Geschichte als Argument in der Nachkriegsmedizin: Formen der Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Euthanasie zwischen Politisierung und Historiographie 9783847098324, 9783847101277, 9783847001270

166 46 2MB

German Pages [370] Year 2013

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Geschichte als Argument in der Nachkriegsmedizin: Formen der Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Euthanasie zwischen Politisierung und Historiographie
 9783847098324, 9783847101277, 9783847001270

Citation preview

Formen der Erinnerung

Band 53

Herausgegeben von Jürgen Reulecke und Birgit Neumann

Sascha Topp

Geschichte als Argument in der Nachkriegsmedizin Formen der Vergegenwärtigung der nationalsozialistischen Euthanasie zwischen Politisierung und Historiographie

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0127-7 ISBN 978-3-8470-0127-0 (E-Book) Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie des Fachbereiches 04 Geschichts- und Kulturwissenschaften der Justus-Liebig-Universität Gießen 2011. Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Gerhard Richter, 2013 Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Für Maria

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

1. Einleitender Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Zur Aktualität der NS-Vergangenheit in den Wissenschaften 1.2. Objekte und Aufbau der Untersuchung . . . . . . . . . . . . 1.3. Historische Hintergründe: Zur Beteiligung der Medizin an NS-Euthanasie-Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Geschichte als Argument in der deutschen Medizinethik nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . . . .

19 19 30

. . . . . .

31 36

. . .

38

2. Forschungstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Stand der zeitgeschichtlichen Forschung zum Umgang mit der NS-Geschichte nach 1945 und der Einfluss der Generationenabfolge in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . 2.2. Stand der zeitgeschichtlichen Forschung zur Vergegenwärtigung der NS-Euthanasie in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . .

41

3. Zur Theorie von Erinnerung und Vergessen . . . . . . . . . . . . 3.1. Erinnerung und Vergessen: »kollektives Gedächtnis«? . . . . . 3.1.1. Grenzen des Konzepts der m¦moire collective (Maurice Halbwachs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungsräume (Jan und Aleida Assmann) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.3. Erinnerungskulturen – Der Gießener Sonderforschungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2. Methodische Kritik an memory studies und mögliche Erkenntnisse (Alon Confino und Wulf Kansteiner) . . . . . .

41 48

. . . .

57 60

. .

62

. .

64

. .

67

. .

68

8 4. Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . 4.1. Thematisierung der NS-Medizin in der Landesärztekammer Hessen (LÄK) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1. Ärzteopposition in der Bundesrepublik . . . . . . . . . . . 4.1.2. Ärzteopposition in der LÄK Hessen . . . . . . . . . . . . . 4.1.3. »Unmenschliche Medizin« in Vergangenheit und Gegenwart? Bad Nauheimer Seminar 1981 . . . . . . . . . . 4.1.4. Entstehung und Entwicklung der Euthanasie-Gedenkstätte Hadamar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5. Die LÄK Hessen und Hadamar . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.6. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2. Thematisierung der NS-Vergangenheit in der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde (DGfK) . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1. Auseinandersetzung in der DGfK um Werner Catel und die »begrenzte Euthanasie« 1960 bis 1967 . . . . . . . . . . . . 4.2.1.1. Vorgeschichte des Catel-Streits . . . . . . . . . . . . 4.2.1.2. Der öffentliche Skandal um Werner Catel 1960: Ausschluss von Rudolf Degkwitz? Erste unmittelbare Reaktion in der DGfK . . . . . . . . . 4.2.1.3. Öffentliche Erklärung der DGfK 1961: Zweite unmittelbare Reaktion . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.4. Catels Rechtfertigungsschrift »Grenzsituationen des Lebens« von 1962 . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.5. DGfK-Ausschlussverfahren gegen Catel 1962 . . . . 4.2.1.6. Werner Catels Austritt aus der DGfK 1967 . . . . . 4.2.2. DGfK-Tagung zur Medizinethik in der Pädiatrie 1981: Einbruch der Vergangenheit durch die Hintertür? . . . . . 4.2.3. Historische Kommission und 100 Jahre DGfK: München 1983 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.4. »Aufbruch« zur »Rückbesinnung auf die Vergangenheit«: Hannover 1994 bis Potsdam 2010 . . . . . . . . . . . . . . 4.2.5. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen von Zwangssterilisation und NS-Euthanasie . . . . . . . . . . . . 4.3.1. Erste Opferorganisationen: die Zentralverbände in Gießen und München (1950 – 1954) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2. Arbeitskreis zur Erforschung der NS-»Euthanasie« und Zwangssterilisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.1. Die Vorgeschichte des Arbeitskreises . . . . . . . .

Inhalt

75 75 75 78 79 86 93 97 101 101 101

108 114 119 135 158 163 177 182 191 200 202 213 213

9

Inhalt

4.3.2.2. Zur Gründungs- und Wirkungsgeschichte des Arbeitskreises . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3. Bund der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten (1987 – 2009) . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4. Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft im Umgang mit der Vergangenheit . . . 4.4.1. Die Hypothek der NS-Euthanasie . . . . . . . . . . . . . . 4.4.2. Der Anstoß in Nürnberg 1946/47 . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.3. Die Hallervorden-Affäre (»dutch affair«) von Lissabon 1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.4. Rückendeckung: die Fachgesellschaften GDNP / DGN und das hessische Institutsumfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4.5. Die Positionierung der Max-Planck-Gesellschaft . . . . . . 4.4.6. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Erinnerungsgeschehen in der DDR . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Staatlicher Umgang mit der Vergangenheit . . . . . . . . . . . . 5.1.1. Entschädigungspolitik in der DDR . . . . . . . . . . . . . 5.1.2. Die geheime Vergangenheitspolitik des MfS: Umgang mit ehemaligen Mitarbeitern Werner Catels und Einblicke in die »Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina« . 5.1.3 Authentische Orte der NS-Euthanasie am Rande der staatlichen Erinnerungskultur : Pirna / Sonnenstein, Brandenburg a. d. Havel, Bernburg . . . . . . . . . . . . . 5.2. Zur Vergegenwärtigung der Vergangenheit in der DDR-Medizin 5.2.1. Psychiatrie-Streit um das Buch »Nazimordaktion T4« . . 5.2.2. Gesellschaft für Pädiatrie der DDR: Geschichte als Argument in der Medizinethik? (1978) . . . . . . . . . . 5.3. Die wissenschaftliche Vergegenwärtigung der NS-Euthanasie in der DDR-Medizinhistoriographie . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4. Zwischenbilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

218 224 228 234 236 237 247 255 260 269

. . .

271 271 271

.

273

. . .

280 288 288

.

301

. .

305 312

10

Inhalt

6. Zusammenfassende Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

317

7. Liste der einbezogenen öffentlichen und privaten Archive . . . . . . .

327

8. Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur . . . . . . . . . . .

329

9. Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

363

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

365

»Was die Familien vieler meiner Freunde und Bekannten so wurzellos, ja armselig erscheinen lässt: Die meisten ihrer Geschichten und Erinnerungen enden im Zweiten Weltkrieg, an der Mauer des Schweigens, die da gezogen wurde. Die Angst, hinter dieser Mauer Verstörendes zu finden, ist auf lange Sicht aber bedrückender als die Erschütterung über die Dinge, die man möglicherweise entdecken würde, wenn man nur nach ihnen fahndete. ›Das Vergangene ist nicht tot‹, so beginnt der Roman Kindheitsmuster von Christa Wolf, die dabei wiederum den amerikanischen Literatur-Nobelpreisträger William Faulkner zitiert, ›es ist nicht einmal vergangen. Wir trennen es von uns ab und stellen uns fremd.‹« (Giovanni di Lorenzo)1

1 Axel Hacke und Giovanni di Lorenzo, Wofür stehst Du? Was in unserem Leben wichtig ist – eine Suche, Köln 2010, S. 121.

Danksagung

Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die überarbeitete und erweiterte Fassung meiner an der Justus-Liebig-Universität Gießen im Jahr 2011 eingereichten Dissertationsschrift. Dieses Buch hat mit einer langen, teils turbulenten, also keineswegs geradlinigen Entstehungsgeschichte aufzuwarten und sein Inhalt wäre ohne Unterstützung aus der Familie, dem Freundes- und Kollegenkreis nicht zu Papier gebracht worden. An erster Stelle sei hierbei Volker Roelcke genannt, der mir als Projektleiter das Thema mit unerschütterlichem Vertrauen in die Hände legte und mich während des Entwicklungsprozesses mit seinen Höhen und Tiefen begleitete. Er hat mich auf allen Ebenen unterstützt. Dafür von ganzem Herzen meinen Dank! Die Realisierung der Publikation in Buchform hätte mich vor unlösbare Probleme gestellt, wären nicht Jürgen Reulecke, Dirk van Laak und Volker Roelcke gewesen. Für die großzügige Unterstützung kann ich kaum genug danken. Das Staunen und die Verlegenheit darüber werden mir immer präsent bleiben. Kollegialen Austausch und Rat habe ich so vielen zu verdanken, dass hier nur eine Auswahl dieser klugen Personen genannt werden kann. Besonders fruchtbar waren dabei die Diskussionen mit den Kollegen und Freunden an meiner wissenschaftlichen Heimstätte, dem Gießener Institut für Geschichte der Medizin sowie dem ebenfalls in Gießen ansässigen und zwischenzeitlich abgeschlossenen DFG-Sonderforschungsbereich 434 »Erinnerungskulturen«. Folgenden Personen, die sich mit kritischen Denkanstößen und Hinweisen, organisatorischer Hilfe oder konkret mit Material in das Buch hineingeschrieben haben, sollen hier stellvertretend für alle Beteiligten genannt werden: Ich danke ausdrücklich Gerhard Baader, Marc Burlon, Thomas Beddies, Anne Cottebrune, Nadav Davidovich, Alfred Drukker, Ulrike Enke, Petra Fuchs, Karin Geiger, Thomas Gerst, Sybille Gerstengarbe, Christian Giese, Annette Hinz-Wessels, Ute Hoffmann, Gerrit Hohendorf, Kristina Hübener, Lutz Kaelber, Franz-Werner Kersting, Roland Kipke, Ernst Klee (†), Michael Knipper, Êtienne Lepicard, Sigrid Oehler-Klein, Hans-Christian Petersen, Anna-Katharina Reebs, Jürgen Reulecke, Iris Ritzmann, Volker Roelcke, Wolfgang Rose, Maike Rotzoll, Carola

14

Danksagung

Sachse, Udo Schagen, Hans-Walter Schmuhl, Sabine Schleiermacher, Martina Schlünder, Christian Schölzel, Christina Vanja, Paul Weindling, Bettina Winter, Rakefet Zalashik, Christian Zeuch und Susanne Zimmermann. Historische Arbeit stützt sich bekanntlich auf Quellenmaterial und Erinnerungen von Zeitzeugen. Ich danke hiermit allen Mitarbeitern der von mir aufgesuchten Archive, die mir fast ausnahmslos eine uneingeschränkte Unterstützung bei der Suche nach Dokumenten zuteilwerden ließen. Da sich bei der vorliegenden Thematik in der praktischen Arbeit nicht selten mehr Quellenlücken als Quellenfunde abzeichneten, hat das Projekt sehr von den zahlreichen Recherchetipps der Archivarinnen und Archivare profitiert. Für die Bereitstellung von Material aus privaten und semiöffentlichen Archiven sowie für die Zeit und Mühe, in persönlichen Gesprächen oder postalisch Fragen zu beantworten, habe ich zu danken: Winfried Beck, Udo Benzenhöfer, Peter Degkwitz, Klaus Dörner, Hans-Ulrich Deppe, Sigmund Drexler, Sabine Fahrenbach, Andreas Fanconi, Ernst Fukala, Wolfgang Furch, Margret Hamm, Theodor Hellbrügge, Ute Jahnke-Nückles, Eberhard Keller, Horst Köditz, Thomas Lennert, Günter Mau, Johannes Oehme (†), Helmut Patzer (†), Lothar Pelz, Jürgen Schreiber, Eduard Seidler, Helmut F. Späte, Holger Steinberg, Achim Thom (†), HansMichael Straßburg, Norbert Jachertz, Rainer Köttgen, Manfred Stürzbecher, Eberhard Ulm, Hedwig Wegmann, Klaus Weise, Erich Wulff (†) und Michael Wunder. Niemand hat mit so aufrichtiger Kritik und unabweisbaren Verbesserungsvorschlägen geholfen wie Philipp Rauh, Ruth Vachek, Maria Schneider und Volker Roelcke. Das Buch wurde dadurch nicht nur lesbar, sondern auch besser verständlich. Dafür meinen abschließenden Dank! Berlin, Juni 2013

Der Autor

Vorbemerkung

Die Auswahl der Abbildung auf dem Buchcover bedarf der Erläuterung. Es handelt sich um den Abdruck eines Werks des Malers Gerhard Richter. Das Gemälde mit dem Titel »Herr Heyde« wurde im Jahr 1965 in der für Richter typischen Technik der malerischen Verunschärfung erstellt. Als Vorlage diente ein Schnappschuss in einem zeitgenössischen Presseartikel, mit dem die Leserschaft über die Inhaftierung des Mediziners Werner Heyde im Jahr 1959 informiert wurde. Heyde, während des Zweiten Weltkriegs als erster medizinischer Leiter des von Berlin aus gesteuerten NS-Euthanasieprogramms T4 hauptverantwortlich für die Gasmorde von ca. 70.000 Psychiatriepatienten, war nach 1945 unter dem Decknamen Fritz Sawade in Schleswig-Holstein als Arzt aktiv. Bis seine Tarnung aufflog und der Fall als Heyde-Sawade-Affäre in der Presse skandalisiert wurde, war er unbehelligt und mit wissentlicher Unterstützung aus Kollegenkreisen sowie von Vertretern der Landesregierung sogar als medizinischer Gutachter tätig gewesen. Das Bild »Herr Heyde« bietet gleich zwei, allerdings sehr verschiedenartige Bezüge zur vorliegenden Untersuchung. Erstens steht das Gemälde im näheren Kontext einer Reihe anderer, allerdings auf Familienfotografien basierenden Bildern von Gerhard Richter, die in den letzten Jahren verstärkt zum Gegenstand der öffentlichen Aufmerksamkeit wurden. Dieser Blick war auf die künstlerische Vergegenwärtigung der NS-Zeit in den Werken dieses weltweit bekannten Malers gerichtet. Hierbei geht es um die von Richter teils bewusst, teils offenbar unwissentlich verarbeiteten innerfamiliären Zusammenhänge von NS-Täterschaft einerseits und der in der NS-Zeit ermordeten Tante des Malers andererseits. Dazu sind die Ölgemälde »Familie am Meer« (1964), »Tante Marianne« (1965), »Onkel Rudi« (1965) sowie »Herr Heyde« zu zählen. Einige dieser Bilder wurden weltweit zuletzt im Wert von etwa 2 – 3 Millionen Euro gehandelt. Als der Journalist Jürgen Schreiber im Jahr 2005 in seinem Buch »Ein Maler aus Deutschland. Gerhard Richter. Das Drama einer Familie« (Verlag Pendo, München u. a.) die innerfamiliären Hintergründe dieser Bilder auch zur Überraschung des Malers im Detail rekonstruieren konnte, begann eine neue Aus-

16

Vorbemerkung

einandersetzung mit den Gemälden. Richters an Schizophrenie erkrankte Tante war während der NS-Zeit zwangssterilisiert und noch im Februar 1945 Opfer der Krankenmorde geworden. Zur selben Zeit hatte sich Richters späterer Schwiegervater als SS-Mitglied und Direktor der Dresdener Frauenklinik als überzeugter Anhänger der NS-Rassenpolitik positioniert. Nur der Umstand des schlechten Gesundheitszustandes von Richters Tante verhinderte, dass die geplante Unfruchtbarmachung 1938 in Arnsdorf und nicht an der Klinik von Richters Schwiegervater durchgeführt wurde. Jürgen Schreiber und zuletzt noch einmal der Chefredakteur des Stern HansUlrich Jörges forderten den Maler und die am Kunstgeschäft Beteiligten auf, die Gemälde nicht mehr unkommentiert oder nur noch in einer entsprechenden Gedenkstätte auszustellen. Doch Richters eigene Position, die anfangs von euphorischer Anerkennung für Schreibers Rechercheergebnisse und von Unterstützungsbemühungen2 geprägt war, wandelte sich zu einer zunehmend als problematisch zu bewertenden Haltung.3 So wandte sich Richter gegen Schreiber und bemühte sich um eine verständnisvolle Deutung seines Schwiegervaters. Wie von Schreiber und anderen kritisch angemerkt wurde, ist es vonseiten des Malers bislang zu keiner verbalen oder symbolischen Geste des Bedauerns oder Mitgefühls für die Betroffene gekommen. Damit mag diese jüngste Aushandlung über die Bedeutung der NS-Vergangenheit zwischen dem Künstler und der breiteren Öffentlichkeit exemplarisch für (deutsch-)deutsche Vergegenwärtigungsprozesse stehen. Zweitens ergibt sich ein Bezug zwischen Werner Heyde bzw. dessen Verhaftung und dem Thema der vorliegenden Untersuchung: Anfang des Jahres 1964 liefen die Vorbereitungen für ein von dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer4 geplantes NS-Euthanasie-Verfahren auf Hochtouren. Dieser Prozess am Landgericht Limburg richtete sich gegen Heyde als Hauptangeklagten sowie die mitangeklagten mutmaßlichen Täter der NS-Euthanasie Hans Hefelmann (Betriebswirt), Gerhard Bohne (Jurist) und Friedrich Tillmann (Verwaltungsangestellter). Dem Anspruch nach eine juristische Aufarbeitung von NS-Verbrechen, sollte dieses Verfahren mit dem ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963 – 1965) gleichziehen. Wenn auch dieser Prozess im Ergebnis für Bauer enttäuschend ausgefallen war, so sollten alle drei Auschwitz-Prozesse bis 1968 in ihrer Gesamtwirkung noch eine nachhaltige Wirkung insbesondere auf die jüngeren Generationen, deren Politisierung und vergangenheitspolitischen 2 Telefonische Auskunft Jürgen Schreibers im Gespräch mit dem Autor, April 2013. 3 Siehe neben den zahlreichen Leserbriefen im Tagesspiegel die Beiträge von Jürgen Schreiber, »Tante Marianne«. Das große Geheimnis des Malers Gerhard Richter, Der Tagesspiegel, 23. 8. 2004, Ders., Drama um Gerhard Richters Bild. Tante Marianne muss hier bleiben, in: Der Tagesspiegel, 19. 6. 2006, sowie: Hans-Ulrich Jörges, Das Skalpell der SS, in: Stern, 10. 4. 2008. 4 Vgl. die Studie von Irmtrud Wojak, Fritz Bauer 1903 – 1968. Eine Biographie, München 2009.

Vorbemerkung

17

Positionierungen entwickeln. Doch der Suizid Heydes (13. 2. 1964) sowie der Unfalltod Tillmanns (12. 2. 1964) unmittelbar vor Eröffnung der geplanten Hauptverhandlung machte das groß angelegte Vorhaben nicht durchführbar. Und auch ein von Bauer angestrebtes Verfahren gegen Juristen, durch deren Unterstützung die strafrechtliche Ahndung der NS-Euthanasie-Aktionen während des Krieges unterdrückt worden war, kam nicht mehr zustande. Streng genommen könnte man also den zweiten Bezug zum Inhalt des vorliegenden Buches als kontrafaktisch bezeichnen. In der Historikerzunft sind hypothetische Aussagen aus gutem Grund unüblich. Dennoch sei hier die Hypothese gewagt, dass bei erfolgreichem Abschluss der genannten Verfahren die Vergegenwärtigungsgeschichte der NS-Euthanasie in der Bundesrepublik (sowie der DDR) und damit zwangsläufig die hier präsentierte Darstellung einen signifikant anderen Gehalt aufweisen würde. Wie aber zu dokumentieren sein wird, sollte gerade die verzögerte oder ausbleibende juristische Verfolgung medizinischer Täter der NS-Euthanasie direkten Einfluss auf zeitgenössische Konstellationen innerhalb der Medizin, d. h. auf das Handeln einzelner hier vorgestellter Akteure und damit konkret auf das Erinnerungsgeschehen nehmen.

1. Einleitender Überblick

1.1. Zur Aktualität der NS-Vergangenheit in den Wissenschaften Die Zeit des Nationalsozialismus ist einer der wichtigsten Bezugspunkte der deutschen Vergangenheit seit 1945. Dies gilt sowohl auf allgemeiner politischer Ebene für die Existenz der beiden deutschen Staaten seit deren Gründung im Jahr 1949 bis zur »Deutschen Einheit« von 1990 – und danach – als auch im Besonderen auf der Ebene von Individuen, sozialer Gruppen und Organisationen der Nachkriegsgesellschaften. Angesichts der ungeheuren Dimension der »Verbrechen gegen die Menschheit« (H. Arendt)5 waren und sind diese Nachkriegsgesellschaften bzw. die in ihnen fokussierbaren Personen, Gruppen und Organisationen mit einer prekären Vergangenheit konfrontiert. Wie neuere Forschungsbeiträge andeuten, scheint sich die Erinnerung an die NS-Vergangenheit und die mit ihr verbundenen Verbrechen trotz aller innergesellschaftlichen Widerstände als unabweisbar herauszustellen.6 Während traditionell – zumindest bis zur Erfahrung des Ersten Weltkrieges – die vergangenheitspolitische Option des verordneten Vergessens (z. B. durch Amnestien) gewählt wurde, ist später die Option der Erinnerung hinzugekommen; wenngleich deren normative Bedeutung ununterbrochen und weit mehr dis5 Die politische Philosophin und Publizistin Hannah Arendt, Beobachterin des EichmannProzesses in Jerusalem (1961), hielt die deutsche Übersetzung »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« für die Formulierung »crime against humanity« im Zuge der Rezeption der Nürnberger Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher für einen Euphemismus und beklagte die unangemessene Übersetzung ins Deutsche. Vgl. Hans Mommsen, Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann, in: Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München / Zürich 61996, S. 9 – 48, hier: S. 24, sowie H. Arendt im Epilog des Buches, u. a. S. 373 f. u. 399, wo sie zudem die Variante »Verbrechen an der Menschheit« benutzt. 6 Vgl. hier unter Rezeption der Arbeiten des Althistorikers Christian Meier : Carola Sachse, Was bedeutet »Entschuldigung«? Die Überlebenden medizinischer NS-Verbrechen und die MaxPlanck-Gesellschaft, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 34 (2011) 3, S. 224 – 241, hier : S. 230 f.

20

Einleitender Überblick

kursiv (Begriff »Erinnerungskampf«, Norbert Frei) als konsensual verhandelt werden muss.7 Dieser Gesamtbefund lässt sich, wie die Historikerin Carola Sachse zu zeigen versucht, konkretisieren: anhand einer spezifischen, etwa seit dem Millenniumswechsel sogar international gehäuft beobachtbaren Auseinandersetzung mit der prekären Vergangenheit in Form von öffentlichkeitswirksamen apologies durch zumeist nachgeborene Repräsentanten einzelner sogenannter TäterKollektive. Hinsichtlich dieses »neuen politischen Bußrituals« (Hermann Lübbe)8 zeichnen sich am konkreten Beispiel des Umgangs mit nationalsozialistischer Vergangenheit in Wirtschaft und Wissenschaft einige markante Merkmale ab. So gehe dem Akt der Entschuldigung eine intensive Phase der gezielten Generierung von Wissen über das Geschehene voraus.9 Aus dem erweiterten Wissen über die prekäre Vergangenheit werde normativ die Notwendigkeit einer lebendigen Erinnerung abgeleitet. Eine solche Erinnerungsarbeit resultiere aber keineswegs zwangsläufig aus den ersten beiden Schritten von Aufarbeitung und Entschuldigung.10 Betrachtet man den für die vorliegende Untersuchung gewählten Bereich der deutschen Medizin nach 1945 bis heute und fragt zunächst nach den zwei ersten der drei genannten Schritte, so lässt sich für die letzten zehn bis fünfzehn Jahre ein Qualitätssprung in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit konstatieren, was den oben genannten Befund bestätigt. Der folgende kursorische Überblick dient vorrangig der Einbettung der hier untersuchten historischen Konstellationen und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit: Im Mai des Jahres 2012 folgte die Delegiertenversammlung des 115. Deut7 Ebd. 8 Vgl. Sachse, Was bedeutet »Entschuldigung«?, S. 227 f. Sie bezog sich auf ein Essay des Philosophen Hermann Lübbe mit dem Titel »›Ich entschuldige mich‹. Das neue politische Bußritual« (Berlin 2001). Den Befund, der an der Wende zum 21. Jahrhundert gehäuften Bemühungen, mit »der eigenen historischen Vergangenheit ›ins Reine zu kommen‹«, hatte auch der Wirtschaftshistoriker Gerald D. Feldman im Jahr 2003 erhoben, worauf C. Sachse als Ausgangspunkt ihrer eigenen Untersuchung ebenfalls hinwies (Sachse, Was bedeutet »Entschuldigung«?, S. 225). Vgl. Gerald D. Feldman, Historische Vergangenheitsbearbeitung. Wirtschaft und Wissenschaft im Vergleich, Vorabdrucke aus dem Forschungsprogramm »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, hg. v. Carola Sachse im Auftrag der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., Ergebnisse 13, Berlin 2003, S. 8. 9 In diesem Zusammenhang sprach Feldman, in Abgrenzung zu unverbundenen und fremdfinanzierten Forschungsprojekten auf Initiative einzelner Wissenschaftler, von organisierter Forschung, um den quantitativen und qualitativen Wissenszuwachs durch Verbundprojekte, ausgelöst durch Großunternehmen oder Wissenschaftseinrichtungen, zu kennzeichnen. Hinsichtlich dieser organisierten Forschung zur NS-Zeit sei seit den 1990erJahren ein historiographischer Dammbruch zu verzeichnen. Vgl. Feldman, Historische Vergangenheitsbearbeitung, S. 7. 10 Vgl. Sachse, Was bedeutet »Entschuldigung«?, S. 237.

Zur Aktualität der NS-Vergangenheit in den Wissenschaften

21

schen Ärztetages in Nürnberg einem gemeinsamen Appell von etwa 40 Medizinhistorikern und Medizinern und beschloss einstimmig den Wortlaut einer dem Appell beigelegten Erklärung zur Beteiligung der Medizin an Menschenrechtsverletzungen in nationalsozialistischer Zeit. Darin genannte Verbrechenskomplexe sind die »vielfach tödlich endenden unfreiwilligen Menschenversuche«, die »Zwangssterilisation von über 360.000 als ›erbkrank‹ klassifizierten Menschen« sowie die während des Zweiten Weltkrieges vollzogenen Krankentötungen (Euthanasie) »von weit über 200.000 psychisch kranken und behinderten Menschen«.11 In der Entschließung des Ärztetages heißt es zur Bedeutung dieser prekären Vergangenheit: »Diese Menschenrechtsverletzungen durch die NS-Medizin wirken bis heute nach und werfen Fragen auf, die das Selbstverständnis der Ärztinnen und Ärzte, ihr professionelles Handeln und die Medizinethik betreffen. […] Wir bekunden unser tiefstes Bedauern darüber, dass Ärzte sich entgegen ihrem Heilauftrag durch vielfache Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht haben, […]«12

Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nahm damit die gesamte verfasste deutsche Ärzteschaft symbolisch die historische Verantwortung für die NS-Medizinverbrechen an. Dass eine solche Erklärung eines Tages erfolgen würde, war noch im Jahr 2011 nicht abzusehen gewesen.13 11 Vgl. Appell »Im Gedenken an die Opfer der Medizin im Nationalsozialismus«, Nürnberg Mai 2012, http://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Soziale_Verantwortung/Appel l_Deutscher_Aerztetag_2012.pdf (5. 2. 2013); Thomas Gerst, Bitte um Verzeihung an NSOpfer. Eine Ausstellung erinnert in Nürnberg an das Schicksal jüdischer Ärztinnen und Ärzte in Bayern nach 1933, in: Deutsches Ärzteblatt 109 (2012) 22 – 23, S. A 1134-A 1135. 12 Entschließung des 115. Deutschen Ärztetages, Nürnberger Erklärung, auf Antrag von Herrn Dr. Scholze, Herrn Dr. Pickerodt, Frau Dr. Pfaffinger, Herrn Dr. Wambach, Herrn Dr. med. Montgomery, Herrn Dr. Kaplan, Frau Dr. Wenker, Frau Dr. Lux und Frau Kulike (Drucksache I – 26). 115. Deutscher Ärztetag Nürnberg, 22.05.–25. 05. 2012, I-26, Beschlussprotokoll, S. 12 – 13, unter : www.ärzteblatt.de (5. 2. 2013). 13 Als Indiz für einen noch 2009 auch von der Bundesärztekammer (BÄK) wahrgenommenen Klärungsbedarf kann der Auftrag an die einbestellte Kommission unter Leitung des Medizinhistorikers Prof. Robert Jütte vom Institut für Geschichte der Medizin der Robert-BoschStiftung Stuttgart gewertet werden, einen Literaturbericht über den aktuellen Stand der Forschung zur NS-Medizin vorzulegen: Robert Jütte in Verbindung mit Wolfgang Uwe Eckart, Hans-Walter Schmuhl, Winfried Süß, Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011. Vgl. auch: Thomas Gerst, Medizin in der NSZeit. Forschung kaum noch zu überblicken, in: Deutsches Ärzteblatt 108 (2011) 13, A 692-A 693. Zur Kritik am Umgang der BÄK mit der NS-Vergangenheit bis in die allerjüngste Zeit: Stephan Kolb, Paul Weindling, Volker Roelcke and Horst Seithe, Apologising for Nazi medicine: a constructive starting point, in: The Lancet 380 (2012), S. 722 – 723. Kritisch zum genannten Literaturbericht von R. Jütte die Rezension von Paul Weindling in: The English Historical Review 127 (2012) 529, S. 1593 – 1596, sowie Volker Roelcke, Medizin im Nationalsozialismus – radikale Manifestation latenter Potentiale moderner Gesellschaften? Historische Kenntnisse, aktuelle Implikationen, in: Heiner Fangerau und Igor J. Polianski (Hg.), Medizin im Spiegel ihrer Geschichte, Theorie und Ethik. Schlüsselthemen für ein junges

22

Einleitender Überblick

Vergleichbare Bitten um Verzeihung an die Opfer der NS-Euthanasie und Zwangssterilisation und ihren Familien wurden im Jahr 2010 von zwei medizinischen Fachgesellschaften ausgesprochen. Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), Frank Schneider, nahm diese Aufgabe im Rahmen einer Gedenkveranstaltung in Berlin wahr. Eine monographische Darstellung der Geschichte der Vorgängerorganisation Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater (GDNP) in der NS-Zeit wird für das Jahr 2013 erwartet.14 Und wie die vorliegende Untersuchung zeigen wird, kulminierte auch der Vergegenwärtigungsprozess der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin in den Jahren 1998 und 2010 in jeweils einer öffentlichen Stellungnahme des Präsidenten mit der Bitte um Verzeihung bei den verfolgten jüdischen Kollegen sowie den Opfern der Minderjährigeneuthanasie und deren Familienmitgliedern. Die jüngste Serie an Bemühungen medizinischer Fachgesellschaften, sich mit ihrer NS-Vergangenheit zu befassen, gleicht nahezu einem Wettlauf um Image15 und Zeit. Zentrale Gegenstände der Auseinandersetzung, die miteinander korrespondieren, sind dabei: 1. die (Selbst-)Gleichschaltung ab 1933, 2. die Vertreibung und Ermordung von als »jüdisch« klassifizierten Kollegen, 3. die wissenschaftliche Legitimierung und praktische Beteiligung an der NS-Erbgesundheitspolitik (Zwangssterilisationen, Schwangerschaftsabbrüche unter Zwang), 4. die NS-Euthanasie sowie 5. die medizinische Forschung an Psychiatriepatienten. 6. Nur sehr vereinzelt werden auch medizinische Versuche an Zwangsarbeitern und Inhaftierten in Konzentrationslagern thematisiert. So setzte im Herbst des Jahres 2012 das Forschungsprojekt zur Geschichte der Inneren Medizin im Nationalsozialismus ein.16 Kurz vor dem Abschluss stehen Querschnittsfach, Stuttgart 2012, S. 35 – 50, hier : S. 36 – 38. Eine Studie zur NS-Vergegenwärtigung in der Bundesärztekammer liegt bislang nicht vor. Vgl. aber zum international seit den 1990er-Jahren wirksamen erinnerungspolitischen Skandal um den ehemaligen Präsidenten der Bundesärztekammer Hans-Joachim Sewering (1916 – 2010) den Beitrag von: Gerrit Hohendorf, The Sewering Affair, in: Korot. The Israel Journal of the History of Medicine and Science 19 (2007 – 2008), Jerusalem 2009, S. 83 – 104. 14 Siehe dazu die Beiträge zur entsprechenden Gedenkveranstaltung: Norbert Jachertz, Krankenmorde in der NS-Zeit. Das Bußritual der Psychiater, in: Deutsches Ärzteblatt 108 (2011) 1 – 2, S. A 35-A36; sowie: Frank Schneider, Psychiatrie im Nationalsozialismus – Erinnerung und Verantwortung –, Rede anlässlich der Gedenkveranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), Berlin, 26. November 2010, in: Der Nervenarzt 82 (2011) 1, S. 104 – 112. 15 Das Image des Pioniers der Aufarbeitung beansprucht seit Längerem die Fachgesellschaft für Kinderheilkunde für sich, zuletzt durch einen Leserbrief des ehemaligen Präsidenten Michael Radke. Vgl. Michael Radke, NS-Zeit: Kein Ritual, in: Deutsches Ärzteblatt 108 (2011) 14, S. A 767; siehe auch: Eduard Seidler, Euthanasie: Historische Kommission, in: Deutsches Ärzteblatt 106 (2009) 10, S. A 461. 16 Das Projekt wird von den Bonner Medizinhistorikern Hans-Georg Hofer und Ralf Forsbach durchgeführt. Vgl.: http://www.mhi.uni-bonn.de/index.php?site=seiten/forschung/aktuel

Zur Aktualität der NS-Vergangenheit in den Wissenschaften

23

die Forschungen der Fachgesellschaft für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin, die bereits im Jahr 2001 nach starken internen Auseinandersetzungen beschlossen worden waren, jedoch erst im Jahr 2011 konkret in Angriff genommen wurden.17 Das Deutsche Ärzteblatt entschied im Jahr 2012, einen Bericht zum aktuellen Forschungsstand der Anatomiegeschichte im Nationalsozialismus abzudrucken.18 Im Juni 2011 legte eine unabhängige Historikergruppe im Auftrag (der etwa 2007 erfolgt war) der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie eine Studie zu den Präsidenten der Fachgesellschaft vor.19 Im selben Jahr (2011) präsentierte die Fachgesellschaft für Urologie zwei Bände mit wissenschaftlichen Beiträgen und Quellen zu ihrer Geschichte im Nationalsozialismus. Der Beginn dieser Arbeiten ist etwa auf das Jahr 2008 zu datieren.20 Im Jahr 2007 erfolgte nach mehrjähriger Forschung und mit Unterstützung der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft die historische Darstellung aus den eigenen Reihen durch einen Lehrstuhlinhaber für Augenheilkunde.21 Die Aufklärungsbemühungen der Dermatologie erscheinen ungleich zerstreuter. Jedoch sind mehrere Einzelbeiträge zu verfolgten jüdischen Kollegen nachweisbar und seit

17

18

19 20

21

le_drittmttl.html (5. 2. 2013); Vgl. auch die Jahresbroschüre der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, Wiesbaden 2012, S. 6. Siehe unter : http://www.dgim.de/Publikationen/Jah resbrosch%C3 %BCren/tabid/127/Default.aspx (5. 2. 2013). Den zweifachen (2001 und 2011) internen Auslöser für die Debatte gab Gine Elsner, Mitglied der Fachgesellschaft und kritische Autorin. Vgl. Gine Elsner, Schattenseiten einer Arztkarriere. Ernst Wilhelm Baader (1892 – 1962), Gewerbehygieniker und Gerichtsmediziner, Hamburg 2011; zur Autorin: Norbert Jachertz, Portrait: Gine Elsner. Als »68erin« nach wie vor aktiv, in: Deutsches Ärzteblatt 110 (2013) 1 – 2, A 24-A 25. Erste Ergebnisse des von Erlangener Medizinhistorikern durchgeführten Forschungsprojektes: Karl-Heinz Leven und Philipp Rauh, Ernst Wilhelm Baader (1892 – 1962) und die Arbeitsmedizin im Nationalsozialismus, in: Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Umweltmedizin 47 (2012) 2, S. 72 – 75. Eine Ergebnismonographie wird für das Jahr 2013 erwartet: Philipp Rauh und Karl-Heinz Leven, Ernst Wilhelm Baader (1892 – 1962) und die Arbeitsmedizin im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main u. a. 2013. Ich danke Philipp Rauh für die Hinweise auf die Vorentwicklungen in der Fachgesellschaft und die Forschungsliteratur. Vgl. Christoph Redies und Sabine Hildebrandt, Ohne jeglichen Skrupel, in: Deutsches Ärzteblatt 109 (2012) 48, S. A 2413-A 2415 u. A 4-A 5 und v. a. das von den gleichen Personen herausgegebene Themen-Schwerpunktheft Anatomy of the Third Reich, in: Annals of Anatomy 194 (2012) 3, S. 225 – 314. Vgl. Michael Sax, Heinz-Peter Schmiedebach und Rebecca Schwoch, Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933 – 1945. Die Präsidenten, Heidelberg 2011; Norbert Jachertz, Anpassung, eine Ehrenpflicht, in: Deutsches Ärzteblatt 108 (2011) 27, S. A 1526-A 1527. Vgl. u. a. Matthis Krischel, Friedrich Moll, Julia Bellmann, Albrecht Scholz und Dirk Schultheiss (Hg.), Urologen im Nationalsozialismus. Zwischen Anpassung und Vertreibung, Berlin 2011; Dies. (Hg.), Urologen im Nationalsozialismus. Biografien und Materialien, Berlin 2011; Antje Thiel, Schmerzhafte Erinnerungen, in: Deutsches Ärzteblatt 108 (2011) 49, S. A 2656. Jens Martin Rohrbach, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, Stuttgart 2007. Vier Jahre später folgte: Jens Martin Rohrbach, Jüdische Augenärzte im Nationalsozialismus – eine Gedenkliste: Jewish ophthalmologists during National socialism – a memorial file, in: Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde 228 (2011), S. 70 – 83.

24

Einleitender Überblick

2002 besteht eine »Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Dermatologie und Venerologie e.V.« (AGDV), die sich auch kritisch mit der Vergangenheit dieser Disziplin beschäftigt.22 Die letzten Initiativen der Orthopädie reichen in das Jahr 2000 zurück. Anlässlich anstehender Jubiläen (100 Jahre Fachgesellschaft, 50 Jahre Berufsverband) wurde die Frage nach der Haltung der eigenen Disziplin im Nationalsozialismus in zwei kleineren Beiträgen aus dem in Frankfurt am Main angesiedelten Deutschen Orthopädischen Geschichts- und Forschungsmuseum thematisiert.23 Im zeitlichen Zusammenhang mit einer Initiative des 104. Deutschen Ärztetages in Ludwigshafen im Jahr 2001 zur Entschädigung von Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung wurde von Orthopäden die »Aktion aktive Solidarität« ins Leben gerufen, die Holocaust-Überlebenden und ehemaligen Zwangsarbeitern vorrangig aus Mittel- und Osteuropa orthopädische Operationen kostenfrei anbietet. Damit entstand die Initiative in diesem Fall allerdings nicht auf Ebene der Fachgesellschaft.24 Erwähnungswert bleiben zwei weiter zurück reichende, punktuelle Initiativen der bereits genannten Disziplin Psychiatrie (DGPPN) und der Fachgesellschaft für Gynäkologie.25 De facto setzte die Auseinandersetzung in der zuletzt 22 Im Dezember 2012 fand eine Veranstaltung im Andenken des jüdischen Dermatologen Karl Herxheimer statt, unter dessen Namen seit 1954 die höchste Auszeichnung der Fachgesellschaft verliehen wird: http://www.derma.de/de/news/uebersicht/detail/browse/1/article/ 2532/1049/ (6. 2. 2013). Siehe auch einen Beitrag von 2011 unter : https://www.thieme-con nect.com/ejournals/abstract/10.1055/s-0030 – 1256217?locale=de& LgSwitch=1 (6. 3. 2013). Unabhängige wissenschaftliche Studien und Einzelbeiträge fallen in das Jahr 1990, den Zeitraum Ende der 1990er-Jahre, die Jahre 2002, 2007 und 2011. Vgl. etwa Peter Elsner und Ulrich Zwiener (Hg.), Medizin im Nationalsozialismus am Beispiel der Dermatologie, Jena 2002. Siehe auch die medizinhistorischen Arbeiten von Sven Eppinger von 1998 bis 2004, dem die AGDV im Jahr 2005 ein »Ehrendiplom« verlieh. Eine Bibliographie findet sich unter : http://www.agdv.org/html/preis_2005.html (5. 3. 2013). 23 Eine erste historische Darstellung war 1993 erschienen. Vgl. Michael A. Rauschmann und Klaus-Dieter Thomann, Bilder aus der Vergangenheit, 200 Jahre Orthopädie, in: Orthopädie 29 (2000), S. 1008 – 1017, http://www.orthopaedie-museum.de/geschichte.html (6.2.3013); Klaus-Dieter Thomann und Michael A. Rauschmann, Orthopäden und Patienten unter der nationalsozialistischen Diktatur, in: Orthopäde 10 (2001) 30, S. 696 – 711. 24 Siehe: http://www.aktive-solidaritaet.de/ (6. 2. 2913). 25 Wie 1994 in der Fachzeitschrift The Lancet gemeldet wurde, hatten die Fachgesellschaft der Gynäkologen (DGGG) sowie der Psychiater, Psychotherapeuten und Neurologen (DGPPN) die Zeit des Nationalsozialismus im Rahmen ihrer Jahrestagungen thematisiert. Dabei habe sich der Präsident der DGGG bei den Betroffenen der Zwangssterilisation und Zwangsabtreibung öffentlich für das ihnen angetane Unrecht entschuldigt. Vgl. Annette Tuffs, Apologies for the Nazi Crimes, in: The Lancet 344 (1994), September 17, S. 808. Ich danke Volker Roelcke für den Hinweis auf diesen Artikel. Die DGPPN hatte 1992 im Rahmen ihrer Jahrestagung in Köln unter der Präsidentschaft von Uwe Henryk Peters in der Mitgliederversamlung eine erste Resolution verabschiedet, mit der die Fachgesellschaft den »Holocaust an Geisteskranken, Juden und anderen verfolgten Menschen« verurteilte. Vgl. http://www.

Zur Aktualität der NS-Vergangenheit in den Wissenschaften

25

genannten Gruppe in den Jahren 1991/1992 ein und ging dabei von psychosomatisch orientierten Vertretern in München aus. Von dort wurde eine Umfrage zum Wissensstand über die Geschichte der Gynäkologie im Nationalsozialismus an alle Lehrstuhlinhaber und Universitätsfrauenkliniken verschickt. Die Aufklärungsbemühungen, die überwiegend bei älteren Kollegen Abwehrreaktionen auslösten, mündeten in einer direkten Unterstützung für die noch lebenden Betroffenen der Zwangssterilisation sowie in historischen Aufarbeitungsprojekten mit jüngeren Kollegen und Studenten in Seminaren zur Thematik.26 Angesichts dieser neuen Fülle an Studien drängt sich eine historisch-vergleichende Perspektive geradezu auf. Aktuell werden die medizinischen Verbandsgeschichten im Nationalsozialismus nicht nur untereinander in Beziehung gesetzt, sondern auch mit den Entwicklungen anderer wissenschaftlicher, nichtmedizinischer Fachgesellschaften verglichen.27 Allerdings beziehen sich diese Ansätze noch vorrangig auf die Analyseebene der Realgeschichte während der Jahre 1933 bis 1945. Dagegen befassten sich drei wissenschaftliche Tagungen in den Jahren 200828, 200929 und 201330 unter erinnerungskulturellen Fragesteldgppn.de/dgppn/geschichte/kommission-zur-aufarbeitung-der-geschichte/sonderseite-psy chiatrie-im-nationalsozialismus/rede-schneider.html (22. 4. 2013). 26 Siehe dazu die Darstellung der konkreten Anlässe und Motive zur Aufarbeitung in: Manfred Stauber und Günther Kindermann, Über inhumane Praktiken der Frauenheilkunde im Nationalsozialismus und ihre Opfer. Untersuchung zu konkreten Ereignissen, in: Geburtshilfe und Frauenheilkunde 54 (1994), S. 479 – 489, hier : S. 481; Manfred Stauber, Gynäkologie im Nationalsozialismus – oder »Die späte Entschuldigung« (Sonderveranstaltung im Rahmen des Kongresses), in: Archives of Gynecology and Obstetrics 257 (1995) 1 – 4, S. 753 – 771. Aus Anlass des 100-jährigen Bestehens der Bayerischen Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde erschien eine Festschrift, die sich mit mehreren Beiträgen der Zeit des Nationalsozialismus widmet. Darin ist auch ein persönlicher Rückblick von Manfred Stauber zur Aufarbeitung in der bayerischen Gynäkologie enthalten. Vgl. Christoph Anthuber u. a. (Hg.), Herausforderungen. 100 Jahre Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde, Stuttgart / New York 2012. 27 Im diesem Sinne fand ein von der DGPPN unterstützter und von Volker Roelcke und HansWalter Schmuhl organisierter Workshop statt mit dem Titel: Medizinische und nicht-medizinische wissenschaftliche Fachgesellschaften im Nationalsozialismus, 17. / 18. Juni 2011 Berlin. Im Rahmen dieses Programms wurden die Pädiatrie, Chirurgie, Urologie, Orthopädie, Psychologie und Psychiatrie, Anatomie sowie die Anthropologie, Physik und Mathematik thematisiert. Ebenfalls 2011 folgte eine Sektion beim Jahreskongress der DGPPN in Berlin mit dem Titel: Wissenschaftliche Fachgesellschaften im Umgang mit ihrer Vergangenheit im Nationalsozialismus, 23.–26. 11. 2011. Aktuell wird eine Tagung mit ähnlicher thematischer Schwerpunktsetzung am Aachener Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin vorbereitet. Siehe den CfP der Organisatoren Dominik Groß, Matthis Krischel und Mathias Schmidt: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=21998 (2.6.2013). 28 Siehe das Programm der Konferenz, die ein DFG-Projekt begleitete, aus dem auch die vorliegende Studie hervorgegangen ist: »Memories and Representations of Nazi ›Euthanasia‹ in Post-WW II Medicine and Bioethics«, Leitung: Volker Roelcke (Gießen) und Etienne Lepicard (Jerusalem), Institut für Geschichte der Medizin der Justus-Liebig-Universität Gießen, 12.–15. 11. 2008, unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=10415 (5. 2. 2013). Besondere historiographische Aufmerksamkeit hat bislang die Rezeptionsgeschichte

26

Einleitender Überblick

lungen mit der Rezeptionsgeschichte der NS-Medizinverbrechen, davon zwei speziell mit der NS-Euthanasie nach 1945.31 Erweitert man den engeren Medizin-Fokus, um die Entwicklungen in den Nachbardisziplinen oder gar den Wissenschaften insgesamt in den Blick zu nehmen, bestätigt sich die Beobachtung einer Verdichtung von ›Bußritualen‹ und Thematisierungen der NS-Vergangenheit um die Millenniumswende. So fallen nicht nur die von Carola Sachse und Gerald D. Feldman benannten Aufarbeitungsprojekte der größeren Wissenschaftseinrichtungen in Deutschland (MPG – Max-Planck-Gesellschaft, DFG – Deutsche Forschungsgemeinschaft, RKI – Robert-Koch-Institut)32 bzw. einzelner Großbanken und Versicherungs-

29

30

31

32

des Nürnberger Ärzteprozesses erfahren. Vgl. Etienne Lepicard, Trauma, Memory, and Euthanasia at the Nuremberg Medical Trial, 1946 – 1947, in: Austin Sarat, Nadav Davidovich and Michal Alberstein (eds.), Trauma and Memory. Reading, Healing, and Making Law, Stanford California 2007, S. 204 – 224; Etienne Lepicard, Reception of National Socialist »Euthanasia« vs. »Human Experimentation« and the Transformation of Medical Ethics into Bioethics, 1947 – 1980s, in: Korot. The Israel Journal of the History of Medicine and Science 19 (2007 – 2008), S. 65 – 81. Zur zeitgenössischen Wahrnehmung des Prozesses vgl. auch: Paul Weindling, Ärzte als Richter. Internationale Reaktionen auf die Medizinverbrechen des Nationalsozialismus während des Nürnberger Ärzteprozesses in den Jahren 1946 – 1947, in: Claudia Wiesemann und Andreas Frewer (Hg.), Medizin und Ethik im Zeichen von Auschwitz. 50 Jahre Nürnberger Ärzteprozeß, Erlangen 1996, S. 31 – 44; sowie: Jürgen Peter, Der Nürnberger Ärzteprozeß im Spiegel seiner Aufarbeitung anhand der drei Dokumentensammlungen von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, Münster / Hamburg 1994. Am 11. und 12. Dezember 2009 fand am Aachener Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin eine von der Köhler-Stiftung geförderte Konferenz zur Thematik statt. Siehe den von den Organisatoren herausgegebenen Tagungsband: Stefanie Westermann, Richard Kühl und Tim Ohnhäuser (Hg.), NS-»Euthanasie« und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung, Gedenkformen, Betroffenenperspektiven, Berlin u. a. 2011. Ebenfalls in Aachen wurde aktuell am 7. und 8. Juni 2013 eine interdisziplinäre Fachtagung abgehalten unter dem Titel »NS-Medizin und Öffentlichkeit. Formen der Aufarbeitung nach 1945 als Erneuerung einer Ethik der Forschung«. Die Organisatoren Stefan Braese und Dominik Groß verknüpften mit dem Tagungsprogramm (medizin-)historische und germanistische Fragestellungen zur Thematisierung der NS-Medizin-Verbrechen in der deutschen Gesellschaft nach 1945. Vgl. das Programm unter : http://www.germlit.rwth-aachen.de/332.html (18. 6. 2013). Speziell zur europäischen Erinnerungskultur in Bezug auf die NS-Kindereuthanasie siehe: Lutz Kaelber, Gedenken an die NS-»Kindereuthanasie«-Verbrechen in Deutschland, Österreich, der Tschechischen Republik und Polen, in: Lutz Kaelber und Raimund Reiter (Hg.), Kindermord und »Kinderfachabteilungen« im Nationalsozialismus. Gedenken und Forschung, Frankfurt am Main u. a. 2011, S. 33 – 66. Zur allgemeineren Erinnerungskultur in der Medizin sei auch auf folgende theoretisch reflektierte und mit einem Forschungspreis gewürdigte Lokalstudie verwiesen: Jasmin Beatrix Mattes, Die Stationsbenennungen des Klinikums der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau. Erinnerungskultur, kollektives Gedächtnis und Umgang mit nationalsozialistischer Vergangenheit, Frankfurt am Main u. a. 2008. Vgl. hierzu die Publikationen der im Jahr 2000 aktivierten »Forschergruppe zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1920 – 1970«. Die Internetpräsentation wird seit 2008 nicht mehr aktualisiert. Siehe unter: http://projekte.geschichte.uni-freiburg.de/DFG-Ge schichte/ (6. 1. 2013). Die Max-Planck-Gesellschaft berief 1997 eine unabhängige historische

Zur Aktualität der NS-Vergangenheit in den Wissenschaften

27

unternehmen etwa in diesen Zeitabschnitt.33 Ähnliches gilt für die vergleichende Analyse von Wissenschaftsakademien (Mitte der 1990er-Jahre)34 sowie für einzelne Fachgebiete der Geistes- und Naturwissenschaften und deren professionsbezogenen Vergangenheitsrekonstruktionen.35 Exemplarisch sei die 1998 auflammende, aber bald wieder abkühlende Auseinandersetzung in der Geschichtswissenschaft um ihre eigene Vergangenheit36 angeführt sowie auf die

33

34

35

36

Kommission zur Koordination eines Forschungsprogramms zum Thema ein. Die Arbeit dieser Präsidentenkommission gilt seit Dezember 2005 als beendet. Zum Forschungsprogramm, Arbeitsbericht und zu den Publikationen (28 Vorabdrucke und 17 Bände von 2000 bis 2008) der Präsidentenkommissionen siehe: http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/KWG/index. htm (10. 1. 2013). Die intensive Beschäftigung des Robert Koch-Instituts mit seiner NS-Vergangenheit geht, nach ersten Ausstellungsinitiativen seit dem Jahr 1999, konkret auf den Mai 2006 zurück. Die Ergebnisse des damals begonnenen Forschungsprojektes liegen in mehreren Publikationen vor. Vgl. u. a. die Arbeiten: Annette Hinz-Wessels, Das Robert-Koch-Institut im Nationalsozialismus, Berlin 2008; Marion Hulverscheidt und Anja Laukötter (Hg.), Infektion und Institution. Zur Wissenschaftsgeschichte des Robert-Koch-Instituts im Nationalsozialismus, Göttingen 2009, sowie zuletzt im Jahr 2011 die Installation eines Erinnerungszeichens, dazu die Broschüre: Mit offenen Augen. Das Erinnerungszeichen Robert Koch-Institut. Das RKI in der Zeit des Nationalsozialismus. Siehe unter: http://www.rki.de/DE/Content/Institut/ Geschichte/ns-geschichte_node.html (6. 2. 2013). Zu historischen Studien im Bereich Wirtschaft und Nationalsozialismus, vor allem seit Mitte der 1990er-Jahre vgl.: Feldman, Historische Vergangenheitsbearbeitung, sowie: Gerald D. Feldman, Unternehmensgeschichte im Dritten Reich und die Verantwortung der Historiker. Raubgold und Versicherungen, Arisierung und Zwangsarbeit, in: Norbert Frei, Dirk van Laak und Michael Stolleis (Hg.), Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, München 2000, S. 103 – 129. Vgl. Christof J. Scriba (Hg.), Das Verhältnis von Akademien und ihrem wissenschaftlichen Umfeld zum Nationalsozialismus. Leopoldina-Symposion: Die Elite der Nation im Dritten Reich – Das Verhältnis von Akademien und ihrem wissenschaftlichen Umfeld zum Nationalsozialismus, vom 9. bis 11. Juni 1994 in Schweinfurt, Wissenschaftliche Vorbereitung und Organisation: Eduard Seidler, Christoph Scriba, Wieland Berg, Uwe Müller, Halle 1995. Darin deutet der ehemalige Präsident der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina in Halle, Benno Parthier, an, sich im Rahmen der Jahresversammlung 1991 in seiner Rede »in aller Form« bei den Nachkommen der jüdischen Mitglieder der Akademie »entschuldigt« zu haben. Ebd., S. 267. Vgl. exemplarisch den Sammelband zu einer im Jahr 2000 von der DFG initiierten Tagung, die auch die Zeit nach 1945 in den Blick nahm: Rüdiger vom Bruch und Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002. Die Debatte über die Rolle prominenter akademischer Lehrer im NS setzte mit einer entsprechenden Tagungssektion im Rahmen des 1998 in Frankfurt am Main veranstalteten 42. Deutschen Historikertages ein. Erste Studien waren zu Beginn der 1990er-Jahre vorgelegt worden. Die systematische Thematisierung erfolgte aber im Nachgang der Tagung. Vgl. u. a. Winfried Schulze und Götz Aly (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2000. Siehe auch die kurze einführende Darstellung in: Torben Fischer und Matthias N. Lorenz (Hg.), Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007, S. 299 – 303. In diesem Band finden sich ebenfalls zahlreiche Hinweise auf frühere fachliche Auseinandersetzungen unter Historikern, die zugleich auch von erinnerungspolitischen ›Gefechten‹ innerhalb der Profession begleitet waren: Fischer-Kontroverse (um 1961), Metho-

28

Einleitender Überblick

organisierte Forschung (Gerald Feldman) zu den Bevölkerungswissenschaften verwiesen.37 Diese Liste ließe sich ohne Mühe verlängern, wollte man die jüngere Historisierungsserie zur Geschichte der Universitätsstandorte vor und nach 1945, darunter auch der Medizinischen Fakultäten, anführen.38 Allgemein wird jüngst in Bezug auf die von unabhängigen Historikern bzw. Historikerkommissionen zur NS-Aufarbeitung durchgeführten Studien für einzelne Wissenschaftseinrichtungen, Unternehmen oder zuletzt verstärkt Behörden von sogenannter Auftragsforschung gesprochen.39 Einer der frühesten Hinweise auf die selbstkritische Beschäftigung einer wissenschaftlichen Profession mit ihrer NS-Vergangenheit liegt für die Germanistik im Jahr 1966 vor.40 Der Anstoß entsprang nicht der akademischen Profession selbst, wurde aber während einer zunehmend öffentlich geführten Debatte von jüngeren Vertretern ernsthaft aufgegriffen. Sie forderten nicht nur eine Arbeitsgruppe zur kritischen Aufklärung der Geschichte der Germanistik, sondern drängten auch den Fachverband dazu, das Thema Nationalsozialismus auf die Agenda der kommenden Fachverbandstagung zu setzen. Zwar konnten sie ihre Forderungen nicht vollständig gegen die inneren Widerstände im Ver-

37

38

39

40

dische Kontroverse zum NS (1970er Jahre), Historisierungsdebatte (1985) und Historikerstreit (um 1987). Zu einzelnen skandalisierten personellen Kontinuitäten innerhalb der Medizingeschichte in den 1960er-Jahren und deren Thematisierung in den Jahren 2000 / 2001: Ralf Forsbach, Die 68er und die Medizin, Göttingen 2011, S. 55 f. Forsbach verweist übrigens auch auf die Disziplin Soziologie, deren Vertreter bis in die 1970er-Jahre keine ernst zu nehmenden Anstrengungen einer kritischen Selbstreflexion unternommen hätten. Ebd., S. 48. Aus den sechsjährigen Forschungen im DFG-Schwerpunkt 1106 ging u. a. folgender Band mit gleich lautendem Titel hervor: Rainer Mackensen, Jürgen Reulecke und Josef Ehmer (Hg.), Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts »Bevölkerung« vor, im und nach dem »Dritten Reich«, Wiesbaden 2009. Vorausgegangen war diesem Projekt eine von der Deutschen Gesellschaft für Demographie in Zusammenarbeit mit dem Max-Planck-Institut für Demographische Forschung ausgerichtete Tagung im Jahr 2001. Siehe dazu den Band: Rainer Mackensen (Hg.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im »Dritten Reich«, Opladen 2004. Vgl. u. a. Volker Roelcke, Medizin im Nationalsozialismus: Historische Kenntnisse und einige Implikationen, in: Sigrid Oehler-Klein (Hg.), Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit: Personen und Institutionen, Umbrüche und Kontinuitäten, Stuttgart 2007, S. 13 – 32; Wolfgang Uwe Eckart, Volker Sellin und Eike Wolgast (Hg.), Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, Heidelberg 2006; Jürgen Reulecke und Volker Roelcke (Hg.), Wissenschaften im 20. Jahrhundert. Universitäten in der modernen Wissenschaftsgesellschaft, Stuttgart 2008; Forsbach, Die 68er und die Medizin. Vgl. den Themenschwerpunkt des geschichtswissenschaftlichen Internetportals Zeitgeschichte Online, hier u. a. Christian Mentel (Hg.), Zeithistorische Konjunkturen: Auftragsforschung und NS-Aufarbeitung in der Bundesrepublik, in: Zeitgeschichte-online, Dezember 2012, http://www.zeitgeschichte-online.de/themen/zeithistorische-konjunkturen-auf tragsforschung-und-ns-aufarbeitung-der-bundesrepublik (16. 5. 2013). Vgl. Forsbach, Die 68er und die Medizin, S. 34.

Zur Aktualität der NS-Vergangenheit in den Wissenschaften

29

band durchsetzen. Dennoch kam es zu einer intensiven Diskussion auf dem Germanistentag in München, der unter dem abgeschwächten Titel »Nationalismus in Germanistik und Dichtung« stattfand. Das Anliegen einer systematischen Beschäftigung mit der Vergangenheit wurde 1972 mit der Einrichtung der »Arbeitsstelle für die Erforschung der Geschichte der Germanistik« umgesetzt. Die breitere Forschung setzte allerdings ebenfalls erst in den 1990er-Jahren ein.41 Bestätigen oder widerlegen nun derartige Ausnahmen einer frühen Vergegenwärtigung die Regel? Und wie verhält sich die Entwicklung in der Medizin bzw. in den Wissenschaften zum gesamtgesellschaftlichen Umgang mit den prekären Vergangenheitsinhalten Nationalsozialismus, Medizinverbrechen und Holocaust? Der retrograde Überblick über das aktuelle Erinnerungsgeschehen in den Wissenschaften lässt den Befund einer vergangenheitspolitischen und historiographischen Zäsur seit etwa 1990, d. h. seit dem Ende des Kalten Krieges und der deutschen Wiedervereinigung, plausibel erscheinen. Der Millenniumswende als Markierungspunkt kommt dabei möglicherweise zu viel Aufmerksamkeit zu, setzt sich doch die Reihe öffentlicher Entschuldigungen und die seit den 1990er-Jahren anrollende Welle neuer Aufarbeitungsprojekte fort. Allerdings eröffnet eine solche summarische Auflistung, wie hier am Beispiel der Medizin durchgeführt, noch kein Verstehen der inneren gesellschaftlichen Wirkzusammenhänge, der mittel- und langfristigen Kontinuitäten und insbesondere der Wandlungen. Um die in der Medizin nachweisbaren Aushandlungsprozesse über das ärztliche Selbstverständnis und die dabei vertretenen Vergangenheitskonstruktionen (Geschichtsbilder) der historischen Akteure zu dokumentieren, wird neben der Rekonstruktion von Debatten auch nach konkreten Erinnerungspraktiken und deren Funktion im ärztlichen Wertesystem zu fragen sein. Die vorliegende Untersuchung ist insofern keineswegs als rein diskursgeschichtliche Abhandlung konzipiert. Unabhängig von der Auswahl an fokussierten Untersuchungsgegenständen und von der teils durch die jeweilige Überlieferungsstruktur eingeschränkten Spanne des Untersuchungszeitraums wird hier angenommen, dass der jüngste Schub an Selbstvergegenwärtigungen lediglich als weitere Phase in einem Prozess von jeweils Jahre – oder wahrscheinlicher – Jahrzehnte lang kontrovers geführten Verhandlungen über die Inhalte der prekären Vergangenheit und deren Bedeutung für die Gegenwart aufgefasst werden kann. In diesem Sinne hat die Studie zum Ziel, einen Teil des Spektrums jener Konstellationen und vielfältigen Geschichte(n) von Vergegenwärtigungen und konkreten Bezugnahmen auf die NS-Medizinverbrechen – hierbei exemplarisch die Krankentötungen (NS-Euthanasie) – zu rekonstruieren und deren Wandel im breiteren Kontext 41 Vgl. die Darstellung von Nicole Colin mit weiterführender Literatur in: Fischer / Lorenz (Hg.), Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung«, S. 153 – 156.

30

Einleitender Überblick

der deutschen Nachkriegsgesellschaften von 1945 bis in die Gegenwart zu analysieren.

1.2. Objekte und Aufbau der Untersuchung Exemplarisch vorgestellt werden eine berufsständische Organisation der Ärzteschaft (Landesärztekammer Hessen: Abschnitt 4.1.), die medizinischen Disziplinen, die in besonderer Weise in die Euthanasie involviert waren (Kinderheilkunde: Abschnitt 4.2. und 5.2; Psychiatrie: Abschnitte: 4.3. und 5.2.) sowie eine wissenschaftliche Disziplin, die sich durch begleitende Forschungen an den NS-Euthanasie-Programmen beteiligte (Hirnforschung, hierbei konkret Neuroanatomie und -pathologie: Abschnitt 4.4.). Spezielle Beachtung finden dabei Konstellationen nach 1945, in denen das Verhältnis von individueller und »kollektiver« Tatbeteiligung von Ärzten im Kontext der NS-Euthanasieverbrechen verhandelt wurde. Dies geschah in den 1950er- und 1960er-Jahren vor allem in öffentlich debattierten Skandalen um die Verantwortlichkeit einzelner Mediziner für die nationalsozialistischen Krankentötungen, aber auch in den breiteren gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über die sogenannte Wiedergutmachung gegenüber den Opfern (Abschnitt 4.3.) oder schließlich auf lokaler Ebene in den erinnerungspolitischen Debatten über die Errichtung von NS-Euthanasie-Gedenkstätten (Abschnitte 4.1. und 5.1.). Neben der Darstellung der spezifischen Formen der Vergegenwärtigung der Vergangenheit wird in der Untersuchung auch danach gefragt, wie die Bezugnahme auf die Vergangenheit in die Figuration medizinethischer Diskurse und Programmatik (einschließlich: Kodifizierung) einging (Abschnitte 4.1., 4.2., 5.2. und 5.3.). Welche konkreten Folgen hatte das Erinnerungsgeschehen für die Akzeptanz von medizinischen Handlungsoptionen (z. B. aktive und passive Sterbehilfe, Schwangerschaftsabbruch, Eingriffe in die menschliche Reproduktion)? Dazu werden anhand geeigneter Beispiele die sich verändernden Repräsentationen der nationalsozialistischen Euthanasie innerhalb der Ärzteschaft in der Bundesrepublik und der DDR untersucht. Dass es sich dabei eher um eine ergänzende Gegenüberstellung denn um eine systematische Vergleichsanalyse der Medizin in den beiden deutschen Staaten handelt, liegt in der ursprünglichen Anlage der vorliegenden Forschungsarbeit begründet, durch die zunächst der Untersuchungsgegenstand auf die bundesdeutsche Medizin begrenzt war. Im Laufe der Archivarbeiten traten jedoch beiläufig Quellenfunde zur Ärzteschaft der DDR auf, die aufgrund ihres aufschlussreichen Gehalts in die Arbeit aufgenommen wurden. So soll zumindest im Ansatz der Tatsache Rechnung getragen werden, dass die Geschichten einer Vergegenwärtigung der

Historische Hintergründe

31

NS-Zeit in den beiden deutschen Gesellschaften auf fundamentale Weise miteinander verwoben sind. Dem empirischen Teil der Arbeit wird zunächst ein Überblick über den Forschungsstand zum Umgang mit der NS-Vergangenheit im Allgemeinen (Abschnitt 2.1.) und über die Thematisierungen der NS-Euthanasie in der Nachkriegsmedizin im Besonderen (Abschnitt 2.2.) vorangestellt. Da es sich bei den im empirischen Teil behandelten Beispielen um verschiedene Gruppen von Medizinern handelt, soll auch eine Annäherung an die theoretischen Fragen nach »kollektiven« Erinnerungsprozessen versucht werden (Abschnitt 3.). Es sei darauf hingewiesen, dass bislang keine Ausarbeitung vorliegt, die das Konzept »kollektives Gedächtnis« konkret auf spezifische Berufsgruppen angewandt hätte. Dies kann auch in der vorliegenden Untersuchung nicht geleistet werden, da es sich nicht um eine erinnerungstheoretische Abhandlung im engeren Sinne handelt. Ein derartiger Ansatz hätte eine andere konzeptionelle Struktur erfordert und den Rahmen der vorliegenden Arbeit in kaum vertretbare Dimensionen erweitert.

1.3. Historische Hintergründe: Zur Beteiligung der Medizin an NS-Euthanasie-Verbrechen Es folgt ein Abriss der Entwicklungen während der Zeit des Nationalsozialismus und speziell des Zweiten Weltkrieges. Dadurch werden die im empirischen Teil der Untersuchung rekonstruierten rezeptionsgeschichtlichen Vorgänge besser verständlich gemacht und insbesondere die Abwehrstrategien der beteiligten Akteure nach 1945 vor dem realgeschichtlichen Hintergrund dekonstruiert. Um den Abschnitt zur Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde in den sechs Nachkriegsdekaden historisch einzubetten, ist ein kurzer Rückblick auf die Initiierung, Planung und Durchführung des heute sogenannten Reichsausschussverfahrens zur Tötung minderjähriger Patienten in psychiatrischen und pädiatrischen Einrichtungen notwendig. Das Augenmerk ist dabei auf den Pädiater Werner Catel zu richten, der in den 1960er-Jahren im Zentrum sowohl der Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit der deutschen Pädiatrie als auch kontrovers diskutierter medizinethischer Fragen stand. Der Rückblick auf die Phasen der NS-Tötungsprogramme, die überwiegend erwachsene Patienten aus psychiatrischen Anstalten betrafen, stellt den Hintergrund des Umgangs mit der Vergangenheit innerhalb der deutsch-deutschen Psychiatrie dar. Auch für die Beschreibung der Perspektive von Betroffenen der Zwangssterilisation und NS-Euthanasie, aber auch für den Umgang mit den historischen Orten der ehemaligen Tötungsanstalten der – erst nach 1945 so-

32

Einleitender Überblick

genannten – Aktion T4, an denen Gedenkstätten errichtet wurden, sind die Erkenntnisse über den Ablauf der NS-Euthanasie wichtig. Mit dem dritten Rückblick auf die wissenschaftliche Verflechtung von Hirnforschung und NSEuthanasie-Programmen wird der Kontext für die Nachkriegsauseinandersetzungen um einige renommierte Forscher aus der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft / Max-Planck-Gesellschaft (KWG / MPG) geliefert. NS-Kindereuthanasie: Laut Aussagen von Tätern nach 1945 gab ein spezielles Gnadentodgesuch den Anlass zur NS-Kindereuthanasie. Dieser Fall beschäftigt die Forschung bis heute: der »Fall Knauer« bzw. »Fall K.«. 1938 oder 1939 – der genaue Zeitpunkt hat sich bis heute nicht ermitteln lassen – wurde ein körperlich und geistig behindertes Kind in der von Prof. Dr. Werner Catel geleiteten Leipziger Universitätskinderklinik auf ein Bittgesuch des Vaters hin von einem Klinikarzt »eingeschläfert«, d. h. mittels Überdosierung von Medikamenten getötet. Dem vorausgegangen war die ärztliche Konsultation von Karl Brandt, dem Leibarzt Adolf Hitlers. Hitler soll der Tötung zugestimmt und den ausführenden Ärzten Straffreiheit zugesichert haben. Hans Hefelmann, einer der Organisatoren der NS-Kindereuthanasie wies nach dem Krieg darauf hin, dass der geschilderte Einzelfall Hitler zu der Entscheidung geführt habe, Karl Brandt und Philipp Bouhler zu ermächtigten, in ähnlichen Fällen analog zu verfahren. Danach habe er, Hefelmann, persönlich von Brandt den Auftrag erhalten, ein beratendes Gremium für ein einheitliches Verfahren zusammenzustellen.42 Infolgedessen wurde das von Hefelmann und seinem Stellvertreter Richard von Hegener geleitete Amt IIb der Kanzlei des Führers (KdF) in Berlin mit der Planung und Organisation eines Kindereuthanasie-Verfahrens beauftragt.43 Als medizinische Gutachter wurden der renommierte Pädiater Dr. Ernst Wentzler aus Berlin, der Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Hans Heinze und der bereits erwähnte Leiter der Universitätskinderklinik Leipzig, Catel, gewonnen.44 42 Widergabe der Aussage Hefelmanns in der Anklageschrift gegen Werner Heyde u. a., Js 17/ 59, Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt (1962), S. 53, zit. nach: Udo Benzenhöfer, »Kinderfachabteilungen« und »NS-Kindereuthanasie«, Wetzlar 2000, S. 10. 43 Zur KdF-Struktur siehe Bernd Walter, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996, S. 638; Henry Friedlander, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997, S. 86 f. 44 Zu Wentzler siehe: Thomas Beddies, Der Kinderarzt und »Euthanasie«-Gutachter Ernst Wentzler, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 151 (2003), S. 1020 – 1026; Thomas Beddies und Heinz-Peter Schmiedebach, Der Pädiater Dr. Ernst Wentzler und die Kinderklinik Frohnau (1923 – 1964), in: Jürgen Wetzel (Hg.), Berlin in Geschichte und Gegenwart. Berlin 2002, S. 137 – 158. Zu Catel u. a. die jüngste Arbeit: Hans-Christian Petersen und Sönke Zankel, ›Ein exzellenter Kinderarzt, wenn man von den Euthanasie-Dingen einmal absieht‹ – Werner Catel und die Vergangenheitspolitik der Universität Kiel, in: Berit Lahm, Thomas Seyde und Eberhard Ulm (Hg.), 505 Kindereuthanasieverbrechen in Leipzig – Verantwortung und Rezeption, Leipzig 2008, S. 165 – 219. Darin befindet sich der Abdruck eines

Historische Hintergründe

33

Unter der institutionellen Tarnbezeichnung »Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden« wurde das Kindereuthanasie-Programm durchgeführt. Die Erfassung der Kinder erfolgte durch eigens erstellte Meldebogen. Sie stand am Beginn des Reichsausschussverfahrens. Die drei Gutachter Wentzler, Heinze und Catel entschieden weitgehend auf Grundlage der Meldeformulare über das weitere Schicksal der minderjährigen Patienten. Ohne die Krankengeschichten oder gar die betroffenen Kinder gesehen zu haben, vermerkten sie auf Blättern mit dem Briefkopf »Reichsausschuss« entweder ein Pluszeichen (+), das für die »Behandlung« und damit Tötung stand, oder ein Minuszeichen (–) für jene Kinder, die nicht getötet werden sollten. Nach Prüfung durch die KdF wurde das jeweilig zuständige Gesundheitsamt aufgefordert, das zur Tötung oder zur Beobachtung vorgesehene Kind in eine bestimmte Anstalt mit einer sogenannten Kinderfachabteilung einweisen zu lassen. Erging die sogenannte Ermächtigung durch die KdF an den beauftragten Arzt, wurde das Kind zumeist mittels Medikamentenvergabe dort getötet. Es ist davon auszugehen, dass zwischen 1940 und 1945 etwa 30 Kinderfachabteilungen bestanden und dort weit über 5.000 Kinder und Jugendliche ermordet wurden. Etwa 80 Ärzte waren an den Kindstötungen beteiligt.45 Für ihre Beteiligung an dem Verfahren erhielten sie Sondergratifikationen durch die KdF. Auch Catel und Heinze unterhielten über ihre Gutachtertätigkeit hinaus jeweils eigene Kinderfachabteilungen in Leipzig bzw. Brandenburg-Görden. Nachkriegsfotos von W. Catel und seiner zweiten Ehefrau Isolde, geb. Heinzel, die in der von ihm geleiteten Leipziger Universitätskinderklinik als Oberschwester an den Kindestötungen beteiligt war. Dies geht aus einer erhaltenen Akte der Kanzlei des Führers hervor. Catel hatte Oberschwester Isolde Heinzel gegenüber dem Reichsausschuss für ihre Tätigkeit in der Beobachtungs- und Tötungsstation (Kinderfachabteilung) seiner Leipziger Klinik 1941, 1942 und 1943 für sogenannte Sonderzuwendungen zum Jahresabschluss in Vorschlag gebracht: »An 2. Stelle möchte ich die beiden Stationsschwestern benennen, in deren Hand, wie schon in den früheren Jahren, die Durchführung der Euthanasie liegt. Sie erhalten zwar vom Reichsausschuss schon eine monatliche Entschädigung, doch glaube ich, die beiden Schwestern (Oberschwester Irmgard Mädler und Oberschwester Isolde Heinzel) trotzdem in Vorschlag bringen zu können.« Catel an den Reichsausschuss, 23. 11. 1943. BArch Berlin, NS 51/227, Bl. 63. Zu Heinze u. a.: Annette Hinz-Wessels, Hans Heinze. Psychiater und Aktivist der nationalsozialistischen »Euthanasie«, in: Jüdisches Museum Berlin (Hg.), Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus, Göttingen 2009. S. 108 – 115; Udo Benzenhöfer, Hans Heinze: Kinder- und Jugendpsychiatrie und »Euthanasie«, in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation (Hg.), Beiträge zur NS»Euthanasie«-Forschung 2002. Fachtagungen vom 24. bis 26. Mai 2002 in Linz und Hartheim / Alkhoven und vom 15. bis 17. November 2002 in Potsdam, Ulm 2003, S. 9 – 51. 45 Sascha Topp, Der »Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden«. Zur Organisation der Ermordung minderjähriger Kranker im Nationalsozialismus 1939 – 1945, in: Thomas Beddies und Kristina Hübener (Hg.), Kinder in der NS-Psychiatrie, Berlin-Brandenburg 2004, S. 17 – 54.

34

Einleitender Überblick

Aktion T4 und kooperative Phase der NS-Euthanasie: Unmittelbar zur selben Zeit, zu Beginn des Reichsausschussverfahrens, setzten die Vorbereitungen zur Durchführung der Massentötungen von Psychiatriepatienten ein. Wie im NSKindereuthanasie-Programm wurden Meldebogen an psychiatrische Einrichtungen versandt und nach der dortigen Bearbeitung medizinischen Gutachtern zugestellt, die einzig anhand dieser Bögen ein Votum für oder gegen die Tötung fixierten. Ein Obergutachter entschied in strittigen Fällen. Die Organisationszentrale der Euthanasie befand sich in der Berliner Tiergartenstraße 4, weshalb die Tötungsaktion bereits von den Tätern mit der Chiffre »T4« benannt wurde. Reichsweit wurden im Jahr 1940 zunächst zwei, dann vier Tötungsanstalten eingerichtet, in die aus den umliegenden Stamm- und Zwischenanstalten die zu tötenden Patienten mithilfe von Bussen transportiert und wo sie unmittelbar nach der Ankunft durch Kohlenmonoxid-Gas getötet wurden. Die ersten beiden Tötungsanstalten befanden sich in Brandenburg an der Havel sowie in Grafeneck auf der Schwäbischen Alb. Die nächsten zwei Tötungsanstalten befanden sich in Pirna / Sonnenstein bei Dresden und im österreichischen Hartheim bei Linz. Infolge einiger Unruhen in der Bevölkerung in der Umgebung wurden die ersten beiden Tötungsanstalten verlegt. Brandenburg wurde durch Bernburg an der Saale ersetzt und Grafeneck durch die Tötungsanstalt Hadamar in Hessen. Die sogenannte Aktion T4, die sich hauptsächlich gegen arbeitsunfähige, psychisch kranke Anstaltsinsassen richtete, wurde als »geheime Reichssache« eingestuft und bis August 1941 durchgeführt. Eine gesetzliche Grundlage zur Tötung lag nicht vor. Allein eine von Hitler auf privatem Briefpapier unterzeichnete Ermächtigung vom 1. September 1939 garantierte den beteiligten Ärzten die Straffreiheit. Unter anderem aufgrund kirchlicher Proteste wurde die Aktion T4 zunächst unterbrochen, dann ganz eingestellt.46 Bis zu diesem Zeitpunkt waren über 70.000 Patienten in den sechs genannten Tötungsanstalten ermordet worden.47 Daran schloss sich eine zweite Phase der Euthanasie an, in der Psychiatriepatienten durch systematische Unterversorgung oder Zwangsmedikation zu Tode gebracht wurden. Der Medizinhistoriker Georg Lilienthal hat diesen Abschnitt der NS-Euthanasie treffend als kooperative Phase bezeichnet, da diese Maßnahmen bis zum Kriegsende in Absprache zwischen regionalen Verwaltungen und der weiterhin in Berlin bestehenden Zentralstelle koordiniert und 46 Zum Abbruch siehe die ausführliche Darstellung in Winfried Süß, Der »Volkskörper« im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939 – 1945, München 2003, S. 127 – 151. 47 Den aktuellen Forschungsstand zur NS-Euthanasie repräsentiert der folgende Band: Maike Rotzoll, Gerrit Hohendorf, Petra Fuchs, Paul Richter, Christoph Mundt und Wolfgang E. Eckart (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn u. a. 2010.

Historische Hintergründe

35

durchgeführt wurden.48 Fundierte Schätzungen gehen davon aus, dass während des Krieges insgesamt 216.000 minderjährige und erwachsene Patienten im Gebiet des »Altreichs« und etwa 300.000 im gesamten deutschen Einflussgebiet getötet wurden.49 Hirnforschung und NS-Euthanasie: Die deutschen Hirnforschungsinstitute wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den weltweit führenden Einrichtungen ihrer Art gezählt.50 Träger der Forschungstätigkeit waren u. a. die 1917 von Emil Kraepelin gegründete und seit 1924 der KWG angegliederte Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie (DFA) in München sowie das von Oskar Vogt 1915 eingerichtete Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung (KWI) in Berlin-Buch. Bereits mit verschiedenen institutionellen Veränderungen 1937/38 und der Einrichtung militärischer Institutsstrukturen bei Kriegsbeginn waren Weichenstellungen vor allem im KWI in Berlin-Buch erfolgt, die eine Ausrichtung auf die Forschung im Umkreis der NS-Euthanasie begünstigten.51 Das KWI wurde seit 1937 von Hugo Spatz geleitet, der zugleich der Neuroanatomischen Abteilung vorstand. Spatz hatte 1938 seinen befreundeten Kollegen Julius Hallervorden zur Übernahme der Histopathologischen Abteilung nach Buch geholt. Hallervorden stand spätestens seit 1935 in einem intensiven Austausch mit dem Jugendpsychiater und späteren Leiter der Landesheilanstalt Brandenburg-Görden, Hans Heinze, der dann ab 1939 zu einer zentralen Figur in mehreren NS-Euthanasie-Programmen wurde und weiterhin eng mit Hallervorden zusammenarbeitete.52 Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges änderte sich das Tätigkeitsprofil des Instituts in Berlin-Buch erstens infolge der institutionellen Integration militärischer Strukturen und Aufgabengebiete. Zweitens beteiligten sich meh48 Georg Lilienthal, Von der »zentralen« zur »kooperativen Euthanasie«. Die Tötungsanstalt Hadamar und die »T4«, in: Rotzoll u. a. (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«Aktion »T4«, S. 100 – 110. 49 Heinz Faulstich, Die Zahl der »Euthanasie«-Opfer, in: Andreas Frewer und Clemens Eickhoff (Hg.), »Euthanasie« und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik, Frankfurt am Main / New York 2000, S. 218 – 236. 50 Jürgen Peiffer, Neuropathologische Forschung an ›Euthanasie‹-Opfern in zwei Kaiser-Wilhelm-Instituten, in: Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Bd. 1, Göttingen 2000, S. 151 – 173, hier : S. 151. 51 Vgl. Hans-Walter Schmuhl, Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 1937 – 1945. Forschungsprogramm »Geschichte der Kaiser-WilhelmGesellschaft im Nationalsozialismus«, hg. v. Carola Sachse, Vorabdruck der Präsidentenkommission »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, Ergebnisse 1, Berlin 2000, S. 7. 52 Jürgen Peiffer, Die Prosektur der brandenburgischen Landesanstalten und ihre Einbindung in die Tötungsaktionen, in: Kristina Hübener (Hg.) in Zusammenarbeit mit Martin Heinze, Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit, Berlin 2002, S. 155 – 168, hier : S. 157.

36

Einleitender Überblick

rere KWI-Abteilungen an nationalsozialistischen Medizinverbrechen und gingen als Nutznießer aus diesen hervor. Neben der wissenschaftlichen Legitimation der nationalsozialistischen Erb- und Rassenpolitik umfasst die praktische Beteiligung vor allem die Durchführung von Gehirnuntersuchungen an Opfern der Humanexperimente sowie der begleitenden Forschung an Opfern der NSEuthanasie-Aktionen. Es konnte auch nachgewiesen werden, dass bestimmte Kinder auf Bestellung getötet wurden.53 Insgesamt nahmen Wissenschaftler des KWI für Hirnforschung in der Zeit von 1939 bis 1944 mindestens 698 Gehirne von Patienten an, für die in 295 Fällen eine Tötung als gesichert und für 403 Personen als sehr wahrscheinlich gelten muss. Die Gehirne wurden ausschließlich in die Sammlungen der beiden morphologischen Abteilungen von Spatz und Hallervorden aufgenommen. Den weitaus größeren Teil von 593 Gehirnpräparaten übernahm Hallervorden.54

1.4. Quellen Die zeithistorische Forschung ist mit besonderen Herausforderungen der Quellenarbeit konfrontiert. Dies gilt ebenso für die Zeitgeschichte der Medizin. Neben Schwierigkeiten epistemologischer Art wie z. B. die zeitliche Nähe zum Untersuchungsgegenstand, die im Falle der historiographischen Untersuchungen eine Autohistorisierung einschließen kann, sind grundsätzliche Probleme prekärer Erschließungszustände sowie die aus Persönlichkeitsrechten und Schutzfristen entstehenden Verbindlichkeiten und Begrenzungen der Forschungsmöglichkeiten zu nennen.55 Die Rekonstruktion der Thematisierungen von NS-Medizinverbrechen in der Nachkriegszeit trägt vor allem aufgrund der nachhaltig wirksamen individuellen und »kollektiven« Strategien der Vergangenheitsabwehr eine ganz eigene Signatur.56 Für den empirischen Teil der vorliegenden Studie wurden überwiegend bis53 Vgl. Babette Reicherdt, »Gördener Forschungskinder«. NS-»Euthanasie« und Hirnforschung, in: Rotzoll u. a. (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4«, S. 147 – 151; Landesamt für Soziales und Versorgung, Landesklinik Brandenburg, 28. Oktober 2003 Gedenkfeier, Brandenburg 2003. 54 Die absolute Zahl aller jemals angenommenen Präparate von ermordeten Patienten lässt sich nicht mehr rekonstruieren, da Unterlagen gezielt vernichtet worden sind. Vgl. Peiffer, Neuropathologische Forschung an ›Euthanasie‹-Opfern, S. 161 f. 55 Vgl. Thomas Schlich, Zeitgeschichte der Medizin. Herangehensweise und Probleme, in: Medizinhistorisches Journal 42 (2008), S. 269 – 298. 56 Nicht nur, dass sich relevante Unterlagen noch in Privatbesitz befinden, wo sie unter Herstellung eines persönlichen Vertrauensverhältnisses zugänglich gemacht werden müssen. Auch das »Verschwinden« von Unterlagen erschwert die Rekonstruktionsarbeit teilweise erheblich.

