der Schöpfer einer neuen Poesie, Klopstock, schon am Werke war. Den Weg zu neuen Bezirken zuerst betreten zu haben, ist das Verdienst der „ B e r l i n e r L i e d e r s c h u l e " 1 ) . Ein Musikdilettant, der Advokat Krause, machte, wie sich das für einen „aufgeklärten Berliner" gehört, den Anfang mit der Aufstellung von Regeln; sie gipfelten in der Forderung der Verständlichkeit, Knappheit und volkstümlichen Einfachheit, wobei die Anlehnung an französische Chansons empfohlen wurde, wie sie kurz vorher in Deutschland durch Drucke bekannt geworden waren. Der auch aus diesem Programm tönende Ruf „Zurück zur Natürlichkeit!" wird hier vor allem im Interesse des Textwortes erhoben. Aber aus einer Theorie, sie mag noch so richtig sein, läßt sich kein Kunstwerk schaffen. Daher entsprach die Sammlung „Oden mit Melodien" (175.3) wohl Krauses Forderungen, fiel aber trotz der Mitarbeit Ph. Em. Bachs doch im ganzen recht trocken aus. Sollte wirklich die Tonsprache vom Geiste des Wortes befruchtet und beflügelt werden, so mußte schon vom Dichterwort eine besondere musikalische Triebkraft ausgehen. W o wäre die aber damals zu finden gewesen, wenn nicht im Dichterwort Klopstocks, den Schiller den „musikalischen Dichter" genannt hat ? Und wer wäre für eine musikalische Einfühlung in das Dichterwprt geeigneter gewesen als der bedeutendste Musiker jener Zeit, G l u c k (1714—1787), den Klopstock selbst den „einzigen Poeten unter den Komponisten" genannt hat ? (Glucks Opernreform S. 206.) So stehen denn Glucks Vertonungen (um 1770) von sieben Gedichten Klopstocks 2 ) mit Recht am Anfang des seit den ersten Versuchen der „Berliner Schule" aufsteigenden Weges. Es ist billig, sie vom heutigen Standpunkt aus als veraltet, trocken und kühl zu bezeichnen. Freilich sind die zarten Linien der Musik wie mit Silberstift gezeichnet; von den Zeitgenossen wurden sie mit Begeisterung aufgenommen, weil man den neuen Geist deutlich fühlte, und auch wir müssen ihn mindestens grundsätzlich erkennen. Versuchen wir, ihn an der ersten Vertonung zu fassen, die Klopstocks Mondlied „ D i e frühen Gräber" gilt. Lesen wir die erste Textstrophe, so empfinden wir nicht nur, wie zwischen Worten und Zeilen eine eigenartige zarte, der musikalischen Ausdeutung entgegenkommende Gesamtstimmung webt, *) Lieder der Berliner Schule im Beispiel-Band zu M. Friedländer, „ D a s deutsche Lied im 18, Jahrhundert" (1902). 2) „Lieder und Arien", hrg. von Friedländer (Ed. Peters).

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sondern auch, wie der Gefühlsstrom nicht ganz gleichmäßig dahinfließt, sondern in der dritten Zeile beim Vorüberziehen leichten Gewölks von leiser Erregung bewegt wird, die dann bei den Worten „Sehet, er bleibt" wieder zu freudiger Beruhigung entspannt wird. Der Rhythmus zeigt denselben Verlauf, er wird in der dritten Zeile stockend, um in der letzten Zeile wieder beruhigt weiterzuströmen. Die Musik geht dem allem in feinster Einfühlung nach. Die vier ersten Takte wachsen in Rhythmus und Tonfall vollkommen zwanglos aus einer schon den Worten innewohnenden fallenden Melodielinie hervor, wie man durch langsames Sprechen der Worte leicht nachprüfen kann. Jedoch geben diese vier ersten Takte schon'mehr als bloße Sprachmelodie: es webt schon darin die idyllische Stimmung des Ganzen. Die folgenden vier Takte bringen nun durch die Modulation von C nach G und durch den andersgearteten rhythmischen Verlauf nicht nur die leise Erregung zum Ausdruck, sondern durch das Ansteigen der Melodielinie auch das bittende Drängen: Bleib doch! Die vier Schlußtakte bringen aber die beruhigte Entspannung nicht nur durch die Rückkehr nach C-dur zum Ausdruck, sondern auch durch das zarte Schweben der Melodielinie, das auch von der Klavierbegleitung aufgenommen wird: es ist, wie wenn ein klopfendes Herz sich wieder beruhigt. Da die dritte Strophe die leicht melancholische Grundstimmung des Gedichtes nach bestimmter Richtung hin vertieft, würden wir heute vielleicht erwarten, die Musik müßte dem Rechnung tragen 202