Quellen

37

lang unveröffentlichte Materialien eingesehen und ausgewertet. Für die Darstellung der Vorgänge in der Landesärztekammer Hessen fanden Quellen Verwendung, die in der Geschäftsstelle der Ärztekammer in Frankfurt am Main eingesehen werden können. Der Aktenbestand umfasst Ordner der ärztlichen Geschäftsführer bzw. des Hauptgeschäftsführers, der Pressestelle sowie die bereits digitalisierten Protokolle der ärztlichen Delegiertenversammlungen. Ergänzend wurden persönliche oder institutionelle Unterlagen von Vertretern der sogenannten Ärzteopposition (Winfried Beck, Hans-Ulrich Deppe) eingesehen. Vollständig anders stellte sich die Situation im Falle der Fachgesellschaft für Pädiatrie dar, die seit 1982 über eine »Historische Kommission« zur Sicherung von relevanten Unterlagen der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde verfügt und eine gute Archivsituation schaffen konnte. In die archivalische Sammlung sind auch die Unterlagen der Gesellschaft für Pädiatrie der DDR eingegangen. Da aber nur eine Groberschließung der Vorstands- und Jahrestagungsakten vorlag und zudem die einschlägige Korrespondenz zur Nachkriegsauseinandersetzung um Werner Catel bereits als vermisst galt (Auskunft des Vorsitzenden der Historischen Kommission, Eduard Seidler, im Jahr 2007), musste der gesamte Bestand Blatt für Blatt durchgesehen werden, um die Quellenrudimente zum Streit um Werner Catel quasi herauszuwaschen. Um die nicht mehr zu schließenden Überlieferungslücken zumindest teilweise aufzufüllen, wurden die zentralen Fachzeitschriften für Pädiatrie durchgesehen und durch Zeitungs- und Zeitschriften-Recherchen ergänzt oder durch Einsichtnahme in Personalakten in verschiedenen Universitätsarchiven vervollständigt. Als vorteilhaft muss der Eingang des Nachlasses von Werner Catel betrachtet werden, der zwar keine Hinweise zu seiner Euthanasie-Beteiligung während des Zweiten Weltkrieges enthält, jedoch eine umfangreiche Korrespondenz Catels mit Zeitgenossen umfasst. Darin finden sich unter anderem auch die von ihm gesammelten Reaktionen auf seine Abhandlungen zur Euthanasie der 1960er- und 1970er-Jahre. Unabdingbar war die Einsichtnahme in Akten über die Ermittlung gegen Catel, die im Niedersächsischen Hauptstaatsarchiv aufbewahrt werden. Eine weitere ergänzende Archivrecherche wurde an den Akten der 1966 gegründeten »Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin« in der Bibliothek des Kinderzentrums München durchgeführt. Neben pädiatrischen Zeitschriften enthielt der Münchener Bestand Dokumente der Vorstände sowie des wissenschaftlichen Beirats der sozialpädiatrischen Fachgesellschaft. Für den darauf folgenden Abschnitt 4.3. zu den Opferverbänden und der um 1980 einsetzenden Aufarbeitungsliteratur wurden die Organisationsunterlagen des Bundes der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten in Detmold sowie Unterlagen des Bundes Opfer des Faschismus im Archiv des Instituts für Zeitgeschichte München einbezogen. Um die Entstehung und Entwicklung

38

Einleitender Überblick

des Arbeitskreises zur Erforschung der NS-»Euthanasie« und Zwangssterilisation nachzeichnen zu können, wurden die persönlichen Unterlagen des Arbeitskreismitgliedes Michael Wunder im Beratungszentrum Alsterdorf Hamburg systematisch durchgesehen. Der Abschnitt über das Max-Planck-Institut für Hirnforschung beruht in weiten Teilen auf der Auswertung von Personal- und Sachakten im Archiv der Max-Planck-Gesellschaft Berlin-Dahlem sowie von Unterlagen aus dem Gießener Universitätsarchiv. Es wurden auch Akten der Archivaußenstelle am MaxPlanck-Institut für Psychiatrie in München gesichtet. Für den Abschnitt zum Erinnerungsgeschehen in der DDR waren sowohl das Bundesarchiv Berlin (z. B. Nachlass des Juristen und Publizisten Friedrich Karl Kaul) als auch das Universitätsarchiv Leipzig von zentraler Bedeutung. Letzteres enthielt Aktenbestände aus dem Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin (Prof. Achim Thom). Für den Überblick über die DDR-Medizinhistoriographie waren eine Auswertung der Forschungsliteratur seit den 1970er-Jahren, aber auch ein Blick in den Vorlass des DDR-Sozialpsychiaters Klaus Weise im Leipziger Archiv für Psychiatriegeschichte ergiebig. Der in der Forschung bereits aufgegriffene Aspekt der sogenannten geheimen Vergangenheitspolitik (Henry Leide) des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR konnte neben einer Sekundärliteraturanalyse durch eine Kombination von Unterlagen aus der BStU erweitert werden. Dabei ließen sich wichtige Informationen über einige der in der DDR lebenden Kinderärzte gewinnen, die aufgrund ihrer Beteiligung an der NS-Kindereuthanasie in Leipzig (bei Werner Catel) ins Visier des Ministeriums für Staatssicherheit geraten waren. In mehrere Abschnitte sind zudem aus persönlichen Kontakten zu Personen der Zeitgeschichte gewonnene Informationen eingegangen. Diese sind entsprechend gekennzeichnet. Schließlich wurden die empirischen Abschnitte der vorliegenden Untersuchung durch Befunde aus der Forschungsliteratur angereichert und somit in den aktuellen Forschungsstand eingebettet.

1.5. Geschichte als Argument in der deutschen Medizinethik nach 1945 Die in der vorliegenden Arbeit vorgestellten Beispiele enthalten eine Vielzahl von historisch-argumentativen Bezugnahmen auf die NS-Medizinverbrechen. Dabei ist die Frage zu stellen, ob es verschiedene Typen des Rekurses gibt und, wenn ja, wie sie voneinander unterschieden werden können. Eva-Corinna Simon hat in ihrer Untersuchung geschichtlicher Argumentationen im Bereich der Medizinethik (z. B. Debatten über Sterbehilfe oder Schwangerschaftsabbruch,

Geschichte als Argument in der deutschen Medizinethik nach 1945

39

vergleichend anhand deutscher und angloamerikanischer Fachzeitschriften für Medizinethik betrachtet) für den Zeitraum von 1980 bis 1994 ein formales Unterscheidungskriterium entwickelt, mit dem das Maß der Bezugnahme auf die Zeit des Nationalsozialismus bestimmt werden kann. Sie unterscheidet drei Formen: eine konstitutive Form, eine marginale Form und eine implizite Form. Für die konstitutive Form stellt sie heraus, dass ein ethisches Argument auf der Basis detaillierter historischer Erkenntnisse begründet wird und der historische Rückblick von Vertretern einer solchen Argumentation als unverzichtbar angesehen wird.57 Bei der marginalen Form sei ein ethisches Argument nicht zwingend auf den Vergangenheitsverweis angewiesen. Vielmehr diene er der Illustration und Begleitung. Die implizite Form zeige sich insbesondere daran, nur auf die Zeit des Nationalsozialismus anzuspielen, ohne dass von den Akteuren dabei konkrete Bezüge hergestellt werden. Das Argument entzieht sich somit einem rationalen Zugang und dient eher als Instrument zur Beeinflussung der Diskussionsteilnehmer mittels unterschwellig wirkender Bilder.58 Diese Bezugnahme »bedient sich sprachlicher Parallelen oder zweideutig aufzufassender Begrifflichkeiten ohne exakte Bezüge rational zu entfalten«.59 Simon kann unter anderem mit ihrer Untersuchung einen Unterschied zwischen deutschen und angloamerikanischen Beiträgen zur Medizinethik ausmachen. Erstere zeichnen sich häufiger durch konstitutive Bezugnahmen aus. Insgesamt waren jedoch überwiegend Rekurse marginaler Form zu finden. Dabei sei der aktuelle Forschungsstand zur NS-Zeit zumeist nur unzureichend rezipiert worden, sodass nach Simons Einschätzung die historische Argumentation mit Bezügen zumeist nur »oberflächlich und wenig überzeugend« erscheint.60 Dieser Befund wird von Hans-Walter Schmuhl bestätigt, der eine Typologie verschiedener Geschichtsargumente entwickelt hat. Schmuhl bezieht sich dabei auf medizinethische Diskurse seit den 1980er-Jahren bis heute und unterscheidet die Argumente dem Umfang, der Form und der damit verbundenen Intention nach. Nach Schmuhl bedienen sich vor allem die Kritiker einer Liberalisierung von Zulässigkeitsregeln einer NS-geschichtlichen Argumentation, während demgegenüber Vertreter der Liberalisierung, die sich mit Blick auf die nationalsozialistischen Medizinverbrechen zumeist in einer Defensivposition befinden, sich nur randständig mit der NS-Zeit beschäftigen.61 57 Eva-Corinna Simon, Geschichte als Argument in der Medizinethik. Die Bezugnahme auf die Zeit des Nationalsozialismus im internationalen Diskurs (1980 – 1994), Med. Diss. JLU Gießen 2004, S. 18. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 161. 60 Ebd. 61 Hans-Walter Schmuhl, Nationalsozialismus als Argument im aktuellen Medizinethikdis-

40

Einleitender Überblick

Schmuhl unterscheidet aufseiten der Gegner einer Liberalisierung von Zulässigkeitsregelungen folgende Argumentationstypen, die sich allerdings nicht immer eindeutig voneinander abgrenzen lassen: 1.) das Missbrauchsargument, 2.) das Dammbruchargument oder Schiefe-Ebene-Argument und 3.) das Kontinuitätsargument. Die ersten beiden Argumente zielen im Kern auf die Abschätzung möglicher Folgen erweiterter Zulässigkeitsregeln. Beide Argumentationen warnen vor den nicht intendierten Nebenwirkungen einer Liberalisierung (z. B. Straffreiheit für aktive Sterbehilfe mit einer schleichenden Ausweitung der in die Sterbehilfe einbezogenen Bevölkerungsgruppen). Diese Argumente sind auf Analogieschlüsse oder geschichtliche Vergleiche angewiesen und, so Schmuhl, daher kontrafaktisch. Allerdings müsse dabei nicht zwingend auf die NS-Vergangenheit Bezug genommen werden.62 Vertreter des dritten Argumentationstyps heben vorrangig auf die im 20. Jahrhundert bzw. in den säkularen Modernisierungsprozessen angelegten Kontinuitäten ab, womit verdeutlicht werden kann, dass der Nationalsozialismus eine extreme, aber doch nur eine von mehreren möglichen Entwicklungen darstelle und entsprechend eine »Wiederholung« nicht ausgeschlossen werden könne. Befürworter erweiterter Zulässigkeitsregelungen weisen dagegen solche auf den Nationalsozialismus rekurrierenden Argumente zurück. Die Gegenwart und die NS-Vergangenheit seien aufgrund fundamentaler Unterschiede nicht miteinander in Beziehung zu setzen, weshalb jeglicher geschichtlicher Bezug nur wenig gewinnbringend sein könne (Inkompatibilitäts-Irrelevanz-Argument).63 Die von Simon und Schmuhl vorgeschlagenen Analysekriterien sollen im Verlauf der vorliegenden Arbeit dort Anwendung finden, wo die Thematisierung der NS-Euthanasie im Rahmen medizinethischer Debatten nachweisbar ist. In den Zwischenfazits und zusammenfassenden Thesen wird an geeigneter Stelle darauf Bezug genommen.

kurs. Eine Zwischenbilanz, in: Frewer / Eickhoff (Hg.), »Euthanasie« und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte, S. 388. 62 Ebd., S. 391 – 393. 63 Ebd., S. 398.

2. Forschungstand

2.1. Stand der zeitgeschichtlichen Forschung zum Umgang mit der NS-Geschichte nach 1945 und der Einfluss der Generationenabfolge in der Nachkriegszeit Hinsichtlich des breiteren gesellschaftlichen Kontexts zum Umgang mit der NSVergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland liegt ein fundierter, politikgeschichtlich ausgerichteter Periodisierungsentwurf von Norbert Frei vor, der sich im Kern auf die im Bonner Bundestag debattierten und verabschiedeten Beschlüsse und Gesetze bezieht. In seiner 1996 veröffentlichten Habilitationsschrift »Vergangenheitspolitik« deutete Frei ein Drei-Phasen-Modell an. Die Entstehungsgründe jeder neuen Phase seien in dem davorliegenden Entwicklungsabschnitt zu finden.64 In einer späteren Erweiterung grenzte Frei schließlich vier Phasen voneinander ab und flankierte diese mit einer Analyse der deutschen Generationenabfolge im 20. Jahrhundert:65 I – 1945 – 1949: Phase der Politischen Säuberung unter der Regie der alliierten Besatzungsmächte (Internierung und juristische Verfolgung der NS-Funktionselite, sogenannte Entnazifizierung, Re-Education). II – 1950er-Jahre: Phase der Vergangenheitspolitik – Prozess der weitreichenden Amnestierung und Integration vormaliger Anhänger des NS-Regimes 64 Norbert Frei, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 22003, hier : Einleitung und Schluss. 65 Norbert Frei, Deutsche Lernprozesse, NS-Vergangenheit und Generationenfolge seit 1945, in: ders., 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2009, S. 38 – 55. Erstdruck in H. Uhl (Hg.), Zivilisationsbruch und Gedächtniskultur. Das 20. Jahrhundert in der Erinnerung des beginnenden 21. Jahrhunderts, Wien 2003, S. 87 – 102. Bei der Bestimmung der vierten Phase folgt er Aleida Assmann. Vgl. Aleida Assmann und Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999, S. 145 – 147. Assmann plädiert mit dem Konzept der Vergangenheitsbewahrung für eine Charakterisierung der Zeit ab etwa 1985 (exemplarisch verbunden mit Richard von Weizsäcker) unter dem Begriff der Erinnerung, den Frei für die Bezeichnung der vierten Phase nicht übernimmt.

42

Forschungstand

durch die bundesdeutsche Politik und Justiz bei gleichzeitiger normativer Abgrenzung vom Nationalsozialismus (Bekenntnis zur demokratischen Gesellschaftsordnung, Wiedergutmachung, Aussöhnung mit Israel; allerdings, so Frei, unter der anhaltend »latenten Interventionsdrohung der Alliierten«). Diese Phase umfasst den überwiegend erfolgreichen Versuch der deutschen Bevölkerung zur Umkehr der alliierten politischen Säuberungsbemühungen; von Frei als Ausdruck einer »politischen und sozialpsychischen Selbstentschuldung« interpretiert.66 III – 1960er- / 1970er-Jahre: Phase der Vergangenheitsbewältigung67 – ausgelöst durch eine Kette von Skandalen um personelle und institutionelle Kontinuitäten sowie durch aus der DDR lancierte Kampagnen gegen die unbewältigte Vergangenheit in der Bundesrepublik habe ein Umdenken zunächst bei Intellektuellen, dann getragen von den Studentenprotesten begonnen. Ziel sei es gewesen, gegen die in der bundesdeutschen Bevölkerung verbreitete Schlussstrich-Mentalität aktiv vorzugehen. Die durch den Generalstaatsanwalt Fritz Bauer initiierten Frankfurter Auschwitz-Prozesse (1963 – 65, 1965 – 66) hätten ein erstes Umdenken zunächst bei einer Minderheit eingeleitet. Trotz aktiver zeitgeschichtlicher und publizistischer Aufklärung sei allerdings das Zentralverbrechen der Ermordung der europäischen Juden in der Bevölkerung weiterhin ein Tabu geblieben. Erst die Ausstrahlung des US-amerikanischen fiktiven Fernsehdramas »Holocaust – Die Geschichte der Familie Weiss« (Marvin J. Chomsky ; USA: 1978, BRD: 1979) habe bundesweit Debatten ausgelöst. Dieses mediale Ereignis hätte den Auftakt zu einer Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit neuer Qualität markiert.68 IV – 1980 bis heute: Phase der Vergangenheitsbewahrung. Vor dem Hintergrund des beobachtbaren »Abschieds von der Zeitzeugenschaft« sowie durch eine Reihe von symbolischen Erinnerungsereignissen ausgelöst sei es zu einer 66 Norbert Frei, Erinnerungskampf, in: ders., 1945 und wir, S. 143 – 158 , hier : S. 144. 67 Frei verwendet den Quellenbegriff »Vergangenheitsbewältigung«, allerdings ohne ihn zu historisieren oder zu problematisieren. Ursprünglich durch den Begründer des Max-PlanckInstituts für Geschichte, Hermann Heimpel, geprägt, in der Bundesrepublik dann durch den Bundespräsidenten Theodor Heuss popularisiert, wurde er in den 1970er-Jahren im Kontext der durch die sogenannte 68er-Generation neu provozierte Debatte über die NS-Vergangenheit breit rezipiert. Seit Mitte der 1980er-Jahre setzte sich der Begriff »Vergangenheitsaufarbeitung« unter Rückgriff auf den Aufsatz von Theodor W. Adorno »Was bedeutet Aufarbeitung der Vergangenheit« (Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt am Main 1963) durch. Vgl. Jutta Vergau, Aufarbeitung von Vergangenheit vor und nach 1989. Eine Analyse des Umgangs mit den historischen Hypotheken totalitärer Diktaturen in Deutschland, Marburg 2000. Zur Problematik des Begriffs »Vergangenheitsbewältigung«, dem ein Schlussstrich-Denken innewohnt: Bernhard Schlink, Die Bewältigung von Vergangenheit durch Recht, in: Helmut König u. a. (Hg.), Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Sonderheft Leviathan 18 (1998), S. 433 – 451. 68 Frei, Deutsche Lernprozesse, S. 52 f.

Umgang mit der NS-Geschichte nach 1945

43

beschleunigten Abfolge von Thematisierungen der NS-Vergangenheit gekommen.69 Die von Frei genannten Beispiele können erweitert werden: – 1983: internationale Fachtagung im Reichstagsgebäude Berlin anlässlich des 50. Jahrestages der Machtübernahme der Nationalsozialisten – 1985: Ausstrahlung von »Shoah« – zweitteiliger Dokumentarfilm (Claude Lanzmann), von Frei nicht benannt – 1985: Rede des Bundespräsidenten R. v. Weizsäcker anlässlich des 40. Jahrestages des Kriegsendes – von Frei nicht benannt70 – 1986/87: Historikerstreit – 1994: Kinostart der Verfilmung »Schindlers Liste« (Steven Spielberg; USA: 1993) – 1995: Veranstaltungen anlässlich des 50. Jahrestages des Kriegsendes – 1996: Goldhagen-Debatte – 1995 und in den nachfolgenden Jahren: »erste« Wehrmachtsausstellung, sowie: – Debatte um das Holocaust-Denkmal in Berlin, von 1988 bis zur Einweihung 2005. In dieser Phase haben nach Frei weniger die politischen Folgen jener die Täter begünstigenden Vergangenheitspolitik im Vordergrund gestanden als vielmehr die Frage danach, welche Vergangenheit in der Zukunft bewahrt werden soll. Frei kennzeichnet diese Phase als den Übergang vom »Erinnerungskampf« zur »Erinnerungskultur«; sowohl auf nationaler als auch auf europäischer Ebene.71 Die Beschäftigung mit der NS-Zeit ging in den 1980er-Jahren auch mit einem markanten Perspektivwechsel einher. Hatte sich die Zeitgeschichtsschreibung seit den 1960er-Jahren vornehmlich mit Struktur- und Systemzusammenhängen der nationalsozialistischen Herrschaft in Form verschiedenster »Faschismus«Theorien befasst und dabei die beteiligten Menschen, sowohl Täter als auch Opfer, aus dem Blick verloren, widmete sich eine ganz junge Generation (aus-

69 Frei, Deutsche Lernprozesse, S. 52 ff. Der Beginn der medialen Zeitzeugenschaft des Holocausts wird mit dem Prozess gegen Adolf Eichmann in Jerusalem (1961) in Verbindung gebracht. Vgl. Martin Sabrow und Norbert Frei (Hg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012. 70 Freverts Einschätzung zufolge markierte die Rede einen tiefen Einschnitt in der Gedenkkultur der Bundesrepublik. Zur Begründung siehe: Assmann / Frevert, Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit, S. 269 – 271; Eine kritische Würdigung der Rede – insbesondere bezüglich des vermittelten problematischen Geschichtsbildes – anhand aktueller Forschungsliteraturverweise befindet sich in: Fischer / Lorenz (Hg.), Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung«, S. 232 – 235. 71 Frei, Deutsche Lernprozesse, S. 41.

44

Forschungstand

gehend vor allem von Schülergruppen) nun der Alltagsgeschichte des Nationalsozialismus.72 Im Zuge dessen kam es zu innerfamiliären Gesprächen mit den Großeltern, die gegenüber den Enkeln freimütiger erzählten, als sie es unter der Anklage ihrer Kinder getan hatten. An vielen Orten gab es lokale Initiativen zur Aufklärung der NS-Verbrechen, die auch nach den noch lebenden Betroffenen der NS-Zeit Ausschau hielten, um sie zu befragen. Einen starken Impuls hatten diese Initiativen auch durch die erwähnte Fernsehserie »Holocaust« erfahren, die zumindest vorübergehend in der Bevölkerung ein breiteres Empathieempfinden gegenüber den Opfern bewirkte.73 Dieser Perspektivwechsel zugunsten der Betroffenen der NS-Verfolgung- und Vernichtungspolitik drückte sich zudem in der oben aufgeführten Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker 1985 aus, mit der im Kontrast zum verbreiteten Bewältigungsgedanken die Bereitschaft zur Erinnerungsarbeit eingefordert wurde. Weizsäcker bezog damit klar Stellung gegen die vergangenheitspolitische Haltung und geschichtspolitischen Ambitionen des damaligen Bundeskanzlers Helmut Kohl.74 Der besondere Einfluss der Generationenabfolge auf den Prozess des Umgangs mit der NS-Vergangenheit von 1945 bis heute bedarf noch detaillierter Untersuchung und methodischer Reflexion.75 Frei konzentriert sich, die methodischen Unsicherheiten pragmatisch umgehend, zunächst auf drei sogenannte Erfahrungsgenerationen, die auf je spezifische Weise die skizzierten vier Nachkriegsphasen prägten.76 So seien es Vertreter jener um 1905 72 Assmann / Frevert, Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit, S. 264 ff.; Frei, Deutsche Lernprozesse, S. 52. 73 Assmann / Frevert, Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit, S. 268. 74 Zur Vorgeschichte und Gründung des Deutschen Historischen Museums in Westberlin 1987 vgl. ebd., S. 254 ff. u. 261 f. 75 Kritisch zur üblichen Verwendung des Generationsbegriffs in der Wissenschaft und der breiteren Öffentlichkeit: Bernd Weisbrod, Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8 (2005), 11 Seiten, http://www.generatio nengeschichte.uni-goettingen.de/alt/wbapz.pdf (13. 1. 2013). Vgl. auch Jürgen Reulecke, Warum und wie jede Generation sich ihr eigenes Bild von der Vergangenheit macht, in: Jörg Calließ (Hg.), Die frühen Jahre des Erfolgsmodells BRD – Oder : Die Dekonstruktion der Bilder von der formativen Phase unserer Gesellschaft durch die Nachgeborenen, Loccumer Protokolle 25/2002, Rehburg-Loccum 2003, S. 13 – 23. 76 Vgl. Frei, Deutsche Lernprozesse, S. 41 f. Ulrich Herbert grenzt unter Anwendung eines Konzepts von Helmut Fogt drei »politische Generationen« »im engeren Singe« voneinander ab, die mit den von Frei benannten Erfahrungsgenerationen weitgehend übereinstimmen. Vgl. Ulrich Herbert, Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, in: Jürgen Reulecke (Hg.) unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 95 – 114, hier : S. 96 f. Detlev Peukert unterscheidet für die Zeit der Weimarer Republik vier politische Generationen: Wilhelminische Generation – geboren um 1860, Gründerzeitgeneration – geboren um 1870, Frontgeneration – geboren in den 1880er- und 1890er-Jahren sowie die Kriegsjugendgeneration, die geburtenstarken

Umgang mit der NS-Geschichte nach 1945

45

geborenen Generation (Kriegsjugendgeneration, U. Herbert, D. Peukert) gewesen, von der NS-Forschung als Reservoire der NS-Funktionselite identifiziert,77 die unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu den stärksten Kritikern der alliierten Säuberungspolitik zählten. Entgegen den bei Gründung der Bundesrepublik noch zu jungen Vertretern der um 1925 Geborenen (Skeptische Generation), bestimmten sie zunächst maßgeblich den gesellschaftlichen Diskurs über die jüngste Vergangenheit und lieferten die Argumente zur Legitimierung der weitreichenden Amnestierungs- und Integrationsmaßnahmen.78 Entsprechend profitierten sie am stärksten von der Bonner Vergangenheitspolitik, die sich mit der Verurteilung einer angeblich kleinen Zahl Hauptschuldiger zufrieden gab. Die um 1925 Geborenen, die den Zweiten Weltkrieg noch als Flakhelfer und junge Soldaten selbst erlebt hatten, zeichneten sich durch eine zurückhaltende, indifferente Haltung gegenüber der NS-Vergangenheit aus und waren »skeptisch« gegenüber jeglicher Form von Ideologie. Sie werden als macht- oder karrierebewusst, pragmatisch, aber demokratieorientiert beschrieben. Gegenkräfte zur Vergangenheitspolitik mit der Forderung nach einer Vergangenheitsbewältigung kamen zunächst nur aus intellektuellen Kreisen.79 Die »skeptische Generation«80 trat spätestens Mitte der 1950er-Jahre in die Berufswelt der Wirtschaftswunderphase ein und repräsentiert die Elterngeneration der später als 68er etikettierten Generation.

77 78

79

80

Jahrgänge seit 1900, die im gemeinsamen Zeiterlebnis in mehrfacher Hinsicht als »überflüssige Generation« (zu jung für den Einsatz im Ersten Weltkrieg, dann der hohen Arbeitslosigkeit in der krisengeschüttelten Weimarer Republik ausgesetzt) charakterisiert wird. Vgl. Detlev Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987, S. 25 – 31 u. S. 94 ff. Vgl. Ulrich Herbert, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, Bonn 31996; Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamts, Hamburg 2002. Der angebliche Kollektivschuld-Vorwurf der Alliierten sowie die als ungerecht empfundene Entnazifizierung wurden als Argumente für die Schlussstrich-Politik eingesetzt. Inwieweit der Vorwurf einer Kollektivschuld tatsächlich vom Ausland wirksam vorgebracht worden war oder ob er eher der bundesdeutschen Opfermentalität entsprang, ist in der Forschung umstritten. Vgl. dazu Norbert Frei, Von deutscher Erfindungskraft. Oder : Die Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit, in: ders., 1945 und wir, S. 159 – 170. Dazu jetzt die neuen, aber diesbezüglich widersprüchlichen Beiträge in: Carsten Dutt (Hg.), Die Schuldfrage. Untersuchungen zur geistigen Situation der Nachkriegszeit, Heidelberg 2010. Siehe hierzu das Beispiel des Soziologen Friedrich Tenbruck (1919 – 1994), der in generationeller Abgrenzung zur Studentenbewegung die »intellektuelle Gründung der Bundesrepublik« und damit den Beginn der kritischen Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit im Jahr 1959 ansetzte und so seiner eigenen Generation zuschrieb. Vgl. Assmann / Frevert, Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit, S. 144. Vgl. Helmut Schelsky, Die skeptische Generation, Düsseldorf 1957. Vgl. zur Rezeption des Buches: Franz-Werner Kersting, Helmut Schelskys »Skeptische Generation« von 1957. Zur Publikations- und Wirkungsgeschichte eines Standardwerkes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002) 3, S. 465 – 495.

46

Forschungstand

Die sogenannten 68er, um 1945 geboren, hatten den Krieg und den Nationalsozialismus nicht mehr selbst erlebt, wuchsen aber in einer von den Zeitgenossen des Nationalsozialismus geprägten Gegenwart auf. Während sie seit etwa Mitte der 1960er-Jahre noch in den Ausbildungs- und Studiengängen steckten, hatte sich ihre Elterngeneration besonders früh etabliert und die erste Erfahrungsgeneration, die um 1970 nach und nach ihren Ruhestand antrat, abgelöst. Bereits seit Beginn der 1960er-Jahre begann sich ein schroffer Generationenkonflikt zu entwickeln, der ab 1967/68 in der stark politisierten Studentenbewegung und der daraus hervorgehenden Außerparlamentarischen Opposition seinen Ausdruck fand. Diese Generation der in die NS-Verbrechen nicht involvierten Jüngeren empfand die durch die NS-Verbrechen überkommene Schuld bzw. das Beschweigen derselben als kaum noch erträglich und vertrat neben allgemeinen, auch in anderen Ländern um »1968« erhobenen Reform- oder Revolutionsansprüchen die Forderung nach einer Vergangenheitsbewältigung immer vehementer: im Privaten gegenüber den eigenen Eltern, in der Ausbildung gegenüber Lehrern und Professoren und in der Öffentlichkeit gegenüber dem Staat.81 In den 1970er- und 1980er-Jahren übernahm diese Generation Stellungen in allen Berufszweigen, bis sie sich um 1990, als ihre Elterngeneration wiederum in den Ruhestand ging, zwar politisch gemäßigter, aber gesellschaftlich voll etablierte. Die Kinder der sogenannten 1968er und die späteren Generationen, um 1965 und 1985 geboren, wuchsen in einer Gegenwart rapide abnehmender Zeitzeugenschaft auf und erlebten die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus vorrangig als kulturelle Praxis.82 Für alle Jahrgänge nach der sogenannten Wende wird deutlich, dass ein Direktkontakt mit den unmittelbaren Kriegsgenerationen kaum mehr möglich sein wird. Sie müssen auf andere Modi der Vergegenwärtigung des Nationalsozialismus zurückgreifen, um zu einer Bewertung der Vergangenheit zu gelangen. In der nachfolgenden Aufstellung sind zur Veranschaulichung die benannten Erfahrungsgenerationen dargestellt. Um die Generationsübergänge sichtbar zu machen, wurden die von Frei identifizierten Kohorten um »Zwischengenerationen« 81 Vgl. auch den Abschnitt: Kinder der Verdrängung. Die Geburt einer Generation aus dem Geist der NS-Kritik, in: Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008, S. 79 – 88. Wie Frei betont, lag in der Präsenz des Vergangenheitsbezugs zur NS-Zeit das Spezifikum der bundesdeutschen »1968er«-Bewegung, worin sie sich von vergleichbaren Jugendbewegungen in den westlichen Nachbarländern und den USA unterschied. Ebd., S. 219 – 228. Zu den mit dem Generationswechsel einhergehenden gesellschaftlichen Umbrüchen und Modernisierungsprozessen seit den 1960er-Jahren (»Scharnierjahrzehnt«) siehe zwei einschlägige Sammelbände: Axel Schildt, Detlef Siegfried und Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000, sowie: Ulrich Herbert (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945 – 1980, Göttingen 2002. 82 Frei, Deutsche Lernprozesse, S. 42.

47

Umgang mit der NS-Geschichte nach 1945

(K. Mannheim) bzw. »stille Generationen« (B. Weisbrod) ergänzt, für die hier a) eine zwischen den Generationen vermittelnde und b) eine für Wandlungsprozesse der Bundesrepublik ebenso impulsgebende Funktion angenommen wird.83 Erfahrungsgenerationen etwa Bezeichgeb. nung ~ Wilhelm. 189584 Generation (NS-Führung) ~ Kriegs1905 jugendgeneration (NSFunktionselite) ~ 1915 ~ Skep1925 tische Generation ~ 1935 ~ 68er 1945 ~ 1955 ~ Nach1965 68er? ~ 1975 ~ ?85 1985

Ende Nationalsozialis- BRD / DDR Dt. I. WK mus WV 1918 1933 1939 1945 1949 1960 1970 1980 1990 2000 2010 23

38

44

50

54

65

75

85

95

-

-

13

28

34

40

44

55

65

75

85

95

-

3

18

24

30

34

45

55

65

75

85

95

-

8

14

20

24

35

45

55

65

75

85

-

-

4

10

14

25

35

45

55

65

75

-

-

-

*

~5

15

25

35

45

55

65

-

-

-

-

-

5

15

25

35

45

55

-

-

-

-

-

-

5

15

25

35

45

-

-

-

-

-

-

-

5

15

25

35

-

-

-

-

-

-

-

-

5

15

25

83 Weisbrod, Generation, S. 4; Karl Mannheim, Das Problem der Generationen [1928], in: ders., Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, eingeleitet und hg. von Kurt H. Wolff, Neuwied-Berlin 21970, S. 509 – 565, Angabe nach ebd. 84 Zu dieser Generation können z. B. folgende Vertreter der nationalsozialistischen Führung gezählt werden: Adolf Hitler, Hermann Göring, Karl Dönitz, Rudolf Hess, Josef Goebbels, Alfred Rosenberg, Richard Walter Darr¦, Martin Bormann, Heinrich Himmler, Philipp Bouhler, Herbert Linden. 85 Die in der Öffentlichkeit geradezu inflationär markierten Generationenbezeichnungen für

48

Forschungstand

2.2. Stand der zeitgeschichtlichen Forschung zur Vergegenwärtigung der NS-Euthanasie in der Nachkriegszeit Bezüglich des zu bearbeitenden Untersuchungsgegenstandes liegen vereinzelt medizinhistorische Entwürfe einer Gliederung der Nachkriegsentwicklungen vor. Zwei dieser Entwürfe, die sich recht stark voneinander unterscheiden, werden im Folgenden kurz vorgestellt und diskutiert. Es handelt sich um einen Periodisierungsversuch des medizinhistorisch forschenden Tübinger Neuropathologen Jürgen Peiffer86 sowie um die analytische Ausdifferenzierung von drei zentralen Paradigmen (Bereich Nachkriegspsychiatrie) durch den Gießener Medizinhistoriker Volker Roelcke.87 Auf weitere Studien wird im Verlauf der vorliegenden Untersuchung nur begleitend eingegangen, da diese Arbeiten entweder nicht die gesamte Nachkriegszeit abdecken oder andere thematische Schwerpunkte wählen.88 die Jahrgänge um 1965, 1975 und 1985 – Generation Reform (Paul Nolte); Generation X, Generation Golf (Florian Illies), MTV-Generation, neuerdings für die Jahrgänge 1995: Generation Facebook – werden hier nicht diskutiert. Grund ist, dass die Abgrenzungsversuche nicht überzeugend gelungen sind. Die genannten Jahrgänge lassen sich nicht auf einen Begriff bringen. Zudem tragen die Begriffe nichts Erhellendes zur spezifischen Haltung gegenüber der NS-Vergangenheit bei. 86 Jürgen Peiffer, Phasen der deutschen Nachkriegsauseinandersetzung mit den Krankentötungen 1939 – 1945, in: Siegrid Oehler-Klein und Volker Roelcke (Hg.) unter Mitarbeit von Kornelia Grundmann und Sabine Schleiermacher, Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945. Institutionelle und individuelle Strategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart 2007, S. 331 – 359. Jürgen Peiffer verstarb im Jahr 2006. Sein Beitrag ist die leicht überarbeitete, posthum erschienene Fassung des ein Jahr zuvor in englischer Sprache veröffentlichten Aufsatzes: Jürgen Peiffer, Phases in the Postwar German Reception of the »Euthanasia Program« (1939 – 1945). Involving the Killing of the Mentally disabled and its Exploitation by Neuroscientists, in: Journal of the History of the Neurosciences 15 (2006) 3, S. 210 – 244. 87 Volker Roelcke, Trauma or Responsibility? Memories and Historiographies of Nazi Psychiatry in Postwar Germany, in: Austin Sarat, Nadav Davidovich and Michal Alberstein (eds.), Trauma and Memory, S. 225 – 242. Eine inhaltliche Skizze der drei Paradigmen, allerdings ohne dass sie schon explizit auf eine sprachliche Formel gebracht werden, findet sich vier Jahre zuvor in Eric J. Engstrom und Volker Roelcke, Die ›alte Psychiatrie‹? Zur Geschichte und Aktualität der Psychiatrie im 19. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum, Mainz 2003, S. 9 – 25, hier: S. 13 – 16. 88 Vgl. mehrere Beiträge mit Fokus auf den möglichen Zusammenhang von nicht aufgearbeiteter NS-Vergangenheit und Reformstau in der Nachkriegspsychiatrie in: Franz-Werner Kersting, Karl Teppe und Bernd Walter (Hg.), Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Paderborn 1993; Franz-Werner Kersting (Hg.), Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre, Paderborn u. a. 2003, sowie Forsbach, Die 68er und die Medizin, S. 125 f. Ein überwiegend publikationsgeschichtlicher Abriss von fünf Phasen der innermedizinischen Vergegenwärtigung der NS-Zeit, hierbei in konzeptioneller Anlehnung an einen älteren Beitrag von Norbert Jachertz, der keinesfalls Anspruch auf Vollständigkeit

Vergegenwärtigung der NS-Euthanasie in der Nachkriegszeit

49

Die von Jürgen Peiffer vorgenommene Phaseneinteilung zur Nachkriegsrezeption der nationalsozialistischen Krankenmorde in den Neurowissenschaften orientiert sich an vier Kriterien, die überwiegend durch die Arbeiten von N. Frei inspiriert sind: 1.) an dem Wandel des politischen Umfeldes, 2.) dem fortschreitenden Generationenwechsel, 3.) an einer Veränderung der Motive für die Rezeption der NS-Vergangenheit sowie 4.) an den zu verzeichnenden Umstellungen der Methodik zur Aufarbeitung der Vergangenheit.89 Anhand der vier Kriterien stellt Peiffer ein Fünf-Phasen-Modell vor, deren Umbrüche jeweils nach etwa 10 bis 15 Jahren angesetzt werden. Quellengrundlage der Analyse ist die juristische, vor allem aber die historiographische Auseinandersetzung mit der NS-Euthanasie sowie die Beschäftigung mit ethischen Grundsatzfragen.90 Die konsequente Anwendung der vier Kriterien kann Peiffer analytisch allerdings in seinem Beitrag nicht ganz einlösen: Phase I, 1945 – 1950, sei von einer Betroffenheit über erste bekannt gewordene NS-Verbrechen gekennzeichnet gewesen. Die Verbrechen selbst seien bei den Zeitgenossen mit Verdrängung und »kollektivem« Schweigen beantwortet worden.91 Phase II, 1951 – 1964, sei durch Diskussionen von Theologen, Juristen und Medizinern über Euthanasie und Sterbehilfe geprägt worden. Allgemein habe aber eine geringe Bereitschaft zur Diskussion über die NS-Vergangenheit bestanden.92 Den Aufbruch zu einer Auseinandersetzung markiert erst Phase III, 1965 – 1974. Psychiater und Medizinhistoriker nahmen sich vereinzelt des Themas NSKrankenmord an. Der Keim einer breiteren Aufarbeitung dieser Vergangenheit sei in lokalen Geschichts-Werkstätten zumeist durch studentische Initiativen zu finden.93 In der vierten Phase, 1975 – 1989, habe sich die Aufarbeitung durch Erstellen von Lokalgeschichten einzelner Anstalten auf breiterer Basis fortgesetzt. Auch Journalisten und Historiker hätten das Thema aufgegriffen und in

89 90 91 92 93

erheben kann, findet sich in: Jütte u. a., Medizin und Nationalsozialismus, S. 311 – 323. Zur Frage nach den Auswirkungen der NS-Medizinverbrechen auf den Medizinethikdiskurs der Nachkriegszeit vgl. u. a.: Frewer / Eickhoff (Hg.), »Euthanasie« und die aktuelle SterbehilfeDebatte; Simon, Geschichte als Argument in der Medizinethik; Ralf Forsbach, Medizin und Ethik. Die Medizin im Nationalsozialismus in der öffentlichen Diskussion nach 1945, in: ders. (Hg.), Medizin im »Dritten Reich«. Humanexperimente, »Euthanasie« und die Debatten der Gegenwart, Hamburg 2006, S. 1 – 80.; sowie den vierten Abschnitt der Habilitationsschrift von: Gerrit Hohendorf, Empirische Untersuchungen zur nationalsozialistischen »Euthanasie« bei psychisch Kranken – mit Anmerkungen zu aktuellen ethischen Fragestellungen, Habilitationsschrift Technische Universität München 2008. Eine überarbeitete Fassung des Buches wird im Oktober 2013 im Wallstein-Verlag unter dem Titel publiziert: »Der Tod als Erlösung vom Leiden. Geschichte und Ethik der Sterbehilfe seit dem Ende des 19. Jahrhunderts«. Peiffer, Phasen, S. 358 f. Peiffer, Phasen, S. 331 f. Peiffer, Phasen, S. 332 – 336; entsprechend: Peiffer, Phases, S. 211 – 217. Peiffer, Phasen, S. 336 – 339; Phases, S. 217 – 219. Peiffer, Phasen, S. 339 – 343; Phases, S. 219 – 222.

50

Forschungstand

die Öffentlichkeit transportiert.94 Peiffer attestiert für die letzte Phase von 1990 bis etwa 2006 einen steigenden Einfluss der Sozialwissenschaften, speziell der (Medizin-)Historie, die sich zunehmend der Lebensgeschichten von Opfern und Betroffenen annehmen würde. Ihnen hätten dafür nach der Wiedervereinigung neue Quellenbestände zur Verfügung gestanden, die in Archiven der ehemaligen Staaten des sogenannten Ostblocks aufgefunden wurden. Erstmals hätten auch große Wissenschaftseinrichtungen wie die Max-Planck-Gesellschaft, die Deutsche Forschungsgemeinschaft oder das Robert Koch-Institut unabhängige historische Kommissionen beauftragt, um die eigene Vergangenheit in der Zeit des Nationalsozialismus zu rekonstruieren.95 Als Ergebnis lassen sich der Untersuchung von Peiffer zwei zentrale Erkenntnisse entnehmen: Erstens hat es über alle Phasen hinweg eine Thematisierung der NS-Euthanasie gegeben. Somit bestand für die Öffentlichkeit immer die Möglichkeit, sich ein Bild von den Krankenmorden zu machen. Dies trifft auch auf die 1950er-Jahre zu, die in der Forschung auch als »Zeit der Stille« bezeichnet wurden.96 Zwar war das Angebot an aufklärender Literatur in den ersten beiden Phasen begrenzt, aber grundsätzlich waren die Informationen zugänglich. Zweitens erfuhr spätestens in Phase III, vor allem aber ab Phase IV die Forschung eine deutliche Ausdehnung, die mit einer thematischen Ausdifferenzierung einherging. Dieser Befund wird mit der seit den 1980er-Jahren stärkeren Mobilisierung von Interessierten und einer fortschreitenden Professionalisierung der NS-Euthanasie-Forschung erklärt. Als Hauptgründe für die Verspätung dieser Aufarbeitung vermutet Peiffer für die unmittelbaren Nachkriegsjahre bloße Überlebensstrategien mit Ausrichtung auf die Zukunft, innerfamiliäre und berufliche Mentalitätskontinuitäten aus der NS-Zeit, für die späteren Jahre sowohl Karrieresorgen und Hierarchiedenken aufseiten der jüngeren Mediziner und bindende Kollegialitätsvorstellungen innerhalb der älteren Ärzteschaft, die eine Thematisierung der Medizinverbrechen erschwert hätten. Erst mit dem Generationsfortgang in den medizinischen Berufen sei es in den 1960er-Jahren zu einem Aufbäumen der Jüngeren gegen die Eltern und Vorgesetzten gekommen. Diese emotional geführte Auseinander94 Peiffer, Phasen, S. 343 – 350, Phases, S. 222 – 225. 95 Peiffer, Phasen, S. 350 – 358, Phases, S. 225 – 229. 96 Ursprünglich wurde das deutsche Nachkriegs-Bedürfnis nach »Stille« 1983 von dem Philosophen Hermann Lübbe auf einen Begriff gebracht. Vgl. Maike Rotzoll und Gerrit Hohendorf, Zwischen Tabu oder Reformimpuls. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik nach 1945, in: Oehler-Klein / Roelcke (Hg.), Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945, S. 314; Kersting, Helmut Schelskys »Skeptische Generation« von 1957, S. 485; sowie: Gerrit Hohendorf, The Representation of Nazi »Euthanasia« in Post-War German Psychiatry 1945 to 1998 – A Preliminary Survey, in: Korot. The Israel Journal of the History of Medicine and Science 19 (2007 – 2008), S. 29 – 48, hier : S. 42 – 46.

Vergegenwärtigung der NS-Euthanasie in der Nachkriegszeit

51

setzung sei wiederum der nüchternen wissenschaftlichen Beschäftigung gewichen.97 Stellt man das Phasenmodell nach Peiffer jenem von Frei gegenüber, wird deutlich, dass beide nur bedingt aufeinander bezogen werden können. Dies liegt darin begründet, dass die erkennbaren Phasen allgemeinen Wandels bei Peiffer – von Phase II zu III (1965) und von Phase III zu IV (1975) – nicht eindeutig identifiziert werden, sieht man von der Übereinstimmung mit Frei bei den großen Zäsuren 1949 und 1989 ab. Die (relative) Datierung bleibt intransparent, wodurch der Periodisierungsentwurf an Plausibilität verliert. Volker Roelcke kommt mittels seiner Analyse in dem Beitrag »Trauma or Responsibility?« zur Identifizierung von verschiedenen Paradigmen (hier : Interpretationsmustern mit spezifischen Geschichtsbildern bzw. Modi der Erinnerung), die mit den Dekaden der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft assoziiert werden. Nach Roelckes Beobachtung sind drei historiographische Annäherungen an das »Objekt« NS-Psychiatrieverbrechen erkennbar, die hinsichtlich der Interpretation, welche Rolle der Psychiatrie im Nationalsozialismus zukam und welchen Anteil sie selbst an den Medizinverbrechen hatte, voneinander unterschieden werden können: 1.) das Isolationsparadigma, seit Mitte der 1960er-Jahre wirksam, 2.) das Kontinuitätsparadigma; vorrangig in den 1970erund 1980er-Jahren wirksam, und 3.) das komplex-lokalisierende Paradigma, entstanden nach der europäischen bzw. internationalen Zäsur 1989/90 und bis heute wirksam. 1.) Isolationsparadigma (The Isolation Paradigm)98 In den 1960er-Jahren näherten sich Vertreter der Psychiatrie mit allgemeinen Darstellungen der Thematik NS-Euthanasie an. Sie selbst hatten die NS-Zeit als junge Psychiater erlebt und standen noch unter dem Eindruck der unmittelbaren Nachkriegsprozesse.99 Angestoßen durch kritische Nachfragen von ausländischen Kollegen und den eigenen Studenten sahen sie sich veranlasst, historische Darstellungen vorzulegen, die auf eigenen Erinnerungen, zeitgenössischen Quellen oder, in begrenztem Rahmen, auf Prozessunterlagen basierten. Ihren Beschreibungen ist die starke Tendenz gemeinsam, die eigene Vergangenheit in mehrfacher Hinsicht zu isolieren. Dies betrifft sowohl die Zeit- als auch die Verbrechens- und die Schulddimension. So wird der Nationalsozialismus aus den Entwicklungszusammenhängen von vor 1933 und nach 1945 vollständig herausgelöst. Neben dieser Betonung der zeitlichen Diskontinuität 97 Peiffer, Phasen, S. 358 f., ebenso in: Phases, S. 220. 98 Roelcke, Trauma or Responsibility?, S. 229 – 232. 99 Exemplarisch werden benannt: Helmut Ehrhardt (1914 – 1997), Walter Schulte (1910 – 1972), Hans-Jörg Weitbrecht (1909 – 1975) und Walter von Baeyer (1904 – 1987). Vgl. Roelcke, Trauma or Responsibility?, S. 240.

52

Forschungstand

wird die NS-Sterilisationspolitik und Euthanasie dissoziiert von den Euthanasie-Debatten vor 1933 sowie von der sich seit der Wende zum 20. Jahrhundert entfaltenden Eugenik-Bewegung mit ihren impliziten und expliziten Werthierarchien menschlichen Lebens100 und ebenso getrennt von den nach 1945 fortgeführten medizinethischen Problematisierungen zum ungeborenen Leben, Lebensbeginn und Lebensende. Hinsichtlich der NS-Zeit wird das sich selbst entlastende Bild einer Psychiatrie entworfen, die durch die NSDAP-Parteiapparate und Staatsorgane von außen zur Umsetzung der Vernichtung gezwungen worden ist. Nur vereinzelt habe es innerhalb der Psychiatrie, vor allem in Heil- und Pflegeanstalten, ideologisch überzeugte Täter gegeben. Das Gros der Psychiatrie, insbesondere die universitäre Psychiatrie, habe sich nicht schuldig gemacht und ihre Wissenschaft auf der Grundlage damals geltender moralischer und ethischer Standards betrieben.101 In diesem Geschichtsbild überwiegt die Vorstellung einer traumatisierten Psychiatrie, die selbst zum Opfer der politischen Verhältnisse im Nationalsozialismus gemacht worden sei.102 Dem Leiden der Psychiatriepatienten wird nur ein marginaler Stellenwert eingeräumt.103 Entsprechend erfuhren die Betroffenen und Angehörigen mit ihrer Forderung nach erinnerungspolitischer Anerkennung und sogenannter Wiedergutmachung keinerlei Unterstützung seitens der psychiatrischen Profession. 2.) Kontinuitätsparadigma (The Continuity Paradigm) Im Kontext der verstärkten Kritik in der bundesdeutschen Öffentlichkeit an den personellen Kontinuitäten aus der NS-Zeit, die vor allem von Journalisten und Schriftstellern immer neue Impulse erfuhr, widmeten sich in den 1970er-Jahren Nachwuchspsychiater der Vergangenheit auf andere Weise.104 Beeinflusst von den neuen sozialen Bewegungen / Alternativbewegungen forderten sie umfassende Reformen der eigenen Disziplin (z. B. mit der Psychiatrie-Enquete des 100 Vgl. Engstrom / Roelcke, Die ›alte Psychiatrie‹?, S. 13. 101 Vgl. auch Volker Roelcke, Gerrit Hohendorf et Maike Rotzoll, Science m¦dicale, ethos et transformations politiques: la recherche psychiatrique en Allemange, 1925 – 1945, in: Christian Bonah, Êtienne Lepicard et Volker Roelcke (eds.), La m¦decine exp¦rimentale au tribunal. Implications ¦thiques de quelques procÀs m¦dicaux du XXe siÀcle europ¦en, Paris 2003, S. 157 – 183, hier : S. 159. 102 Roelcke, Trauma or Responsibility?, S. 231. 103 Eine vereinzelte Beschäftigung mit den Betroffenen der NS-Medizin (hierbei auch der NSPsychiatrie) war zu Beginn der 1960er-Jahre zu verzeichnen. In der Psychiatrie standen diese Initiativen im Zusammenhang mit der lokalen Umsetzung von Reformkonzepten (u. a. Walter von Baeyer, Heidelberg). Vgl. Roelcke, Trauma or Responsibility?, S. 232 u. 240; vgl. auch Forsbach, Die 68er und die Medizin, S. 125 – 128. 104 Als Vertreter nennt Roelcke: Erich Wulff (1926 – 2010), Klaus Dörner (*1933), Manfred Bauer (*1936), Asmus Finzen (*1940). Roelcke, Trauma or Responsibility?, S. 232 f. u. 240 f.

Vergegenwärtigung der NS-Euthanasie in der Nachkriegszeit

53

Deutschen Bundestags, 1971 – 75), deren Umgang mit Patienten sie als menschenverachtend zurückwiesen. Es waren vor allem Anstaltspsychiater, die in Zusammenarbeit mit Patienten Netzwerke und Organisationen (Gründung der DGSP 1971 und Aktion psychisch Kranke; Bund der Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten; Arbeitskreis zur Erforschung der NS-»Euthanasie« und Zwangssterilisation) initiierten, um einen grundlegenden Wandel in der Psychiatrie zu bewirken. Die Forschung zu den Ursachen für die katastrophalen Verhältnisse in den bundesdeutschen Psychiatrien führte zur Frage nach den langfristigen Entwicklungen im 20. Jahrhundert. Die aktuellen Missstände wurden auf die NS-Zeit zurückgeführt und darüber hinaus mit den Entwicklungen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert verknüpft. Als Ergebnis entstand eine Neuinterpretation der Vergangenheit, in der die personellen, institutionellen und konzeptionellen Kontinuitäten über die Zäsuren 1933 und 1945 hinweg hervorgehoben wurden.105 Speziell die Zwangssterilisationspraxis und NS-Euthanasie standen nun exemplarisch, so Engstrom und Roelcke, »als abschreckende Beispiele für das Janusgesicht der Moderne«.106 Das Leid der Betroffenen rückte in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Die Opfer erfuhren fachliche und politische Unterstützung in ihrem Kampf um Anerkennung als NS-Verfolgte. Die historische Forschung, nun verstärkt von Vertretern der Gesundheitsberufe, Journalisten, aber auch Sozialwissenschaftlern und Historikern betrieben, erbrachte einen erheblichen Wissenszuwachs.107 Während frühe Arbeiten etwa Mitte der 1980er-Jahre die besondere Bedeutung wissenschaftlicher Expertise (auch durch die Psychiatrie) für die Entwicklung und Umsetzung der nationalsozialistischen »Sozial- und Gesundheitspolitik« herausstellten, wurde zum Ende der 1980er-Jahre zunehmend die komplementäre Interessenallianz von Wissenschaft und Politik im Nationalsozialismus als charakteristisch erkannt.108 Die deutsche Psychiatrie erschien in diesem historiographischen Neuansatz 105 Engstrom / Roelcke, Die ›alte Psychiatrie‹?, S. 14 f. 106 Am prominentesten wurde die Deutung solcher widersprüchlicher Potenziale der Moderne (hierbei als analytischer Begriff verstanden) von Detlev Peukert vertreten. Engstrom und Roelcke zählen dazu auch die Arbeiten von Zygmund Baumann. Vgl. ebd., S. 15. Zur anhaltenden Plausibilität der historischen Interpretation Peukerts: Roelcke, Medizin im Nationalsozialismus – Radikale Manifestation. 107 Roelcke, Trauma or Responsibility?, S. 233. 108 Dabei bestanden zwei Strömungen: Eine Gruppe deutete die biomedizinischen Wissenschaften als Teil und Ausdruck des kapitalistischen Gesellschaftssystems im 19. und 20. Jahrhundert und erklärte entsprechend die NS-Gesundheitspolitik mit radikalen ökonomischen Motiven. Einer anderen Deutung zufolge war die medizinische Selektionspolitik der NS-Zeit ein spezifischer und besonders radikaler Ausdruck von lange zuvor in der Medizin bestehenden gesundheitspolitischen Vorstellungen und Wertemustern, an deren Entstehung auch die akademische Psychiatrie erheblich beteiligt gewesen ist. Roelcke, Trauma or Responsibility?, S. 233 f.

54

Forschungstand

keineswegs als Opfer, sondern als Initiatorin und aktive Beteiligte an den Verbrechen. Sie war nicht traumatisiert, sondern hauptsächlich verantwortlich.109 3.)

Komplex-lokalisierendes bzw. lokalisierend-kontextuales Paradigma (The Complex-Localizing Paradigm) Mit dem Ende des Kalten Krieges 1989/90 ist laut Roelcke eine neue Interpretation der NS-Vergangenheit zu beobachten. Gewissermaßen bildet das neue Paradigma eine Art Synthese der beiden vorangegangenen, sehr gegensätzlichen Paradigmen und geht zugleich darüber hinaus. Angesichts des zunehmend durch professionelle (Medizin-)Historiker rekonstruierten breiten Spektrums an Denk- und Verhaltensweisen historischer Akteure insbesondere unter den Rahmenbedingungen des totalitären NS-Regimes erschienen frühere Interpretationen unbefriedigend. Im Fokus der historischen Forschung standen und stehen nun die lokale Praxis und das implizite Rationalitätsdenken der historischen Akteure.110 Während des Krieges bestanden auf lokaler Ebene Handlungsspielräume, die hätten genutzt werden können oder die, und das belegen Beispiele, auch genutzt wurden. Langfristige Kontinuitäten und auch politischer Druck waren zwar wirksam, determinierten aber keineswegs, wie in älteren Darstellungen suggeriert, das Handeln in den historischen Situationen.111 Die historische Analyse stellt damit die Besonderheit und Komplexität lokaler Gegebenheiten in den Vordergrund. Engstrom und Roelcke fassen hinsichtlich der neueren Forschungsergebnisse zusammen, dass »in unterschiedlichen Regionen, Institutionen, oder auch Tätigkeitsfeldern (z. B. Anstalten, Universitäten, kommunaler Fürsorge, Gremien der Versorgungsplanung etc.) jeweils unterschiedliche Elemente und Aspekte von längerfristigen (d. h., die Zäsuren von 1933 und / oder 1945 überdauernden) und zeitspezifischen Mustern sich zu lokal spezifischen Konfigurationen zusammenfügen«.112

In der historischen Bewertung kann dadurch die Verantwortlichkeit jener akzentuiert werden, die sich in verschiedenen politischen Kontexten einem externen oder internen Erwartungsdruck beugten oder widersetzten.113 109 Roelcke, Trauma or Responsibility? S. 232 ff. u. 236 f. 110 Eine ähnliche Interpretation der jüngeren Historiographie zum Nationalsozialismus entwickelte Gerald D. Feldman. Demnach seien die älteren Forschungen mitsamt ihren Begrifflichkeiten und Erklärungsmustern (z. B. Funktionalismus vs. Intentionalismus) Anfang der 1990er-Jahre in eine Art Sackgasse geraten. Neben der sich durchsetzenden Tendenz, verstärkt solche Komponenten wie den Rassismus oder den Imperialismus zu berücksichtigen, habe insbesondere der Aspekt individuellen Handelns im Verhältnis zu Gruppenmentalitäten und innerhalb der bestehenden Netzwerke historischer Akteure mehr Berücksichtigung finden müssen. Vgl. Feldman, Historische Vergangenheitsbearbeitung, S. 9. 111 Roelcke, Trauma or Responsibility?, S. 235. 112 Engstrom / Roelcke, Die ›alte Psychiatrie‹?, S. 16.

Vergegenwärtigung der NS-Euthanasie in der Nachkriegszeit

55

Die jeweiligen Motive für eine Beschäftigung mit den NS-Krankenmorden können Roelcke zufolge daran erkannt werden, welche Funktion das entworfene Bild von der Vergangenheit114 für die Träger (Personen oder Gruppen), bzw. für deren Selbstverständnis erfüllt. Lag die Funktion des Isolationsparadigmas offenbar in einer Selbstentschuldung der unmittelbaren Nachkriegspsychiatrie, die sich vor einem Kollektivschuldvorwurf (und Ansehensverlust) schützen zu müssen glaubte, so bot die Vergangenheitsbewältigung mittels des Kontinuitätsparadigmas den Vertretern der sogenannten 68er-Generation zweierlei Rechtfertigungen: einerseits für die fundamentale Kritik an den katastrophalen Verhältnissen der deutschen Psychiatrie und andererseits für die allgemeine Kritik an den westlich-modernen, auf dem Kapitalismus basierenden Gesellschaften.115 In Bezug auf die neuere Forschung sind die Motive für die Beschäftigung mit der NS-Psychiatrie weniger klar. Stehen doch die (Medizin-)Historiker, trotz einer gewissen Inspiration durch die sozialen Bewegungen, der Psychiatrie identifikatorisch ferner, da sie sich immer seltener aus der praktischen Arbeit der psychiatrischen und pflegerischen Berufe rekrutieren; sie müssen weder Psychiater- noch Patientengruppen repräsentieren. Wie auch Peiffer beobachtete, haben sich die Motive zugunsten eines in erster Linie professionellen wissenschaftlichen Interesses zu verschieben begonnen. Politische oder auch emotionale Impulse der Beschäftigung mit der NS-Euthanasie schwächen sich ab. Eine mögliche Erklärung für den Paradigmawechsel seit Mitte der 1990erJahre könnte in der Lebenswelt der jüngsten Autoren selbst liegen, so Roelckes Hypothese: »They are […] part of the post-1989 cultures in which unforeseen reconfigurations of social arrangements result in new opportunities and risks for individual biographies, such that individual identities and strategies must be regularly and radically readapted to suit shifting challenges and opportunities. The image of the past emerging from this historiographic approach is one that takes into account long-term dispositions, but also points to the importance of local specificities, creative arrangements, and contingencies as well as the associated scope for individual behavior.«116

Im direkten Vergleich zum Fünf-Phasen-Entwurf von Jürgen Peiffer zeichnet sich das Paradigmen-Modell durch zwei Vorzüge aus. Erstens ist es kompatibel 113 Roelcke, Trauma or Responsibility?, S. 234 f. u. 237. 114 Feldman verwendet bezüglich der Motive die treffende, aber im Vergleich unbestimmtere Formulierung, Wissenschaft und Wirtschaft hätten sich nach 1945 als Teil ihrer »Rationalisierungs- und Verteidigungsstrategien« eine »sowohl nützliche als auch für die historischen Akteure und die Außenwelt brauchbare Vergangenheit« konstruiert. Vgl. Feldman, Historische Vergangenheitsbearbeitung, S. 4, 11 u. 14. 115 Roelcke, Trauma or Responsibility?, S. 236 f. 116 Roelcke, Trauma or Responsibility?, S. 237.

56

Forschungstand

mit der von Norbert Frei vorgeschlagenen Periodisierung. So entsprechen die drei Paradigmen zeitlich und inhaltlich durchaus den drei letzten Phasen der Vergangenheitspolitik, Vergangenheitsbewältigung und der Vergangenheitsbewahrung. Zweitens können mit den Paradigmen jene progressiven oder restaurativen Strömungen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft in ihrer Gleichzeitigkeit und Nachhaltigkeit bis in die jüngste Gegenwart empirisch und konzeptionell beschrieben werden. Denn die flexible Art der Differenzierung von Zeitabschnitten, die weniger auf eine strikte Phaseneinteilung als auf eine Pluralität und Gleichzeitigkeit von Geschichte(n) abhebt, schließt das Phänomen ein, dass beispielsweise einzelne, früher etablierte Personen oder Teilgruppen spezifische Geschichtsbilder bis in die Gegenwart hinein kolportieren können, obwohl eine Mehrheit der Gruppe diese Bewertungen ihrer älteren Vertreter nur bedingt oder nicht mehr teilt. Allerdings steht aus, die Umbrüche oder Kontinuitäten genauer in den Blick zu nehmen. Bevor dem auf der Basis der empirischen Befunde nachgegangen werden kann, sind forschungsleitend einige theoretische und methodische Überlegungen vor dem Hintergrund der aktuellen Erinnerungsforschung anzustellen.

3. Zur Theorie von Erinnerung und Vergessen

Haben die Opfer der nationalsozialistischen Euthanasie im »kollektiven Gedächtnis« der Deutschen keinen Platz? Dan Diner legte diese Deutung nahe117 und griff dazu auf Maurice Halbwachs’ Theorie der m¦moire colletive118 zurück. Er argumentierte, dass andere Opfergruppen, z. B. die jüdische Bevölkerung, im Vergleich nicht etwa mehr gelten würden. Das »kollektive Gedächtnis« sei aber Juden gegenüber aufgrund von deren Geschichte von längerer Dauer und von tieferer Wirkung: »Verbrechen, die anderen historischen Kollektiven zugefügt werden, erweisen sich – auch in ihrer Verkehrung als Verdrängung – bei weitem erinnerungsträchtiger als Untaten, die solche Personen erlitten haben, die ausschließlich ›sozialer‹ Gründe wegen stigmatisiert worden waren.«119

Anders als bei Juden und »Zigeunern« ließen sich zu den Euthanasie-Opfern keinerlei tradierbare Bezüge herstellen, zumal es sich um vereinzelte Menschen des eigenen »Kollektivs« gehandelt habe: »Das individuell erfahrene Schicksal, jedenfalls das generationell nicht übertragbare Leid, macht die Euthanasieopfer so zu vereinzelt Stigmatisierten.« Ein »kollektives Gedächtnis« der NS-Euthanasie-Opfer wäre historisch ebenso voraussetzungs- wie zukunftslos: »Insofern stößt ihre erlittene Geschichte auch nicht auf einen historisch gewachsenen Resonanzboden kollektiven Gedächtnisses. Ihr Schicksal als solches ist zwar mit Empathie beschreibbar – nicht aber durch kollektives Gedächtnis tradierbar.«120

117 Dan Diner, Kreisläufe. Nationalsozialismus und Geschichte, Berlin 1995, S. 62. Ich danke Dr. Christian Schölzel, der mich ganz zu Beginn meiner Untersuchung auf den konkreten Bezug in der Arbeit von D. Diner hinwies. 118 Maurice Halbwachs, Les cadres sociaux de la m¦moire, Paris 1925; Maurice Halbwachs, La m¦moire collective, Paris 1950. Die Deportation im August 1944 nach Buchenwald und die Lagerverhältnisse überlebte Halbwachs nicht. Er starb dort am 16. 3. 1945. 119 Diner, Kreisläufe, S. 62. 120 Ebd.

58

Zur Theorie von Erinnerung und Vergessen

Die Geschichte der Stigmatisierungen psychisch Kranker und geistig Behinderter ist weit älter als die NS-Euthanasie. Diese längere Vorgeschichte ist sowohl im Rahmen einer Ideen- und Diskursgeschichte der Euthanasie seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert als auch der Psychiatriegeschichte rekonstruiert worden.121 Der Blick zurück in die Verhältnisse deutscher psychiatrischer Einrichtungen in der zweiten Hälfte des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zeigt zwar die anhaltende gesellschaftliche Ausgrenzung, Einhegung und Segregation psychisch kranker und behinderter Menschen. Deutlich werden aber auch die Reformschübe innerhalb der Psychiatrie sowie die breiteren gesellschaftlichen Debatten beispielsweise um die Irrenfürsorge oder die sogenannte »Antipsychiatrie«-Bewegung, die genau besehen ebenfalls eine Reforminitiative war.122 Diners vor bald 20 Jahren noch durchaus plausibel erscheinende These ist durch aktuell beobachtbare, verschiedenartige erinnerungskulturelle Ausformungen zur Integration des Gedenkens an die Opfer der NS-Euthanasie in das »kollektive Gedächtnis« zunehmend infrage gestellt. So erleben speziell die NSEuthanasie-Gedenkstätten in den letzten Jahren einen erheblichen Zulauf an Besuchern, der die Einrichtungen bisweilen ihre Kapazitätsgrenzen erreichen lässt. Diese Beobachtung schließt auch das Phänomen einer veränderten Haltung betroffener Angehöriger ein. Insbesondere die Mitglieder der zweiten und dritten Nachfolgegeneration empfinden die innerfamiliären Tabus und Ängste vor anhaltender Stigmatisierung zunehmend als fragwürdig. Es sind diese Tabus, die den Hinweis darauf geben, dass es sich bei den Opfern nicht nur um vereinzelt stigmatisierte Menschen gehandelt haben könnte, sondern dass schon immer die Familien als Ganzes betroffen waren.123 121 Vgl. u. a.: Michael Schwartz, »Euthanasie«-Debatten in Deutschland (1895 – 1945), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 46 (1998) 4, S. 617 – 665; Gerrit Hohendorf, Ideengeschichte und Realgeschichte der nationalsozialistischen »Euthanasie« im Überblick, in: Petra Fuchs, Maike Rotzoll, Ulrich Müller, Paul Richter und Gerrit Hohendorf (Hg.), »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst«. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen »Euthanasie«, Göttingen 2007, S. 36 – 52; Rotzoll u. a. (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer. 122 Zu beiden Aspekten u. a. die neuere Arbeit von Cornelia Brink, Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860 – 1980, Göttingen 2010; Heiner Fangerau und Karen Nolte (Hg.), »Moderne« Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert. Legitimation und Kritik, Stuttgart 2006; Karen Nolte, Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900, Frankfurt / New York 2003; Engstrom / Roelcke (Hg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert; Martin Dinges (Hg.), Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reiche (ca. 1870 – ca. 1933), Stuttgart 1996. 123 Vgl. z. B. Sascha Topp und Jan Lekschas, Ilsze Lekschas »Aber ich habe Kirchenlieder gesungen und gelacht.«, in: Jüdisches Museum Berlin (Hg.), Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus, Berlin 2009, S. 66 – 71. Vgl. auch die Internetseite einer Angehörigen, die in den letzten Jahren zur engagierten Akteurin für ein lebendiges Gedenken an die Euthanasie-Opfer der Aktion T4 wurde. http://www.sigrid-falkenstein.de (29. 1. 2013). Zur

Zur Theorie von Erinnerung und Vergessen

59

In theoretischer Hinsicht ist Diners Erklärungsansatz allerdings als Ausgangspunkt für weiterführende Überlegungen geeignet, insbesondere um sich an Erinnerungsprozesse in verschiedenen Medizinergruppen nach 1945 anzunähern. Diner markiert den Neubeginn in der möglichen Anwendung von Theorien, die interdependente Phänomene der Erinnerung, des Vergessens und der Gruppenidentitäten zu vereinen suchen. Sie könnten dazu beitragen, den Wandel im Umgang der deutsch-deutschen Nachkriegsgesellschaften mit der Masseneuthanasie im Nationalsozialismus beschreiben und besser verstehen zu können. Ein »kollektives« Gedächtnis, sofern es Derartiges gibt, scheint »kollektives« Bewusstsein der Art vorauszusetzen, dass die sich zu einer Gruppe zugehörig fühlenden Personen die Vorstellung einer gemeinsamen Identität teilen und diese über längere Zeiträume mit gestalten. Demnach scheint »kollektive« Erinnerung ohne eine Gruppenidentität nicht entstehen bzw. bestehen zu können. Wie »kollektive« Identitäten und damit verbundene »kollektive« Gedächtnisse gesellschaftlicher Teilgruppen wie z. B. der deutschen Ärzteschaft und darunter einer medizinischen Disziplin (Pädiatrie, Psychiatrie etc.) theoretisch zu fassen sind, ob und wie sie empirisch nachweisbar das Verhalten der Gruppenmitglieder beeinflussen, ist für die vorliegende Untersuchung von Interesse. Um nicht nur eine Kette individueller Repräsentationsformen zu rekonstruieren und damit die besondere Dynamik zwischenmenschlicher Aushandlungsprozesse über die Bedeutung von Vergangenheit zu vernachlässigen, ist es sinnvoll, sich gruppenspezifischen Praktiken der Tabuisierung, situativer Aneignung von Vergangenheitsinhalten bzw. selektiven Argumentationen mit der Geschichte, aber auch Formen gezielter Aufarbeitung und des Gedenkens in ihren zeitgebundenen Ausprägungen und Veränderungen mithilfe einer Konzeption überindividueller Gedächtnisformen analytisch zu nähern. Doch wie lässt sich dies für die vorliegende Untersuchung nutzbar machen? Ist unter dem »kollektiven Gedächtnis« z. B. der deutschen Pädiatrie einfach die Summe der Individualerinnerungen zu verstehen, oder ist es mehr als das? Und wäre unter einem jahre- oder jahrzehntelangen »kollektiven« Beschweigen nicht etwas anderes zu verstehen als die Summe der vorgeblichen oder realen Erinnerungslücken Einzelner? Was bedeutet »kollektives Gedächtnis«?

steigenden Zahl an privaten und wissenschaftlichen Anfragen an die NS-Euthanasie-Gedenkstätten sowie zum Umgang mit den betroffenen Angehörigen der nunmehr zweiten und dritten Generation siehe exemplarisch den Beitrag des Gedenkstättenleiters von Hadamar : Georg Lilienthal, Opfer und Angehörige im Kontakt mit dem Ort des Verbrechens – Ein Bericht aus der Gedenkstätte Hadamar, in: Westermann / Kühl / Ohnhäuser (Hg.), NS-»Euthanasie« und Erinnerung, S. 143 – 152.

60

Zur Theorie von Erinnerung und Vergessen

3.1. Erinnerung und Vergessen: »kollektives Gedächtnis«? Jan Assmann formulierte Anfang der 1990er-Jahre die These, »dass sich um den Begriff der Erinnerung ein neues Paradigma der Kulturwissenschaften aufbaut, das die verschiedenen kulturellen Phänomene und Felder Kunst und Literatur, Politik und Gesellschaft, Religion und Recht in neuen Zusammenhängen sehen lässt.«124 Seit mehr als 20 Jahren wird der Boom des Gedächtnisparadigmas im Allgemeinen und der Einfluss moderner Gedächtnistheorien auf die Geschichtswissenschaft im Besonderen immer deutlicher spürbar. Die zeitgeschichtlichen Hintergründe und Ursachen für dieses Phänomen sind vielfältig.125 Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und dem Zusammenbruch des Ostblocks entstand eine Vielzahl neuer Nationalstaaten, die ihre Identitäten seitdem über nationale und ethnische Gedächtnisse konstruierten. In der westlichen Welt entwickelten sich durch fortschreitende Migrationsprozesse viele Staaten zu Einwanderungsländern. Die dadurch entstandene »Multikulturalität« ging auch mit einem anwachsenden Erinnerungspluralismus und – gegenläufig bzw. komplementär – mit immer wiederkehrenden Forderungen nach einer »Leitkultur« einher.126 In Bezug auf den für die vorliegende Arbeit relevanten Kontext der allgemeinen Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus ist hier erneut mit Norbert Frei auf einen allgemeinen generationellen Aspekt von Erinnerungsprozessen hinzuweisen: das beobachtbare Ende der Zeitzeugenschaft des Holocausts.127 Mit dem Sterben der letzten Überlebenden geht die Erinnerung mehr und mehr in andere Modi über, seien es Formen wissenschaftlich-historischer Forschung oder aber Formen des mediengestützten kulturellen Gedächtnisses. Neben all diesen historischen Transformationsprozessen werden auch Veränderungen in der Medientechnologie als Ursache des Gedächtnisbooms benannt. Die Wirkungen neuer Formen von Massenmedien haben Einfluss auf die Art und das Ausmaß von Vergangenheitsrepräsentationen.128 Wissenschaftshistoriker erklären, unter Anwendung postmoderner Theoriebildung, die starke Fokussierung auf Gedächtnis und Erinnerung auch als Folge des Poststrukturalismus.129 124 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 11. 125 Hier und im Folgenden nach Astrid Erll, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart / Weimar 2005, S. 2 ff. 126 Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 3. 127 Norbert Frei, Abschied von der Zeitzeugenschaft. Der Nationalsozialismus und seine Erforschung auf dem Weg in die Geschichte, in: Frei, 1945 und wir, S. 56 – 77. 128 Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 3. 129 Ebd., S. 4.

Erinnerung und Vergessen: »kollektives Gedächtnis«?

61

Studien zur Geschichte der Erinnerung sind konzeptionell durch die Arbeiten von Aby Warburg (1866 – 1929), Maurice Halbwachs (1877 – 1945), Pierre Nora (*1931) sowie Jan (*1938) und Aleida Assmann (*1947) geprägt. Die Erfindung bzw. der Beginn der Theoriebildung des »kollektiven Gedächtnisses« lässt sich auf die 1920er-Jahre datieren. Sie wurde nicht zufällig parallel zur Entstehung des modernen Kulturverständnisses entwickelt. Dies ermöglichte, in kulturwissenschaftlichen Ansätzen Gedächtnis überhaupt als Ergebnis oder auch als Bestandteil kultureller Prozesse aufzufassen.130 Maurice Halbwachs’ Theorieentwurf der m¦moire collective und Aby Warburgs Arbeiten zum europäischen Bildgedächtnis legten die Grundsteine der Erforschung gruppenbezogener Erinnerungsprozesse und verwiesen dabei auf das, was später als die zwei Kulturen der Gedächtnisforschung bezeichnet wurde: »Gedächtnis als Kulturphänomen« und »Kultur als Gedächtnisphänomen«. »Gedächtnis als Kulturphänomen« beschreibt die soziokulturelle Prägung des Individualgedächtnisses. Gedächtnis ist in diesem Zusammenhang wörtlich gemeint und entspricht nach einer Differenzierung von Jeffrey Olick der collected memory, nach der sich der Einzelne in einem Prozess des Sammelns das soziokulturelle Umfeld aneignet. »Kultur als Gedächtnisphänomen«, eher metaphorisch zu verstehen, umfasst z. B. die organisierte Archivierung von Dokumenten, aber auch die Einrichtung von Gedenktagen. Der Begriff kann nach Olick als collective memory konzeptionalisiert werden. Unter ihn sind Symbole, Medien, soziale Interaktionen und Praktiken des gesellschaftlichen Bezugs auf die Vergangenheit zu fassen.131 Seit dem Ende der 1990er-Jahre wurden konsistente Modelle und Theorieentwürfe vorgelegt: Pierre Nora entwickelte am Beispiel der französischen Nationalgeschichte das Konzept der lieux de m¦moire.132 Aleida und Jan Assmann entwarfen ausgehend von Halbwachs ihre breit rezipierte und diskutierte Theorie des kulturellen Gedächtnisses (s. u.). Ausdruck der neuesten kulturwissenschaftlichen Beschäftigung mit Erinnerungsphänomenen ist der von 1997 bis 2008 an der Justus-Liebig-Universität Gießen bestehende Sonderforschungsbereich 434 »Erinnerungskulturen«, der dem tendenziell statischen und überhistorisch angelegten Universalmodell der Assmanns ein mehrdimensionales, kulturwissenschaftlich inspiriertes, analytisches Konzept gegenüberstellte. Dieser Forschungsentwicklung entsprechend werden im Folgenden die 130 Ebd., S. 9. 131 Vgl. Jeffrey K. Olick, Collective memory. The Two Cultures, in: Sociological Theory 17 (1999) 3, S. 333 – 348, hier: S. 338 – 345. 132 Vgl. die zwischen 1984 und 1992 entstandene Trilogie von: Pierre Nora (Hg.), mit einem Vorwort von Etienne FranÅois, Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005; Die ersten beiden Teile der Trilogie waren bereits 1990 auf Deutsch erschienen: Pierre Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990.

62

Zur Theorie von Erinnerung und Vergessen

beiden letzteren Konzepte unter Berücksichtigung ihrer historischen Ursprünge in den Arbeiten von Halbwachs eingehender behandelt, bevor allgemein nach den methodischen Herausforderungen durch vorliegende memory studies zu fragen ist.

3.1.1. Grenzen des Konzepts der mémoire collective (Maurice Halbwachs) In »Les cadres sociaux de la m¦moire« konzipierte Halbwachs das Gedächtnis neu, indem er die Bedeutung sozialer Beziehungen für die Erinnerung einbezog. Erinnerungen vollziehen sich in sozialen Kontexten und sind an Kommunikation der Gruppenmitglieder gebunden. Die cadres sociaux beschreiben dabei sowohl das soziale (und mediale) Umfeld als auch mentale Strukturen – Denkschemata. Individuelle Erinnerung, so Halbwachs, sei immer das Ergebnis ineinander verflochtener Denkweisen der Gruppenmitglieder : »Der einzelne ruft seine Erinnerungen mit Hilfe der Bezugsrahmen des sozialen Gedächtnisses herauf.«133 In diesem Sinne sind es auch erst die Schnittmengen aus der Zugehörigkeit zu verschiedenen sozialen Gruppen und deren Erinnerungen, welche die Unterschiede der Erinnerung von Individuen ausmachen. In der Bildsprache Halbwachs’ stellen die Individualgedächtnisse verschiedene Ausblickspunkte auf das »kollektive Gedächtnis« dar. Da sich das »m¦moire collective« in der Kommunikation konstituiert, bleibt es immer an die Gruppe als Trägerschaft gebunden. Löst sich die Gruppe auf, gehen auch die gemeinsamen Erinnerungsbestände in den Individualgedächtnissen verloren, die die Gruppenkohäsion sichern. Halbwachs erkannte also die identitätsbildende Funktion von gruppenbezogenen Gedächtnisprozessen. Demnach wird erinnert, was dem Selbstbild und den aktuellen Interessen der Gruppen entspricht.134 Damit sind implizit zwei zentrale Merkmale des »kollektiven Gedächtnisses« angesprochen: Durch den Gegenwartsbezug ist es erstens selektiv und zweitens konstruktiv, was allein aber keine klare Abgrenzung zu individuellen Erinnerungen begründen könnte. Die früheste Kritik an Halbwachs’ Theorieentwurf formulierte Marc Bloch: Demnach werden bei Halbwachs’ Beschreibung eines intergenerationellen Gedächtnisses und der kulturellen Überlieferung individualpsychologische Phänomene unzulässigerweise auf soziale Zusammenhänge übertragen.135 Die heutige Kritik zielt zusätzlich auf einen anderen problematischen Aspekt. Ab133 Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin / Neuwied 1985, S. 381. 134 Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 17. 135 Ebd., S. 14.

Erinnerung und Vergessen: »kollektives Gedächtnis«?

63

gesehen von der zu gering entwickelten begrifflichen Ausdifferenzierung und Konsistenz des Halbwachs-Konzeptes, das daher nicht als Basis eines kulturwissenschaftlichen Theorieentwurfs habe dienen können,136 wird vor allem seit den Holocaust-Erfahrungen auf die Beobachtung inkommunikabler Erinnerungen verwiesen, die sich intergenerationell tradieren können. Tatsächlich falsche und disfunktionale Erinnerungen kommen in Halbwachs’ Theorieentwurf noch nicht vor.137 Die Annahme, das »kollektive Gedächtnis« sei ausschließlich durch Kommunikation determiniert, ist widerlegbar. Nicht nur die intergenerationelle Familienforschung nach dem Holocaust138 konnte aufzeigen, mit welcher belastenden Wirkung sich negative, unausgesprochene Erinnerungen im privaten Raum tradieren können. Auch die Untersuchung nicht bewusst erlebter Vergangenheitspräsenz, sogenannter implicit memory, offenbarte jenseits der Familiengrenzen die Wirksamkeit von öffentlich nicht erinnerten Ereignissen, die dennoch Teil des kollektiven Gedächtnisses werden können.139 Insbesondere in Umbruchsituationen, wie z. B. nach dem Ende von Diktaturen, können sich Erinnerungsresiduen / Erinnerungsresistenzen entwickeln, die in Form von sogenannten Gegen-Gedächtnissen (M. Foucault) Teil des »kollektiven« Erinnerungsbestandes demokratischer Nachfolgegesellschaften sind. Ihnen ist zu eigen, dass sie in Spannung zu den normativen Vorgaben der offiziellen Erinnerungskultur stehen. Anhand von Claudia Althaus’ Untersuchung solcher Erinnerungsresiduen von Tätern des Nationalsozialismus zeigt sich, dass zwar die Offizial-Erinnerung immer den Referenzhorizont für die individuellen Erinnerungen liefert, dass aber letztlich der situative Rahmen (Strafverfahren, Interviews oder Familiengespräche) maßgeblichen Einfluss auf die Sagbarkeit des Vergangenen und auf die Strategie der Selbstdarstellung hat.140 Über Generationen hinweg ist zu beobachten, dass das in der Öffentlichkeit vermittelte Wissen über den Nationalsozialismus nicht zwangsläufig in das autobiographische Bewusstsein implementiert werden muss. Sie können entweder unverbunden oder spannungsgeladen innerhalb ein und derselben Person nebeneinander existieren, wie Althaus anhand eines eindrücklichen Beispiels dokumentiert:

136 Ebd., S. 17. 137 Vgl. Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 131. 138 Vgl. z. B. Dan Bar-On, Die Last des Schweigens. Gespräche mit den Kindern von NaziTätern, Frankfurt am Main 1993. 139 Claudia Althaus, Geschichte, Erinnerung und Person. Zum Wechselverhältnis von Erinnerungskultur und Offizialkultur, in: Günter Oesterle (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen 2005, S. 589 – 609, hier : S. 590. 140 Althaus, Geschichte, S. 605 ff.

64

Zur Theorie von Erinnerung und Vergessen

»Es ist mir […] nicht möglich, meine Erinnerung mit Hilfe eines inzwischen erworbenen Wissens zu belehren. […] Das erworbene Wissen über die mordende Diktatur ist eins, meine Erinnerung ist ein anderes.«141

Wie und unter welchen Umständen derartige Gegen-Gedächtnisse auf die Offizialerinnerung rückwirken, bleibt für Althaus eine noch unbeantwortete Frage. Ergänzend wäre zu untersuchen, welche nachweisbare Wirkung konkret von den Überlebenden und Betroffenen des Holocaust ausging, mussten sie doch die eigenen Erfahrungen gegen dominierende Erinnerungskulturen in beiden deutschen Gesellschaften – zum Teil bis heute – anerinnern.

3.1.2. Kulturelles Gedächtnis und Erinnerungsräume (Jan und Aleida Assmann) Jan und Aleida Assmann legten als erste einen Theorieentwurf vor, der auf den Zusammenhang von kultureller Erinnerung, kollektiver Identitätsbildung und (politischer) Legitimierung abhob. In einer geradezu klassischen Unterscheidung setzten sie konzeptionell das kommunikative Gedächtnis (in Anlehnung an Lutz Niethammer) von einem kulturellen Gedächtnis ab: Das Konzept des kulturellen Gedächtnisses umschreibt alle alltagsfernen, langfristigen Bemühungen einer Gruppe, die Erinnerung an bedeutsame Ereignisse institutionell bzw. kultiviert wachzuhalten. Die Gruppe tradiert ihr »kollektiv« geteiltes Wissen über die Vergangenheit, auf das sie ihre Identität stützt und durch das sie sich gegenüber anderen Gruppen abzugrenzen versucht. Sie stabilisiert dadurch ihr Selbstbild. Über die bei Halbwachs bereits angedachten Merkmale von Identitätsbildung, Gegenwartsbezogenheit und Konstruktivität hinaus wird kulturelles Gedächtnis durch seine festen Ausdrucksformen und Medien, durch seine Institutionalisierung und die Spezialisierung seiner Trägerschaft sowie durch eine gewisse Verbindlichkeit und Reflexivität gekennzeichnet. Demgegenüber ist das alltagsnahe, informelle, ausschließlich auf dem verbalen Austausch beruhende kommunikative Gedächtnis an die ge141 Martin Walser, Über Deutschland reden. Ein Bericht, in: ders., Werke, Band 11: Ansichten, Einsichten. Aufsätze zur Zeitgeschichte, Frankfurt am Main 1997, S. 896 – 915, hier : S. 896, zit. nach Althaus, Geschichte, S. 590. Dieses Phänomen bestätigen auch die Oral-HistoryStudien Harald Welzers zur kommunikativen Tradierung im deutschen Familiengedächtnis. Sie bieten Hinweise zur Weitergabe von Wissen über die Vergangenheit zwischen den Generationen. Einige der Studienergebnisse erreichen sogar Erklärungskraft, die weit über den familiären Rahmen hinaus Aussagen zur Tradierung und Erinnerung in gesellschaftlichen Gruppen erlaubt. Vgl. Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall, »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002.

Erinnerung und Vergessen: »kollektives Gedächtnis«?

65

meinsame Erfahrung von etwa drei bis vier Generationen gebunden (ca. 80 – 100 Jahre). Es ist durch ein ständiges Spannungsfeld der Vergegenwärtigung von Vergangenem durch Individuen und Gruppen geprägt. Aber auch die Beziehung zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis ist umso spannungsgeladener, desto mehr familiäre und öffentlich vermittelte Geschichtsbilder weitgehend autonom koexistieren.142 Zur Veranschaulichung der Theorie des kulturellen Gedächtnisses hat Aleida Assmann eine weitere Leitdifferenz vorgeschlagen: Funktionsgedächtnis – Speichergedächtnis. Erstens versucht sie damit dem prozessualen Charakter von Erinnerung gerecht zu werden. Zweitens ist ihr daran gelegen, die in den Arbeiten von Friedrich Nietzsche,143 Maurice Halbwachs und Pierre Nora angelegte Polarisierung von Geschichte (Geschichtswissenschaft) und (»kollektivem«) Gedächtnis144 aufzulösen und beide im Sinne zweier komplementärer Modi konzeptionell wieder aufeinander zu beziehen. Mit ihrer Unterscheidung zwischen einem Funktionsgedächtnis (»bewohntes Gedächtnis«) und dem Speichergedächtnis (»unbewohntes Gedächtnis«) trägt sie der Beobachtung Rechnung, dass Erinnern einem Auswahlprozess gleichkommt, der nicht ohne das Vergessen möglich wäre. Dieser Befund gilt sowohl für die Geschichte als auch für das Gedächtnis. Das Speichergedächtnis entspricht einem Gedächtnis zweiter Ordnung: einem Gedächtnis der Gedächtnisse, das an sich noch keinen Sinn hervorbringt. Es bildet den Hintergrund des »bewohnten Gedächtnisses« und stellt bedeutungsneutrale Elemente als Reservoire zukünftiger Funktionsgedächtnisse zur Verfügung.145 Diese passiven Elemente können durch neue Sinnstiftung aktiviert und in das Funktionsgedächtnis heraufgeholt werden. Letzteres erfüllt in der Situation des Abrufens die Funktion, zur Identitätsbildung von Gruppen beizutragen und die bestehende Gesellschaftsform zu legitimieren: »Seine wichtigsten Merkmale sind Grup-

142 Aleida Assmann und Jan Assmann, Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis, in: Klaus Merten u. a. (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaften, Opladen 1994, S. 114 – 140. Vgl. auch: Jan Assmann, Collective Memory and Cultural Identity, in: New German Critique 65 (1995), S. 125 – 133. 143 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, hg. v. und mit einem Nachwort von Michael Landmann, Zürich 1984. Die Schrift erschien 1874 als zweite der »Unzeitmäßigen Betrachtungen«. 144 Siehe den Abschnitt »Das Zeitalter des Gedenkens« in: Nora, Erinnerungsorte, S. 543 – 575. Vgl. auch: Nora, Zwischen Geschichte und Gedächtnis. 145 Assmann, Erinnerungsräume, S. 140. Jan Assmann unterscheidet analog zwischen zwei Modi: den potenziellen und den aktuellen kulturellen Erinnerungen. Repräsentationen der Vergangenheit werden mit ihrer Ablage in Archiven, Büchern oder Museen in einen Modus der Potenzialität versetzt. Wenn ihnen in sozialen / historischen Kontexten ein neuer Sinn zugewiesen wird, gehen sie in den Modus der Aktualität über. Vgl. Assmann, Collective Memory and Cultural Identity, S. 130.

66

Zur Theorie von Erinnerung und Vergessen

penbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung.«146 Die Transformation von Vergangenheitselementen wird damit als Prozess des Aktivierens (»Erinnern«), aber auch des Deaktivierens (»Vergessen«) beschreibbar, denn auch vormals bedeutungsgeladene Elemente können aus dem Funktionsgedächtnis entfallen und wieder im Speichergedächtnis abgelegt werden, wo sie für einen zukünftigen Zugriff bereitliegen. Erinnern als Transformationsprozess zu begreifen, ist nach Aleida Assmanns Verständnis auch entscheidend für die Qualität und den Wert der abgerufenen Information: »Das Erinnern […] geht stets von der Gegenwart aus, und damit kommt es unweigerlich zu einer Verschiebung, Verformung, Entstellung, Umwertung, Erinnerung des Erinnerten zum Zeitpunkt seiner Rückrufung.«147

Angesichts ihrer Beobachtungen schreibt sie dem »kollektiven« Gedächtnis »eine immanente Kraft, […] eine Energie mit eigener Gesetzlichkeit« zu: »Diese Energie kann die Möglichkeit des Rückrufs erschweren wie im Fall des Vergessens oder blockieren wie im Fall des Verdrängens, sie kann aber auch von einer Einsicht, vom Willen oder einer neuen Bedürfnislage gelenkt sein und zu einer Neubestimmung der Erinnerungen veranlassen.«148

Dass die Assmann’sche Theoretisierung wie bei Halbwachs (Kritik: M. Bloch) auf dem Prinzip der »Übertragung«, d. h. hier auf der konzeptionellen Anwendung individualpsychologischer Prozesse auf Gruppen gründe,149 ist nur ein Kritikpunkt. Darüber hinaus ließe sich einwenden, dass bereits im Moment des Aktivierens eines früheren Wissenselements andere, damit verbundene oder konkurrierende Vergangenheitsrepräsentationen möglicherweise gar nicht mit aktiviert werden oder sogar zurückgedrängt werden können. Dadurch dass Erinnerung selektiv vonstattengeht und durch gegenwärtige Bedürfnisse der betreffenden Gruppen gefiltert wird, wohnt ihr zugleich auch das Vergessen inne. Die wichtigsten Kategorien des Transformationsmodells drohen dadurch jedoch zu verschwimmen. Unbeantwortet bleibt die für die vorliegende Arbeit bedeutsame Frage, wodurch jene besondere Energie des Gedächtnisses in konkreten historischen Zusammenhängen und den spezifischen Erinnerungsphänomenen charakterisiert ist (z. B. in Bezug auf die Vergegenwärtigungen der NS-Euthanasie). Diese 146 147 148 149

Assmann, Erinnerungsräume, S. 134. Ebd., S. 29. Ebd. Dagegen wird angeführt, dass sich kollektive Gedächtnisphänomene letztlich nur durch Bilder, Übertragungen, d. h. Denkmodelle (begrifflich: Tropen – Metaphern und Metonymien) erfassen lassen, da es auf biologischer Grundlage ein überindividuelles, zentral gesteuertes Kollektivbewusstsein mit autonomer Erinnerung nicht gibt. Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 96.

Erinnerung und Vergessen: »kollektives Gedächtnis«?

67

energetischen Merkmale »kollektiven Gedächtnisses« können offenbar aus der theoretischen Reflexion a priori und vor allem universell nicht vorherbestimmt, sondern nur aus der empirisch-historischen Arbeit a posteriori eingegrenzt und dann plausibel abstrahiert werden. Die Vorstellung von der sogenannten Energie mit eigener Gesetzlichkeit suggeriert zudem ein der Erinnerung innewohnendes Programm, welches, legt man es als implizite Hypothese der historischen Analyse zugrunde, zu statischen oder deterministischen Interpretationen führen kann. Fraglich ist auch, ob das Modell von Transformationsprozessen zwischen Speicher- und Funktionsgedächtnis überhaupt geeignet ist, historischen Entwicklungen in ihrer Komplexität und ihren Kausalitäten gerecht zu werden.

3.1.3. Erinnerungskulturen – Der Gießener Sonderforschungsbereich Im Sinne einer »konsequenten Historisierung der Kategorie der historischen Erinnerung« sollte durch den Gießener Forschungsansatz die »Dynamik, Kreativität, Prozesshaftigkeit und vor allem die Pluralität der kulturellen Erinnerung in den Vordergrund« gerückt werden.150 Dazu wird von drei Modellebenen ausgegangen. Das Erinnerungsgeschehen, die erste Ebene, wird von den Erinnerungskulturen, der zweiten Ebene, eingerahmt. Die dritte Ebene der Rahmenbedingungen des Erinnerns umfasst die anderen beiden Ebenen. Auf der Ebene des konkreten Erinnerungsgeschehens lassen sich vier Spannungsfelder ausmachen, in denen Erinnerung beobachtbar ist: a) individuelle Erfahrung im Verhältnis zu fremder Erinnerung, b) ein Objekt der Vergangenheit (Objektivation) kann gegen die damit verbundene ursprüngliche Botschaft bzw. Intention sich angeeignet werden, c) in einem breiten Spektrum – von fiktiv bis wissenschaftlich-diskursiv – lassen sich verschiedene, zum Teil gegensätzliche Typen der Erinnerungsarbeit erkennen, und d) Erinnerung als Abruf und Neukonstitution von Wissen kann in Spannung zum diskursiv formierten Gedächtnis stehen.151 Auf einer zweiten Ebene kann demnach die Ausformung des konkreten Erinnerungsgeschehens in spezifischen Erinnerungskulturen betrachtet werden. Der Fokus wird nicht nur auf die verschiedenen beobachtbaren Erinnerungsgattungen (Bilder, Historienfilme, historische Romane, Historiographie) oder 150 Ebd., S. 34. Im Folgenden nach ebd. Aus dem an der Justus-Liebig-Universität Gießen implementierten SFB 434 »Erinnerungskulturen« ist eine Fülle an Publikationen vorgelegt worden. Vgl. Sonderforschungsbereich 434 Erinnerungskulturen, Dokumentation des Abschlusskolloquiums. Übersichten und Listen, 1997 – 2008, Justus-Liebig-Universität Gießen, Stand: 31. Dezember 2008; sowie: http://www.uni-giessen.de/erinnerungs kulturen/home/index.html (28. 1. 2013). 151 Erll, Kollektives Gedächtnis, S. 35 f. mit Matrixdarstellung der drei Untersuchungsebenen.

68

Zur Theorie von Erinnerung und Vergessen

Erinnerungstechniken (Medientechnologien, Kommunikationsformen) gelegt. Es werden vor allem Erinnerungsinteressen verschiedener Gruppen und das Ringen um eine Erinnerungshoheit analytisch unterschieden.152 Auf der dritten, noch umfassenderen Ebene wird mit vier Modellelementen versucht, die spezifischen Rahmenbedingungen des Erinnerns einzufangen. Wirksam sind die jeweilige Gesellschaftsform (z. B. Adelsgesellschaft, Diktatur, Demokratie) und Wissensordnung einer Epoche. Darüber hinaus wird das spezifische Zeitbewusstsein (z. B. die »Adenauer-Ära« mit ihrer ausgeprägten Zukunftsorientierung in der Wiederaufbauphase) reflektiert, das durch die Geschwindigkeit, den Umfang und die Art des historischen Wandels geprägt wird und sich im Wandel von Erinnerungskulturen zeigt. Und schließlich wird davon ausgegangen, dass gesellschaftliche Umbruchsituationen zu Krisen überkommener Erklärungs- und Interpretationsmuster führen können. Derartige Herausforderungslagen stellen sich beispielsweise am Übergang von Diktaturen zu demokratischen Gesellschaftssystemen ein.153

3.2. Methodische Kritik an memory studies und mögliche Erkenntnisse (Alon Confino und Wulf Kansteiner) Mit Beginn der Welle historischer Studien zur Erinnerung erhoben sich auch kritische Stimmen, die grundsätzliche Fragen zur Art des Herangehens an den Untersuchungsgegenstand »kollektives Gedächtnis« aufwarfen. Zwei dieser Arbeiten, nämlich die von Alon Confino (Zeithistoriker am Corcoran Department of History der University of Virginia) und Wulf Kansteiner (Kultur- und Medienhistoriker am Departement of History an der Binghampton State University of New York), werden hier vorgestellt und in Bezug zum Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit gesetzt.154 Confinos Kritik richtet sich auf den seiner Ansicht nach vorhersehbar begrenzten Erkenntnisgewinn bereits vorliegender Studien, der teils infolge fehlender theoretischer Reflexion, teils infolge gravierender methodischer Schwächen zustande gekommen und vermeidbar gewesen sei. Dabei seien derartige Probleme keineswegs spezifisch für Erinnerungsstudien, wie er mit einem Blick 152 Ebd., S. 35. 153 Ebd., S. 34. 154 Alon Confino, Collective Memory and Cultural History : Problems of Method, in: The American Historical Review 102 (1997), S. 1386 – 1403; Wulf Kansteiner, Finding Meaning in Memory. A Methodological Critique of Collective Memory Studies, in: History and Theory 41 (2002), S. 179 – 197. Ich verdanke den wertvollen Hinweis auf die Arbeiten dieser beiden Autoren Etienne Lepicard, der mich im Rahmen eines gemeinsamen Workshops in Ein Kerem, Jerusalem im Januar 2007, darauf aufmerksam machte.

Methodische Kritik an memory studies und mögliche Erkenntnisse

69

in die Geschichte der Historiographie (Mentalitätsgeschichte, Sozialgeschichte, Politikgeschichte, Kulturgeschichte, Erinnerungsgeschichte) zu belegen versucht. Zwei zentrale Erkenntnisbereiche lassen sich aus der Analyse Confinos für die vorliegende Arbeit identifizieren. Sie beziehen sich im Kern 1.) auf die zugrunde gelegten Prämissen der empirischen Forschung und 2.) die Art der historischen Beweisführung. Nach Confino ist Erinnerung als Objekt kulturgeschichtlicher Forschung nur dann gewinnbringend, wenn sie mit historischen Frage- und Problemstellungen verbunden wird. Erinnerung dient als analytisches Instrument, um vergangene gesellschaftliche Zusammenhänge aufzudecken. So können Erinnerung und deren Repräsentation ähnlich einem Kunstwerk oder einem Bild nicht für sich sprechen, sie haben per se zunächst noch keine Erklärungskraft. Sie bedürfen der Wahrnehmung, der Interpretation, d. h. eines gesellschaftlichen Vermittlungsprozesses,155 den es mit zu erfassen gilt. Schon mit Blick auf die konzeptionelle Anlage von Erinnerungsstudien und deren forschungsleitenden Fragen ist zu berücksichtigen, dass sogar weniger von Bedeutung sein kann, wie die Vergangenheit vergegenwärtigt wird. Studien, die immer neue Objekte (Vergegenwärtigungen) ausfindig machen und quasi »kollektiv« auflisten, garantieren damit noch keinen Erkenntnisgewinn. Entscheidend sei vielmehr die Rekonstruktion unter der forschungsleitenden Frage, warum eine bestimmte Vergangenheit wachgerufen wurde oder nicht: »For every society sets up images of the past. Yet to make a difference in a society, it is not enough for a certain past to be selected. It must steer emotions, motivate people to act, be received; in short, it must become a socio-cultural mode of action.«156

Confino begreift Erinnerung als Ergebnis der Beziehung einer bestimmten Vergegenwärtigung zu dem vollständigen Spektrum an symbolischen Repräsentationen, die in einer Kultur zur Verfügung stehen.157 Wie bereits Aby Warburg in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in seinen Arbeiten zum europäischen Bildgedächtnis postulierte – auf die sich Confino hier konzeptionell bezieht –, hat sich die kulturgeschichtliche Forschung einer besonderen analytischen und darstellerischen Herausforderung zu stellen: Das Ausbalancieren der vielfältigen Vergegenwärtigungen der Vergangenheit einerseits und der spezifischen Beziehung dieser Vergegenwärtigungen zu der sie umgebenden Kultur andererseits.158 Dieses Verständnis generiert für die vorliegende Untersuchung mehrere entscheidende Implikationen: 155 156 157 158

Confino, Collective Memory, S. 1391. Ebd., S. 1390. Ebd., S. 1391. Ebd.

70

Zur Theorie von Erinnerung und Vergessen

1. Eine Erinnerung kann nicht isoliert von anderen Erinnerungen untersucht werden, mit denen sie in einer Gesellschaft interagiert (z. B. Umgang mit ehemaligen Mitgliedern nationalsozialistischer Organisationen bzw. mit Mitwissern oder gar Tätern von NS-Verbrechen; oder : Erinnerung an die NSEuthanasie, Zwangssterilisation, Holocaust und Nationalsozialismus). 2. Erinnerung kann nicht getrennt von den gesellschaftlichen Einflüssen / Kontexten betrachtet werden (z. B. Demokratisierungsprozesse oder Generationenabfolge). 3. Erinnerung und deren Repräsentation können nicht vom Gesamtspektrum an möglichen symbolischen Handlungen isoliert werden159 (z. B. staatliche Erinnerungspolitik der DDR mit einem Hegemonialanspruch des »antifaschistischen Widerstands« als erinnerungskultureller Rahmen der Vergegenwärtigungsformen zur NS-Euthanasie). Anhand einzelner von Confino kritisch gewürdigter Erinnerungsstudien160 lässt sich die Liste erweitern: 4. Als nachteilig erweist sich die in einer Arbeit vollzogene getrennte Untersuchung der Entwicklungsgeschichte von Erinnerungen (evolution) und ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung und Interpretation (reception). Wird diese künstliche Gegenüberstellung vorgenommen (z. B. durch unverbundene Darstellung von historiographischen Aufarbeitungsprojekten, Erinnerungspraktiken, medialen Schlüsselereignissen, TV-Einschaltquoten oder Verkaufszahlen von Büchern) bleiben potenzielle Erkenntnisse über die Rückwirkung zeitgleicher Rezeptionsprozesse auf den Entwicklungsprozess von kollektiver Erinnerung aus. Anders formuliert: Die Rezeptionsgeschichte ist Teil der evolution einer Erinnerung, wenn nicht sogar die eigentliche evolution selbst. 5. Auch eine in manchen Studien gewählte Fokussierung des Quellenstudiums auf die – allzu – sichtbaren Vergegenwärtigungszeichen (z. B. offizielle Abhaltung von Gedenkritualen) birgt die Gefahr in sich, die Pluralität von Erinnerungen und die ihnen innewohnenden Stratifikationen und Spannungsfelder ihrer Trägergruppen auszublenden.161 Es bedarf folglich in der Analyse und Darstellung einer Reflexion darüber, wessen Erinnerungsgeschichte eigentlich rekonstruiert wird und welche Einschränkungen des

159 Ebd. 160 Henry Rousso, The Vichy Syndrome: History and Memory in France since 1944, Cambridge, Mass. 1991; Yael Zerubavel, Recovered Roots. Collective Memory and the Making of Israeli National Tradition, Chicago 1995; sowie: John Bodnar, Remaking America. Public Memory, Commemoration, and Patriotism in the Twentieth Century, Princeton, N.J. 1992. 161 Confino, Collective Memory, S. 1396.

Methodische Kritik an memory studies und mögliche Erkenntnisse

71

perspektivischen Spektrums an Vergegenwärtigungen damit vorgenommen werden. 6. Werden kulturelle Wandlungsprozesse in erster Linie als Ergebnis vorangegangener Umbrüche im sozialen Beziehungsgefüge verstanden, oder werden Erinnerungskonflikte ungeprüft als Folge zuvor entstandener politischer Differenzen hingestellt, wird als per Prämisse gegeben vorausgesetzt, was das Quellenstudium eigentlich erst zu verifizieren oder falsifizieren hätte. Interpretative Zirkelschlüsse in der historischen Bewertung sind laut Confino die Folge.162 Wenngleich beobachtbare Streitigkeiten über die Bedeutung einer Vergangenheit in einem anhaltenden Dissens verharren oder auch in einen Konsens münden können und sich damit eine (erinnerungs-)politische Interpretation nahezu aufdrängt: Auf diesem Weg können der historischen Deutung nicht nur soziale und kulturelle Aspekte entgehen, auch die Rückwirkung von Erinnerung auf politische und soziale Strukturen wird nicht erfasst. Mit den Worten Confinos: »Memory thus becomes a prisoner of political reductionism and functionalism.«163 Wulf Kansteiner warnt in ähnlicher Weise vor einem reduktionistischen Trend in der aktuellen Erinnerungsforschung und beklagt zudem die häufig fehlende analytische Trennschärfe zwischen Individualgedächtnis (collected memory, s. o.) und sozialem Gedächtnis (collective memory, s. o.), wie sie sich an einer Reihe neuerer Arbeiten zu »kollektiven Traumata« abzeichne.164 Kansteiner formuliert: »[…] [T]he nature and dynamics of collective memories are frequently misrepresented through facile use of psychoanalytical and psychological methods.«165 Dies habe zu einem ästhetisierenden, moralisch und politisch unpräzisen Konzept des »kulturellen Traumas« geführt und verhindere mögliche Einsichten über die sozialen und kulturellen Rückwirkungen historischer Traumata.166 Kansteiner tritt mit Enthusiasmus für die Existenz des »kollektiven Ge162 163 164 165

Ebd., S. 1397. Ebd., S. 1395 u. 1393. Vgl. Kansteiner, Finding Meaning in Memory, S. 186. Ebd., S. 180. So bewertet er z. B. auch die ältere Arbeit von Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, München 1968, keineswegs moralisch, aber methodisch als problematische Vergangenheitsbewältigungsliteratur. Auch Habbo Knoch versucht mit der trivialfreudianischen Phrase der »kollektiven Verdrängung« aufzuräumen und charakterisiert die bundesrepublikanische Erinnerungskultur mit dem Terminus der indifferenten Entsetztheit. Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Photographien des Holocaust in der deutschen Erinnerung, Hamburg 2001. Angabe nach: Günter Oesterle, Einleitung, in: ders. (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen, S. 11. 166 Vgl. Wulf Kansteiner, Genealogy of a Category Mistake. A Critical Intellectual History of the Cultural Trauma Metaphor, in: Rethinking History, 8 (2004), S. 193 – 221, hier : S. 194.

72

Zur Theorie von Erinnerung und Vergessen

dächtnisses« ein. Für ihn ist der Begriff keineswegs nur als metaphorischer Ausdruck zu verstehen.167 Mit Rückgriff auf Halbwachs seien »kollektiv«168 geteilte Erinnerungen in der vergangenen und gegenwärtigen Wirklichkeit nachweisbar, da sie ihren Ursprung in Kommunikation zwischen Gruppenmitgliedern über die Bedeutung der Vergangenheit hätten. »Kollektive« Erinnerungen würden anderen Regeln folgen als individuelle Vergegenwärtigungen sowie spezifische Dynamiken entwickeln, wobei sie immer auf die Gesellschaft als Ganzes und auf deren Inventar an Zeichen und Symbolen bezogen seien: »Such collective memories exist on the level of families, professions, political generations, ethnic and regional groups, social classes, and nations. […] Methodologically speaking, memories are at their most collective when they transcend the time and space of the events’ original occurrence. As such, they take on a powerful life of their own, ›unencumbered‹ by actual individual memory, and become the basis of all collective remembering as disembodied, omnipresent, low-intensity memory.«169

Erstmals werden hier Berufsgruppen als mögliche Träger benannt. Bemerkenswert ist vor allem, dass sich Kansteiner – wie Aleida Assmann – an einer zentralen Stelle seiner Konzeptualisierung der Metapher energetischer Zustände als Merkmalsbestimmung bedient. Erinnerungen werden dabei von einem spezifischen Entwicklungsstadium her als am meisten »kollektiv« charakterisiert: Wenn sie bereits als allgegenwärtige, von individuellen Direkterfahrungen »unbelastete« und davon kaum noch aufgeladene Gruppenerinnerungen zu beobachten sind. An anderer Stelle formuliert Kansteiner seine Beobachtung entsprechend: »Concern with low-intensity collective memories shifts the focus from the politics of memory and its excess of scandal and intrigue to rituals and representations of the past that are produced and consumed routinely without causing much disagreement. Most groups settle temporarily on such collective memories and reproduce them for years and decades until they are questioned and perhaps overturned, often in the wake of generational turn-over.«170

Hier sticht trotz der plausiblen Schilderung eine konzeptionelle Lücke ins Auge. So ließe sich ebenso methodologisch fragen, ob denn alle gruppenbezogenen Repräsentationen der Vergangenheit, die noch die von Kansteiner benannten hoch intensiven Merkmale aufweisen (starke gruppeninterne Auseinandersetzungen, persönliche Befindlichkeiten durch direkte Betroffenheit der beteiligten Akteure), ebenfalls schon als »kollektiv« bezeichnet werden können, oder noch 167 Kansteiner, Finding Meaning in Memory, S. 185 f. u. S. 188. 168 Das Adjektiv »kollektiv« ist hierbei klar zu unterscheiden von der Begriffsverwendung in Sinnzusammenhängen sozialistischer Gesellschaftsentwürfe. 169 Ebd., S. 188 f. 170 Ebd., S. 189 f.

Methodische Kritik an memory studies und mögliche Erkenntnisse

73

nicht. Sind sie tatsächlich mehr oder weniger »kollektiv«, obwohl sie alle auf Kommunikation bzw. auf Aushandlungsprozessen beruhen? Die fließenden Übergänge werden von Kansteiner zwar angedacht und mit dem impliziten Bild einer fallenden (Diskurs-)Temperaturkurve umschrieben, aber nicht konsequent in das Konzept integriert. Allerdings wird eine für die vorliegende Untersuchung wichtige Verbindung zu Confinos Arbeiten deutlich. Es ist folgende, von Kansteiner entwickelte Formulierung zu Erinnerungsprozessen in Gruppen gemeint, die man auch als bottom-up-, bzw. in Anlehnung an Confino als (socio-cultural) mode of actionThese bezeichnen könnte: »The larger the collective in question the more important it is that its memory is reflected and reproduced on the level of families, professions, or in other locations where people form emotional attachments in their everyday lives.«171

Vielleicht bleibt gerade wegen Kansteiners Bemühungen um konzeptionelle Abgrenzung zwischen dem Individualgedächtnis und dem »kollektiven« Gedächtnis letztlich offen, wie deren Übergangsbereiche – über das Mittel »Kommunikation« hinaus – konkret zu fassen sind. Gerät aber so nicht die analytische Kategorie collective memory selber ins Wanken? Eine zweite Überschneidung zwischen Confino und Kansteiner führt diesbezüglich zu einer Klärung, aber auch zu einem weiteren Aspekt, der wert ist, problematisiert zu werden. Wie Confino bemängelt Kansteiner die häufige Unterbelichtung der Rezeptionsprozesse (hier z. B. Wirkung der Medialisierung auf die Vergangenheitsrepräsentationen in einer Gesellschaft) und plädiert, inspiriert durch die Medien- und Kommunikationswissenschaften, für eine eigenständige Konzeption des »kollektiven Gedächtnisses«, nämlich: als Ergebnis der Interaktion dreier historischer Einflussfaktoren: a) der intellektuellen und kulturellen Traditionen, die alle Repräsentationen der Vergangenheit einrahmen, (z. B. identifiziert als Diskursstrukturen, Denkmuster, sozialer Habitus, Paradigmen oder Traditionen), b) der Erinnerungsgestalter (memory maker), die selektiv und manipulativ diese Traditionen herausgreifen,172 und

171 Ebd., S. 189, Anm. 40. 172 In der angloamerikanischen Forschung hat sich auch der neue Begriff »memory agents« etabliert. Mit Lutz Kaelber wäre darunter Folgendes zu vestehen: »Die Rolle von memory agents liegt darin, vor Ort die Fundamente einer Gedenkkultur zu legen und weitere Personen und Gruppen für Gedenkaktivitäten zu gewinnen bzw. diesen bei der Annäherung an die geschichtlichen Ereignisse, hier der NS-Verbrechen […] zu helfen und diese dabei zu begleiten.« Zit. nach: Kaelber, Gedenken an die NS-»Kindereuthanasie«-Verbrechen, S. 41.

74

Zur Theorie von Erinnerung und Vergessen

c) der Erinnerungskonsumenten (memory consumer), die derartige Artefakte benutzen, ignorieren oder in andersartige, den eigenen Interessen eher entsprechende Artefakte transformieren.173 Dabei müssen, so Confino, bisherige Ansätze, die jeweils die Bedeutung der memory maker, der memory consumer oder aber die der cultural formations stärker hervorheben, einander nicht ausschließen.174 Er ermuntert folglich dazu, die drei Komponenten sinnvollerweise in einer integrierten Analyse aufeinander zu beziehen. So ließe sich zumindest auch den Übergangsbereichen zwischen collected und collective memories nachspüren. Hinsichtlich des Untersuchungsgegenstands dieser Arbeit wäre entsprechend zu beobachten, in welchem Verhältnis zueinander, d. h. mit welcher wechselseitigen Dynamik die Komponenten des vorgeschlagenen »hermeneutischen Dreiecks«175 in den jeweiligen Situationen zusammenspielen, und schließlich, inwiefern sie im Zeitverlauf die Entwicklungsgeschichte der Erinnerung an die NS-Euthanasie prägten. Fraglich ist bereits vorab, ob sich die Unterscheidung in maker-Gruppen und consumer-Gruppen grundsätzlich mit der Empirie vereinbaren lässt, da anzunehmen ist, dass historische Akteure beide Rollen in sich vereinen können. Dies dürfte auch unabhängig davon gelten, ob in der Untersuchung eine Mikro- oder Makro-Perspektive gewählt wird, in der entweder Individuen oder gesellschaftliche Gruppen als Akteure fokussiert werden. Als Zwischenreflexion der vorliegenden Konzepte lässt sich festhalten, dass zu untersuchen ist, wie Gruppen- und Individualrepräsentationen der Vergangenheit miteinander interagieren und wie sie aufeinander einwirken, wenn es um das Aushandeln der jeweils gegenwärtigen Bedeutung der Vergangenheit geht. Beide unterliegen langfristig betrachtet Metamorphosen (ob nun durch strukturelle Faktoren wie den Generationswechsel oder andere gesellschaftliche Einflüsse). Treten sie spannungsgeladen in Beziehung zueinander, ist auch ein beiderseitiges Stimulieren anzunehmen. Möglicherweise könnte in dieser Wechseldynamik eine Katalysatorfunktion für den Wandel von »kollektiver« Erinnerung erkannt werden.

173 Ebd., S. 179 u. 196 f. 174 Ebd., S. 196. 175 Ebd., S. 197.

4. Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

4.1. Thematisierung der NS-Medizin in der Landesärztekammer Hessen (LÄK) 4.1.1. Ärzteopposition in der Bundesrepublik Die bundesdeutschen Ärztekammern wurden mit einer Kette von Neugründungen (1946 – 1962) nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Körperschaften des öffentlichen Rechts ins Leben gerufen.176 Sie sind als Selbstverwaltungsorgane der deutschen Ärzteschaft in den Städten und Ländern aufzufassen, die bis in die neueste Gegenwart mit einem breiten Spektrum an Tätigkeiten vorrangig die berufspolitischen Interessen der Ärzte vertreten.177 Die innere Struktur der Kammern gliedert sich in drei Organe: das Präsidium, die (kaufmännische und ärztliche) Geschäftsführung und die Delegiertenversammlung. Letztere stellt als Kammerparlament das Legislativorgan dar. Die Zahl und Art der in den Kammern vertretenen »Listen« variieren entsprechend den Interessenlagen der wahlberechtigten Ärzte in den Freien Städten und Bundesländern. In den 1970er-Jahren waren die Ärztekammern erstmals mit Gruppen jüngerer, politisierter Mitglieder konfrontiert, die eigene Listen für die Wahlen zu den Delegiertenversammlungen aufstellten. Auch wenn die Herkunft und Motive dieser jungen Mediziner überaus vielfältig sind,178 lassen sie sich in einen 176 Vgl. zur Frühphase der Kammerkonsolidierung in der unmittelbaren Nachkriegszeit: Thomas Gerst, Ärztliche Standesorganisationen und Standespolitik in Deutschland 1945 – 1955, Stuttgart 2004. 177 Im Inneren obliegt ihnen die Überprüfung der Berufsausübung der Ärzte in ihrem jeweiligen Hoheitsgebiet. Hinzu treten Förderungsmaßnahmen zur Qualitätssicherung, zur ärztlichen Fortbildung, die Abnahme von Facharztprüfungen sowie die Erstellung von Satzungen zur Festlegung der Berufsordnung und Weiterbildungsordnung. In Konfliktfällen zwischen Ärzten, aber auch zwischen Ärzten und ihren Patienten übernehmen die Ärztekammern die Vermittlerfunktion. 178 Siehe grundlegend dazu die Darstellung von Forsbach, Die 68er und die Medizin. Einen ersten Überblick über den Umgang mit der NS-Zeit in der Nachkriegsmedizin, der dann in

76

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

allgemeinen Zusammenhang mit den sozialen Bewegungen seit den 1960erJahren, im Besonderen mit der sogenannten Gesundheitsbewegung179 stellen. Ausgehend von den Studentenbewegungen an den Universitäten vertraten die sich der Gesundheitsbewegung zurechnenden Gruppen den Anspruch, »kritische Medizin« zu betreiben und das Gesundheitswesen der Bundesrepublik grundlegend zu reformieren.180 Als Hauptthemen benennt Hans-Ulrich Deppe (*1939), Frankfurter Medizinsoziologe und selber Vertreter der Gesundheitsbewegung, unter anderen: soziale Ungleichheit, kommerzielle Interessen im Gesundheitswesen, primäre Prävention, Warnung vor dem Atomkrieg, »Medizin und Faschismus«, demokratische Strukturveränderungen statt Privatisierung, Arzt-Patient-Beziehung sowie berufsständische oder gewerkschaftliche Solidarität.181 Seit den Anfängen der Gesundheitsbewegung zeichneten sich mehrere politisch linke Strömungen ab, die sich Mitte der 1970er-Jahre weiter ausdifferenzierten: Radikal- oder basisdemokratische, antiautoritäre, alternativ-ökologische, gewerkschaftlich, sozialistisch oder auch kommunistisch ausgerichtete Gruppen diskutierten über die Ziele und Mittel zur Umsetzung der gesellschaftlichen Reformbestrebungen. Dabei war keineswegs klar, ob ein Vordringen in die als traditionell konservativ eingeschätzten Ärztekammern überhaupt sinnvoll wäre. Einige befürchteten, mit der Integration in diese Institutionen könne das Protestpotenzial lahmgelegt werden.182 Laut Deppe spiegelte sich hierin noch die anfängliche Parlamentarismuskritik der Studentenbewegungen und der außerparlamentarischen Opposition wider. In der Gesundheitsbewegung habe sich aber mit der Zeit die Überzeugung durchgesetzt, dass inner- und außerparlamentarische Opposition nicht als einander ausschließend, sondern sogar als einander ergänzend verstanden werden können.183 Wie die weiteren Entwicklungen zeigen, gelang es, neben dem »Marsch durch die Institutionen«

179

180

181 182 183

das eben genannte Buch einging, gab der Autor mit seinem Beitrag von 2006: Forsbach, Medizin und Ethik. Zum Begriff und seinem programmatischen Anspruch, ausgehend von der damaligen Definition von »Gesundheit« durch die Weltgesundheitsorganisation (WHO), siehe: HansUlrich Deppe, Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar. Zur Kritik der Gesundheitspolitik, Frankfurt am Main 1987, S. 153. Im Jahr 1973 legten z. B. Vertreter verschiedener Heil- und Pflegeberufe, der Kommunen, der Gewerkschaften und der Studentenschaft einen gemeinsamen Forderungskatalog vor, den sie im Rahmen eines Kongresses in Marburg erarbeitet hatten. Vgl. Hans-Ulrich Deppe, Ärzte in der Gesundheitsbewegung, in: Winfried Beck, Hans-Ulrich Deppe, Renate Jäckle, Udo Schagen (Hg.), Ärzteopposition, Neckarsulm / München 1987, S. 29 – 50, hier: S. 34. Zum »Kongress Medizin und gesellschaftlicher Fortschritt in Marburg, 20.–21. 1. 1973, siehe: Deppe, Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar, S. 175 – 181. Ebd., S. 150 – 215. Hans-Ulrich Deppe, Winfried Beck, Renate Jäckle, Udo Schagen, Warum Kammeropposition?, in: Beck u. a. (Hg.), Ärzteopposition, S. 99 – 133, S. 99. Ebd., S. 100.

Thematisierung der NS-Medizin in der Landesärztekammer Hessen

77

(hier : Ärztekammern), mittels Vereins- und Öffentlichkeitsarbeit auf gesellschaftliche Veränderungen hinzuwirken. Dafür können folgende Beispiele angeführt werden: die Vorläufer der bundesdeutschen Sektionen der 1980 gegründeten IPPNW (International Physicians for the Prevention of Nuclear War),184 die gewerkschaftsnahe Arbeitsgemeinschaft unabhängiger Ärzte, oder auch der in Frankfurt am Main 1986 von Winfried Beck (*1943) gegründete Verein demokratischer Ärzte, später Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (VDÄÄ).185 Ein Blick auf die Wahlergebnisse der verschiedenen Ärztekammern zeigt, dass oppositionelle Ärztegruppen seit Mitte der 1970er-Jahre, mit zum Teil sie selbst überraschenden Mandatszahlen den Sprung in die Delegiertenversammlungen schafften. Bis Mitte der 1980er-Jahre waren in allen Ärztekammern oppositionelle Listen vertreten.186 Die prozentualen Stimmenanteile lagen nahezu überall im zweistelligen Bereich. In der Ärztekammer Berlin (West) konnten die oppositionellen Listen bei ihrer Einstiegswahl 1974 sogar nahezu 30 Prozent der Stimmen auf sich vereinen. Dieser Anteil stieg in den nachfolgenden zehn Jahren weiter an, bis die oppositionelle »Fraktion Gesundheit« 1986 sogar 48,4 Prozent der Stimmen erhielt. So war es möglich, den ersten aus der Gesundheitsbewegung hervorgehenden Präsidenten einer Ärztekammer zu stellen: Ellis Huber.187 Die bundesweit für die Kammerarbeit gesteckten Ziele umfassten den offenen Widerstand gegen eine allein die Privilegien des Berufstandes sichernde konservative Kammerpolitik, die Forderung nach einer Demokratisierung der Arbeitsverhältnisse im öffentlichen Gesundheitswesen, aber auch der Kammerorgane und schließlich die Neuausrichtung auf eine soziale Gesundheitspolitik, die eine patientenzentrierte Medizin ermöglichen sollte.188 Aus den Studentenbewegungen brachten diese medizinkritischen Gruppen die noch unbeantworteten Fragen nach der Vergangenheitsbewältigung mit und nutzten in den 1970er- und 1980er-Jahren in der Öffentlichkeit skandalisierte Fälle von gut integrierten NS-Tätern als Anlass, die noch immer ungebrochenen personellen und mentalen Kontinuitäten aus der Zeit des Nationalsozialismus anzuprangern. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sollte direkt als politisches Argument gegen die dominierende Standes- und Gesundheitspolitik der 184 Fritjof Winkelmann, Ärzte gegen Atomkrieg, in: Beck u. a. (Hg.), Ärzteopposition, S. 51 – 64. 185 Winfried Beck, Der Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte. Geschichte, Ziele, Perspektiven, in: Beck u. a. (Hg.), Ärzteopposition, S. 225 – 249. 186 Deppe, Ärzte in der Gesundheitsbewegung, S. 40 – 42. 187 Udo Schagen, Vom Kritiker zum Standesfunktionär?, in: Beck u. a. (Hg.), Ärzteopposition, S. 106 – 133, hier : S. 131. 188 Deppe, Ärzte in der Gesundheitsbewegung, S. 32.

78

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Ärztekammern eingesetzt werden. Zum ersten Mal geschah dies erfolgreich mit dem »Berliner Gesundheitstag« im Jahr 1980. Es handelte sich dabei um eine provokante, alternative Gegenveranstaltung zum 83. Deutschen Ärztetag, die von Vertretern aller Heil- und Pflegeberufe organisiert wurde. Zentrales Thema des 1. Gesundheitstags war : »Medizin im Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit – Ungebrochene Tradition?«.189 Eine zweite Thematisierung erfolgte 1988 durch die Berliner Ärztekammer. Anlässlich des 50. Jahrestages der Novemberpogrome verabschiedeten die Delegierten eine »Erklärung zur Schuld von Ärzten im Nationalsozialismus«. Damit erinnerte die Ärztekammer an die »Rolle der Ärzteschaft im Nationalsozialismus und an die unermeßlichen Leiden der Opfer. Als ärztliche Standesvertretung müssen wir uns mit der eigenen Vergangenheit und der schuldhaften Beteiligung von Ärzten an den nationalsozialistischen Verbrechen auseinandersetzen.«190

Konkret wurden die NS-Verfolgungsmaßnahmen gegen jüdische Ärzte bis hin zu deren Ermordung, die Zwangssterilisationen, die NS-Euthanasie und die Menschenversuche benannt. Zudem wurde eine Verbindung zwischen den NSKrankenmorden und dem Holocaust hergestellt. Bezüglich des ärztlichen Widerstands wurde erklärt, dass sich nur eine kleine Gruppe von Medizinern damals gegen diese Verbrechen gestellt hätte. Zeitgleich zum Abdruck der Erklärung im »Deutschen Ärzteblatt« empfahl ein vom Vorstand der Berliner Ärztekammer einberufener Arbeitskreis »Medizin im Nationalsozialismus«, eine Ausstellung zum bevorstehenden 92. Deutschen Ärztetag in Berlin vorzubereiten. Die von Götz Aly (Politologe / Historiker) und Christian Pross (Mediziner) konzipierte Ausstellung wurde 1990 im Rahmen der genannten Veranstaltung gezeigt. Der wissenschaftliche Begleitband enthält auch einen Abdruck der Erklärung von 1988.191

4.1.2. Ärzteopposition in der LÄK Hessen Die Ursprünge der Opposition in der Hessischen Ärztekammer lassen sich auf das Jahr 1975 datieren, als Mitglieder des Bundes gewerkschaftlicher Ärzte in der ÖTV gemeinsam ein Programm entwickelten, um bei der anstehenden Wahl der 189 Elisabeth Redler-Hasford und Renate Jäckle, Gesundheitsläden und Gesundheitstage. Versuch einer Bilanz nach neun Jahren, in: Beck u. a. (Hg.), Ärzteopposition, S. 81 – 98, hier : S. 90. 190 Erklärung der Ärztekammer Berlin zur Schuld von Ärzten im Nationalsozialismus, 9. 11. 1988, in: Deutsches Ärzteblatt 85 (1988) 48, C-2069. 191 Ärztekammer Berlin in Zusammenarbeit mit der Bundesärztekammer (Hg.), Redaktion: Christian Pross und Götz Aly, Der Wert des Menschen. Medizin in Deutschland 1918 – 1945, Berlin 1990.

Thematisierung der NS-Medizin in der Landesärztekammer Hessen

79

Delegiertenversammlung mit einer eigenen Liste anzutreten. Im Juni 1976 erhielt ihre Liste 10,6 Prozent der abgegebenen Stimmen und konnte somit 8 von den 80 Mandaten der Kammer stellen.192 Diese neue Kammerfraktion, »Liste 6: Demokratische Ärzte« (später : Demokratische Ärztinnen und Ärzte – DÄÄ), zog bundesweit als zweite Oppositionsgruppe in eine Kammer ein. In den darauf folgenden Wahlen von 1980 (12,6 %) und 1984 (16,7 %) konnte sie sich weiter stabilisieren.193 Der Beginn der Kammerarbeit war für die Liste 6 allerdings mit erheblichen Widerständen seitens der etablierten Vertretungen verbunden. Alle in den ersten Jahren eingebrachten Anträge wurden mehrheitlich abgelehnt, woraufhin die frustrierten Listenvertreter mit einem Artikel in der Frankfurter Rundschau im Jahr 1979 auf die Missstände hinwiesen.194 Das Präsidium versuchte zudem, mit Redezeitbegrenzungen und Verfahrenstricks die oppositionellen Listenvertreter auszubooten.195 Und bis zu einer Verfahrensänderung durch den Deutschen Ärztetag (1988) waren die Oppositionsvertreter bezüglich des Delegiertenmandats für den Deutschen Ärztetag entweder gar nicht oder nicht dem tatsächlichen Verhältnis der Kammermandate entsprechend vertreten. Zwar entstand innerhalb der Kammer mit der Zeit eine ausgewogenere Diskussionskultur, die Mitglieder der Liste 6 konnten jedoch bis zum Jahr 1992 nicht in die Machtzentren der Kammer vordringen: das Präsidium und den Finanzausschuss. Dort wurden aber die zentralen Entscheidungen der Kammer vorbereitet, um sie dann der Delegiertenversammlung zur Entscheidung vorzulegen.196 Diese grundsätzlich ausgrenzende Haltung des Präsidiums wurde erst mit der Präsidentschaft von Alfred Möhrle im Jahr 1992 vollständig aufgegeben.197

4.1.3. »Unmenschliche Medizin« in Vergangenheit und Gegenwart? Bad Nauheimer Seminar 1981 Im Frühjahr 1981 brachte die Liste 6 in der Delegiertenversammlung einen Dringlichkeitsantrag zur ärztlichen Fortbildung ein, der vermutlich im Zusammenhang mit dem 25-jährigen Gründungsjubiläum der LÄK Hessen 192 Ernst Girth, Die kritische Alternative zur konservativen Standespolitik: Die Liste demokratischer Ärzte in der Landesärztekammer Hessen, in: Beck u. a. (Hg.), Ärzteopposition, S. 134 – 151, hier : S. 134. 193 Deppe, Ärzte in der Gesundheitsbewegung, S. 40 f. 194 Ebd., S. 139. 195 Girth, Die kritische Alternative zur konservativen Standespolitik, S. 139 196 Vgl. Siegmund Drexler, Ärzte-Opposition – Die Liste Demokratischer Ärztinnen und Ärzte in der LÄKH, in: Landesärztekammer Hessen (Hg.), 50 Jahre Landesärztekammer Hessen. 1956 – 2006, Frankfurt am Main 2006, S. 133 – 136, hier: S. 134. 197 Drexler, Ärzte-Opposition, S. 134.

80

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

(Gründung: 1956) vorbereitet worden war. Demnach sollte das Parlament den Vorsitzenden der Akademie für ärztliche Fortbildung und Weiterbildung Hessen, Hermann Kerger, beauftragen, im Jahr 1982 einen Fortbildungskurs zum Thema »Medizin ohne Menschlichkeit 1933 – 1945« durchzuführen. Als Schirmherrn der Veranstaltung schlugen die Listenvertreter Alexander Mitscherlich (1908 – 1982) vor.198 Zur Begründung einer derartigen Veranstaltung hieß es in dem Antrag der Liste 6: »Die Verjährungsdebatte und die Fernsehserie Holocaust haben erneut erwiesen, daß eine wissenschaftliche Aufarbeitung der zeitgeschichtlichen Ereignisse von 1933 – 1945 in allen Lebens- und Arbeitsbereichen notwendig ist. Die Bundespräsidenten Heinemann, Scheel und Carstens haben entsprechende auffordernde Mahnungen an die Bürger der Bundesrepublik gerichtet. Auch in der ärztlichen Fortbildung hat dieses Thema einen bedeutsamen Platz. Für die Ärzteschaft gilt, daß ein fruchtbarer Dialog zwischen den Generationen dadurch erleichtert wird, daß die kritischen Fragen nach den Ereignissen, die die Medizin von 1933 – 1945 beeinflussten und prägten, die von vielen, die diese Zeit erlebten, insbesondere aber von der jüngeren Ärztegeneration gestellt werden, offen diskutiert werden.«199

Wie die Unterlagen des damaligen ärztlichen Geschäftsführers, Horst Joachim Rheindorf, dokumentieren, konnte sich das Präsidium einer Beschäftigung mit dem geforderten Seminar zwar nicht entziehen, jedoch dessen Gestaltung beeinflussen. Nachverhandlungen über den umstrittenen Veranstaltungsort und einzelne Antragsinhalte wurden laut Protokoll der Delegiertenversammlung vom 4. April 1981 einstimmig angenommen.200 Die Geschäftsführung und das Präsidium hatten vorgeschlagen, die Veranstaltung im Rahmen der »Bad Nauheimer Gespräche« stattfinden zu lassen. 198 Mitscherlich hatte 1946 von der Arbeitsgemeinschaft der Westdeutschen Ärztekammern (Vorläuferorganisation der Bundesärztekammer) den Auftrag erhalten, den Nürnberger Ärzteprozess zu beobachten und eine Dokumentation über die darin verhandelten Medizinverbrechen zu erstellen. Diese Dokumentation, deren Autoren zunächst in den 1950erJahren in der Ärzteschaft auf vehemente Abwehr gestoßen waren, hatte sich offenbar zu Beginn der 1980er-Jahre zu einer wichtigen Referenz aufarbeitungswilliger junger Mediziner entwickelt. Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Auftrags und der Dokumentation die entsprechenden Abschnitte in Gerst, Ärztliche Standesorganisationen, S. 104 u. 127 – 133; sowie: ders., Nürnberger Ärzteprozeß und ärztliche Standespolitik. Der Auftrag der Ärztekammern an Alexander Mitscherlich zur Beobachtung und Dokumentation des Prozeßverlaufs, in: Deutsches Ärzteblatt 91 (1994), A: 1606 – 1622. 199 Dringlichkeitsantrag der Liste Demokratischer Ärzte, o. Dat. (April? 1981), Archiv der Landesärztekammer Hessen, Unterlagen Horst Joachim Rheindorf, Ordner »Unmenschl. Medizin«. Unterzeichnet war der Antrag von den zehn Listenvertretern: Winfried Beck, Michael Begemann, Gabriele Claas, Hans-Ulrich Deppe, Ernst Girth, Rainer Härtel, Hans Mausbach, Bernhard Pfältzer, Manfred Thomas und Marianne Wedler. 200 Auszug aus dem Protokoll der Delegiertenversammlung vom 4. 4. 1981. Archiv der Landesärztekammer Hessen, Unterlagen Horst Joachim Rheindorf, Ordner »Unmenschl. Medizin«.

Thematisierung der NS-Medizin in der Landesärztekammer Hessen

81

Zur Vorbereitung des Seminars wurde seitens der Geschäftsführung ein aus sieben Personen bestehender Ausschuss einberufen, der die Inhalte der Tagung genauer abstecken sollte. Die Auswahl der Personen erfolgte schon in Ausrichtung auf die erinnerungspolitischen und medizinethischen Interessen des Präsidiums. Vertreter der Liste 6 wurden nicht einbezogen. Der Ausschuss setzte sich neben dem Präsidenten Wolfgang Bechtoldt und Rheindorf selbst aus folgenden Mitgliedern zusammen: – Wolfgang Furch, Beisitz des Präsidiums seit 1976 (Delegierter Liste 5: Marburger Bund – Verband der angestellten und verbeamteten Ärzte) – Hermann Kerger, Vorsitzender der Akademie für ärztliche Fortbildung Bad Nauheim – Curt Maria Genewein, Prälat, Domkapitular am Erzbischöflichen Ordinariat München – Hans-Günter Goslar, Professor für Anatomie, Meerbusch (Anatomisches Institut an der Universität Düsseldorf) – Gunter Mann, Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.201 Der Gynäkologe Furch, der sich seit dem Ende der 1970er-Jahre aus Perspektive eines christlich geprägten Arztes kritisch mit der Frage der Abtreibung beschäftigte, war für die Tagung in Bad Nauheim prädestiniert.202 Der Medizinhistoriker Gunter Mann erklärte sich im Zuge einer telefonischen Anfrage Rheindorfs sofort zur Teilnahme bereit, um »einseitigen Aktivitäten der ›Liste 6‹ entgegenzuwirken«.203 Den Anatomen Goslar warb Rheindorf mit dem Argument, »daß die Oppositionsliste […], angeführt von dem Medizinsoziologen Prof. Dr. Deppe (Marxist) und Prof. Dr. Mausbach (›Halbgott in Weiß‹), offensichtlich die Verbrechen im Dritten Reich, an denen zu unserem Leidwesen auch Mediziner beteiligt waren, erneut in die breite Öffentlichkeit tragen wollen. Die Beweggründe sind klar, die Zielrichtung ist auf eine weitere Diffamierung unseres Berufsstandes gerichtet.«204 201 Ausschussliste. Archiv der Landesärztekammer Hessen, Unterlagen Horst Joachim Rheindorf, Ordner »Unmenschl. Medizin«. 202 Zu Furchs kritischer Auseinandersetzung mit neuen Forderungen der Deutschen Gesellschaft für humanes Sterben nach einem Gesetz zur Regelung der aktiven Sterbehilfe und seiner Art der Argumentation mit der NS-Euthanasie vgl. Simon, Geschichte als Argument in der Medizinethik, S. 38 ff. Furch blieb in den 1980er- und 1990er-Jahren mit Redebeiträgen und eigenen Publikationen zu Fragen der Abtreibung und Euthanasie präsent. 203 Aktennotiz M. E. Küppers über den Anruf von Prof. Mann, 20. 8. 1981. Archiv der Landesärztekammer Hessen, Unterlagen Horst Joachim Rheindorf, Ordner »Unmenschl. Medizin«. 204 Rheindorf an Hans-Günter Goslar, 21. 9. 1981. Archiv der Landesärztekammer Hessen, Unterlagen Horst Rheindorf, Order: »Unmenschl. Medizin«. Der Vermerk zu Mausbach

82

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Folglich war Rheindorf erst in Reaktion auf die Aktivitäten der Liste 6 zu der Überlegung gekommen, das Thema Medizinverbrechen im Nationalsozialismus aufzugreifen und nun mit der Formulierung »wenn ich so sagen darf – aufzuarbeiten«205 für sich zu beanspruchen. Nach zwei vorbereitenden Sitzungen des einberufenen Ausschusses fand das Seminar am 12. Juni 1982 in Bad Nauheim unter der Moderation des Hauptgeschäftsführers der Bundesärztekammer, Johann Friedrich Volrad Deneke, statt. Die Vorträge und Diskussionsbeiträge wurden 1983 als vierter Band der Reihe »Bad Nauheimer Gespräche« der Landesärztekammer Hessen veröffentlicht.206 Die Tagung gliederte sich, entgegen dem ursprünglichen Antrag der Liste 6, in zwei thematische Schwerpunkte und die sich anschließende Diskussion: »Teil I: Geschichtliche Erfahrungen. Unmenschliche Medizin aus historischer Sicht«, »Teil II: Gegenwärtige Probleme und Ausblick auf die zukünftige Entwicklung. Unmenschliche Medizin aus juristischer, ethischer und medizinischer Sicht«.207 Der erste Teil umfasste zwei medizinhistorische Vorträge von Gunter Mann und Hans Schadewaldt (Institut für Geschichte der Medizin, Universität Düsseldorf) sowie einen Beitrag des Bundesgeneralanwalts a. D. Ludwig Martin (Karlsruhe). Nachdem Schadewaldt einen begriffsgeschichtlichen Überblick zur Unmenschlichkeit bzw. Humanität in der Menschheitsgeschichte seit der Spätantike geliefert hatte,208 steuerte Mann eine Kontextualisierung der NS-Medizinverbrechen bei. Ausgehend von der Darstellung der Ideen des Sozialdarwinismus thematisierte er die Rassenhygienebewegung in Deutschland und deren Institutionalisierung sowie die deutsche Sterilisationsdebatte, die 1933 im Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GVeN) mündete. Manns knapper Verweis auf die Euthanasie-Debatten nach dem Ersten Weltkrieg lässt auf eine inhaltliche Absprache mit seinem Nachredner schließen. Zentrale These seines ideengeschichtlichen Über-

205 206 207 208

bezog sich auf einen vom 1. Deutschen Fernsehen am 20. 9. 1970 ausgestrahlten Film mit dem Titel »Halbgott in Weiß«. Darin hatte sich Mausbach kritisch zur ausgeprägten Binnenhierarchie und den unsozialen Verhältnisses in der Medizin geäußert. Wohl auch unter Rheindorfs Beteiligung verlor Mausbach daraufhin seine Assistenzarztanstellung. Vgl. dazu: Hans Mausbach, Eine gescheiterte Disziplinierung, in: Das Argument 69, 13 (1971) 11/12, S. 971 – 1001; Forsbach, Die 68er und die Medizin, S. 62. Rheindorf an Hans-Günter Goslar, 21. 9. 1981. Archiv der Landesärztekammer Hessen, Unterlagen Horst Rheindorf, Order: »Unmenschl. Medizin«. Förderkreis Bad Nauheimer Gespräche, Frankfurt am Main (Hg.), Unmenschliche Medizin. Geschichtliche Erfahrungen, gegenwärtige Probleme und Ausblick auf die zukünftige Entwicklung. Seminar, Mainz 1983. Ebd., S. 3. Hans Schadewaldt, Zur Problematik der Unmenschlichkeiten in der Medizin aus historischer Sicht, in: Förderkreis Bad Nauheimer Gespräche, Frankfurt am Main (Hg.), Unmenschliche Medizin, S. 12 – 21.

Thematisierung der NS-Medizin in der Landesärztekammer Hessen

83

blicks war die einer Biologisierung der deutschen Gesellschaft, die schon vor 1933 eingesetzt habe und für die Mann den Terminus der »Sozialbiologie« wählte.209 Dem Generalbundesanwalt a. D. Ludwig Martin kam anschließend die Aufgabe zu, die Tagungsteilnehmer mit den Details der NS-Medizinverbrechen zu konfrontieren. Der Jurist bezog sich in seinen Ausführungen ausschließlich auf die 6. Auflage der Dokumentation von Mitscherlich und Mielke zum Nürnberger Ärzteprozess. Einerseits fand damit das Buch eine wiederholte Würdigung, was seinen zu diesem Zeitpunkt unbestrittenen Status als Standardliteratur über die NS-Medizinverbrechen belegt.210 Andererseits präsentierte Martin den Seminarteilnehmern einen 20 bzw. 35 Jahre alten Wissensstand über die Zwangssterilisation, Menschenversuche und NS-Euthanasie. Der Eindruck eines in seiner Haltung zur Thematik NS-Euthanasie gefestigten Juristen dürfte allerdings beim Publikum nicht entstanden sein. Denn während er die Masseneuthanasie an Erwachsenen eindeutig als Verbrechen bezeichnete, vertrat Martin in Bezug auf die NS-Kindereuthanasie die These, dass es sich möglicherweise doch um eine Erlösung gehandelt haben könnte. Nachdem er einmal in Kaufbeuren derartige Kinder persönlich gesehen habe, habe er diesen Gedanken gehabt. Aber »solchen Anwandlungen« könne »man nur auf dem Boden einer kompromißlosen christlichen Ethik widerstehen […]«.211 Martin unterstellte damit einen allgemeingültigen christlichen Wertehorizont. Dieser war zu Beginn der 1980er-Jahre schon angesichts der seit Längerem in der Öffentlichkeit, aber auch in der LÄK Hessen anhaltenden Debatte um die Indikationen für einen Schwangerschaftsabbruch (§ 218 StGB) deutlich infrage gestellt. Schließlich, und das zeigte sich am zweiten Teil der Veranstaltung, hatte sich die Kammerspitze den Dringlichkeitsantrag der Liste 6 insbesondere vor dem Hintergrund ihrer konservativen Position zum § 218 zu eigen gemacht. Die in den Vorbereitungsausschuss berufenen Mitglieder waren bemüht, die Tagung in diesem Sinne zu beeinflussen. Der Vortrag des Düsseldorfer Anatomen Goslar, der im Rahmen der Tagung erklärte, vor seinen Studenten Abtreibung als Mord zu bezeichnen, dokumentiert dies ebenso wie die sich im dritten Teil anschließende, von dem Marburger Psychiater Helmut Ehrhardt geleitete Diskussion. Wolfgang Furch, Mitglied des Vorbereitungsausschusses, mochte sich angeblich einer di209 Gunter Mann, Sozialbiologie auf dem Wege zur unmenschlichen Medizin des Dritten Reiches, in: Förderkreis Bad Nauheimer Gespräche, Frankfurt am Main (Hg.), Unmenschliche Medizin, S. 22 – 43. 210 Ob der Vorschlag der Liste 6, Mitscherlich als Schirmherrn der Tagung zu benennen, vonseiten des Präsidiums abgelehnt wurde, oder ob Mitscherlich, der im Jahr darauf in Frankfurt am Main verstarb (26. Juni 1982), selbst dazu nicht mehr in der Lage war, ließ sich nicht klären. 211 Ludwig Martin, Unmenschliche Medizin unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen aus der Zeit von 1933 – 1945, in: Förderkreis Bad Nauheimer Gespräche, Frankfurt am Main (Hg.), Unmenschliche Medizin, S. 44 – 61, hier : S. 54.

84

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

rekten Gleichsetzung von Abtreibung und NS-Euthanasie, wie sie in der Diskussion aufgekommen war, nicht anschließen, hob aber dennoch hervor: »Für die Opfer ist es gleich, für das Kind, das durch die Entscheidung seiner Mutter zu Tode kommt[,] und für diejenigen, die in den Gaskammern als Geisteskranke getötet worden sind, war das kein Unterschied. Wir müssen da exakt argumentieren.«212

Der Medizinhistoriker Mann pflichtete Furch bei. Die Zahlen der Schwangerschaftsabbrüche lägen sogar über den Opferzahlen von Sterilisation und Euthanasie im sogenannten »Dritten Reich« zusammen genommen.213 Während Abtreibungskritiker in dieser politisch aufgeladenen Diskussion Vergleiche zur NS-Vernichtungspolitik anstellten, betonte der Gießener Medizinstudent Matthias Hamann, der zur selben Zeit an einem Aufarbeitungsprojekt zur Medizin im Nationalsozialismus beteiligt war (s. u.), die Unterschiede von damaliger massenhafter Zwangspraxis auf der einen Seite und der freiwilligen Entscheidung der schwangeren Frau im Einzelfall auf der anderen Seite. Aus der Art der differenzierten Argumentation kann rückgeschlossen werden, dass Hamann hier mit Befürwortern einer Ausweitung der Zulässigkeitsregeln des Schwangerschaftsabbruchs aus sozialer oder medizinischer, nicht aber aus eugenischer Indikation sympathisierte. Ebenso ging es Hans Mausbach, der als Mitunterzeichner des Dringlichkeitsantrags der Liste 6 an der Diskussion teilnahm, in erster Linie um eine Abwehr von vor allem pauschalen Geschichtsvergleichen.214 Dass sich die Diskussion nicht gänzlich auf der Linie Rheindorfs entwickelte, ließ sich angesichts des offenen Diskussionsrahmens nicht verhindern. Die Tatsache der Veröffentlichung des Seminars »Unmenschliche Medizin« in den »Bad Nauheimer Gesprächen« passt aber zu der Deutung, dass der Geschäftsführer erfolgreich die Strategie umsetzte, der Kammeropposition das Feld der Vergangenheitsaufarbeitung abzuringen und mit den eigenen medizinethischen Positionierungen zu verknüpfen. Strategisch bot dies den Vorteil, zukünftige Vorwürfe der Kammeropposition, die Vergangenheit beschweigen zu wollen, mit Verweis auf die Bad Nauheimer Gespräche leichter abwehren zu können. Wem die NSEuthanasie-Vergangenheit als Argument in der Medizinethik gehörte, war zu diesem Zeitpunkt noch Teil eines komplexen Aushandlungsprozesses. Ein von Wolfgang Furch im Jahr 1981 veröffentlichter Beitrag im Deutschen Ärzteblatt belegt diese Interpretation zusätzlich. Darin verwies er auf die Bad 212 Teil III. Diskussion, in: Förderkreis Bad Nauheimer Gespräche, Frankfurt am Main (Hg.), Unmenschliche Medizin, S. 117. 213 Ebd., S. 122. Mann brachte mit dieser pauschalen Gleichsetzung ein historisches Argument in die Debatte ein, das auch noch in der heutigen Auseinandersetzung um die Praxis der Schwangerschaftsabbrüche wiederholt vorgebracht und seit mehreren Jahren unter dem Schlagwort »Babycaust« postuliert wird. 214 Ebd., S. 116.

Thematisierung der NS-Medizin in der Landesärztekammer Hessen

85

Nauheimer Tagung. Eine Beschäftigung mit der »Medizin ohne Menschlichkeit« sei, so Furch, angesichts der »breiten heutigen Bedrohung ärztlicher Ethik« »sicher hilfreich«, wenngleich »diese Diskussion, die ja heute von bestimmten Gruppierungen bereits geführt wird, nicht diesen allein überlassen werden« könne.215 Aus Perspektive des Gynäkologen stand auf der Agenda, durch Beschäftigung mit den NS-Medizinverbrechen eigene Schlüsse über deren Bedeutung für die Gegenwart zu ziehen. Der Ärzteopposition machte er zugleich den Vorwurf einer beschränkten Sichtweise durch alleinige Fokussierung auf die NS-Vergangenheit. Er schrieb bezüglich der Rückschau auf die Medizin im Nationalsozialismus: »Eine isolierte Betrachtung dieser Zeit – wie sie etwa die Liste ›demokratischer‹ Ärzte in der Hessischen Delegiertenversammlung vom 4. April 1981 anregen wollte oder wie sie der ›Alternative Gesundheitstag 1980‹, eine Gegenveranstaltung zum 83. Deutschen Ärztetag in Berlin, versucht hat –, ohne die heutige Gefährdung ärztlicher Ethik einzubeziehen, ist nicht sinnvoll.«216

Furch negierte keineswegs die Notwendigkeit historischer Aufarbeitung. Diesbezüglich gab er sogar zu bedenken, dass möglicherweise die damals von den Westdeutschen Ärztekammern in Auftrag gegebene Dokumentation (Mitscherlich / Mielke) in der breiteren Ärzteschaft eine Art Schlussstrichmentalität begünstigt habe. So sei beispielsweise die Reflexion über den ausbleibenden ärztlichen Widerstand gegen die Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Kollegen unterblieben.217 Doch seine Kritik an der einseitigen Beschäftigung mit der Vergangenheit war verbunden mit der Abwehr von gänzlich neuartigen Kontinuitätsthesen: »Die von damals her bis zum heutigen Medizinbetrieb gezogenen Parallelen münden für mich […] allzu schnell in einer Versuchung, die Opfer des Nationalsozialismus für eine zu beweisende ›neue Theorie‹ zu mißbrauchen. So etwa, wenn z. B. eine durchgehende Linie ›Leistungsmedizin‹ oder gar eine ungebrochene Linie gleicher Geisteshaltung von ärztlichen Funktionsträgern damals wie heute unterstellt wird. Damit wird eine Linie der Betrachtungsweise der damaligen Zeit weitergezogen, die schon bei Mitscherlich erkennbar wird, der in der NS-Zeit wie danach den Arzt in der Gefahr sieht, zu einem reinen ›Spezialtechniker‹ zu werden und damit seiner hippokratischen Arztfunktion verlustig zu gehen.«218

Hinter dem hartem Vorwurf, die NS-Opfer quasi als Beweismittel für historische Interpretationen zu instrumentalisieren, verbarg sich die Kollision von unter215 Wolfgang Furch, Medizinische Ethik – weltweit in Gefahr, in: Deutsches Ärzteblatt, (1981) 51, S. 2447 – 2450, hier: S. 2449. Der Abdruck des zweiten Teils erfolgte unter Wolfgang Furch, Medizinische Ethik – weltweit in Gefahr. Fortsetzung aus Heft 51 und Schluß, in: Deutsches Ärzteblatt (1981) 52/53, S. 2495 – 2501. 216 Furch, Medizinische Ethik, S. 2449. 217 Ebd. 218 Ebd.

86

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

schiedlichen Geschichtsbildern. Furch, der einerseits in seinem kritischen Beitrag mehrere Parallelen zwischen der NS-Medizin und den aktuellen Bedrohungen der »hippokratischen Medizin« zu erkennen glaubte, verwarf andererseits jegliche Deutung langfristiger Zusammenhänge in der Medizin des 20. Jahrhunderts, wie sie zunehmend durch die breite Aufarbeitungsbewegung aus der Quellenarbeit entwickelt wurden. Da Furch mit Blick auf die westliche Medizin eher die Gefahr sah, dass dem Arzt der Verlust der Unabhängigkeit drohe, schloss er sich im Verlauf seines Artikels folgerichtig Forderungen nach der Errichtung von Institutionen an, die einer Stärkung ärztlicher Ethik dienlich erschienen. Dazu zählte ein gewünschter internationaler Ethik-Rat, ein internationales Institut zur Graduierung in »hippokratischer Medizin« sowie die Errichtung von Ethik-Lehrstühlen an allen medizinischen Fakultäten.219 Auch regte er an, ethische Diskussionen verstärkt in den Landesärztekammern zu führen. Die Forderung, die NS-Medizin wiederholt zu thematisieren oder gar verbindlich in die ärztliche Aus- bzw. Weiterbildung (z. B. Approbationsordnung) zu implementieren und dadurch in das Selbstbild der Ärzteschaft zu integrieren, erhob er dagegen im Deutschen Ärzteblatt nicht. Zur Bad Nauheimer Tagung »Unmenschliche Medizin« bleibt abschließend ein wichtiger Nebenbefund festzuhalten: Obwohl Ludwig Martin die Tötungsanstalt »Hadamar (Hessen)« in seinem Vortrag erwähnte220, sich auch Matthias Hamann bereits zu dieser Zeit mit der ehemaligen T4-Tötungsanstalt Hadamar befasste und dieser Ort explizit in dem amerikanischen Spielfilm »Holocaust« benannt worden war, ließ sich in der Tagungsdokumentation kein Hinweis darauf finden, dass er explizit Gegenstand der Bad Nauheimer Diskussionen war. Bevor im Weiteren konkret der Frage nach dem Umgang der LÄK Hessen mit der ehemaligen Tötungsanstalt Hadamar nachgegangen werden soll, ist zunächst ein Überblick auf die Genese und Entwicklung dieses historischen Ortes sinnvoll.

4.1.4. Entstehung und Entwicklung der Euthanasie-Gedenkstätte Hadamar Am Ort der ehemaligen Euthanasie-Tötungsanstalt Hadamar befand sich nach dem Kriegsende weiterhin (und befindet sich bis heute) eine psychiatrische Einrichtung in der Trägerschaft zunächst des Bezirksverbandes, dann des am 1. April 1953 gegründeten Landeswohlfahrtsverbands (LWV) Hessen.221 Wie ein 219 Ebd., S. 2499 f. 220 Martin, Unmenschliche Medizin, S. 52. 221 Bereits zwischen 1945 und 1948 wurden auf Initiative der amerikanischen Besatzung

Thematisierung der NS-Medizin in der Landesärztekammer Hessen

87

Mitarbeiter des Verbands, der Anstalts- und Psychiatriedezernent und Zweiter Landesdirektor Friedrich Stöffler (1894 – 1982), in der ersten Nachkriegsdekade immer wieder feststellen musste, befanden sich Hadamar, aber auch andere entsprechende Einrichtungen Hessens in einem katastrophalen Zustand, den er als Folge der NS-bedingten Umstände während des Krieges verstand. Stöffler setzte sich für eine Modernisierung der Anstalten ein und versuchte, gegen die anhaltende Diskriminierung von psychisch Kranken anzukämpfen. Wie FranzWerner Kersting feststellt, verbanden sich für Stöffler die Forderungen nach einer Psychiatriereform und einer Vergangenheitsbewältigung von Anfang an miteinander, letztlich mit dem Ziel, den starken Vertrauensverlust in der Bevölkerung gegenüber der Psychiatrie abzubauen.222 Da die Einrichtung 1957 in »Psychiatrisches Krankenhaus Hadamar« umbenannt wurde,223 ist jedoch anzunehmen, dass im Trägerverband das Motiv einer Imageverbesserung mittels einfach umzusetzender vergangenheitspolitischer Instrumentarien gegenüber einer Vergangenheitsbewältigung überwog. Unter Stöfflers maßgeblicher Beteiligung wurde schon früh eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit innerhalb des Verbands eingeleitet. Am 13. März 1953 fand im Rahmen einer Gedenkveranstaltung die Enthüllung einer Reliefplatte im Hauptgebäude der Landesheilanstalt Hadamar statt, deren eingearbeiteter Text neben der Darstellung einer vor einer Flammenschale gebeugt sitzenden und unbekleideten Figur lautete: »1941 – 1945 Zum Gedächtnis«. Stöffler hielt die Gedenkrede, in der er die Ereignisse während der Kriegszeit auf Basis eines zwar noch begrenzten, aber doch soliden Wissens über die tausendfachen Tötungen in Hadamar schilderte.224 Eine genaue Opferzahl (derzeitiger Forschungsstand: 15.000) lag ihm nicht vor. Er berief sich auf Schätzungen über 12.000 bis 40.000 Opfern.225 Aus den Kriegsereignissen leitete

222 223 224

225

mehrere Militärgerichtsprozesse gegen das ehemalige Personal der Landesheilanstalt Hadamar eingeleitet. Die in der Öffentlichkeit aufmerksam beobachteten Frankfurter Euthanasie-Prozesse endeten mit sechs Todesstrafen und drei achtjährigen Zuchthausstrafen. Vgl. Matthias Meusch, Die strafrechtliche Verfolgung der Hadamarer »Euthanasie«-Morde, in: Uta George, Georg Lilienthal, Volker Roelcke, Peter Sandner und Christine Vanja (Hg.), Hadamar. Heilstätte – Tötungsanstalt – Therapiezentrum, Marburg 2006, S. 305 – 326. Vgl. Franz-Werner Kersting, Die Landesheilanstalt Hadamar in den ersten Nachkriegsjahren, in: George u. a., Hadamar, S. 327 – 343, hier : S. 328. Christian Zeuch, Die Gedenkstätte Hadamar als Ort der deutschen Erinnerungskultur von 1945 bis heute, unveröffentlichte Examensarbeit, 112 Seiten, Gießen 2008, hier: S. 25. Vgl. Uta George, Erinnerung und Gedenken in Hadamar, in: George u. a. (Hg.), Hadamar, S. 429 – 442, hier : S. 435 f. Stöffler stützte seine Darstellung auf die ihm vorliegende Urteilsbegründung des zweiten Hadamar-Prozesses von 1947. Vgl. Zeuch, Die Gedenkstätte Hadamar, S. 32. Stöffler wies 1961 auch darauf hin, dass sich die Anstaltsunterlagen aus der Kriegszeit noch immer in Hadamar befanden. Sie wurden jedoch erst zu Beginn der 1980erJahre wiederentdeckt. Zeuch, Die Gedenkstätte Hadamar, S. 33.

88

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Stöffler die moralische Verpflichtung ab, den Opfern ein »Gedächtnismal« zu setzen.226 Der während der Euthanasie-Aktionen auf dem Mönchberg in Hadamar eigens angelegte Anstaltsfriedhof, auf dem unzählige Opfer vor allem der zweiten Phase der NS-Euthanasie in Massengräbern verscharrt worden waren, wurde im Laufe der 1950er- und 1960er-Jahre mehrfach verändert. Im Jahr 1964 erfuhr eine Hälfte des Friedhofs nach Einebnung der Gräber in eine »Gedenklandschaft« – in der damaligen Presse wurde auch der Begriff »Ehrenhain« verwendet227 – eine Umgestaltung. Der Landeswohlfahrtsverband ließ mit Unterstützung der Bundesregierung und der Hessischen Landesregierung unter anderem eine bis heute dort befindliche steinerne Stele errichten, die als Botschaft die Inschrift »Mensch achte den Menschen« trägt. Der evangelische Kirchenpräsident Dr. Martin Niemöller aus Frankfurt am Main wollte in seiner Gedenkrede das umgestaltete Areal als »Mahnstätte« für die, soweit damals bekannt, dort ruhenden etwa 5.000 Opfer des Nationalsozialismus verstanden wissen.228 Eine genaue Kennzeichnung oder eine Informationstafel darüber, welche Menschen dort begraben lagen, wurde nicht angebracht, sodass Besucher noch in den 1970er-Jahren keinerlei Hinweise finden konnten, in welchem Zusammenhang der Friedhof ursprünglich angelegt worden war.229 Damit korrespondierte auch der Umgang mit den im Untergeschoss der Klinik befindlichen Räumlichkeiten der ehemaligen, zu großen Teilen abgebauten Tötungsanlage, die nach dem Kriegsende wieder als Keller genutzt wurden.230 Genauere Untersuchungen zur lokalen und regionalen Auseinandersetzung mit der NS-Euthanasie in Hadamar in den Jahren 1964 bis 1980 stehen noch ebenso aus wie für die Zeit davor. Bislang ergibt sich aber ein Bild, nach dem die Vergangenheit über fast zwanzig Jahre hinweg in der Klinik, in der Stadt sowie im weiteren Umfeld weitgehend ausgeblendet wurde,231 bis sie, ausgelöst 1979 durch die Fernsehserie »Holocaust«,232 im Jahr 1981 wieder aufgegriffen wurde. Der ärztliche Direktor der psychiatrischen Klinik und Psychoanalytiker Wulf 226 227 228 229 230

George, Erinnerung und Gedenken in Hadamar, S. 431. Zeuch, Die Gedenkstätte Hadamar, S. 40. George, Erinnerung und Gedenken in Hadamar, S. 435. Ebd. Ein Umstand, der es der Gedenkstätte heute ermöglicht, die Nutzung der ehemaligen Tötungsanlage (z. B. Gaskammer, Sektionsraum, Krematorium) anhand der Spuren zu erläutern. Ebd., S. 430. Im Jahr 2012 fanden bauarchäologische Freilegungen im Kellergeschoss statt, die bislang unbekannte Erkenntnisse über die Abläufe der T4-Tötungen vor Ort geben und auch Fragen nach dem Umgang mit den Kellerräumlichkeiten als Gedenkund Dokumentationsort neu aufwerfen. 231 Vgl. Zeuch, Die Gedenkstätte Hadamar, S. 85 – 87. 232 So George, Erinnerung und Gedenken in Hadamar, S. 435. Zeuch weist darauf hin, dass Kneuker und Steglich in einer persönlichen Rückschau nicht auf diesen angeblichen Auslöser eingingen. Zeuch, Die Gedenkstätte Hadamar, S. 49.

Thematisierung der NS-Medizin in der Landesärztekammer Hessen

89

Steglich sowie ein in Hadamar angestellter Sozialtherapeut, Gerhard Kneuker, machten sich aus persönlichem Interesse gemeinsam auf die »Fährtensuche«233 und entdeckten die alten Verwaltungs- und Krankenakten. Diese hatten im Keller der Klinik gelegen, wo sie in den unmittelbaren Nachkriegsjahren unter anderem für eventuelle Anfragen von Angehörigen heraufgeholt worden waren.234 Wie Zeuch in seiner Studie zur Geschichte der Gedenkstätte betont, bedurfte es nur eines vorhandenen Interesses, um sie für die historische Forschung nutzbar zu machen, waren sie doch keineswegs versteckt gelagert oder kassiert worden.235 Zeitgleich zur klinikinternen Initiative engagierte sich eine zweite Gruppe, bestehend aus Gießener Studenten, für die Aufarbeitung der Geschichte Hadamars und erstelle eine erste Ausstellung, die in den nunmehr geleerten Kellerräumlichkeiten am 16. November 1983 gezeigt werden konnte.236 Die Ausstellungseröffnung erfolgte im Rahmen des »1. Hadamarer Psychiatrie Symposiums«, dem laut Zeuchs Recherche ein nur mageres Interesse der Medien zuteil wurde.237 Diese Ausstellungseröffnung wird dennoch als die Geburtsstunde der heutigen Gedenkstätte angesehen.238 Besonderen Wert legten die Autoren der Ausstellung neben der Schilderung der geschichtlichen Vorentwicklungen und der Durchführung der NS-Euthanasie in Hadamar auch darauf, Lebenswege von Patienten (hier : Opfer der zweiten Phase 1941 – 1945) vorzustellen, woran sich ein Perspektivwechsel der historischen Forschung erkennen lässt. Exemplarisch wurden im »Saal der Opfer«, dem Ort, an dem sich die beiden Öfen zur Einäscherung der getöteten Patienten befunden hatten, acht Kurzbiographien auf Tafeln präsentiert.239 Bei den Studenten handelte es sich um Peter Chroust (Politikwissenschaft, 233 Vgl. Gerhard Kneuker und Wulf Steglich, Begegnungen mit der Euthanasie in Hadamar, Rehburg-Loccum 1985, S. 14. 234 Der Autor der vorliegenden Arbeit hat während einer historischen Recherche zu den ostpreußischen Opfern der NS-Euthanasie im Gedenkstätten-Archiv (LWV Hessen) Akten einsehen können, die nicht nur zeigen, dass sie bei überlebenden Patienten fortgeführt worden waren, sondern auch, dass Anfragen von Angehörigen noch zu Beginn der 1950erJahre mit der Auskunft beantwortet wurden, über eventuelle Euthanasie-Maßnahmen sei seitens der Klinikleitung nichts bekannt. In einem Fall wurde ein Patientenfoto aus der Akte herausgeschnitten und den Angehörigen übersandt. 235 Zeuch, Die Gedenkstätte Hadamar, S. 52. 236 Dabei war die Haltung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen unter Leitung von Tilman Pünder zunächst ablehnend. Man hielt den Friedhof für eine ausreichende Gedenkstätte. Siehe die persönlichen Erinnerungen von Thomas Lutz, Rückblick – zwei Jahrzehnte nach der Einrichtung der Gedenkstätte in Hadamar, in: George u. a. (Hg.), Hadamar, S. 500 – 501. 237 Zeuch, Die Gedenkstätte Hadamar, S. 53. 238 Siehe dazu die Einleitung der Herausgeber in: George u. a. (Hg.), Hadamar, S. 21 – 26, hier : S. 23. 239 Zeuch, Die Gedenkstätte Hadamar, S. 54.

90

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Germanistik), Herwig Groß (Medizin), Matthias Hamann (Medizin) und Jan Sörensen (Medizin), die zum Teil in personeller Überschneidung in einer anderen Arbeitsgruppe »Medizin und Faschismus« zur selben Zeit ein Buch zur Geschichte der Medizinischen Fakultät Gießen erarbeiteten. Ihnen war in den Jubiläumsfestschriften der Universität Gießen (1957: 350 Jahre und erneut 1982: 375 Jahre) die Darstellungslücke für die Jahre 1933 und 1945 aufgefallen. Ihre auf eigenen Archivrecherchen beruhende Untersuchung unter Einbeziehung umfangreicher Literaturauswertungen gab noch im Jubiläumsjahr 1982 der Allgemeine Studentenausschuss (AStA) der Justus-Liebig-Universität heraus.240 Hierin wurde Hadamar an mehreren Stellen im Kontext der NS-Euthanasie erwähnt.241 Es handelte sich um die erste und nahezu einzige Studie dieses konzeptionellen Zuschnitts. Eine vergleichbare Studie folgte erst mit Abstand von nahezu zwei Jahrzehnten.242 Einige Jahre später gaben die Autoren der ersten Hadamar-Ausstellung nachträglich einen Katalog heraus, der in dem ebenfalls aus der Studenten- und Gesundheitsbewegung hervorgegangenen Frankfurter Verlag »Mabuse«243 erschien.244 Seit der Ausstellungseröffnung 1983 boten sie zudem regelmäßig Führungen an. Dass es sich nun nicht mehr nur um eine Ausstellung, sondern bereits um eine Gedenkstätte handelte, wird an einem weiteren Element erkennbar. Unmittelbar nach der Ausstellungseröffnung berief der Landeswohlfahrtsverband den Beirat »Geschichte der Rechtsvorgänger des LWV-Hessen und ihrer Einrichtungen in der Zeit des Nationalsozialismus« ein, dem Medizinhistoriker und Psychiater angehörten.245 Hinzu trat 1984 ein »örtlicher Bei240 Helga Jakob, Peter Chroust und Matthias Hamann. Aeskulap & Hakenkreuz. Zur Geschichte der Medizinischen Fakultät in Gießen zwischen 1933 und 1945. Eine Dokumentation der Arbeitsgruppe »Medizin und Faschismus«, Gießen 1982. Peter Chroust arbeitete bereits seit Längerem an einer Dissertation zum Thema »Gießener Universität und Faschismus«. Ebd., S. 42. 241 Jakob u. a., Aeskulap & Hakenkreuz, S. 84 u. S. 105. 242 Im Jahr 1989 wurde eine Studie zur Medizinischen Fakultät Hamburg vorgelegt. Das Gros entsprechender Fakultätsarbeiten entstand erst um die Millenniumswende. Vgl. Roelcke, Medizin im Nationalsozialismus: Historische Kenntnisse und einige Implikationen, S. 17. 243 Siehe die Autohistorisierung in der Chronik über die seit 1976 publizierte Zeitschrift »Dr. med. Mabuse« bzw. die spätere Verlagsgeschichte (seit 1985/86) unter : www.mabuse-verlag. de/Ueber-Mabuse/Geschichte/ (4. 1. 2012). Sowie: Andrea Schottdorf, Gesundheit und Krankheit 1970 – 2000. Organisierte Ärzteschaft und ärztliche Opposition im Spiegel der Protokolle der Deutschen Ärztetage und der Zeitschrift »Dr. med. Mabuse«, Med. Diss. Köln 2009, S. 28 – 43. http://digitool.hbz-nrw.de:1801/webclient/StreamGate?folder_id= 0& dvs=1359244204538~383 (5. 1. 2013). 244 Peter Chroust, Herwig Groß u. a. (Hg.), »Soll nach Hadamar überführt werden«: den Opfern der Euthanasiemorde 1939 – 1945; Katalog Gedenkausstellung in Hadamar, hg. von der Autorengruppe Peter Chroust, bearb. von M. Hamann mit Beitr. von H. Gross, Frankfurt am Main 1989. 245 Zeuch, Die Gedenkstätte Hadamar, S. 56.

Thematisierung der NS-Medizin in der Landesärztekammer Hessen

91

rat«, bestehend aus Vertretern der Stadt Hadamar, der Klinik selbst und wiederum einigen Historikern. Von diesem Beirat ging der Namensvorschlag »Gedenkstätte Mönchberg« aus; wie Zeuch vermutet, wohl in der Absicht, die unterhalb des Mönchbergs gelegene Stadt Hadamar von diesem Teil ihrer Vergangenheit zu entlasten.246 Neben der Verbindung zur Gießener Gruppe unterhielten Kneuker und Steglich Kontakte zu dem Sozialpsychiater Klaus Dörner, der 1983, begleitend zu seinen Bemühungen um eine grundlegende Reform der deutschen Psychiatrien, einen Arbeitskreis zur Erforschung der NS-»Euthanasie« mit ins Leben gerufen (s. Abschnitt 4.3.2.) und schon am »1. Hadamarer Psychiatrie Symposium« als Referent teilgenommen hatte.247 Dieser Kontakt dürfte demnach bereits vor der Ausstellungseröffnung bestanden haben. Und noch eine vierte Gruppe aus Frankfurt am Main wurde aktiv und arbeitete mit der Klinikleitung in Hadamar zusammen. Nach dem Auffinden der Verwaltungs- und Krankenakten begann diese Gruppe von 18 Fachhochschulstudenten unter der Projektleitung zweier Dozenten, Dorothee Roer (*1943) und Dieter Henkel (*1944), mit der historischen Aktenauswertung. Roer und Henkel, die durch die 1968er-Bewegung politisiert waren, sich seitdem mit dem »Faschismus« beschäftigten und später ebenfalls zum genannten Arbeitskreis stießen, nahmen den damals noch bevorstehenden 50. Jahrestag der »Machtergreifung« zum Anlass, mit dieser Arbeit auch eine Art Gegengedächtnis im Sinne der Opfer zu entwerfen. 1986 legten sie mit ihrem im Mabuse-Verlag erschienenen Sammelband eine umfassende Rekonstruktion der Vorgänge in Hadamar in den Jahren 1933 bis 1945 vor, die nach der deutschen Wiedervereinigung noch einmal neu aufgelegt wurde.248 Mit dem zähen Ringen um die historische Verantwortung innerhalb des Landeswohlfahrtsverbands schritt trotz wiederholt und deutlich spürbarer Widerstände249 auch die Institutionalisierung der Gedenkstätte voran. 1986 gründete der LWV eigens ein Archiv und übernahm die Zuständigkeit für die Gedenkstätte. Sukzessive wurden Stellen für eine kontinuierliche Gedenkstättenarbeit geschaffen und erste Überlegungen zu einer Modifizierung der Ausstellung ausformuliert. Auch in anderen, dem LWV unterstehenden Einrich-

246 Ebd. 247 George, Erinnerung und Gedenken in Hadamar, S. 436. 248 Vgl. Einleitung zur ersten Auflage: Dorothee Roer und Dieter Henkel (Hg.), Psychiatrie im Faschismus. Die Anstalt Hadamar 1933 – 1945, Frankfurt am Main 21996. Zwischenzeitlich ist bereits die vierte Auflage erschienen. 249 Klinik-interne Anfeindungen gegen Kneuker und Steglich sollen bewirkt haben, dass beide im Jahr 1985 ihre praktische Arbeit in Hadamar beendeten. Einwohner der Stadt Hadamar befürchteten, durch die Gedenkstätte würde »Schande« über die Stadt gebracht werden. Innerhalb des LWV sorgten Widerstände für Hindernisse und Verzögerungen des Aufarbeitungsprojekts von Roer und Henkel. Vgl. Zeuch, Die Gedenkstätte Hadamar, S. 88 f.