und diese Zeilen anders vertonen. Damals aber bevorzugte man durchweg das „Strophenlied", bei dem alle Strophen zur gleichen Melodie gesungen wurden. Auch Goethe stand auf diesem Standpunkt. Aufgabe des Sängers war es, wie er selbst schreibt, „die verschiedene Bedeutung der einzelnen Strophen hervorzuheben". Aber auch die kräftigen nationalen Töne Klopstocks: „Was tat dir, Tor, dein Vaterland ? / Dein spott' ich, glüht dein Herz dir nicht / Bei seines Namens Schall!" finden bei Gluck stolzen Widerhall; und wenn es in der dritten Strophe heißt: „Sie haben hohen Genius! / Wir haben Genius wie sie!" — so vereinigten sich Poet und Musiker zu einem für die Sturm-und-Drang-Zeit bedeutsamen Bekenntnis des Vertrauens auf deutschen Willen und deutschen Wert. An den Kompositionen Glucks bewunderte Goethe besonders, wie Gluck die Klopstockschen Gedichte „in einen musikalischen Rhythmus gezaubert" habe 1 ). Aber das, was zur Entzündung des Musikers durch das Dichterwort nötig war, die zwischen den Zeilen schwebende musikalische Stimmung, brachten in vollendeter Weise erst Goethes eigene Gedichte mit sich. Das erkannt und mit den seit dem Aufblühen des neuen Instrumentalstils (vgl. S. 191) gesteigerten Ausdrucksmitteln für die Liedkomposition fruchtbar gemacht zu haben, ist das Verdienst der sogenannten „ Z w e i t e n Berliner Liederschule". Zwei ihrer Hauptvertreter, R e i c h a r d t (1752—1814) und Zelt e r (1758—1832), griffen tief in das reich spendende Füllhorn der Goetheschen Lyrik hinein und setzten eine große Zahl Goethescher Gedichte dem durchaus nicht unmusikalischen Dichter zu Dank in Musik2). Besonders R e i c h a r d t , der geistvolle Europäer, der wegen seiner Sympathie mit der Französischen Revolution leider seine Berliner Hofkapellmeisterstelle und Goethes Freundschaft verlor und als Salineninspektor in Halle starb, hat die Ausdrucksmöglichkeiten ') Für Goethes Stellung zur Musik vgl. H. Abert, „Goethe und die Musik" (Engelhorns Musikalische Volksbücher, 1922); F . Blume, „Goethe und die Musik" (1948). 2 ) Reic-hardts und Zelters Goethe-Lieder in Auswahl, hrg. von Jode (Ed. Nagel). Wie musikträchtig Goethes Lyrik ist, beweist die Feststellung, daß es bis 1912 von 186 Gedichten Goethes 2660 Vertonungen gab; davon galten 171 „Über allen Gipfeln ist Ruh", 154 „Der du von dem Himtnel bist", 92 „Kennst du das Land", 88 „Ich denke dein", 87 „ S a h ein Knab ein Röslein stehn", 82 „Ich ging im Walde", 68 „ E s war ein König in Thüle". Vgl. M. Friedländers Sammlung „Gedichte von Goethe in Kompositionen" (Schriften der Goethe-Gesellschaft Bd. 1 1 , 1896;'Bd. 3 1 , 1916). H. Holle, „Goethes Lyrik in Weisen deutscher Tonsetzer bis zur Gegenwart" (1914), analysiert die bekanntesten Kompositionen der Gedichte „König in Thüle", „Heidenröslein", „An den Mond", „Kennst du das Land", „Erlkönig".