92

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

tungen unterstützte dieser die Gestaltung von Ausstellungen und das Anbringen von Gedenkzeichen.250 In der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre rückten in Hadamar wegen des ansteigenden Zustroms von Interessierten pädagogische Aspekte immer stärker in den Vordergrund. Zugleich waren die Vorbereitungen zu einer neuen Dauerausstellung von durchaus kontroversen Diskussionen begleitet. Letztlich fiel die Entscheidung, die Dauerausstellung nicht mehr in den Kellerräumen, sondern im Erdgeschoss zu platzieren. Die am 13. Juni 1991 neu eröffnete Ausstellung thematisierte neben der Vorgeschichte der NS-Euthanasie sowie der Erläuterung der ersten und zweiten Mordphase nun auch die Aspekte »Haltung der Bevölkerung«, »Nachkriegsprozesse« sowie »Wiedergutmachung und Gedenken«. Der letzte Aspekt schloss eine Autohistorisierung der Gedenkstätte als Dokumentation des gesellschaftlichen Vergegenwärtigungsprozesses ein.251 Als Wirkung der Dauerausstellung, der pädagogischen Arbeit, der Öffentlichkeitsarbeit des LWV252 und der Verwendung eines eigenen Logos setzte sich auch mit der breiteren öffentlichen Rezeption der Name »Gedenkstätte Hadamar« gegenüber der am Ort präferierten Variante (Mönchberg) durch.253 Die fortschreitende Entwicklung der Gedenkstätte ging mit einem stetig steigenden Zulauf an Besuchern einher, der zwischenzeitlich nicht mehr bedient werden konnte. Es zeichnete sich eine Überforderung des LWV ab. Als sogar die Schließung der Gedenkstätte drohte, entstand die Idee, Hadamar aufgrund seiner herausgehobenen Bedeutung für die NS-Vernichtungspolitik zu einer »Nationalen Gedenkstätte« aufzuwerten254 und eine finanzielle Unterstützung durch das Land Hessen und den Bund einzufordern. Entsprechende Überlegungen waren schon Ende der 1980er-Jahre unter dem Thema »Gedenkstätten für die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« in den Deutschen Bundestag eingebracht worden. Im Jahr 1990 wurde die Forderung nach einer Nationalen Gedenkstätte Hadamar erneut im Deutschen Bundestag vorgebracht, wo jedoch die Frage der Gestaltung der Gedenkstättenlandschaft im Anbetracht der deutschen Wiedervereinigung nur eines von vielen dringlichen Themen darstellte. Im Zuge der regional- und bundespolitischen Debatte wurde Hadamar in der Presse eine besondere Aufmerksamkeit zuteil. Die in der Geschäftsstelle der LÄK Hessen sorgfältig archivierten Presseartikel aus den Jahren 250 George, Erinnerung und Gedenken in Hadamar, S. 438. 251 Zeuch, Die Gedenkstätte Hadamar, S. 63. 252 Es wurden beispielsweise Wanderausstellungen entwickelt und verliehen. Zur Dauerausstellung 1991 erschien auch ein neuer Katalog: Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hg.), Euthanasie in Hadamar. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten. Begleitband. Eine Ausstellung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Kassel 1991. 253 Zeuch, Die Gedenkstätte Hadamar, S. 64 f. 254 Ebd., S. 91 f.

Thematisierung der NS-Medizin in der Landesärztekammer Hessen

93

1990 und 1991 dokumentieren, dass dort die Gedenkstätte Hadamar keineswegs unbekannt war.255

4.1.5. Die LÄK Hessen und Hadamar Am 2. Juni 1992 ging in der Geschäftsstelle der LÄK Hessen ein Schreiben des hessischen Arztes und Mitglieds des Deutschen Bundestages, Dr. R. Werner Schuster,256 ein, in dem dieser über die anhaltenden Bemühungen des Landeswohlfahrtsverbands berichtete, die Gedenkstätte Hadamar durch Einwerbung von Geldmitteln zu erhalten und personell auszubauen. Zwischenzeitliche Entwicklungen auf Bundes- und Landesebene ließen ihn auf ein Gelingen dieser Bemühungen hoffen. In diesem Zusammenhang versuchte Schuster den LWV zu unterstützen und brachte gegenüber dem LÄK-Präsidenten Helmuth Klotz sein Anliegen vor: »Bei meinen mehrfachen Besuchen ist mir immer wieder aufgefallen, daß diese Gedenkstätte bisher eigentlich mit ihrem Anliegen auf die drei Beteiligten LWV, Land Hessen und Bund beschränkt geblieben ist. Die verfasste Ärzteschaft steht irgendwie unbeteiligt außen vor. Warum dies so ist, entzieht sich meiner Kenntnis.«257

Und er fragte im Weiteren:

255 Archiv der Landesärztekammer Hessen, Ordner : Pressestelle Teil III, ab: 17. 6. 1992 bis: 30. 9. 1993. 256 Schuster, 1939 als Sohn einer deutschen Siedlerfamilie in Tansania geboren, absolvierte das Medizinstudium an der Universität Tübingen, wo er 1966 am Physiologischen Institut promoviert wurde. Als Medizininformatiker war er von 1970 bis 1983 Dezernent für den Bereich Gesundheitswesen in der Hessischen Zentrale für Datenverarbeitung, Wiesbaden. Er war Mitglied im Marburger Bund, seit 1964 Mitglied der SPD, Stadtverordneter in Idstein, dort 1975 – 1985 Fraktionsvorsitzender der SPD. Als Kreistagsabgeordneter (1989) konnte er 1990 über die Landesliste Hessen in den Deutschen Bundestag einziehen, wo er den Wahlkreis Rheingau-Taunus / Limburg-Weilburg vertrat. Schuster beschäftigte sich vorrangig mit Entwicklungs- und Gesundheitspolitik, Schwerpunkt Afrika. Er verstarb im Jahr 2001. Vgl. Klaus J. Holzapfel (Hg.), Kürschners Volkshandbuch Deutscher Bundestag. 14. Wahlperiode 1998, 91. Auflage, Stand: 15. März 2001, Rheinbreibach 2001; Rudolf Vierhaus und Ludolf Herbst (Hg.), Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages 1949 – 2002, Band 2: N-Z, München 2002. 257 Schuster an Klotz, 2. 6. 1992. Archiv der Landesärztekammer Hessen, Unterlagen ärztlicher Geschäftsführer, Ordner : Hadamar 15.5.93 – 24.1.97.

94

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

»Welche Möglichkeiten sieht die Landesärztekammer Hessen[,] die Gedenkstätte Hadamar zu einem ›dauerhaften Ort des Erinnerns und des Lernens für Gegenwart und Zukunft‹ systematisch auch für Ärzte zu machen?«258

Anschließend präsentierte er konkrete Ideen, wie sich eine mögliche Verbindung zwischen der LÄK Hessen und der Gedenkstätte herstellen ließe. So könne das Präsidium in den Räumen der Gedenkstätte tagen und sich von der Gedenkstättenleiterin eine Führung über das Gelände geben lassen. Auch könne die LÄK gemeinsam mit dem LWV Fortbildungsveranstaltungen durchführen. Überlegenswert sei die Einführung von Seminaren für Medizinstudenten mit Exkursionen nach Hadamar, wofür sich die LÄK allerdings bei den Medizinhistorischen Instituten in Frankfurt, Gießen und Marburg einsetzen müsse. Abschließend fragte Schuster an, ob sich die Kammer nicht mittels einer regelmäßigen Beteiligung an den Sachkosten der Gedenkstätte öffentlich gegen das »unsägliche Vergessenwollen ärztlicher Schandtaten«259 stellen wolle. Direkter konnte er das Anerkennen der historischen Verantwortung durch die LÄK Hessen kaum einfordern. Vonseiten des Präsidiums wurden die Vorschläge »mit großem Interesse« aufgenommen. Jedoch sah man sich nicht in der Lage, in der auslaufenden Legislaturperiode noch in Hadamar zu tagen.260 Das Anliegen Schusters wurde an das Präsidium unter dem neuen Präsidenten, Alfred Möhrle (*1939, Marburger Bund – Verband der angestellten und verbeamteten Ärzte), weitergereicht. Noch zum Jahreswechsel muss ein Entscheidungsfindungsprozess im neuen Präsidium eingeleitet worden sein. Er mündete in dem Beschluss, eine Gedenkveranstaltung in Hadamar durchzuführen.261 Aktiv ging man nun auf den LWV zu und meldete Interesse an einer Kooperation in Fortbildung und Forschung an. Mit Erstaunen nahm Schuster die neuesten Entwicklungen zur Kenntnis. Dass schon mit seinem ersten Schreiben ein kritischer Fingerzeig auf das frühere Desinteresse der Kammer an Hadamar verbunden war, wird noch einmal aus seinem zweiten Brief an die LÄK (und den LWV) deutlich: »Es freut mich außerordentlich, daß die Landesärztekammer meine Anregung aufgenommen hat und sich in dieser geplanten Veranstaltung offensiv mit der Frage der ärztlichen Euthanasie auseinandersetzt. Um ehrlich zu sein, dies hätte ich meiner Landesärztekammer gar so schnell nicht zugetraut. Kompliment also!«262 258 Ebd.; Hervorhebungen im Original. 259 Ebd. 260 Klotz an Schuster, 7. 7. 1992. Archiv der Landesärztekammer Hessen, Unterlagen ärztlicher Geschäftsführer, Ordner : Hadamar 15.5.93 – 24.1.97. 261 Möhrle an Barbara Stolterfoht, Landesdirektorin des LWV, 15. 5. 1993. Archiv der Landesärztekammer Hessen, Unterlagen ärztlicher Geschäftsführer, Ordner : Hadamar 15.5.93 – 24.1.97. 262 Schuster an Möhrle und Stolterfoht, o. Dat., Eingangsstempel LÄK 3. 5. 1993. Archiv der

Thematisierung der NS-Medizin in der Landesärztekammer Hessen

95

Und um seine damalige Aufforderung noch einmal zu bekräftigen, verlieh er seiner Hoffnung Ausdruck, dass dies erst der Anfang einer langen Zusammenarbeit zwischen LWV und LÄK Hessen sein werde. Im April waren die Einladungen zur Veranstaltung am 15. Mai 1993 verschickt worden. Darin wurde der »Festvortrag« des Medizinhistorikers Richard Toellner von der Westfälischen Wilhelmsuniversität Münster mit dem Titel »Erinnern in Hadamar. NS-Medizin und ärztliche Ethik« angekündigt, was der LÄK und dem LWV den erstaunt-kritischen Hinweis bescherte, ob das Erinnern an die Tötung in Hadamar Anlass zu einem »Fest« sei.263 Die Gedenkveranstaltung in Hadamar wurde unter der Anwesenheit von etwa 150 hessischen Ärzten, der Opferorganisation Bund der ›Euthanasie‹-Geschädigten und Zwangssterilisierten (BEZ, Begründerin: Klara Nowak, s. u.) sowie einiger Pressevertreter vollzogen. Die Gäste begingen gemeinsam den ehemaligen Anstaltsfriedhof. In seiner Gedenkrede hob der Kammerpräsident Möhrle das Engagement des LWV als einzigem Verband seiner Art hervor, der sich um eine Aufarbeitung der NS-Geschichte seiner Anstalten bemüht habe. Möhrle würdigte ebenso die Initiative Schusters, welche die Anregung zu der Veranstaltung gegeben habe. Ein symbolischer Bezug zum Jahrestag des Kriegsendes (8. Mai 1945), der allerdings bereits eine Woche zurücklag, wurde hergestellt. Zur eigenen Verantwortung der hessischen Ärzteschaft hieß es: »Wir[,] die heutige Generation, tragen keine Verantwortung mehr für die Taten, die andere während des Naziregimes begangen haben. Wir tragen jedoch die Verantwortung dafür, daß die Erinnerung daran wachbleibt und daß jeder Ansatz zu einer ähnlichen Entwicklung wie in der Weimarer Republik im Ansatz erkannt und verhindert wird. Daher wollen die hessischen Ärzte mit der heutigen Veranstaltung bezeugen, daß sie sich zu dieser Verantwortung bekennen. Untaten wie die, an welche wir an diesem Ort erinnert werden, dürfen sich nie mehr wiederholen. Wir Ärzte bekennen uns zum Eid des Hippokrates, der uns den Schutz des Lebens vorschreibt.«264

Neben dem in den Medien viel beachteten Vortrag von Toellner265 gab Siegmund Drexler von der Liste DÄÄ eine Stellungnahme ab, in der er auch die IdentifiLandesärztekammer Hessen, Unterlagen ärztlicher Geschäftsführer, Ordner : Hadamar 15.5.93 – 24.1.97. 263 K. Haedke, Ärztlicher Direktor des Psychiatrischen Krankenhauses Herborn an Stolterfoht, 13. 5. 1993. Archiv der Landesärztekammer Hessen, Unterlagen ärztlicher Geschäftsführer, Ordner : Hadamar 15.5.93 – 24.1.97. Möhrle, dem das Schreiben über den LWV zugeleitet worden war, pflichtete Haedke nach der Veranstaltung bei. Er habe während seines Vortrags auf die Formulierung geachtet und von einer Gedenkveranstaltung gesprochen. Möhrle an Haedke, 2. 6. 1993. Ebd. 264 Gedenkrede Alfred Möhrle, 15. 5. 1993. Archiv der Landesärztekammer Hessen, Unterlagen ärztlicher Geschäftsführer, Ordner : Hadamar 15.5.93 – 24.1.97. 265 Archiv der Landesärztekammer Hessen, Ordner : Pressestelle Teil III, ab: 17. 6. 1992 bis: 30. 9. 1993.

96

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

kation mit der gesamten Kammer erkennen ließ. Drexler hatte in enger Zusammenarbeit mit Möhrle die Vorbereitung der Veranstaltung begleitet. Die früheren politischen Spannungen innerhalb der Kammer hatten sich demnach unter der Präsidentschaft Möhrles deutlich entschärft. Auf erinnerungskultureller Ebene hatte sich dies bereits fünf Jahr zuvor unter dem Präsidenten Helmuth Klotz abgezeichnet. Im Jahr 1988 hatte die Liste 6 einen Antrag zur Abstimmung eingebracht, ein Projekt zur Rekonstruktion der Lebenswege verfolgter jüdischer Ärzte Hessens zu finanzieren. Diesem Antrag war in der Delegiertenversammlung zugestimmt worden. Aus der Arbeit der eigens dafür eingerichteten Arbeitsgruppe »Forschungsplanung« war 1990 eine Publikation hervorgegangen, die auch einen Abschnitt über die Zwangssterilisation und die NS-Euthanasie enthielt. Hadamar wurde darin als eine der sechs ehemaligen Tötungsanstalten der T4 genannt und noch einmal in seiner zentralen Bedeutung für die Krankenmorde im hessischen Raum herausgestellt.266 Dieses auf die Initiative der Liste 6 zurückgehende Aufarbeitungsprojekt bereitete den erinnerungskulturellen Perspektivwechsel – hin zu den Opfern – innerhalb der LÄK Hessen und die spätere Entwicklung einer Hinwendung zur Gedenkstätte Hadamar vor. Die Frage, ob sich aber die Landesärztekammer von dem quasi vor der eigenen Haustür liegenden historischen Ort und der sich dort seit zehn Jahren entwickelnden Gedenkstätte in ihrer Aufmerksamkeit ablenken ließ, bedarf weiterführender Untersuchungen. Hinter den Stand von 1993 wollte man offenbar nicht mehr zurückfallen. Denn die Zusammenarbeit zwischen der LÄK, dem LWV und seiner Gedenkstätte sowie mit der Opferorganisation BEZ wurde, maßgeblich von Vertretern der DÄÄ und Alfred Möhrle getragen, in den 1990er-Jahren mit mehreren gemeinsamen Tagungen und Fortbildungsveranstaltungen ausgebaut,267 wie es Werner Schuster gefordert hatte. Das gemeinsame Engagement von DÄÄ und Präsidium setzte sich auch auf Ebene der bundesdeutschen Ärzteschaft fort: Im November 1995 legte Möhrle in der Delegiertenversammlung der LÄK Hessen seinen Präsidentenbericht vor. Darin wies er auf den anstehenden 99. Deutschen Ärztetag in Köln (1996) hin, der als einen Tagungsordnungspunkt das Thema »50 Jahre Nürnberger Ärzteprozess« enthalten solle. Möhrle erklärte: 266 Vgl. Siegmund Drexler, Siegmund Kalinski und Hans Mausbach, Ärztliches Schicksal unter der Verfolgung 1933 – 1945 in Frankfurt am Main und Offenbach: Eine Denkschrift, erstellt im Auftrag der Landesärztekammer Hessen, Frankfurt am Main 1990, hier : S. 85 f. 267 Drexler, Ärzte-Opposition, S. 135. Siehe auch Unterlagen der Pressestelle der LÄK: Archiv der Landesärztekammer Hessen, Ordner : Frau Juvan II. Vgl. für die Aufarbeitung auch den folgenden Tagungsband mit Beiträgen von Margarete Mitscherlich, Alfred Möhrle und Mark Siegmund Drexler u. a.: Herbert Bareuther (Hg.), Medizin und Antisemitismus. Historische Aspekte des Antisemitismus in der Ärzteschaft, Münster 1998.

Thematisierung der NS-Medizin in der Landesärztekammer Hessen

97

»Dies geschah zum einen aus Gründen des 50. Jahrestages dieser Ereignisse, zum anderen auch auf Anregung aus unserer Kammer. Hier wurden ja durch die Kollegen Mausbach, Kalinski und Drexler erhebliche Vorarbeiten bei der Aufarbeitung der Rolle der Ärzte und der Medizin in der nationalsozialistischen Zeit geleistet. Auch unsere Veranstaltungen in Hadamar haben erhebliche Beachtung in den Medien und in der Öffentlichkeit gefunden. Wir haben vor, zu diesem Thema auch aktiv in Köln tätig zu werden. So planen wir eine Abendveranstaltung unserer Kammer zu diesem Thema. Auch habe ich mich bereit erklärt, eines der drei Referate zu diesem Thema auf dem Ärztetag zu übernehmen.«268

Möhrle hielt in Köln einen umfassenden Vortrag zum Tagesordnungspunkt II: »Das Wertebild der Ärzteschaft – 50 Jahre nach dem Nürnberger Ärzteprozeß«, der im Deutschen Ärzteblatt abgedruckt wurde.269 Ausdrücklich bedankte sich Möhrle darin bei Siegmund Drexler für die Zusammenstellung der dafür benötigten Literatur und seinen Rat. Durch diese Zusammenarbeit konnte sich die LÄK Hessen, nach und neben der Ärztekammer Berlin, Mitte der 1990er-Jahre als Vorreiter der Aufarbeitung in der bundesdeutschen Ärzteschaft positionieren. Eine noch ausstehende, ausführliche Untersuchung zur Bundesärztekammer und den Deutschen Ärztetagen wird zeigen müssen, welchen konkreten Einfluss die LÄK Hessen in den oben genannten Phasen der Vergangenheitsbewältigung und der Vergangenheitsbewahrung in der deutschen Ärzteschaft geltend machen konnte.270

4.1.6. Zwischenbilanz Der Einblick in die Unterlagen der Landesärztekammer Hessen erlaubt die Rekonstruktion zweier verschiedener Formen der Vergegenwärtigung und Aneignung von Vergangenheit innerhalb einer berufsständischen ärztlichen Organisation. Während bei dem ersten Beispiel der Tagung »Unmenschliche Medizin« ein direkter Einfluss der seit 1976 in der Kammer vertretenen Oppositionsgruppe Liste 6, zwar von innen – aber noch vom Rand her, nachweisbar ist, 268 Bericht des Präsidenten vor der Delegiertenversammlung, 11. 11. 1995. Archiv der Landesärztekammer Hessen, Ordner : Protokolle Delegiertenversammlung 1994. 269 Alfred Möhrle, Der Arzt im Nationalsozialismus. Der Weg zum Nürnberger Ärzteprozess und die Folgerungen daraus, in: Deutsches Ärzteblatt 44 (1993) 43, A-2766-A-2775. http:// www.aerzteblatt.de/v4/archiv/artikel.asp?id=3607 (10. 4. 2011). 270 Bemerkenswert ist angesichts der Entwicklungen in den 1990er-Jahren, dass sich in dem 2006 erschienenen Sammelband »Hadamar. Heilstätte – Tötungsanstalt – Therapiezentrum« unter dem Abschnitt »Statements von Institutionen und Einzelpersonen, die seit vielen Jahren mit der Gedenkstätte Hadamar zusammenarbeiten« keine Stellungnahme der LÄK Hessen findet. Dies gilt ebenso für die Geleitworte des Bandes. Vgl. George u. a. (Hg.), Hadamar.

98

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

erfolgte der Anstoß zur Auseinandersetzung und Kontaktaufnahme mit der 1983 gegründeten Gedenkstätte Hadamar quasi von »außen«, durch einen Bundestagsabgeordneten, der allerdings, selbst Arzt und Mitglied der LÄK Hessen, aus der Region um Hadamar stammte und dort zuvor mehrmals die Gedenkstätte besucht hatte. Durch ihn wurde das Präsidium auf das Defizit in der Auseinandersetzung mit dem historischen Ort Hadamar aufmerksam gemacht. Dass die Ärztekammer diesen Hinweis positiv aufnahm und unmittelbar aktiv wurde, deutet erstens darauf hin, dass die Vertreter der Kammerspitze unter der Präsidentschaft von Möhrle bereit war, eine historische Verantwortung bezüglich des Schweigens über die Rolle der Ärzteschaft in der NS-Vergangenheit anzuerkennen. Dem Aspekt des persönlichen Engagements an der Spitze der Kammerorgane kommt hier eine besondere Bedeutung zu. Zweitens traf die Anfrage Schusters bereits auf ein aufarbeitungsfreundliches Klima innerhalb der Kammer, in der sich spätestens seit Ende der 1980er-Jahre unter Einfluss der Opposition ein Einstellungs- und Perspektivwechsel im Umgang mit der NS-Vergangenheit vollzogen hatte. Am Beispiel der Tagung »Unmenschliche Medizin« konnte gezeigt werden, dass die Vergegenwärtigung der NS-Medizinverbrechen 1.) von den seit 1976 eingeleiteten politischen Umbrüchen innerhalb der Kammer, sowie 2.) von den in der Ärztekammer noch überwiegend konservativ ausgeprägten Wertemustern beeinflusst war. Das Beispiel dokumentiert aber zugleich die Verknüpfung mit den breiteren gesellschaftlichen Auseinandersetzungen seit den 1970erJahren. Denn auch die neue Welle der Vergangenheitsbewältigung, ausgelöst durch TV-Serie »Holocaust« und die Verjährungsdebatten im deutschen Bundestag, schlug sich 1981 in dem Dringlichkeitsantrag der Liste 6 und damit im Kontext der Tagung »Unmenschliche Medizin« nieder. Wem allerdings die NS-Vergangenheit bzw. das Geschichtsargument »gehörte«, war weder im Vorfeld noch im Nachgang der Veranstaltung abschließend ausgehandelt. Nach anfänglichen Abwehrimpulsen gegen die Thematisierung der NS-Medizin reagierten der ärztliche Geschäftsführer und das Präsidium äußerst flexibel und wählten die Taktik, sich die von der Opposition in Anspruch genommene Aufarbeitung selbst anzueignen und im Sinne der persönlichen Motive nutzbar zu machen, konkret: um sich gleich auf mehreren Feldern, nämlich sowohl auf der medizin- bzw. berufsethischen als auch auf der vergangenheitspolitischen Ebene gegen die neuen oppositionellen Kräfte in der Kammer zu wehren. Zusätzlich eine breitere Abwehr der sozialen Bewegungen, insbesondere der provokativen Frauenbewegung als verdecktes Motiv anzunehmen, ist angesichts der ausgeprägten Geschlechterspezifik der Abtreibungsproblematik nicht ganz abwegig, muss aber einer zukünftigen Untersuchung vorbehalten bleiben. Wie die Stellungnahmen des Abtreibungsgegners Furch zugleich deutlich erkennen lassen, ging es in der geschichtsgetränkten

Thematisierung der NS-Medizin in der Landesärztekammer Hessen

99

Debatte um den § 218 auch um konservative Ansprüche auf ärztliche Autonomie. Dabei handelte es sich um ein zentrales berufspolitisches Interesse der etablierten Ärzteschaft, zu dem die Autonomie der Patientinnen mit dem Postulat des Rechts auf den eigenen Körper diametral stand. Die Geschichte der Zwangssterilisationen und der NS-Euthanasie wurde hierbei jedenfalls in Form eines pauschalen Geschichtsvergleichs (Gleichsetzung von Opferzahlen und Tötungsakt – damals und gegenwärtig) als Argument gegen eine Liberalisierung des § 218 eingesetzt. Dadurch sahen sich die Oppositionsvertreter, die sich aus Kritik an der bis dahin selbstentlastenden Vergangenheitsabwehr der Kammer um die anhaltende Thematisierung der NSMedizinverbrechen bemühten, in eine wohl unvorgesehene und geradezu paradoxe Position gedrängt: nämlich das ihnen mit der Aufarbeitung in die Hände gelegte Geschichtsargument gegen sich selbst angewendet zu sehen. Während ihre Kontrahenten direkte Mißbrauchsargumente, oder – unter Rückgriff auf die NS-Vergangenheit – komparative und damit sogar subtil angedeutete Kontinuitätsargumente als Kritik der Abtreibungspraxis formulierten, entwickelten oppositionelle Vertreter in der Diskussion einen Kontrapunkt, den Hans-Walter Schmuhl für die späteren medizinethischen Debatten seit den 1980er-Jahren als Irrelevanz-Inkompatibilitäts-Argumente der Befürworter von Zulässigkeitsregelungen (s. o.) identifiziert hat. Schmuhls Vorschlag einer diskursanalytischen Leitdifferenz von Zustimmung oder Abwehr der Erweiterung von Zulässigkeitsregelungen kann also auf die Debatte um den Schwangerschaftsabbruch übertragen werden. Erweitert man die von Schmuhl für die Sterbehilfedebatte konzeptionalisierte Zuordnungsmatrix der medizinethischen Positionierung und der damit verknüpften historischen Argumentationsweise um das Feld der vergangenheitspolitischen Haltung der Diskursteilnehmer (abwehrend oder kritisch reflektiert verinnerlichend, marginal oder konstitutiv), so muss man konstatieren, dass im Fall der Kontrahenten der Landesärztekammer Hessen die Positionen quasi über Kreuz gelagert waren. Nach Schmuhls Beobachtung meiden Liberalisierungsbefürworter idealtypischerweise eine tiefere Auseinandersetzung mit der NSVergangenheit, weil diese die eigene Position potenziell schwächt. Hier traten nun Sympathisanten einer Liberalisierung der Abtreibung vergangenheitspolitisch für eine intensive Aufarbeitung der NS-Zeit ein. Dies spricht dafür, dass in der Ärztekammer zwei vormals vollständig voneinander getrennte Diskursfelder erstmals zusammengeführt wurden. Zuvor konnte die Kammeropposition mittels der prekären Vergangenheitsinhalte und deren Tabuisierung und Externalisierung offensiv gegen die Beharrungskräfte der vergangenheitspolitisch konservativ geprägten Gruppen agieren. Im Streit um den § 218 ließ sich die Geschichte aufgrund der inhaltlichen Inkompatibilität nun aber kaum für die berufspolitische Position zum

100

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Schwangerschaftsabbruch nutzbar machen. Der Vergleich zwischen Gegenwart und NS-Vergangenheit konnte nur stringent als Defensivargument in Form der Irrelevanzbehauptung eingebracht werden. Und die Gegner der Liberalisierung, die sich noch im Vorfeld der Tagung gegen eine Aufarbeitung gewehrt hatten, erkannten schon unmittelbar nach dem Antragsaffront der Liste 6 das diskursinhärente Potenzial der NS-Thematik und setzten mit dem taktischen Mannöver, den Gegner quasi mit den eigenen Waffen anzugehen, die NS-Vergangenheit gegen die aufarbeitswilligen Vertreter der Kammeropposition ein. So instrumentell der beiderseitige Umgang mit der Vergangenheit im Zuge der Auseinandersetzung um die »Unmenschliche Medizin« in der Landesärztekammer Hessen auch erscheinen mag – daraus ist keineswegs eine simplifizierende Instrumentalisierungsthese abzuleiten. Denn im Kontext der Abtreibungsdebatte fand eine neuartige gruppeninterne Aushandlung über die Bedeutung der NS-Medizinverbrechen statt. Die Vergegenwärtigung in Form der Tagung von 1981 forderte alle an der Diskussion Beteiligten zumindest vorübergehend zu einer gemeinsamen, intensiveren Reflexion über das eigene Geschichtsbild und das Selbstverständnis der Nachkriegsmedizin heraus. Es waren gerade die spezifischen Gegenwartsbezüge sowohl der breiteren gesellschaftlichen Debatten als auch der fortschreitenden Verschiebungen des Kräfteverhältnisses innerhalb der ärztlichen Standesvertretung, die kurzfristig den Anlass zu einer Thematisierung der NS-Zeit erst hervorbrachten und damit langfristig die partielle Internalisierung der prekären Vergangenheit in das Selbstbild der Gruppe begünstigten. Beide Beispiele lassen im direkten historischen Vergleich erkennen, worin vor allem die langfristig wirksame Verbindung zwischen der zunehmenden Vergegenwärtigung der NS-Euthanasie und den in der Ärzteschaft nachweisbaren, von der generationellen Dynamik begleiteten Demokratisierungsschüben bestand. Legt man nämlich das formale Kriterium zugrunde, ob auf Ebene der Kammerbasis und der Kammerspitze überhaupt konträre vergangenheitspolitische Positionen vorhanden waren, so ging mit der in den 1970er-Jahren eintretenden Pluralisierung der Kammerzusammensetzung auch eine ebenso konfliktbehaftete Pluralisierung bestehender Geschichtsbilder einher. Mit dem »Marsch« der Oppositionsgruppen durch die kammerinternen Institutionen und der Durchsetzung der Vorstellung von historischer Verantwortung für die NS-Medizinverbrechen an der Kammerspitze (Präsident Möhrle) setzte sich in den 1990er-Jahren ein selbstkritischeres, historisch fundierteres und folglich realistischeres Bild der Vergangenheit durch, das mit einem sich nunmehr stärker mit den NS-Verfolgten identifizierenden Selbstbild dieser berufsständischen Ärzteorganisation korrespondierte. Die spezielle Reihenfolge der konsensual herbeigeführten und autodikatisch vollzogenen historischen Beschäftigung – eine organsierte Forschung oder gar

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

101

professionelle Auftragsforschung ist für diesen Zeitraum nicht nachweisbar – zunächst mit den verfolgten jüdischen Kollegen seit dem Antrag der Liste 6 im Jahr 1988 und erst dann mit den Betroffenen von Zwangssterilisation und NSEuthanasie durch die Schusteranfrage im Jahr 1992 stellt einen bedeutsamen Befund dar. Enthielt nämlich die Erinnerungarbeit in Bezug auf die Betroffenen aus den eigenen Reihen noch ein als ambivalent zu bezeichnendes Potenzial, sich neben der Akzeptanz einer Mitverantwortung für die Verteibung und Ermordung der jüdischen Ärzte mittels Identifikation partiell selbst als Verfolgte der NS-Zeit empfinden und sich so weiter entlasten zu können, erforderte die Auseinandersetzung mit dem historischen Ort Hadamar den Schritt einer umfassenderen und stärker verinnerlichten historischen Verantwortung für die NSMedizinverbrechen. Dieser wiederum erleichterte auch den Folgeschritt hin zu einer in den 1990er-Jahren längerfristig angelegten Erinnerungsarbeit über das von Ärzten verursachte Leid bei der eigenen Patientenklientel.

4.2. Thematisierung der NS-Vergangenheit in der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde (DGfK) 4.2.1. Auseinandersetzung in der DGfK um Werner Catel und die »begrenzte Euthanasie« 1960 bis 1967 4.2.1.1. Vorgeschichte des Catel-Streits Als nachweislich spätestens 1959/1960 die Vergegenwärtigung der NS-Kindereuthanasie in der DGfK einsetzte, war Werner Catel (1894 – 1981) innerhalb der Kinderheilkunde wieder etabliert. Nach seiner Flucht aus Leipzig 1946 leitete er seit 1947 im hessischen Mammolshöhe (Taunus) zunächst eine Tuberkuloseheilstätte und erarbeitete ein Lehrbuch der Tuberkulose.271 Zeitgleich kam Catel 271 Werner Catel, Lehrbuch der Tuberkulose des Kindes und des Jugendlichen, Leipzig 1950 (2. Aufl. 1954). Catel führte in der Einrichtung an 28 Minderjährigen zwei klinische Versuchsreihen mit einem Sulfonamid-Präparat (TB I 698, IG Farben) gegen TBC durch, die zu toxischen Vergiftungen und zu Todesfällen führten. Catel, der die Eltern der Kinder nicht über die damals bereits bekannten Risiken aufgeklärt hatte, brach die erste Versuchsreihe erst nach Vorlage des Obduktionsberichts ab. Die zweite Versuchsreihe, die sich nur in der Applikationsart (Tabletten statt Injektionen) unterschied, führte erneut zu drei Todesfällen. Catel hielt es für ethisch vertretbar, die Experimente trotzdem fortzusetzen und informierte die wissenschaftliche Öffentlichkeit erst zeitversetzt über die Folgen. Eine Oberärztin, Dr. Santo, protestierte gegen die Experimente ihres neuen Vorgesetzten. Durch ein Gutachten von Prof. Franz Volhard, der Catel die Stelle vermittelt hatte, wurde Catel entlastet und die Beschwerde sowohl in der Ärztekammer Hessen als auch in der Medizinalabteilung des Hessischen Innenministeriums zu den Akten gelegt. Catels Vergangenheit wurde nicht thematisiert. Vgl. Thomas Gerst, Catel und die Kinder. Versuche an Menschen – ein Fall-

102

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

in mehreren Berufungsverfahren in die engere Auswahl als Ordinarius für Kinderheilkunde, sowohl in der SBZ / DDR als auch in der Bundesrepublik.272 Mindestens ein ostdeutsches Angebot lehnte er 1949 ab.273 Andere, wie z. B. jene in Hamburg oder Marburg scheiterten nach längeren Verhandlungen. Die Tatsache seiner gutachterlichen Beteiligung am Reichsausschuss war dabei bekannt. Das Hessische Kultusministerium befürchtete offenbar einen Skandal im Falle einer eventuellen Verurteilung Catels.274 1954 erhielt Catel den Ruf auf den Lehrstuhl für Kinderheilkunde an der Universität Kiel, deren Kinderklinik er leitete, obwohl man dort über seine Tätigkeiten im Reichsauschuss informiert war.275 Dass Catel in der Gruppe der Kinderärzte voll integriert war, dokumentiert eine von ihm 1956 in Kiel organisierte Fachtagung von 500 Pädiatern aus der BRD und der DDR. Aus der früheren Leipziger Zeit nahmen allein sechs Kollegen als Referenten oder Kommentatoren teil, darunter zwei der heute nachweisbar an den Kindestötungen direkt beteiligten Personen: Hanna Uflacker, die mit Catel von Mammolshöhe276 nach Kiel gewechselt war, sowie HansChristoph Hempel.277

272

273

274

275

276

beispiel 1947/48, Miszelle in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 15 (2000) 2, S. 100 – 109. Dass Catel offenbar für den Lehrstuhl in Tübingen angedacht war, geht aus der Korrespondenz Catels mit dem Internisten Hermann Bennhold hervor. Bennhold an Catel, 31. 1. 1975. Mappe »Leben im Widerstreit« (Besprechungen). Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Werner Catel. Die Medizinische Fakultät der Universität Halle setzte in ihrer Sitzung vom 28. 6. 1949 Werner Catel auf primo loco (2. Fritz Thoenes, 3. Siegfried Liebe) für den zu besetzenden Lehrstuhl für Kinderheilkunde. Catel lehnte im Oktober 1949 ab. Josef Dieckhoff, der noch vor Catel präferiert worden war, aber zunächst wegen einer Stelle in Düsseldorf abgelehnt hatte, meldete später doch sein Interesse an und wurde am 1. 4. 1950 zum Direktor der Kinderklinik sowie auf den Lehrstuhl für Pädiatrie berufen. Personalakte Prof. Josef Dieckhoff (21.3.1907 – 1977), Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin. Die Marburger Medizinische Fakultät hatte Catel auf primo loco gesetzt, obwohl seine Beteiligung an der Kindereuthanasie bekannt war. Das Hessische Kultusministerium entschied sich nach Rücksprache mit dem Justizministerium gegen den Willen der Fakultät im Mai 1950 gegen eine Berufung Catels. Als neuer Ordinarius wurde der kommissarische Leiter der Kinderklinik Friedrich Linneweh berufen. Vgl. Kornelia Grundmann, »Vergangenheitsbewältigung« nach dem 2. Weltkrieg – zur Berufungspraxis an der Marburger Medizinischen Fakultät. Werner Catel als Bewerber um den Marburger Lehrstuhl für Kinderheilkunde, in: Benno Hafeneger, Wolfram Schäfer (Hg.), Marburg in den Nachkriegsjahren 3. Entwicklungen in Politik, Kultur und Architektur, Marburg 2006, S. 47 – 68, hier : S. 58 – 60. Vgl. Petersen / Zankel, ›Ein exzellenter Kinderarzt, wenn man von den Euthanasie-Dingen einmal absieht‹, S. 190. Eine bis heute unbekannt gebliebene Person hatte während des Berufungsverfahrens auf Catels Beteiligung an der NS-Kindereuthanasie hingewiesen, woraufhin Catel in einer gesonderten Sitzung dem Dekan und der Fakultät »ausführlich« über seine Reichsausschusstätigkeit berichtete. Ebd. H. Uflacker war 1947 nach Gießen übergesiedelt und arbeitete seit dem 1. 1. 1954 in Mammolshöhe. Im August 1954 wurde sie in Kiel angestellt. Vita H. Uflacker, Haupt-

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

103

Die ab 1960 einsetzenden breiten öffentlichen Debatten um seine Person können Catel nicht ganz unvorbereitet getroffen haben. Im Rahmen der 1947 und 1949 durchgeführten Entnazifizierungsverfahren hatte er sich wegen der Mitgliedschaft in NS-Organisationen und seiner Gutachtertätigkeit im Reichsausschuss erklären müssen. Die Spruchkammer stufte Catel in die Gruppe V als »Entlasteter« ein. Eine 1949 angesetzte Überprüfung ging für Catel ebenfalls günstig aus. Die Ersteinstufung wurde nach Vorlage von vier »Gutachten« durch Catels Anwalt Fabian von Schlabrendorff (1907 – 1980)278 als korrekt bestätigt. Der Psychiater Max Nonne (Hamburg), der Kinderarzt Fritz Goebel (Düsseldorf), der Internist Franz Volhard (Frankfurt / Main) und der Kinderpsychiater Franz Günther v. Stockert (Frankfurt / Main) kamen in ihren Gutachten zum dem Schluss, die Art der Selektion im Sinne der Binding-Hoche-Schrift279 sowie staatsarchiv Hannover, Nds 721 Hannover Acc. 90/99 Nr. 33/11, StA beim LG Hannover, Band XI, Strafsache gegen Prof. Dr. Heinze u. and. wegen Mordes, S. 6 (Bl. 11). Friedrich Hartmut Dost stellte 1954, noch vor Catels Berufung nach Kiel, mit einer persönlichen Einleitung zu dessen 60. Geburtstag eine Sammlung pädiatrischer Beiträge für seinen akademischen Lehrer »von seinen Freunden und Kollegen« zusammen. Neben Beiträgen von den ehemals Leipziger Kollegen Erich Häßler, Hans-Joachim Hartenstein, Hans-Christoph Hempel oder Siegfried Liebe wird darin Hanna Uflacker unter dem Ort Gießen geführt. F. H. Dost, Herrn Professor Dr. Werner Catel zum 60. Geburtstag, 1954 masch. Manuskript. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel. 277 Werner Catel (Hg.), Kongressbericht der Norddeutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, 4. bis 6. Mai 1956 in Kiel, im Auftrag des Vorstandes, Lübeck 1957. Weitere Leipziger Kollegen: Friedrich Hartmut Dost (Berlin), Johannes Oehme (Leipzig), Siegfried Liebe und Lothar Weingärtner. Eine systematische Untersuchung zu deren eventueller Beteiligung oder Mitwisserschaft an den Leipziger Kindestötungen steht noch immer aus. Zur nachgewiesenen Beteiligung von Ärzten am RA-Verfahren vgl. Topp, Der »Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden«. 278 Fabian von Schlabrendorff zählte während des Krieges zur Widerstandsgruppe von Offizieren, die das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 organisierten, und konnte einer Verurteilung durch den Volksgerichtshof nur knapp entgehen. 1946 erschien sein in Folge mehrfach aufgelegtes Buch »Offiziere gegen Hitler. Nach einem Erlebnisbericht«. In der Bundesrepublik wurde er wieder als Jurist tätig und gehörte von 1967 bis 1975 dem Bundesverfassungsgericht als Richter des Zweiten Senats an. In dieser Funktion konnte er 1968 (im Zuge der Notstandsgesetzgebung) durchsetzen, das Recht auf Widerstand gegen staatliche Organe im Grundgesetz verankern zu lassen (Art. 20, Abs. 4 GG). Schlabrendorff teilte Catels Vorstellungen einer »begrenzten Euthanasie«. Siehe hierzu sein Vorwort in Catels Buch von 1966 »Leidminderung – richtig verstanden«, Verlag Glock & Lutz Nürnberg. Er hielt seinen Mandanten für einen gänzlich unpolitischen, standhaften und aufrechten Menschen, der nach 1945 unschuldig von juristischen Verfahren betroffen gewesen war. In seiner Autobiographie stellte er Werner Catel in eine Reihe mit Carl Gordeler und Dietrich Bonhoeffer und subsumierte ihn dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Der Kontakt war laut Schlabrendorff dadurch zustande gekommen, dass Catel ihn im Rahmen seiner Entnazifizierung um anwaltliche Vertretung bat. Vgl. Fabian von Schlabrendorff, Begegnungen in fünf Jahrzehnten, Tübingen 1979, S. 358. 279 Karl Binding und Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920. Diese Schrift zweier damals hoch angesehener Akade-

104

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Catels Beteiligung im Reichsausschuss seien aus ärztlicher Sicht nicht als verwerflich anzusehen. Die Tötung von Kindern in Catels Leipziger Kinderfachabteilung war zu diesem Zeitpunkt gar nicht bekannt.280 Auch ein durch den ehemals Hamburger, 1948 in die USA emigrierten Pädiater Rudolf Degkwitz 1949 ausgelöstes Ermittlungsverfahren gegen Catel, Ernst Wentzler, Wilhelm Bayer281 und dessen frühere Assistenzärztinnen282 an der privaten Kinderklinik Hamburg Rothenburgsort wegen Beteiligung an der Kindereuthanasie überstand Catel unbeschadet. Die Strafkammer 1 des Landgerichts Hamburg entschied, das Hauptverfahren gegen die betreffenden Ärzte nicht zu eröffnen, weil diesen das Unrechtsbewusstsein zum damaligen Zeitpunkt nicht nachgewiesen werden könne.283 Die sich daran anschließende Entscheidung der Hamburger Ärztekammer sowie der Hamburger Gesundheitsbehörde, der Argumentation des Landgerichts zu folgen und die ärztlichen Approbationen der beschuldigten Hamburger Ärzte und Ärztinnen nicht zu entziehen, löste allerdings schon damals heftige Reaktionen innerhalb der Ärzteschaft aus.284

280

281

282

283 284

miker (ein Jurist und ein Arzt), mit der die Diskussion über staatlich legitimierte Zwangstötung von »Ballastexistenzen«, »leeren Menschenhülsen« oder »geistig Toten« mit utilitaristischen Argumenten salonfähig gemacht wurde, wird als argumentativer und begrifflicher Nährboden für die 20 Jahre später im Nationalsozialismus vollzogenen Vernichtungsaktionen an Behinderten und psychisch Kranken angesehen. Siehe Abschriften der beiden Spruchkammerverfahren von 1947 und 1949. Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 90/99 Nr. 36: Ermittlungsverfahren gegen den Leiter der Jugendpsychiatrischen Klinik beim Landeskrankenhaus Wunstorf, Prof. Dr. med. Hans Heinze, geb. 1895, Band 44, 1947 – 1949, Bl. 5 – 129. Wilhelm Bayer leitete während des Krieges die einzige in einer privaten Kinderklinik eingerichtete Reichsausschussstation, in der vermutlich 200 Kinder getötet wurden. Vgl. Marc Burlon, Die »Euthanasie« an Kindern während der Zeit des Nationalsozialismus in den zwei Hamburger Kinderfachabteilungen, Med. Diss. Hamburg 2009; sowie: Sascha Topp, »Meldung eines Falles von Idiotie Hydrocephalus«. Die NS-»Kindereuthanasie« am Beispiel der Krankengeschichte von Ilse Angelika S., Fundstück, in: Babette Quinkert, Philipp Rauh und Ulrike Winkler (Hg.), Krieg und Psychiatrie 1914 – 1950, Göttingen 2010, S. 189 – 205. Es handelte sich dabei um Ortrud von Lamenzan, Ursula Bensel, Emma Lüthje, Ursula Petersen, Ingeborg Wetzel, Gisela Schwabe, Helene Sonnemann, Lotte Albers, Maria Lange de la Camp und Ilse Breitford. Vgl. Götz Aly, Der Mord an behinderten Hamburger Kindern zwischen 1939 und 1945, in: Angelika Ebbinghaus (Hg.), Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg, Hamburg 1984, S. 147 – 155; Topp, »Meldung eines Falles von Idiotie Hydrocephalus«, S. 198. Zur jüngsten Auseinandersetzung um die in der Stadt Celle angesehene Ärztin Helene Sonnemann (Darges-Sonnemann) vgl. u. a.: Andreas Babel, Ehemaliger Celler Chefärztin 12 Tötungen zur Last gelegt, in: Cellesche Zeitung vom 2. 6. 2010, http://www.cellesche-zeitung.de/website.php/website/story/91367 (5. 1. 2013). Petersen und Zankel, ›Ein exzellenter Kinderarzt, wenn man von den Euthanasie-Dingen einmal absieht‹, S. 186. N.N., Approbation wird nicht entzogen. Gemeinsame Erklärung der Hamburger Gesundheitsbehörde und der Ärztekammer Hamburg, in: Ärztliche Mitteilungen 46 (1961) 5, S. 234 – 235. Befürwortende Stimmen, aber auch klare Distanzierungen und Kritik finden sich in der Rubrik »Aussprache«: »Approbation wird nicht entzogen« Zu der gemeinsamen

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

105

Sollte es während dieser Jahre bereits Auseinandersetzungen in der DGfK um Catel und die NS-Kindereuthanasie gegeben haben, so sind sie in der Überlieferung der Fachgesellschaft nicht erhalten geblieben.285 Der früheste Nachweis liegt für das Jahr 1959 vor. Im Rahmen der Jahrestagung der Fachgesellschaft in München hielten Bernhard de Rudder (1894 – 1962) und Carl-Gottlieb Bennholdt-Thomsen (1902 – 1971) einen einleitenden Vortrag mit dem Titel »Ärztliches zur Welt des Kindes«.286 Es war Werner Catel, der sich zu einer Reaktion herausgefordert fühlte. Im Anschluss an die Tagung setzte er einen Beschwerdebrief an den Vorsitzenden der Fachgesellschaft, Alfred Wiskott (1898 – 1973), auf und warf diesem Satzungsbruch vor, weil es keine Gelegenheit zur Diskussion gegeben habe. Catel stieß sich an einer Äußerung de Rudders, der in seinem Vortrag zur intensiv diskutierten Frage der Schwangerschaftsabbrüche Stellung genommen und diese prinzipiell mit dem Argument abgelehnt hatte, dass jede Lockerung strengster ärztlicher Maßstäbe nur zum Missbrauch führen würde: »Alles andere wäre Wiedereinführung eines Tötungsrechtes für ›nichtlebenswertes Leben‹, wäre Krankenmord, wie er ja in einer nicht allzu fernen Zeit geschah.«287

Ob de Rudder in der Frage der Schwangerschaftsabbrüche die jüngste Vergangenheit als Missbrauchsargument einbrachte, um insbesondere gegen den Kollegen in Kiel einen Seitenhieb auszuteilen, bleibt unklar. Seine eigene Haltung während der Zeit des Nationalsozialismus bedarf unbedingt weiterer Untersuchungen.288 Catel jedoch argumentierte in seinem Schreiben gegenüber dem Vorsitzenden Wiskott brüskiert:

285

286

287 288

Erklärung der Hamburger Gesundheitsbehörde und der Ärztekammer Hamburg, veröffentlicht in ÄM 5/1961, Seite 234, in: Ärztliche Mitteilungen 46 (1961) 20, S. 1173 – 1178. In der Korrespondenz Catels findet sich der Durchschlag eines Schreibens vom 22. 11. 1951 an einen nicht erkennbaren Adressaten, in dem sich Catel wegen seiner ReichsausschussBeteiligung rechtfertigen musste. Er klärte den Adressaten darüber auf, dass dieser nicht einmal den korrekten Titel des Reichsausschusses erfahren habe, behauptete seine Gutachtertätigkeit mit Billigung seines akademischen Lehrers Georg Bessau angenommen zu haben, um »Unheil nach Möglichkeit abzuwehren«, und erbat, die Fakultät des Adressaten davon in Kenntnis zu setzen. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel. Das Schreiben könnte im Nachklang des gescheiterten Marburger Berufungsverfahrens entstanden sein. Die Beiträge wurden nach der Tagung im zentralen Fachorgan der DGfK, Monatsschrift für Kinderheilkunde, abgedruckt. Bernhard de Rudder, Ärztliches zur Welt des Kindes, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 108 (1959), 3, S. 79 – 83. Carl-Gottlieb BennholdtThomsen, Ärztliches zur Welt des Kindes, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde, 108 (1959) 3, S. 83 – 89. Ebd., hier : S. 81. Siehe auch: Kurzinformation zur 58. Tagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, München im September 1959, S. 2. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 60 DGfK. De Rudder, der sich hier so kritisch zur NS-Euthanasie äußerte, soll laut Einschätzung von Hans-Walter Schmuhl vor 1945 eine distanzierte Haltung zum Nationalsozialismus eingenommen haben; er unterhielt allerdings während des Krieges einen freundschaftlichen

106

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

»Was den Vortrag von Herrn de Rudder anbelangt, so wurden darin aber nicht nur ›biologische Allgemeinprobleme‹, sondern auch weltanschauliche Fragen behandelt, und eben dies war das Bedenkliche.«289

Catels Aufregung ist allerdings in einem besonderen Spannungsfeld zwischen dem Vorstand der DGfK und ihm zu sehen. Der Verfahrenskritik an der Münchener Diskussion war ein anderer Vorfall vorausgegangen. Einige Wochen zuvor hatte sich Catel bereits mit einer Beschwerde an Wiskott gewandt und dabei seinen Unmut darüber zum Ausdruck gebracht, dass ihm der Zugang zum Vorstand bislang verwehrt worden sei: »Ich habe es in den vergangenen Jahren in zunehmendem Maß als eine untragbare Herabsetzung und Desavouierung meiner Person empfunden, daß der Vorstand meine Wahl in dieses Gremium ablehnt, obwohl ich der Gesellschaft seit dem Jahre 1922 angehöre. Es ist beklagenswert, daß sich der Vorstand bei seinen Entschließungen über die demokratischen Spielregeln hinwegsetzt.«290 Austausch mit dem Rassenhygieniker und Humangenetiker Ottmar von Verschuer. So war de Rudder 1944 durch die Korrespondenz mit v. Verschuer über dessen Projekte zur Zwillingsforschung und den »Spezifischen Eiweißkörpern« informiert, aus denen v. Verschuer einen serologischen Rassentest zu entwickeln hoffte. Wie v. Verschuer ihn in Kenntnis setzte, habe er bereits (1944) Plasma-Substrate von »200 Menschen verschiedenster Rassen, Zwillingspaaren und einigen Sippen« erhalten. Ziel der Forschung sei nicht mehr allein der Nachweis des Erbeinfluss bei Infektionskrankheiten, sondern vielmehr »in welcher Weise er in Funktion tritt«. Ob de Rudder über die Herkunft der von Josef Mengele aus Auschwitz an v. Verschuer gesandten Blutproben im Bilde war, geht aus den Briefauszügen in der Forschungsliteratur nicht hervor. An der Tatsache aber, dass es sich grundsätzlich nicht mehr um nur tierische Proben oder Versuchsreihen handelte, konnte kein Zweifel bestehen. De Rudder hatte seinerseits ein genuines Interesse an v. Verschuers Projekten, da er sich selbst spätestens seit den 1930er-Jahren in Bezug auf Infektionskrankheiten mit der Frage des Zusammenspiels von erblicher Veranlagung der »Rassen« und Umwelteinflüssen befasste. Vgl. Hans-Walter Schmuhl, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927 – 1945, Göttingen 2005, hier: S. 209, 505 f. und 509 f. Quellenzitat aus dem Schreiben v. Verschuer an de Rudder, 4. 10. 1944 nach: Benno Müller-Hill, Das Blut von Auschwitz und das Schweigen der Gelehrten, in: Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-WilhelmGesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Erster Band, Göttingen 2000, S. 189 – 227, hier : S. 210; zur Korrespondenz zwischen v. Verschuer und de Rudder siehe auch Achim Trunk, Zweihundert Blutproben aus Auschwitz. Ein Forschungsvorhaben zwischen Anthropologie und Biochemie (1943 – 1945), Vorabdrucke aus dem Forschungsprogramm »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, hg. v. Carola Sachse im Auftrag der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., Ergebnisse 12, Berlin 2003, 86 Seiten, hier : S. 38 – 40. 289 Catel an Wiskott, 18. 12. 1959, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 60 DGfK, 1. Schriftwechsel Tagung München 1959 Ordner a) A-E. 290 Catel an Wiskott, 10. 10. 1959, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 60 DGfK, 1. Schriftwechsel Tagung München 1959 Ordner a) A-E.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

107

Catel kündigte in demselben Schreiben bereits an, an zukünftigen Veranstaltungen der DGfK nicht mehr teilnehmen zu wollen. Nachweislich wurde Catel nach 1945 nie in den Gesamtvorstand bzw. Vorstand gewählt.291 Zeitgenössische Belege für einen Beschluss, Catel nicht in den Vorstand aufzunehmen, liegen nicht vor. Denkbar wäre jedoch, dass Catel, der von Kollegen als eigensinniger und schwieriger Zeitgenosse empfunden wurde, schon seit seiner Berufung nach Kiel unliebsame Anlässe für eine vergangenheitspolitische Diskussion innerhalb der DGfK bot. Sollte es derartige Konflikte früher gegeben haben, so wurden sie neu entfacht, als Rudolf Degkwitz (1889 – 1973) bei gleich drei offiziellen Stellen (Ministerpräsident Schleswig-Holstein, Hamburger Oberbürgermeister und auf indirektem Weg an den leitenden Hamburger Oberstaatsanwalt) erneut Strafanzeige gegen Catel wegen dessen Beteiligung am Reichsausschuss erstattete. Diese Anzeige vom 6. Mai 1960 blieb zunächst folgenlos, bis durch einen Presseartikel der nötige öffentliche Druck entstand.292 Den breiteren Hintergrund bildete die publizistische Beschäftigung mit dem Themenkomplex NS-Euthanasie-Verbrechen: Als es 1960 zur Enttarnung des ersten medizinischen Leiters der sogenannten T4-Aktion (1939 – 1941), Werner Heyde, kam, der jahrelang unbehelligt unter kollegialem und politischem Schutz als Arzt und Gutachter unter dem Decknamen Fritz Sawade in Schleswig-Holstein praktiziert hatte, wurde dies vom Wochenjournal Der Spiegel aufgegriffen. In derselben Ausgabe vom 17. August 1960 erschien zugleich ein Artikel mit dem Titel »Eingeschläfert«.293 Neben der Titelgeschichte über die Heyde-Sawade-Affäre erhob der Pädiater Rudolf Degkwitz Vorwürfe gegen Werner Catel. Auch Ernst Wentzlers gutachterliche Beteiligung am Reichsausschuss wurde benannt. Einen Tag darauf waren in mehreren, auch überregional angelegten Zeitungen Artikel über Catels Vergangenheit abgedruckt. Dieser Spiegel-Artikel also löste für Catel eine Reihe problematischer Entwicklungen aus:

291 Allerdings hatte Catel im Jahr 1936 dem Gesamtvorstand angehört, der laut Satzung aus dem Vorstand und dem Ausschuss zusammengesetzt war. Der Ausschuss, in den Catel damals unter dem DGfK-Vorsitz seines akademischen Lehrers Georg Bessau gewählt worden war, fungierte als »Beirat des Vorstandes in allen wichtigen Angelegenheiten. Er prüft die Rechnung des Kassenführers […] und unterstützt den Vorstand in der Vorbereitung der Tagesordnungen, der Verhandlungen und der Mitgliederversammlungen.« Satzung DGfK 1929. Vgl. Adolf Windorfer und Rolf Schlenk, Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde. Ihre Entstehung und historische Entwicklung, Berlin / Heidelberg / New York 1978, S. 33 u. 37. 292 Petersen / Zankel, ›Ein exzellenter Kinderarzt, wenn man von den Euthanasie-Dingen einmal absieht‹, S. 196. 293 N.N., Rubrik Affären Euthanasie, »Eingeschläfert«, in: Der Spiegel Nr. 34, 17. 8. 1960, S. 31 – 33.

108

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

1) Es wurde eine Debatte in der breiten Öffentlichkeit angestoßen. Infolge des Artikels erschienen etwa 20 Beiträge im Spiegel und vier Artikel in Die ZEIT, in denen Catels Beteiligung am NS-Kindereuthanasieprogramm immer wieder aufgegriffen wurde. Dazu erschienen unzählige Leserbriefe mit Stellungnahmen zu Catel.294 2) Der Druck auf die Schleswig-Holsteinische Landesregierung, die Catel zunächst in Schutz genommen hatte, stieg. Diesem Druck der Öffentlichkeit gab Catel schließlich nach und leitete am 12. September 1960 seine vorzeitige Emeritierung ein.295 3) Gegen Catel wurde ein vom Kieler Innenminister angestrebtes Verfahren zum Approbationsentzug durch die Landesärztekammer Schleswig-Holstein eingeleitet. 18 Kinderärzte der Kieler Klinik verfassten daraufhin eine Eingabe, in der sie sich von jeder Form der Euthanasie distanzierten, jedoch den Entzug der Zulassung als ungerechtfertigt ablehnten. Das Verfahren wurde 1965 seitens der Landesregierung und des Präsidenten der Ärztekammer, dem Psychiater Edmund Christiani, eingestellt, weil man erkennen musste, dass bei der Berufung nach Kiel Catels Gutachtertätigkeit im Reichsausschuss bereits bekannt gewesen war. Diese Vergangenheit ließ sich nachträglich nicht als Begründung für einen Approbationsentzug verwenden.296 4) Es begann eine intensive und nachhaltige Auseinandersetzung um und mit Catel innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, die sich über sieben Jahre hinziehen sollte. 4.2.1.2. Der öffentliche Skandal um Werner Catel 1960: Ausschluss von Rudolf Degkwitz? Erste unmittelbare Reaktion in der DGfK Innerhalb der Fachgesellschaft erhielt Catel zunächst Schützenhilfe von einem Kollegen aus Bad Nauheim. Zehn Tage nach Erscheinen des Spiegel-Artikels ging beim Vorstand der DGfK ein Anschreiben von Prof. Felix von Bormann (1901 – 1978)297 ein. V. Bormann forderte den Vorstand zu einer Untersuchung über

294 Eigene Auswertung der Zeitschrift durch den Autor. Vgl. auch die Diplomarbeit von Arndt Schweizer, Sadistische Einzeltäter oder Kollektivschuld eines ganzen Standes? 50 Jahre Berichterstattung über NS-Verbrechen von Ärzten in Spiegel und Zeit, Hannover 1997. 295 Vgl. Petersen / Zankel, ›Ein exzellenter Kinderarzt, wenn man von den Euthanasie-Dingen einmal absieht‹, S. 195 – 200. 296 Ebd., S. 201 f. Der Vorgang einschließlich der Erklärung der Kieler Kinderärzte vom 9. 1. 1961 ist abgelegt im Staatsarchiv Hamburg, Bestand: 352 – 6 Gesundheitsbehörde, 1100.931, Band 2. 297 V. Bormann leitete in Bad Nauheim das Medizinisch-Diagnostische Institut und befasste sich mit Infektionskrankheiten. Eintrag Felix von Bormann, in: Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 1970, hg. v. Werner Schuder, Berlin 1970. Siehe auch: G. W. Gross

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

109

Degkwitz wegen dessen angeblicher Denunziantentätigkeit auf. Er verlangte Degkwitz’ Ausschluss, sollte sich sein Verdacht erhärten.298 V. Bormann, vor dem Krieg Assistent bei Hans Rietschel an der UniversitätsKinderklinik Würzburg, war 1932 in die NSDAP eingetreten und als SA-Angehöriger zum Sturmbannarzt und Sanitäts-Sturmbannführer ernannt worden.299 Gemeinsam mit Rietschel beantragte er 1933 beim bayerischen Kultusministerium Gelder für rassenbiologische Untersuchungen. 1942 wurde er zum außerplanmäßigen Universitätsprofessor in Hamburg ernannt. Von 1938 bis 1945 leitete er das Staatliche Hygiene-Institut in Bremen und versuchte Impulse für die Programmatik der deutschen Seuchenpolitik in den besetzten Ostgebieten zu geben.300 Während des Krieges soll er in Estland Experimente mit Typhus an Kriegsgefangenen unternommen haben.301 Als gesichert gilt, dass er von 1943 bis 1945 als beratender Hygieniker der 9. Armee fungierte und in seinen Berichten für »Seuchenschutzmaßnahmen« plädierte, bei denen die einheimische Bevölkerung bewusst einer erhöhten Ansteckungsgefahr ausgesetzt wurde, um so als eine Art lebendes Schutzschild im Frontgebiet zu dienen.302 Wie Joachim S. Hohmann und Jürgen Peter unabhängig voneinander beschreiben, verteidigte von Bormann noch Mitte der 1950er-Jahre in einem Beitrag die medizinischen Versuche vor allem an Personen aus gesellschaftlichen Randgruppen.303 Die »Isolierung eines ansteckenden Kranken, Sterilisie-

298

299 300

301 302

303

(Friedberg, Hessen), Prof. Dr. med. Felix v. Bormann 60 Jahre, in: Ärztliche Praxis XIII (1961) 25, S. 1495. Felix von Bormann an Gerhard Joppich, 26. 8. 1960, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 63 DGfK, 1. Schriftwechsel zur Tagung in Kassel 1960, Teil 3: Vorstandssitzung Ehrengäste b) Vorstandssitzung (A-Z). Martin Hofer, Hans Rietschel (1878 – 1970) – Direktor der Universitäts-Kinderklinik Würzburg von 1917 – 1946, Würzburg 2006, S. 39 f. Felix von Bormann, Kriegsseuchen und aktive Immunisierung, in: Medizinische Welt (1940), S. 861 – 865. Angabe aus: Thomas Werther, Fleckfieberforschung im Deutschen Reich. Untersuchung zu Beziehungen zwischen Wissenschaft, Industrie und Politik, Diss. Marburg 2004, S. 74; http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2008/0157/pdf/dtw.pdf (5. 1. 2013). Encyclopedia about Estonia. Rubrik: Education and Science, http://www.estonica.org/en/ Education_and_science/Science/Power_and_Spirit/ (5. 1. 2013). Aus dem Bericht von Bormanns als beratendem Hygieniker der 9. Armee: »Die Abschiebung der überflüssigen Esser und hygienisch schwer übersehbaren Elemente feind- oder banditenseits ist innerhalb der Armee zu einem Grundsatz erhoben worden.«, zit. nach: Karl-Heinz Leven, Fleckfieber beim deutschen Heer während des Krieges gegen die Sowjetunion (1941 – 1945), in: Ekkehart Guth (Hg.), Sanitätswesen im Zweiten Weltkrieg, Herford 1990, S. 127 – 166, hier: S. 147; Vgl. auch Hinz-Wessels, Das Robert-Koch-Institut im Nationalsozialismus, S. 95 Felix v. Bormann, Medizinische Versuche am Menschen, in: Nation Europa 6 (1956) 7, S. 62 – 72. Jürgen Peter bewertet den Text in der als von ihm rechtsextremistisch eingeschätzten Zeitschrift als Buchbesprechung zu »Das Diktat der Menschenverachtung« von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke 1947/1948. Demnach prangerte F. v. Bormann

110

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

rung eines erblich Belasteten, Hinrichtung oder Verbrauch in einem Versuch eines todeswürdigen Kriminellen« seien, so von Bormann im Jahr 1956, ein »notwendiges Muß«, insbesondere in Kriegszeiten.304 In welchem Verhältnis Catel und v. Bormann vor und nach 1945 zueinander standen, ist bislang nicht bekannt. Doch die Einstellungen beider Mediziner zur sogenannten »Vernichtung lebensunwerten Lebens« lagen, wie hinsichtlich Catels Position noch genauer zu zeigen sein wird, dicht beieinander, wenn von Bormann Geistkranke im Sinne von Binding und Hoche als »geistig völlig Tote« klassifizierte, denen kein »Wert einer Persönlichkeit« zugestanden werden könne.305 Bormanns Vorstoß gegen Degkwitz stieß im Vorstand auf Unverständnis. Der amtierende Jahresvorsitzende der DGfK, Gerhard Joppich (1903 – 1992), lehnte es ab, sich »irgendeinen Auftrag zuspielen zu lassen, der gar nicht zu den Befugnissen unserer Gesellschaft gehört«.306 Auch Alfred Wiskott, vormaliger Vorsitzender und Mitglied des Vorstands reagierte in Joppichs Sinne: »Ich würde es für sehr unglücklich halten, wenn sich die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde mit dieser Angelegenheit befassen müsste.«307 Wiskott wies darauf hin, dass der Spiegel keineswegs Anschuldigungen gegen Degkwitz, sondern vielmehr gegen »Herrn C.« wiedergegeben habe. Dem Vorstand schlug Joppich nun vor, sich mit Verweis auf die in der Satzung verankerten Ausschlussregelungen von Bormanns Anliegen zu distanzieren und ihn aufzufordern, selbst Erkundigungen einzuholen. Der langjährige Schriftführer der Fachgesellschaft Joachim Wolff (1909 – 1984), dem die Offensive Bormanns ebenfalls Unbehagen bereitete, erklärte sich sofort einverstanden.308 Vorstandsmitglied Philipp Bamberger (1898 – 1983), ein Schüler Degkwitz’, dankte Joppich ausdrücklich und fand dessen Anschreiben an von Bormann »ausgezeichnet«:

304

305 306

307 308

darin vor allem Viktor von Weizsäcker und die Autoren der Dokumentensammlung als Handlanger der »Siegerjustiz« an. Vgl. Peter, Der Nürnberger Ärzteprozeß, S. 145 – 148. Angabe und Zitat hier nach: Joachim S. Hohmann, Die nationalsozialistische »Euthanasie« in sächsischen Anstalten und ihre strafrechtliche Ahndung in der SBZ, in: Historical Social Research 20 (1995) 4, S. 31 – 60, hier : S. 46. http://hsr-trans.zhsf.uni-koeln.de/hsrretro/ docs/artikel/hsr/hsr1995_370.pdf (5. 1. 2013). Zitat hier nach Peter, Der Nürnberger Ärzteprozeß, S. 146. Joppich an den Vorstand (Wiskott, Bamberger, Frick, Wolff), 27. 8. 1960, Archiv für Kinderund Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 63 DGfK, 1. Schriftwechsel zur Tagung in Kassel 1960, Teil 3: Vorstandssitzung Ehrengäste b) Vorstandssitzung (A-Z). Wiskott an Joppich, 31. 8. 1960, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 63 DGfK, 1. Schriftwechsel zur Tagung in Kassel 1960, Teil 3: Vorstandssitzung Ehrengäste b) Vorstandssitzung (A-Z). Wolff an Joppich, 31. 8. 1960, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 63 DGfK, 1. Schriftwechsel zur Tagung in Kassel 1960, Teil 3: Vorstandssitzung Ehrengäste b) Vorstandssitzung (A-Z).

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

111

»Ich persönlich habe das Gefühl, daß Herr von Bormann wohl ein Ressentiment aus früheren Jahren gegen Herrn Degkwitz hat, das er dabei abreagieren will.«309

Der Hinweis dürfte sich auf Degkwitz’ Tätigkeit an der Hamburger Universität beziehen, an der er, – nach einer anfänglichen Anhängerschaft in den 1920erJahren, dann jedoch nach fundamentaler Abkehr vom Nationalsozialismus – einen Kreis NS-kritischer Personen anzog.310 Ob der streitbare Kinderarzt Degkwitz dabei konkret in Konflikt mit dem Kollegen von Bormann kam, ließ sich aus der vorliegenden Forschungsliteratur nicht eruieren. Anzunehmen wären fachliche Differenzen, war doch von Bormann seit Mitte der 1930er-Jahre gegen eine aktive Masern- und Diphterieprophylaxe eingetreten und hatte dazu sozialdarwinistische und eugenische Motive angeführt. Mit dem Argument, es sei nicht richtig, »Masern in ihrer Auslesewirkung zu stören«,311 hatte er praktisch das Sterbenlassen von konstitutionsschwachen Kindern im Sinne einer natürlichen Selektion eingefordert. Direkte Spannungen mit Degkwitz, dem die Medizin die passive Masernprophylaxe überhaupt zu verdanken hatte, sind also keineswegs auszuschließen. Wenngleich Degkwitz in der Forschungsliteratur, anders als sein Sohn Rudolf Degkwitz jun., nicht der Widerstandsbewegung zugerechnet wird,312 so besteht kein Zweifel an seiner deutlichen Oppositionshaltung gegenüber dem NS-Regime. Als Degkwitz beispielsweise durch ein betroffenes Elternpaar von der in Hamburg geheim vollzogenen Kindereuthanasie erfuhr, soll er den Amtsarzt und den Gesundheitssenator zur Rede gestellt haben.313 In privaten Kreisen, aber auch während seiner Vorlesungen sprach er sich gegen die NS-Erbgesundheitspolitik und den laufenden Krieg gleichermaßen aus. Nach einer Anzeige durch einen Hamburger Kollegen drohte ihm in einem Verfahren vor dem Volksgerichtshof (Roland Freisler) die Todesstrafe wegen des 309 Bamberger an Joppich, 7. 9. 1960, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 63 DGfK, 1. Schriftwechsel zur Tagung in Kassel 1960, Teil 3: Vorstandssitzung Ehrengäste b) Vorstandssitzung (A-Z). 310 Vgl. Hendrik van den Bussche, Medizinische Wissenschaft im Dritten Reich. Kontinuität, Anpassung und Opposition an der Hamburger Medizinischen Fakultät, Berlin / Hamburg 1989, hier: S. 400 ff. 311 Felix v. Bormann im Rahmen einer Tagung der Deutschen Vereinigung für Mikrobiologie, in: Zentralblatt für Bakteriologie, I. Abt., Bd. 140, Originale, 1937, S. 189. Zit. und Angabe nach: Hinz-Wessels, Das Robert-Koch-Institut, S. 95 mit Anm. 445. Seine Kritik an der Durchimmunisierung der Bevölkerung mit einer aktiven Diphtherieschutzimpfung nahm er im Verlauf des Krieges zurück. Ebd., S. 97 f. 312 Van den Bussche, Medizinische Wissenschaft, S. 402. 313 Vgl. Joist Grolle, Einer der hinsah, wo andere wegsahen: Der Hamburger Kinderarzt Rudolf Degkwitz gibt Zeugnis von den NS-Verbrechen, in: Dirk Brietzke, Norbert Fischer und Arno Herzig (Hg.), Hamburg und sein norddeutsches Umland. Aspekte des Wandels seit der Frühen Neuzeit. Festschrift für Franklin Kopitzsch, Hamburg 2007, S. 377 – 389, hier : S. 379.

112

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Vorwurfs der »Wehrkraftzersetzung« und des »Defaitismus«. Der Volksgerichtshof folgte allerdings der Argumentation der sachverständigen Zeugen der Verteidigung, – u. a. Hans Bürger-Prinz (1897 – 1976), Direktor der Psychiatrischen und Nervenklinik Hamburg-Eppendorf, und Georg Bessau (1884 – 1944), Leiter der Kinderklinik der Berliner Charit¦ –, nach der Degkwitz mit seiner Forschung zur Masernprophylaxe einen Beitrag gegen die Kindersterblichkeit und damit für das Vaterland geleistet habe.314 So wurde eine siebenjährige Haftstrafe verhängt, von der Degkwitz durch das Kriegsende nur einen kleineren Teil verbüßen musste. Als v. Bormann gegen Ende des Jahres 1960 glaubte, aus der Presse genug Beweise gegen Degkwitz vorlegen zu können, stellte er gemäß der Satzung einen Ausschlussantrag. Dieser Antrag blieb zwar nicht in den historischen Akten der Fachgesellschaft, dafür aber in den Unterlagen des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR (MfS) erhalten, das zu der Zeit in gleich mehreren Abteilungen mit dem öffentlichen Skandal um Werner Catel bzw. dessen ehemaligen Leipziger Mitarbeiter befasst war und die kollegiale Briefkorrespondenz von West nach Ost überwachte. So erhielt sich eine Abschrift jenes Briefes an den Vorsitzenden Gerhard Joppich. In dem Antrag durch von Bormann hieß es: »Nun hat Herr Degkwitz in den ›Ärztlichen Mitteilungen‹ Nr. 46 1960 S. 2382 ausführlich berichtet, dass er 1945 einen Strafantrag gegen die Hamburger Ärzte und Prof. Catel gestellt hat. Alle diese Kollegen wurden 1949 frei gesprochen [sic!]. Im Frühjahr 1960 hat er einen zweiten Strafantrag in der gleichen Angelegenheit gestellt und dem Generalstaatsanwalte des Bundesgerichtes geschrieben, er hätte nach 15 Jahren einen zweiten Strafantrag in der gleichen Sache gestellt, um zu sehen. [sic!] ob es wieder Rihter [sic!] gibt. Damit sehe ich den Tatbestand einer Denunziation gegeben und beantrage den

314 Vgl. Wolfgang Uwe Eckart, Lange Schatten aus Königsberg – Philipp Bamberger (1898 – 1983) und die Heidelberger Kinderklinik in schwerer Nachkriegszeit, in: Georg F. Hoffmann, Wolfgang Uwe Eckardt und Philipp Osten (Hg.), Entwicklungen und Perspektiven der Kinder- und Jugendmedizin. 150 Jahre Pädiatrie in Heidelberg, Mainz 2011, S. 99 – 135; Hendrik van den Bussche, Rudolf Degkwitz. Die politische Kontroverse um einen außergewöhnlichen Arzt, in: Kinder- und Jugendarzt 30 (1999) Nr. 4, 5, S. 425 – 431, u. S. 549 – 559; Rudolf Degkwitz jun. gehörte der Hamburger Widerstandsgruppe »Weiße Rose« an und war ebenfalls von 1943 bis zum Kriegsende inhaftiert. Degkwitz musste sich 1947 – 1949 in einem Ermittlungsverfahren gegen Vorwürfe wehren, während seiner Haftzeit im Zuchthaus Celle als Lazarettarzt medizinische Experimente an anderen Insassen vorgenommen zu haben. Ehemalige Mithäftlinge berichteten, Degkwitz habe unter Zwang Spritzen gegen TBC verabreicht, woraufhin etwa zehn Häftlinge verstorben seien. Degkwitz konnte jedoch glaubhaft machen, TBC-Kranken Vitaminspritzen der IG-Farben (Sudan III) verabreicht zu haben, die zuvor im Tierversuch getestet worden waren. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 721 Lüneburg Acc. 153a/82 Nr. 33 (1947 – 1949), Nr. 2666 Ermittlungsverfahren gegen Prof. Dr. med. Rudolf Degkwitz, geb. 1899: Wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit (Misshandlung von Häftlingen und Tötung durch Spritzen, April 1944 bis April 1945 im Lazarett des Zuchthauses Celle).

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

113

Ausschluß von Herrn Prof. Degkwitz aus der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde.«315

Da zum Jahreswechsel satzungsgemäß der Vorsitz des Vorstandes bereits gewechselt hatte, war nunmehr Philipp Bamberger zuständig. Dieser versandte eine Kopie des Antrags an die Mitglieder des gesamten Vorstandes mit der Bitte um eine Stellungnahme und wies begleitend darauf hin, »daß der juristische Tatbestand einer Denunziation (falsche Anschuldigung) nicht gegeben«316 sei. Wie auch immer die Stellungnahmen im Einzelnen ausgesehen haben mögen, von Bormanns Ausschlussantrag wurde vom Gesamtvorstand im Sommer desselben Jahres einstimmig abgelehnt.317 Von Bormann bezog sich in seiner Begründung des Antrags auf einen Artikel von Rudolf Degkwitz, den dieser im Zuge der Heyde-Sawade-Affäre in den Ärztlichen Mitteilungen (Publikationsorgan der Bundesärztekammer und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, heute: Deutsches Ärzteblatt) veröffentlicht hatte. Degkwitz forderte darin die gesamte deutsche Medizin energisch zu einem schonungslos kritischen Umgang mit der Vergangenheit auf, was im Falle des Eintretens einem Paradigmawechsel gleichgekommen wäre. Seine Angaben zu den Euthanasie-Opfern beziehen sich auf die in der Aktion T4 getöteten Psychiatrie-Patienten sowie auf die in das Reichsausschussverfahren einbezogenen Kinder und Jugendlichen, für deren Tod Kinderärzte verantwortlich waren: »Es sind 60 000 bis 70 000 Insassen deutscher Krankenhäuser, Irrenanstalten und Altersheime getötet worden. […] Die Tötung geistig zurückgebliebener Kinder wurde bis zum Kriegsende fortgesetzt. […] Wer und wo sind die Mörder und ihre Helfershelfer? Welche Stellung nehmen sie in der deutschen Ärzteschaft ein? […] Die törichste Antwort auf diese Situation ist die übliche: Laßt die Dinge ruhen, wenn es zu Prozessen kommt, wird nur dem Ansehen Deutschlands geschadet. […] Was das durch die Menschenexperimente in den KZs und durch die Passivität gegenüber Hitlers Masseneuthanasie geschädigte Ansehen der deutschen Medizin wiederherstellen kann, sind: eine offene mannhafte Diskussion dessen, was geschehen ist, eine Reinigung des deutschen Ärztehauses und eine ebenso gründliche Durchlüftung der deutschen medizinischen Fakultäten.«318

315 Felix v. Bormann an Joppich, 6. 1. 1961. BStU, Archiv der Zentralstelle, MfS. HA XX, Nr. 4120, Bl. 14. 316 Philipp Bamberger, Heidelberg, an Karl Nissler, Magdeburg, und dem gesamten Vorstand des DGfK, 24. 1. 1961 BStU, Archiv der Zentralstelle, MfS. HA XX, Nr. 4120, Bl. 12. 317 Bamberger an Wolff, 15. 6. 1961, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 70 DGfK 1961 – 1962, Schriftwechsel 1.1.1961 – 14.10.1961. 318 Rudolf Degkwitz (New York), »Masseneuthanasie« im Dritten Reich, Rubrik Aussprache in: Ärztliche Mitteilungen 45 (1960) 2, S. 2382.

114

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Wie der Von-Bormann-Vorstoß zeigt, setzte Degkwitz nicht nur allgemein die Ärzteschaft unter Druck, sondern zwang indirekt auch seine eigene Fachgesellschaft zu einem – wie es aus der Rückschau auf die nachfolgenden Ereignisse erscheinen kann – vergangenheitspolitischen Testdurchlauf. Für Degkwitz selbst waren diese Gedanken allerdings keineswegs neu. Ähnliche Forderungen hatte er bereits unmittelbar nach dem Kriegsende in einer Buchveröffentlichung aufgestellt. Mit einem Aufruf an die »deutsche Jugend« verlangte er 1946 eine unnachsichtige und gründliche Abrechnung mit den Nationalsozialisten. Darin sprach Degkwitz von »kollektiver Schuld«, der auch »kollektive Strafe« folgen müsse.319

4.2.1.3. Öffentliche Erklärung der DGfK 1961: Zweite unmittelbare Reaktion »In der deutschen Presse sind in der letzten Zeit mehrfach Artikel erschienen, die sich mit der während des Krieges ausgeführten Tötung von unheilbar idiotischen oder schwer körperlich mißbildeten [sic!] Kindern beschäftigen. Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde erklärt dazu, dass für ihn die Vernichtung auch sogenannten lebensunwerten Lebens in keinem Fall mit dem ärztlichen Berufsethos vereinbar ist.«320

Diese Erklärung des DGfK-Vorstandes erschien 1961 in Ärztliche Mitteilungen und richtete sich damit an die gesamte deutsche Ärzteschaft. Im Vergleich zur radikalen Stellungnahme Degkwitz’ fiel die Erklärung der DGfK moderat und vorsichtig aus. Die Entstehung dieser Erklärung ist nur bedingt, d. h. nicht mehr lückenfrei zu rekonstruieren: Der DGfK-Vorsitzende des Jahres 1961, Philipp Bamberger (1898 – 1983) aus Heidelberg, spielte bei deren Entstehungsgeschichte eine maßgebliche Rolle. Bamberger soll während seiner Zeit als Ordinarius für Pädiatrie in Königsberg und Leiter der dortigen Kinderklinik (1937 – 1945) als Gegner der Nationalsozialisten bekannt gewesen sein. Seine wiederholten direkten Kontakte zu Gauleiter Erich Koch dienten, so Wolfgang Eckardt, allein dem Zweck, letzteren von der Notwendigkeit aller Maßnahmen zur Senkung der hohen Kindersterblichkeit zu überzeugen. Auch soll Bamberger in der Königsberger Klinik nicht mit Kritik an den Krankenmorden gespart haben. Darüber hinaus setzte er sich für 319 Als ausgleichende Gerechtigkeit empfand er die Überlegung, »Nazis als Zwangsarbeiter zu verschicken«. Vgl. Rudolf Degkwitz, Das alte und das neue Deutschland, Hamburg 1946, hier : S. 236 u. 238. Das Manuskript hatte Degkwitz bereits während des Krieges, in den Jahren 1940 bis 1943, erstellt. Es konnte im Zuge der Verhaftung durch die Gestapo (22. 9. 1943) nur knapp vor der Entdeckung bewahrt werden. Vgl. Grolle, Einer der hinsah, S. 380 f. 320 Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, Mit ärztlichem Berufsethos unvereinbar, in: Ärztliche Mitteilungen 46 (1961), S. 1519.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

115

seinen akademischen Lehrer Rudolf Degkwitz ein, als dieser 1943 von der Gestapo verhaftet wurde.321 In einem Schreiben Bambergers an seinen Wiener Kollegen Hans Asperger (1906 – 1980) hieß es nun 1961: »Ich bedauere, dass ich Sie in der Angelegenheit der Euthanasie belästigt habe […]. Trotzdem war mir ihre Antwort außerordentlich wertvoll. Ich habe den Geist, der aus ihr spricht, erwartet, und habe mich über ihre Einstellung besonders deswegen gefreut, weil der Widerhall auf meine Anfrage keineswegs so eindeutig ausgefallen ist, wie wir beide es erhofft hatten.«322

Bamberger hatte zur Frage der Euthanasie eine Anfrage an den Gesamtvorstand gestellt, die zu einem gemischten Meinungsbild geführt haben muss. Asperger, seit einem Jahr nicht mehr dem Vorstand angehörend, hatte Bamberger gegenüber offen seine Position erklärt und gefordert, dass die DGfK gegen Catels Euthanasie-Postulat Stellung beziehen möge: »Trotzdem drängt es mich, zu der Problematik Stellung zu nehmen […], und zwar gerade deshalb, weil in der Gegenwart […] die ethischen Begriffe in einer schrecklichen Weise unklar geworden sind. Dem muß aber doch das Bewusstsein der Menschheit seit dem Griechentum und besonders durch die ganze christliche Geschichte entgegengestellt werden, daß unschuldige Menschen nicht getötet werden dürfen und daß es kein lebensunwertes Leben gibt. Es zeigt meiner Überzeugung nach eine erschütternde Wertblindheit, aber auch ein Nichtverstehen menschlicher Beziehungen und psychologischer Begebenheiten, wenn jemand meint, man dürfe unter gewissen Umständen menschliches Leben doch vernichten, man dürfe Unglück dadurch aus der Welt schaffen, daß man den Anlaß dazu tötet. […] Ich bin also der Meinung, die ›Deutsche Gesellschaft‹ müßte klare Stellungnahme beziehen, und ich würde ihr lange nicht mehr so gern angehören, wenn sie das unterließe.«323

Aspergers Haltung ist besonders vor dem Hintergrund bemerkenswert, dass er während des Krieges als Assistent von Franz Hamburger an der Universitätskinderklinik der Stadt Wien tätig gewesen war. Sein Vorgesetzter sympathisierte offen mit dem Nationalsozialismus.324 321 Vgl. Eckardt, Lange Schatten aus Königsberg, S. 109 f. Die erwähnte Anhörung des Sachverständigen Georg Bessau vor dem Volksgerichtshof dürfte auf Bambergers Initiative zurückgehen. Bamberger war überzeugt, dass nur ein angesehener, der NS-»Bewegung« nahe stehender Zeuge wie Georg Bessau glaubhaft im Sinne Degkwitz’ Argumente gegen die drohende Todesstrafe vorbringen konnte. 322 Bamberger an Asperger, 7. 2. 1961, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 80, DGfK 1961/62, 1. Korrespondenz Bamberger, Teil 2 b) A-C. 323 Asperger an Bamberger, 2. 2. 1961, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 80, DGfK 1961/62, 1. Korrespondenz Bamberger, Teil 2 b) A-C. 324 Ernst Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945,

116

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Im Januar 1961 verschickte Bamberger den Textentwurf einer geplanten offiziellen Stellungnahme an die Mitglieder des Gesamtvorstandes und bat um Stellungnahme. Im Sommer informierte er den Schriftführer Wolff über das Ergebnis: Der Entwurf wurde von elf Mitgliedern angenommen und von fünf abgelehnt.325 Welche der Mitglieder sich gegen den Entwurf aussprachen, geht aus dem Dokument nicht hervor. Ein Mitglied hatte seine Zustimmung an den Fall eines einstimmigen Votums aller gebunden. Als dies nicht eintrat, lehnte er die Erklärung ab. Trotzdem war die laut Satzung nötige Zwei-Drittel-Mehrheit erreicht und die Erklärung wurde 1961 veröffentlicht. Laut Unterlagen der DGfK kommt also Bamberger besondere Bedeutung bei der Realisierung dieser Erklärung zu. Allerdings ging die Initiative dazu nicht von ihm aus, wie wiederum anhand der Akten des MfS der DDR gezeigt werden kann. Folgt man der Abschrift eines Briefes von Prof. Dr. Ulrich Köttgen (1906 – 1980), Direktor der Universitäts-Kinderklinik Mainz, an den Vorsitzenden Bamberger, so war er es, der die Idee einer öffentlichen Stellungnahme entwickelte und in Antragsform beim Vorstand einbrachte. Es handelte sich bei dem Mainzer Kollegen um einen Sozialpädiater, der während des Krieges seine Oberarztstelle an der von Jussuf Ibrahim geleiteten Universitätskinderklinik in Jena verlassen musste, weil er in kritischer Distanz zum Nationalsozialismus gestanden hatte.326 Frankfurt am Main 22007, Eintrag: Franz Hamburger, S. 222. Catel war als Nachfolger für Hamburger vorgesehen und hatte bereits 1944 mit Max de Crinis im Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung sehr konkrete Verhandlungen über seine Antrittsbedingungen geführt. Den Wiener Lehrstuhl konnte Catel trotz bereits erfolgter Berufung infolge des Kriegsendes nicht mehr antreten. BArch Berlin (BDC), Nr. 1644. Zum Aspekt der politischen Haltung Aspergers während der NS-Zeit formulierte der Präsident der DGfK im 1981 in memoriam: »Im 2. Weltkrieg wurde er als Bekenner aufrechter Gesinnung bedroht.«, Hermann Olbing, Eröffnungsansprache zur 77. Tagung der DGfK, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 130 (1982), S. 325 – 329, hier : S. 329. Asperger starb am 21. 10. 1980. 325 Bamberger an Wolff, 15. 6. 1961, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 70 DGfK 1961 – 1962, Schriftwechsel 1.1.1961 – 14.10.1961. 326 Siehe dazu Köttgens autobiographische Schrift, aus der hervorgeht, wie ihm sein damaliger Vorgesetzter Jussuf Ibrahim 1936 mitteilte, dass seine Aufstiegschancen an der Universität Jena aufgrund seiner politischen Haltung begrenzt seien, und ihm vorschlug, eine Praxis eines vertriebenen jüdischen Kollegen in Meiningen zu übernehmen. Ulrich Köttgen, 50 Jahre medizinisches Lernen und Lehren in der Kinderheilkunde (Vortrag gehalten 1977 am Medizinhistorischen Institut Mainz), in: Gunter Mann und Franz Dumont (Hg.), Medizin in Mainz. Sonderdruck: Praxis und Wissenschaft. Entwicklungen und Erinnerungen. 40 Jahre Medizinische Fakultät und Klinikum 1946 – 1986, Mainz 1986, S. 273 – 288, hier : S. 280. Nach Köttgens Tod 1980 wurde ihm im Rahmen der Eröffnungsansprache des Präsidenten Hermann Olbing bei der Düsseldorfer Jahrestagung 1981 eine besondere Totenehrung zuteil. Olbing erklärte u. a.: »Seine entschiedene Weigerung, sich dem Zeitgeist im nationalsozialistischen Deutschland anzupassen, kostete ihn zuerst seine Oberarztstelle

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

117

Köttgen nahm in seinem Anschreiben an den Vorstandsvorsitzenden explizit Bezug auf die Stellungnahme der Hamburger Ärztekammer, nach der im Falle der NS-Kindereuthanasie in Hamburg-Rothenburgsort angeblich in allen Fällen die Zustimmung der Eltern vorgelegen habe.327 An Bamberger schrieb Köttgen: »Es ist nicht nur meine Auffassung, daß man ihr [der Stellungnahme] entnehmen kann, daß der Kinderarzt bei Tötung eines Kindes dann wesentlich entlastet sei, wenn das Einverständnis der Eltern vorliege. Eine derartige Einstellung erscheint deshalb besonders bedenklich, da leider nicht ganz selten in versteckter Form von den Eltern solche Ansinnen gestellt werden. Es liegt mir nichts ferner, als in irgendeiner Weise in den Prozeß gegen Herrn Catel und die übrigen beteiligten Ärzte aktivierend eingreifen zu wollen. Wohl aber erschiene es mir dringend erforderlich, unsererseits ganz unmißverständlich zum Ausdruck zu bringen, daß die Billigung eines strafbaren Verbrechens an einem Kinde durch die Eltern den Arzt in keiner Weise seiner Verantwortung enthebt. Ich bin überzeugt, daß die deutschen Ärzte insbesondere unsere engeren Fachkollegen sich im Inland und Ausland einer schweren und berechtigen Kritik aussetzen, wenn sie nicht zum Ausdruck bringen, daß die alten ethischen Gesetze des Arzttums auch für sie noch Gültigkeit besitzen. Es erschiene mir erforderlich, daß gerade die Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde eine geeignete Erklärung der Öffentlichkeit übergäbe[,] und möchte dies hiermit beantragen.«328

Köttgens Antrag ging demnach etwa zeitgleich zum Ausschlussantrag v. Bormanns gegenüber Degkwitz ein. Der Vorsitzende informierte den gesamten Vorstand mit ein und demselben Schreiben über beide Anträge und legte, da er der Meinung Köttgens beipflichtete, eine von ihm selbst entworfene Erstfassung einer Stellungnahme bei und schlug als Publikationsort die Ärztlichen Mitteilungen vor. Dieser im Archiv der Fachgesellschaft nicht erhaltene Entwurf ist in den Unterlagen des MfS der DDR als Abschrift überliefert. Allerdings kann er aufgrund des schlechten Erhaltungszustandes des Dokuments hier nicht vollständig zur Analyse herausgezogen werden. Erkennbar sind sowohl der Kern der späteren Veröffentlichung als auch einige aufschlussreiche Bestandteile vor der Modifikation: »In der deutschen Tagespresse sind in der Letzten [sic!] Zeit mehrfach Artikel erschienen, die sich mit der während des Krieges ausgeführten Euthanasie von unheilbar idiotisch oder schwer körperlich mißbildeten [sic!] Kindern beschäftigen. Dabei in der Universitätskinderklinik Jena und später eine Position in einem Landeskrankenhaus.« Eröffnungsansprache zur 77. Tagung der DGfK , S. 329. 327 Siehe Anm. 284 und 373 (u. a.: N.N., Approbation wird nicht entzogen…) Zum aktuellen Stand der Forschung bezüglich des Spektrums an Elternreaktionen siehe Burlon, Die »Euthanasie« an Kindern; Topp, »Meldung eines Falles von Idiotie Hydrocephalus«. 328 Ulrich Köttgen an Bamberger, 13. 1. 1961, Abschrift. BStU, Archiv der Zentralstelle, MfS. HA XX, Nr. 4120, Bl. 13.