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der Liedkomposition außerordentlich bereichert. Er wird für die Entwicklung des Sololiedes zum wichtigsten Vertreter des „Sturmes und Dranges". Nicht nur Rhythmus und Melodie werden von ihm feinsinnig aus dem Text herausgesponnen, sondern auch harmonische Ausdrucksmöglichkeiten werden der Textausdeutung dienstbar gemacht; als einer der ersten bricht er auch mit der bloßen Notierung einer Generalbaßstimme und schreibt eine ausgearbeitete Klavierbegleitung, die von jetzt ab immer wichtiger wurde, um alle Ausdrucksmöglichkeiten auszuschöpfen 1 ); auch sprengt er schon ab und zu den Rahmen des Strophenliedes, um das Lied „durchzukomponieren". Z e l t e r aber, der sich vom Maurermeister zum Direktor der von seinem Lehrer Fasch 1790 begründeten Berliner Singakademie und zum Musikprofessor an der Universität heraufgearbeitet, die erste deutsche „Liedertafel" und das Institut für Kirchenmusik gegründet hat, ist nicht nur ebenfalls der glückliche Komponist vieler Goethescher Lieder, sondern auch einer der treuesten Freunde und der musikalische Berater des Dichters geworden 2 ). Wenn Goethe in Zelters Kompositionen die vollkommensten Vertonungen seiner Gedichte sah, so hatte er besonders recht bei den volksliedhaft-schlichten Liedern, wie etwa dem „ K ö n i g i n Thüle", dem Zelter die echt volkstümliche, stimmungsvolle Melodie gab: Sanft und frei

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Daß in der Dichtkunst solche schlichtinnigen Verse wieder erklangen, gehört zu den wesentlichen Zügen der Dichtung Goethes, der unter dem Einfluß Herders, des Wiederentdeckers und Wiedererweckers des Volksliedes, von 'Straßburg aus im elsässischen Lande umhergestreift war, um aus dem Volksmund alte Lieder zu sammeln, und der damals das „Heideröslein" gedichtet hatte, dem selbst der kritische Blick Herders die „Unechtheit" nicht angesehen hatte. „ L i e d e r und Oden in Auswahl", hrg. von F. Jode (Nagel). Vgl. den schönen Briefwechsel zwischen beiden, hrg. von Geiger, und die Biographie von G. R. Kruse (Reclam). Lieder in Auswahl in E d . Schott. 2)

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Daß auch in der Musik dieser Geist schlichtester Volkstümlichkeit reiche Früchte trug, verdanken wir hauptsächlich dem dritten „Berliner", den man zeitlich sogar als den eigentlichen Begründer der „Zweiten Berliner Schule" bezeichnen könnte: dem Kapellmeister Johann Abraham Peter S c h u l z (1747—1800). Die schlichten Texte, die er suchte und brauchte, fand er vor allem bei den Dichtern des „Göttinger Hains": Voß, von Stolberg, Bürger und Claudius. Zu den Weisen, die er ihnen gab, braucht man kein Wort zu sagen; sie wirken wie damals, so auch heute auf jeden Empfänglichen durch ihre schlichte seelische Unmittelbarkeit und Wärme 1 ). Treffend nannte er seine Hauptsammlung „Lieder im Volkston" (1782—1790) und umschrieb das Wesen des Volkstons sehr gut mit dem „Schein des Bekannten". Dringt man aber tiefer in den Kern der Weisen, so sieht man, daß sie mehr geben : nämlich zu der volkstümlichen Schlichtheit und rührenden Herzlichkeit ein oft bis auf rhythmische und melodische Einzelheiten feinsinniges Eingehen auf den Text und eine immer treffende Einfühlung in die Gesamtstimmung jedes Liedes. Man prüfe es nach an bekannten Liedern, wie „Der Mond ist aufgegangen", „Willkommen, schöner Mai", „Des Lebens Tag ist schwer und schwül" oder dem Neujahrslied „Des Jahres letzte Stunde ertönt mit ernstem Schlag". Schulz' Lieder sind schönste Erfüllungen der Theorie Krauses: echtem Musikantentum entquollene, im Geiste des deutschen Volksliedes geschaffene unvergängliche Muster deutscher „Lieder im Volkston". Zum Schluß sei noch auf die im Gefolge der Berliner stehende „ S c h w ä b i s c h e L i e d e r s c h u l e " 2 ) hingewiesen, deren bedeutendster Vertreter, Schillers Freund Zumsteeg (1760—1802), auf dem Gebiet der Balladenkomposition der fruchtbare Anreger Schuberts und Loewes geworden ist; und auf die „ W i e n e r L i e d e r s c h u l e " , die Schuberts Schaffen ausschlaggebend vorbereitet hat. Denkt man nun noch daran, daß damals aus Hillers Singspielen (vgl. S. 213) eine Menge volkstümlicher Lieder im Volke gesungen wurden, daß es Liedersammlungen für alle Stände gab (für Kinder, Mütter, Junggesellen, Hirten, Ammen usw. !), daß in jener Zeit schlagkräftige Lieder entstanden, wie „Bekränzt mit Laub den lieben, vollen Becher" (Claudius-André), „Freut euch des Lebens" (Usteri-Nägeli), „Was frag ich viel nach Geld und G u t " (MillerNeefe), „Gott erhalte Franz, den Kaiser" (Haydn), dessen Melodie 1 ) Liederheft und „Serenata im Walde zu singen" für Solo, Chor und Orchester, bei Kallmeyer. „Lieder im Volkston" mit Klavier in Ed. Schott. 2 ) Vgl. die Sammlung „ E i n Liederbuch aus Schwaben", herausgegeben von A. Bopp (Schwäbischer Albverein, Tübingen 1918).

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das spätere Deutschland-Lied adelte, so begreift man, daß mit dem neuen gefühlserregt-optimistischen Zeitgeist auf einmal wieder eine ursprüngliche Liebe und Begabung des deutschen Musikgeistes durchbrach; durch sie ist die Bahn frei gemacht worden für die weltbeherrschenden Leistungen des deutschen Liedes im 19. Jahrhundert. Die Richtung der Entwicklung war klar vorgezeichnet: die Erste Berliner Schule hatte die Musik zum Diener der Poesie machen wollen; aus der ursprünglichen Dienerrolle der Musik sollte aber eine auf gegenseitiges Verständnis gegründete Ehe werden, die niemals wieder vollständig gelöst werden konnte. Goethes Lyrik hat den größten Anteil an dieser Entwicklung. Schade, daß er selbst musikalisch zu sehr in der altklassischen Tradition wurzelte, um an dem bedeutsamen Hochzeitsfest seiner Lyrik mit Schuberts Musikgenius die rechte Freude zu haben. c) G L U C K S O P E R N R E F O R M UND DAS D E U T S C H E S I N G S P I E L Die seelische Wandlung um die Jahrhundertmitte mit ihrer Sehnsucht nach natürlichem, unverkünsteltem Gefühlsleben, die Instrumentalmusik und Liedschaften so entscheidend beeinflußt hatte, mußte notwendigerweise auch das musikalische Theater in ihre Kreise ziehen; ja, sie sollte berufen sein, es von Grund auf umzugestalten. Die Geschichte der Oper in Deutschland hatten wir früher bis zu dem Punkte verfolgt, wo nach verheißungsvollen selbständigen deutschen Versuchen in Hamburg der Leipziger Literatur- und Kunst-Diktator Gottsched 1742 erfreut festgestellt hatte, daß diese seinem Aufklärertum absurd erscheinende Kunstgattung die Gunst des deutschen Publikums verloren habe (vgl. S. 145). In den Hoftheatern stand die italienische Oper freilich immer noch in voller Blüte: In Dresden wirkte der weltberühmte italianisierte Hasse im Vollglanz seines Ruhmes, in Stuttgart der gefeierte Italiener Jommelli; und Friedrich der Große hatte in Berlin eben seine italienische Oper neu eingerichtet, die dann noch bis zu den Siegen Napoleons bestanden hat, ebenso wie die Wiener welsche Hofoper. Die Notwendigkeit einer Um- und Neubildung der Oper wurde aber allenthalben, sogar von Komponisten wie Hasse und Jommelli selbst empfunden. Sie war in Form und Inhalt erstarrt. Der eigent206