118

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

wurde darauf hingewiesen, dass die ausführenden Ärzte von den dazu berufenen [?] Gremien exkulpiert wurden und dass die Tötung [?] mit Einverständnis der Eltern erfolgt sei. Der Vorstand der […]tschen Gesell[…] für Kinderheilkunde erklärt dazu, dass die Vernichtung sog. lebensunwerten Lebens in k[…] […?] Berufsethos vereinbar ist. […?] Allen Erklärungen, die eine andere […?] […?] […]ringen [?].«329

Neben den späteren Streichungen z. B. des von Köttgen problematisierten Aspekts der elterlichen Forderung nach aktiver Sterbehilfe, durch die eine Wertverschiebung in der Debatte um die Kindereuthanasie zu befürchten stand, ist der wohl auffälligste Befund der, dass der Begriff »Euthanasie« durch den Begriff der Tötung ausgetauscht wurde. Offensichtlich wollten der Vorstand bzw. einzelne Mitglieder den Begriff »Euthanasie« nicht auf die Massentötungen von behinderten Kindern während des Krieges angewandt sehen. Ob der Entwurf, wie schon das Köttgen-Schreiben, einen Passus zur traditionsreichen, sich auf die Antike berufende Medizinethik (Eid des Hippokrates) enthielt, lässt sich nicht feststellen. Sollte sie enthalten gewesen sein, so wurde diese Spezifizierung fallengelassen. Die Dokumente deuten allgemein eine tendenziell passive Haltung des Vorstands gegenüber der Thematik NS-Kindereuthanasie an, waren es doch der besondere Charakter Catels, die breiten Reaktionen auf ihn in der Presse und die eindringlichen Aufforderungen durch Degkwitz, Köttgen und Asperger durch die sich der Vorstand zum Handeln gezwungen sah. Eine Stellungnahme erschien angesichts der öffentlichen Auseinandersetzung notwendig, um größeren Schaden von der Fachgesellschaft abzuwenden. Das Ergebnis war die Distanzierung gegenüber dem ehemals Leipziger, nun Kieler Kollegen. Auch die seit den 1920er-Jahren lancierte Aufforderung von Karl Binding und Alfred Hoche zu einer »Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens«, die in den 1950erJahren Medizinern noch immer kontroversen Diskussionsstoff bot, wurde hier von der Gesellschaft für Kinderheilkunde mit Verweis auf die Berufsethik abgelehnt. Aus dem defensiven Charakter der Erklärung von 1961 ist das Dilemma der DGfK erkennbar. Schon das Prinzip der Kollegialität schloss aus, in der Presse angeprangerte, aber nicht rechtskräftig verurteilte Kollegen offen anzugreifen. Doch stand zunehmend das nationale und sogar internationale Ansehen der Fachgesellschaft auf dem Spiel, worauf Köttgen deutlich hinwies. Zu diesem Zeitpunkt, an dem die deutsche Pädiatrie den ersehnten Wiederanschluss an die internationale Gemeinschaft der Kinderheilkunde erreicht hatte, vollzog der Gesamtvorstand der DGfK mit der Erklärung einen Balanceakt: sich einerseits 329 Abschrift Entwurf einer öffentlichen Stellungnahme Bamberger, versandt mit Schreiben vom 24. 1. 1961 an Karl Nissler, Magdeburg. BStU, Archiv der Zentralstelle, MfS. HA XX, Nr. 4120, Bl. 15.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

119

(aus gegebenem Anlass und nachträglich) aus berufsethischen Gründen von der NS-Kindereuthanasie zu distanzieren, und sich andererseits möglichst wenig mit einer öffentlichen Stellungnahme über die Beteiligung verschiedener aktiver Mitglieder der Fachgesellschaft am Krankenmord – geschweige denn durch eine offizielle Schulderklärung – selbst zu belasten. Wer im Vorstand die Hoffnung gehegt hatte, mit dieser Erklärung den »Fall Catel« ganz bewältigen zu können, hatte die Dynamik der Krise und den Charakter des Kieler Kollegen gleichermaßen unterschätzt. Werner Catel veröffentlichte im Jahr darauf ein Buch mit dem Titel »Grenzsituationen des Lebens. Beitrag zum Problem der begrenzten Euthanasie« im Nürnberger Verlag Glock & Lutz. Als einziger der etwa 50 ehemaligen Euthanasie-Gutachter trat er in der Öffentlichkeit für eine gesetzliche Regelung zur »begrenzten Euthanasie« ein und löste damit eine Welle an öffentlichen und innerfachgesellschaftlichen Reaktionen aus.

4.2.1.4. Catels Rechtfertigungsschrift »Grenzsituationen des Lebens« von 1962 4.2.1.4.1. Zur Entstehung des Buches: Catels Austausch mit Hans-Georg Gadamer Auch die Entstehungsgeschichte des Buches lässt sich nur teilweise rekonstruieren. Seit dem Anstoß der Diskussionen um seine Person im Magazin Der Spiegel hatte sich Catel darüber beklagt, in der Presse nicht gegen die Anschuldigungen von Journalisten und Kollegen Stellung nehmen zu können, da man ihm dies verwehre.330 Doch schon im Jahr 1960 kann der ursprüngliche Anlass vermutet werden. Damals legte ihm sein Oberarzt Hans-Georg Hansen während der Kieler Krise nahe, vorzeitig zurückzutreten, um in Ruhe seine Unschuld zu beweisen; ein Vorschlag, den Catel als eine Art Dolchstoß erlebte und Hansen nie verziehen haben soll.331 Seit der vorzeitigen Emeritierung bot sich aber nun tatsächlich der nötige Freiraum, endlich zur Frage der Euthanasie eine umfassende Arbeit vorzulegen. Allzu großen Illusionen, mit einer Stel330 So habe die Redaktion des Spiegel zwei seiner Versuche zu einer öffentlichen Erwiderung abgelehnt. Catel an den Internisten Egon Kehler, Chefarzt des TBC-Krankenhauses Bleckede / Elbe, 8. 7. 1963. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel. Ein Jahr nach diesem Schreiben und damit zwei Jahre nach dem Erscheinen seines Buches wurde im Spiegel ein von dem Redakteur Hermann Ronner geführtes Interview mit Catel abgedruckt: N.N., Aus Menschlichkeit töten? Spiegel-Gespräch mit Professor Dr. Werner Catel über Kinder-Euthanasie, in: Der Spiegel Nr. 8 (1964), S. 41 – 47. Darüber hinaus erreichte er den Abdruck eines Leserbriefes: Prof. Dr. med. W. Catel, Rubrik Briefe, Euthanasie, in: Der Spiegel 10 (1964), S. 6. Siehe hierin auch die anderen Leserbriefe in Reaktion auf Catels Buch. 331 Petersen / Zankel, ›Ein exzellenter Kinderarzt, wenn man von den Euthanasie-Dingen einmal absieht‹, S. 198 f.

120

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

lungnahme besondere Anerkennung zu erreichen, hatte sich Catel allerdings nicht hingegeben. In der Einleitung des Buches schreibt er : »Wer es gegenwärtig unternimmt, sich mit dem Problem der Grenzsituationen des Lebens auseinanderzusetzen, befindet sich auf verlorenem Posten. […] Wenn ich es dennoch tue, so geht es mir nicht nur um die Wiederherstellung der ursprünglichen, politisch oder sozial vielfach verfälschten Sinndeutung des Begriffes Euthanasie, sondern auch um Darlegung und Begründung der eigenen Stellungnahme.«332

Es bestand ein innerer Zusammenhang zwischen dem geplanten Buchprojekt und dem seit 1960 am Landgericht Hannover anhängigen Ermittlungsverfahren, wenngleich die richterliche Voruntersuchung mit Ausstellung des Haftbefehls erst am 5. April 1962 erfolgte. Im Rahmen der staatsanwaltlichen Ermittlungen und der Anhörungen vor dem Untersuchungsrichter versuchte Catel sich als Gegner des Nationalsozialismus, als Retter jüdischer sowie behinderter Kinder und, in Bezug auf das Euthanasie-Problem, als Humanist und Philosoph gleichermaßen darzustellen. Mehrere der in den Vernehmungsprotokollen aufgezeichneten, gut vorbereiteten Argumentationsfiguren Catels fanden ihren Niederschlag in seinem Buch. Als es erschienen war, versuchte Catels Anwalt sogar, es umgekehrt dafür einzusetzen, im Sinne der Unschuld seines Mandanten Einfluss auf die Staatsanwaltschaft beim Landgericht Hannover zu nehmen.333 Während der ersten konzeptionellen Arbeiten zu seinem Buch nahm Catel 1961 Kontakt zum Philosophen Hans-Georg Gadamer (1900 – 2002) auf, den er schon in seiner Leipziger Zeit im Rahmen der sogenannten »Corona« kennengelernt hatte. Es handelte sich dabei um eine private Diskussionsrunde Leipziger Ordinarien. Bei einem dieser Treffen (etwa 1942/1943, mit Sicherheit zeitgleich

332 Werner Catel, Grenzsituationen des Lebens. Beitrag zum Problem der begrenzten Euthanasie, Nürnberg 1962, S. 9. 333 V. Schlabrendorff besuchte den Oberstaatsanwalt am Landgericht Hannover und hinterlegte dort ein Buchexemplar, um zu belegen, wie ernsthaft sich Catel seit Beginn seiner ärztlichen Tätigkeit mit der Frage der Euthanasie auseinandergesetzt habe. Wie der Oberstaatsanwalt in einem Dankesschreiben hervorhob, war der Besuch eines auswärtigen Vertreters so ungewöhnlich – in zwölf Jahren kam das das erste Mal vor –, dass er sich für den »Höflichkeitsbesuch« bedankte, insbesondere, weil üblicherweise von Verteidigern in der Öffentlichkeit ein Zerrbild der deutschen Staatsanwälte entworfen würde. Allerdings konnte er dem Buch, das er sich durch einen seiner Staatsanwälte geben ließ, hinsichtlich der NS-Kindereuthanasie keine entlastenden Informationen entnehmen. Catels Buch könne, so OStA Landwehr, nicht über die Tatsache hinweghelfen, dass von 1939 bis 1945 kein Gesetz zur Legalisierung der Kindestötungen existiert habe. OStA Landwehr an Schlabrendorff, 26. 6. 1962, Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 90/99 Nr. 33/17 Ermittlungsverfahren gegen den Leiter der Jugendpsychiatrischen Klinik beim Landeskrankenhaus Wunstorf, Prof. Dr. med. Hans Heinze, geb. 1895, Band 17, 1958 – 1962. Handakten StA Band I zu der Strafsache gegen Dr. Heinze u. and. wegen Mordes, 2 Js 237/56, S. 195 f.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

121

zum laufenden Reichsausschussverfahren) hatte Catel die Möglichkeit erhalten, über das ärztliche Problem der Euthanasie an Kindern zu referieren.334 Im Februar 1961 erbat Catel von Gadamer, das Manuskript zuschicken zu dürfen und eine allgemeine Einschätzung zu erhalten. Gadamer gab sich grundsätzlich sehr interessiert, aber zugleich skeptisch: »Lieber Herr Catel, mit dem größten Bedauern höre ich, daß Ihr ehemaliger Hamburger Kollege erneut tätig geworden ist. Ich erinnere mich, daß Sie schon seinerzeit mir von diesem Herrn berichteten. Was Sie über die Diktatur der Presse schreiben, ist leider ein unbestreitbares Faktum, von dem ich Ihnen auch Beispiele erzählen könnte. […] In der Tat würde ich Sie bitten, mir die Arbeit zuzusenden, denn die entscheidende Frage ist natürlich, ob für eine sachliche Würdigung des Problembereiches in der Öffentlichkeit Chancen bestehen. Ich würde auf alle Fälle auf diskrete Weise auch die Beratung von Juristen (Wieacker, an den Sie sich gewiß erinnern) einholen. Aber ich muß Ihnen gestehen, nicht sicher zu sein, daß ich Ihnen zur Publikation zuraten werde. Über die Hintergründe unserer gegenwärtigen Lage, die zu diesem Ergebnis führt, kann man sich wohl nur mündlich unterhalten. Mit herzlichem Gruß Ihr Gadamer«335

Der Brief bekräftigt die oben formulierte Annahme, dass das Buch in Reaktion sowohl auf die Angriffe aus der Presse bzw. von Kollegen als auch auf das Ermittlungsverfahren erstellt werden sollte. Ebenso wird deutlich, dass ein telefonischer oder persönlicher Austausch über die anstehenden Befragungen im Ermittlungsverfahren angedacht war.336 334 Im Ermittlungsverfahren am Landgericht Hannover behauptete Catel im Mai 1962, die Diskussionsteilnehmer der »Corona« hätten damals seine Auffassung der Euthanasie geteilt. Catel benannte u. a. Werner Heisenberg und Hermann Heimpel, die beide auf Anfrage des Gerichts angaben, zum fraglichen Zeitpunkt bereits nicht mehr in Leipzig gewesen zu sein. Gadamer bestätigte im Oktober 1963, etwa 1942 den Vortrag Catels gehört zu haben. Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 90/99 Nr. 33/6 Ermittlungsverfahren gegen den Leiter der Jugendpsychiatrischen Klinik beim Landeskrankenhaus Wunstorf, Prof. Dr. med. Hans Heinze, Band 6, 1962, S. 14 (65), sowie: Band 8, 1963 – 64, Bl. 13. 335 Abschrift des Schreibens Gadamer an Catel, 2. 2. 1961. Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 90/99 Nr. 33/8 Ermittlungsverfahren gegen den Leiter der Jugendpsychiatrischen Klinik beim Landeskrankenhaus Wunstorf, Prof. Dr. med. Hans Heinze, Band 8, 1963 – 1964, Bl. 33. 336 Jean Grondin beschreibt den Schüler Martin Heideggers als während des Nationalsozialismus bewusst unpolitischen, dem Selbstverständnis nach liberal eingestellten Philosophen, der die Nationalsozialisten lange unterschätzte. Gadamer, der viele jüdische Kollegen zu seinem Freundeskreis zählte, habe sich auch nicht mit Heidegger, der aus seiner Begeisterung für den Nationalsozialismus keinen Hehl machte, solidarisiert, wofür Heidegger ihn und andere seiner Schüler, die seine politische Haltung nicht teilten, verächtlich als »verweichlichte Bürgerkinder, die nicht radikal denken können« betitelte. Für Grondin war Gadamer keineswegs ein »Widerstandskämpfer der ersten Reihe«. Er habe sich aber in

122

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Catels Nachlass enthält allein das Dankesschreiben, in dem er die Hoffnung zum Ausdruck bringt, sein Buch könnte dem Urteil des Philosophen standhalten. Dessen Vorschlag, vor der Veröffentlichung den Juristen und Rechtshistoriker Franz Wieacker (1908 – 1994) um eine Stellungnahme zu bitten, begrüßte Catel sehr, da er ihn ebenfalls aus der »Corona« kannte. Welchen Rat Gadamer und Wieacker abschließend zu dem Buchvorhaben gaben, bleibt ungeklärt. Sollten sie sich gegen die Publikation ausgesprochen haben, so ließ sich Catel davon kaum beeindrucken. Durch Gadamer konnte sich Catel aber in seinem Vorhaben eher bestärkt fühlen, wenn dieser zwei Wochen später erneut schrieb: »Was Sie ausführen, bestätigt in meinen Augen vor allem, was ich wusste: nämlich, daß das sittliche Problem der Euthanasie sehr subtil ist und keineswegs die positive Bejahung desselben eine pauschale oder prinzipielle Verurteilung verdient. Das war auch der überzeugende Eindruck Ihres Leipziger Corona-Vortrages gewesen.«337

Gadamer wurde ein Jahr später im Zuge des Ermittlungsverfahrens beim Untersuchungsrichter Hannover vom Landgerichtsrat Herrn Dick zum Leipziger Vortrag Catels befragt. Die Aussage Gadamers wird hier vollständig wiedergegeben, nicht nur, weil sie bislang unbekannt geblieben ist, sondern auch, weil sie Aufschluss gibt über : a) Catels Selbstdarstellung und die Diskrepanz zur Wahrnehmung des »Corona«-Abends durch Kollegen, b) das Catel-Bild, das Gadamer vor dem Untersuchungsrichter entwarf, c) Gadamers Kenntnisstand über Catels Beteiligung an der NS-Kindereuthanasie und, angesichts dessen, d) Gadamers Haltung zu Catel während des Krieges und danach. Zu berücksichtigen ist, dass Gadamer zum Zeitpunkt der Anhörung Catels Buch bereits kannte: »An den Vortrag von Professor Catel erinnere ich mich vor allem deshalb, weil der Vortragende Fotographien von dementen oder sonst wie entarteten Kleinkindern zeigte, deren ungewohnter Anblick uns Anwesende sehr mitnahm. Es war ein dunkler Wintertag. Meiner Meinung nach war Stalingrad kurz vorausgegangen. Deshalb nehme ich an, daß der Vortrag etwa im Februar 1942 [338] stattfand. […] Er entwickelte die moralischen Probleme für den Arzt, die sich aus der Existenz solcher bejammenswerten [sic!] Wesen wie die in Fotos dargestellten missgebildeten Kinder ergäben. Er schilderte insbesondere auch die sozialen Schwierigkeiten, die für die Familie durch das Zusammenleben mit solchen Kindern entstünden. Er wies z. Bsp. oppositionellen Kreisen bewegt. Jean Grondin, Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen 1999, hier u. a. S. 177 – 179, S. 195 u. 254. 337 Abschrift des Schreibens Gadamer an Catel, 12. 2. 1961. Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 90/99 Nr. 33/6 Ermittlungsverfahren gegen den Leiter der Jugendpsychiatrischen Klinik beim Landeskrankenhaus Wunstorf, Prof. Dr. med. Hans Heinze, Band 6, 1962, Protokoll der Vernehmung Catels, Hannover 14. 5. 1962 vor dem Untersuchungsrichter beim LG UR 3/62 (Kobold), S. 15 (Bl. 66). 338 Damit fiele der Vortrag in den zeitlichen Rahmen zwischen der Einkesselung der 6. Armee im November 1942 und der endgültigen Niederlage Anfang März 1943.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

123

darauf hin, daß die Mutter häufig besonders an einem solchen Kinde hänge und die übrigen Familienmitglieder deshalb vernachlässige. Er sprach aber auf der anderen Seite auch davon, daß Eltern oft den Arzt anflehten, ob man sie nicht von dem Kinde befreien könne. Es entstehe die Frage, ob man unter diesen Umständen nicht die Leiden aller Beteiligten verkürzen dürfe und müsse. Dabei sei zu berücksichtigen, daß das betroffene Kind ja kaum leidensfähig sei. Der hippokratische Eid gebe keine eindeutige Entscheidung für den moralischen Konflikt des Arztes, insofern könne der Eid den Arzt nicht endgültig binden. Professor Catel formulierte letzteres nur als Frage: »Könne der Eid den Arzt in dieser Situation noch binden?« Professor Catel machte bei dem Vortrag auf mich den Eindruck eines sehr engagierten und gemütsbewegten Mannes. Er schien mir an dem Problem zu leiden aus beschwertem Gewissen, aber aus einem moralisch durchaus subtilen Gewissen. Ich hatte das Gefühl, er habe in seiner Klinik gelegentlich solche Gesetzesübertretungen aus ärztlichem und menschlichem Gewissen und Mitleid heraus begangen. Nach dem Vortrag entwickelte sich eine Diskussion. Prof. Catel hatte das bekannte Luther-Zitat gebracht. [339] Daran knüpfte ich an, indem ich zeigte, welche Bedeutung der geschlossene christliche Horizont für diese Äußerung Luthers habe. Ich fuhr fort, daß dieser Horizont jetzt fehle. Ein anderer Anwesender, möglicherweise war es Prof. Klinger, betonte diesen Gedanken, den ich mehr unter historischer Perspektive sah, indem er auf die Übereinstimmung der bestehenden Rechtsordnung mit der Schöpfungsordnung hinwies. In diesen beiden Diskussionsäußerungen lag eine Kritik, aber auch ein moralisches Verständnis der Auffassung des Vortragsredners. Die juristischen Zuhörer zeigten, warum ihrer Meinung nach eine Änderung der Rechtsordnung trotz der moralischen Problematik nicht möglich sei. Es wurde z. Bsp. auf drohende Missbräuche hingewiesen, wie z. Bsp. Erbschleicherei. Ich weiß bestimmt, daß Professor Wieacker sich dahin äußerte, möglicherweise aber auch Professor Dahm. Auf dem Heimweg äußerte ich mich sehr ergriffen von dem moralischen Leiden, unter dem Herr Prof. Catel zu stehen schien. Darauf sagte der Biologie Prof. Buchner in seiner vorsichtigen Art zu mir : ›Ja, Herr Catel hat wohl sein Gewissen entlasten wollen.‹ Diese Äußerung ließ mir erst so recht bewußt werden, wie persönlich engagiert Prof. Catel vielleicht auch im Hinblick auf die nationalsozialistische Euthanasie-Politik sein mochte. An einen solchen Zusammenhang hatte ich bis zu dieser Äußerung von Professor Buchner überhaupt noch nicht gedacht, weil ich es bis dahin für völlig ausgeschlossen gehalten hatte, daß Professor Catel zu dem politisch bestimmten Euthanasie-Verfahren irgendeine Verbindung habe. Sein Vortrag hatte mir zu diesem Verdacht bisher noch keinen Anlaß gegeben. Wenn mir vorgehalten wird, daß Prof. Catel bei seiner Vernehmung angegeben hat, alle Teilnehmer hätten sich ohne Ausnahme zustimmend zu seinem Vortrag geäußert und es hätte sich keine einzige Stimme des Widerspruchs in der Diskussion erhoben, so habe ich dazu folgendes zu sagen: Eine bedrängte Seele hört aus einer Diskussion oder sonstigen Resonanz auf seine Ausführung soviel Zustimmung wie möglich heraus. Das Gefühl, das Prof. Catel von der Resonanz auf seinen Vortrag hatte, mag richtig sein, soweit man als eigentlichen Inhalt seines Vortrags die Darstellung des moralischen 339 »massa carnis sine anima«: Anklang an einen angeblichen Ausspruch Martin Luthers aus den »Tischreden«, in denen er empfohlen haben soll, solche Kinder zu »ersäufen«.

124

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Problems für den Arzt sieht. So habe ich seinen Vortrag aufgefasst. Ich habe Prof. Catel als sehr weichen Menschen in Erinnerung. In dem Vortrag stellte er die Probleme ausgesprochen gefühlvoll dar, so daß mir schon deswegen überhaupt nicht in den Sinn kam, daß da ein Zusammenhang mit organisierter Euthanasie bestehen könne. Meiner festen Meinung nach ist an dem Vortragsabend von laufenden Euthanasie-Maßnahmen überhaupt nicht die Rede gewesen.«340

Gadamers empathische Beschreibung Catels während des Krieges entwarf das Bild eines, in seiner Persönlichkeit »weichen«, reflektierten Arztes, der unter der gestellten Problematik litt und Gewissenskonflikte in sich trug. Das Landgericht griff 1964 dieses Bild zu Catels Gunsten auf. Gadamer wird im Rahmen der Befragung mehr über die NS-Euthanasie erfahren haben, als er zuvor wusste; abgesehen von seinem eigenen Eindruck, Catel habe in Leipzig in früheren Zeiten eigenmächtig Kindereuthanasie betrieben. Diese Kenntnisse über Catels Mitverantwortung an der Kindereuthanasie standen in den nachfolgenden Jahren einem freundschaftlichen Austausch mit Catel keineswegs im Wege. Nachdem Catel ihm die Autobiographie »Leben im Widerstreit. Bekenntnisse eines Arztes« (Glock & Lutz, Nürnberg 1974)341 hatte zukommen lassen, hob Gadamer noch einmal das sie verbindende Element hervor und fragte in nostalgisch anmutender Stimmung: »Wie vieles liegt nun hinter Ihnen, wie vieles liegt hinter uns. Wie blickt man zurück, wie blickt man vorwärts? […] Nun, in jedem Falle freue ich mich auf die lesende Kommunikation mit Ihnen, die unsere frühere Corona wieder aufleben lassen und fortsetzen wird.«342

4.2.1.4.2. Thesen zur »begrenzten Euthanasie« Werner Catel unterschied in seinem Buch »Grenzsituationen des Lebens« drei Formen der Euthanasie. Die reine Euthanasie beinhaltete für Catel »die Milderung unerträglicher Schmerzen und Nöte eines sterbenden Menschen durch Verabreichung eines Mittels«.343 Unter der Euthanasie im engeren Sinne verstand er die Milderung der Leiden und auch vorzeitige Abkürzung des Lebens eines sterbenskranken Menschen, dessen Tod jedoch nicht unmittelbar bevorstehen 340 Protokoll der Vernehmung Gadamer durch Landgericht-Rat Dick, Heidelberg, 7. 11. 1963 auf Vorladung. Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 90/99 Nr. 33/6 Ermittlungsverfahren gegen den Leiter der Jugendpsychiatrischen Klinik beim Landeskrankenhaus Wunstorf, Prof. Dr. med. Hans Heinze, Band 8, 1963/1964, S. 42 – 44. 341 Zu dieser dritten »Rechtfertigungsschrift« vgl. Joachim Karl Dittrich, Rechtfertigungen? Betrachtungen zu drei Buchveröffentlichungen Werner Catels, in: Wieland Kiess, Ortrun Riha, Eberhard Keller (Hg.), 110 Jahre Universitätsklinik und Poliklinik für Kinder und Jugendliche in Leipzig, Basel 2003, S. 27 – 40. 342 Gadamer an Catel, 19. 6. 1974. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel. 343 Catel, Grenzsituationen des Lebens, S. 96.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

125

muss. Die Euthanasie im weiteren Sinne umfasste für Catel die »Auslöschung« »frühkindlicher Idioten«, sogenannter »Monstren« sowie (!) erwachsener unheilbar geisteskranker Menschen. Für die Euthanasie schwerstgeschädigter Kindern gab er folgende Rechtfertigungen an:344 1. Es handele sich nur um eine »massa carnis«. 2. Diese Kinder besäßen keine »geistige Seele«, keine Personalität. 3. Sie seien »nach weltlichem und kanonischem Recht« zu keiner Willensentscheidung fähig. 4. Es fehle »jede Gegenseitigkeit«, d. h. ein Kontakt des Kindes zu seiner Umgebung sei nicht möglich. 5. Diese Kinder könnten nicht durch menschliche Pflege zu ihrer »bestimmungsgemäßen Entfaltung gebracht werden«. »Ein idiotisches Kind ist also ein Wesen, das, tief unter der Daseinsstufe eines beseelten Tieres stehend, ohne jede geistige Regung als ein vernunftloses Wesen, eine massa carnis dahinvegetiert.«

Hieraus ergebe sich, dass weder das »fünfte Gebot« auf ein solches »Monstrum« angewendet werden, noch die »Auslöschung« als strafrechtlicher Tatbestand behandelt werden könne. Auch der hippokratische Eid sei nicht als bindend anzusehen. Seine Ausführungen flankierte Catel an dieser zentralen Stelle seiner Argumentation mit einem 20-seitigen Abdruck von Fotografien, die Neugeborene, Kinder und Jugendliche mit extremen Missbildungen (z. B. Hydrocephalus oder Anencephalus) zeigten. Mittels dieses manipulativen Einsatzes von Bildern, wie er schon beim Leipziger »Corona«-Abend angewandt worden war, konnte sich Catel des Erschreckens medizinisch unbedarfter Leser gewiss sein. Offenbar sollten die Abbildungen eine befürwortende Haltung hervorrufen, weil nahelag, die Euthanasie als Erlösung zu empfinden. An den Bildteil schloss sich Catels ärztlicher Erfahrungsbericht über die Eltern solcher Kinder an, die er gemäß ihren angeblichen Handlungsmustern in drei Gruppen einteilte: eine Gruppe, die sich in aufopferungsvoller häuslicher Pflege ihrem Kind widmete, eine zweite Gruppe, die aus Überforderung ihre Kinder in staatliche Pflege abgab und eine dritte Gruppe, die auf eine »Erlösung« hoffen würde. Bei diesen Eltern läge eine hilflose Verzweiflung vor, besonders bei der Mutter, »deren seelische Kraft sich im täglichen Anblick und in täglicher sinnloser Pflege ihres geistig toten Kindes verzehrt und deren eheliches Glück nicht nur durch dieses, sondern auch durch die Scheu vor einem weiteren Kind oft genug zerstört wird«.345 344 Hier und im Folgenden nach ebd., S. 110 f. 345 Catel, Grenzsituationen des Lebens, S. 118. Dieses Argument war schon während der NSKindereuthanasie von den Organisatoren des Tötungsprogramms eingebracht worden, um

126

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

An anderer Stelle griff er das Kriterium der totalen Hoffnungslosigkeit für die ärztliche Entscheidung noch einmal auf: »Der […] gewählte Terminus ›lebensunwertes Leben‹ oder ›unheilbar Kranke‹ ist so verallgemeinert und unscharf, daß der Autor sich mit Recht dagegen verwahrt, jedes Leben eines unheilbar Kranken als ein lebensunwertes Leben zu bezeichnen. Wenn sich aber der Kreis der Hoffnung, in dem sich eine unheilbare Krankheit abspielt, ausweglos bis zu dessen Mitte einengt, d. h. jene Grenze erreicht hat, wo der Tod zum Erlöser wird, so ist die Situation eine völlig andere […].«346

Catel nannte sechs Bedingungen, die für eine »Freigabe des Lebens« erfüllt sein müssten. Dabei verzichtete er auf jegliche Erläuterung der Krankenmordprogramme im Nationalsozialismus und unterschlug, dass nahezu alle von ihm geforderten Konditionen im Reichsausschussverfahren unter seiner maßgeblichen Beteiligung nicht erfüllt gewesen waren: 1. Die Euthanasie dürfe nie mit politischen oder ökonomischen Überlegungen verknüpft werden. 2. Es müsse um Einzelfälle, »vorzugsweise um idiotische Kinder oder um Sterbende gehen, deren unheilbare Krankheit mit größten Schmerzen und seelischen Nöten verbunden ist«. 3. Es bedürfe einer eindeutig geklärten Diagnose. 4. Es müsse die Zustimmung des Betroffenen oder die der Vertreter nach ausführlicher Klärung vorliegen. 5. Um Fehlentscheidungen oder Missbrauch auszuschließen, sei eine »Kommission« bestehend aus einem Amtsarzt, einem Spezialisten und einem Richter einzurichten. Die »Objektivität« sei dadurch zu wahren, dass der Hausarzt der Familien ausgeschlossen werde. 6. Die Rechtssicherheit sei per Gesetz für diejenigen herzustellen, »die einer beschränkten Euthanasie im definierten Sinne zustimmen […]«.347 In einem gesonderten Kapitel des Buches legte Catel dar, dass der hippokratische Eid aufgrund seines antiken Entstehungszusammenhangs und des darin enthaltenen Verständnisses eines Tötungsverbots nicht auf das 20. Jahrhundert übertragbar sei: »Unsere Überlegungen führen zu dem Schluß der Unbestimmtheit und Wandelbarkeit ärztlich-ethischer Begriffe, somit auch der hippokratischen Aussagen […]. Viele Anweisungen desselben können für das moderne ärztliche Denken keine Gültigkeit mehr beanspruchen, sie bringen den Arzt, der sie zu beeiden gezwungen würde, in die Lage, einen falschen Eid abzulegen.«348

auch aus bevölkerungspolitischen Motiven heraus die Eltern zu einer Abgabe ihrer Kinder in die Kinderfachabteilungen zu bewegen. Begleitend sollte eine erbbiologische Beratung bezüglich eines neuen Kinderwunsches erfolgen. Vgl. Topp, »Meldung eines Falles von Idiotie Hydrocephalus«. 346 Catel, Grenzsituationen des Lebens, S. 24 f. 347 Ebd., S. 123 f. 348 Ebd., S. 33.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

127

Im Ermittlungsverfahren bekräftigte Catel seine historisch-kritische Interpretation des Eides mit der Bemerkung, diesen nie abgelegt zu haben, da er keine Gültigkeit habe.349 4.2.1.4.3. »… wie der Igel zum Handtuch«: Rezeption des Buches außerhalb der Pädiatrie Die Reaktionen auf das Buch, das Catel an unzählige Kollegen verschickte und von dem im April 1963 etwa 400 Exemplare verkauft worden waren,350 fielen sehr unterschiedlich aus. Catels Nachlass enthält zahlreiche Zuschriften von Kollegen und Freunden, die ihm zu seiner gelungenen Abhandlung gratulierten und seinen Mut bewunderten. Andere veröffentlichten kritische Rezensionen, um die Öffentlichkeit vor dem Buch zu warnen. In mehreren Fällen wurde Fabian von Schlabrendorff von Catel beauftragt, gegen die »Verunglimpfungen« und »Diffamierungen« seiner Person durch Journalisten und Kollegen vorzugehen. Angesichts der Fülle an Reaktionen und nachfolgenden Entwicklungen kann hier nur ein Einblick gegeben werden. Catel und sein Nürnberger Verleger sahen sich gleichermaßen vehementer Kritik ausgesetzt. Nachdem in der Frankfurter Rundschau am 20. Oktober 1962 eine Besprechung durch den Journalisten Anskar Skriever mit dem Titel »Eine gefährliche Veröffentlichung«351 erschienen war, wandte sich eine engagierte Frankfurterin, der die Rezension aus der Seele sprach, nach Nürnberg: »Seinen Beitrag zur Euthanasie hat Prof. Catel bereits praktisch während der Nazi-Zeit geliefert […]. Daß Herr Prof. Catel sich auf seine Weise, nämlich ›ganz wissenschaftlich‹ zu entlasten sucht mittels solch einer Schrift, kann ihm kaum übel genommen werden. Das Rechtfertigungsbedürfnis ist hier zu Lande bei allen Betroffenen so ausgeprägt, dass nur noch Ausnahmen auffallen. […] Den Artikel aus der Frankfurter Rundschau vom 20. Oktober kann ich Ihnen nicht überlassen, denn ich werde ihn an meine Verwandten nach U.S.A. schicken zur Weitergabe an Freunde und Interessierte als Beitrag dafür, was in unserer Bundesrepublik schon wieder möglich ist.352 349 Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds. 721 Hannover Acc. 90/99 Nr. 33/6. Ermittlungsverfahren gegen den Leiter der Jugendpsychiatrischen Klinik beim Landeskrankenhaus Wunstorf, Prof. Dr. med. Hans Heinze, geb. 1895, Band 6, 1962, S. 11 f. (Bl. 62 f.) 350 Mitteilung Glock an Catel, 25. 4. 1963. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel, Korrespondenz zu »Grenzsituationen des Lebens«. 351 Anskar Skriver, Eine gefährliche Veröffentlichung. Zu Professor Catels Buch »Grenzsituationen des Lebens«, Frankfurter Rundschau vom 20. 10. 1962. 352 Odina Bott an Glock & Lutz, 27. 10. 1962. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel, Korrespondenz zu »Grenzsituationen des Lebens«. Mit hoher Wahrscheinlichkeit handelte es sich bei Odina Bott um die Mitbegründerin der 1968 in Frankfurt am Main ins Leben gerufenen Hilfsorganisation medico. Noch heute besteht in Frankfurt der Odina-Bott-Platz zur Erinnerung an die SPD-nahe engagierte Sprecherin der »AG Westend«, einer alternativen Bürgerin-

128

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Verleger Karl Borromäus Glock, der Catel alle Reaktionen zusandte, erklärte in diesem Fall, auf den »infernalen« Brief nicht geantwortet zu haben. Der langjährige Spiegel-Redakteur Gustaf Zerres sprach in einem direkten Schreiben an den Verlag Catel wegen dessen Beteiligung am Reichsausschuss jegliches Äußerungsrecht ab: »In der Sache sind gar keine Meinungsverschiedenheiten zwischen uns; vor allem brauchen wir nicht darüber zu streiten, daß begrenzte Euthanasie heute diskussionsfähig sein muß. Wogegen ich mich wehre, ist, einen in jedem Sinne unheilbar Vorbelasteten wie Catel zum Fürsprech [sic!] und Wortführer für die Revisionsanliegen auf diesem Gebiet zu machen. C. eignet sich dazu aufgrund seiner historischen Rolle wie der Igel zum Handtuch. Bitte lesen sie doch die ›Kreuzlschreiber‹ [sic!] von Honolka und den Briefwechsel darin mit Mitscherlich. Dann, finde ich, ist alles klar.«353

Ein weiterer Rezensent, der Psychiater und Wissenschaftsjournalist Hoimar von Ditfurth, der das Buch für Die ZEIT mit einer verheerenden Kritik besprach,354 sich aber mit kritischen Äußerungen über den angesehenen Verlag noch zurückhielt, informierte sich bei Glock, ob dieser »das Buch vielleicht in voller Kenntnis seiner unwahrhaftigen Tendenz und gefährlichen Wirkung auf die Öffentlichkeit habe erscheinen lassen, um eine Diskussion über den ganzen Komplex zu ermöglichen«.355 Er erbat eine Stellungnahme, da er plane, weitere kritische Rezensionen über das Buch zu veröffentlichen. Glock unterrichtete den Rezensenten darüber, dass bereits Catels Vertreter Fabian von Schlabrendorff am 31. Juli ein Schreiben bei der Kulturredaktion der ZEIT (Gräfin Dönhoff) eingereicht habe. Für den Fall, Ditfurth würde zukünftig den Verlag angreifen wollen, kündigte Glock an, »ausreichende publizistische Mittel und Verbindungen« für den Verlag zu nutzen, »um auf drastische Weise seine primäre Stellung und Aufgabe darzustellen und im öffentlichen Gewissen zu befestigen«.356 Das erwähnte Schreiben von Schlabrendorffs wurde als Leserbrief zur Ditfurth-Rezension abgedruckt.357

353

354 355 356

itiative, die gegen die stadtpolitischen Entscheidungen für das Sanierungsviertel Westend protestierte. Gustaf Zerres an Glock & Lutz, März 1962. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel, Korrespondenz zu »Grenzsituationen des Lebens«. Zerres bezog sich auf das frisch erschienene Buch von Bernd Honolka, Die Kreuzelschreiber. Ärzte ohne Gewissen. Euthanasie im 3. Reich, Hamburg 1961, in dem die Gutachter-Rolle Catels im Reichsausschuss beschrieben wurde. Hoimar von Ditfurth, Mord soll Mord genannt werden. Werner Catels fragwürdige Argumentation im Falle der Euthanasie, in: Die ZEIT Jg. 17 (1962), Nr. 30, 27. 7. 1962. Privatdozent Dr. med. H. v. Ditfurth, Mannheim an Glock, 7. 8. 1962. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel, Korrespondenz zu »Grenzsituationen des Lebens«. Glock an Ditfurth, 7. 8. 1962. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

129

Was den Verleger Glock in Reaktion auf die »Grenzsituationen des Lebens« zu verunsichern schien, waren kirchliche Widerstände im fränkischen Raum. Der Weihbischof von Bamberg hatte sich im Juni 1962 mit einem kritischen Brief an den Verlag gewandt. Glock sah sich einer heraufziehenden Front auch durch den Erzbischof Dr. Pius Müller gegenüber. Einen Monat später informierte er Catel: »Bamberg ist eine Seite nur. Was von dort droht, ist kirchl. Verfahren gegen mich, Druck in jeder Form. Aber es wäre nicht das erste Mal und macht mich nicht bang.«358 Glock hielt auch in den nachfolgenden Jahren fest zu Catel, wenngleich er sich enttäuscht über die Buchbesprechungen zeigte: »Die Besprechungen zeigen die Deutschen, so wie sie heute sind. Für das Ganze möchte man sagen: die Kleinen hängt man – die Großen lässt man laufen, – aber Ihre Person ist obendrein völlig über jeglichen Verdacht erhaben. Allein die Tatsache, dass ein Schlabrendorff Sie verteidigt, müsste Blinde heilen.«359

Auch Schriftsteller meldeten sich zu Wort. Thomas Regau formulierte nach einer niederschmetternden Kritik des Buches den Aufruf: »Setzen wir uns also zur Wehr gegen den Anfang einer unabsehbaren Entwicklung, besser gesagt: gegen den Rückfall in vergangene Barbarei.«360 4.2.1.4.4. Rezeption des Buches innerhalb der Pädiatrie Insbesondere ausländische Rezensionen von Kinderärzten fielen überaus kritisch aus. Der Baseler Kinderarzt Adolf Hottinger (1897 – 1975) resümierte: »Das Buch ist ein gefährliches Buch. Es ist sicher aufzufassen als Apologie eines Mannes, der heute einen Standpunkt verteidigt, den er früher schon eingenommen[,] und auch Taten, die er früher durchgeführt hat. Es ist darum wichtig, eine solche ›Arbeit‹ in ihrer ganzen oberflächlichen und kritiklosen, pseudonaturwissenschaftlichen und pseudophilosophischen Darstellung zu lesen, damit man sich wieder einmal eine Vorstellung machen kann von dem, was im Dritten Reich an Ungeist an ›höherer‹ Stelle produziert worden ist.«361 357 Leserbrief v. Schlabrendorff vom 10. 8. 1962, Die ZEIT, in dem er erklärte, die Besprechung sei ein »völlig parterres Produkt, dessen abwegige und negative Linie um so mehr bedauert werden muß, als sich Ihre Zeitung für den Abdruck zur Verfügung gestellt hat«. Zit. nach: Schweizer, Sadistische Einzeltäter oder Kollektivschuld eines ganzen Standes? S. 53. 358 Glock an Catel, 21. 7. 1962. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel. 359 Glock an Catel, 25. 4. 1963. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel. 360 Thomas Regau, Schon wieder Euthanasie?, Rubrik Rundschau in: Hochland 55 (1962 – 1963), S. 85 – 87. Siehe auch: ders., Es bleibt Mord. Euthanasie im Zwielicht – Der Totschlag aus falschem Mitleid – Wieviel muss der Eid des Hippokrates gelten?, in: Die ZEIT Nr. 33, 13. 8. 1965. 361 Adolf Hottinger, Buchbesprechung Grenzsituationen des Lebens, in: Hippokrates (1962), S. 815 – 817, hier : S. 817.

130

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Catels Anwalt wandte sich daraufhin an den Hippokrates-Verlag in Stuttgart und warf diesem vor, eine »ungeheuerliche Besprechung« des Buches veröffentlicht zu haben. Der Verlag beharrte in einer Entgegnung auf dem Recht der freien Meinungsäußerung und erinnerte daran, dass Catel dem Verlag selbst ein Rezensionsexemplar zugesandt hatte. »Dass eine solche Kritik stets günstig ausfällt, kann von einem Autor weder allgemein erwartet werden, noch konnte Ihr Herr Mandant angesichts seiner Auffassung zu einem so ›heissen Eisen‹ mit Sicherheit damit rechnen.«362

Hottingers Züricher Kollege Guido Fanconi (1892 – 1979) vermutete in seiner Rezension, Catel habe ein »vielleicht entartetes Herz«. Dieses habe Catel schon vor 20 Jahren nicht den Weg zum richtigen Handeln gewiesen und tue es auch jetzt nicht. Er empfahl Catel, der doch so viel wisse, die Geschichte zurate zu ziehen: »Nicht Hitler und seine Helfershelfer, die zuerst nur Geisteskranke und Idioten, bald aber auch Millionen gesunder Juden und Tausende von Kriegsgefangenen gemordet haben, haben die Welt vorwärtsgebracht und Jahrtausende überlebt (das 1.000-jährige Reich Hitlers hat ganze 13 Jahre gedauert!).«

Fanconi, der sich nach 1945 erfolgreich für die Wiederaufnahme der deutschen Kinderheilkunde in die internationale Gemeinschaft der Pädiatrie eingesetzt hatte,363 bemühte sich um eine differenzierte Sicht auf die deutsche Vergangenheit. Angesichts der Verbindung von NS-Euthanasie und der Vernichtung der europäischen Juden hatte Catel nach Fanconis Empfindung ein Tabu gebrochen. Seine Buchbesprechung schloss er mit den Worten: »Wir Schweizer, die den Hitler-Fanatismus […] nicht am eigenen Leib erlebt haben, sollten vorsichtig und nachsichtig sein in der Verurteilung unserer deutschen Kollegen, die oft in der Zwangslage ›Friß oder stirb‹ handeln mußten. Wenn aber heute […] ein gescheiteter Mann wie Catel die Euthanasie befürwortet, so steht auch dem zur Nachsicht neigenden Schweizer der Verstand still, und mit Abscheu muß er das gefährliche Buch beiseite legen.«364

Noch in seiner Autobiographie schilderte Fanconi, sich auch mit einer Besprechung der zweiten Rechtfertigungsschrift Catels (Leidminderung – richtig ver-

362 E. Klotz an v. Schlabrendorff, 3. 4. 1963. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel. 363 Vgl. Hermann Olbing, Eröffnungsansprache zur 77. Tagung, hier die Totenehrung für Fanconi, S. 329. 364 Guido Fanconi (Zürich), Buchbesprechung W. Catel, Grenzsituationen des Lebens, o. Angabe. [Münchener Medizinische Wochenschrift 105 (1963), S. 1434.] Mein Dank gilt Andreas Fanconi (Kinderarzt) für die Mühe, den Nachlass seines Vaters durchgesehen zu haben, in dem u. a. diese Rezension enthalten war. Telefonische und postalische Korrespondenz Zürich – Berlin April-Mai 2008.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

131

standen, Glock & Lutz Nürnberg 1966) deutlich gegen den Autor gestellt zu haben, gerade wegen dessen Vergangenheit im Nationalsozialismus: »Niemals darf er [der Arzt] sich ›zur Mitarbeit als Gutachter‹ gewinnen lassen, auch wenn es sich nur um ›die Auslöschung idiotischer Mißgeburten‹ handelt; denn die Grenzziehung zwischen dem, was lebenswert ist und was nicht, ist willkürlich. Der Nationalsozialismus hat das deutsche Volk mit einer großen moralischen Schuld belastet; es ist deshalb für einen Reichsdeutschen besser, zu schweigen und ja nichts zu unternehmen, um das Verbrechen irgendwie zu rechtfertigen. CATEL hätte es besser nicht geschrieben, auch im Interesse des deutschen Kulturgebietes. Si tacuisses!«365

Die Nationalitäten-Frage und die vergangenheitspolitische Haltung zu Catel beschäftigten aber auch einen deutschen Kollegen. Für den ehemaligen Schriftführer der DGfK Johannes Jochims stand fest, dass die von Catel angestoßene Debatte notwendig sei. Für eine sachliche Auseinandersetzung wäre es aber, so Jochims, besser gewesen, die Abhandlung wäre »nicht von einem Deutschen, sondern z. B. von einem Neutralen erarbeitet worden«.366 Der Direktor der Freiburger Universitätskinderklinik Walter Keller (1894 – 1967),367 der im Sommer 1962 von Catel ein Buchexemplar zugesandt bekommen und es mit »brennende[m] Interesse« gelesen hatte, brachte seine große Anerkennung über die »Grenzsituationen des Lebens« zum Ausdruck. Skepsis bekundete er einzig hinsichtlich der von Catel geforderten Kommissionslösung: »Was ich in dieser Hinsicht erlebt habe, spricht nicht für eine solche Regelung. Ich weiß aber allerdings auch keinen anderen Vorschlag. Ich gebe zu, daß es große Gefahren in sich birgt, den Einzelnen mit einer solchen Verantwortung zu belasten. Nicht nur Gefahren des Mißbrauches, vielmehr auch Gefahren für den Arzt, wie Sie selbst es ja erleben. Er muß geschützt sein, geschützt gegenüber den Kollegen, gegenüber den Juristen, gegen-

365 Guido Fanconi, Der Wandel der Medizin. Wie ich ihn erlebte, Bern u. a. 1970, S. 238. Mit der Anspielung auf den Ausspruch nach Boethius »Intellexeram, si tacuisses!« (freie Übertragung: »Wenn du geschwiegen hättest, wärest du ein Philosoph geblieben.«) beklagte er erneut den Tabubruch. 366 Johannes Jochims (Chefarzt Kinderklinik Lübeck) an Catel, 7. 7. 1962. Archiv für Kinderund Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel. 367 Walter Keller war 1938 – 1945 Ordinarius für Kinderheilkunde und Direktor der Universitätskinderklinik in Gießen, dann 1949 – 1962 in Freiburg als Nachfolger von Carl Noeggerath. Frühere Mitgliedschaften u. a.: SS seit 1933 (Oberscharführer, SS-Sturmbann, Sanitätsstaffel, Staffelscharführer), NSDAP seit 1937, NSDÄB, NSV, NS-Altherrenbund. Vgl. Sigrid Oehler-Klein, Gründung einer Akademie für medizinische Forschung und Fortbildung und die Entnazifizierung des ehemaligen Lehrkörpers, in: Oehler-Klein (Hg.), Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, S. 467 – 501, hier : S. 494 – 498.

132

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

über der Kirche und last not least gegenüber der Dummheit der Masse, worunter auch die Presse zu nehmen ist. Wir werden ja den Widerhall Ihres mutigen Buches erleben.«368

Überaus positiv äußerte sich der mit Catel befreundete Gießener Pädiater Friedrich Hartmut Dost (1910 – 1985), auf den noch an anderer Stelle einzugehen sein wird. Wie er brieflich gegenüber Catel nach der nächtlichen Lektüre der »Grenzsituationen des Lebens« beeindruckt erklärte, hielt er das Buch für eine »Aufklärungsschrift im eigentlichen Sinne des Wortes«: »Von denjenigen Deiner sachlichen Gegner wird mancher den Hut vor einem Autor, d. h. vor Dir, ziehen müssen – wenn er dies auch nicht öffentlich bekennt [–], der den Mut hat, in dieser Zeit der Kollektivangst und des Konformismus, das Thema mit Bekennermut anzupacken.«369

Für Dost stand nicht nur die zukunftsweisende Bedeutung des Buches bereits fest. Er konstruierte zugleich eine historische Kontinuität im positiven Sinne von Binding zu Catel: Genau 40 Jahre nach Erscheinen der zweiten Auflage der Schrift von Binding und Hoche »Die Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form« (1922) war die eugenische Befürchtung einer »Kontraselektion« durch Kriege für Dost ein legitimes Argument für die Vertretung einer »begrenzten Euthanasie«. Somit zeigt sein Brief zugleich einen gedanklichen Rückgriff auf utilitaristische Argumentationen des eugenischen und rassenhygienischen Diskurses der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: »Ich glaube, wenn die Menschheit das Atomzeitalter meistern sollte, daß bei Binding angefangen und jetzt zunächst bei Dir aufgehört in einer ferneren Zukunft das eine Notwendigkeit werden wird, wofür Du eintrittst. Die menschliche Gesellschaft ist heute noch nicht reif, [sic!] für solche Entscheidungen, stattdessen morden sie sich gegenseitig in den ewigen Kriegen gerade und in teuflischer Selektion diejenigen hin, die eigentlich überleben sollten, die sie vorher beeiden ließen: ›Ich schwöre, als tapferer Soldat … usw.‹ Pietisten und Frömmler, vor allem in der Öffentlichkeit, die nicht willens oder in der Lage sind, für die bedauernswerten Kinder, damit sie ein menschenwürdiges Dasein fristen können, jährlich etwa die Kosten von 25 Düsenjägern (= 11 Millionen Mark und für Forschungsvorhaben, um vermeidbare Ursachen zu bekämpfen!) zu verausgaben, sollten sich eigentlich eines Urteils über solche Grenzsituationen des Lebens enthalten, und wenn sie schon nicht anders können, sollten sie wenigstens schweigen!«370

Zwei deutsche Kollegen reagierten dagegen mit klarer Ablehnung. Der Münchener Ordinarius für Kinderheilkunde Gerhard Weber (1898 – 1973) wies 368 Keller an Catel, 18. 6. 1962. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel. 369 Dost an Catel, 3. 5. 1962. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel. 370 Ebd.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

133

darauf hin, dass Catel die Krankenmorde mit keinem Wort erwähnt habe, und zitierte den griffigen Ausspruch des Frankfurter Kinderarztes Bernhard de Rudder : »Der Arzt ist kein Abdecker!«,371 mit dem dieser sich offenbar gegen einen ärztlichen Tötungsauftrag gestellt hatte. Die umfassendste Kritik legte ein jüngerer Sozialpädiater vor, der bei Weber in München gelernt und der dessen Rezension des Catel-Buches gelesen hatte. Theodor Hellbrügge (*1919), Gründer der Forschungsstelle für Soziale Pädiatrie (1960) und späterer erster Lehrstuhlinhaber für Sozialpädiatrie in Deutschland (1967), hielt zunächst einen Vortrag vor der Katholischen Akademie Bayern zu der von Catel aufgeworfenen Problematik. Er verfasste eine zwölfseitige Abhandlung »Ärztliche Gesichtspunkte zu einer begrenzten Euthanasie«, die im selben Jahr in den Ärztlichen Mitteilungen erschien.372 Sein Beitrag enthielt eine Auswertung der einschlägigen bekannten Literatur zu Beginn der 1960erJahre373 und damit Abschnitte über die Ideengeschichte der »Vernichtung lebensunwerten Lebens« seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts, über die NSKindereuthanasie sowie die Durchführung der Euthanasie-Aktion T4 und deren Übergang zum Holocaust im Zuge der sogenannten Häftlingseuthanasie (Aktion 14f13374). Anschließend ging er auf die geistigen Voraussetzungen für eine solche »Medizin ohne Menschlichkeit« ein. Bezüglich der Frage nach der Verantwortung für die Verbrechen stellte er unter anderem fest, »dass die in der Euthanasie-Aktion tätigen Ärzte keinesfalls von den Machthabern des Dritten Reiches mißbraucht wurden, sondern in den Ideen der Medizin ihrer Zeit groß geworden, vielfach die subjektive Überzeugung verantwortungsvollen ärztlichen Handelns hatten«.375 371 Gerhard Weber (München), Buchbesprechung Grenzsituationen des Lebens, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 110 (1962), S. 543. 372 Theodor Hellbrügge, Ärztliche Gesichtspunkte zu einer »begrenzten« Euthanasie, in: Ärztliche Mitteilungen Nr. 25 (1963), S. 1428 – 1440. 373 Er verwendete hauptsächlich Publikationen, die nach Abschluss des Nürnberger Ärzteprozesses erschienen waren, z. B. von: Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, Wissenschaft ohne Menschlichkeit, Heidelberg 1949; Dies., Medizin ohne Menschlichkeit, Frankfurt am Main 1960; Alice Platen-Hallermund, Die Tötung Geisteskranker in Deutschland, Frankfurt am Main 1948; Gerhard Schmidt, »Approbation wird nicht entzogen.« Aussprache zu der gemeinsamen Erklärung der Hamburger Gesundheitsbehörde und der Ärztekammer Hamburg, in: Ärztliche Mitteilungen 20 (1961), S. 1175; Werner Leibbrand, Um die Menschenrechte der Geisteskranken, Nürnberg 1946; Hedwig ConradMartius, Utopien der Menschenzüchtung. Der Sozialdarwinismus und seine Folgen, München 1955; sowie: Viktor von Weizsäcker, »Euthanasie« und Menschenversuche, Heidelberg 1947. 374 Das Kürzel »14f13« ist ein Quellenbegriff aus der Tätersprache. Es lässt sich wie folgt aufschlüsseln: »14« – Inspekteur der Konzentrationslager ; »f« für Todesfälle und »13« für die Todesart, hier der Tötung durch Giftgas (Kohlenmonoxid) in den Tötungsanstalten der Aktion T4. 375 Hellbrügge, Ärztliche Gesichtspunkte zu einer »begrenzten« Euthanasie, S. 1435.

134

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Wie aktuell die bei der Euthanasie-Frage tangierten rechtlichen und ethischen Probleme waren, zeigte sich an dem 1961 sich abzeichnenden ConterganSkandal. Das pharmakologische Präparat mit dem Wirkstoff Thalidomid (Barbiturat) wurde seit 1957 vom Stolberger Pharmaunternehmen Chemie Grünenthal vertrieben und war ursächlich für weltweit schätzungsweise 10.000 körperlich geschädigte Kinder (Dysmelie-Syndrom) verantwortlich – davon etwa 5.000 Kinder in der Bundesrepublik. Den ersten deutschsprachigen Fachartikel über die Häufung von fehlgebildeten Neugeborenen veröffentlichte der Kinderarzt Hans-Rudolf Wiedemann. Auf den konkreten Zusammenhang zwischen den Missbildungen und dem Medikament Contergan wies jedoch der Hamburger Humangenetiker und Kinderarzt Widukind Lenz hin, Sohn des Rassenhygienikers Fritz Lenz und späterer Nachfolger von Ottmar v. Verschuer auf dem Lehrstuhl für Humangenetik in Münster. Er informierte den Konzern zunächst telefonisch, dann brieflich und die pädiatrische Fachöffentlichkeit im Rahmen einer Konferenz.376 Doch erst ein Presseartikel bewegte das Unternehmen zum Rückzug des Präparates vom Markt.377 Hellbrügge nahm in seinem Beitrag nun Bezug auf ein aus Lüttich (LiÀge, Belgien) bekannt gewordenes Gerichtsurteil: Ein Arzt und die Mutter eines Thalidomid-geschädigten Kindes, die es mit Hilfe des Arztes hatte töten lassen, waren freigesprochen worden. Es war die Bevölkerung Lüttichs, die das Geschworenengericht durch Protestaktionen zum Freispruch hatte bringen kön-

376 Vgl. u. a. Beate Kirk, Der Contergan-Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid. Stuttgart 1999. Die DGfK verlieh W. Lenz für seine diesbezüglichen Verdienste 1964 als höchste Auszeichnung der Fachgesellschaft den Otto-Heubner-Preis. Vgl. Windorfer / Schlenk, Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde, S. 188. 377 Vgl. N.N., Mißgeburten durch Tabletten? Alarmierender Verdacht eines Arztes gegen ein weitverbreitetes Medikament, Welt am Sonntag, 16. 11. 1961. Mit dem Contergan-Skandal verbindet sich auch ein vergangenheitspolitischer Aspekt. So handelte es sich bei dem wissenschaftlichen Direktor der Firma Grünenthal, der für die Entwicklung von Contergan und einer Penicillin-Serie zuständig war, um den Pharmakologen Heinrich Mückter. Während des Krieges in der Funktion eines Stabsarztes, arbeitete Mückter am Institut für Fleckfieber- und Virusforschung des Oberkommandos des Heeres in Krakau und wurde nach 1945 von der polnischen Justiz wegen medizinischer Versuche an Konzentrationslagerhäftlingen und Zwangsarbeitern (Fleckfieberimpfstoff) gesucht. Vgl. Armin D. Steuer, Braune Vorgeschichte. Der Conterganerfinder, in: Spiegel Online, 19. 11. 2007 http://ein estages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/730/der_contergan_erfinder.html (28. 1. 2013); Klee, Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 418. Die Vergangenheit Mückters wurde allerdings nicht während des Contergan-Skandals der 1960er-Jahre, sondern im Zuge des Medienereignisses »Contergan« (TV-Zweiteiler, Das Erste 2007, Teil 1: »Eine einzige Tablette«, Teil 2: »Der Prozess«) in der Presse thematisiert. Die Firma Grünenthal hatte die Ausstrahlung trotz massiver juristischer Gegenschritte nicht verhindern können. Zu den Auswirkungen der »Thalidomid-Katastrophe« auf die deutschen Diskussionen zur Forschung am Menschen siehe: Maio, Ethik der Forschung am Menschen, S. 291 – 301.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

135

nen und anschließend, so die Schilderung Hellbrügges, ein Volksfest auf den Straßen der Stadt veranstaltete. Daraus schloss er, »daß die Beseitigung ›unwerten‹ Lebens auch als ärztliches Problem keinesfalls ausschließlich eine Angelegenheit der nationalsozialistischen Ära war«.378

Mit seiner Argumentation zog Hellbrügge eine direkte Kontinuitätslinie von der Vorgeschichte der NS-Medizinverbrechen über die Phase von deren Umsetzung im Nationalsozialismus bis zur gegenwärtigen Medizinethikdebatte und sogar noch darüber hinaus bis zum zukünftigen ärztlichen Selbstverständnis. Aus seiner Aufforderung an die deutsche Medizin, der seiner persönlichen Erfahrung nach im Ausland noch immer ein »Kainszeichen« anhafte, sich der Schuld aus der Vergangenheit bewusst zu werden, leitete Hellbrügge die Notwendigkeit zum Umdenken bei der Gestaltung der ärztlichen Ausbildung ab, in der die ethischen Grundlagen ärztlichen Handelns kaum oder gar keine Bedeutung habe.379 Mit Blick auf das Lütticher Urteil hätten gerade die deutschen Ärzte, so Hellbrügge, einen Auftrag, bei erneuten Fehlentwicklungen warnend die Stimme zu erheben. Seine persönlichen Schlussfolgerungen aus der Beschäftigung mit Catels Buch und den 15 Jahre zurückliegenden Medizinverbrechen lauteten, »daß eine Medizin, die den Menschen nicht als Subjekt, sondern als Objekt betrachtet, die sich mehr für den ›Fall‹ als für den kranken Menschen interessiert, die pathologische Zusammenhänge mehr als interessantes Objekt der Grundlagenforschung als Dienst am kranken Menschen ansieht, daß eine solche Medizin Keime der Unmenschlichkeit in sich trägt. Nicht mehr und nicht weniger lehrt uns das furchtbare Beispiel der Euthanasie«.380

4.2.1.5. DGfK-Ausschlussverfahren gegen Catel 1962 Die Auseinandersetzung in der DGfK über die Täter der NS-Kindereuthanasie verschärfte sich 1962, als zwei Kinderärzte aus der Schweiz erklärten, sie würden aus der Gesellschaft austreten, wenn Werner Catel und Wilhelm Bayer (s. o.) weiterhin Mitglieder blieben. Ernst Freudenberg (1884 – 1967) und Adolf Hottinger aus Basel hatten vor dem Kriegsausbruch in Marburg und Düsseldorf gearbeitet. Freudenberg war 1937 in Marburg vorzeitig in den Ruhestand versetzt worden, da er zu seiner Ehefrau jüdischer Herkunft hielt. Zeitgenossen berichteten, er habe sich damals auch kritisch über die »Nazi-Doktrin« und die 378 Hellbrügge, Ärztliche Gesichtspunkte zu einer »begrenzten« Euthanasie, S. 1428. 379 Ebd., S. 1437 f. 380 Ebd., S. 1440. Catel bezichtigte 1966 R. Degkwitz, Th. Hellbrügge, B. Honolka, H. Ehrhardt u. a. der Diskriminierung, des Rufmordes und der Lüge. Vgl. Catel, Leidminderung – richtig verstanden, S. 141 f.

136

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

NS-Euthanasie geäußert.381 Noch 1938 konnte das Ehepaar dank einer unterstützenden Intervention des Schweizer Gesandten im Auswärtigen Amt mit den beiden Kindern in die Schweiz emigrieren,382 wo Freudenberg auf den Lehrstuhl für Kinderheilkunde in Basel berufen worden war. Dort angekommen, sah sich Freudenberg direkt einer antisemitischen Kampagne ausgesetzt, die 1938 vom DGfK-Vorsitzenden Franz Hamburger gegen den ein Jahr zuvor nach Basel verlegten jüdischen Karger-Verlag lanciert wurde. Freudenberg übernahm dort Aufgaben als Redakteur für die von nun an in Basel herausgegebene Fachzeitschrift Annales Paediatrici (vor 1938: Jahrbuch für Kinderheilkunde). Hamburger schlachtete dies propagandistisch als angebliche Kampfansage gegen die DGfK und zugleich als Absage an »Großdeutschland« aus und startete Rundschreiben- und Postkartenaktionen an alle »reichsdeutschen Mitglieder« der Fachgesellschaft mit der Aufforderung, die Zeitschrift aus Basel abzubestellen.383 Ein Jahr später erlosch Freudenbergs Mitgliedschaft in der DGfK.384 Wie aus eigenen Schilderungen in einem Nachkriegsschreiben Freudenbergs an den DGfK-Vorsitzenden des Jahres 1950, Erich Rominger, hervorgeht, war er aus der Fachgesellschaft ausgeschlossen worden.385 Über den Schweizer Kinderarzt Adolf Hottinger (1897 – 1975) ist weniger bekannt. Er musste 1933 wegen politischer Differenzen seine Stellung an der Kinderklinik der Düsseldorfer Medizinischen Akademie aufgeben386 und wurde 381 Vgl. Michael Bernhard, Der Pädiater Ernst Freudenberg 1884 – 1967, Med. Diss. Marburg 2001, hier: S. 44. Die Erinnerung einer der Töchter Freudenbergs an eine Denunziation durch den Bakteriologen und Rassenhygieniker Wilhelm Hermann Pfannenstiel wegen Freudenbergs Äußerungen vor Studenten, demnach die Euthanasie und Rassenlehre nicht mit dem ärztlichen Ethos vereinbar sei, müssen zumindest teilweise mit Vorsicht betrachtet werden. Eine direkte Kritik an den Euthanasie-Programmen bzw. deren Vorbereitung kann entsprechend der zeitlichen Abfolge vor seiner Emigration in die Schweiz kaum erfolgt sein, da die Krankenmorde erst 1939 in Angriff genommen wurden. Aber möglicherweise stellte Freudenberg aufgrund aufmerksamer Beobachtungen bereits 1938 begründete Vermutungen über ein baldiges Einsetzen solcher Maßnahmen an, die er gegenüber Studenten ansprach. Vgl. zu Freudenberg auch: Kornelia Grundmann, Ernst Freudenberg und die Entwicklung der Pädiatrie in Marburg, in: Verein für Hessische Geschichte und Landeskunde (Hg.), Die Philipps-Universität zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Kassel 2006, S. 193 – 206. 382 Bernhard, Der Pädiater Ernst Freudenberg, S. 56. 383 Ebd., S. 66. Vgl. auch Thomas Lennert, Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und der Karger-Verlag 1938/39, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 143 (1995), S. 1197 – 1203. 384 Eintrag Ernst Freudenberg, in: Eduard Seidler, Kinderärzte 1933 – 1945. entrechtet – geflohen – ermordet, Bonn 2000, S. 291. 385 Bernhard, Der Pädiater Ernst Freudenberg, S. 70. 386 N.N., Nachricht über den 70. Geburtstag Adolf Hottingers, Rubrik Tagesgeschichte, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 115 (1967) 12, S. 580. Nach Schilderungen des Sohnes Arnold Hottinger gehörte sein Vater zur Gruppe »projüdischer« Dozenten an der politisch gespaltenen Düsseldorfer Medizinischen Fakultät. Nationalsozialistische Fakultätsmit-

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

137

während des Krieges ebenfalls aus der Gesellschaft für Kinderheilkunde ausgeschlossen.387 Freudenberg lehnte nach dem Ende des Krieges ein Angebot der Marburger Medizinischen Fakultät, vorgebracht im Jahr 1949 durch den Dekan und Psychiater Ernst Kretschmer, an seine alte Arbeitsstelle zurückzukehren, ab. Kretschmers Argument, weite Teile der Marburger Fakultät hätten sich doch gegen den Nationalsozialismus ausgesprochen und auf einem »anständigen Niveau« gehalten,388 vermochte Freudenberg angesichts seiner eigenen Erfahrungen nicht zu überzeugen. Ebenso schlug er im selben Jahr eine Einladung der DGfK aus, auf der kommenden Jahrestagung in Lübeck einen Vortrag über Antibiotika in der Kinderheilkunde zu halten, mit dem Verweis auf die personellen Kontinuitäten in der DGfK. Damit schätzte Freudenberg die Situation in der DGfK durchaus zutreffend ein. Der erste Vorsitzende des Neugründungsjahres der DGfK (1948), Hans Kleinschmidt, hatte in einem Brief an den ehemaligen Schriftführer und Vorsitzenden des Jahres 1949, Fritz Goebel, bezüglich der mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden Kollegen formuliert, man könne »solche Leute ruhig vorzeigen«.389 Freudenberg schrieb nun an den für das Amtsjahr 1950 benannten Vorsitzenden Erich Rominger :

glieder hätten versucht, Hottinger als Lügner und »ehrlos« hinzustellen. Er sei in einem Ehrprozess verurteilt worden, woraufhin er nach Basel zurückkehrte. Siehe dazu die Autobiographie des Züricher Kinder- und Jugendpsychiaters Herzka, der wohl in Kontakt zum Sohn Arnold Hottinger stand. Heinz Stefan Herzka, Unterwegs im Zwischen. Autobiographie, Frauenfeld 2007, hier: Glossar. 387 Gerhard Joppich plädierte im August 1966 gegenüber dem Vorsitzenden Adalbert Loeschke dafür, Hottinger als sogenannte »Wiedergutmachung« zum Ehrenmitglied der DGfK zu erklären, eine Auszeichnung, die vorrangig ausländischen Mitgliedern zum 70. Geburtstag zuteil wurde. Die Hintergründe dieses Ausschlusses waren den Vorstandsmitgliedern der DGfK nicht mehr sicher präsent. Man vermutete zunächst, er sei aus politischen Gründen erfolgt, zumal Hottinger, wie man annahm, ebenfalls eine jüdische Ehefrau hatte. Bald tauchten Gerüchte auf, Hottingers Ausschluss habe mit seiner Denunziation des Pädiaters Albert Eckstein in Düsseldorf zu tun gehabt. Hottinger erhielt trotz der intern geäußerten Zweifel im Jahr 1966 die Ehrenmitgliedschaft. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Korrespondenz Loeschke. Zur Biographie Hottingers siehe auch: Fred Bamatter u. a., Gratulation. Hommage au Professeur Adolf Hottinger — l’occasion de son 70e anniversaire, in: Schweizerische Medizinische Wochenschrift 97 (1967) 46, S. 1551 – 1552. 388 Vgl. die Wiedergabe aus der Korrespondenz Kretschmer – Freudenberg zur Besetzung des Lehrstuhls für Kinderheilkunde in Marburg 1949/1950, in: Bernhard, Der Pädiater Ernst Freudenberg, S. 58. 389 Hans Kleinschmidt an Fritz Goebel, 4. 3. 1948. Hier zit. nach: Seidler, Kinderärzte 1933 – 1945, S. 64.

138

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

»Nun ist die Situation für mich aber keineswegs erfreulich mit Ihrer deutschen [sic!] Gesellschaft für Kinderheilkunde. Noch sind Leute, die gegen mich aufgetreten sind, Ehrenmitglieder.«390

Damit waren die bestehenden Ehrenmitgliedschaften von Franz Hamburger (1944) und Henry Gerstenberger (1931) angesprochen.391 In Freudenbergs Schreiben an Rominger heißt es weiter : »[…], zu geschweigen von den notorischen und aktiven Nazis, die nun als Mitglieder weiter figurieren. Ich habe einfach keine Lust, da mit zu tun.«392

Rominger erklärte in seiner Antwort, es sei »natürlich grotesk«, dass diese Kollegen noch auf der Mitgliederliste der DGfK geführt würden, aber man könne es einfach nicht ändern. Denn wer solle, so fragte Rominger, diese Mitglieder aus der Fachgesellschaft ausschließen? »[…] heute sitzen solche Leute mit dieser Gesinnung überall. Maßgeblich ist m. E.’s doch nur, ob sie eine führende Rolle spielen oder nicht. Wir nehmen jedenfalls hier, nachdem, was wir wieder in den letzten Jahren an neuem Unrecht haben erleben müssen, alle solche Dinge nicht mehr tragisch, sonst wären wir schon gebrochenen Herzens gestorben.«393

Mit dem so bezeichneten »Unrecht« bezog sich Rominger auf den Verlauf der Spruchkammerverfahren zur Entnazifizierung, die er für unglaubwürdig hielt, da einerseits Personen zu Unrecht diskriminiert und andererseits echte Nationalsozialisten als unbelastet eingestuft würden. Entsprechende Verfahren innerhalb der DGfK hielt Rominger zwar moralisch für notwendig, aber wegen der überhohen Verfahrenskosten und wegen kaum zu erwartender Ergebnisse für wenig sinnvoll. Er beteuerte jedoch, sich als Vorsitzender ernstlich zu bemühen, die »Unschönheiten« des Mitgliederverzeichnisses so gut er könne zu beseiti390 Freudenberg an Rominger, 17. 12. 1949, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, hier zit. nach: Bernhard, Der Pädiater Ernst Freudenberg, S. 70. 391 Vgl. Thomas Lennert, Ehrenmitglieder der DGKJ, in: Historische Kommission der DGfKJ (Hg.), 125 Jahre Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. 1883 – 2008. Jubiläumspublikation der DGfKJ, Berlin 2008, S. 87 – 89. Lennert erwähnt hier, dass Gerstenberger dem Nationalsozialismus nahegestanden und Hamburger diesen offen vertreten habe. Die Vorstände der DGfK hätten sich »in den Wirren der ersten Nachkriegsjahre« nicht imstande gesehen, »ein objektives Urteil zu fällen«. Beide genannten Personen werden aktuell noch immer in der Liste der Ehrenmitglieder geführt. http://www.dgkj.de/ue ber_uns/mitgliedschaft/ehrenmitglieder/dgkj_ehrenmitglieder/ (29. 12. 2012). 392 Freudenberg an Rominger, 17. 12. 1949, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, hier zit. nach: Bernhard, Der Pädiater Ernst Freudenberg, S. 70. 393 Rominger an Freudenberg, 22. 12. 1949. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, hier zit. nach: Bernhard, Der Pädiater Ernst Freudenberg, S. 72.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

139

gen.394 Wie die Mitgliederverzeichnisse ausweisen, war dies ein nahezu leeres Versprechen gegenüber Freudenberg.395 Diese vergangenheitspolitisch indifferente Haltung des Vorstands setzte sich auch in den 1950er-Jahren fort und dürfte auf enttäuschende Weise den Erfahrungshintergrund gebildet haben, als Freudenberg und Hottinger in den 1960er-Jahre vehement ihre Ausschlussforderungen gegenüber der DGfK bezüglich Catel und Bayer erhoben. Obwohl Freudenberg im Jahr 1954 selbst zum Ehrenmitglied der DGfK ernannt worden war, worin man eine Wiedergutmachungsgeste erkennen mag,396 nahmen er und Hottinger, entgegen der Haltung Romingers, die Tatsache einer ungebrochenen Integration von aus der NS-Zeit belasteten Kollegen offenbar deutlich »tragischer« als der Vorstand der DGfK. Zu welchem Zeitpunkt Freudenberg und Hottinger ihre Forderung gegenüber der DGfK zum ersten Mal erhoben, ließ sich nicht klären. Eine Jahrestagung, die Gelegenheit dazu gegeben hätte, fand 1962 aufgrund des Internationalen Pädiater-Kongresses in Lissabon nicht statt. Stattdessen wurde nur eine Geschäftssitzung unter dem Vorsitz Bambergers abgehalten.397 Aus den Vorstandsunterlagen geht jedoch hervor, dass Bamberger gegen Ende des Jahres 1962 an Bayer und Catel ein Anschreiben gerichtet haben muss, mit dem beiden nahegelegt wurde, durch einen freiwilligen Austritt einem satzungsgemäßen Ausschlussverfahren zuvorzukommen.398 Catel nahm in einem späteren Schreiben darauf Bezug: 394 Ebd. 395 Eine Stichprobe in den Mitgliederverzeichnissen der Jahre 1948 – 1950 zeigte, dass, abgesehen von Franz Hamburger (!), folgende, nach heutigen Kenntnissen dem Nationalsozialismus nahe stehenden (z. B. in Funktion als HJ-Ärzte) oder an der NS-Kindereuthanasie beteiligten Kinderärzte wieder bzw. weiterhin als Mitglieder geführt wurden: Thilo Brehme, Kurt Hofmeier, Walter Keller, Hermann Mai, Carl-Gottlieb Bennholdt-Thomsen, Felix von Bormann. Nachgewiesene Beteiligung an der NS-Kindereuthanasie liegt vor bei: Werner Catel, Hanna Uflacker, Hans-Joachim Hartenstein und Hans-Christoph Hempel. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin, Archivkarton 82 DGK 1949 – 1966, Geschäftsberichte 1949 – 1955. 396 Es sei hier angemerkt, dass sich die DGfK zu dieser Zeit noch in einer Phase der aus der NSZeit resultierenden wissenschaftlichen Isolation befand. Für ihre Bemühungen, wieder Anschluss an die internationale scientific community zu finden, war die Rückgewinnung von früher aus der Gesellschaft vertriebenen Mitgliedern, die auch noch wie im Falle Freudenbergs international ein hohes Ansehen genossen, ein hilfreiches Instrument. Zur Ehrenmitgliedschaft Hottingers im Jahr 1966 s.o. 397 Windorfer / Schlenk, Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde, S. 52. 398 Der Schriftführer Wolff erkundigte sich beim Vorsitzenden, ob Bayer und Catel geantwortet hätten, da er das Mitgliederverzeichnis in Druck geben müsse: »Andererseits kann ich natürlich die Namen der beiden Mitglieder nicht aus dem Mitgliederverzeichnis streichen, ohne dass die Herren ausgetreten oder ausgeschlossen worden sind.« Wolff an Bamberger, 9. 1. 1963, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der HumboldtUniversität Berlin, Archivkarton 71 DGfK 1961 – 63, Schriftwechsel 1.1.1963 – 10.9.1963, AG.

140

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

»Der Vorsitzende […] des Jahres 1962, Herr Prof. Bamberger, ein Schüler von Prof. Degkwitz, teilte mir brieflich mit, dass ihm aus dem ›befreundeten Ausland‹ Anträge auf Ausschluss meiner Person […] angekündigt worden seien. Er selbst legte mir den Austritt nahe, ohne auch nur ein einziges Mal schriftlich oder in einem persönlichen Gespräch mit mir versucht zu haben, eine Klärung der Angelegenheit herbeizuführen.«399

In Reaktion auf Bambergers Anschreiben erklärte Wilhelm Bayer zum Ende des Jahres 1962 seinen Austritt. Eine Begründung gab er schriftlich nicht an.400 Catel dagegen hielt Rücksprache mit seinem Anwalt Fabian von Schlabrendorff und lehnte einen Austritt ab.401 Catels Kalkül mag darin gelegen haben, alle Anschuldigungen durch einen von ihm erwarteten positiven Ausgang des Ermittlungsverfahrens in Hannover zu entkräften. Die beiden Kollegen aus der Schweiz waren vom Vorstand 1962 über das satzungsgemäße Verfahren informiert worden. Hottinger und Freudenberg müssen noch im selben Jahr einen Antrag zum Ausschluss Catels (und Bayers) gestellt haben, der nicht erhalten geblieben ist.402 Nun, Ende des Jahres 1962, gab Bamberger den Vorsitz und damit auch die Angelegenheit Catel an Carl-Gottlieb Bennholdt-Thomsen ab: »In der Anlage sende ich Ihnen die Schreiben von Herrn Freudenberg und Herrn Hottinger in der Angelegenheit Catel und Bayer, außerdem die Antworten der beiden Herren. Aus verständlichen Gründen möchte ich Ihnen diese Dinge nicht mit den Akten übermitteln, die in den nächsten Tagen an Sie abgehen werden.«403

399 Catel an den Vorsitzenden Asperger, 4. Juli 1967, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel. 400 Bamberger an Wolff, 9. 1. 1963 mit der Aufforderung, Bayer aus dem Mitgliederverzeichnis zu streichen. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der HumboldtUniversität Berlin, Archivkarton 71 DGfK 1961 – 63, Schriftwechsel 1.1.1963 – 10.9.1963, AG. 401 Aktennotiz des Schriftführers Wolff zu einem Telefongespräch mit dem neuen Vorsitzenden Bennholdt-Thomsen, 19. 1. 1963. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 71 DGfK 1961 – 63, Schriftwechsel 1.1.1963 – 10.9.1963, A-G. 402 Bamberger an Bennholdt-Thomsen zur Amtsübergabe, 10. 1. 1963, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 80, DGfK 1961/62, 1. Korrespondenz Bamberger, Teil 2 b) A-C.a Auch in Baseler Archiven fanden sich keine Hinweise. Im Archiv der Familie Freudenberg gibt es laut dortiger Auskunft keinen Nachlass des Pädiaters. Entsprechende Anfragen an die Soci¦t¦ suisse de p¦diatrie, die vom Autor selbst und freundlicherweise erneut von der Medizinhistorikerin Iris Ritzmann (Zürich) gestellt wurden, blieben zunächst ohne Reaktion, wurden dann mit der abschlägigen Nachricht beantwortet, es gebe keine Unterlagen mehr. Der Autor dankt Frau Ritzmann für den produktiven Austausch und ihre Mühe. Persönliche Korrespondenz mit Iris Ritzmann, vorrangig April 2008. 403 Ebd. Bamberger unterrichtete noch nach dem Ende seiner Amtsperiode Freudenberg über den Austritt Bayers und Catels Weigerung. Bamberger an Freudenberg, 10. 1. 1963, Archiv

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

141

Die Satzung sah ein Verfahren vor, nach dem der Gesamtvorstand geheim über den Ausschlussantrag mit Drei-Viertel-Mehrheit zu entscheiden hatte.404 Dem auszuschließenden Mitglied war jedoch das Recht zu gewähren, vor der Mitgliederversammlung Einspruch zu erheben. Eine endgültige Entscheidung konnte also erst im Rahmen der nächsten Jahrestagung getroffen werden. Solange blieb Catel Mitglied. 4.2.1.5.1. Die DGfK unter dem Vorsitz von Bennholdt-Thomsen – Vermittlungsversuch 1963 Die nächste Mitgliederversammlung war für September 1963 in Köln im Rahmen der Jahrestagung der DGfK unter Leitung von Carl-Gottlieb BennholdtThomsen anberaumt. Wie eine Telefonnotiz des Schriftführers Wolff zeigt, drohte die Krise sich aber bis dahin immer weiter auszuweiten: »Wir sehen auch Schwierigkeiten dadurch auf uns zukommen, dass zahlreiche Schüler von Catel in der DDR Lehrstühle oder Kliniken leiten. Zur passenden Zeit könnte diesen Kinderärzten aus ihrer früheren Verbindung zu Catel drüben in der DDR ein Nachteil entstehen.«405

Damit war die Frage des beruflichen Schicksals von Hans-Christoph Hempel, Siegfried Liebe, Lothar Weingärtner und Erich Häßler angesprochen. Soweit aus den vorhandenen Vorstandsakten erkennbar, gab es aber auch keine Bemühungen, deren Wissen über die NS-Kindereuthanasie in Leipzig abzurufen oder gar eine mögliche Beteiligung dieser Kollegen auf anderen Wegen aufzuklären. Noch vor der Tagung in Köln richtete Felix von Bormann ein Anschreiben an den neuen Vorsitzenden Bennholdt-Thomsen. Bormann hatte sich von Bamberger die Erklärung von 1961 zuschicken lassen. Nun erbat er bei BennholdtThomsen, ihm »Abschriften ähnlicher bzw. gleichlautender Erklärungen unserer Gesellschaft aus den Jahren von 1933 bis 1945 zu überlassen«.406 Bennholdtfür Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 80, DGfK 1961/62, 1. Korrespondenz Bamberger, Teil 2 d) F-G. 404 In der Satzung lautete der Passus: »Ausschluß aus der Gesellschaft kann nur auf schriftlich begründeten Antrag eines Mitgliedes durch die Dreiviertelmehrheit des Gesamtvorstandes beschlossen werden. Gegen den Ausschluß ist Berufung an die Mitgliederversammlung möglich; diese entscheidet mit einfacher Mehrheit in geheimer Abstimmung.« Satzung der DGfK (Fassung 1959), in: Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde. Geschäftsbericht über die 58. Tagung in München und Mitgliederverzeichnis. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Karton 60 DGfK 1960, Schriftwechsel 6.8.60 – 31.12.60 3. Allgemeines, b) I-J. 405 Aktennotiz des Schriftführers Wolff zu einem Telefongespräch mit dem neuen Vorsitzenden Bennholdt-Thomsen, 19. 1. 1963. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 71 DGfK 1961 – 63, Schriftwechsel 1.1.1963 – 10.9.1963, A-G. 406 Felix von Bormann an Bennholdt-Thomsen, 17. 3. 1963, Archiv für Kinder- und Jugend-

142

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Thomsen war ratlos und vermerkte intern auf dem Brief die Frage, ob sich wohl der ehemalige Schriftführer Johannes Jochims (Schriftführerwechsel: 1960) an eine vergleichbare Erklärung aus früherer Zeit erinnern würde. Die Antwort des Vorsitzenden blieb zunächst aus, weshalb Bormann zwei Wochen später hartnäckig daran erinnerte, er habe um »Überlassung der Abschriften von Erklärungen unserer Gesellschaft zu der Frage der Euthanasie der mißgebildeten und sonst mißgeborenen Kinder in der Zeit von 1933 bis 1945 gebeten«.