liehe Sinn des „Dramas" war verloren. Wie Perlen wurden A r i e n auf die dünne Schnur der vom R e z i t a t i v getragenen Handlung aufgereiht. In ihnen entfalteten sich breit die „Affekte", d. h. allgemeinmenschliche, typische Gefühle und Stimmungen, denen gegenüber die sie auslösende Handlung als nebensächlich zurücktrat. Sie war daher mit ihren Staatsaktionen und gesellschaftlichen Liebesränken zur immer gleichen Schablone geworden. Die Personen waren Marionetten im Dienste der beherrschenden dreiteiligen da-capo-Arie, in der der Komponist eine unumschränkte Herrscherrolle hatte und alle seine musikalischen Künste spielen ließ, und die die Sänger, Primadonnen und Kastraten nur als Mittel zum Zwecke der Herausstellung ihrer Sangeskunst ansahen. So bestand die „Nummernoper" eigentlich nur aus einem Arienbündel, das nicht dramatischen Zwecken diente, sondern Selbstzweck war. Selbst das Schaffen des berühmtesten und fruchtbarsten Librettisten jener Zeit, Metastasio (1698—1782), der nach dramatischer Straffung strebte, war auf diesen Voraussetzungen aufgebaut. In einer Zeit aber, wo Lessing kritisch forschend und dichtend das neue Nationaldrama suchte, in dem lebendige Handlung, lebenswahre Charakterentwicklung, individuelles Schicksal, sittliche Ideen gestaltet werden sollten, wo Lessing sogar die Möglichkeit eines aus diesem Geiste geborenen deutschen Musikdramas erwog, in dem Dichtkunst und Musik eine künstlerische Einheit bilden sollten, mußte die Enge und Starrheit der aus höfischem Prunk erwachsenen und der Entfaltung, virtuoser Künste dienenden alten Operndramatik als unbefriedigend empfunden werden („Laokoon": Idee des Gesamtkunstwerks!). Die grundlegende Tat der unumgänglichen Reform ist der gemeinsamen Arbeit zweier Männer zu danken: dem Bayern Christoph Willibald G l u c k (1714—1787) x ), der sich nach Verleihung eines päpstlichen Ordens „Ritter von Gluck" nannte, als Musiker, und dem als Beamten der niederländischen Rechnungskammer in Wien tätigen Italiener C a l s a b i g i (1714—1795) als Textdichter. Gluck hatte in Italien Musik studiert, und so ist es nicht verwunderlich, daß seine ersten Opernversuche ganz den Stempel der alten italienischen Oper tragen. Aber sowohl die persönliche Bekanntschaft mit Händel und dessen vergeistigtem Schaffen (vgl. S. 179), als auch die Berührung mit der besondere Wege gehenden französischen Chor- und Ballettoper (Rameau), mit dem französischen Singspiel (s. u.) und den Rousseauschen Ideen hatten Reformpläne Vgl. M. Arend, „ G l u c k " (1921).

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in ihm reifen lassen. Sie nahmen feste Formen an und wurden Wirklichkeit, als er nach seiner Berufung zum Hofkapellmeister in Wien den Dichter Ranieri da Calsabigi kennenlernte und in ihm einen dichterischen Mitstreiter fand. Drei Opern stehen am Anfang des neuen Weges: „Orpheus /und Eurydice" (1762), „Alceste" (1767), „Parisund Helena" (1770) 1 ). Wir sehen, an den antiken Stoffen hält man zunächst noch unentwegt fest; auch Goethes Schaffen ist ja von ihnen noch ausschlaggebend bestimmt worden; noch einmal erst sollte im Neuhumanismus der läuternde Geist der Antike das deutsche Theater befruchten, bevor auch stofflich die bewußte Wendung zu „deutscher Art und Kunst" im 19. Jahrhundert einsetzte. Noch sind die Texte auch italienisch. Aber sie zeigen deutlich das neue Wollen: dramatisch gestraffte, mit drängender Leidenschaft, innerer Wahrheit und poetischer Schönheit erfüllte Handlung; Empfindung, nicht Empfindsamkeit, lebensvolle Personen, nicht Marionetten. E s ist der Schritt des Opern-Librettos zur wirklichen Tragödie. Über die Aufgabe des Musikers aber hat sich Gluck selbst in einer Vorrede zur „Alceste" bedeutsam und klar ausgesprochen: „Ich gedachte, die Musik auf ihre wahre Aufgabe zu beschränken, durch ihren Ausdruck der Poesie zu dienen, ohne die Handlung zu unterbrechen oder mit unnützem Überfluß an Ornamentik abzukühlen, und glaubte, daß sie . . . die Gestalten beleben müsse, ohne die Konturen zu verändern." Das bedeutet Unterordnung der Musik unter ein geistiges Ziel: den poetisch-dramatischen Zweck; der NurMusiker weicht dem dramatischen Musiker, der nicht nur-musikalische oder virtuose Sonderzwecke verfolgt, sondern der dramatischen Handlung und den Charakteren zu musikalisch gesteigertem Leben verhilft. Damit ist grundsätzlich unsere moderne Einstellung zum Opernkunstwerk erreicht. Die schematische da-capo- und Bravour-Arie fiel. Die neue A r i e dient nur dem dramatischen Zweck und empfängt ihre wechselnde Form aus den dichterischen Notwendigkeiten; das R e z i t a t i v bekommt als Träger der Handlung neue Bedeutung, und durch ständige untermalende und ausdeutende Begleitung des Orchesters (Accompagnato) an Stelle der bisherigen nur harmoniestützenden Cembalo-Begleitung (Secco) gesteigerte Wirkung. Große Chöre, die nach antikem Vorbild handelnd oder betrachtend in die HandM Klavierauszüge zu „Orpheus", „Alceste" und den beiden „Iphigenien" in E d . Peters. Vgl. v . Waltershausen, „Orpheus und E u r y d i c e " (1923). Glucks komische Opern „Die Pilger von Mekka" und „ D e r Zauberbaum", hrg. von Arend (Callwey).

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lung eingegliedert und musikalisch aus dem Geiste ihrer Träger heraus gestaltet sind (vgl. die Chöre der Furien und der seligen Geister im „Orpheus"), nebst Tanzpantomimen 1 ), erweitern die dramatische Soloszene zum Bild eines großen, bewegten Gemeinschaftslebens. Die O u v e r t ü r e aber bekommt die Aufgabe, mit den seit den Mannheimern neu gewonnenen Orchestermitteln auf den Inhalt der Oper vorzubereiten, indem sie die bestimmenden Personen, Ideen und Gefühle einander gegenüberstellt und miteinander ringen läßt (Sonatenform!). Sie wird seelische Programmusik; ja, die Ouvertüre zur „Iphigenie in Tauris" gibt sogar naturalistische Programmusik mit der Schilderung des Seesturmes, der Orest an die Küste von Tauris verschlägt. Hier war erreicht, was einst die Schöpfer der Oper in Florenz gesucht hatten und später Richard Wagner wieder erstrebte: das Musikdrama. Die Zeit der Kastraten und Primadonnen, die nur nach Befriedigung ihrer Sängereitelkeit gestrebt hatten, war vorbei; der Sänger wurde zum Träger geistiger Ideen und lebendiger Charaktere. Die höchste Erfüllung der neuen Ideen in schlackenloser Reinheit bieten Glucks drei letzte Reformopern: „ I p h i g e n i e in Aulis" (1774), „ A r m i d e " (1777), „ I p h i g e n i e auf Tauris" (1778), deren Texte ihm französische Dichter schrieben. Es ist kein Ruhmesblatt für Wien und Deutschland, daß der Weltrulnn, den ihm erst diese Opern eintrugen, von Paris seinen Ausgang genommen hat, wohin Gluck im Interesse freierer Entfaltung einem Rufe der jungen österreichischen Kronprinzessin Marie Antoinette gefolgt war. Zwar entbrannte hier zuerst ein leidenschaftlicher Kampf für und gegen ihn, und man versuchte, den italienischen Komponisten Piccini gegen ihn auszuspielen (Gluckisten und Piccinisten); schließlich setzte sich aber Gluck mit der Größe seines Werkes doch durch, und sein größter Triumph war, daß sogar Piccini selbst sich in seinem Schaffen an Gluck anschloß. Die bald darauf in den unruhvollen Jahren Napoleons in Paris blühende „Große Oper" Cherubinis („Der Wasserträger" 1800) und Spontinis („Die Vestalin" 1807) aber ist ohne Glucks vorbereitendes Wirken nicht denkbar (vgl. S. 254). J) Kurz vorher war das in Unnatur und Routine erstarrte Ballett durch den berühmten Ballettmeister N o v e r r e (Paris, London, Stuttgart, Wien, Mailand) zum dramatischen Bühnentanz reformiert worden; er forderte, wie die Reformer des Bühnentanzes heute wieder, daß die Bewegungen Ausdruck der Empfindungen und Leidenschaften sein müßten und das Ballett sich dem Bühnengeschehen organisch eingliedern müsse. Damit hat er die Glucksche Reform mit vorbereitet. Glucks Ballettpantomime „ D e r Prinz von China", hrg. von Arend (Callwey).

14 M a l s c h , G e s c h i c h t e der deutschen Musik

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Der Grundton seiner vergeistigenden musikalischen Sprache möge aber zum Schluß noch mit den Anfangstakten seiner „Iphigenie in Aulis" anklingen: Qlgamtmnon: B g

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