Da er bislang keine Antwort erhalte habe, schließe er daraus, »daß solche Erklärungen seitens der deutschen [sic!] Gesellschaft für Kinderheilkunde während der ganzen Zeit des Dritten Reiches nicht abgegeben wurden«.407

Bormann sympathisierte offenkundig mit Catel, soviel ging schon aus seinem Ausschlussantrag gegen Degkwitz hervor. Nun suchte er nach einem schlagkräftigen Argument für die Debatte um Catel innerhalb der Fachgesellschaft. Mit seinem zweiten Schreiben kritisierte er direkt den Vorstand. Der Brief offenbart Bormanns Argument, die DGfK mache sich unglaubwürdig, wenn sie sich nach dem Krieg von Catel und den Euthanasie-Maßnahmen distanziere, ohne bereits in der Kriegszeit die Stimme dagegen erhoben zu haben. Ob man sich im Vorstand der Tatsache, dass es nie eine offizielle Stellungnahme der DGfK vor 1961 gegeben hatte, bewusst war oder nicht, lässt sich nicht mehr klären. Die Antwort des Schriftführers Joachim Wolff (1909 – 1984) war jedenfalls ungewöhnlich bezüglich der Art, wie diese zweite Anfrage Bormanns abgewehrt wurde. Nach Bad Nauheim antwortete er : »Die Akten der Jahre 1933 bis 1945 habe ich von Herrn Prof. Jochims übernommen. Es handelt sich um 12 Aktenordner. In jedem Ordner sind die Schriftstücke nach dem Alphabet des Absenders oder Empfängers geordnet. Ein Sachverzeichnis existiert nicht. Ich muß also 12 Aktenordner Seite für Seite durchblättern, um Ihnen Ihre Frage beantworten zu können. Leider bin ich dazu nicht in der Lage. Ich habe keine Sekretärin für die Gesellschaft und in der Klinik so viel zu tun, daß ich nicht stundenlang in alten Akten nachblättern kann. […] Vielleicht gelingt es Ihnen auf einem anderen Wege, die gewünschten Erklärungen zu finden.«408

medizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 71 DGfK, 1961 – 63, Schriftwechsel 1.1.1963 – 10.9.1963, A-G. 407 Bormann an Bennholdt-Thomsen, 3. 4. 1963, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 85 1963, Schriftwechsel zur Tagung Köln 1963, Teil 4a) A-J. 408 Wolff an Bormann, 3. 4. 1963, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 71 DGfK, 1961 – 63, Schriftwechsel 1.1.1963 – 10.9.1963, A-G.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

143

Die Reaktion des Schriftführers lässt auf eine kalkulierte Konfrontation schließen. Eine Woche später wurde auf dem Anschreiben Bormanns handschriftlich vermerkt, dass die Anfrage beantwortet worden sei, und ein kleiner Kommentar lautete: »Damit haben sich die Schwerter wohl gekreuzt.«409 Seit Beginn seiner Amtszeit unternahm Bennholdt-Thomsen (1902 – 1971) wie kein anderer Vorsitzender Versuche, auf Catel zuzugehen. BennholdtThomsen beriet sich wiederholt mit Kollegen des Vorstandes und seinen Amtsvorgängern. Zusätzlich hoffte er auf die Unterstützung anderer Kinderärzte, die Catel besonders nahestanden. Dabei dachte er an Friedrich Hartmut Dost (1910 – 1985),410 der während des Krieges in Leipzig zeitweise als Assistenzarzt gearbeitet hatte, dort von Catel habilitiert worden war und seit den 1950er-Jahren eine freundschaftliche Beziehung zu seinem ehemaligen akademischen Lehrer unterhielt. Die Anfrage an Dost ist in den Vorstandsakten nicht überliefert. Dagegen enthält der Nachlass Catels ein Schreiben von Dost, aus dem deutlich wird, dass Dost in dieser Sache nichts ohne eine Absprache mit Catel unternahm. Er teilte Catel mit, dass Bennholdt-Thomsen ihn unbedingt in der Angelegenheit persönlich sprechen wolle und sogar deshalb nach Gießen kommen würde: »Er fragt mich, ob ich glaubte[,] Einfluß auf Dich zu haben, Dich dazu zu bewegen, Deinen Entschluß, in der Deutschen Gesellshcaft [sic!] für KHK zu verbleiben, doch noch einmal zu überdenken. […] Es tut mir sehr leid, daß ich Dich mit diesem Thema belästigen muß. Ich glaube, daß Dir das Gespräch […] eigentlich keinen Schaden stiften könnte, wohl aber könnte dies der Fall sein, wenn ich ablehnte. Besprich dies auch vielleicht mit Deiner lieben Frau, und laß mich Deine Auffassung wissen. Vorher werde ich nicht an B.-T. schreiben.«411

Obwohl Dost weder konkrete Schritte unternahm noch seinen Freund zu einem freiwilligen Austritt bewegen wollte, wurde der Vorgang zu einer Belastungsprobe für die Beziehung. Deutlich sachlicher und kühler im Tonfall als in an409 Auf dem Schreiben Bormann an Bennholdt-Thomsen, 3. 4. 1963 per Einschreiben, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 85, Schriftwechsel zur Tagung Köln 1963, Teil 4a) A-J. 410 Dost hatte sich in den 1940er- und 1950er-Jahren, inspiriert durch mathematische Methoden, mit Konzentrationsverhältnissen und -abläufen von chemotherapeutischen Verbindungen im Blutkreislauf beschäftigt, die eine bessere Vorhersage der Wirkdauer von Medikamenten im menschlichen Körper in Abhängigkeit von verschiedenen Parametern ermöglichten (Prozessschritte: Liberation, Absorbtion, Distribution, Metabolisierung und Exkretion). Seine wissenschaftliche Abhandlung »Der Blutspiegel« (1953) wurde zum Standardwerk und Dost selber national, als einer der wenigen deutschen Kinderärzte der Nachkriegszeit aber auch international hoch anerkannt. Er gilt heute als Begründer des Wissenschaftszweigs der Pharmakokinetik, dem besondere Bedeutung bei der Arzneimittelentwicklung zukommt. 411 Dost an Catel, 29. 1. 1963. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel.

144

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

deren Briefen reagierte Catel gegenüber Dost und drohte sogar mit einem Rechtsstreit gegen den Vorstand: »Die menschliche Seite der Verhaltungsweise [sic!] der sog. ›Kollegen‹ steht nicht zur Debatte, lediglich der juristische Aspekt. In Bestätigung meines früheren Standpunktes darf ich Dir nochmals mitteilen, dass ich nicht aus der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde austrete. Auch die Begründung bleibt – nunmehr aus juristischer Sicht dieselbe, die ich Dir früher mitteilte: Laut Art. 6 der Menschenrechtskonvention ist es untersagt, jemandem einen Vorwurf zu machen, es sei, dass der Vorwurf durch ein rechtskräftiges Urteil erwiesen ist. […] Wenn der Vorstand der Gesellschaft dennoch grundlos den Versuch macht, eines ihrer ältesten Mitglieder auszuschliessen, so bin ich autorisiert[,] Dir mitzuteilen, dass ein Prozess die Folge sein würde und dass die Gesellschaft denselben ›hundertprozentig‹ verlieren wird. Ich bin sehr traurig, dass diese Angelegenheit an Dich herangetragen worden ist[,] und ich bitte Dich herzlich, Dich unter keinen Umständen etwa im Hinblick auf das schöne Band zwischen uns weiterhin in irgendeiner Weise zu engagieren. Mit sehr herzlichen Grüßen verbleibe ich Dein […]«412

Diese Taktik des Vorsitzenden schlug fehl und Bennholdt-Thomsen reiste etwa im März 1963 nach Kiel, um unter vier Augen mit Catel gemeinsam nach einer baldigen Austrittslösung zu suchen. Ihm musste einiges daran gelegen sein, seine Jahrestagung in Köln nicht mit dem Catel-Streit zu belasten. Was in diesem Kieler Gespräch im März 1963 im Detail besprochen wurde, wird aus einer Nachricht Bennholdt-Thomsens an den Schriftführer Wolff ersichtlich. Catels Beteiligung am Reichsausschussverfahren war ebenso Thema wie der Konflikt mit Freudenberg und Hottinger. Bennholdt-Thomsen musste eingestehen: »Die Angelegenheit Catel ist noch nicht gelöst. Er sieht sich auch heute noch als absolut berechtigt zu seinem damaligen Vorgehen, wenn er auch das Gefühl hat, dass man ihm anfänglich nicht die Wahrheit gesagt hat. Das einzige, was ich erreichen konnte[,] ist, daß er den Vorschlag machte einer persönlichen Aussprache mit Professor Freudenberg und vielleicht auch mit Professor Hottinger. Ich will durch einen Vermittler versuchen, ein solches Gespräch herbeizuführen. Wenn das von der Schweiz abgelehnt wird, ist das immerhin auch ein Ergebnis. Vielleicht bleibt mein Kieler Besuch in seiner Auswirkung vorerst unter uns.«413 412 Catel an Dost, 6. 2. 1963, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel. Zu Beginn seines Briefes erwähnte Catel, er habe gerade »wieder ganz erfüllte Tage« mit Fabian von Schlabrendorff verbracht, der ihm von seiner neunmonatigen Gestapohaft berichtete: »Du wirst verstehen, in welche Weite jeder Betrachtung ein solcher Mensch gewachsen ist und auf welcher Ebene unsere Gespräche liegen.« 413 Bennholdt-Thomsen an Wolff, 12. 3. 1963, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 71 DGfK 1961 – 1963, Schriftwechsel 1.1.1963 – 10.9.1963, A-G. Hervorhebung im Original.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

145

Bennholdt-Thomsen hatte demnach ein Vertrauensverhältnis zu Catel herstellen können. In der Rückschau entbehrt dieses Kieler Treffen unter vier Augen nicht einer gewissen Brisanz, denn wie neuere Forschungen von Michal Sˇimu˚nek und Dietmar Schulze zu den Krankenmorden in Böhmen und Mähren offenbart haben, war Bennholdt-Thomsen während des Krieges selbst als Leiter einer geplanten Reichsausschussstation in der Prager Klinik angesprochen worden. Die Vorbereitungen zur Umsetzung der NS-Kindereuthanasie in Prag waren weit fortgeschritten und Bennholdt-Thomsen, der damals die Kinder des Staatssekretärs beim Reichsprotektor Böhmen und Mähren, Karl Hermann Frank, behandelte, stand als Verantwortlicher für die Durchführung der Tötungen bereits fest. Ob und wann die Station in Prag eingerichtet wurde, konnte noch nicht abschließend geklärt werden.414 Freudenberg und Hottinger legten wohl kaum Wert auf eine persönliche Aussprache mit Catel und mussten von dem Vermittlungsmanöver BennholdtThomsens enttäuscht sein. Wozu hätten sie sonst einen Antrag auf Ausschluss stellen sollen, wenn sie nicht längst die Notwendigkeit des Dialogs als überflüssig ansahen. Bennholdt-Thomsens Bemerkung, eine Ablehnung seitens der Schweiz wäre auch ein Ergebnis, verrät seine Haltung in dem Streit zugunsten Catels. Denn es ging nicht darum, schlicht irgendein Ergebnis zu erlangen, wie er vorgab. Mit dem Vorschlag, einen Vermittler zu entsenden, erhob BennholdtThomsen den im Ausland als untragbar angesehenen Kollegen Catel zu einem gleichberechtigten Gesprächspartner gegenüber den beiden Schweizer Kollegen. 414 Zur geplanten Kinderfachabteilung in Prag siehe: Dietmar Schulze, »Euthanasie« im Reichsgau Sudetenland und im Protektorat Böhmen und Mähren. Ein Forschungsbericht, in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation (Hg.), Beiträge zur NS-»Euthanasie«-Forschung 2002. Fachtagungen vom 24. bis 26. Mai 2002 in Linz und Hartheim / Alkhoven und vom 15. bis 17. November 2002 in Potsdam, Ulm 2003, S. 147 – 168, hier : S. 166 f.; sowie: Michal Sˇimu˚nek, Planung der nationalsozialistischen »Euthanasie« im Protektorat Böhmen und Mähren im Kontext der Gesundheits- und Bevölkerungspolitik der deutschen Besatzungsbehörden, in: Michal Sˇimu˚nek und Dietmar Schulze (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie« im Reichsgau Sudetenland und Protektorat Böhmen und Mähren 1933 – 1945, Prag 2008, S. 117 – 189, hier : S. 182 – 191. Sicher ist, dass Bennholdt-Thomsen als HJ-Hauptarzt für die gesundheitliche Betreuung der Jugend vom 6. bis zum 18. Lebensjahr fungierte. Zudem sah er in der von ihm aufgebauten Kinderklinik Prag eine Forschungsabteilung vor, die in engster Verbindung zur HJ-Jugend stehen sollte. Schreiben Bennholdt-Thomsen an Hermann Mai, 19. 1. 1942, Abschrift in AUK Praha, NKU-LF-PA, PA Carl Bennholdt-Thomsen. Angabe nach: Michal Sˇimu˚nek, Getarnt – verwischt – vergessen. Die Lebensgänge von Prof. Dr. med. Franz Xaver Luksch und Prof. Dr. med. Carl-Gottlieb Bennholdt-Thomsen im Kontext der auf dem Gebiet des »Protektorates Böhmen und Mähren« durchgeführten NS-Euthanasie, in: Karen Bayer, Frank Sparing und Wolfgang Woelk (Hg.), Universitäten und Hochschulen im Nationalsozialismus und in der unmittelbaren Nachkriegszeit, Stuttgart 2004, S. 125 – 146, hier : S. 142. Zur Tätigkeit von Kinderärzten in der HJ-Gesundheitsführung vgl. die neue Studie: Thomas Beddies, »Du hast die Pflicht, gesund zu sein.« Der Gesundheitsdienst der Hitler-Jugend 1933 bis 1945, Berlin / Brandenburg 2010.

146

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Lehnten diese das Gespräch ab, würde sich daraus sogar ein Vorteil für Catel ergeben. Bennholdt-Thomsens Einschätzung des Kieler Treffens dokumentiert vor allem, wie verhärtet die Fronten in dieser Auseinandersetzung waren. Ob der Druck auf den Vorstand verstärkt von außen oder im Inneren weiter zunahm, lässt sich angesichts der großen Überlieferungslücken nicht feststellen. Die Forderung nach dem Ausschluss Catels war jedenfalls untrennbar mit dessen gutachterlicher Beteiligung an der Kindereuthanasie verbunden.415 Die Frage nach der Nähe zum Nationalsozialismus stand zu diesem Zeitpunkt nicht im Zentrum der Auseinandersetzungen. Diese Thematisierung hätte zu einer Grundsatzdebatte innerhalb der Gesellschaft über zahlreiche ihrer Mitglieder und auch einiger Vorstandsvorsitzender führen müssen und eine enorme Belastung des inneren Friedens bedeutet. Es ist zweifelhaft, ob das geplante Treffen mit Freudenberg und Hottinger je zustande kam. Bennholdt-Thomsens Befriedungsversuch war gescheitert und der Konflikt sollte sich nun doch direkt auf die Jahrestagung in Köln 1963 auswirken. 4.2.1.5.2. Die Jahrestagung der DGfK in Köln 1963 Die Jahrestagung der DGfK in Köln 1963 wies mehrere Besonderheiten auf. 1963 wurde zum ersten Mal ein Forschungspreis in Erinnerung an einen der ›Gründungsväter‹ der Kinderheilkunde vergeben: Adalbert Czerny (Anlass: 100. Wiederkehr seines Geburtstags). Zudem hatte der Tagungspräsident BennholdtThomsen entschieden, entgegen der üblichen Praxis, vorrangig die Ordinarien zu Wort kommen zu lassen, um jungen Kollegen die Gelegenheit zu geben, die Vorbilder einmal persönlich zu erleben, statt sich mit eigenen Beiträgen einen Namen zu machen.416 Welche Auseinandersetzung um Catel bei dieser Tagung auch immer stattfand, es waren fast ausnahmslos alle Ordinarien der Bundesrepublik sowie Kinderärzte aus der Schweiz, Österreich, Großbritannien, Schweden, Italien und Japan anwesend.417 415 Diese Tatsache geht auch aus dem Schreiben eines späteren Vorsitzenden hervor, in dem er erklärt, dass der Antrag auf Ausschluss Catels gestellt wurde, »da er an führender Stelle an der sogenannten Euthanasieaktion zur Beseitigung ›lebensunwerten Lebens‹ beteiligt gewesen sei«. Gerhard Weber an die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen Ludwigsburg, 30. 12. 1964, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 74 DGfK 1964, Schriftwechsel 11.11.1964 – 12.4.1965 a) Allg. 416 Carl-Gottlieb Bennholdt-Thomsen, Eröffnungsansprache, Verhandlungen der 61. ordentlichen Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde in Köln 1963, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde, Bd. 112 (1964), 4, S. 109 – 111. 417 Programmheft zur 61. Tagung 16.–18. 9. 1963, Köln, S. 33 f., Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 83, DGfK, Tagung Köln 1963 Teil 1 c) Allg. Die Kollegen aus der DDR unterlagen seit dem »Mauerbau« 1961 einem strikten Reiseverbot

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

147

Wie in der Mitgliederversammlung über den Ausschluss Catels und die NSKindereuthanasie diskutiert und entschieden wurde, ist kaum mehr zu rekonstruieren, da die damals erstellten Tonbandmitschnitte und Wortprotokolle nicht erhalten geblieben sind. Dass allerdings eine heftige Debatte stattfand und ein Ausschluss Catels gefordert worden sein muss, wird aus anderen Dokumenten deutlich. Infolge der Ereignisse in Köln sandte Hanna Uflacker, ehemalige Ärztin in der Kinderfachabteilung Leipzig unter Catel und erneut bei ihm als Ärztin an der Universitätskinderklinik Kiel angestellt, ihre Mitgliedskarte an den Schriftführer Wolff zurück: »Inzwischen erfuhr ich, daß ein Ermittlungsverfahren im Prozeß Catel et aliter gegen mich läuft. […] Die Folge für mich ist, […], daß ich sofort vom Dienst suspendiert wurde und wahrscheinlich als nicht mehr tragbar für die Arbeit in der Jugendgesundheitsfürsorge in Kürze entlassen werde. Da ich annehme, in Analogie zu dem Vorgehen gegenüber Herrn Professor Catel und den Vorkommnissen auf dem Kongreß in Köln 1963, dass die Mitglieder der Gesellschaft für Kinderheilkunde, bzw. der Vorstand, auch meinen Austritt aus der Gesellschaft fordern werden, möchte ich dem zuvorkommen und ihn hiermit freiwillig erklären.«418

Wolff antwortete entgegenkommend. Er sehe vorläufig keinen stichhaltigen Grund dafür, zumal auch Catel unverändert Mitglied der Gesellschaft sei: »Ich glaube, dass wir die ganze Angelegenheit als ein schwebendes Verfahren ansehen sollen, und in schwebende Verfahren soll man nicht eingreifen.«419 Wolff führte Uflacker entgegen ihrer Bitte bis 1965 im Mitgliederverzeichnis auf. Doch Uflacker bekräftigte ihre Entscheidung und nahm mit einem kritischen Abschiedsbrief fünf Tage vor ihrem plötzlichen Tod noch einmal Bezug auf Köln: »Die Vorkommnisse auf dem Kinderärztekongreß in Köln 1963, die für mich ganz unberechtigterweise sehr ernste Folgen gezeitigt haben, haben wieder in aller Schärfe gezeigt, dass Arroganz und Intoleranz bedauerlicherweise gerade unter den alten und und waren erst wieder 1983 bei der 100-Jahr-Feier in München vertreten. Ansprache des Präsidenten Hermann Olbing, 12. 9. 1983 zum Festakt zum hundertsten Jahrestag der Gründung der Gesellschaft für Kinderheilkunde, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Ordner 1 DGfK Vorstand, Protokolle, Eröffnungsansprache, Jahresbericht 1980 – 1983 1a. 418 Uflacker an Wolff, 11. 1. 1964, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 91 DGfK 1964, 1. Schriftwechsel zur Tagung in München 1964, Teil 5, Hefter Satzung. Der Haftbefehl gegen Uflacker erging allerdings erst am 21. 1. 1964. Im Ermittlungsverfahren, in dem sie angab, an der Leipziger Universitätskinderklinik lediglich 5 – 6 Kinder auf Anweisung Catels getötet zu haben, wurde sie ebenfalls von Fabian von Schlabrendorff vertreten. Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds 721 Hannover Acc. 90/99 Nr. 33/11, StA beim LG Hannover, Band XI, Strafsache gegen Prof. Dr. Heinze u. and. wegen Mordes. 419 Wolff an Uflacker, 14. 1. 1964, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 91 DGfK 1964, 1. Schriftwechsel zur Tagung in München 1964, Teil 5, Hefter Satzung.

148

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

älteren Mitgliedern in einem derartigen Ausmaß herrschen, dass eine befriedigende Zusammenarbeit und eine objektive Diskussion über wichtige wissenschaftliche Fragen garnicht [sic!] mehr gewährleistet ist, ja darüber hinaus sogar in schwere persönliche Diffamierungen ausartet. Die Zugehörigkeit zur Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde ist für mich daher untragbar geworden.«420

Uflacker stand also bei der Kölner Tagung ebenfalls im Zentrum der Diskussion über die NS-Kindereuthanasie. Möglicherweise war sie in die Rolle geraten, sich, Catel und die Leipziger Kollegen zu verteidigen. Bemerkenswert ist ihr Hinweis, dass sich insbesondere die älteren Kollegen und Ordinarien mit Kritik nicht zurückgehalten hatten.421 Dass in Köln nicht nur über den Ausschluss einzelner Mitglieder, sondern auch über das Problem der Euthanasie diskutiert wurde, wird aus dem Abdruck der wissenschaftlichen Tagungsbeiträge in der Zeitschrift Monatsschrift für Kinderheilkunde erkennbar. Dort erschien ein Beitrag des Sozialpädiaters Köttgen von der Universitätskinderklinik Mainz, der den Anstoß zur Erklärung der Fachgesellschaft in den »Ärztlichen Mitteilungen« gegeben hatte. Für die Kölner Tagung entschied sich Köttgen nun, über die Situation der geistig und körperlich behinderten Kinder in Deutschland zu sprechen. Er forderte eine intensivere Zusammenarbeit von Heilpädagogik, Psychologie und Medizin, um durch Förderung auch bei schwerstgeschädigten Kindern zu einer positiven Entwicklung zu gelangen und ihnen zur »Menschenwürde« zu verhelfen. Köttgen kritisierte den Rückstand Deutschlands bei der Rehabilitation und Integration von behinderten Kindern im Vergleich z. B. mit den Niederlanden. Er berichtete über die Anfänge der Elternvereinigung mit dem Namen »Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind«, die seit 1958 in Marburg bestand.422 Köttgen sprach 420 Uflacker an Wolff, 4. 4. 1965, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 75, DGfK 1964 – 65, Schriftwechsel 11.11.1964 – 12.4.1965 d) S-Z. 421 Bernhard de Rudder, der sich in den Jahren zuvor gegen eine Euthanasie-Regelung ausgesprochen hatte, konnte an der Mitgliederversammlung nicht mehr teilnehmen. Er war ein Jahr zuvor verstorben. 422 Diese Organisation wurde von Tom Mutters gegründet. Unterstützung erhielt sie von den Jugendpsychiatern Hermann Stutte und Werner Villinger, die in den wissenschaftlichen Beirat berufen wurden. Vgl. Rolf Castell, Jan Nedoschill, Madeleine Rupps und Dagmar Bussiek, Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren 1937 – 1961, Göttingen 2003, S. 387 – 394. Zu Villinger und der Lebenshilfe siehe auch: Ruth Baumann, Charlotte Köttgen und Inge Grolle, Arbeitsfähig oder unbrauchbar? Die Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie seit 1933 am Beispiel Hamburgs, Frankfurt am Main 1994, S. 199 – 213. Ob Köttgen über Villingers Beteiligung an der Aktion T4 informiert war, ist unklar. Sie war aber in der Öffentlichkeit bekannt geworden. Vgl. N.N., Rubrik Euthanasie, Die Kreuzelschreiber, Ärzte, in: Der Spiegel Nr. 19 (1961), S. 35 – 44, hier : S. 39 mit fälschlicher Abbildung von Bernhard Villinger, dem Präsidenten der Landesärztekammer Baden-Württemberg.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

149

sich für diese neue Kooperation einer Elterninitiative und der Kinder- und Jugendpsychiatrie aus, der er gemeinsam mit Bennholdt-Thomsen und anderen Kinderärzten als Mitglied des Beirats angehörte.423 Am Ende seines Vortrages leitete Köttgen, wie Hellbrügge in seiner Rezension des Catel-Buches, aus der NS-Vergangenheit das Postulat einer besonderen Verantwortung ab und forderte, alle Kräfte auf die Fürsorge und Förderung betroffener Kinder zu konzentrieren. Seine Schlussbemerkung stand ganz unter dem Eindruck der Diskussion um Catel und die Frage der Euthanasie: »Wenn man diese zerbrochenen, durch ihre Umwelt nicht selten fast zum Tier herabgewürdigten Wesen sieht, möchte man mit dem Apostel Paulus sagen: ›Das ängstliche Harren der Kreatur wartet auf die Offenbarung der Kinder Gottes.‹ Hier steht vor uns eine unüberhörbare Forderung. Wir sind in Deutschland mit der sog. Euthanasie, dem Mord solcher Kinder, einem entsetzlichen Rückfall in das Altertum und tierischem Verhalten erlegen. Begnügen wir uns jetzt nicht, die Schuld anderer anzuklagen, sondern zeigen wir durch aktiven Einsatz, dass wir reife Menschen unserer Zeit sind.«424

Die anwesenden Mitglieder hatten grundsätzlich die Möglichkeit, einen Kommentar bei der Schriftleitung einzureichen. Eine Kinderärztin aus Stuttgart, Dr. Vera Gaupp (1904 – 1973), die 1959 dem Gesamtvorstand der DGfK angehört hatte,425 nutzte diese Möglichkeit. Ihr Kommentar wurde in der Monatsschrift für Kinderheilkunde abgedruckt: »Ich bin Herrn Prof. Köttgen für seine Stellungnahme gegenüber dem Euthanasiegedanken dankbar. Unsere Aufgaben liegen im Hegen und nicht im Töten. Der Wunsch der Eltern nach Euthanasie wird fast nie an den Kinderarzt herangetragen. Vielmehr stehen wir bewundernd vor der Agape [426] der Eltern geschädigter Kinder, die wir nicht entbehren möchten noch können. Ich habe vor Jahren schon vorgeschlagen, sich von den Euthanasiegedanken Catels zu distanzieren.«427

423 Tom Mutters, Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 109 (1961) 5, S. 271 – 275, hier: S. 273. Beitrag zur Tagung der Deutschen Vereinigung für die Gesundheitsfürsorge des Kindesalters in Kassel am 29. September 1960, Thema: Das cerebralgestörte Kind; Eröffnungsansprache Ulrich Köttgen. 424 Ulrich Köttgen, Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind, Aufgabe und Entwicklung, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 112 (1964) 4, S. 204 – 206, hier: S. 206. 425 Geschäftsbericht und Mitgliederverzeichnis DGfK 1959. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin. 426 Gr.; lat., caritas: Liebe. 427 Vera Gaupp (Stuttgart), Aussprache, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 112 (1964) 4, S. 208. Gaupp, geb. 6. 3. 1904 in Heidelberg, schloss ihr Medizinstudium 1927 in München ab und arbeitete im Münchener Krankenhaus unter Leitung von Prof. Kämmerer. Siehe den Lebenslauf in ihrer Dissertation: Über Dispersionsverhältnisse der Plasmaeiweißkörper bei Lues III, (Prof. Dr. von Romberg), Tübingen 1928.

150

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Es handelte sich bei dieser sozialpädiatrisch arbeitenden Medizinerin um die Tochter des prominenten Tübinger Psychiaters Robert Eugen Gaupp (1870 – 1953). Ihr Vater war seit den 1920er-Jahren sowohl als Befürworter der Eugenik und der Zwangssterilisationsmaßnahmen als auch für die »Freigabe zur Vernichtung lebensunwerten Lebens« (Binding / Hoche 1920) aufgetreten.428 Was Ulrich Köttgen und Vera Gaupp in der Debatte um Catel verband, war die sozialpädiatrische Ausrichtung. Beide wehrten sich daher gegen jegliche Form von Euthanasie an behinderten Kindern und setzten die NS-Verbrechensgeschichte als Argument ein. Die inhaltlichen Bezüge zur NS-Kindereuthanasie waren zwar nur rudimentär entwickelt. Wichtig war ihnen aber die Schlussfolgerung, aus der Vergangenheit zu lernen. In diesem Sinne kann man die von ihnen propagierte Rehabilitation als solidarisches Gegenkonzept des Umgangs mit allen behinderten Kindern auffassen. Es ist anzunehmen, dass infolge der Kölner Ereignisse weitere Verhandlungen mit Freudenberg und Hottinger wegen ihrer Ausschlussforderung geführt wurden. Im Dezember 1963 gab Bennholdt-Thomsen in einem Schreiben an den Schriftführer seiner Befürchtung Ausdruck, dass Freudenberg noch vor dem Vorstandswechsel am 31. Dezember auf sein Anschreiben antworten könnte. Ansonsten müsse, so Bennholdt-Thomsen, »dieser Kelch wieder an einen neuen Vorsitzenden weitergereicht werden«.429 An seinen Nachfolger Gerhard Weber von der Münchener Pädiatrischen Poliklinik schrieb er zum Jahresende die nur bedingt beruhigenden Worte: »Sie werden merken, daß außer der Angelegenheit Catel und dem Kongreß der Vorsitz in gar keiner Weise eine derartige Belastung bedeutet wie die Ihres Rektorats.«430

4.2.1.5.3. »… in ein schwebendes Verfahren nicht eingreifen …« – Ruhephase unter dem DGfK-Vorsitz von Gerhard Weber 1964 Das offensive Krisenmanagement des Vorsitzenden Bennholdt-Thomsen, das allerdings mit einem gescheiterten Vermittlungsversuch endete, wurde von seinem Nachfolger Gerhard Weber nicht fortgesetzt. Dies war weniger auf die 428 Robert Gaupp, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, in: Deutsche Strafrechtszeitung 7 (1920) 11/12, S. 332 – 337. Vgl. zu Robert Gaupp: Hans-Walther Schmuhl, Zwischen vorauseilendem Gehorsam und halbherziger Verweigerung. Werner Villinger und die nationalsozialistischen Medizinverbrechen, in: Nervenarzt 73 (2002), S. 1058 – 1063, hier: S. 1058 f. Gaupp gehörte seit 1910 dem Vorstand der Gesellschaft für Rassenhygiene an. 1945 wurde er mit 75 Jahren Dezernent für das Wohlfahrts- und Gesundheitswesen in Stuttgart. Vgl. Klee, Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 175. 429 Bennholdt-Thomsen an Wolff, 16. 12. 1963, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 83 DGfK 1963, Teil 1 c) Allg. Tagung Köln 1963. 430 Bennholdt-Thomsen an Weber, 31. 12. 1963, Archivkarton 83 DGfK 1963, Teil 1 c) Allg. Tagung Köln 1963.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

151

Persönlichkeit oder Einstellung Webers gegenüber Catel zurückzuführen; Weber gehörte zu Catels Kritikern (s. o.). Hintergrund war das beim Landgericht Hannover anhängige Ermittlungsverfahren gegen Werner Catel, Ernst Wentzler, Hans Heinze und Hanna Uflacker, das 1963 und 1964 intensiv mit zahlreichen Zeugenbefragungen betrieben wurde. Die weitere Entwicklung lässt den Schluss zu, dass in der Kölner Mitgliederversammlung entschieden worden war, im Sinne des rechtsstaatlichen Grundsatzes der Unschuldsvermutung Catel die Möglichkeit zu geben, die erhobenen Anschuldigungen mittels des juristischen Verfahrens zu entkräften und solange das Ausschlussverfahren auszusetzen. Durch den Vorstand der Gesellschaft wurden jedenfalls bis zum Jahresende 1964 keine wesentlichen Schritte unternommen. Eine interne Sprachregelung findet sich nun wiederholt in den Unterlagen. So antwortete Weber auf ein Anschreiben seines Kollegen Hermann Mai von der Universitätskinderklinik Münster, der schon bald den Vorsitz übernehmen sollte, mit den Worten: »Meine Einstellung zu Herrn C. dürfte Ihnen bekannt sein. Die Sache ruht vorläufig unter dem Stichwort ›in ein schwebendes Verfahren nicht eingreifen‹. Ich bin aber ganz Ihrer Meinung, daß damit nicht alles erledigt sein kann.«431

Catel unternahm einen erfolgreichen Versuch, seine Sicht in der Öffentlichkeit zu propagieren und dürfte erneut für Unruhe innerhalb der Fachgesellschaft gesorgt haben. In der Spiegel-Ausgabe Nr. 8 des Jahres 1964 erschien unter dem Titel »Aus Menschlichkeit töten« der Abdruck eines Gespräches, das der SpiegelRedakteur Hermann Ronner mit Catel in dessen Haus in Kiel geführt hatte. Waren die früheren Artikel des Spiegels durch eine kritische Position geprägt, so gelang es Catel bei dieser Gelegenheit, das Gespräch in seinem Sinne zu gestalten.432 Als Weber im August Rudolf Degkwitz für eine Veranstaltung der DGfK nach Deutschland einlud, lehnte dieser freundlich mit der Begründung ab, er wolle nicht schuldig sein, dass sich das Beispiel Heydes wiederhole. Damit spielte er auf den Suizid Werner Heydes im Februar 1964 an, der sich so dem bevorstehenden Prozess am Landgericht Limburg, vorbereitet durch die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft unter Leitung von Fritz Bauer, entzogen hatte. Degkwitz ging vorübergehend einer Auseinandersetzung mit Catel aus dem Weg. »Ich werde den Ausgang des Prozesses abwarten und dann die Rolle Catels 431 Weber an Mai, 3. 4. 1964, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 91 DGfK 1964, 1. Schriftwechsel zur Tagung in München 1964, Teil 5, Hefter : Satzung. 432 N.N., Aus Menschlichkeit töten? Spiegel-Gespräch mit Professor Dr. Werner Catel über Kinder-Euthanasie, in: Der Spiegel Nr. 8 (1964), S. 41 – 47.

152

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

[…] veröffentlichen […].«433 Degkwitz schloss den Brief an Weber mit der Bitte, ihn bis dahin nicht als Mitglied der Gesellschaft, aber als einen Freund zu betrachten. Weber wies den Schriftführer an, Degkwitz wegen einer ruhenden Mitgliedschaft bis zum Abschluss der Angelegenheit Catel aus dem Verzeichnis zu streichen, um ihn danach automatisch wieder aufnehmen zu lassen.434 Zum Abschluss seiner Amtsperiode informierte Weber den in den USA lebenden Kollegen Degkwitz über den Fortgang des Verfahrens im Fall Catel.435 Zeitgleich hatte sich Weber an die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg gewandt, um zu erfahren, ob noch mit einer Hauptverhandlung zu rechnen sei oder ob die Angelegenheit strafrechtlich als erledigt angesehen werden könne. Davon hänge der Ausgang der vor längerer Zeit zurückgestellten Verhandlungen über den Ausschluss Catels aus der Gesellschaft ab.436 4.2.1.5.4. DGfK-Vorsitz Hermann Mai 1965 Im Februar 1965 unterrichtete Werner Catel den Vorsitzenden des neuen Geschäftsjahres, Hermann Mai (1902 – 2001), über den Ausgang des Verfahrens und beendete damit die Ruhephase in der Auseinandersetzung: »Wie Ihnen wohl bekannt ist, wurde auf Grund eines diskriminierenden Aufsatzes von Prof. Degkwitz im ›Spiegel‹ (1960) ein Ermittlungsverfahren gegen mich eingeleitet. Ich erlaube mir, Ihnen davon Kenntnis zu geben, dass dasselbe zum Abschluss gekommen ist, mit dem (erwarteten) Ergebnis, dass ich ›ausser Verfolgung gesetzt wurde‹; dieses Urteil ist rechtskräftig. Nun ist endlich der Weg frei, zu den Unwahrheiten und grotesken Äusserungen über meine Person (besonders nach Erscheinen meines Buches über die ›Grenzsituationen des Lebens‹ 1962) Stellung zu nehmen, was zunächst in Form einer Monographie geschehen soll.«437

Catel arbeitete bereits an einem neuen Buch, seiner zweiten Rechtfertigungsschrift, die ein Jahr später mit einem Vorwort von Schlabrendorffs wiederum im 433 Abschrift des Schreibens Degkwitz an Weber, 29. 8. 1963 (korrekt: 1964), Archiv für Kinderund Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 74 DGfK 1964, Schriftwechsel 11.11.1964 – 12.4.1965 a) Allg. 434 Weber an Wolff, 12. 1. 1965, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 74 DGfK 1964, Schriftwechsel 11.11.1964 – 12.4.1965 a) Allg. 435 Weber an Degkwitz, 31. 12. 1964, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 74 DGfK 1964, Schriftwechsel 11.11.1964 – 12.4.1965 a) Allg. 436 Weber an die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg, 30. 12. 1964. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 74 DGfK 1964, Schriftwechsel 11.11.1964 – 12.4.1965 a) Allg. 437 Catel an Mai, 5. 2. 1965, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 74 DGfK 1964, Schriftwechsel 11.11.1964 – 12.4.1965 a) Allg.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

153

Verlag Glock & Lutz erscheinen sollte.438 Catels Benachrichtigung des Vorsitzenden enthielt die unausgesprochene Aufforderung zu einer öffentlichen Rehabilitation seiner Person und der Beendigung des Ausschlussverfahrens. Die Ankündigung seines Buches kam einer erneuten Kampfansage an seine Kritiker gleich. Mai unterrichte zunächst den Schriftführer Wolff und erbat die Akten zum Fall Catel, die ihn noch nicht erreicht hatten. Dabei verschwieg er nicht ein gewisses Unbehagen, sich nun selbst mit der Sache befassen zu müssen. Er kannte Catel persönlich, spätestens seit dessen Fachtagung in Kiel 1954, an der Mai als Referent teilgenommen hatte: »Daß ich höchst peinlich berührt bin, dieses Problem jetzt in Angriff nehmen zu müssen, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. Dennoch dürfen wir die Sache nicht schleppen lassen. Dazu ist das Temperament des Herrn C. Anlaß genug, selbst wenn seine eigene Bemerkung über seine weiteren Absichten nicht auch unter dem Brief stünde.«439

Das Unbehagen des neuen Vorsitzenden lässt sich vor dem Hintergrund seiner eigenen Biographie erahnen. Seine Vergangenheit dürfte ihn deutlich zur Zurückhaltung gegenüber Catel gezwungen haben, da er selber während des Nationalsozialismus unter anderem Mitglied der SA, der NSDAP, der SS und freiwilliger Berichterstatter des SD war.440 Mai hatte im Jahr 1942 mit Max de Crinis und dem Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung Verhandlungen geführt, um von Prag auf einen anderen Lehrstuhl berufen zu werden. Die Hintergründe dieser Entscheidung sind noch ungeklärt.441 Als ihm dies gewährt wurde und er den Ruf nach Münster erhielt, zögerte er auch dort zunächst, den Lehrstuhl anzutreten. Der Rektor der Münsteraner WilhelmsUniversität hatte den Eindruck, dass es sich bei Mai um eine sehr »selbstunsichere Persönlichkeit« handele, die sich der gestellten Aufgabe nicht gewachsen sehe.442 Hermann Mais Leben bietet mehrere Ansatzpunkte für zukünftige Forschungen, denn nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er Vertrauensperson und Freund von Albert Schweitzer, dessen Philosophie der »Ehrfurcht vor dem Leben« er 438 Catel, Leidminderung – richtig verstanden. 439 Mai an Wolff, 6. 3. 1965, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 74 DGfK 1964, Schriftwechsel 11.11.1964 – 12.4.1965 a) Allg. 440 Mitglied der SS seit Mai 1937 (Nr. 353219), seit 20. 4. 1940 SS-Untersturmführer, Mitglied der NSDAP seit 1. 5. 1937 (Nr. 4458713), der SA seit 30. 10. 1933, der HJ seit 1935, sowie Mitglied des NSD-Dozentenbund, der DAF, der NS-Volkswohlfahrt und des NSDÄB. BArch Berlin (BDC). Ob Mais Vergangenheit überhaupt jemandem in der DGfK bekannt war, ließ sich allerdings aus den vorhandenen Akten nicht klären. 441 Sˇimu˚nek gibt nur an, Mai sei aus »verschiedenen Gründen« mit seiner Stellung in Prag unzufrieden gewesen. Zum Weggang Mais und zum autoritären Auftreten BennholdtThomsens in Prag siehe: Sˇimu˚nek, Planung der nationalsozialistischen »Euthanasie« im Protektorat, S. 184 – 191. 442 Wie Anm. 440 und 441.

154

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

erklärtermaßen teilte.443 Seit den 1950er-Jahren war er in dem berühmt gewordenen, von Schweitzer errichteten Urwaldspital in Lambar¦n¦ (Gabun) als Arzt aktiv (nach eigenen Angaben bis 1976), setzte sich nach Schweitzers Tod im Jahr 1965 für den Erhalt des Spitals ein und übernahm die Nachlassverwaltung.444 Die DGfK rief anlässlich ihres 100-jährigen Bestehens (1983) die Hermann-Mai-Stiftung ins Leben.445 Mai übersandte 1965 das Catel-Schreiben an den Vorstand und erbat eine Rückmeldung zur weiteren Verfahrensweise mit der Bemerkung: »Das Verfahren schwebt nicht mehr«. Mithilfe eines Juristen bemühte er sich zu klären, was unter der Formulierung »außer Verfolgung gesetzt« zu verstehen war.446 Um eine Verschleppung zu vermeiden, berief er eine außerordentliche Vorstandssitzung ein, die begleitend zur kommenden Ordinariensitzung in Regensburg im Sommer 1965 stattfinden sollte. Der Vorschlag zu dieser Besprechung war durch den Schriftführer Wolff erfolgt, der dem Vorsitzenden auch anriet, BennholdtThomsen um Teilnahme zu bitten, »weil in seiner Amtszeit wesentliche Vorgänge zu diesem Fragenkomplex sich abgespielt haben. […] Die Angelegenheit selbst ist so delikat und wahrscheinlich auch so voller Explosivkraft, daß eine mündliche geheime Behandlung mir richtig zu sein scheint. Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde hat schon längere Zeit große Schwierigkeiten durch die Mitgliedschaft von Herrn Prof. Catel. Die Gesellschaft hatte sich jedoch nicht mit dieser Frage auseinander setzen [sic!] wollen, solange ein Ermittlungsverfahren gegen Herrn Prof. Catel schwebte.«447

443 Vgl. Hermann Mai, Gelebte Ethik in Lambarene, in: Helmuth Müller und Hermann Olbing (Hg.), Symposium Ethische Probleme in der Pädiatrie und ihren Grenzgebieten, 1981 Tegernsee, München 1982, S. 289 – 297; Albert Schweitzer, Die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben, Berlin 61969. 444 Vgl. Hermann Olbing, Festakt zum hundertsten Jahrestag der Gründung der Gesellschaft für Kinderheilkunde, 12. September 1983, Eröffnungsansprache mit Totenehrung, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 132 (1984), S. 316 – 317. 445 Zweck der Stiftung ist: 1. die Vorbereitung von Ärzten, vor allem aus der Bundesrepublik Deutschland, auf Tätigkeiten zur Förderung der Gesundheit von Kindern in der Dritten Welt; 2. die Unterstützung von Projekten, die der unmittelbaren Prophylaxe und Therapie häufiger Gesundheitsstörungen in armen Ländern und der Ausbildung einheimischer Ärzte und Gesundheitsarbeiter dienen. Satzung der H-M-Stiftung (http://www.dgkj.de/wissenschaft/preis e_stipendien/dgkj_preise/satzung_hermann_mai_stiftung/ 30. 12. 2012). Siehe auch die Satzung 1983, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der HumboldtUniversität Berlin, Ordner 1 DGfK Hermann-Mai-Stiftung 1988 – 1993. 446 Mai an die Mitglieder des Vorstandes, 5. 3. 1965, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 74 DGfK 1964, Schriftwechsel 11.11.1964 – 12.4.1965 a) Allg. 447 Wolff an Mai, 9. 3. 1965, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 74 DGfK 1964, Schriftwechsel 11.11.1964 – 12.4.1965 a) Allg.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

155

Nach einer ersten telefonischen Bitte wandte sich Mai nun brieflich an Bennholdt-Thomsen. Die beiden kannten sich bereits seit der Zeit des Krieges, als Bennholdt-Thomsen 1943 die Leitung der Prager Klinik von Mai im Zuge dessen Weggangs nach Münster übernommen hatte. Bennholdt-Thomsen, der seinen Amtsnachfolger 1965 zunächst in der Sache Catel beraten hatte, lehnte mit dem Argument ab, dass nicht jeder Vorsitzende in unangenehmen Fragen auf seinen Vorgänger zurückgreifen könne. Mai entgegnete: »In der Angelegenheit Catel war aber außer Bamberger wahrscheinlich niemand so intensiv tätig und ist daher niemand so erfahren als Sie. […] Ich würde es als sehr schmerzlichen Vorwurf empfinden, wenn Sie glauben würden, ich wolle mir damit die Sache leicht machen. Ich gehe diesen Dingen absolut nicht aus dem Wege, halte es aber für meine Pflicht, mich genauestens nach den Vorgängen zu erkundigen. Gerade weil diese zum Teil mündlich geführt wurden, halte ich Ihren mündlich gegebenen Rat für unerlässlich.«448

Im Weiteren erkundigte er sich bei Bennholdt-Thomsen, ob man nicht einen von allen Seiten akzeptierten Unterhändler in die Schweiz entsenden könne, der herausfinden solle, ob der Ausschlussantrag noch aufrechterhalten würde. Auch war Mai unbekannt, ob Degkwitz jemals einen entsprechenden Antrag gestellt hatte. Mit Blick auf die kommende Mitgliederversammlung auf der Nordseeinsel Norderney entwarf Mai mit gewisser Ironie ein für die DGfK düsteres Szenario: »Ich male mir schon aus, daß die beiden Mitglieder unserer Gesellschaft Degkwitz und Catel gleichzeitig in Norderney erscheinen und dann auf ihre Weise die Sache austragen. Sämtliche Illustrierten könnten dann je eine Sondernummer erscheinen lassen.«449

Doch noch vor dem Treffen auf Norderney befasste sich die von Mai geplante außerordentliche Vorstandssitzung in Regensburg mit dem Ausschlussantrag aus der Schweiz. An der Sitzung nahmen Hermann Mai als Vorsitzender, Gerhard Weber als stellvertretender Vorsitzender, Paul Frick als Vertreter der Abteilung für Berufsfragen sowie der Schriftführer Wolff teil. Als zukünftiger Vorsitzender war Adalbert Loeschke (1903 – 1970), Leiter der Kinderklinik der Freien Universität Berlin, im Vorstand vertreten. Hans Asperger aus Wien, der bereits früher dem Gesamtvorstand angehört hatte, war nun in den Vorstand eingetreten und für den Vorsitz nach Loeschke im Jahr 1967 avisiert. Als externer Gast nahm zu einem späteren Zeitpunkt doch Bennholdt-Thomsen teil. Wie sich Loeschke in dieser Sitzung positionierte, bleibt unklar, jedoch muss er eher zu den Unterstützern Catels gezählt werden. Loeschke hatte bereits 1959 die Ge448 Mai an Bennholdt-Thomsen, 12. 3. 1965, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 74 DGfK 1964, Schriftwechsel 11.11.1964 – 12.4.1965 a) Allg. 449 Ebd.

156

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

legenheit ergriffen, Catel neben Glückwünschen zum 65. Geburtstag einige persönliche Bemerkungen mitzuteilen, die er nicht gern in Gegenwart Dritter ausdrücken wollte. Sie dokumentieren auch, dass offenbar die Diskussion um Catels Positionen bereits in den 50er-Jahren, allerdings in weniger impulsiver Form angelaufen war : »Ich habe immer, sicher wie viele andere, Ihre Klugheit, Ihre Arbeitskraft und Ihre Fähigkeit zur zusammenfassenden Formulierung schwieriger Probleme bewundert. Manchen ist Ihre kritische Haltung zu angeschnittenen Fragen der Medizin unangenehm. Ich finde das nicht richtig. Es wird heutzutage viel zu viel bejaht, zu viel Beifall gespendet und zu viel mit Stillschweigen hingenommen. Man hat Angst, sich Feinde zu verschaffen – das für mich trübste Zeichen geistiger Nivellierung in der Gegenwart. […] Daß Sie hierin anders waren, hat mir, als dem 10 Jahre jüngeren, immer besonders gut an Ihnen gefallen.«450

Im Jahr 1966 sandte Catel ihm sein frisch erschienenes Buch »Leidminderung – richtig verstanden« zu, wofür sich Loeschke »ergebenst« bedankte.451 Die Regensburger Sitzung beschäftigte sich mit dem Antrag sowie mit dem Umgang mit dem Verfahrensabschluss in Hannover. Hottinger und Freudenberg hatten ihr Anliegen nicht zurückgenommen. Wie das Sitzungsprotokoll ausweist, war die schon von Bennholdt-Thomsen geplante Aussprache zwischen Catel und den Schweizer Kollegen weiter vertagt worden, solange das Ermittlungsverfahren gegen Catel noch lief. Der Vorsitzende hatte beim Staatsanwalt in Celle die richterliche Begründung erbeten, auf deren Grundlage es zum Verfahrensabschluss gekommen war. Die Staatsanwaltschaft teilte Mai mit, dass die Übermittlung der Begründung von der Genehmigung Werner Catels und seines Verteidigers abhängen würde. Da nun erst eine Reaktion von Catel und seinem Anwalt abgewartet werden musste, wurde die Angelegenheit auf das anstehende Ordinarientreffen vertagt, in dem ausführlich über die beiden Punkte diskutiert werden sollte. Bis dahin wurden die Schweizer Kollegen über den Stand der Entwicklung informiert.452 Mai wandte sich unmittelbar nach der Regensburger Sitzung an Catel und v. Schlabrendorff und erbat die Genehmigung zur Übermittlung der richterlichen Begründung. Erst auf ein zweites Anschreiben reagierte Catel mit einer harschen Beschwerde darüber, 450 Loeschke an Catel, 25. 6. 1959, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Korrespondenz Loeschke, C-E. 451 Dankesschreiben Loeschke an Catel, 10. 11. 1966, mit dem Loeschke ankündigte, die Schrift eingehend zu studieren. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Korrespondenz Loeschke, C-E. 452 Protokoll der Außerordentlichen Vorstandssitzung, Regensburg, 12. 6. 1965, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 75 DGfK 1965, Schriftwechsel 13.4.1965 – 31.7.1965 a) Allg.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

157

»dass keiner [sic!] im Vorstand der Dt. Ges. f. Kinderheilkunde tätigen Mitglieder jemals das Bedürfnis hatte, in einem persönlichen Gespräch mit mir die Situation zu klären […]. Da auch der gegenwärtige Vorstand statt eines Gespräches mit mir einen mir unfasslichen, nicht mehr im Bereich der Kollegialität liegenden Weg einschlägt, zu dem ich niemals mein Einverständnis geben werde, sah ich mich gezwungen, meinen Anwalt […] von der Angelegenheit zu unterrichten und die Regelung derselben in die Hand zu nehmen.«453

Auffällig ist, dass Catel den hier vorgeschobenen Vorwurf des Vertrauensbruchs verallgemeinernd auf alle Vorstände übertrug und z. B. das Treffen mit Bennholdt-Thomsen unterschlug, der ihn sogar in Kiel persönlich aufgesucht hatte. Das angedrohte Eingreifen v. Schlabrendorffs fiel wesentlich moderater aus, als Mai befürchten konnte. Der Anwalt teilte dem Vorsitzenden der Gesellschaft freundlich mit, dass aus Gründen der Diskretion eine Abschrift der richterlichen Begründung nicht übergeben werden könne, da darin die Namen anderer Ärzte genannt seien. Von Schlabrendorff erklärte sich jedoch bereit, in einem persönlichen Gespräch eine Erklärung abzugeben. Mai erbat daraufhin eine präparierte Version der Begründung, in der die Persönlichkeitsrechte Dritter durch Weglassungen geschützt seien, unter derselben Voraussetzung einer Zustimmung durch Catel. Das geplante Treffen mit v. Schlabrendorff in Frankfurt konnte wegen dessen langfristiger Erkrankung nicht stattfinden, sodass Mai gegenüber dem Schriftführer feststellen musste: »Damit ist diese Sache wieder in ein Stadium gewisser Stagnation geraten.«454 Mit Blick auf die Unterlagen des Ermittlungsverfahrens erscheint das Personenschutzargument insbesondere aus Catels Perspektive plausibel. Darin erschienen die Namen zahlreicher pädiatrischer Kollegen, deren Beteiligung oder Mitwisserschaft an der Kindereuthanasie im Ermittlungsverfahren bekannt und von denen einige angehört worden waren. Die Gesellschaft für Kinderheilkunde wäre durch Einsichtnahme dieser Unterlagen schlagartig zu einem anderen Wissensstand über die Beteiligung von Kinderärzten am Krankenmord gelangt. Das Hauptmotiv für die Verweigerung einer Einsichtnahme war jedoch ein anderes. Die gewünschten Unterlagen dokumentierten die umfassenden juristischen Kenntnisse über das Ausmaß der Mordaktion, Catels zentrale Verantwortung im Reichsausschuss sowie die Kindestötungen in seiner Leipziger Kinderklinik, die bis dahin in der Presse noch nicht thematisiert worden waren. Bei Bekanntwerden dieser Details wären alle Anschuldigungen aus den Reihen 453 Zitat Catel im Brief Mai an Wolff, 15. 8. 1965, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 76 DGfK 1965, Schriftwechsel 1.8.1965 – 31.12.1965 a) Allg. 454 Mai an Wolff, 15. 8. 1965, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Archivkarton 76 DGfK 1965, Schriftwechsel 1.8.1965 – 31.12.1965 a) Allg.

158

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

der Kinderärzte noch bei Weitem übertroffen worden, woran Catel kein Interesse haben konnte. Das Protokoll der Mitgliederversammlung 1965 auf Norderney ist nur als Rudiment erhalten, sodass die dortigen Vorgänge nicht rekonstruiert werden können. Sicher ist aber, dass während der Amtszeit des Berliner Pädiaters und Vorsitzenden des Jahres 1966 Adalbert Loeschke das Ausschlussverfahren nicht vorangetrieben wurde. Nachdem die vorhergehenden Vorstände entschieden hatten, den Ausschluss vom Ausgang und von der Begründung des erwarteten Gerichtsverfahren abhängig zu machen, fehlte angesichts der ausbleibenden Strafverfolgung Catels das nötige Argument, zumal die Begründung des Gerichts nicht zugänglich war. Das Ausschlussverfahren verzögerte sich so bis in das Jahr 1967, in dem nun Hans Asperger den Vorsitz übernahm, der sich 1961 mit Bamberger wegen der offiziellen Erklärung in den Ärztlichen Mitteilungen beraten hatte. Ernst Freudenberg verstarb am 7. Juni 1967.455 4.2.1.6. Werner Catels Austritt aus der DGfK 1967 Nachdem sich die Auseinandersetzung das siebente Jahr in Folge fortgesetzt hatte und sich sieben Vorstände bzw. Vorsitzende eine Lösung in die eine oder andere Richtung erhofft hatten, kam die Wende. Catel erklärte am 4. Juli 1967 seinen Austritt aus Protest darüber, dass durch den Vorstand der DGfK seit 1965, d. h. auch während der Amtsperioden der Vorsitzenden Adalbert Loeschke (1966) und Hans Asperger (1967), keine Rehabilitierung seiner Person erfolgt war. Die Hintergründe der Austrittsentscheidung zu eben diesem Zeitpunkt gehen aus dem Schreiben nicht hervor. Möglicherweise spielte die Berufung seines Anwalts v. Schlabrendorff an das Bundesverfassungsgericht im selben Jahr eine Rolle, der damit für eine mögliche juristische Auseinandersetzung seines Mandanten mit der DGfK kaum noch Kapazitäten gehabt haben dürfte. Catel erklärte: »Herr Prof. Degkwitz hat mich etwa 2 Jahrzehnte lang verfolgt und schliesslich erreicht, dass ein Ermittlungsverfahren gegen mich eingeleitet wurde. Laut Artikel 6 der Menschenrechtskonvention […] wird die Unschuld von jedermann vermutet, es sei denn, dass der Vorwurf durch ein rechtskräftiges Urteil erwiesen ist. Trotzdem gaben noch vor dem Abschluss des Verfahrens nicht nur Journalisten (was in diesem Zusammenhang irrelevant ist), sondern auch verschiedene Pädiater öffentlich in Rede und Schrift antizipierende, mich teilweise schwer diffamierende Stellungnahmen ab. Ich begnüge mich damit, Herrn Prof. Degkwitz und Prof. Hellbrügge namentlich anzuführen. 455 N.N., Todesmeldung Ernst Freudenberg, Rubrik: Tagesgeschichte, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 115 (1967) 8, S. 456. Freudenbergs zwangsweise Emigration 1937 nach Basel wurde als »unersetzlicher Verlust für die deutsche Pädiatrie« bezeichnet.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

159

Inzwischen ist das Verfahren gegen mich durch rechtskräftigen Gerichtsbeschluss eingestellt worden. […] Dies ist zur Kenntnis genommen worden, ohne dass es die Dt. Ged. [sic!] f. Kinderheilk. für richtig gehalten hätte, mich durch einen Beschluss öffentlich zu rehabilitieren.«456

Catel täuschte hier mit dem »rechtskräftigen Gerichtsbeschluss« darüber hinweg, dass es nicht einmal zur Eröffnung eines Hauptverfahrens vor dem Landgericht Hannover gekommen war. Die Staatsanwaltschaft glaubte nach Abschluss der Voruntersuchungen Catel nicht widerlegen zu können, dass er aufgrund seines ärztlichen Gewissens nur das Beste für die getöteten Kinder getan habe. Damit fehlte die für die »Heimtücke« nachzuweisende »feindselige Willensrichtung«, weshalb die Kindestötungen an der Leipziger Kinderklinik, deren Vollzug als Tatsache eindeutig festgestellt und die anfangs als Mord bzw. Beihilfe zum Mord gewertet wurden, aber nur als Totschlag eingestuft wurden. Dieser Straftatbestand war wiederum nach anzuwendendem Recht nach 15 Jahren, d. h. am 8. Mai 1960 verjährt. Dies hatte umso mehr Gültigkeit, da die Voruntersuchung (mit Erlass des Haftbefehls) erst am 5. April 1962 eröffnet worden war. Auch Hanna Uflacker wollte man keine feindselige Willensrichtung unterstellen, da sie die Tötung missgestalteter Kinder als deren Erlösung angesehen habe. Die Strafkammer am Landgericht Hannover schloss sich der staatsanwaltlichen Einschätzung an und setzte rechtskräftig fest: »Die Angeschuldigten Dr. Catel, Dr. Wentzler und Der [sic!] Uflacker waren daher ausser Verfolgung zu setzen.«457 Über die Reaktionen aus dem Vorstand oder der Gesellschaft auf den freiwilligen Austritt Werner Catels kann hier aufgrund der Überlieferungslücken nicht berichtet werden. Die einzige auffindbare Spur in den Vorstandsakten stellt die eine Seite umfassende Protokollübersicht zur Vorstandsitzung vom 8. Oktober 1967 dar. Unter Tagesordnungspunkt 4. findet sich das Stichwort »Austritt Catel«, das auf eine diesbezügliche Diskussion schließen lässt.458 Anders als den Fall Catel, der somit zu den Akten gelegt werden konnte, scheint es eine Causa Wentzler nie gegeben zu haben. Ernst Wentzler gehörte der DGfK seit 1933 und auch bei deren Neugründung im Jahr 1948 weiter an.459 Es 456 Catel an den Vorsitzenden Asperger, 4. 7. 1967, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel. 457 Hannover, den 30. Dezember 1964, Landgericht, 1. Strafkammer, Landgerichtsdirektor Riemann, Landgerichtsrat Meyer, Landgerichtsrat Heuer. Hauptstaatsarchiv Hannover, Nds 721 Hannover Acc. 90/99 Nr. 33/11 StA beim LG Hannover, Band XI, Strafsache gegen Prof. Dr. Heinze u. and. wegen Mordes. Ermittlungsverfahren gegen den Leiter der Jugendpsychiatrischen Klinik beim Landeskrankenhaus Wunstorf, Prof. Dr. med. Hans Heinze, geb. 1895 u. a. Band 11, 1964 – 169, Bl. 178. 458 Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Karton 78, DGK 1966 – 67, Schriftwechsel 1.1.67 – 31.12.67, A-F. 459 Vgl. Seidler, Kinderärzte 1933 – 1945, S. 486.

160

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

ließen sich in den Unterlagen der Fachgesellschaft keine Hinweise darauf finden, dass sich der Streit um Catel, Bayer und Uflacker auch auf ihn ausweitete.460 Ein Ausschlussantrag gegen ihn hätte nahegelegen, war er doch in denselben Ermittlungsverfahren in Hamburg und Hannover einbezogen wie Catel und Bayer (Uflacker). Es bedarf weiterer Untersuchung, wie Wentzler als einer der Hauptverantwortlichen des Reichsausschussverfahrens der Aufmerksamkeit innerhalb der Fachgesellschaft so erfolgreich entgehen konnte. Er unterschied sich in seiner Persönlichkeit deutlich von Catel. Seine zurückgezogene Lebensart in Hannoversch Münden könnte erklären, warum er nicht direkt in die Schusslinien der Auseinandersetzung um Catel geriet. Kollegiale Unterstützung spielte ebenfalls eine Rolle.461 Gerhard Joppich, DGfK-Vorsitzender des Jahres 1959, verfasste 1972 zu Ehren Wentzlers eine Laudatio anlässlich dessen 80. Geburtstags. Über den Lebensabschnitt vor 1945, in dem Wentzler unter anderem die Kinder hoch dekorierter Nationalsozialisten in seiner privaten Kinderklinik Berlin-Frohnau behandelt hatte,462 schrieb Joppich: »Eine große kinderärztliche Praxis war Ausdruck des Ansehens, das er in der Zeit seiner Berliner Tätigkeit in der Bevölkerung besaß. Trotz der damit verbundenen Arbeit fand er die Kraft, sich wissenschaftlichen und sozialpädiatrischen Problemen zu widmen.«463

Wentzlers Beteiligung am Reichsausschuss als zweiter pädiatrischer Gutachter neben Catel blieb in der Laudatio freilich unerwähnt. Im selben Jahr erschien der Abdruck einer von Wentzler entwickelten Säuglingstabelle (zum Vermerk und zur Einschätzung von Größe, Gewicht sowie den Impfungen im ersten Lebensjahr des Kindes) in der Zeitschrift Der Kinderarzt. Es war Theodor Hellbrügge, der die einleitenden Bemerkungen zur Säuglingstabelle formulierte.464 Als Wentzler im Jahr 1973 starb, verfasste wiederum Hellbrügge für dieselbe 460 Wentzler war aber bereits in jenem Spiegel-Artikel genannt worden, mit dem der öffentliche Skandal 1960 ausgelöst worden war. Vgl. N.N., Rubrik Affären Euthanasie, »Eingeschläfert«, S. 33 in der Fußnote, in der alle Namen der im Hamburger Verfahren vor der Strafkammer des Landegerichts I (1949) angeschuldigten Ärztinnen und Ärzte noch einmal genannt wurden. 461 Im Jahr 1949, so ein Aktenvermerk, war Wentzler gemeinsam mit den Kollegen Hans Kleinschmidt (Göttingen), Otto Ullrich (Bonn) und Paul Dannenbaum (Braunschweig) an der Bildung einer Kommission der DGfK für Krankenhausbau beteiligt. Archiv für Kinderund Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Karton 101, DGK 1953 – 1967. 462 Vgl. Beddies, Der Kinderarzt und »Euthanasie«-Gutachter Ernst Wentzler ; Beddies / Schmiedebach, Der Pädiater Dr. Ernst Wentzler. 463 Gerhard Joppich, Zum 80. Geburtstag von Dr. Wentzler, in: Der Kinderarzt. Mitteilungen des Berufsverbandes der Kinderärzte Deutschlands e.V., 20 (1972) 8, S. 342. 464 Ernst Wentzler, Die Säuglingstabelle, Hinweise für die Kollegen, in: Der Kinderarzt 20 (1972) 7, S. 294 – 295.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

161

Zeitschrift eine Todesmitteilung, in der er auf die Laudatio von Joppich verwies. Auch Hellbrügge ging nicht auf den Reichsausschuss ein, obwohl er selbst in seinem Artikel von 1963 dem Kindertötungsprogramm einen eigenständigen Abschnitt gewidmet hatte. Wentzler wurde nun als vorbildlicher Kinderarzt dargestellt: »Kollege Wentzler hat bis in sein hohes Alter aktiv an den Ereignissen der Kinderheilkunde teilgenommen und dabei mit großem Engagement die Interessen der praktischen Pädiatrie vertreten. […] Auch an den Geschicken des Berufsverbandes hat Kollege Wentzler bis zu seinem Tod stets mit großem Interesse teilgenommen. Der Tod hat ihn mitten aus einem erfüllten Leben, das bis zuletzt dem Wohle des Kindes galt, herausgerissen. Auch in diesem Sinne war er das Vorbild eines Kinderarztes.«465

Werner Catel wurde 1968 weiter als Mitherausgeber der Monatsschrift für Kinderheilkunde aufgeführt, unter anderem neben Fanconi, Köttgen, BennholdtThomsen, Loeschke und Dost. Dass Dost den Austritt Catels als Konsequenz einer ungerechten Behandlung Catels durch die Fachgesellschaft auffasste, dokumentiert eine andere Quelle. Dost erhielt 1977 von Catels Kieler Nachfolger als Klinikleiter, dem neuen Präsidenten der DGfK466 Prof. Hans-Rudolf Wiedemann eine Einladung zu einem geplanten Kongress in Kiel. Dost lehnte seine Teilnahme kategorisch ab und erinnerte an die Ereignisse der 1960er-Jahre: »Diese Stadt ist zugleich auch Wohnsitz meines vormaligen Lehrers, des Herrn Prof. Dr. Dr. W. Catel, den ich sehr verehre und mit dem ich im Sinne einer echten Freundschaft verbunden bin. […] Sie werden sich wohl erinnern, daß mein Lehrer unter dem Vorsitz eines früheren Vorstandes aus unserer Gesellschaft ›herauskomplimentiert‹ worden ist.«467

Dost legte höchsten Wert darauf, seine Loyalität zu Catel erneut unter Beweis zu stellen. Aber auch die Thematik der »begrenzten Euthanasie« ließ ihn selbst nicht mehr los. In einem Brief an Catel kurz vor dessen Tod erklärte Dost: »Werner : erschrick bitte nicht, aber ich befasse mich z. Zt. intensiv mit dem Komplex ›Euthanasie‹, und natürlich in Deinem Sinne. Fragt sich nur, wer ein solches Manuskript annimmt.«468 Eine selbstkritische Auseinandersetzung der Fachgesellschaft mit ihrer NS465 Theodor Hellbrügge, In memoriam Dr. med. Ernst Wentzler, in: Der Kinderarzt 20 (1973) 10, S. 701. 466 Eine Satzungsänderung im Jahr 1974 sah zukünftig eine Teilung des Vorsitzes in einen Präsidenten der DGfK und einen Tagungsvorsitzenden vor. Vgl. Windorfer / Schlenk, Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde, S. 65. 467 Dost an Wiedemann, 21. 6. 1977, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel. 468 Dost an Catel, 14. 1. 1981. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel.

162

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Vergangenheit ist für 1970er-Jahre nicht nachweisbar. Dieser Befund bestätigt sich auch durch den 1978 herausgegebenen Band zur Geschichte der Fachgesellschaft, der einzig auf die Erfolge und Tradition der deutschen Pädiatrie abhob.469 Der DGfK-Präsident Adolf Windorfer klammerte anlässlich der 75. Jubiläumstagung in Freiburg (1978) die Zeit des Nationalsozialismus fast vollständig aus. Er beklagte lediglich die »ungezählten Menschenverluste aus den Reihen der Mitglieder und des Nachwuchses an Kinderärzten«; eine vage Andeutung der massenhaften Verfolgung und Ermordung jüdischer Kinderärzte ab 1933.470 Festzuhalten bleibt dagegen, dass Catel nach 1945 trotz seiner Kieler Professur 1954 – 1960 nie zum Mitglied des Gesamtvorstands benannt wurde, worüber er sich 1959 ohne Erfolg beschwert und bei der Gelegenheit angekündigt hatte, an den Veranstaltungen der DGfK nicht mehr teilnehmen zu wollen.471 Anders als seine Kollegen Degkwitz und Freudenberg (Heubner-Preis, vor dem II. Weltkrieg), Fanconi (Heubner-Preis, 1976) und Hellbrügge (MoroPreis, 1959) erhielt er trotz seiner wissenschaftlichen Leistungen472 nie eine Auszeichnung der Fachgesellschaft.473 Die DGfK musste sich durch Catels Austritts nicht mehr mit der Frage einer möglichen Ehrenmitgliedschaft befassen, die üblicherweise für angesehene, um die Kinderheilkunde verdiente Kollegen jenseits des 70. Lebensjahres ausgesprochen wurde. Dagegen wurden Freudenberg 1954, Hottinger 1966, Weber (und Wiskott) 1969, Mai 1970, (Wolff 1972,) Bamberger, Asperger 1974 und Köttgen 1976 mit der Ehrenmitgliedschaft bedacht.474

469 Windorfer / Schlenk, Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde. Windorfer trat seit Längerem für die Traditionspflege in der Kinderheilkunde ein. Sie war auch Thema seines Eröffnungsvortrages zur Jahrestagung 1973 in Nürnberg, deren Vorsitz er hatte. Ebd., S. 62. 470 Adolf Windorfer, Zur Geschichte der »Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde«, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 126 (1978), S. 461 – 462. 471 Tatsächlich hielt Catel während seines sechsjährigen Kieler Ordinariats im Rahmen der Jahrestagungen nur einen einzigen wissenschaftlichen Vortrag, nämlich 1957 zur Nephrologie. Vgl. Windorfer / Schlenk, Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde, S. 139. 472 Hier u. a. die beiden Bücher Werner Catel (Hg.), Differentialdiagnose von Krankheitssymptomen von Kindern und Jugendlichen, Stuttgart 31961, und das mehrmals aufgelegte Schwesternlehrbuch: Werner Catel (Hg.), Die Pflege des gesunden und des kranken Kindes. Zugleich ein Lehrbuch der Ausbildung zur Säuglingspflegerin und Kinderkrankenschwester, Leipzig 21942. So hielt beispielsweise der renommierte Schweizer Kinderarzt Guido Fanconi Catels Buch zur Differentialdiagnose für ein »außerordentliches Werk«, das er immer wieder zurate ziehe. Die Aussage stammt aus Fanconis Buchbesprechung von Catels »Grenzsituationen des Lebens«, s. o. 473 Vgl. Historische Kommission der DGfKJ (Hg.), 125 Jahre Deutsche Gesellschaft für Kinderund Jugendmedizin e.V. 1883 – 2008. Jubiläumspublikation der DGfKJ, Berlin 2008. 474 Vgl. ebd., S. 156 ff. sowie: Windorfer / Schlenk, Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde, S. 186 ff.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

163

War noch 1964 in der Monatsschrift für Kinderheilkunde eine anerkennende Notiz zu Catels Leistungen anlässlich seines anstehenden 70. Geburtstages erfolgt (keine Laudatio!),475 so findet sich darin keine weitere Erwähnung seiner Person, auch nicht nach seinem Tod am 30. April 1981. Da Catel der Fachgesellschaft seit 14 Jahren nicht mehr angehört hatte, wurde er auch nicht in die Totenehrung einbezogen.476

4.2.2. DGfK-Tagung zur Medizinethik in der Pädiatrie 1981: Einbruch der Vergangenheit durch die Hintertür? Im Todesjahr Catels fand mit Unterstützung der Stiftung Volkswagenwerk in Tegernsee eine dreitägige Tagung zu Fragen der Ethik in der Kinderheilkunde statt, an der sich Kinderärzte, Humangenetiker, Geburtshelfer, Chirurgen, Jugendpsychiater, Psychotherapeuten, Arbeitsphysiologen, Juristen, Theologen und auch zwei Medizinhistoriker (Prof. Hans Schadewaldt und Prof. Eduard Seidler) beteiligten. Nach Auffassung des Präsidiums bedurfte »der akkumulierte Konfliktstoff jetzt unbedingt einer öffentlichen Diskussion«. Daher waren gezielt Journalisten eingeladen worden. Der Anspruch war, die erste größere Stellungnahme der deutschen Pädiatrie zu Fragen der Ethik seit dem Ende des Krieges vorlegen zu wollen.477 Die Beiträge des interdisziplinären Symposiums wurden 1982 im Verlag Urban & Schwarzenberg veröffentlicht. Entsprechend der Tagung wurde auch der Band »Ethische Probleme in der Pädiatrie und ihren Grenzgebieten«, herausgegeben von Prof. Helmuth Müller (München) und Prof. Hermann Olbing (Direktor der Abteilung Kindernephrologie der Universitätskinderklinik Essen), als erste umfassende Darstellung aus der Pädiatrie zu den Themenkomplexen – Grundlagen ärztlicher Ethik, – Schwangerschaftsabbruch im In- und Ausland, – Probleme bei der Behandlung von Kindern, – Grenzen der Therapie von Kindern, – Humangenetische Forschung, 475 Rubrik Tagesgeschichte, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 112 (1964), S. 330. 476 Das ritualisierte In Memoriam, die Namensnennung der in den zurückliegenden Jahren verstorbenen Kollegen, führte für 1979 bis 1981 Hans Asperger, Guido Fanconi und Ulrich Köttgen auf. Vgl. Hermann Olbing, Eröffnungsansprachezur 77. Tagung der DGfK, Düsseldorf 1981, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 130 (1982), S. 325 – 329. 477 Protokollmitschrift der Mitgliederversammlung der DGfK, 77. Jahrestagung, 22. 9. 1981, S. 2 f.; Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Ordner 1 DGfK Vorstand, Protokolle, Eröffnungsansprache, Jahresbericht 1980 – 1983 1a.

164

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

– Organtransplantationen sowie – Ethik und Humanität (einschließlich: Sterbehilfe-Problematik) verstanden. »Der Leser findet in diesem Buch weniger Handlungsanweisungen, als Stoff für eine nachdenkliche, kritische Medizin«, heißt es im Klappentext.478 Hermann Olbing, der mit seinem Kollegen Helmuth Müller die Idee zu dem Symposium entwickelt hatte, eröffnete die Veranstaltung mit einer ungewöhnlichen Bemerkung: »Medizinische Ethik war nach dem 2. Weltkrieg in unserem Land lange kein Thema für öffentliche Diskussionen. Über die Gründe brauche ich hier nichts zu sagen. Aber die Folgen haben mit unserem Symposium zu tun. Während die neuen ethischen Fragen, die sich aus der gewaltigen Zunahme medizinischer Möglichkeiten und aus den tiefgreifenden Änderungen im Umfeld des Arztes und seiner immer zahlreicher und unentbehrlicher werdenden Mitarbeiter ergaben, im Ausland kontinuierlich aufgearbeitet wurden, staute sich bei uns der Problemstoff. […] Merkwürdigerweise blieb die Pädiatrie bis jetzt im deutschsprachigen Raum ethischen Problemen gegenüber wortkarg, weitgehend sogar stumm.«479

Olbing stellte demnach insbesondere im Vergleich zum Ausland einen erheblichen Rückstand der deutschen Pädiatrie in Bezug auf ethische Fragen fest, was ihm angesichts der neuen medizinischen Herausforderungen aber auch der gesellschaftlichen Veränderungen (z. B. Debatte um § 218) nicht mehr vertretbar schien. Mit seinem Verweis auf den Zweiten Weltkrieg präsentierte er implizit die These einer inneren Verbindung zwischen dem beobachtbaren EthikRückstand einerseits und den subtilen Auswirkungen der NS-Medizinverbrechen in der Nachkriegszeit andererseits. Stand hier die Erinnerung an die NSKindereuthanasie unaussprechlich im Hintergrund? Und kündigte sich hier zaghaft ein Aufbrechen des Tabus seit dem Ende des Catel-Streits an? Zunächst kann die Behauptung Olbings, die Kinderheilkunde habe nicht zu ethischen Fragen Stellung bezogen, relativiert werden. Es ließen sich wenigstens zwei Belege für derartige Thematisierungen auffinden. Sie sollen mit einem kurzen Rückblick in die 1960er-Jahre vorgestellt werden,480 um anhand dessen die Auswirkung des Catel-Streits auf die Medizinethik in der Pädiatrie zu dokumentieren. Beispiel 1) Im Rahmen der Jahrestagung der DGfK 1965 auf Norderney (Tagungsvorsitz Hermann Mai), die erstmals gemeinsam mit der Deutschen Ge478 Vgl. Müller / Olbing (Hg.), Symposium Ethische Probleme in der Pädiatrie und ihren Grenzgebieten. 479 Hermann Olbing, Einleitung, in: ebd., S. 1 – 3, hier : S. 1. 480 Zudem wurden im Rahmen der Jahrestagung von 1974 in Hamburg (Vorsitz Prof. Schäfer) Vorträge zum »Hauptthema 1: Pränatale Diagnostik und Therapie« gehalten. Vgl. Windorfer / Schlenk, Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde, S. 170.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

165

sellschaft für Kinderchirurgie ausgerichtet wurde, behandelte das 1. Hauptreferat Prof. Karl Engisch vom Münchener Institut für Rechtsphilosophie explizit medizinrechtliche Aspekte. Engisch benannte die Bereiche der freiwilligen Unfruchtbarmachung, der Schwangerschaftsunterbrechung und der Euthanasie. Zum letzten Aspekt, bei dem der Arzt in »Heilabsicht« einem Patienten gegenübertrete, warf er die Frage auf, ob es eine Euthanasie bei missgebildeten Kindern überhaupt gebe. Über die Tötung solcher Kinder, der »sogenannten ›Euthanasie‹«, wolle er keine Ausführungen machen – was er anschließend aber doch tat: »Wenngleich durch das Buch WERNER CATEL, ›Grenzsituationen des Lebens‹, eine gewisse sog. ›begrenzte Euthanasie‹ gerade auch mit Bezug auf ›Monstren‹ zur Diskussion gestellt worden ist, ist doch die Resonanz auf dieses Buch so eindeutig ablehnend gewesen, daß es sich kaum noch lohnt, die Argumente pro und contra aufs neue durchzugehen. Praktisch dürfte heute nahezu Einigkeit darüber bestehen, daß das, was als ›Vernichtung lebensunwerten Lebens‹ im Dritten Reich praktiziert worden ist, ›mit dem ärztlichen Berufsethos nicht vereinbar ist‹, in welchem Sinne sich ja auch der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde vor einigen Jahren geäußert hat.«481

Engisch griff direkt auf den Wortlaut der Erklärung von 1961 zurück, mit der sich die DGfKvon Catel distanziert hatte. Doch wie sehr die von Catel mit seinem Buch nur aufgegriffenen medizinethischen Fragen praktisch weiterhin ungelöst waren, zeigt sich an Engischs anschließender Bemerkung. Es sei durchaus eine Überlegung wert, wenigstens bei »geistig toten Kindern oder absoluten Monstren« auf eine Lebensverlängerung zu verzichten. Engischs Distanzierungsversuch muss schon aufgrund der Verwendung der von Catel kolportierten entmenschlichenden Begriffe als nur moralisierend, aber inhaltlich kaum überzeugend eingeschätzt werden. Darüber hinaus verwendete er für seine eigene Argumentation pro passive Euthanasie ein Zitat aus der englischen Tragödie King Lear (William Shakespeare, ca. 1605): »Quält seinen Geist nicht! Laßt ihn ziehen! Der haßt ihn, der auf die Folter dieser zähen Welt ihn länger spannen will.«482 Catel hatte mit eben diesem Zitat die Euthanasie im weiteren Sinne an »frühkindlichen Idioten« und »erwachsenen unheilbar geisteskranken Menschen« zu illustrieren und historisch zu begründen versucht.483 Folglich erhob Engisch, obwohl er sich um eine Distanzierung zu Catels Thesen bemühte, paradoxerweise dieselben Forderungen wie Catel selbst. Beispiel 2) Für die DGfK-Jahrestagung von 1966 in Berlin (Vorsitz: Adalbert 481 Karl Engisch, Arzt und Patient im Recht der Gegenwart. Grundsätzliche Überlegungen, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 114 (1966) 4, S. 135 – 144, hier: S. 143 f. 482 Vgl. Engisch, Arzt und Patient, S. 144. 483 Vgl. Catel, Grenzsituationen des Lebens, S. 106.

166

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Loeschke)484 war der Problemkreis »Grenzen der Therapie bei Kindern« zu einem der Hauptthemen erhoben worden. Hierzu nahm Carl-Gottlieb Bennholdt-Thomsen unter dem Motto »Farbe bekennen« Stellung. Anhand von Kasuistiken aus der Praxis der Kölner Universitätskinderklinik beleuchtete er Problemfälle von Kindern, die entweder wegen schwerster Schädigungen kaum überlebensfähig waren oder, im Falle ärztlicher Behandlungen (z. B. Operation bei Spaltbildung des Rückenmarks – Meningomyelocele bzw. Spina Bifida) jahrelang mit schweren körperlichen und / oder geistigen Beeinträchtigungen gepflegt werden müssten. So gebe es Beispiele positiver, aber auch negativer Entwicklungen, z. B.: »Das Vierjährige entspricht einem 11 Monate alten. Das Kind lebt, da alles Notwendige geschah. Aber? Fragezeichen!«.485 Eine vorsichtige Haltung spricht aus den Ausführungen Bennholdt-Thomsens, der betont, dass Therapie niemals »töten« bedeuten könne. Trotz dieser Erklärung ist die ganze Ambivalenz der ärztlichen Entscheidungsfindung spürbar, wenn Bennholdt-Thomsen einen Geistlichen zitiert, der einem betroffenen Vater erklärt habe: »Sie hätten die Operationserlaubnis nicht zu geben brauchen, es gibt Kinder, die geboren werden, um so rasch wie möglich in den Himmel zurückzukehren.«486 In einem weiteren Beispiel mit zunächst positiver Entwicklung eines Jungen, der dann aber mit zwölf Jahren verstorben war, resümierte Bennholdt-Thomsen: »Eine Therapie ohne Grenzen ermöglichte in ihrer Vielseitigkeit ›trotz allem‹ ein lebenswertes Leben für Kind und Eltern.«487 Unter demselben Vortragstitel warf Pastor Claus Heitmann von der Evangelischen Akademie Berlin die Frage auf, wann der Arzt das Recht oder die Pflicht habe, seine therapeutischen Bemühungen einzustellen und den Patienten sterben zu lassen. Für Heitmann stand nicht nur fest, dass »die unentwegte Perfektionierung der Behandlungsmethoden« ein »Überschlag der humanen Vernunft in den ›Terror der Humanität‹« sei, sondern auch, dass es einen Unterschied zwischen einer »echten« und einer »falschen« Euthanasie gebe. Diese Unterscheidung habe Helmut Ehrhardt in seinem Buch herausgearbeitet, weshalb er (Heitmann) sich mit einer Beschäftigung dieser Frage nicht mehr aufzuhalten brauche.488 Allerdings müsse man mit Viktor von Weizsäcker 484 Loeschke ließ für die Jahrestagung eine Ausstellung »Zur Geschichte der Berliner Pädiatrie« erstellen und äußerte in seiner Eröffnungsansprache den Wunsch, auch auf einer zukünftigen internationalen Tagung einmal eine Ausstellung zur Geschichte der Pädiatrie zu sehen. Adalbert Loeschke, Begrüßungsansprache der 64. Ordentlichen Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde in Berlin 1966, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 115 (1967) 4, S. 125 – 126. 485 Carl-Gottlieb Bennholdt-Thomsen, Grenzen der Therapie bei Kindern, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 115 (1967), S. 178 – 182, hier : S. 181. 486 Ebd. 487 Ebd., S. 182. Kursivsetzungen im Original. 488 Claus Heitmann, Grenzen der Therapie bei Kindern, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

167

»ernstlich fragen, ob die medizinische Ethik als Kontinuum nicht längst zur Fiktion geworden ist: so häufig unterwandert die verunsichernde Grenze die bislang gültigen Normen aus hippokratischem Denken«.

Wiederum mit Weizsäcker plädiert Heitmann für das Prinzip der Solidarität als Anhaltspunkt ärztlichen Handelns. Solidarität bedeute unter anderem »die Übernahme von Schicksal, sie bedeutet Stellvertretung. Nur so kann die Therapie sachlich und zugleich human sein, aber immer schließt sie Schuld ein, in außerordentlichen Fällen sogar die bewußte Illegalität«.489

Ob Werner Catel, der mit seinem Buch eine legale Grundlage für derartige Entscheidungen gefordert hatte, sich durch die Vortragenden bestätigt oder angegriffen fühlte, bleibt an dieser Stelle offen.490 Wie aber beide Beispiele belegen, war die deutsche innerpädiatrische Diskussion um medizinethische Fragen insbesondere zur Zeit des Catel-Streits keineswegs verstummt. Sie war allerdings von inneren Widersprüchlichkeiten und starken Verunsicherungen gekennzeichnet, die sich auch aus dem Unvermögen speisten, der Vergangenheit einen eindeutigen Sinn abzuringen. Mit Blick auf die Ethik-Tagung von 1981/1982 und die dort angesprochenen Themen Schwangerschaftsabbrüche, Grenzen der Therapie schwerstgeschädigter Kinder oder auch Sterbehilfe lässt sich konstatieren, dass sich diese Verunsicherungen weiter fortsetzten. In welchen konkreten Situationen die NSVergangenheit, wenn überhaupt gegenwärtig wurde, soll im Folgenden vorgestellt werden. Da es sich bei der Tagung der Konzeption nach um eine Art Bestandsaufnahme handelte, war es naheliegend, dem Tagungsband einleitend eine Sammlung einschlägiger medizinethischer Codizes beizugeben. Hierzu wurden ausgewählt:491 – Eid des Hippokrates, – Genfer Gelöbnis in der Fassung des Weltärztebundes von 1948 – Internationaler Code der ärztlichen Ethik in der Fassung des Weltärztebundes von 1949 115 (1967) 4, S. 182 – 186, hier : S. 185. Gemeint war das im selben Jahr erschienene Buch des Psychiaters und Schülers von Werner Villinger: Helmut Ehrhardt, Euthanasie und Vernichtung »lebensunwerten Lebens«, Stuttgart 1965. Zu Ehrhardts die Psychiatrie entlastenden Darstellung der NS-Euthanasie siehe die von Volker Roelcke vorgelegte Interpretation des isolation paradigm im Abschnitt »Forschungsstand« dieser Arbeit. 489 Heitmann, Grenzen der Therapie bei Kindern, S. 186. Heitmann bezog sich dabei auf einige Stellen aus: Viktor von Weizsäcker, »Euthanasie« und Menschenverbrechen, Heidelberg 1947. 490 Unter den durch den Tagungspräsidenten Loeschke genannten entschuldigten Kollegen findet sich Catel nicht. Loeschke, Begrüßungsansprache, S. 125. Zudem hatte Catel bereits 1959 erklärt, nicht mehr an den Veranstaltungen der DGfK teilnehmen zu wollen (s. o.). 491 Vgl. Müller / Olbing (Hg.), Symposium Ethische Probleme in der Pädiatrie, S. 4 – 11.

168

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

– Resolutionsentwurf und Empfehlungsentwurf über die Rechte des Kranken in der Fassung des Europarats von 1976 – Gelöbnis in der Berufsordnung für die deutschen Ärzte, beschlossen auf dem 82. Deutschen Ärztetag 1979 – Prinzipien einer medizinischen Ethik, verabschiedet von der American Medical Association im Jahr 1980.492 In diesem Kompendium fehlte nicht nur der »Nürnberger Kodex« in der Fassung, wie er 1947 vom I. Amerikanischen Gerichtshof als Teil des Urteils im Nürnberger Ärzteprozess formuliert worden war. Als Lernerfahrung aus den NS-Medizinverbrechen stellt er bis heute den Ursprung dessen dar, was im Kontext medizinischer Experimente unter der Notwendigkeit des »informed consent« einer Versuchsperson verstanden wird.493 Darüber hinaus fehlten auch zwei wichtige Deklarationen der World Medical Association: 1.) jene von Helsinki aus dem Jahr 1964 mit der in ihr enthaltenen Unterscheidung zwischen »Heilversuchen« (clinical research) und der in Bezug auf die Versuchsperson problematischen »fremdnützigen Forschung« (non-therapeutic clinical research) sowie 2.) jene von Tokio aus dem Jahr 1975, mit der die Forderung nach Ethikkommissionen international eingeführt wurde. Diese beiden Deklarationen bedeuteten wieder eine gewisse Einschränkung des »informed consent«, da es Ärzte von der Einholung der Patientenzustimmung entband, wenn sie dafür gegenüber den Ethikkommissionen ihre Gründe offenlegten.494 Die Gründe für alle drei Auslassungen bleiben hier ungeklärt. Bemerkenswert ist der Befund vor allem deshalb, weil der Pädiater und Medizinhistoriker Prof. Eduard Seidler (*1929, Universität Freiburg) im Rahmen der Tagung darauf verwies, auf Grundlage einer von ihm betreuten Seminararbeit »die vorhande492 Ebd. 493 Paul J. Weindling, Nazi Medicine and the Nuremberg Trials. From Medical War Crimes to Informed Consent, Houndmills 2004; sowie: Andreas Frewer und Ulf Schmidt, Nuremberg Medical Code of Ethics. Geschichte und Ethik des Ärzteprozesses, in: dies. (Hg.), Standards der Forschung. Historische Entwicklung und ethische Grundlagen medizinischer Forschung, Frankfurt am Main u. a. 2007, S. 37 – 73. Nach Einschätzung des Medizinethikers G. Maio sei die Diskussion über die Forschung am Menschen nach einer ersten Phase der öffentlichen Empörung im Nachklang des Nürnberger Ärzteprozesses fast vollständig verstummt. So sei auch der Nürnberger Kodex »in den USA und anderswo« kaum wahrgenommen worden, da er für »Nazis und ›Verrückte‹ bestimmt« zu sein schien. Erst durch den Contergan-Skandal 1961 habe man die Idee der informierten Einwilligung wieder stärker aufgegriffen. Vgl. Giovanni Maio, Ethik der Forschung am Menschen. Zur Begründung der Moral in ihrer historischen Bedingtheit, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002, S. 31 u. 291 ff. 494 Vgl. Michael Wunder, Der Nürnberger Kodex und seine Folgen, in: Angelika Ebbinghaus und Klaus Dörner (Hg.), Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen, Berlin 2001, S. 477 – 488.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

169

nen Verpflichtungen, Gelöbnisse und andere[n] Texte der verfügbaren Traditionen auf elementare Leitkonstanten« abgesucht zu haben.495 Prof. Hans Schadewaldt (1923 – 2009), Medizinhistoriker an der Universität Düsseldorf, der im selben Jahr an der oben erwähnten Tagung »Unmenschliche Medizin« (1981) der LÄK Hessen als Referent teilnahm, entwarf für dieses Symposium eine Einführung zur Ethik aus historischer Sicht. Darin ging er weder auf die NS-Medizinverbrechen noch auf deren medizinrechtliche oder medizinethische Folgen explizit ein. Entsprechend verwendete er den Begriff »Euthanasie« ohne Anklang an die Zeit des Nationalsozialismus: »Ein ganz besonderes Kapitel dürfte die Euthanasie im Säuglings- und Kindesalter sein, wobei hier Fragen der Neonatologie oder auch die um das Schicksal des ungeborenen Kindes mit festgestellten genetischen Defekten eine besondere Diskussion herausfordern dürften. […] Gerade in der Kinderheilkunde spielt schließlich für Ärzte und Schwestern auch noch die Frage von Mitleid und Objektivität am Krankenbett eine besonders große Rolle.«496

Ohne ein Äquivalent anzubieten, vertrat er die Ansicht, dass in der Pädiatrie der Begriff der Euthanasie aber ohnehin fehl am Platze sei, da »es sich in manchen Fällen nicht um das sogenannte Recht auf einen sanften Tod, sondern um die Verhinderung eines defekten Lebens handelt. […] Auch wenn die moderne pluralistische Ärzteschaft von unterschiedlichen religiösen, politischen, philosophischen, psychologischen und soziologischen Vorstellungen ausgeht, so sollte sie doch bezüglich einer medizinischen Ethik die Vorstellungen von der ›Ehrfurcht vor dem Leben‹ berücksichtigen, wie sie Albert Schweitzer (1875 – 1965) neu formulierte, wie sie aber bereits im sogenannten Hippokratischen Eid eindeutig auftaucht, der deshalb in dieser Beziehung bis heute seine Gültigkeit nicht eingebüßt hat.«497

Schadewaldt rang mit sich um eine klare Positionierung. Seine Argumentation lief allerdings auf den Begriff der Tötung hinaus, vor allem, da er den Begriff der Euthanasie nicht für anwendbar hielt. Eine detaillierte Problematisierung der diffizilen Grenzziehung zwischen Fremd- und Selbstbestimmung im Falle der Sterbehilfe bei Minderjährigen erfolgte nicht. Der Gynäkologe Prof. Peter Stoll von der Frauenklinik Mannheim griff mit einer kontrafaktischen Argumentation auf die Vergangenheit zurück, um gegen eine Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs nach § 218 einzutreten. Sollte zukünftig die »intrauterine Euthanasie« erlaubt werden, würde es als 495 Eduard Seidler, Ethische Probleme im Umgang mit dem Kind, in: Müller / Olbing (Hg.), Symposium Ethische Probleme in der Pädiatrie, S. 45 – 56, hier : S. 46. 496 Hans Schadewaldt, Medizinhistorische Einleitung, in: Müller / Olbing (Hg.), Ethische Probleme in der Pädiatrie und ihren Grenzgebieten, S. 13 – 18, hier : S. 17 f. Kursivsetzungen im Original. 497 Ebd.; Hervorhebung im Original.

170

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

unverständlich gelten, wenn nicht auch die »postpartale extrauterine aktive und passive Euthanasie« schwer geschädigter Kinder straffrei gestellt werden würde. Dies erwecke, so Stoll, »die makabre Vorstellung, daß eines Tages der Gesetzgeber möglicherweise die Tötung mißgebildeter und geschädigter Kinder doch erlauben oder aber eine Probe auf eine Lebensfähigkeit einführen wird, wie bei unseren germanischen Vorfahren. Geht man in diesem Gedanken weiter, so wird man sich fragen müssen, ob nicht eines Tages der Gesetzgeber unter bevölkerungspolitischen und ökonomischen Zwängen auch legalisieren wird, alte Menschen durch Ärzte vom Leben zum Tode zu bringen.«498

Ein Missbrauch des § 218 erschien dem Gynäkologen als mögliches Einfallstor für eine Ausweitung der »Früheuthanasie«. Bezüglich der Alterseuthanasie entwarf Stoll ein düsteres Zukunftsszenario wie es aktuell wieder verstärkt diskutiert wird.499 In seinem Kommentar klangen zumindest implizit die historischen Erfahrungen der NS-Euthanasie während des Krieges an, blieben aber mit einem sprachlichen Tabu belegt. Sein verschlüsselter Verweis auf die »germanischen Vorfahren« ließ in der Art der Formulierung Deutungsspielräume zu, dürfte aber bei den Anwesenden Assoziationen zur Kriegszeit geweckt haben. Andere Referenten verwendeten in der Diskussion ebenfalls Begriffe und Argumente, die erstens direkt an die deutschen Euthanasie-Debatten der Zeit zwischen den Weltkriegen, zweitens an die NS-Euthanasie-Programme und drittens an die von Catel in den 1960er-Jahren propagierte »begrenzte Euthanasie« gebunden waren; allerdings, ohne dass die Referenten diese Bezüge explizit herstellten. Erst die anschließende Diskussion ließ die Verbindungen zur Vergangenheit offenbar werden. Beispiele hierfür sind die Vorträge von Hermann Mildenberger und Johannes Brodehl, beide von der Kinderklinik an der Medizinischen Hochschule Hannover. Beide Beiträge behandelten die Zulässigkeit der passiven oder aktiven Euthanasie. Über das Problem der Schwangerschaftsabbrüche hinaus wurden am Tegernsee Fragen der operativen Behandlung schwerstgeschädigter Neugeborener behandelt. Nur wenige Jahre zuvor war zu dieser Problematik eine Studie aus England erschienen, die Mediziner in beiden deutschen Staaten in Atem hielt.500 Professor John Lorber vom Departement of Pediatrics und Children’s Hospital an der Sheffield University hatte unter Verwendung des Humanitätsarguments die 498 Peter Stoll, Die ethischen Probleme aus gynäkologischer Sicht, in: Müller / Olbing (Hg.), Ethische Probleme in der Pädiatrie und ihren Grenzgebieten, S. 74 – 81, hier: S. 80. 499 Vgl. zur gesellschaftlichen Überalterung Deutschlands und einer denkbaren politischen Forderung nach Masseneuthanasie alter Menschen die sarkastische negative Utopie von Björn Kern, Die Erlöser AG, München 2007. 500 Zur Gesellschaft für Pädiatrie der DDR siehe unten Abschnitt 5.2.2.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

171

Position für vertretbar erklärt, bestimmte schwerstgeschädigte Kinder, z. B. solche mit Spina Bifida (Sammelbegriff für alle angeborenen Spaltbildungen im hinteren und vorderen Teil der Wirbelsäule) nach der Geburt medizinisch nicht zu versorgen. In seinem 1978 in deutscher Sprache erschienenen Artikel, dort im Unterabschnitt »Die Grundlagen und die Durchführung der Selektion«, begründete er seine Forderung nach einem geregelten Entscheidungsverfahren für oder gegen eine operative Behandlung: »Die Menschlichkeit fordert, daß schwerbehinderte Kinder unter keinen Umständen dieser endlosen und qualvollen Bestrafung zugeführt werden, selbst wenn diese mit den besten Absichten geschieht.«501

Mildenberger griff in seinem Beitrag über die »Grenzen chirurgischer Therapie beim multipel geschädigten Kind« Argumente Lorbers auf, von denen einige identisch mit den von Catel vorgebrachten waren. So seien Familien, die ein schwerstbehindertes Kind pflegen, enormen Belastungen ausgesetzt. Lorber behauptete, dass ein »großer Prozentsatz« von Müttern den Anforderungen nur durch Einnahme von Beruhigungsmitteln standhielte. Familien zerbrächen und in einigen Fällen würden Väter oder Mütter sogar den Suizid als Ausweg aus der Verzweiflung wählen. Gesunde Geschwisterkinder würden nicht selten vernachlässigt und schließlich, Lorbers Hauptargument, gingen »viele potentiell normale Leben […] durch die Rettung eines schwerstbehinderten Kindes verloren, weil die Eltern davor zurückscheuen, weitere Kinder zu haben«.502

Allerdings trat Lorber als Gegner der aktiven Euthanasie auf, deren Legalisierung ihm mit Blick auf sowohl die deutsche Vergangenheit als auch einen möglichen Missbrauch zu riskant erschien.503 Mildenberger ließ die Lorber501 John Lorber, Der Rückschlag des Pendels bei der Behandlung der Myelomeningocele, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 126 (1978), S. 9 – 13, hier S. 11. Lorber hatte sich seit Anfang der 1970er-Jahre mit mehreren Beiträgen an einer intensiven fachwissenschaftlichen Debatte überwiegend in Großbritannien über die kinderneurologische bzw. kinderchirurgische Behandlung, Prognostik und die möglichen Selektionskriterien bei Kindern mit Spina Bifida oder Anencephalus beteiligt. Vgl. dazu die Kurzbibliographie in: John Lorber and Stephan A. W. Salfield, Results of selective treatment of spina bifida cystica, in: Archives of Disease in Childhood 56 (1981), S. 822 – 830. 502 Lorber, Der Rückschlag des Pendels, hier zit. nach: Hermann Mildenberger, Grenzen chirurgischer Therapie beim multipel geschädigten Kind, in: Müller / Olbing (Hg.), Ethische Probleme in der Pädiatrie und ihren Grenzgebieten, S. 205 – 210, hier: S. 206. 503 »It would be impossible to formulate legislation, however human are the intentions, that could not be abused by the unscroupulous. There have been plenty of examples in the past, especially in Hitler’s Germany. Few just or compassionate persons would wish to give such a dangerous legal power to any individual or group of people.« J. Lorber, Ethical Problems in the management of Myelomeningocele and Hydrocephalus, in: Journal of the Royal College of Physicians 10 (1975) 1, S. 47 – 60, hier: S. 57 f. Zit. nach: Simon, Geschichte als Argument in der Medizinethik, S. 23.

172

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Argumentation praktisch kommentarlos im Raum stehen. Da er in diesem konkreten Zusammenhang die Frage nach den sozialen Hintergründen der Familienkrisen oder gar den allgemeinen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zurückstellte,504 konnte das geschädigte Kind in seiner Existenz nahezu als alleiniger Grund des Problems erscheinen. Stattdessen fragte Mildenberger hinsichtlich dreier von ihm genannter Möglichkeiten einer ärztlichen Entscheidung (1. Töten, 2. Hilfe zum Sterben, 3. Hilfe zum Leben) nach allgemeingültigen Kriterien, die einer solchen Entscheidung zugrunde gelegt werden können. Doch alle erkannten »Autoritäten« – Religion, Staat und Gewissen – erwiesen sich für ihn bei genauerer Betrachtung als entweder überholt, zeitgebunden und damit relativ oder aber als zu unsicher, da sie immer auch milieu- und kulturbedingt seien. Somit bliebe nur das Kriterium des Lebens selbst, das es gemäß dem ärztlichen Auftrag zu erhalten gelte. Dies dürfe laut Mildenberger dennoch nicht bedeuten, sich dahinter zu verstecken und die Folgen der eigenen Entscheidungsunfähigkeit den betroffenen Familien aufzubürden.505 Erschien Mildenberger das Sterbenlassen oder gar die Tötung schwerstgeschädigter Kinder also doch als legitim? Auf das von Lorber geforderte geregelte Entscheidungsverfahren (Selektion) ging Mildenberger in seinem Beitrag nicht ein. Letztlich kam er nach aller abstrakten Reflexion – wie Lorber – auf das Kriterium der Humanität zurück. Das jedoch konnte, je nach Einzelfall eben eine Entscheidung pro oder contra Leben begründen. Dass allerdings auch Humanitätsvorstellungen historischen und kulturellen Einflüssen unterworfen sein und daher ebenso wenig ein sicheres Kriterium ärztlichen Handelns darstellen können wie die »Autoritäten« Religion, Staat oder das Gewissen, wurde Mildenberger in der Diskussion nicht entgegengehalten. Eine ebensolche Kritik hätte sich der inneren Argumentationslogik folgend gerade angesichts der von Catel diskutierten Fragen angeboten. Was sollte man also unter der von Mildenberger gewünschten »menschlichen Medizin« verstehen, wenn der ärztliche Auftrag, Leben zu erhalten, durch Grenzverschiebungen derart ambivalenter Kriterien einfach aufgehoben werden konnte? Soweit der Tagungsband dokumentiert, wurde diese Frage nicht aufgeworfen. Erheblich konkreter kam Johannes Brodehl im anschließenden Beitrag auf 504 An anderer Stelle bemerkte Mildenberger äußerst hellsichtig eine zunehmend beobachtbare wirtschaftliche und finanzielle Ressourcenknappheit als Begrenzung ärztlichen Handelns, woraus sich zukünftig diffizile Probleme der Prioritätensetzung ergeben würden, z. B. bei der apparativen medizinischen Versorgung. Diese Bemerkung löste im Anschluss an die Sektion eine separate Debatte aus. Einige Kollegen bestritten eine derartige Entwicklung. Eduard Seidler pflichtete Mildenberger mit den Worten bei, das »Gespenst der Selektion« werde in Zukunft wachsen. Ebd., S. 223. 505 Vgl. Mildenberger, Grenzen chirurgischer Therapie beim multipel geschädigten Kind, S. 209.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

173

einen neuralgischen Punkt der alltäglichen ärztlichen Entscheidungspraxis zu sprechen: die Selbst- oder Fremdzuschreibung des Werts menschlichen Lebens. In dem Beitrag »Grenzen der konservativen Therapie bei Kindern mit infauster Prognose«506 wird differenziert problematisiert, ob im Falle einer sorgfältig gestellten infausten Prognose immer das ärztliche Gebot der Lebenserhaltung angezeigt sei, d. h. ob über medikamentöse Schmerzbehandlungen und pflegerische Maßnahmen hinaus intensivmedizinische Maßnahmen oder medikamentöse Behandlungen fortgesetzt werden sollten. Letzteres verneinte Brodehl eindeutig, schloss aber aktive Maßnahmen zur Verkürzung eines Lebens prinzipiell aus, da sie dem Prinzip der Lebenserhaltung widersprächen. Das Hauptkriterium der Entscheidungsfindung sei die Einschätzung des »Werts des Lebens«. Über die diesem Kriterium innewohnenden Risiken war sich Brodehl bewusst, beharrte er doch darauf, dass sich dieser »Lebenswert« einer Erfassung durch den Arzt weitgehend verschließe, was insbesondere im Falle minderjähriger oder geistig beeinträchtigter Patienten gelte. Die Eltern seien deshalb unbedingt einzubeziehen. Kann einerseits mit einer Äußerung der selbstbestimmten Entscheidung bei erwachsenen Personen gerechnet werden, so sind die Übergänge zwischen Selbst- und Fremdbestimmung im speziellen Fall kindlicher Patienten, wie Brodehl betont, in Abhängigkeit vom Alter und Zustand des Kindes immer fließend.507 »Eine aktive Maßnahme allerdings zur Verkürzung solch eines Lebens kann ich auch in diesem Zustand keineswegs bejahen. […] Die Grenzen der Therapie sind dann erreicht, wenn die Prognose infaust und der Wert des Lebens durch Hoffnungslosigkeit zerstört ist, so daß es die menschliche Verpflichtung des Arztes gebietet, dieses Leben nicht durch intensive Behandlungsmaßnahmen zu verlängern.«

Laut Brodehl lasse sich der »Lebenswert« hauptsächlich an der Existenz einer kommunizierbaren oder beobachtbaren »Hoffnung« bemessen. Überwiegt bei allen Beteiligten die Hoffnungslosigkeit und das Gefühl der Ausweglosigkeit, könne der Wert des Lebens untergraben, folglich das Leben »lebensunwert« 506 Infauste Prognose bedeutet: aussichtslose Prognose einer Erkrankung, die nach ärztlichem Wissen zum Tode führt und keine Chance auf Besserung zulässt. Definition aus: Johannes Brodehl, Grenzen der konservativen Therapie bei Kindern mit infauster Prognose, in: Müller / Olbing (Hg.), Ethische Probleme in der Pädiatrie und ihren Grenzgebieten, S. 210 – 219, hier : 210. 507 Brodehl, S. 218. Denkbar ist, dass sich das Gewicht vollständig auf die Seite der Fremdeinschätzung durch den Arzt und die gesetzlichen Vertreter verschiebt, weshalb auch in der aktuellen Debatte über die Früheuthanasie das humanitär verpackte Erlösungs-Argument, nämlich dass das Kind angeblich von seinen Qualen oder seinem entwicklungsunfähigen Dasein befreit wird, daraufhin kritisch befragt werden sollte, ob nicht vorrangig das Kindesumfeld von der als unerträglich empfundenen Belastung befreit werden soll.

174

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

werden.508 Hiermit brachte er eine vergleichbare Argumentation wie Catel in den »Grenzsituationen des Lebens« vor (s. o.), allerdings hier ausschließlich auf sterbenskranke Kinder bezogen. Obwohl Brodehl dieses sehr eingegrenzte Problem der infausten Prognose wohl reflektiert darlegte, sogar potenziellen Missverständnissen durch klare Begriffsdefinitionen vorzubeugen versuchte, erhielt er in der nachfolgenden Diskussion unerwartet kritische Anmerkungen, die sich auf seine Terminologie bezogen. Eduard Seidler empfahl kurz und knapp, »die Begriffe lebenswert und lebensunwert zu streichen. Sie sind aus der Geschichte unseres Volkes mit Ereignissen verknüpft, von denen wir uns distanzieren wollen«.509

Der evangelische Theologe Prof. Jürgen Hübner von der Universität Heidelberg griff das von Brodehl eingebrachte Prinzip Hoffnung auf und erinnerte daran, dass hinsichtlich der Begriffe »lebenswert« und »lebensunwert« über die Belastung aus der deutschen Geschichte hinaus auch eine Schwierigkeit im Wertbegriff selbst liege, »der aus der ökonomischen Theorie des vorigen Jahrhunderts stammt; denken wir nur an den Sozialdarwinismus. Bei der Entscheidung im Einzelfall sollte der Arzt sich nicht an den Begriffen ›lebenswert‹ oder ›lebensunwert‹ orientieren, sondern an der Frage, ob Hoffnung auf ein menschliches Leben besteht, in dem ein Liebesverhältnis möglich sein wird, oder ob es nicht vielleicht ein Akt der Liebe ist, sterben zu lassen.«510

Beide Anregungen sind in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich, war doch der Bezug zur Euthanasie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allein als Argument einer begrifflichen Abgrenzung gedacht. Sowohl Seidler als auch Hübner argumentierten mit einer durch Verbrechen belasteten Vergangenheit, und das, obwohl sie inhaltlich den Überlegungen Brodehls durchaus zustimmten. Dessen Erläuterungen entbehrten dagegen jeglicher Elemente einer kollektivethischen oder gar utilitaristischen Positionierung, die einen mahnenden historischen Vergleich in diesem Zusammenhang unbedingt erfordert hätte. Warum also kritisierten sie Brodehls geschichtsfreie, aber ethisch wohl definierte Verwendung des Begriffs vom »Wert des Lebens«? Für den Medizinhistoriker und den Theologen hatte das Wort »lebensunwert« Signalwirkung, und das in zweierlei Hinsicht: Erstens verband sich damit das Wissen um die seit dem Ersten Weltkrieg radikalisierte Debatte über die »Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens« (Binding / Hoche 1920). Der Begriff »lebensunwert« deutete zweitens auch ein seit dem Ende der Catel-Auseinandersetzung noch immer nicht aufgehobenes Tabu innerhalb der Pädiatrie an: die selbstkritische 508 Ebd. 509 Abdruck eines Auszugs der Diskussion im Anschluss an den Vortrag Brodehls. Ebd., S. 223. 510 Ebd.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

175

Beschäftigung mit der planmäßigen Selektion und tausendfachen Ermordung angeblich »lebensunwerter« Kinder durch deutsche Pädiater in den Jahren 1939 bis 1945, der man sich noch nicht gestellt hatte, aber, so hier der Befund, sich behutsam zu nähern bereit war. Die Tegernsee-Begegnung mit Seidler beeindruckte Brodehl nachhaltig und sollte sich noch, wie zehn Jahre später folgende Ereignisse belegen, zu einer engen Zusammenarbeit im Sinne einer bewussten Vergegenwärtigung der NSVergangenheit entwickeln.511 Wie das gesamte Diskussionsspektrum der Tagung zeigt, kritisierte dagegen niemand der Teilnehmer die Verwendung des Begriffs »Euthanasie« selbst, der doch seit den Euthanasie-Prozessen in den 1960er-Jahren in der Öffentlichkeit vorrangig für die Krankentötungen im Nationalsozialismus stand. Dieser Begriff hätte sich ebenso historisch begründet »streichen« lassen. Wurde dieser Zusammenhang schlichtweg übersehen? Plausibler ist, dass der Begriff zu Beginn der 1980er-Jahre, offenbar ohne notwendige Verhandlung über seine Bedeutungsgrenzen, für ein gemeinschaftlich geteiltes Konzept einer als richtig und vertretbar betrachteten »wahren« Euthanasie gebraucht wurde. Dies wird verständlicher, wenn man annimmt, dass die an dieser Diskussion beteiligten Mediziner davon ausgingen, dass der Begriff »Euthanasie« in der NS-Zeit missbraucht worden war und sie selbst gerade deshalb einen Hoheitsanspruch auf diesen historischen Terminus erhoben. Der heute in Deutschland übliche Begriff der (aktiven, passiven, indirekten) Sterbehilfe ist im Tagungsband kaum nachweisbar.512 Da ein solches historisch ungetrübtes Begriffsverständnis einer »wahren« Euthanasie interdisziplinär Konsens war, drängte sich der Wunsch nach einer klaren inhaltlichen Abgrenzung von der NS-Euthanasie geradezu auf. Seidler drückte dieses Bedürfnis normativ mit seiner (»Kollektiv«-)Formulierung aus: »[…] aus der Geschichte unseres Volkes mit Ereignissen verknüpft, von denen wir uns distanzieren wollen.« Wollte man im Bereich der drängenden medizinethischen Fragen eine gemeinsame Position artikulieren, so musste man sich von einzelnen Tabus verabschieden. Die normative Grenzlinie wurde konkret zwischen passiver und aktiver Euthanasie gezogen. In den Diskussionen ist ein weitgehender Konsens zur Vertretbarkeit der passiven Euthanasie vor allem aus humanitären Gründen nachweisbar. Ihre Befürwortung forderte indirekt zu einer Vergegenwärtigung der prekären Vergangenheit heraus. So ebnete die riskante medizinethische Gratwanderung einerseits unfreiwillig den Weg zu einer zaghaften Auseinan511 Johannes Brodehl, Professor Dr. Eduard Seidler 70 Jahre, Freiburg 21. 4. 1999. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Ordner 104 DGKJ e.V. 1999: Preise, Ehren- und korrespond. Mitglieder. 512 Vgl. z. B. Ottheinz Braun, Probleme bei sterbenden Kindern, in: Müller / Olbing (Hg.), Ethische Probleme in der Pädiatrie und ihren Grenzgebieten, S. 270 – 279, hier : S. 276.

176

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

dersetzung mit der Vergangenheit der Medizin, somit auch mit der der Pädiatrie. Der verbale Fernverweis auf die »Geschichte unseres Volkes« – allerdings nicht auf die Geschichte der deutschen Pädiatrie, was näher gelegen hätte – bestärkt den Eindruck, dass eine von innen initiierte, kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit immerhin begonnen hatte. Aus dem Abwehrversuch durch moralische Distanzierung resultierte aber andererseits die anhaltende Verzögerung einer tieferen historischen Reflexion, speziell über zentrale argumentative Kontinuitäten im Euthanasiediskurs des 20. Jahrhunderts.513 Hermann Olbing hatte selber den Zusammenhang von unbearbeiteter Geschichte und Tabuisierung bestimmter Themen als These formuliert. Von daher konnte es ihn gar nicht so sehr verwundern, dass die deutsche Kinderheilkunde »merkwürdigerweise« so lange Zeit medizinethischen Fragen gegenüber »wortkarg, weitgehend sogar stumm« geblieben war. Olbings Einschätzung des medizinethischen Themenstaus in der Kinderheilkunde ist trotz der beiden beschriebenen, früheren Thematisierungen in der Gesamtrückschau als zutreffend zu bezeichnen. Erst ab 1982 erschienen in der Monatsschrift für Kinderheilkunde regelmäßig medizinethische Beiträge.514 1983 veröffentlichte Eduard Seidler einen medizinhistorischen Vortrag, dem »Daten zur Geschichte der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde« vorangestellt waren. Der Leser konnte für die Jahre 1933 – 1945 den Vermerk finden: »Erheblicher Aderlaß durch die Emigration, Diffamierung und Vernichtung der vergleichsweise zahlreichen jüdischen Kinderärzte. Problematische Auseinandersetzung

513 Vgl. dazu vor allem Hohendorf, Empirische Untersuchungen; ders., Die nationalsozialistischen Krankenmorde zwischen Tabu und Argument – Was lässt sich aus der Geschichte der NS-Euthanasie für die gegenwärtige Debatte um die Sterbehilfe lernen?, in: Westermann / Kühl / Ohnhäuser (Hg.), NS-»Euthanasie« und Erinnerung, S. 211 – 230. Die historische Analyse der Euthanasie-Diskurse im 20. Jahrhundert, insbesondere der Interpretationsansatz einer international vergleichenden Perspektive muss weiterhin als Desiderat der Forschung betrachtet werden. Siehe punktuell dazu: Frewer / Eickhoff (Hg.), »Euthanasie« und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte; Simon, Geschichte als Argument in der Medizinethik, sowie: Thorsten Noack, Ein unglaubliches Kriegsgerücht. Anmerkungen zur zeitgenössischen Wahrnehmung der »Aktion T4« in der Tagespresse der Vereinigten Staaten, in: Westermann / Kühl / Ohnhäuser (Hg.), NS-»Euthanasie« und Erinnerung, S. 45 – 66. 514 Vgl. den Jahrgangsband 1982. Siehe auch z. B. den Beitrag des Regensburger Kinderchirurgen J. Regenbrecht, Spätergebnisse nach Operationen bei Meningomyelocelen, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 132 (1984), S. 398 – 401. Regenbrecht nahm Bezug auf die Thesen und Indikationskriterien Lorbers, die seit 1972 diskutiert wurden, und erklärte, auch in Deutschland werde »heute bei einer Reihe von Kindern aus diesem Grunde auf mögliche Operationen« verzichtet. Am Ende seiner Studie verwarf Regenbrecht aber die »schematische Anwendung der Selektionskriterien von Lorber« als ungeeignet.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

177

im Rahmen des Euthanasie- und Rasseprogrammes, aber auch mutiger Einsatz deutscher Kinderärzte im Widerstand.«515

Weitere drei Jahre später wurde eine von Seidler mit unterzeichnete Erklärung der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht zu den »Grenzen der ärztlichen Behandlungspflicht bei schwerstgeschädigten Neugeborenen« im Fachorgan der DGfK publiziert. Die Erklärung begann mit der Feststellung (Abs. I), dass die »Abstufung des Schutzes des Lebens nach der sozialen Wertigkeit, der Nützlichkeit, dem körperlichen Zustand oder der geistigen Verfassung gegen Verfassung und Sittengesetz« verstoße. Mit derselben Begründung wurde auch jede gezielte Verkürzung des Lebens eines Neugeborenen durch aktive Eingriffe ausgeschlossen. Dass die historischen Erfahrungen hier implizit ihren Niederschlag gefunden hatten, liegt angesichts der Grenzziehung gegenüber aktiven Maßnahmen und missbräuchlichen Motiven nahe. Im Kern sollte mit der Erklärung der ärztliche Handlungsrahmen für Grenzfälle festgelegt werden, in denen medizinisch mögliche Behandlungen nicht ausgeschöpft werden müssten.516 An der damit vertretenen passiven Euthanasie und den dort zugrunde gelegten, wie Gerrit Hohendorf kritisch anmerkt, vagen Kriterien für einen Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen517, die der »Entscheidungsfindung und der Beratung« im jeweiligen Einzelfall dienen sollten, wurde auch in der überarbeiteten Fassung der »Einbecker Empfehlungen« von 1992 festgehalten.518

4.2.3. Historische Kommission und 100 Jahre DGfK: München 1983 Trug das 1981 willentlich aufgehobene »Ethik-Tabu« einschließlich seiner diskursiven Vergangenheitseruptionen letztlich zum Aufbrechen des selbst auferlegten NS-Vergangenheit-Tabus in der westdeutschen Pädiatrie bei? Die zeitli515 Eduard Seidler, Carl Gerhardt und seine Rede: »Die Aufgaben und Ziele der Kinderheilkunde« (1879), in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 131 (1983), S. 545 – 548, hier : S. 544. 516 Vgl. N.N., Grenzen der ärztlichen Behandlungspflicht bei schwerstgeschädigten Neugeborenen. Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht, erarbeitet beim 1. Einbecker Expertengespräch 27.–29. Juni 1986, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 134 (1986), S. 828 f. 517 Der Verzicht bezieht sich auf solche Maßnahmen, die einen in Kürze zu erwartenden Tod nur hinauszögern würden, auf Behandlungen, die dem Neugeborenen nur ein Leben mit äußerst schweren Schädigungen ermöglichen würden, oder wenn die mit der Behandlung verbundene Belastung des Kindes die zu erwartende Hilfe übersteigt. 518 Einbecker Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht (DGMR) zu den Grenzen ärztlicher Behandlungspflicht bei schwerstgeschädigten Neugeborenen (1986/ 1992), in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 140 (1992), S. 427 f. Angabe nach Hohendorf, Empirische Untersuchungen, S. 141.

178

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

che Koinzidenz zu den sich unmittelbar anschließenden Entwicklungen in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre lässt einen ursächlichen Zusammenhang nur bedingt plausibel erscheinen. Den ersten Ansatz einer Auseinandersetzung mit der eigenen Rolle im Nationalsozialismus zeigte die DGfK nämlich anlässlich der Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag ihres Bestehens. Der Jubiläumsakt in München im Jahr 1983 war Anlass genug für einen Rückblick auf die eigene Geschichte. Vorbereitend hatte der Kieler Prof. Hans-Rudolf Wiedemann die Gründung einer Historischen Kommission und die Einrichtung eines Archivs vorgeschlagen.519 Wiedemann begründete seinen Antrag mit der Notwendigkeit, »– gerade in unserer augenblicklich eher traditionsfeindlichen Zeit – […] ›die Spuren zu sichern‹, soll heißen: wichtige Zeugnisse aus dem Leben der Gesellschaft wie auch besonders herausragender Mitglieder zu bewahren«.520

Mit nahezu identischer Intention war unter dem Stichwort »Traditionspflege« in der Gesellschaft für Pädiatrie der DDR bereits 1980 der Beschluss zum Aufbau eines zentralen Archivs für die Geschichte der Pädiatrie gefasst worden.521 Die im Vorfeld ins Leben gerufene Historische Kommission unter Leitung von 519 Protokoll der Mitgliederversammlung DGfK 14. 9. 1982, Heidelberg, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Ordner 1 DGfK Vorstand, Protokolle, Eröffnungsansprache, Jahresbericht 1980 – 1983 1a. Der Antrag Wiedemanns erfolgte am 28. 7. 1982 an den Präsidenten Olbing und wurde am 12. 9. 1982 im Rahmen der Sitzung von Vorstand und Beirat besprochen. Siehe Protokoll in ebd. Wiedemann schlug Seidler als medizinhistorischen Experten für die Mitarbeit vor. Der Vorstand legte wiederum Seidler nahe, H.-R. Wiedemann, G. Joppich und E. Püschel als Mitglieder zu benennen. Dass der Antrag von Wiedemann eingereicht wurde, belegt dessen Sensibilität für schriftliche Überlieferungen. Er hatte zu seinem Ärgernis bei der Übernahme der Klinikleitung in Kiel (1960) feststellen müssen, dass sein Amtsvorgänger Werner Catel persönliche aber auch sachliche Unterlagen entsorgt hatte, die für die Geschäfte der Klinikleitung unabdingbar waren. Vgl. Petersen / Zankel, ›Ein exzellenter Kinderarzt, wenn man von den Euthanasie-Dingen einmal absieht‹, S. 199. Wie Catel gegenüber seinem Freiburger Kollegen Walter Keller zugab, hatte er die Methode, verbrannte Erde zu hinterlassen, bereits bei seinem Weggang aus Leipzig angewandt. Catel an Keller, 18. 6. 1962. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel. 520 Antrag Wiedemann an Olbing, 28. 7. 1982. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Leitz-Ordner 1 DGKJ e.V. Vorstand Protokolle 1980 – 1983. Dass Wiedemann zu den traditionsbewussten Mitgliedern gezählt werden muss, dokumentiert eine unter seinem Vorsitz der Jahrestagung 1977 in Kiel gezeigte historische Ausstellung zu »hervorragenden Pädiater-Persönlichkeiten«, die auf großes Interesse der Tagungsteilnehmer stieß. Vgl. Windorfer / Schlenk, Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde, S. 69. Die genauen Inhalte der Ausstellung werden nicht genannt. 521 Protokoll der Vorstandsberatung am 30. 10. 1980, Anlage 2, S. 2. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Depositum Gesellschaft für Pädiatrie der DDR. D 229 Band 2: Vorstandssitzungen der Gesellschaft 1976 – 1980.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

179

Eduard Seidler522 erstellte nun für den Münchener Festakt eine Ausstellung über die Geschichte der Fachgesellschaft.523 Laut der Erinnerung Seidlers war eine der Ausstellungsvitrinen thematisch auf die Zeit des Nationalsozialismus ausgerichtet. Ein Exponat habe die gutachterliche Beteiligung von Ernst Wentzler, Werner Catel und Hans Heinze im Reichsausschussverfahren belegt. Diese konkrete Thematisierung im Rahmen der Jubiläumsveranstaltung rief, so Seidler, entrüstet-ablehnende Reaktionen vor allem bei älteren Mitgliedern der Fachgesellschaft hervor.524 In der Eröffnungsansprache des Präsidenten Hermann Olbing wurde die Zeit des Nationalsozialismus einzig in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem wissenschaftlichen Rückstand der Pädiatrie erwähnt: »Die Abschottung in der Zeit des Dritten Reiches, während des Krieges und in den ersten Notjahren nach Kriegsende stürzte die Pädiatrie unseres Landes aus ihrer bis dahin führenden Position in der Welt der Provinzialität zurück. Erst nach vielen Jahren konnte der Anschluß an das internationale Niveau wieder gewonnen werden.«525

Für den Festakt selbst unterlag die Benennung der Euthanasie-Verbrechen von Kinderärzten weiterhin einem Tabu, obwohl sie in der Ausstellung benannt wurden. Schließlich hielt Gerhard Joppich, ehemaliger Vorsitzender der DGfK im Jahr 1960, einen Festvortrag über die pädiatrischen Vorbilder der Fachgesellschaft. Joppichs Schilderungen der Person Franz Hamburger (1874 – 1954)526 trugen revisionistische Züge, wenn darin ausschließlich dessen wissenschaftliche Leistungen referiert, aber seine Nähe zum Nationalsozialismus und seine antisemitischen Kampagnen als Vorsitzender der Fachgesellschaft (1938) ausgeblendet wurden.527 522 Wie Anm. 520. 523 Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ließen sich keine Unterlagen über die Ausstellung finden. Daher konnte weder die konzeptionelle Anlage noch das damals verwendete Quellenmaterial der Ausstellung rekonstruiert werden. 524 Persönliche Mitteilung von Eduard Seidler in einem Telefonat, Januar 2007. 525 Olbings weitere Andeutungen von den »Großtaten« und auch »Irrwegen« der deutschen Kinderärzte ließen Spielraum für vielfältige Interpretationen. Ansprache des Präsidenten Hermann Olbing, 12. 9. 1983 zum Festakt zum hundertsten Jahrestag der Gründung der Gesellschaft für Kinderheilkunde, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Ordner 1 DGfK Vorstand, Protokolle, Eröffnungsansprache, Jahresbericht 1980 – 1983 1a. 526 Leiter der Universitätskinderklinik Wien seit 1930, Mitglied NSDAP und NS-Ärztebund, Mitherausgeber der Münchener Medizinischen Wochenschrift im J. F. Lehmanns Verlag. Vgl. Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 222. Vgl. Seidler, Kinderärzte 1933 – 1945, S. 56 f. Mitglied der NSDAP Nr. 6334240, Mitglied im NSD-Ärztebund seit 10. 3. 1941. Bundesarchiv Berlin (BDC). Vgl. auch: Lennert, Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und der Karger-Verlag 1938/39. 527 Gerhard Joppich, Begegnung mit großen Pädiatern aus der Frühzeit der deutschen Kinderheilkunde. Festvortrag, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 132 (1984), S. 318 – 324.

180

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Kritischer fiel der zur historischen Ausstellung erstellte Band »Lebendige Pädiatrie« aus; von Paul Schweier (Tagungsvorsitzender München) und Eduard Seidler herausgegebenen. Im Abschnitt Aspekte der Kinderheilkunde im »Dritten Reich« finden sich Erläuterungen zum Umgang der DGfK mit ihren jüdischen Mitgliedern, zur »Gleichschaltung« der Fachgesellschaft und zu »prononcierten Einzelaktivitäten« von Kinderärzten. Es werden Thilo Brehme (1897-?)528 und auch Franz Hamburger benannt, die – gegen vorgeblich verbreitete innere Widerstände von Kollegen – versuchten, die DGfK programmatisch auf nationalsozialistischen Kurs zu bringen. In zwei Absätzen wurde ein Abriss zur NS-Kindereuthanasie vorgestellt. Seidler ging von 5.000 Minderjährigen aus, die in 21 Reichsausschussstationen (Kinderfachabteilungen) durch Injektionen oder Nahrungsentzug gezielt getötet worden waren. Er stützte sich hierbei auf die damals aktuellen Beiträge zweier medizinhistorischer Kollegen aus Berlin.529 In der Darstellung blieb die Verantwortlichkeit auf die pädiatrischen Gutachter Catel und Wentzler beschränkt. Die Frage nach den anderen an der Kindereuthanasie beteiligten Kinderärzten wurde nicht gestellt. Allein die genannte Zahl der Opfer hätte den Schluss nahelegen können, dass nicht zwei Kinderärzte allein verantwortlich gewesen sein konnten. Da hinsichtlich weiterer beteiligter Kollegen keine systematischen Untersuchungen vorlagen, wurde in dem Band z. B. ein heroisches Bild des angesehenen Jenaer Pädiaters Jussuf Ibrahim entworfen. Ibrahim habe wie auch eine Reihe anderer Kollegen, »unter Einsatz« seiner »Existenz« die Euthanasie unterlaufen.530 Wie nur kurze Zeit später, Mitte der 1980er-Jahre, durch den Journalisten Ernst Klee (*1943) sowie durch den Historiker und Politologen Götz Aly (*1947) in der bundesdeutschen Öffentlichkeit bekannt wurde, war die Allerdings ist hier weniger die Ausblendung der NS-Zeit durch Joppich der bemerkenswerte Befund, sondern die Tatsache, dass 1983 keine Korrekturen vor dem Abdruck vorgenommen wurden. Zu Joppich als HJ-Arzt: Klee, Personenlexikon zum Dritten Reiches, S. 289. 528 Leitung der Kinderklinik Braunschweig seit 1938, Mitglied der NSDAP seit 1. 5. 1933, Nr. 2204630, stellv. Kreisobmann der NS-Kulturgemeinde, Kulturreferent DAF 1933 – 1938, Truppenarzt NS-Fliegerkorps, Mitglied NSD-Ärztebund und NS-Volkwohlfahrt. Bundesarchiv Berlin (BDC). Vgl. auch: Seidler, Kinderärzte 1933 – 1945, S. 53. Thilo Brehme fühlte sich im Rahmen der DGfK-Jahrestagung 1934 zu einer Erwiderung auf angebliche Vorwürfe gegenüber der Pädiatrie »wegen Erhaltung lebensunwerten Lebens« herausgefordert: »Es ist möglich, dass eine neue, mehr die Gesamtheit als das Einzelindividuum berücksichtigende ethische Grundhaltung uns einmal zwar nicht die Verpflichtung auferlegt, wirklich lebensunwertes Leben auszumerzen, aber vielleicht doch die Freiheit lässt, gegebenenfalls nichts zu seiner Erhaltung zu tun.« Thilo Brehme, Aufgaben und Bedeutung der Kinderheilkunde im neuen Deutschland, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 62 (1934), S. 183 – 185, hier : S. 184. 529 Gerhard Baader und Rolf Winau im Tagungsband der Evangelischen Akademie Bad Boll (Hg.), Medizin im Nationalsozialismus, Tagung vom 30.4.–2.5.1982 in Bad Boll, Bad Boll 1982. 530 Paul Schweier und Eduard Seidler (Hg.), Lebendige Pädiatrie, München 1983, S. 72.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

181

Jenaer Universitätskinderklinik, hierbei durch Ibrahims Eigeninitiative, in das Tötungsprogramm eingebunden.531 Schließlich blieb in dem Band auch jene für die Kinderheilkunde schmerzliche Frage nach den Namen, Lebenswegen und Familien der getöteten Kinder unausgesprochen und somit unbeantwortet. Stattdessen findet sich eine Bezugnahme auf die Nachkriegsauseinandersetzung um Werner Catel. Mit einem Zitat aus Guido Fanconis Rezension zu Catels zweiter Rechtfertigungsschrift von 1966 zog man eine klare Grenzlinie zur »Perversion ärztlichen Gewissens« durch Catel. Zur Auswirkung der Diskussion um die »begrenzte Euthanasie« hieß es in dem Band: »Die deutsche Pädiatrie in der Nachkriegszeit war schwer belastet durch die Diskussion um diese Publikationen, die unverständliche zeitweise Rehabilitierung ihres Verfassers und seine Kontroverse mit Rudolf Degkwitz […].«532

Einerseits ist zu Beginn der 1980er-Jahre die Tendenz erkennbar, die eigene Fachgesellschaft als an Werner Catel Leidende darzustellen, auf den sie selbst in der Auseinandersetzung auffällig fokussiert war. Andererseits dokumentieren der Jubiläumsband und auch die nachfolgenden Aktivitäten, dass die Historische Kommission den Anspruch erhob, ihre Aufgabe nicht nur auf die Sicherung von historischen Unterlagen der DGfK zu beschränken. Im Jahr 1988 begann eine junge, historisch interessierte Medizinerin auf der Basis des gesammelten Archivmaterials ihr Dissertationsprojekt zur Geschichte der Fachgesellschaft. Die Betreuung übernahm Eduard Seidler, der ihr den Themenvorschlag dazu unterbreitet hatte.533 In ihrer Arbeit, die nach vier Jahren abgeschlossen werden 531 Klee wies 1983 und 1985 auf die Beteiligung der Kinderklinik Jena an der Kindereuthanasie hin, jedoch noch ohne Namensnennung Ibrahims. Vgl. Ernst Klee, »Euthanasie« im NSStaat. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, Frankfurt am Main 1983, S. 425; sowie Ernst Klee, Dokumente zur »Euthanasie«, Frankfurt am Main 1985, S. 302 f. Ebenso: Götz Aly und Karl Friedrich Masuhr, Der diagnostische Blick des Gerhard Kloos, in: Götz Aly (Hg.), Reform und Gewissen. »Euthanasie« im Dienst des Fortschritts, Beiträge zur Nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 2, Berlin, 1985, S. 81 – 106, hier : S. 102. Ibrahim hatte während des Krieges mehrere in seiner Klinik behandelte Kinder mit einer eindeutigen Anfrage zur Tötung nach Stadtroda überwiesen, wo sich damals eine Reichsausschussstation befand. Vgl. Susanne Zimmermann, »Euthanasie wäre durchaus zu rechtfertigen …«. Der Jenaer Professor Jussuf Ibrahim und die NS-Krankenmorde, in: Forsbach (Hg.), Medizin im »Dritten Reich«, S. 81 – 98; Sandra Liebe, Prof. Dr. med. Jussuf Ibrahim (1877 – 1953). Leben und Werk, Diss. Universität Jena 2006; Susanne Zimmermann (Hg.), Quellen zur Geschichte Thüringens. Überweisung in den Tod. Nationalsozialistische »Kindereuthanasie« in Thüringen, Erfurt 32008. Siehe auch den Abschnitt zur geheimen Vergangenheitspolitik des MfS der DDR in dieser Arbeit. 532 Schweier / Seidler, Lebendige Pädiatrie, S. 74. 533 Ute Jahnke-Nückles, Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Diss. Freiburg im Breisgau 1992. JahnkeNückles verwendete viel Zeit darauf, die Akten der Fachgesellschaft zu erschließen und für ihre Studie nutzbar zu machen. Persönliche Mitteilung U. Jahnke-Nückles in einem Tele-

182

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

konnte, wurden vornehmlich die Entwicklungen der DGfK in der Zeit der Weimarer Republik rekonstruiert. Der kürzere Dissertationsteil zum Nationalsozialismus erscheint dagegen eher als Ausblick bzw. als Aufforderung zu weiteren Forschungen. Die Veröffentlichungen »Schriftenreihe zur Geschichte der Kinderheilkunde aus dem Archiv des Kaiserin Auguste Viktoria Hauses (KAVH) – Berlin« müssen zur Aufarbeitung der DGfK-Geschichte gezählt werden, waren doch einige der Autoren zugleich in der Historischen Kommission vertreten. In einem 1992 von Leonore Ballowitz herausgegebenen Heft legte der Kinderarzt Thomas Lennert, von dem mehrere Beiträge zu Lebenswegen jüdischer Pädiater erschienen, eine Studie zur »Gleichschaltung« der Berliner Pädiatrie vor. Ihm ging es persönlich darum, »Namen wieder in Erinnerung zu rufen und versäumte ›Trauerarbeit‹ nachzuholen«.534 Abgesehen von der erwähnten, 1988 begonnenen Studie von Jahnke-Nückles ließ sich eine weiterführende Beschäftigung innerhalb der DGfK mit der NSKindereuthanasie für die 1980er-Jahre nicht belegen; und das, obwohl durch das Buch »›Euthanasie‹ im NS-Staat« von Ernst Klee (1983) und eine Arbeit von Götz Aly (1984) Kenntnisse über die Beteiligung von mehr als 20 Kollegen am Reichsausschussprogramm vorlagen.

4.2.4. »Aufbruch« zur »Rückbesinnung auf die Vergangenheit«: Hannover 1994 bis Potsdam 2010 1994 wurde im Rahmen der DGfK-Jahrestagung in Hannover unter der Präsidentschaft von Johannes Brodehl (*1931) ein Symposium »Pädiatrie in Deutschland 1918 – 1945« abgehalten.535 Die Initiative ging von Brodehl aus, der in Vorbereitung der Jahrestagung die Kongressberichte seiner Vorgänger eingesehen hatte. Dabei hatte er festgestellt, dass die Zeit des Nationalsozialismus weitgehend mit einem »Mantel des Schweigens und der Scham zugedeckt« (J. Brodehl) worden war. Dies galt sowohl für die Geschichte der Fachgesellschaft fonat, 4. 11. 2008. Ihre Studie ist bis heute nur in Bibliotheken, nicht jedoch im Handel erhältlich. 534 Thomas Lennert, Die »Gleichschaltung« der Berliner Kinderheilkunde 1933, in: Schriftenreihe zur Geschichte der Kinderheilkunde aus dem Archiv des Kaiserin Auguste Viktoria Hauses (KAVH) – Berlin 10 (1992), S. 5 – 30. 535 Die Jahrestagung enthielt auch eine Sektion zur Geschichte der Pädiatrie der DDR, die nach der Wiedervereinigung 1991 mit der DGfK zusammengeführt worden war. Vgl. Supplement 2, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 142 (1994). Zur Geschichte der Gesellschaft für Pädiatrie der DDR siehe auch: Historische Kommission der DGKJ (Hg.), 125 Jahre Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. 1883 – 2008. Jubiläumspublikation der DGKJ, Berlin 2008.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

183

als auch für die Biographien der ehemaligen Vorsitzenden selbst. Brodehl fasste den Entschluss, die Epochen der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus explizit mit einem Historischen Symposium anzusprechen. Die Planung und Organisation sollte in Absprache mit der Historischen Kommission erfolgen.536 Neben allgemeinen Beiträgen zur Geschichte der deutschen Pädiatrie wurde in mehreren Referaten über das Schicksal verfolgter jüdischer Kinderärzte und den in der damaligen DGfK verbreiteten Antisemitismus berichtet.537 Wie das Programm ausweist, kam auch die NS-Kindereuthanasie zur Sprache: Zwei Referenten informierten über das von Wilhelm Bayer geleitete Hamburger Kinderkrankenhaus Rothenburgsort während der Zeit des Nationalsozialismus. Der Medizinhistoriker Udo Benzenhöfer stellte erste Forschungsergebnisse zur Rolle von Pädiatern bei der Planung der NS-Kindereuthanasie vor.538 Eduard Seidler hielt einen Vortrag über das Verhältnis von Kinderheilkunde und Staat im 20. Jahrhundert, in dem er Facetten der Kinderheilkunde in der Zeit des Nationalsozialismus behandelte und auf das Forschungsdesiderat NS-Kindereuthanasie hinwies: »Wir alle wissen heute von den mindestens 21 sog. ›Kinderfachabteilungen‹ des Reichsausschusses, in denen bis Kriegsende etwa 5.000 Kinder durch Morphininjektionen oder Nahrungsentzug getötet wurden, weil sie der deutschen Norm nicht entsprachen. […] Wir wissen noch kaum etwas von denen, die dies faktisch getan haben. Es ist aber ein weiteres Zeichen der schwer begreiflichen Ambivalenz dieser Zeit, daß nirgendwo in den Archiven ein offizieller Protest aus den Reihen der Kinderärzte gegenüber diesen Aktionen dokumentiert ist. Es gab allerdings – dies muß betont werden – einzelne konkrete und tapfere Versuche an einigen Orten, die Tötung solcher Kinder zu unterlaufen.«539

536 Johannes Brodehl, Wie es dazu kam. Persönliche Erinnerungen an den Aufbruch der DGfKJ zur Rückbesinnung auf ihre Vergangenheit. Ansprache beim ersten Zusammentreffen mit den Gästen am Vorabend der Gedenkveranstaltung, 2. 10. 1998, in: Öffentliche Gedenkveranstaltung im Rahmen der 94. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Dresden Schauspielhaus, 3. Oktober 1998, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde, Suppl. 1 (1999), S35-S37. 537 Hier z. B.: W. Thal (Magdeburg), Prof. Dr. Albert Uffenheimer (1876 – 1941) – später Nachruf für einen jüdischen Kinderarzt. Programm zur 90. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, Hannover 18. bis 21. September 1994, Archiv für Kinderund Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Ordner 36 DGfKJ, Programme 1990 – 1996, 1997 – 2000. 538 G. Ruhrmann, W. Holthusen (Reinbek), Das Kinderkrankenhaus Rothenburgsort im »Dritten Reich« sowie Udo Benzenhöfer, R. Heimig (Hannover), Zur Rolle von Pädiatern bei der Planung der sogenannten »Kindereuthanasie« im Dritten Reich. Ebd. 539 Eduard Seidler, Die Kinderheilkunde und der Staat, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 143 (1995), S. 1184 – 1191, hier: S. 1190.

184

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Wie weit das Wissen um die NS-Kindereuthanasie im Detail in der Gruppe der deutschen Kinderärzte 1995 verbreitet war, lässt sich nicht eruieren. Der von Seidler publizierte Forschungsstand dürfte allerdings zu dessen Verbreitung beigetragen haben. Aus der Art der Historisierung, die dem Primat einer differenzierten Sicht auf die Vergangenheit folgte, ist, wie schon aus Seidlers Formulierungen der 1980er-Jahre, das Bedürfnis ablesbar, der Darstellung von Medizinverbrechen in der Kinderheilkunde den Widerstands-Aspekt zur Seite zu stellen. Die erhofften Nachweise eines solchen Widerstands ließen sich, wie man seitens der Historischen Kommission feststellen musste, selbst bei intensiver Suche kaum erbringen. Seidler konstatierte zugleich, dass zu wenig über »die gerade in der deutschen Pädiatrie teilweise so makabren Reaktionen auf all diese Dinge in der unmittelbaren Nachkriegszeit« bekannt sei; ein erneuter direkter Verweis (erstmals im Jubiläumsband von 1983) auf die Auseinandersetzung um und mit Werner Catel. Insbesondere deren Rekonstruktion sei vorläufig nicht möglich, weil die »einschlägigen Korrespondenzen« zur Kontroverse zwischen Rudolf Degkwitz und Werner Catel in den Akten der DGfK nicht mehr auffindbar seien.540 Für die Einschätzung der weiteren Entwicklungen bleibt festzuhalten: Im Jahr 1994 standen, wie bereits im Band »Lebendige Pädiatrie« von 1983, thematisch sowohl die Geschichte der verfolgten jüdischen Pädiater als auch die NS-Kindereuthanasie zur Diskussion. Das Symposium in Hannover rief ein unerwartet großes Echo unter den Tagungsteilnehmern hervor. 50 Jahre nach dem Kriegsende und etwa 30 Jahre nach dem offenen Streit um Werner Catel wurde unter Kinderärzten zum ersten Mal eine kritische Diskussion über die Rolle der Kinderheilkunde im Nationalsozialismus geführt. In Reaktion darauf kam es auf der Mitgliederversammlung zu einem Antrag, »eine offizielle Stellungnahme der DGfK zu dem zu erarbeiten, was vor 1945 passiert ist und was nach 1945 nicht passiert ist«.541 Diese Forderung implizierte nicht nur die Annahme der historischen Verantwortung für die eigene Vergangenheit im Nationalsozialismus. Im selben Atemzug wurden auch Defizite in der Aufarbeitung derselben in den mittlerweile fünf Nachkriegsdekaden erkannt. Ein halbes Jahr später mündete diese neue Diskussion in konkrete Überle540 Ebd., Anm. 40, S. 1191. 541 Protokoll der Mitgliederversammlung der DGfK, Hannover, 20. 9. 1994; Ordner 1 DGfK, Sitzungen und Versammlungen 1991 – 1996. Der ursprüngliche Antrag eines Mitgliedes auf der Mitgliederversammlung (Prof. Natzschka, Hannover) von 1994 sah vor, eine allgemeine Erklärung zu den Ereignissen in der NS-Zeit zu formulieren. Protokoll der Vorstandssitzung vom 15. 2. 1995. Beide Quellen in Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Ordner 1 Mitgliederversammlung der DGfK, 11.9.1995 – 13.9.1995.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

185

gungen des Präsidiums, ein Forschungsprojekt über das Schicksal der jüdischen Kinderärzte Deutschlands zu finanzieren,542 das 1998 mit einer international beachteten Gedenkveranstaltung in Dresden seinen vorläufigen Abschluss fand. Die Gedenkrede des damaligen Präsidenten, Prof. Lothar Pelz (*1934), enthielt die erste offizielle Stellungnahme der Fachgesellschaft zu den Jahren 1933 bis 1945. Darin hieß es konkret:543 »Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde hat in der Zeit des Nationalsozialismus Schuld auf sich geladen. Herausragende Fachvertreter haben sich der politisch verhängnisvollen Doktrin der ›Rassereinheit‹ und der völkischen Gesundheitspolitik der nationalsozialistischen Jugendführung zur Verfügung gestellt. Die Mehrzahl der deutschen Kinderärztinnen und Kinderärzte jener Generation hat die Zerstörung der Existenz von über 700 jüdischen oder politisch mißliebigen Kolleginnen und Kollegen widerstandslos geduldet. Sie und auch die Angehörigen der unmittelbaren Nachkriegsgeneration haben dazu geschwiegen. Dies öffentlich festzustellen und zu bedauern, aber vor allem die Erinnerung an die Schicksale unserer politisch verfolgten, vertriebenen und ermordeten Kolleginnen und Kollegen für zukünftige Generationen wach zu halten, ist das besondere Anliegen dieser Gedenkstunde.«

Anhand der sich an die Dresdener Gedenkveranstaltung anschließenden Korrespondenz des Präsidenten kann gezeigt werden, dass Lothar Pelz die von ihm und in Abstimmung mit Eduard Seidler entworfene öffentliche Erklärung als Anerkennung der allgemeinen historischen Verantwortung verstanden wissen wollte, wenngleich sich die Erklärung dem Wortlaut und dem Veranstaltungsanlass nach primär auf die Verfolgung jüdischer Pädiater bezog. Der vormalige Präsident Johannes Brodehl sprach Pelz nach der Veranstaltung seinen Dank mit 542 Im Protokoll der gemeinsamen Sitzung von Vorstand und Beirat am 6. 9. 1995 in Krefeld wurde die anvisierte Summe von 20.000 DM bis 25.000 DM für das zweijährige Projekt von E. Seidler festgehalten. Der endgültige Beschluss von Vorstand und Mitgliederversammlung, Mittel für das Aufarbeitungsprojekt bereitzustellen, erging auf der Jahrestagung in Krefeld 1995. Anschreiben Seidler an den Präsidenten Eberhard Schmidt, 24. 9. 1996; Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Ordner 1 DGfK, Sitzungen und Versammlungen 1991 – 1996 sowie Ordner 1 Vorstand der DGKJ e.V., Protokolle 1995 – 1999 (Mitgliederversammlung, Vorstand, Beirat, Sonstiges). 543 N.N., Erklärung des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde Supp. 1 (1999), S3. Lothar Pelz und Eduard Seidler planten, die Erklärung im Deutschen Ärzteblatt abdrucken zu lassen. Seidler wies gegenüber der Ärzteblatt-Redaktion darauf hin, dass es in anderen Fachdisziplinen kein vergleichbares Projekt gebe. Das Deutsche Ärzteblatt lehnte jedoch den vom DGKJ-Präsidenten Lothar Pelz erbetenen vollständigen Abdruck der Erklärung ab. Schriftwechsel L. Pelz, E. Seidler mit Norbert Jachertz im Dezember 1998. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Ordner 5 DGfK e.V., Gedenkveranstaltung 1998 in Dresden.

186

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

den Worten aus, dieser habe sich »große Verdienste um die deutsche Pädiatrie erworben«. Pelz antwortete noch am selben Tag: »Daß ich Sie – und wie ich glaube – auch unsere Ehrengäste nicht enttäuschte, erfüllt mich mit großer Zufriedenheit, habe ich mich doch seit Catel’s [sic!] mißglückter Rechtfertigung in seinem Buche ›Grenzsituationen des Lebens‹ (1962) […] mit medizingeschichtlichen Problemen unserer jüngsten Geschichte beschäftigt.«544

Die Unterlagen des Präsidenten dokumentieren für das Jahr 1998 konkrete Überlegungen, eine offizielle Stellungnahme zur »Frühgeburt an der Grenze der Lebensfähigkeit des Kindes« zu unterstützen, die von der Gesellschaft für Neonatologie und Pädiatrische Intensivmedizin e.V. erarbeitet worden war. Pelz konnte ohne Mehrheitsbeschluss des Vorstandes keine Zusage machen, brachte aber seine Einschätzung zum Ausdruck, dass die Fachgesellschaft schon wegen der »Last der Vergangenheit« ein »klares Bekenntnis« abgeben sollte. Im Briefwechsel mit Theodor Hellbrügge zum selben Sachverhalt erklärte dieser, einen Artikel über das damit verbundene Problem der »Wertigkeit« verfassen zu wollen, und äußerte sich weiter : »das haben wir ja gerade in unserem Lande leidvoll erlebt, kommen wir schnell in den Bereich des Unmenschlichen. Es waren die gleichen Gaskammern, die unter maßgeblicher Förderung des Leipziger Pädiaterscatel [sic!] das ›lebensunwerte‹ Leben vernichteten, die nur nach Auschwitz transportiert zu werden brauchten, um dort ›rassisch‹ unwertes Leben umzubringen. […] Sie haben jedenfalls völlig recht, daß sie die Gefahr einer Wiederholung der Kindereuthanasie ähnlich jener im 3. Reich am Horizont sehen.«545

Eduard Seidler legte begleitend zur Vorbereitung der Gedenkveranstaltung in Dresden die Studienergebnisse über die jüdischen Pädiater zunächst in einem Vorbericht vor546 und präsentierte später die rekonstruierten Lebenswege der jüdischen Pädiater in Buchform.547 Darin stellte er fest, dass es auf die selbst gestellte Frage, warum der Auftrag zu diesem Projekt erst so spät kam, keine rechtfertigende Antwort gebe. Die Gründe gehörten seiner Einschätzung nach 544 Brodehl an Pelz und Pelz an Brodehl, 7. 10. 1998. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Ordner 5 DGfK e.V., Gedenkveranstaltung 1998 in Dresden. Zur Rolle von L. Pelz in der DDR-Pädiatrie siehe den Abschnitt 5.2.2. 545 Hellbrügge an Pelz, 17. 3. 1998 Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Ordner 5 DGfK e.V., Gedenkveranstaltung 1998 in Dresden. 546 Eduard Seidler, Das Schicksal jüdischer Kinderärzte im Nationalsozialismus. Ein Vorbericht, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 146 (1998), S. 744 – 753. 547 Eduard Seidler, Kinderärzte 1933 – 1945. Entrechtet – geflohen – ermordet, Bonn 2000. Der Band erschien im Bouvier-Verlag.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

187

»in den Bereich der kollektiven Verdrängung, die lange Jahre der deutschen Nachkriegsgeschichte geprägt hat«.548 Bereits in der ersten Auflage des Buches konnte Seidler berichten, dass der Anteil von Kinderärzten jüdischer Herkunft mit fast 54 Prozent überdurchschnittlich hoch lag. 744 der von NS-Verfolgungsmaßnahmen betroffenen Kinderärzte und -ärztinnen konnten namentlich erfasst und die Lebenswege von 629 der 744 Kollegen und Kolleginnen nachvollzogen werden. Die Dresdener Gedenkveranstaltung hatte auch den Effekt, dass im Nachklang zahlreiche Hinweise auf Schicksale jüdischer Pädiater eingingen, sodass eine zweite Auflage notwendig wurde. Der neue Band erschien nun im KargerVerlag, der während der NS-Zeit ein jüdischer Familienbetrieb gewesen war und dessen Verleger selbst im Nationalsozialismus ins Schweizer Exil gezwungen worden waren.549 Berücksichtigt man zudem die offizielle Schulderklärung der Kinderärzte, kann dieses Aufarbeitungsprojekt im Vergleich zu denen anderer Medizinergruppen als ungewöhnlich bezeichnet werden, nicht etwa wegen des Zeitpunkts,550 sondern wegen des absoluten Aufklärungsanspruchs. Die Bemühungen um eine Aufarbeitung der NS-Kindereuthanasie waren weitaus unsystematischer und vergleichsweise langsam vorangeschritten. Die Notwendigkeit, eine vergleichbare Veranstaltung mit entsprechender Stellungnahme vorzubereiten, sah man – soweit der Blick in die Unterlagen den richtigen Schluss zulässt – zu diesem Zeitpunkt noch nicht als gegeben. Das Protokoll einer Vorstandssitzung im Jahr 1999 weist zumindest aus, dass die Historische Kommission neu formiert wurde. Der zukünftige Auftrag sollte

548 Ebd., S. 11. 549 Eduard Seidler, Kinderärzte 1933 – 1945. Entrechtet – geflohen – ermordet, erweiterte Neuauflage, Basel 2007. Vgl. Lennert, Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und der Karger- Verlag 1938/39. 550 Gegenüber dem Chefredakteur des Deutschen Ärzteblatts Norbert Jachertz erklärte sich Eduard Seidler unzufrieden darüber, dass der dort erschienene Beitrag die Bedeutung des Schuldbekenntnisses seiner medizinischen Disziplin nicht gebührend zum Ausdruck gebracht habe, zumal es »in dieser Form erstmalig in Deutschland« gewesen sei. Seidler an Jachertz, 17. 12. 1998, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Ordner 5 DGfK e.V., Gedenkveranstaltung 1998 in Dresden. Abgesehen von der oben beschriebenen Erklärung der Berliner Ärztekammer im Jahr 1988 setzten zu Beginn der 1990er-Jahre innerhalb der psychiatrischen und gynäkologischen Fachgesellschaften Auseinandersetzungen mit der eigenen Vergangenheit und den Opfern ein. Siehe dazu die Einleitung in dieser Arbeit. Auch eine weitere Medizinergruppe, nämlich die Landesärztekammer Hessen, hatte bereits 1988 den Antrag der oppositionellen Liste 6 zur Aufarbeitung des Schicksals jüdischer Ärzte in Hessen angenommen und ein Publikationsprojekt in die Wege geleitet. Siehe dazu den Abschnitt 4.1.5.

188

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

»die Aufarbeitung der Nachkriegsgeschichte sein. Herr Brodehl und Herr Seidler werden gebeten, für die Februarsitzung Namen für eine neue Kommission zu benennen.«551

Zunächst erbat der neue Präsident der DGKJ, Günter Mau, im Jahr 2000 bei Seidler die Neukonstitution der ruhenden Kommission. Seidler steckte, nachdem er mehrere Personen mit Sachverstand vorgeschlagen hatte, die Ziele der neuen Kommission inhaltlich ab: »Die allgemeinen Aufgaben der Kommission haben sich seit der Gründung 1982 im Kern nicht geändert: Sammlung, Bewahrung und Bereitstellung historischer Informationen und Materialien zur Geschichte der Gesellschaft und zur Entwicklung der deutschen (deutschsprachigen) Pädiatrie und ihrer Repräsentanten. Eingeschlossen ist die Entwicklung der pädiatrischen Spezialgebiete, der Untergruppierungen der Gesellschaft, des Berufsstandes der Kinderärzte sowie der sonstigen Heil- und Pflegeberufe. Aktuelle Aufgaben ergeben sich z. B. aus der Notwendigkeit, für die Erhebungsaktion des Bundesarchivs an den Kinderkliniken zur Kindereuthanasie in der NS-Zeit beratend und begleitend zur Verfügung zu stehen. Erste Kontakte mit dem Bundesarchiv sind aufgenommen und wurden äußerst dankbar beantwortet. Im Nachgang zu den Ereignissen um die Klinik in Jena sind ähnliche Aktivitäten zu erwarten. […]552

Wie aus dem Dokument hervorgeht, waren es zusätzliche Entwicklungen um das Jahr 2000, die eine Neukonstitution notwendig machten. Den Auslöser bildeten 551 Protokoll der Vorstandssitzung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin am 9. 9. 1999 in München, unterzeichnet von Mau und Pelz, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, L-01 DGKJ e.V. Vizepräsident Korrespondenz 2000, o. Pag. 552 Seidler an Mau, o. Dat. (etwa Mai 2000), Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, L-01 DGKJ e.V. Vizepräsident Korrespondenz 2000, o. Pag. Bei den in Vorschlag gebrachten Personen handelte es sich neben Seidler selbst um Johannes Brodehl, die Kinderärztin und Medizinhistorikerin Andrea Dörries, den Hallenser Kinderarzt Ernst Fukala, der bereits Kommissionsmitglied war, Thomas Lennert, vorhergehender Vorsitzender der Kommission, den Seidler wegen seiner Verdienste und »Berliner Verbindungen« hervorhob, den Medizinhistoriker und Leiter der Euthanasie-Gedenkstätte Hadamar, Georg Lilienthal, sowie Hedwig Wegmann, eine ehemalige Kinderkrankenschwester, die nicht nur zum Bereich der Berliner Pädiatriegeschichte promovierte, sondern auch seit Jahren mit der Betreuung des Archivs betraut war. Das Bundesarchiv führte seit dem Sommer 1998 zum Zweck der Erstellung eines Quelleninventars zur NS-Euthanasie per Anschreiben und Umfrage an etwa 1.000 Einrichtungen eine Erhebung relevanter Archivalien durch. Das Inventarisierungsprojekt, das sich auch um die Unterlagen der Universitätskinderkliniken bemühte, wurde gemeinsam von der DFG, der Bundesärztekammer und von der Robert Bosch-Stiftung finanziert. Vgl. Brigitte Jensen, DFG-Projekt Inventar der Quellen zur Geschichte der »Euthanasie«-Verbrechen 1939 – 1945, in: Bundesarchiv Berlin, Matthias Meissner (Red.), Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation. Frühjahrstagung 12.–14. Mai 2000 in Berlin-Lichterfelde, Schwerpunktthema: Archivbestände und »Euthanasie«, Berlin 2000, S. 66 – 75.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

189

die heftigen öffentlichen Auseinandersetzungen in Jena um den angesehenen Kinderarzt Jussuf Ibrahim und dessen Mitwisserschaft bzw. Beteiligung am Reichsausschussverfahren. Lothar Pelz stellte im Mai 2000 für die Tagesordnung des geschäftsführenden Vorstandes den Antrag auf »Diskussion und Vorbereitung einer Stellungnahme zur Beteiligung von Prof. Ibrahim an der T4-Aktion [sic!]«.553 Die entsprechende Sitzung in Braunschweig hielt den Beschluss fest, nach bisherigem Vorgehen weiterzuverfahren und »Herrn Prof. Seidler um eine Stellungnahme bezüglich des [sic!] Problematik der Jenaer Kinderklinik zu bitten«.554 Diese Aufarbeitungsereignisse gaben auch den Anlass zur Gründung einer zusätzlichen kleinen Arbeitsgruppe zur Geschichte der NS-Kindereuthanasie im Jahr 2002, die über die Person Seidlers mit der Historischen Kommission assoziiert war.555 Seidler hatte im Jahr 2001 stellvertretend für die Historische Kommission an einer Gedenkveranstaltung teilgenommen und den Forschungsstand zur NSKindereuthanasie in einem Literaturbericht zusammengefasst.556 Erste Arbeitsergebnisse der genannten Arbeitsgruppe zur NS-Kindereuthanasie wurden auf der Bonner Jahrestagung der DGKJ (2003) in Form mehrerer medizinhistorischer Vorträge zur Diskussion gestellt.557 Die jüngsten Entwicklungen können hier nur angedeutet werden.558 Seit 2007 wurden Vorbereitungen ins Auge gefasst, eine separate Gedenkveranstaltung für 553 Pelz an Mau, 22. 5. 2000, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, L-01 DGKJ e.V. Vizepräsident Korrespondenz 2000, o. Pag. Warum L. Pelz hierbei J. Ibrahim mit der Aktion T4 statt mit der Minderjährigeneuthanasie im Reichsausschussverfahren in Verbindung brachte, bleibt ungeklärt. 554 Beschlußprotokoll der Sitzung des geschäftsführenden Vorstandes am 15. 7. 2000 in Braunschweig. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, L-01 DGKJ e.V. Vizepräsident Korrespondenz 2000, o. Pag. 555 Eduard Seidler, Editorial Kinder-»Euthanasie«, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 151 (2003), S. 1010 – 1011. Im Jahr zuvor wurde folgender Beitrag veröffentlicht: Eduard Seidler und M. Posselt, Jussuf Ibrahim. Anmerkungen zu seinem wissenschaftlichen Schrifttum, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 150 (2002), S. 1000 – 1003. Damit sollte der Vorwurf widerlegt werden, dass Ibrahim als Vordenker der Kindereuthanasie angesehen werden kann. 556 Eduard Seidler, »Kindereuthanasie« im Nationalsozialismus, in: Christoph Mundt, Gerrit Hohendorf und Maike Rotzoll (Hg.), Psychiatrische Forschung und NS-»Euthanasie«. Beiträge zu einer Gedenkveranstaltung an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg. Heidelberg 2001, S. 129 – 144. 557 Siehe dazu die abgedruckten Beiträge von Thomas Beddies, Thomas Oelschläger und Udo Benzenhöfer in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 151 (2003). Ein Jahr zuvor war die Historikerin Sybille Gerstengarbe auf der Jahrestagung der DGfKJ zu einem Vortrag über Werner Catel und die in den 1960er-Jahren geführten Debatten um seine Mitgliedschaft in der »Leopoldina« Halle eingeladen worden. Siehe dazu Abschnitt 5.1.2. in dieser Arbeit. 558 Erstens lagen zum Zeitpunkt des Quellenstudiums die neuesten Unterlagen noch nicht im Archiv der DGKJ vor. Zweitens bringt die Rekonstruktion der jüngsten Entwicklungen auch methodologische Probleme einer Autohistorisierung des Autors mit sich.

190

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

die Opfer der NS-Kindereuthanasie im Rahmen der kommenden Jahrestagung 2008 (Jubiläum 125 Jahre) abzuhalten. Als Initiator fungierte hierbei wiederum Lothar Pelz, der sich zwischenzeitlich in persönlicher medizinhistorischer Forschung intensiv mit der NS-Kindereuthanasie (Standort Brandenburg-Görden) und der Beteiligung von Kinderärzten am Einweisungssystem des Reichsausschussverfahrens beschäftigt hatte.559 Nach einer weiteren Verschiebung um zwei Jahre fand im September 2010 eine Gedenkveranstaltung für die Opfer der Kindereuthanasie im Rahmen der DGKJ-Jahrestagung in Potsdam statt. Neben einer historischen Ausstellung und einem wissenschaftlichen Symposium verlas der Präsident der Fachgesellschaft, Prof. Fred Zepp, am 18. September eine öffentliche Stellungnahme. Die Frage nach der Verzögerung versuchte er ähnlich wie zuvor Seidler aus einer »langen Phase der kollektiven Verdrängung« zu erklären. Die intensivere innergesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Teil der historischen Verantwortung im Verlauf der zurückliegenden zehn Jahre sei »vielleicht auch in der Altersstruktur« begründet. Er beklagte, »dass lange – zu lange – nichts zur Aufklärung der Rolle der Kinderärzte in der NS-Zeit unternommen wurde und dass auch unsere Fachgesellschaft sich erst spät ihrer Verantwortung« gestellt habe. Anschließend gedachte er – dem Forschungsstand entsprechend – der mehr als 10.000 Kinder und Jugendlichen, die Opfer verschiedener Tötungsprogramme geworden waren, und benannte die Beteiligung von Kinderärzten und Kinderärztinnen: »Zweifellos ist es schmerzlich, geschichtliche Tatsachen rückhaltlos offen zu legen und Licht in das Dunkel der eigenen Vergangenheit zu bringen. Die Wahrheit anzunehmen, Schuld zu bekennen und sich dieser Verantwortung zu stellen, ist aber gleichzeitig […] eine angemessene Art der Entschuldigung bei den Opfern und ihren Angehörigen, von denen nicht wenige noch heute unter den Folgen der historischen Ereignisse leiden. […] Wir verneigen uns heute in Demut vor den Opfern und ihre [sic!] Angehörigen und bitten im Namen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin um Verzeihung für das Leid, das Kinderärztinnen und Kinderärzte ihnen in dieser Zeit zugefügt haben.«560

559 Lothar Pelz, Kinderärzte im Netz der »NS-Kindereuthanasie« am Beispiel der »Kinderfachabteilung« Görden, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 151 (2003), S. 1027 – 1032. Lothar Pelz, »… Aber ich sorge mich so um mein Kind …«. Kinderärzte und NS-»KinderEuthanasie«, Göttingen 2006. 560 Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V., Erklärung zur Gedenkveranstaltung am 18. September 2010 in Potsdam. http://www.dgkj.de/ueber_uns/geschichte/ gedenkveranstaltung_2010/ (31. 12. 2012).

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

191

4.2.5. Zwischenbilanz Der hier vorgestellte Streit um und mit Werner Catel in der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde ließ sich aufgrund einer als ungünstig zu bezeichnenden Dokumentenlage nur in groben Zügen nachzeichnen. Die früher existierende, wohl mehrere Ordner umfassende Kernkorrespondenz um den CatelStreit ist nicht in das 1982 gegründete Historische Archiv der DGfK eingegangen und muss möglicherweise als verloren gelten. Dank der allgemein aber günstigen Archivsituation konnten die damaligen Vorgänge in den 1960er-Jahren um die bestehenden »Krater« in der Aktenüberlieferung herum so weit rekonstruiert werden, dass sich einige zentrale Ergebnisse aus der Darstellung formulieren lassen. Der Streit in der DGfK begann mit einem öffentlichen Skandal um Catel und dessen gutachterliche Beteiligung an dem während des Krieges durchgeführten Kindereuthanasieprogramm. Die von ihm selbst an der Leipziger Universitätskinderklinik während des Krieges durchgeführten Kindstötungen waren dabei nicht Teil der Auseinandersetzung, da sie unter dem konsequenten Beschweigen durch Catel nicht bekannt wurden. Ihn belastende Aktenmaterialien müssen aufgrund von Kriegszerstörungen, aber auch von gezielten Aktenvernichtungen nach dem Kriegsende als verschollen gelten. Ausgelöst wurde der Skandal von einem pädiatrischen Kollegen Catels, der eine strafrechtliche Verfolgung sowie die öffentliche Auseinandersetzung um Catel bewirkte. Rudolf Degkwitz schuf damit jene vollendeten Tatsachen, durch die sich die DGfK in den 1960er-Jahren zur Beschäftigung mit Catel gezwungen sah. Im Zuge dessen entstand 1961 die erste und für lange Zeit einzige Erklärung einer Medizinergruppe, hier einer medizinischen Fachgesellschaft, zur NS-Euthanasie. Die Initiative zu diesem Schritt kam nicht aus der Mitte des Vorstandes selbst, sondern von einem Vertreter der gerade entstehenden Sozialpädiatrie, die sich primär mit der Rehabilitation behinderter Kinder befasste. Der DGfKVorstand war daraufhin bemüht, sich mit einer berufsethischen Begründung von der NS-Kindereuthanasie sowie von Neuforderungen nach Tötung »lebensunwerten Lebens« zu distanzieren. Die Erklärung von 1961 kann als Ausdruck und erster Schritt eines gruppeninternen Aushandlungsprozesses über die Annahme einer »kollektiven« historischen Verantwortung der Pädiatrie verstanden werden. Allerdings erfolgte dies in Reaktion auf die öffentlichen Debatten um Catel und wies noch keine Anzeichen einer umfassenden selbstkritischen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit einzelner Mitglieder der Fachgesellschaft auf. Der Fall der DGfK ist insofern ein Spezialfall der deutschen Nachkriegsauseinandersetzung mit den NS-Medizinverbrechen, da Catel der einzige der ehemaligen Euthanasie-Ärzte war, der nach 1945 wieder öffentlich und exponiert

192

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

für die Legalisierung und Durchführung einer »Vernichtung lebensunwerten Lebens« eintrat. Insbesondere mit seinem Buch von 1962 forderte er zu einer neuen Diskussion über die Euthanasie heraus. Dass er selbst den Diskussionsrahmen im Sinne einer »begrenzten Euthanasie« abzustecken versuchte, zeigt, dass ihm die Nachwirkungen der NS-Euthanasie durchaus bewusst waren. Geschickt versuchte Catel, den Mythos zu verbreiten, selbst Betrugsopfer der NSEuthanasie-Organisation gewesen zu sein. Bezüglich der Wirkungsgeschichte des Buches »Grenzsituationen des Lebens« lässt sich ein erster Überblick über das breite Spektrum an Reaktionen geben. Allgemein ergibt sich dabei das Bild einer tendenziell ablehnenden Haltung in der Öffentlichkeit, die aber direkt mit Catels bekannt gewordener Euthanasie-Vergangenheit verbunden war. Dies gilt auch für die Reaktionen von Kinderärzten, unten denen die Rezension des Sozialpädiaters Hellbrügge sowohl durch die Qualität der historischen Argumentation als auch durch die daraus allgemein abgeleiteten vergangenheits- und berufspolitischen sowie medizinethischen Implikationen hervorsticht. Hellbrügge stellt auch in generationeller Hinsicht eine Ausnahme dar, denn der Catel-Streit wurde überwiegend innerhalb der Generation Catels ausgetragen. Degkwitz, Bamberger, Fanconi, Freudenberg, Hottinger, de Rudder und Weber, alle zwischen 1884 und 1897 geboren, repräsentieren damit eine gemeinsame Kohorte der sogenannten Wilhelminischen Generation und traten gegen den gleichaltrigen Kollegen Catel auf. Aus der sogenannten Kriegsjugendgeneration beteiligten sich, soweit der Quellenstand eine Einschätzung erlaubt, nur Asperger, Köttgen und V. Gaupp mit Catel-kritischen Positionen an dem Streit, wobei für die ersten beiden eine oppositionelle Haltung zum Nationalsozialismus belegt ist. Bennholdt-Thomsen, Dost, Joppich, Mai, Loeschke und von Bormann, alle um 1905 geboren, zeichnen sich in dem Catel-Streit durch zurückhaltende oder mit Catel sympathisierende Positionen aus. Umso mehr fällt die Stimme des Sozialpädiaters aus der Zwischengeneration (nach der sogenannten Kriegsjugendgeneration und noch vor der sogenannten skeptischen Generation) auf. Hellbrügge, der sich – nicht unumstritten – mit dem von ihm 1968 gegründeten Münchener Kinderzentrum bis heute mit der Forderung nach einer Förderung behinderter Kinder (Rehabilitation) einen Namen machte, legte hier zu Beginn der 1960er-Jahre mit seinem zwischenzeitlich in Vergessenheit geratenen, zwölfseitigen Beitrag als erster jüngerer Vertreter der deutschen Pädiatrie und vielleicht auch als einer der ersten Vertreter einer jüngeren Generation von Nachkriegsmedizinern überhaupt ein rundum fundiertes Kontinuitätsargument vor, das sich im Sinne einer medizinethischen Positionierung konstitutiv auf den breiteren Forschungsstand zur NS-Euthanasie stützte. Hellbrügges durch die Arbeiten von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke inspirierte, aber eigenständig entwickelte Vergegen-

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

193

wärtigungsschrift nahm um gut 20 Jahre beinahe alle zentralen Merkmale des Kontinuitätsparadigmas (V. Roelcke) vorweg, die verbreitet erst für die Historiographie zur NS-Medizin in den 1980er-Jahren beobachtbar sind: 1.) die Auflösung einer zeitlichen Isolierung der Jahre 1933 – 1945 durch Einbettung der NS-Medizinverbrechen in die langfristigen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts, daraus abgeleitet 2.) die kritische Abwehr des zu der Zeit verbreiteten Mythos einer im Nationalsozialismus missbrauchten Medizin, 3.) Abkehr vom Mythos einer angeblich kleinen Gruppe von ideologisierten, fanatischen Tätern aus der Erkenntnis der besonderen Verantwortlichkeit der deutschen Medizin für die »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« und der daraus erwachsenden historischen Verantwortung sowie 4.) die Formulierung einer moralischen Pflichterklärung, aus den geschichtlichen Erfahrungen eine Lehre für das ärztliche (und medizinethische) Selbstverständnis in Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Besonders scharf fiel die Kritik von Kollegen aus der Schweiz aus. Dass zwei von ihnen, Freudenberg und Hottinger, diejenigen Personen waren, die in der DGfK das Ausschlussverfahren gegen Catel auslösten, verweist auf drei miteinander verbundene, für die vorliegende Arbeit zentral erscheinende Elemente der Vergegenwärtigungsdynamik der NS-Vergangenheit: 1.) das Wirken im Sinne einer Erinnerungsarbeit aus der Peripherie, 2.) der biographische Zusammenhang von Opposition gegen das NS-Regime und der offenen Kritik an der Integration von NS-Tätern in der deutschen Medizin nach 1945, 3.) die Kontinuität in der Haltung zur Euthanasie vor und nach 1945. Zu 1.) Freudenberg und Hottinger waren der Fachgesellschaft verbunden geblieben, lebten aber, wie Degkwitz, im Ausland und formulierten von dort, d. h. von der Peripherie aus, ihre Kritik an der unhinterfragten Integration NSund Euthanasie-belasteter Mitglieder. Vergleichbare Forderungen von in der Bundesrepublik lebenden Kollegen mag es gegeben haben, sie ließen sich aber noch nicht auffinden. Dort lag vielmehr der Ausschlussantrag gegen Degkwitz vor, der allerdings vom Vorstand abgeschmettert wurde. Zu 2.) Freudenbergs und Hottingers Leben jenseits der deutschen Grenzen stand auf ähnliche Art und Weise in ursächlichem Zusammenhang mit den Ereignissen vor 1945. Sie waren, wiederum wie Degkwitz, in Deutschland tätig gewesen und direkt von der NS-Ausgrenzungs- und Verfolgungspolitik bedroht bzw. betroffen. Zu 3.) Sowohl für Freudenberg als auch für Degkwitz (und Bamberger) liegen Hinweise vor, dass sie bereits während des Krieges eine ablehnende Haltung gegenüber den NS-Euthanasie-Aktionen eingenommen und diese auch öffentlich vertreten hatten. Bei den Akteuren Degkwitz und Freudenberg trat der Aspekt hinzu, dass beide international ein hohes wissenschaftliches Ansehen genossen, was sich für ihre argumentative Ausgangsposition nach 1945 als zusätzlich vorteilhaft erwies.

194

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Der Einfluss des biographischen Hintergrunds der am Catel-Streit beteiligten Akteure ist in einem doppelten bzw. spiegelbildlichen Sinne auch im Zusammenhang mit der vergangenheitspolitischen Positionierung der jährlich wechselnden DGfK-Vorsitzenden nachweisbar. Die früher mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden Vorsitzenden, Kleinschmidt, Joppich, BennholdtThomsen, Mai und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch der Catel gegenüber loyal eingestellte Loeschke, nahmen eine deutlich zurückgenommene Haltung gegenüber dem Mitglied Catel ein oder versuchten zwischen den Konfliktpartnern zu vermitteln (Bennholdt-Thomsen, Mai). Dagegen forderte der DegkwitzSchüler Bamberger, für den eine oppositionelle Haltung zum Nationalsozialismus belegt ist, im Sinne der Schweizer Kollegen Catel und Bayer zum freiwilligen Austritt auf. Die öffentliche Stellungnahme von 1961 wurde ebenfalls unter Bambergers maßgeblicher Initiative und Federführung veröffentlicht. Über die verschiedenen Haltungen zu Catel hinweg bestand Mitte der 1960erJahre offenbar ein Konsens dahingehend, dessen Forderung nach einer Behandlung nach dem rechtsstaatlichen Grundprinzip in dubio pro reo zu entsprechen und die Ausschlussentscheidung vom Ausgang des Ermittlungs- bzw. möglichen Gerichtsverfahrens in Hannover abhängig zu machen. Dies kam einem Spagat zwischen dem drohenden Ansehensverlust auf der einen und der gewünschten deutlichen Distanzierung von Catel auf der anderen Seite gleich. Diese Entscheidung begünstigte eine Mentalität der Catel gegenüber indifferent positionierten Vorstandsmitglieder, der zufolge man sich vorübergehend nicht mit dem Fall Catel beschäftigen musste. Dass Freudenberg und Hottinger die dieser Verfahrensweise zugrunde gelegte Argumentationsstrategie nachzuvollziehen bereit waren, ist insbesondere in Hinblick auf Freudenbergs Kritik an der fortbestehenden Ehrenmitgliedschaft zweier Pädiater zweifelhaft, die exponiert nationalsozialistisch aufgetreten waren. Sie zogen ihren Antrag auch nicht zurück, nachdem Catel »außer Strafverfolgung« gesetzt worden war. Und somit bleibt festzuhalten, dass das Ausschlussverfahren vonseiten der DGfK zwar von der Austragung heftiger Streitigkeiten begleitet, aber letzten Endes nie abgeschlossen wurde. Die alternativ vorstellbare Position, nach der ein Ausschluss aus der Gemeinschaft auch eine kritikwürdige Schlussstrichmentalität bedeutet, die eine notwendige inhaltliche Auseinandersetzung mit einem Problem beendet, wurde von keinem der Diskursteilnehmer explizit vertreten. Der über jede Kritik erhabene und persönlich beleidigt reagierende Catel beendete das in der DGfK schwebende Verfahren durch seinen Austritt im Jahr 1967, als Freudenberg bereits verstorben war. Als evident kann ein Zusammenhang von fachspezifischer und hierbei explizit sozialpädiatrischer Ausrichtung und kritischer Haltung gegenüber Catel bzw. der Euthanasie bezeichnet werden, sofern die entsprechenden Vertreter nicht durch eine eigene frühere Nähe zum Nationalsozialismus gehemmt waren.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

195

Die Häufung einiger pointierter kritischer Stellungnahmen von Kinderärzten, die sich für die Rehabilitation behinderter und schwerstgeschädigter Kinder einsetzten (Hellbrügge, Weber, Gaupp, Köttgen), ist ein Befund an sich, der zugleich auf die Existenz spezifischer Wertemuster bei einigen der jüngeren und unbelasteten Vertreter dieses Pädiatriezweigs hindeutet. Die Diskussion über die Tötung schwerstgeschädigter Kinder untergrub die Ziele der sich in den 1960er-Jahren institutionalisierenden Sozialpädiatrie. Weiterführende Forschungen könnten hinsichtlich dieses Kontextes erhellen, ob das sozialpädiatrische Engagement der entsprechenden Kinderärzte wiederum auf einer biographischen Ebene durch die NS-Vergangenheit beeinflusst war. Die Tochter des Psychiaters Gaupp stellt dabei ein besonders interessantes Beispiel dar, weil bei ihr möglicherweise auch innerfamiliäre Auseinandersetzungen über die NSVergangenheit eine Rolle gespielt haben. Wie anhand der medizinethischen Tagung von 1982 (indirekt), der Jubiläumsveranstaltung von 1983, des ersten historischen Symposiums zur Zeit 1918 – 1945 in Hannover 1994 und auch der Dresdener Gedenkveranstaltung von 1998 nachgewiesen werden konnte, drückte der Streit um die Person Werner Catel und die von ihm aufgeworfene Euthanasie-Frage der historischen Selbstvergegenwärtigung in dieser Fachgesellschaft einen bis heute sichtbaren und ganz eigenen Stempel auf: Er war der zentrale, aber auch nahezu der einzige Bezugspunkt in der kollektiven Erinnerung der westdeutschen Kinderärzte, hinter dem die Frage nach den Betroffenen und den anderen Tätern weitgehend verborgen blieb. Dieser Bezugspunkt löste sich in der Zeit um die Millenniumswende, mit dem Ende der DDR zusammenhängend, schlagartig mit einem neuen öffentlichen Skandal auf: dem Jenaer Streit um Jussuf Ibrahim. Im Zuge dessen musste der Fokus auf die Beteiligung weiterer Kinderärzte an der Kindereuthanasie aber auch auf den jahrzehntelangen unkritischen Umgang mit einzelnen Kollegen neu eingestellt werden. Zwar hatte die Fachgesellschaft mit dem historischen Symposium in Hannover von 1994 und dem Aufarbeitungsprojekt zum Schicksal der jüdischen Kinderärzte einen »Aufbruch« zur »Rückbesinnung« (J. Brodehl) vollzogen und dabei die NS-Kindereuthanasie thematisiert. Auch können die Gründung der Historischen Kommission und des Archivs, die anfänglich allein im Sinne der »Traditionspflege« anlässlich der 100-Jahr-Feier 1983 erfolgt waren, als entscheidende Voraussetzungen für die dann schrittweise Annäherung an die eigene Vergangenheit angesehen werden. Weil aber die Beschäftigung mit einer moralischen Distanzierung von einzelnen dämonisierten Tätern sowie mit der Dichotomisierung einer »wahren« und einer »falschen« Euthanasie einherging, war auch der 1994 selbst erhobene Aufarbeitungs- und Erinnerungsanspruch schon in Teilen wieder infrage gestellt. Und die Chronologie der Ereignisse belegt zudem eindeutig, dass die Fachgesellschaft mit einer – bewussten oder

196

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

auch unbewussten – Prioritätensetzung zugunsten eines Bearbeitungsgegenstands eine weitere Verzögerung anderer Aspekte verursachte. Hier offenbart sich eine bemerkenswerte Parallele zur Aufarbeitungsdynamik in der Landesärztekammer Hessen, was für gruppenübergreifend ursächliche Zusammenhänge in der deutschen Medizin nach 1945 spricht. Denn die beiden Prozesse ähneln sich sowohl in der Abfolge der Vergegenwärtigungsschritte als auch im ungefähren zeitlichen Zusammenhang des Erinnerungsgeschehens am Dekadenübergang von den 1980er- zu den 1990er-Jahren. Zugespitzt formuliert: In der DGfK – mit einem Vorlauf seit 1988 – konnten innerhalb von nur vier Jahren (1994 – 1998) die Fragen »Warum?« und »Warum erst jetzt?« mit einem Dreiklang aus Aufarbeitung, Entschuldigung und identitätsstiftender lebendiger Erinnerung für die verfolgten jüdischen Kollegen beantwortet und der selbst erkannte Rückstand von über 50 Jahren aufgeholt werden. Bezüglich der nunmehr 70 Jahre zurückliegenden NS-Kindereuthanasie hat die Vergegenwärtigungsgeschichte in der DGfK allerdings einen sehr spezifischen Verlauf genommen und könnte sich auch derart fortsetzen. Abgesehen davon, dass noch heute die Zahl und die Namen der an den Tötungen beteiligten Kinderärzte, einschließlich deren individuelle Lebensverläufe und persönliche Motive nicht aufgeklärt sind, weisen die oben beschriebenen Ereignisse auf eine tiefer liegende Ursache der Verzögerungen hin: den mit den Tötungen eingetretenen »Zivilisationsbruch«561 in der Kinderheilkunde und dessen fatale Nachwirkung auf diese medizinische Disziplin. Damit soll keineswegs der pauschalisierende, moralisierende und zugleich entlastende Topos eines dekontextualisierten »Rückfalls in die Barbarei« kolportiert werden, im Gegenteil. Dass jedoch Kinderärzte, die damals wie heute wieder ein sehr hohes Ansehen genossen bzw. genießen, bereit waren, die ihnen anvertrauten, aufgrund des geringen Alters und der Schädigungen besonders schutzbedürftigen Kinder zu töten, musste das Selbstbild und Fremdbild dieser medizinischen Berufsgruppe gleichermaßen erschüttern. Die unfreiwilligen (Catel-Streit), aber auch die freiwilligen Konfrontationen (Hannover 1994, Potsdam 2010) mit diesen Verbrechen befördern ein äußerst destabilisierendes Potenzial des Geschehenen zutage, aus dem angesichts der emotionalen Heraus- bzw. Überforderung anhaltende Vermeidungsstrategien der Gruppenmitglieder resultierten. In direkter Vergegenwärtigung der getöteten Kinder wird nicht nur die Gefahr eines 561 Zur Verwendung des Begriffs mit Bezug zum Holocaust siehe: Jürgen Habermas, Eine Art Schadensabwicklung, Die ZEIT, 11. Juli 1986; Dan Diner (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt a. M. 1988, sowie in jüngerer Zeit: Dan Diner, Zivilisationsbruch, Gegenrationalität, ›Gestaute Zeit‹. Drei interpretationsleitende Begriffe zum Thema Holocaust, in: Hans Erler, Ernst Ludwig Ehrlich, Ludger Heid (Hg.), »Meinetwegen ist die Welt erschaffen«. Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums, Frankfurt a. Main 1997, S. 513 – 520.

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

197

Vertrauensverlusts, sondern auch die eines dem Zivilisationsbruch entsprechenden, ärztlichen Vertrauensbruchs sichtbar. Durch die NS-Kindereuthanasie ist das spezifische elterliche Vertrauen gegenüber Kinderärzten und auch die einzigartige Beziehungskonstellation von Arzt, Kind und Eltern in dieser Dimension erstmals und nachhaltig infrage gestellt worden. Dies gilt eben auch für jene dokumentierten Fälle, in denen Eltern um die Tötung ihrer Kinder gebeten hatten und Pädiater einer solchen Bitte nachgekommen waren;562 ein Zusammenhang, der sich dem selbst kinderlosen563 Werner Catel, anders als einigen seiner Kritiker, nicht erschlossen hat. Das mit dem Catel-Streit ausgelöste Gruppenproblem eines infrage gestellten Selbstbildes tritt umso stärker hervor, weil die Kinderheilkunde ihren Anspruch auf Institutionalisierung, d. h. ihre Daseinsberechtigung, aus dem Kampf gegen die enorm hohe Kindersterblichkeit Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ableitete. Die teils heftigen, Catel ablehnenden Reaktionen von vor allem älteren Kollegen in den 1960er-Jahren sind ein Indiz für eben diese Erschütterung des bis dahin einmütig geteilten Selbstbildes vom besonders angesehenen Kinderarzt, die nun als Sorge um das öffentliche Vertrauen in die Kinderheilkunde aufkam. Auf der Ebene der historischen Analyse kommt ähnlich wie im Abschnitt zur Landesärztekammer Hessen dem Doppelaspekt von a) der Position innerhalb der Gruppe und b) der Persönlichkeit besondere Bedeutung für die Durchsetzungskraft des neuen Paradigmas der Nutzbarmachung historischer Erfahrung zu. Die Bedeutung von »Erinnerungsgestaltern« (memory maker, memory agents) konnte zunächst am Beispiel einzelner Vertreter der Historischen Kommission, insbesondere an der Person von Eduard Seidler dokumentiert werden. Er nahm nicht nur über Jahrzehnte hinweg Einfluss auf die Vergegenwärtigung sowie deren Dynamik innerhalb der Fachgesellschaft und führte nicht zuletzt persönlich die Aufarbeitung der Geschichte der verfolgten jüdischen Pädiater durch. Er setzte sich darüber hinaus historisch und philosophisch reflektiert mit drängenden Fragen angewandter ärztlicher Ethik auseinander. Allerdings trat er hinsichtlich der Frage nach der ärztlichen Autonomie bei der passiven Euthanasie (Einbecker Empfehlung) eher mit einer Irrelevanzargumentation auf, die Verknüpfung der NS-Euthanasie und jeglicher von ihm abgelehnter utilitaristisch oder gar kollektivethisch begründeter aktiver Sterbehilfe ausgenommen. Die gegenwärtigen Debatten schienen nur bedingt mit den Euthanasiediskursen des Kaiserreichs, der Weimarer Jahre und vor allem der 562 Vgl. entsprechende Beispiele bei: Burlon, Die »Euthanasie« an Kindern. 563 Auf diese Tatsache wurde bereits an anderer Stelle hingewiesen. Dort wird sie allerdings so gedeutet, dass es Catel schwergefallen oder sogar unmöglich gewesen sein könnte, sich in die Belastungssituation der Eltern einzufühlen. Vgl. Dittrich, Rechtfertigungen?, S. 33.

198

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Zeit des Nationalsozialismus zu tun zu haben. Sie wurden nicht nur allein auf der begrifflichen, sondern auch auf der konzeptionellen Ebene von der Vergangenheit dissoziiert. Durch die Betonung der Unterschiede entgingen der historischen Analyse jedoch in Teilen die inhaltlich-argumentativen Kontinuitäten, wohl auch aus dem Bedürfnis nach moralischer Distanzierung von den Tätern der NS-Euthanasie resultierend. Sie wurden nur partiell kritisch hinterfragt und somit auch nur bei Teilaspekten des laufenden Diskurses – in Form der Ablehnung der aktiven Euthanasie – als konstitutives Geschichtsargument in die Formulierung medizinethischer Kodizes (Einbecker Empfehlung) eingebracht. Auf diesem gangbaren Weg wurden die Felder Medizinethik und Vergangenheitsaufarbeitung in Abhängigkeit von dem jeweiligen Gegenwartsproblem und der dabei vertretenen Haltung mehr oder weniger stark verknüpft. Es bedarf differenzierterer Forschung, wie konkret und in welchen Konstellationen der NS-Geschichte als Argument eine begrenzende Funktion bei der medizinethischen Positionierung zugebilligt wurde oder ob umgekehrt eher letztere einschränkenden Einfluss auf die historische Reflexion hatte. Beide Effekte sind jedenfalls erkennbar. Neben der Person Seidlers ist auch das Beispiel des Altpräsidenten Lothar Pelz zu nennen, der während und nach dem Ende seiner Amtszeit bezüglich des Gedenkens an die NS-Kindereuthanasie hartnäckig und erfolgreich auf die Fachgesellschaft einwirkte. Er vertritt auf gleichwohl andere Art die verinnerlichte Einsicht, dass eine lebendige Erinnerungskultur notwendig ist. Diese Einsicht, so lässt sich Pelz interpretieren, hat auf der Basis der historischen Aufarbeitung auch die gegenwärtige und zukünftige Selbstverortung der Kinderheilkunde im Bereich der Medizinethik normativ zu begleiten. Wie der in den zurückliegenden sechs Jahrzehnten belegbare, sich wiederholende Einbruch der Vergangenheit quasi durch die Hintertür über den Bereich der Medizinethik eindrücklich illustriert, sind gerade mit der NS-Kindereuthanasie die in der Medizin dauerpräsenten Probleme einer angewandten ärztlichen Ethik und der darin häufig implizit enthaltenen, individuell differierenden Vorstellungen von Humanität, Mitleid, Würde, Hoffnung und nicht zuletzt über einen selbst- oder fremdbestimmten »Lebenswert« verbunden. Die Untersuchung der medizinethischen Problematisierungen in der Pädiatrie ergab, dass es von den 1960er-Jahren bis in die 1980er-Jahre ein breites Spektrum von Haltungen und Handlungsbegründungen gab. Dabei überwogen zunächst deontologische und konsequentialistische Argumentationen quantitativ und qualitativ bei Weitem gegenüber solchen Argumentationsfiguren, die sich auf die NS-Vergangenheit stützten. Die normative Grenzlinie versuchte man zwischen der verworfenen aktiven Euthanasie und der passiven Euthanasie, die man in eng umgrenzten Bereichen für vertretbar hielt, zu ziehen. Je nach dem konkreten Problemfeld hatte diese Grenzziehung allerdings tendenziell will-

Thematisierung der NS-Vergangenheit in der DGfK

199

kürlichen und somit artifiziellen Charakter. Auch hierfür bedarf es weiterführernder Analysen, die untersuchen, wie in der täglichen Praxis gruppenintern über das bis heute schwer lösbare Problem der fließenden Übergänge verhandelt wurde. Die zentralen deontologisch begründeten Bezugspunkte waren zunächst die Tradition der Hippokratischen Medizin mit dem Postulat des nil nocere (H. Schadewaldt) sowie das Gebot der Lebenserhaltung (J. Brodehl, H. Mildenberger) bzw. das von Albert Schweitzer formulierte Postulat der Ehrfurcht vor dem Leben (H. Schadewaldt). Hinzu trat in einem Fall der Rekurs auf das auf Emanuel Kant zurückgehende metaphysische Konzept der Menschenwürde (R. Köttgen). Als hochgradig ambivalent können einige normative Konzepte bezeichnet werden, die unter Verwendung vergleichbarer oder gar identischer Begrifflichkeit sowohl pro als auch kontra aktive oder passive Euthanasiepraxis vorgebracht wurden. Dazu zählen theologische, (rechts-)philosophische sowie (medizin-)ethische Problematisierungen, aus denen sehr konträre Begründungsversuche entwickelt wurden. Diese teils deontologischen, teils konsequentialistischen Begründungen konnten sowohl explizit ausgeführt oder auch implizit in den Formulierungen enthalten sein: so z. B. 1.) durch Verweise auf eine »menschliche Medizin«, die dem Prinzip der Humanität, des ärztlichen Gewissens und des Mitleids gegenüber dem betreffenden Kind zu folgen habe (pro passive Euthanasie: K. Engisch, C. Heitmann und J. Lorber, indifferent zur passiven Euthanasie: H. Mildenberger, kontra jegliche Euthanasie: T. Hellbrügge), 2.) durch Verweise auf die christliche Tradition der Nächstenliebe bzw. die Liebe zwischen dem Kind und seiner Familie (pro passive Euthanasie: J. Hübner, kontra jegliche Euthanasie: V. Gaupp, K. Köttgen, H. Asperger), 3.) durch Verweise auf die potenzielle Überforderung der Familien (pro aktive und passive Euthanasie: W. Catel, pro passive Euthanasie: J. Lorber, indifferent: H. Mildenberger), 4.) durch Verweise auf die Verfassung, den Staat und das »Sittengesetz« (pro passive Euthanasie in engem Rahmen: E. Seidler, Einbecker Empfehlung, indifferent H. Mildenberger) sowie 5.) durch Verweise auf das Prinzip Hoffnung bzw. die Hoffnungslosigkeit (pro aktive und passive Euthanasie: W. Catel, pro passive Euthanasie: J. Hübner und pro passive Euthanasie in eng begrenztem Rahmen: J. Brodehl) und 6.) durch Verweise auf den damit verknüpften Wert des Lebens (W. Catel, pro passive Euthanasie in eng begrenzten Rahmen: J. Brodehl, indifferent: C.-G. Bennholdt-Thomsen, kontra jegliche Euthanasie: H. Asperger). Die Argumentationsformen mit historischer Bezugnahme im Streit um die von Catel geforderte Legalisierung der »begrenzten Euthanasie« lassen erkennen, dass dieses medizinethische Problemfeld in der Nachkriegspädiatrie stark vergangenheitspolitisch aufgeladen war. Dabei ist der überwiegende Teil der ethischen Positionen nicht durch eine als konstitutiv erkennbare historische

200

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Begründung geprägt. Abgesehen von der bereits genannten Ausnahme der fundierten Ausarbeitung Theodor Hellbrügges erschöpfte sich die Kritik an einer Liberalisierung der Euthanasie- und Abtreibungspraxis in weitgehend pauschalen Verweisen auf die problematische NS-Vergangenheit. Im Wissen um Catels Beteiligung an der NS-Kindereuthanasie plädierten seine Kritiker für ein Äußerungsverbot für seine Person. Die Relevanz und Aktualität der Euthanasieproblematik wurde dabei nur von wenigen vollständig in Abrede gestellt, weshalb sich in mehreren Reaktionen die Forderung finden lässt, das Thema solle von quasi unbelasteten Vertretern der Medizin diskutiert werden. Der Befund der – noch im Jahr 1981 – überwiegend ausbleibenden oder nur marginalen historischen Rückbezüge im Rahmen der Ethiktagung korrespondiert mit dem Ergebnis einer weitgehend fehlenden Rezeption vorliegenden historischen Wissens sowie dem Befund der Verzögerung in der Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit der Pädiatrie. Dennoch finden sich parallel zum Beispiel der hessischen Ärztekammer in Ansätzen die von Hans-Walter Schmuhl benannten Strukturmerkmale des Medizinethikdiskurses entlang der Konfliktlinie Zustimmung zur oder Abwehr der Ausweitung von Zulässigkeitsregelungen in der bundesdeutschen Pädiatrie wieder. Allerdings konnten nur wenige Fälle einer inhaltlich-analytischen (z. B. P. Stoll) oder historischen Herleitung (G. Fanconi, L. Pelz, T. Hellbrügge) der slippery-slope-Argumentation für das mögliche Eintreten von unerwünschten Nebeneffekten im Falle der Erweiterung von Zulässigkeitsregelungen gefunden werden. Eine geradezu kuriose und singulär auftretende Argumentationsform stellt in der Gruppe der Euthanasiebefürworter die Position des mit Catel befreundeten Pädiaters Dost dar. Indem er eine positive Kontinuitätslinie von der BindingHoche-Schrift zu seinem umstrittenen akademischen Lehrer zog, bettete er Werner Catel historisch rehabilitierend in den breiteren Euthanasiediskurs des 20. Jahrhunderts ein.

4.3. Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen von Zwangssterilisation und NS-Euthanasie Über 360.000 Frauen und Männer wurden von 1934 bis 1945 auf der Grundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GVeN) zwangssterilisiert.564 Im Rahmen der Krankenmord-Aktionen während des Zweiten Weltkriegs wurden schätzungsweise 300.000 Kinder, Jugendliche und erwachsene 564 Gisela Bock, Zwangssterilisation und Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik. Opladen 1986. Das GVeN wurde am 14. 7. 1933 erlassen und trat zum 1. 1. 1934 in Kraft. Siehe Reichsgesetzblatt 1933, Teil I, Nr. 86, S. 529 – 531.

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

201

Menschen im Einflussgebiet des Deutschen Reiches von Medizinern als »lebensunwert« eingestuft und mittels Gas, Hunger, Unterversorgung und medizinischer Experimente getötet.565 Jeder Einzelne der von NS-Medizinverbrechen Betroffenen hatte eine Biographie und eine besondere Familiengeschichte; sie alle lassen sich heute nur unter erheblichen Schwierigkeiten erzählen.566 Dies gilt umso mehr für die Lebenswege der Überlebenden in der Zeit nach 1945.567 Die in Deutschland seit Anfang der 1980er-Jahre begonnene Aufarbeitung der NSMedizinverbrechen war und ist dabei mit einer bruchstückhaften Überlieferung schriftlicher Quellen sowie mit einer von den Tätern verzerrten Vergangenheitskonstruktion konfrontiert. Während verantwortliche Mediziner bis auf wenige Ausnahmen in beiden deutschen Staaten seit 1949 unbehelligt ihre berufliche Karriere fortsetzen konnten, sogar Gutachtertätigkeiten im Rahmen von Entschädigungsverfahren ausübten, lebten die meisten Betroffenen von Zwangssterilisation und die Angehörigen von Euthanasie-Opfern – ohne politische Anerkennung und finanzielle Entschädigung des ihnen zugefügten Unrechts – oft an der Armutsgrenze. Ihre Traumatisierung, ihre Geschichte der anhaltenden Stigmatisierung wurde bis vor wenigen Jahren in der deutschen Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Es hat nicht an Versuchen der Betroffenen gemangelt, sich gegen die hegemonialen Erinnerungsinteressen in der Bundesrepublik und in der DDR568 und die damit einhergehenden finanzpolitischen Entscheidungen zu wehren. Doch unter den Rahmenbedingungen der deutsch-deutschen Nachkriegsgesellschaften der 1950er- und 1960er-Jahre waren die Widerstände übermächtig. Im Jahr 1950 wurde in Hessen ein »Verband der Sterilisierten und Gegner der Sterilisation« gegründet, der bald den Anspruch erhob, die Interessen dieser Opfergruppe im nördlichen Bundesgebiet zu vertreten. Etwa zu gleicher Zeit entstand in München der »Zentralverband der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet«. Zudem kämpften Betroffene der Zwangssterilisation in Einzelinitiativen über Jahrzehnte hinweg für eine Entschädigung, zumeist ohne Erfolg. 565 Faulstich, Die Zahl der »Euthanasie«-Opfer. 566 Vgl. zum Befund dieses Desiderats der Forschung den historiographischen Überblick bei Roelcke, Medizin im Nationalsozialismus: Historische Kenntnisse und einige Implikationen, u. a. S. 15. Siehe auch das biographische Lesebuch zu 23 Opfern der NS-Euthanasie: Fuchs u. a. (Hg.), »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst«. Zu den Lebenswegen zwangssterilisierter Menschen; Stefanie Westermann, Verschwiegenes Leid. Der Umgang mit den NS-Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik Deutschland, Köln / Weimar / Wien 2010. 567 Zu den Lebenswegen zwangssterilisierter Menschen nach 1945: ebd.; sowie: Henning Tümmers, Anerkennungskämpfe. Die Nachgeschichte der nationalsozialistischen Zwangssterilisation in der Bundesrepublik, Göttingen 2011. 568 Siehe Abschnitt 5.1. in dieser Arbeit.

202

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Mit dem beginnenden Generationswechsel in den medizinischen Berufen und unter dem Einfluss der sozialen Bewegungen der späten 1960er- und der 1970er-Jahre entstanden lokale Geschichtswerkstätten, Arbeitsgruppen zur historischen Aufarbeitung der NS-Medizinverbrechen. Innerhalb der Psychiatrie, überwiegend getragen von Vertretern der Sozialpsychiatrie, entstanden Netzwerke von Aufarbeitungswilligen. Hierbei richtete sich neben der historischen Forschung der Fokus auch erstmals auf die Betroffenen selbst. Das produktivste und einflussreichste dieser Forschernetzwerke, der Arbeitskreis zur Aufarbeitung der NS-»Euthanasie« und Zwangssterilisation (AK), 1983 in Gütersloh gegründet, unterstützte die 1987 ins Leben gerufene neue Opferorganisation Bund der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten (BEZ) in ihrem Kampf um politische Anerkennung und Entschädigung; ein Kampf, der für die Betroffenen über die Jahrzehnte zu einem zweiten Leidensweg geworden war. Das Engagement der genannten vier Organisationen kann hier nur exemplarisch vorgestellt werden. Die Geschichte(n) der beiden Opferverbände, des Arbeitskreises und des BEZ verweisen aber auf die Bedeutung wechselnder historischer Kontexte sowie die situativen Handlungsspielräume unter den sich wandelnden erinnerungskulturellen Rahmenbedingungen von den 1950erJahren bis in die Gegenwart.

4.3.1. Erste Opferorganisationen: die Zentralverbände in Gießen und München (1950 – 1954) Im Jahr 1950 wurde erstmals das Berliner Gesundheitsblatt. Zeitschrift für alle Heilberufe unter Mitwirkung des Landesgesundheitsamts herausgegeben. Noch im selben Jahr entbrannte in dieser Zeitschrift die alte Debatte der 1930er- und 1940er-Jahre um Unfruchtbarmachung neu. Das Berliner Gesundheitsamt hatte durch seine Fürsorgestelle für eine 22jährige Frau den Antrag auf Unfruchtbarmachung gestellt. Sie litt an Epilepsie und »erheblichem erblichen Schwachsinn«. Wenngleich die Erbgesundheitsgerichte nicht mehr aktiv waren, so hatte doch der Kontrollrat das GVeN nicht aufgehoben. Die Redaktion des Berliner Gesundheitsblatts, hier in Person von Dr. med. Gerhard Habenicht, forderte eine vorgeblich »freie unbehinderte Diskussion« bis zur Entscheidungsfindung durch den Gesetzgeber und eröffnete aus Anlass dieses Falls in der Rubrik »Forum« einen Austausch über die Sterilisation.569 569 Habenicht, Verhütung erbkranken Nachwuchses, in: Berliner Gesundheitsblatt 1 (1950) 14, S. 360. Zur Debatte im Gesundheitsblatt siehe auch die Darstellungen von Westermann, Verschwiegenes Leid, S. 91 f., sowie Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 84 – 97.

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

203

Die daraufhin abgedruckten Zuschriften spiegeln die Ambivalenz im Umgang mit dieser als schwierig empfundenen Frage wieder. Einerseits wurde das GVeN von einigen als nationalsozialistisches Gesetz aufgefasst, dessen Umsetzung mit fehlender wissenschaftlicher Untermauerung und auch Missbrauch verbunden gewesen sei. Andererseits verwiesen Teilnehmer der Debatte auf die in westlichen Ländern gängige Praxis von unfreiwilligen Sterilisationen. Eine Neuregelung in Deutschland mit einer medizinischen, eugenischen und moralischen Indikation ließ sich mit diesem Argument fordern. Sogar die biologistische Volkskörper-Ideologie wurde wieder propagiert und mit einer Sterilisationspflicht gekoppelt: »Irgendwann kommt der Tag, an dem der Staat wieder das Recht haben muß, das Leben seiner Bürger zu fordern, sei es Kriegsdienst, Todesstrafe, Sterilisierung. […] Nur aus dem höheren Wert des Ganzen gegenüber dem Teil läßt sich die sittliche Pflicht des Menschen begründen, für das Ganze zu leben und, wenn es sein muß, zu sterben oder sich unfruchtbar machen zu lassen.«570

Vertreter der Evangelischen und Katholischen Kirche äußerten sich im Gesundheitsblatt zurückhaltend bis ablehnend und verwiesen auf den Missbrauch des Gesetzes in der Zeit des Nationalsozialismus.571 Dagegen forderte der Erbbiologe Hans Nachtsheim vom Institut für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie (Berlin-Dahlem) die Aufklärung der Bevölkerung über die Notwendigkeit eugenischer Sterilisation »auf [sic!] freier Entschließung des Erbkranken«572 : 570 Karl O. Thurmann, Sterilisierung Schwachsinniger, in: Berliner Gesundheitsblatt 1 (1950) 16, S. 410. 571 Hans von Arnim, Konsistorialpräsident, Zur Frage der Sterilisierung. Eine Stellungnahme von evangelischer Seite, in: Berliner Gesundheitsblatt 1 (1950) 23, S. 579. Aus katholischer Sicht: Georg Puchowski, Domkapitular, Stellungnahme zur Frage der Sterilisation, in: Berliner Gesundheitsblatt 1 (1950) 21, S. 532. Grundsätzlich zur Haltung der Kirchen zu eugenischen Maßnahmen nach 1945 siehe den kritischen Beitrag von Uwe Kaminsky, Zwischen Rassenhygiene und Biotechnologie. Die Fortsetzung der eugenischen Debatte in Diakonie und Kirche, 1945 bis 1969, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 116 (2005) 2, S. 204 – 241. 572 Zitat aus dem Abdruck von sechs Thesen Hans Nachtsheims, formuliert im Rahmen seines Vortrags »Für und wider die Sterilisierung« vor der Berliner Medizinischen Gesellschaft am 12. Dezember 1951, in: Berliner Gesundheitsblatt 3 (1952) 2, S. 39. Siehe auch den Bericht des Redakteurs Gerhard Habenicht zum Vortrag: Habenicht, Für und wider die Sterilisierung, Rubrik Referate, in: Berliner Gesundheitsblatt 3 (1952) 1, S. 23 – 24. Nachtsheim hatte seit 1941 als Abteilungsleiter für Experimentelle Erbpathologie am Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik gearbeitet. Er war verantwortlich für Unterdruckversuche der Luftwaffe, für die behinderte Kinder aus der Landesanstalt Brandenburg-Görden bereitgestellt wurden. 1946 übernahm er den Lehrstuhl für Genetik an der Humboldt-Universität Berlin. 1953 bis 1960 leitete er das MaxPlanck-Institut für vergleichende Erbbiologie und Erbpathologie in Berlin-Dahlem. 1961 wurde er als Sachverständiger in den Wiedergutmachungsausschuss des Deutschen Bun-

204

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

»Das Volk muß einsehen lernen, daß eine Bekämpfung der Erbkrankheiten zwar einen Kampf auf weite Sicht bedeutet, aber nicht weniger wichtig ist als die Bekämpfung der Infektionskrankheiten und der Krankheiten überhaupt.«573

In der Berliner Debatte engagierte sich überregional ein »Verband der Sterilisierten und Gegner der Sterilisation« (Gießen, Schottenstr. 34), der gegen die vom Gesundheitsamt Berlin beantragte Sterilisation protestierte. In dieser ersten Erklärung forderte der Verband die Wiedergutmachung der durch die Operationen verursachten Schäden und die Bestrafung all jener Personenkreise, die an den Zwangssterilisationen der Vergangenheit beteiligt waren. Man habe nicht nur einen diesbezüglichen Antrag beim Internationalen Gerichtshof in Den Haag gestellt, sondern bemühe sich auch, den Bundespräsidenten und die verantwortlichen Bundesorgane für das Anliegen zu interessieren.574 Mit einem zweiten Schreiben »Zur Sterilisationsfrage« stellte sich der Verband näher vor. Da zwar die Erbgesundheitsgerichte, nicht aber das GVeN aufgehoben worden seien, hätten sich betroffene Männer und Frauen zusammengefunden, die ein Gesetz gegen die Sterilisation fordern würden. Unter dem Bundesvorsitzenden Friedrich (Vorname nicht genannt575), sei im Januar 1950 in Wetzlar, dann im Juni 1950 in Gießen, ein Verband gegründet worden, der anwaltlich beraten werde und dem auch ein ärztliches Kollegium angehöre. Die Geschäftsführung unterliege derzeitig Gerhard Weber : »Zweck und Ziele des Verbandes sind die gesundheitlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen der durch das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. 7. 1934 [sic!] Betroffenen, der [sic!] gegen seinen Willen zwangsweise sterilisiert worden ist [sic!].«576

Im Weiteren verwies Friedrich auf die schweren körperlichen und psychischen Leiden, die infolge der Eingriffe von Betroffenen beschrieben und mit ökonomischen Einschränkungen verbunden wurden. Wie viele Mitglieder der Verband zu dieser Zeit umfasste, wird nicht deutlich. Der Vorsitzende ging damals noch von schätzungsweise zwei Millionen Zwangssterilisierten in Deutschland aus, da

573 574 575 576

destags bestellt. Vgl. Klee, Das Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 427; sowie die Monographie von Alexander von Schwerin, Experimentalisierung des Menschen. Der Genetiker Hans Nachtsheim und die vergleichende Erbpathologie, 1920 – 1945, Göttingen 2004. Hans Nachtsheim, Die Frage der Sterilisation vom Standpunkt des Erbpathologen, in: Berliner Gesundheitsblatt 1 (1950) 24, S. 603 – 604. Vorstand des Verbandes der Sterilisierten und Gegner der Sterilisation, Protest gegen eine vom Gesundheitsamt Berlin beantragte Sterilisation an einem schwachsinnigen Mädchen, in: Berliner Gesundheitsblatt 1 (1950) 17, S. 436. Nach Westermann, Verschwiegenes Leid, S. 93, handelte es sich um Oskar Friedrich. Friedrich, Bundesvorsitzender des »Verbandes der Sterilisierten und Gegner der Sterilisation«, Zur Sterilisationsfrage, in: Berliner Gesundheitsblatt 1 (1950) 20, S. 507 – 508, hier: S. 507. Eine Anfrage beim Amtsgericht Gießen im Jahr 2008 ergab laut Vereinsregister keinen Hinweis auf die Existenz des Verbandes.

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

205

dem Verband in vier umliegenden Kreisen allein 1.200 Sterilisierte bekannt seien.577 Im Mai 1951 meldete sich eine zweite Opferorganisation aus Bayern zu Wort. Unter dem Vereinsnamen »Zentralverband der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet e.V.« (München 5, Baaderstraße 59) bezog sich dieser Zentralverband auf eine eigene Denkschrift, mit der die bis dahin ausgebliebene Entschädigung beklagt wurde. Selbstbewusst formulierte der Zentralverband einen entsprechenden Gesetzentwurf. Allerdings spiegelte er nur die Interessen Betroffener von Zwangssterilisation und unrechtmäßigem Freiheitsentzug wider, nicht aber die der Angehörigen von Euthanasie-Opfern. Im ersten Paragraphen hieß es: »Ein Recht auf Wiedergutmachung nach diesem Gesetz hat, wer unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft […] gegen seinen Willen sterilisiert wurde und hierdurch Schaden an Leben, Körper, Gesundheit, Freiheit, Eigentum, Vermögen oder in seinem wirtschaftlichen Fortkommen erlitten hat.«578

In § 9 des Entwurfes war »für die schwere seelische Beeinträchtigung des Geschädigten« die Forderung einer einmaligen Entschädigungszahlung durch die Länder von mindestens 1.000 DM bis höchstens 5.000 DM vorgesehen.579 Wie Stefanie Westermann rekonstruieren konnte, wurde diese zweite Opferorganisation am 17. August 1950 gegründet und von Kurt Königer als Vorsitzendem geleitet. Der Zentralverband mit seiner »Bundeshauptzentrale« in München vertrat vorrangig Betroffene der südlichen Regionen Bayern, Baden und Württemberg, unterhielt aber auch personelle Vertretungen in Alsdorf bei Aachen und in Gießen. Im Jahr 1951 verzeichnete der Zentralverband über 3.000 Neuzugänge. Die Gesamtmitgliederzahlen ließen sich bislang noch nicht eruieren.580 Bereits im Gründungsjahr bestanden Kontakte zum Gießener Verband, dessen Vorsitzender Oskar Friedrich an einer Veranstaltung des Zentralverbandes im Münchener Hofbräuhaus im Dezember 1950 mit einem eigenen Vortrag teilnahm. Darin brachte er seine Hoffnung zum Ausdruck, gemeinsam, auch gegen alle gesellschaftlichen Widerstände, »im Bundesgebiet eine starke Organisation aufzubauen.«581 Eine Absprache zwischen beiden Opferverbänden hinsichtlich der regionalen Zuständigkeit muss spätestens im Jahr 1951 be577 Ebd., S. 508. Die Redaktion der Zeitschrift wies in einer Anmerkung den Leser darauf hin, dass die Zahl von zwei Millionen Zwangssterilisierten unzutreffend sei. 578 N.N., Ein Gesetzentwurf des Sterilisiertenverbandes, in: Berliner Gesundheitsblatt 2 (1951) 9, S. 214. 579 Ebd. 580 Westermann, Verschwiegenes Leid. S. 89. 581 Protokoll über die Großveranstaltung des Zentralverbandes der Sterilisierten vom Sonntag, den 3. Dez. 1950, um 10 Uhr im Saal des Hofbräuhauses, München, Am Platzl. Zitat und Angabe nach: Westermann, Verschwiegenes Leid, S. 92.

206

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

standen haben, denn die Gießener Gruppe firmierte inzwischen unter dem Namen »Zentralverband der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet Nord e.V.« – Giessen [sic!] / Lahn, Eichweg 6.582 Doch was konnten diese Opferorganisationen in den 1950er-Jahren an Gehör und Erfolg erwarten? Der Münchener Zentralverband gab regelmäßig ein Informationsblatt heraus: »Der Notschrei. Kampf- und Aufklärungsorgan der durch Naziterror Verstümmelten, Gesundheitsgeschädigten und Euthanasiehinterbliebenen«.583 Über die Verbreitung und Wirkung dieses Publikationsorgans ist bislang kaum etwas bekannt. Die Reaktionen im Berliner Gesundheitsblatt, die Unterlagen des Bundes der Opfer des Faschismus und des 1987 in Detmold gegründeten BEZ lassen auf den weiteren Werdegang und die Probleme beider Verbände schließen. Der Gießener Verband verfügte nur über unzureichende Informationen über die Praxis der Zwangssterilisationen und ging von überhöhten Opferzahlen aus. Zudem wies er nach Ansicht einiger Diskussionsteilnehmer im Gesundheitsblatt sprachlich-argumentative Schwächen auf, was auch darin begründet lag, dass die Berliner Redaktion unter redaktioneller Leitung von Gerhart Habenicht Stellungnahmen der Gießener Gruppe absichtlich unkorrigiert abdruckte.584 Der Verband war dadurch leicht angreifbar, was in zwei dokumentierten Fällen in massiven Diffamierungen ausartete. Zusätzlich wurden die Aktivitäten des Gießener und Münchener Verbandes an einer Stelle als »schädlich« bezeichnet, da ihre Leiter eine »unzulässige Propaganda« betreiben und damit bei »vielen Sterilisierten Rentenneurosen« erwecken würden.585 Zur Außenwirkung, aber auch zu den internen Problemen der Verbände werden weitere Hinweise bei Westermann geliefert. So muss es im Rahmen der 582 Aufforderung zum Beitritt, Zentralverband der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet Nord e.V. – Giessen [sic!] / Lahn, Eichweg 6. BEZ Archiv Detmold, Ordner Betroffene Kes-Kon, Eheleute Marie und Heinrich Kauf. 583 Archiv BEZ Detmold, Ordner : Vorträge ab Mai 2006. 584 Auch Westermann vermutet, dass die Erklärungen von der Redaktion des Berliner Gesundheitsblatts bewusst mit allen inhaltlichen, orthographischen und grammatikalischen Fehlern abgedruckt wurden. Vgl. Westermann, Verschwiegenes Leid, S. 91. Ebenso geht Tümmers davon aus, dass der fehlerhafte Abdruck dem Zweck diente, den Vorsitzenden des Verbandes zu desavouieren. Vgl. Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 91. 585 Siehe z. B. Kritik an den Stellungnahmen des Verbandes: Amtsgerichtsrat Dr. jur. Franz Neukamp, Ist das Erbkrankheitsgesetz ein Nazigesetz? in: Berliner Gesundheitsblatt 2 (1951) 11, S. 250 – 252. Neukamp, Richter in Wiederaufnahmeverfahren von Erbgesundheitsprozessen am Amtsgericht Bielefeld, argumentierte vehement gegen die Interpretation sowohl des Zentralverbandes als auch die von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke (Diktat der Menschenverachtung, 1947; Medizin ohne Menschlichkeit, 1960), nach denen das GVeN ein typisches »Nazigesetz« war und zugleich Ausgangspunkt für die späteren Krankenmordprogramme gewesen sei. Vgl. auch den Vorwurf der Wichtigtuerei gegenüber dem Zentralverband durch: Günther Graf, Zur Sterilisationsfrage, in: Berliner Gesundheitsblatt 1 (1950) 22, S. 556.

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

207

Münchener Hofbräuhaus-Versammlung mit etwa 800 Teilnehmern zu Tumulten und Handgreiflichkeiten gekommen sein. Von bislang unbekannt gebliebener Seite wurden dem Münchener Vorsitzenden Königer »betrügerische Machenschaften« vorgeworfen. Ein Vertreter des Landesentschädigungsamt, der um einen Vortrag gebeten worden war, verfasste im Anschluss an die Veranstaltung einen Bericht an den Präsidenten des Landesentschädigungsamts, Dr. Auerbach, in dem es im Zusammenhang mit den Unruhen hieß, das »Überfallkommando« habe eingreifen müssen: »Ich hatte deshalb selbst auch keine Gelegenheit mehr, mich zu dem Thema zu äußern, was gegenüber 800 mehr oder weniger schwachsinnigen und sehr erregten Menschen ohnehin schwierig gewesen wäre. Immerhin hat offenbar auch die Presse den Eindruck gewonnen, dass dieser Verein noch nicht die nötige Solidität und Reife besitzt, um als Verhandlungspartner ernst genommen zu werden.«586

Auerbach wiederum, durch Beschwerden sowohl von einzelnen Mitgliedern als auch vom ehemaligen Geschäftsführer des Zentralverbands, Embacher, über den Vorsitzenden Königer bestärkt, riet in einem Artikel in der Süddeutschen Zeitung von Zahlungen an den Zentralverband ab und forderte den Bayerischen Rundfunk auf, zukünftige Erklärungen Königers nicht mehr auszustrahlen.587 Auerbach zeigte zwar keine grundsätzliche Ablehnung gegenüber einer solchen Opferorganisation und empfahl dem Bayerischen Innenministerium auch eine Überprüfung der von Betroffenen erhobenen Entschädigungsforderungen, hielt diese aber zum Teil für überhöht. Diese Einschätzung teilte offenbar auch der Nürnberger Oberlandesgerichtspräsident, wenn er 1951 zu den Aktivitäten des Zentralverbands erklärte, diese könnten zu einer Verschlimmerung des psychischen Zustands der Betroffen führen und »Rentenneurosen« hervorrufen;588 eine immer wiederkehrende Argumentation aus einer den Opfern fernen Perspektive, mit der auch zehn Jahre später im sogenannten Wiedergutmachungsausschuss des Deutschen Bundestags Entschädigungsansprüche von Betroffenen abgewehrt werden sollten. Die Schwierigkeiten der Verbände wurden zudem durch interne Probleme verstärkt, die wiederum in der gesellschaftlichen Stigmatisierung und Nichtanerkennung der Betroffenen als NS-Verfolgte ihre Wurzeln hatten. 1.) Wie Westermann festgestellt hat, bewirkte die damalige Bundesentschädigungspraxis mit ihrer Handhabung, nur solche Sterilisationsfälle anzuerkennen, die »zu Unrecht«, d. h. die außerhalb des GVeN oder fehlerhaft vollzogen worden waren, auch eine Binnenhierarchisierung in der Opfergruppe der Zwangssterilisierten. Westermann geht zudem davon aus, dass die allseits fortwirkende Akzeptanz 586 Zitat nach Westermann, Verschwiegenes Leid, S. 94. 587 Ebd., S. 95. 588 Ebd., S. 96.

208

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

von Kategorien der »Minderwertigkeit«, aber auch der Erbpathologie eher eine Art »negative Identität« herausbildete, die vor allem mit Stigmatisierungserfahrungen verbunden war. Die Zuordnung zu dieser Gruppe wurde dadurch erschwert;589 eine Einschätzung, die das Scheitern der erkennbaren frühen Solidarisierungsbemühungen zum Teil erklären kann. 2.) Weitere Gründe zeichnen sich ab. Westermann hebt hierbei auf die Herkunft der meisten Betroffen aus den unteren sozialen Schichten ab. Es fehlte damit an entsprechendem kommunikativem und argumentativem Rüstzeug, um gemeinsam Krisen zu überstehen und eine stabile Interessenvertretung aufzubauen.590 Die Schwierigkeiten lagen aber auch auf einer strukturellen Ebene. Mit staatlichen Zuschüssen, wie sie z. B. bis vor Kurzem in begrenztem Rahmen gegenüber der Organisation BEZ erbracht wurden, war zu Beginn der 1950erJahre nicht zu rechnen. Der Gießener Verband verschickte wiederholt Eintrittsaufforderungen an alle Betroffenen, die den Verband ganz allgemein um Interessenvertretung gebeten hatten. In den einzelnen Kreisen im Gießener Raum wurden Versammlungen durchgeführt, in denen über die umfangreiche Eingabetätigkeit an die Regierungen der Länder und des Bundes berichtet wurde.591 Beide Verbände versuchten, die eigene Existenz über Mitgliedsbeiträge zu sichern. Ihr Aufgabenspektrum verursachte jedoch Kosten, die auf diesem Wege nicht abgedeckt werden konnten. Die finanzielle Notlage der Münchener Gruppe geht aus den Unterlagen des Bundes der Opfer des Faschismus und des Krieges e.V. (OdF) mit Sitz in München hervor. Laut Beschluss der Generalversammlung des Zentralverbandes (Verbandsführung Kurt Königer und Fritz Bauer) wurde dieser nämlich 1954 in den OdF aufgenommen.592 Das Publikationsorgan des OdF führte noch in den 1960er-Jahren den gemeinsamen Titel »Sprachrohr – Notschrei«.593 Wie Wes-

589 Westermann, Verschwiegenes Leid, u. a. S. 99. 590 Ebd., S. 99 f. 591 Aufforderung zum Beitritt, Zentralverband der Sterilisierten und Gesundheitsgeschädigten im Bundesgebiet Nord e.V. – Giessen / Lahn, Eichweg 6. BEZ Archiv Detmold, Ordner Betroffene Kes-Kon, Eheleute Marie und Heinrich Kauf. 592 Rundschreiben Nr. 1 OdF, Sitz München, September 1954. Archiv Institut für Zeitgeschichte München, Sammlung Friedrich Haugg, Akz. 7122/85, Bund der Opfer des Faschismus: Rundschreiben, Erklärungen, Tätigkeitsberichte 1954 – 1970, o. Pag., S. 1. Ob 1954 auch der vorrangig in Mittel- und Norddeutschland aktive Gießener Zentralverband aufgenommen wurde oder sich beide Verbände bereits zuvor zusammengeschlossen hatten, bedarf weiterer Untersuchung. Folgt man der Formulierung des Rundschreibens Nr. 1, wurde nur der Münchener Zentralverband übernommen. 593 Nachweis des Publikationsorgans »Sprachrohr – Notschrei«: Archiv Institut für Zeitgeschichte München, Sammlung Friedrich Haugg, Akz. 7122/85, Bund der Opfer des Faschismus: Rundschreiben, Erklärungen, Tätigkeitsberichte 1954 – 1970, o. Pag.

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

209

termann vermutete und wie hier nun belegt werden kann, trat der OdF als Nachfolgeorganisation des Münchener Zentralverbands auf.594 Der OdF bemängelte in einem Rundschreiben an die neu zu werbenden Mitglieder aus der Gruppe der Zwangssterilisierten die vormals schlechte Aktenführung im Zentralverband und verwies auf die Handlungsunfähigkeit desselben: »Der Gesamtbeitragsrückstand des Zentralverbandes beläuft sich auf rd. 35.000 DM in den letzten Jahren. Bei einer solchen Finanzlage ist es einem Sozialverband einfach unmöglich, seinen Aufgaben gerecht zu werden.«595

Da der größte Teil der Mitglieder über Jahre nicht hatte zahlen können, war der Zentralverband durch eingeholte Gutachten und Verhandlungsführungen mit Juristen hoch verschuldet. Der OdF erkannte die wirtschaftliche Notlage der ehemaligen Zentralverband-Mitglieder an, erließ ihnen die rückständigen Beiträge, forderte sie aber eindringlich auf, unverzüglich dem Bund OdF beizutreten und regelmäßig ihrer Beitragspflicht nachzukommen. In einem späteren Anschreiben an die neuen Mitglieder wurde wohl auch mit Blick auf schon früher geäußerte Kritik am Zentralverband angedeutet, dass der Bund OdF die Interessen der neuen Mitglieder kompetenter vertreten werde. Dazu habe man beim deutschen Bundestag Gesetzesentwürfe eingebracht, zu denen der Zentralverband personell und fachlich nicht in der Lage gewesen sei:596 »Diese Gesetze hätten u. E. vom Zentralverband bereits vor 6 Jahren beantragt werden müssen, denn eine moralische Wiedergutmachungspflicht gegenüber den Opfern der Nürnberger Gesetze war nie zu verneinen.«597

Die Enttäuschung der ehemaligen Zentralverband-Mitglieder über den zähen politischen Prozess in Bonn um die Wiedergutmachung, die sich wiederholt als Unmut auf den Zentralverband übertragen hatten, traf nun auch den OdF. Der OdF-Bundesvorsitzender Friedrich Haugg reagierte im Juni 1955 schroff auf diese Angriffe: 594 Die Tatsache der Übernahme erklärt, warum Westermann für den Zeitraum ab 1955 keinerlei Zeugnisse des vormaligen Opferverbandes mehr finden konnte. Vgl. Westermann, Verschwiegenes Leid, S. 99. 595 Rundschreiben Nr. 1 OdF, Friedrich Haugg, September 1954. Archiv Institut für Zeitgeschichte München, Akz. 7122/85: Sammlung Friedrich Haugg, Bund der Opfer des Faschismus: Rundschreiben, Erklärungen, Tätigkeitsberichte 1954 – 1970, o. Pag., S. 2. 596 Hierbei handelt es sich um die damals verhandelte Novelle zum Bundesergänzungsgesetz zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung vom 1. Oktober 1953 (BGBl. I 1953, 1387 ff. – BErgG -). 597 Rundschreiben O.d.F, Friedrich Haugg, 1954. Archiv Institut für Zeitgeschichte München, Sammlung Friedrich Haugg, Akz. 7122/85, Bund OdF: Rundschreiben, Erklärungen, Tätigkeitsberichte 1954 – 1970, o. Pag.

210

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

»Euer Bundesvorstand bittet aber zuletzt den O.d.F. nicht fortgesetzt für Sünden und Fehler Eures früheren Zentralverbandes zu belasten. Der O.d.F hat Euch in kameradschaftlicher Verbundenheit in die Betreuung aufgenommen, lehnt es aber grundsätzlich ab, als Prügelknabe des früheren Zentralverbandes missbraucht zu werden.«598

So nahe die Entscheidung für eine Bündelung der verschiedenen Opferinteressen in einer großen Organisation angesichts der genannten Schwierigkeiten auch gelegen haben mochte, so brachte die Übernahme des kleineren Zentralverbandes durch den Bund OdF doch den Nachteil mit sich, dass die Zwangssterilisierten und Euthanasie-Geschädigten nun nicht mehr als autonome Opfergruppe nach außen erkennbar waren, obwohl sich der Bund OdF unter dem Vorsitzenden Friedrich Haugg bemühte, die Interessen der ehemaligen Zentralverbandsmitglieder im politischen Streit um die Wiedergutmachung in Bonn einzubringen. Mit der Verabschiedung des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) von 1956 musste sich bei Zwangssterilisierten und Euthanasie-Geschädigten das Gefühl einstellen, doppelt gescheitert zu sein. Auch bei Friedrich Haugg und dem Bund OdF wurde das BEG als bittere Enttäuschung empfunden. Der Gesetzgeber gab den fiskalischen Interessen des Bundes den Vorrang. Die Verfolgten und Opfer des Nationalsozilismus hatten sich als eine dem Organisationsgrad nach verhältnismäßig kleine Gruppe neben anderen Gruppen wieder einmal nicht behaupten können. Insbesondere Zwangssterilisierte und Euthanasie-Geschädigte gingen mit ihren Entschädigungsansprüchen leer aus, denn das BEG sah nur eine Entschädigungsberechtigung für Personen vor, die aus politischen oder »rassischen« Gründen, wegen ihres Glaubens oder wegen ihrer Weltanschauung verfolgt worden waren. Durch die zugrunde gelegte Definition eines »typischen NS-Unrechts«, die sich an dem expliziten Verfolgungswillen des NS-Regimes orientierte, blieb diese Opfergruppe von Wiedergutmachungsleistungen erneut599 weitgehend ausgeschlossen.600 598 Informationsbericht Friedrich Haugg, München Juni 1955. Archiv Institut für Zeitgeschichte, Sammlung Friedrich Haugg, Akz. 7122/85, Bund OdF: Rundschreiben, Erklärungen, Tätigkeitsberichte 1954 – 1970, o. Pag. S. 2. 599 Henning Tümmers verweist auf eine Fallstudie zur Region um Aachen, nach der schon in Folge des BEG von 1953 ganze 99 Prozent der dort lebenden Zwangssterilisierten von Einmalzahlungen oder Renten mit der Begründung ausgeschlossen waren, dass bei ihnen die Sterilisation aus eugenischen, und nicht aus politischen oder »rassischen« Gründen erfolgt sei. Vgl. Henning Tümmers, Schon wieder »vergessene Opfer«? Zwangssterilisierte zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Ärzteblatt Baden-Württemberg 65 (2010) 7, S. 286 – 289, hier : S. 287. Vgl. auch Tümmers’ neueste Beiträge zu der Thematik, die aus dem Forschungsprojekt »The Practice of Wiedergutmachung, Nazi-Victims and Indemnification in Israel and Germany 1952 – 2002« hervorgegangen sind. Hier u. a.: Henning Tümmers, Spätes Unrechtsbewußtsein. Über den Umgang mit den Opfern der NSErbgesundheitspolitik, in: Norbert Frei, Constantin Goschler und Jos¦ Brunner (Hg.), Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte – Erfahrung – Wirkung, Göttingen 2009,

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

211

Infolge von Unklarheiten im Zusammenhang mit dem BEG von 1956 und dessen Umsetzung wurde diese Frage in der ersten Hälfte der 1960er-Jahre im Rahmen eines Wiedergutmachungsausschusses des Deutschen Bundestags neu verhandelt.601 Unter den einbestellten Gutachtern und Mitgliedern des Ausschusses befanden sich mehrere Eugeniker / Rassenhygieniker, wie z. B. Hans Nachtsheim, die sich vor, während und, wie gesehen, auch nach der Zeit des Nationalsozialismus für Zwangssterilisationen ausgesprochen hatten. Der Ausschussexperte Werner Villinger war sogar als Gutachter an der KrankenmordAktion T4 beteiligt gewesen.602 Angesichts der zu der Zeit unter Bonner Vertretern der Gesundheits- und Justizministerien intensiv diskutierten Pläne zu einem neuen Sterilisationsgesetz603 überrascht es daher kaum, dass dieser Ausschuss das GVeN nicht als typisch nationalsozialistisches Gesetz einstufte und auch dessen offensichtliche Widersprüchlichkeit zu rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht erkennen wollte: »Der gelegentlich erhobene Vorwurf, das ErbGes. [»Erbgesundheitsgesetz«] sei meist fehlerhaft und mißbräuchlich angewendet und von den Nationalsozialisten auch als Instrument benutzt worden, um rassisch oder politisch unerwünschte Personen zu treffen, hat sich nicht als berechtigt erwiesen.«604

Wie Henning Tümmers zu den Motiven plausibel anmerkt, war es aus Sicht der Bonner Ministerialadministration sowie der einbestellten Ausschussmitglieder angesichts ihrer Überlegungen zu einem neuen Gesetz zur Unfruchtbarmachung undenkbar, »auf der einen Seite eine Norm zur Unfruchtbarmachung von Bundesbürgern gegenüber der Öffentlichkeit glaubwürdig zu vertreten«, während auf der anderen Seite NS-Zwangssterilisierte für gleichartige, an ihnen vorgenommene Eingriffe entschädigt werden würden.605

600

601 602 603 604

605

S. 443 – 479. Henning Tümmers, Ärztliches Handeln, bundesrepublikanische Befindlichkeiten und die Schatten der Vergangenheit: Der Fall Dohrn, in: Dominik Groß, Richard Kühl und Stefanie Westermann (Hg.), Medizin im Dienst der Erbgesundheit. Beiträge zur Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene, Münster u. a. 2010, S. 215 – 240; Tümmers, Anerkennungskämpfe. Rolf Surmann, Was ist typisches NS-Unrecht? Die verweigerte Entschädigung für Zwangssterilisierte und »Euthanasie«-Geschädigte, in: Margret Hamm (Hg.), Lebensunwert – zerstörte Leben. Zwangssterilisation und »Euthanasie«, Frankfurt am Main 2005, S. 198 – 211, hier S. 201. Manfred Kappeler, Der Umgang mit den Opfern spiegelt die Haltung zu den Verbrechen der Täter, in: Manfred Sesser (Hg.), Herrschaft und Verbrechen. Kontrolle der Gesellschaft durch Kriminalisierung und Exklusion, Berlin 2008, S. 109 – 156, hier S. 138. Schmuhl, Zwischen vorauseilendem Gehorsam und halbherziger Verweigerung. Tümmers, Schon wieder »vergessene Opfer«?, S. 287 f. Bericht zur Frage einer Entschädigung von Personen, die in der Zeit von 1933 bis 1945 sterilisiert worden sind – Kurzfassung, Bundesarchiv Koblenz, B 136/1151, fol. 1 – 354, Bundeskanzleramt. Akten betr. Finanzielle Wiedergutmachung nationalsozial. Unrechts, V. Erledigte Einzelsachen, o. Dat. (18. 2. 1960), Bl. 107. Tümmers, Schon wieder »vergessene Opfer«?, S. 288.

212

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Der Münchener Bundesverband OdF legte 1964 dem Deutschen Bundestag und dem Ausschuss für Wiedergutmachung eine Denkschrift vor, mit dem die Interessen der früheren Zentralverbandsmitglieder noch einmal vertreten wurden. Wie der OdF in seinem Publikationsorgan »Sprachrohr – Notschrei« mitteilte, war man in diesem Sinne auch an Parteien, juristische und medizinische Fachverbände, Religionsgemeinschaften, Gewerkschaften, die Länderparlamente und sogar an ein europäisches NS-Opferparlament herangetreten.606 Obgleich es, wie Westermann zeigen kann, im Zuge dieser Aktivitäten erneut zu Binnenhierarchisierungen der Gruppe der Zwangssterilisierten kam, vertrat der OdF auf europäischer Ebene in seiner Selbstdarstellung die Linie, schon seit 1954 gemeinsam mit der Deutschen Liga für Menschenrechte e.V. sowie mit Unterstützung durch das Präsidium der Federation International des Droits de l’Homme (Paris) »sorgsam begründete Eingaben und Anträge zur Einbeziehung aller Sterilisierten in den Kreis der Entschädigungsberechtigten bei der Bundesregierung und dem Deutschen Bundestag eingereicht« zu haben.607 Die Situation verschlechterte sich mit dem BEG-Schlussgesetz von 1965, denn nun konnten Ansprüche auf Entschädigung nur noch bis zum 31. Dezember 1969 angemeldet werden. Die im Gesetz vorgesehenen Härteausgleichsleistungen, die hinter dem eigentlichen Entschädigungsanspruch weit zurückblieben, waren derart rigide begrenzt worden, dass kaum ein Betroffener davon profitieren konnte. Dies blieb die Rechtslage bis zum Jahr 1980, als das Bundesfinanzministerium einen Härtefond einrichtete, aus dem Betroffene eine Einmalzahlung von 5.000 DM beantragen konnten.608 Nach dem derzeitigen Stand der Forschung bestanden nach der Eingliederung des Zentralverbands in den Bund OdF 1954 keine eigenständigen Opferorganisationen für Zwangssterilisierte und Euthanasie-Geschädigte – bis zur Gründung des BEZ im Jahr 1987.609 Diese wiederum war mit einem vergangenheitspolitischen Aufbruch seit dem Beginn der 1980er-Jahre verknüpft, der sich unter anderem mit der Institutionalisierung eines Netzwerkes von aufar606 Vgl. Westermann, Verschwiegenes Leid, S. 100. 607 Bund der Opfer des Faschismus e.V., Deutsche Liga für Menschrechte: Beschlussantrag an das 2. Europäische Parlament der Opfer des Nationalsozialismus wegen bundesgesetzlicher Entschädigung für Menschen, die im Vollzug des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. 7. 1933 zwangssterilisiert wurden, vom 1. Juni 1966, in: Sprachrohr, Bund der Opfer des Faschismus, o. J., ca. 1966. Zitat mit Hervorhebung im Original und Angabe nach: Westermann, Verschwiegenes Leid, S. 101. 608 Surmann, Was ist typisches NS-Unrecht, S. 205 f.; sowie: Tümmers, Schon wieder »vergessene Opfer«?, S. 288. Siehe insbesondere Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 264 – 271, mit Darstellung des erfolgreichen Engagements eines Gehörlosenlehrers, Horst Biesold, ab 1979/1980, der zur Einrichtung des Härtefonds maßgeblich beitrug. 609 Zu Hinweisen zu sowohl individuellen als auch regionalen Initiativen, sich der Zwangssterilisierten anzunehmen, siehe: Westermann, Verschwiegenes Leid, S. 89, 100 u. 102.

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

213

beitungswilligen Vertretern des Gesundheitswesens zu formieren begann: dem Arbeitskreis.

4.3.2. Arbeitskreis zur Erforschung der NS-»Euthanasie« und Zwangssterilisation 4.3.2.1. Die Vorgeschichte des Arbeitskreises »Ich klage an, dass wir ab 1945 – und damit komme ich zur ›zweiten Schuld‹ – so weitergemacht haben, als ob nichts geschehen wäre …«610

Die meisten Gründungsmitglieder des Arbeitskreises gehörten einer jüngeren Generation an, die die Kriegsereignisse kaum mehr persönlich miterlebt hatte, dafür in ihrem Privatleben und ihrem beruflichen Qualifizierungsweg unmittelbar an den politischen und sozialen Bewegungen seit 1967/68 partizipierte.611 Während der 1970er-Jahre drängten sie aus der Ausbildung oder dem Studium in die medizinischen Berufe und erlebten dort im Arbeitsalltag die teilweise katastrophalen Verhältnisse (z. B. im Bereich der Psychiatrie), die übermächtige Binnenhierarchie ihrer jeweiligen medizinischen Disziplin und sogar staatliche Repressionen.612 Vielerorts gingen – zunächst mit geringem Erfolg – Reformversuche von dieser Generation aus und nicht wenige erlebten enorme Widerstände innerhalb des eigenen Berufsstandes, z. B. Verunglimpfungen als »Nestbeschmutzer«, wenn sie die Medizinverbrechen thematisierten. Die Psychiatriereform-Bewegung institutionalisierte sich zunehmend seit den Initiativen aus dem »Mannheimer Kreis« (benannt nach dem ersten überregionalen Treffen der Psychiatriebewegung im Mai 1970) und der darauf folgenden Gründung der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie (DGSP 1971). Diese Gruppierungen erreichten, dass sich 1971 – 1975 eine EnqueteKommission des Deutschen Bundestages mit den Missständen der Psychiatrie befasste.613 Wie Gerrit Hohendorf feststellte, verschwand das Thema NS610 Klaus Dörner, »Ich klage an«. Rede zur Enthüllung des Mahnmals im psychiatrischen Landeskrankenhaus Wehnen / Oldenburg gehalten am 1. September 2001 im Auftrag der Angehörigen der Opfer der NS-Euthanasie Wehnen, in: Soziale Psychiatrie (2002) 2, S. 34 – 35, hier : S. 35. 611 Zu den Hintergründen eines neuen Paradigmas in der Interpretation der NS-PsychiatrieVergangenheit siehe auch: Roelcke, Trauma or Responsibility?. 612 Zur Anwendung von Berufsverboten und »Regelanfragen« beim Bundesverfassungsschutz vor Einstellung im öffentlichen Dienst auf Grundlage des sogenannten »Radikalenerlasses« siehe Forsbach, Die 68er und die Medizin, S. 62. 613 Zur Entwicklung der Psychiatrie-Enquete vgl. Franz Werner Kersting, Abschied von der »totalen Institution«? Die westdeutsche Anstaltspsychiatrie zwischen Nationalsozialismus und den Siebziger Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 267 – 292. Abschlussbericht der Enquete unter http://www.dgppn.de/schwerpunkte/versorgung/enque

214

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Psychiatrie im Verlauf der 1970er-Jahre von der Agenda, und das, obwohl die NS-Euthanasie in der Gründungssatzung als geschichtlicher Bezugspunkt explizit verankert worden war.614 Die bis dahin zögerliche Auseinandersetzung mit der NS-Psychiatrie-Geschichte fand im Januar 1979 einen äußeren Anlass als Auslöser. Im deutschen Fernsehen wurde an vier Abenden der amerikanische Spielfilm »Holocaust« ausgestrahlt, den schätzungsweise 20 Millionen Zuschauer sahen.615 In der gesamten Bundesrepublik kam daraufhin eine intensive Debatte über die NSVergangenheit in Gang.616 Einige Psychiater sahen sich durch die Fernsehserie explizit herausgefordert, denn die Euthanasie-Verbrechen an Psychiatriepatienten in der Tötungsanstalt Hadamar waren nicht nur öffentlich thematisiert, sondern auch in einen – wenngleich losen – Zusammenhang mit dem Holocaust gestellt worden.617 In unmittelbarer Reaktion darauf traf sich auf der 13. Tagung des »Mannheimer Kreises«, die im Mai 1979 im Psychiatrischen Krankenhaus Rickling (SchleswigHolstein) stattfand, eine Gruppe von etwa 50 Personen zu einer Veranstaltung mit dem Titel »Holocaust und die Psychiatrie: Einladung zum Nachdenken über den Vergleich 1940 – 1979«. Der Sozialpsychiater Klaus Dörner drückte bei diesem Treffen seine Betroffenheit über das Versäumnis einer ernsthaften und breiten Auseinandersetzung mit den Worten aus:

614 615 616

617

te.html (5. 1. 2013), Deutscher Bundestag 7. Wahlperiode, Drucksache 7/4200, Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland – Zur psychiatrischen und psychotherapeutisch / psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung. Auf die Zwangssterilisation und NS-Euthanasie wurde im Bericht nur minimal Bezug genommen. Siehe die kurzen Abschnitte »Die Tötung Geisteskranker während des Nationalsozialismus« und »Zwangssterilisation«, Abschlussbericht, S. 62. Hohendorf, The Representation of Nazi »Euthanasia«, S. 46. Assmann / Frevert, Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit, S. 267. So auch Jürgen Wilke, Die Fernsehserie »Holocaust« als Medienereignis, in: Zeitgeschichte-online, März 2004, http://www.zeitgeschichteonline.de/md=FSHolocaust-Wilke (5. 1. 2013). Christoph Classen, Die Fernsehserie »Holocaust« – Rückblicke auf eine »betroffene Nation«. Zum Themenschwerpunkt, in: Zeitgeschichte-online, März 2004 / Oktober 2005, http://www.zeitgeschichte-online.de/sites/default/files/documents/classen_einf.pdf (5. 1. 2013); Jens Müller-Bauseneik, Die US-Fernsehserie »Holocaust« im Spiegel der deutschen Presse (Januar–März 1979). Eine Dokumentation, in: Zeitgeschichte-online, März 2004, http://www.zeitgeschichte-online.de/sites/default/files/documents/shpressebiblio.pdf (5. 1. 2013). Dazu ebenfalls: Jens Müller-Bauseneik, Auswahlbibliographie der Zeitungs- und Zeitschriftenartikel zur US-Fernsehserie »Holocaust«, in: Zeitgeschichte-online, März 2004, http://www.zeitgeschichte-online.de/sites/default/files/documents/shpressebiblio. pdf (13. 1. 2013). Der Film thematisierte die (fiktive) Ermordung des Familienmitglieds Anna Weiß in der Tötungsanstalt Hadamar (Euthanasie-Aktion T4), das nach einer Vergewaltigung psychisch erkrankt war. Im Film wird nicht der authentische Ort Hadamar gezeigt. Der Spielfilm löste aus, dass am historischen Ort Hadamar nach Spuren und Krankenakten gesucht wurde. Zur Entstehung der Gedenkstätte Hadamar siehe Abschnitt 4.1.3.1. in dieser Arbeit.

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

215

»Ich habe mich in den 1960er Jahren wissenschaftlich mit dem Schicksal psychisch Kranker im Dritten Reich beschäftigt. Ich dachte, ich hätte das damit für mich bewältigt oder aufgearbeitet. Nach dem ›Holocaust‹-Film schämte ich mich: Ich merkte, daß das nur eine Bewältigung mit dem Verstand war. Ich möchte jetzt versuchen, das Geschehen auch gefühlsmäßig nachzuvollziehen. Vielleicht bin ich auch innerlich erst jetzt in der Lage dazu. Dazu gehört auch die Überlegung, daß die Menschen im Dritten Reich in guter Absicht handelten. Sie wollten Gutes tun und wurden zu Verbrechern […].«618

Die seltsam anmutende Überlegung zu den ursprünglich guten Absichten der an den Verbrechen beteiligten Personenkreise lässt sich erklären, wenn man Dörner zugutehält, dass er persönlich auf der Suche nach einem neuen emotionalen Zugang zur Vergangenheit und damit zur eigenen Gegenwart war. Die intellektuelle Beschäftigung oder die rein moralische Distanzierung von den Tätern aus den Reihen der Psychiatrie ging ihm nicht weit genug. So wurde die frühere innere Distanzierung ins Gegenteil, hier eine Überidentifikation, gewendet. Dörner und die DGSP glaubten alle erdenklichen Verbindungen zwischen der NS-Medizin und der gegenwärtigen Medizin identifizierten zu müssen, was sich sprachlich und politisch radikal in einer am 1. September 1979 von der DGSP veröffentlichten Denkschrift an den amtierenden Bundeskanzler Helmut Schmidt ausdrückte. Darin hieß es: »Zunächst bitten wir um Skepsis gegen uns selbst und unsere Aussagen«.619 Dieses Zitat spiegelt den Sprachduktus der gesamten Denkschrift wider, in der von »trauern«, von »wollen«, »wünschen« und am häufigsten von »bitten«, nicht aber von »fordern« oder »verlangen« die Rede war.

618 Klaus Dörner, Christiane Haerlin, Veronika Rau, Renate Schernus und Arnd Schwendy, Der Krieg gegen die psychisch Kranken. Nach »Holocaust«: Erkennen – Trauern – Begegnen, Rehburg-Loccum 1980, S. 15 f. Klaus Dörner hatte sich 1967 in Form eines Aufsatzes mit der Vergangenheit auseinandergesetzt. Vgl. Klaus Dörner, Nationalsozialismus und Lebensvernichtung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), S. 121 – 152; erneut abgedruckt in: Klaus Dörner, Diagnosen der Psychiatrie. Über die Vermeidungen der Psychiatrie und Medizin, Frankfurt am Main / New York, 1975, S. 59 – 95. Mit der allgemeinen Geschichte der Psychiatrie im 20. Jahrhundert befasste sich Dörner seit den 1960er-Jahren. Im Jahr 1969 erschien in der Europäischen Verlagsanstalt Frankfurt am Main seine kritische Studie »Bürger und Irre«, die 1974 neu aufgelegt und 1981 ins Englische übersetzt wurde. Weitere Auflagen der deutschen Ausgabe folgten. Auf dem Berliner Gesundheitstag 1980 erklärte Dörner, die Diskussion nach »Holocaust« habe ihm einen neuen Impuls gegeben. Vgl. Gerhard Baader und Ulrich Schultz (Hg.), Medizin und Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit, ungebrochene Tradition. Dokumentation des Gesundheitstages Berlin 1980, Berlin 1980, S. 23. 619 1. September 1979: Zur Erinnerung an den 40. Jahrestag des Beginns des Vernichtungskrieges nach außen und innen. Denkschrift der »Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie« (DGSP): Holocaust und die Psychiatrie – oder der Versuch, das Schweigen in der Bundesrepublik zu brechen, abgedruckt in: Dörner u. a., Der Krieg gegen die psychisch Kranken, S. 213.

216

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

An anderer Stelle hieß es zur Rickling-Tagung unter der Zwischenüberschrift »Wir sind wie sie«, d. h. wie die NS-Täter: »Betroffen waren die Teilnehmer, als sie sich klar machten, daß die psychiatrisch Tätigen der NS-Zeit weder sadistisch noch sonstwie bösartig waren, daß sie vielmehr von einem therapeutischen Idealismus getrieben waren, daß sie die ganze Gesellschaft beglücken und von Leiden befreien wollten, wenn sie schon den Einzelmenschen nicht heilen konnten, daß sie nur konsequent bis zur Endlösung in ihrem omnipotenten Helferdrang waren […]. Um wieviel betroffener waren die Teilnehmer, als sie bei sich selbst – widerstrebend – feststellten, daß sie sich an ihren eigenen Arbeitsplätzen von denselben Motiven […] nicht selten leiten lassen.«620

Und erneut wurde die TV-Serie »Holocaust« erwähnt. Eine deutliche Kritik an der Art der Reaktionen in der Öffentlichkeit, die weder als tief gehend noch als nachhaltig genug empfunden wurden, verband sich mit der Aufforderung, endlich auf die Betroffenen zuzugehen. Es hieß: »Spätestens jedoch die TV-Serie ›Holocaust‹ hat gezeigt, daß Information und Dokumentation gar nichts ist, wenn ihr nicht die innere Auseinandersetzung folgt. Von ihr aber kann bisher kaum die Rede sein. Wer von uns hat es denn schon gewagt, ein Wort an die ermordeten psychisch kranken Bürger zu richten oder an ihre noch lebenden Angehörigen.«621

Damit vertrat nun Ende der 1970er-Jahre ein Teil der Psychiater erstmals die Ansicht, dass eine an die Opfer gerichtete Bitte um Verzeihung überfällig war. Mit der Denkschrift bezog die DGSP kritisch Stellung zum 40 Jahre langen Schweigen innerhalb der Psychiatrie über die NS-Verbrechen (Postulat: Trauern statt Schweigen). Und sie beklagte zugleich die Stagnation der mit der Psychiatrieenquete (DBT 1970 – 1975) eingeleiteten Psychiatriereform.622 Nach kritischer Einschätzung von Henning Tümmers war die Denkschrift weit weniger auf die NS-Opfer ausgerichtet als auf die Standesinteressen der Psychiatrie selbst. So habe die NS-Psychiatrie an sich für die DGSP im Jahr 1979 keine Rolle gespielt. Durch die Strategie der DGSP sei sogar der Blick auf die Realgeschichte der NS-Medizin und ihrer Verbrechen versperrt worden.623 Die Denkschrift be620 Denkschrift DGSP, in: ebd., S. 209. 621 Denkschrift DGSP, in: ebd., S. 207. 622 Konkret empfahl man, die Grundforderungen aus der Enquete mit einem »Rahmengesetz« zu verankern. Den Bundesländern und sonstigen Trägern von psychiatrischen Einrichtungen wurde nahegelegt, die großen Krankenhäuser zugunsten einer ambulanten, gemeindenahen Versorgungsstruktur aufzugeben, weshalb auch die Kompetenz für den psychiatrischen Bereich von den Ländern wieder an die Kommunen zurückzugeben sei. Die Frage der Kostenträgerschaft für Rehabilitationsübergangsheime müsse geklärt werden. Um das Risiko einer Psychotherapeutisierung einzudämmen, solle das Psychotherapeutengesetz weniger unter berufsrechtlichen Fragen behandelt als zugunsten des Ambulanzbedarfs der Gemeinden gesehen werden. Vgl. Denkschrift DGSP, in: ebd., S. 214 f. 623 Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 264.

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

217

deute, so Tümmers Interpretation, vor allem in einer Hinsicht eine Zäsur, sie zeige nämlich »den Übergang von genuin entschädigungspolitischen Diskursen hin zu einer Instrumentalisierung der Vergangenheit«.624 An anderer Stelle wurde die Denkschrift dagegen als Startpunkt für eine ganze Reihe von Entwicklungen bezeichnet.625 Innerhalb der DGSP hatte sich im selben Jahr (1979) eine kleinere Arbeitsgruppe »NS-Psychiatrie« aus etwa einem Dutzend Beteiligter gebildet, die sich zwar unregelmäßig traf, die jedoch als Vorläuferorganisation des Arbeitskreises aufgefasst werden kann. In mittelbarer zeitlicher Nähe zur DGSP-Denkschrift initiierten Klaus Dörner und die Teilnehmer einer Fortbildungswoche in Gütersloh (1983/1984) mit der dabei formulierten »Gütersloher Resolution« ein politisches Projekt zur Wiedergutmachung, das in den 1980er-Jahren Impulse in der Debatte um die Entschädigungspolitik gegenüber Zwangssterilisierten und Euthanasie-Geschädigten setzen konnte.626 Wie in Abschnitt 4.1. beschrieben wurde, war im Verlauf der 1970er-Jahre in mehreren Landesärztekammern eine Opposition aus politisch links orientierten, jungen Ärzten und Ärztinnen entstanden (gewerkschaftsnahe Mediziner, Sozialdemokraten, DKP-Mitglieder, später: VDÄÄ und Die Grünen). Sie kritisierten unter anderem die konservative Standespolitik innerhalb der Ärzteschaft, das unsoziale Gesundheitssystem in Deutschland und nicht zuletzt die allzu lange Tabuisierung der NS-Vergangenheit. 1980, ein Jahr nach »Holocaust«, boykottierten sie den Deutschen Ärztetag in Berlin und organisierten eine alternative Veranstaltung aller Pflegeberufe: den 1. Gesundheitstag. Interessierte aus der Bundesrepublik reisten nach Berlin an und nahmen an den Veranstaltungen des Gesundheitstages teil, der unter dem Motto »Medizin und Nationalsozialismus« stand. So wurde das Thema unter Vertretern der Medizin diskutiert und an die Öffentlichkeit gebracht.627 Mit dem zweiten Gesundheitstag in Hamburg 1981 konnte der Berliner Gesundheitstag an Zustrom von Interessierten sogar noch überboten werden. Diese alternative Bewegung innerhalb der Medizin, die sich nun explizit mit der NS-Medizin auseinandersetzte, wurde in die einzelnen Einrichtungen zurückgetragen, wo Geschichtswerkstätten und lokale Forschergruppen die Geschichte der eigenen Klinik aufzuarbeiten begannen oder bereits damit begonnen hatten.628 624 Ebd., S. 261. 625 Hohendorf, The Representation of Nazi »Euthanasia«, S. 41. 626 Klaus Dörner (Hg.), Gestern minderwertig – heute gleichwertig? Folgen der Gütersloher Resolution. Dokumentation und Zwischenbilanz des Menschenrechtskampfes um die öffentliche Anerkennung der im 3. Reich wegen seelischer, geistiger und sozialer Behinderung zwangssterilisierten oder ermordeten Bürger und ihrer Familien als Unrechtsopfer und NSVerfolgte, 2 Bde., Gütersloh 1985 und 1986. 627 Vgl. Baader / Schultz (Hg.), Medizin und Nationalsozialismus. 628 Etwa in diese Zeit fallen z. B. die Recherchen des Sozialpsychiaters Asmus Finzen zu seinem 1982 erschienenen Buch, in dem er die Euthanasie-Vergangenheit der Anstalt Wunstorf

218

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Was diesen Arbeitsgruppen noch fehlte, war die Vernetzung untereinander, um die Ergebnisse der jeweiligen Arbeit zu diskutieren und zu bündeln. Dies gelang 1983 im Westfälischen Landeskrankenhaus Gütersloh (Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie). Es war die Geburtsstunde des Arbeitskreises.

4.3.2.2. Zur Gründungs- und Wirkungsgeschichte des Arbeitskreises Auf Initiative der Sozialpsychiater Klaus Dörner und Ralf Seidel sowie des Sozialhistorikers Dirk Blasius, Teilnehmer der DGSP-Arbeitsgruppe NS-Psychiatrie, lud man am 25. November 1983 zu einem »Erfahrungsaustausch« nach Gütersloh ein. Alle Interessierten sollten ihre Arbeiten vorstellen und einander kennenlernen können, um dann gemeinsam über eine neue Organisationsform für die zukünftige Zusammenarbeit zu diskutieren.629 Die Motive des Treffens, bei dem über 30 Vertreter der Psychiatrie, Neurologie, Pflegepädagogik, Theologie, Medizinsoziologie, Medizingeschichte und Geschichtswissenschaft anreisten, waren vielfältig. Unübersehbar war, dass sich die akademische zeithistorische Forschung bis dahin kaum mit den NS-Medizinverbrechen befasst hatte und die »Laienbewegung« diese Lücke würde füllen müssen.630 Im Zentrum der Diskussionen in Gütersloh stand ähnlich der RicklingTagung der Versuch einer intellektuellen und emotionalen Vergegenwärtigung der NS-Medizinverbrechen. Darüber hinaus wollte man ein Forum zur kritischen Selbstreflexion und Analyse der aktuellen Missstände innerhalb der Medizin bieten. Nicht zuletzt sollte ein praktischer Austausch über die Methodik der historischen Quellenarbeit stattfinden.631 Bereits beim ersten Treffen zeichneten sich Spannungsfelder zwischen Laienaufdeckte: Asmus Finzen, Auf dem Dienstweg. Die Verstrickung einer Anstalt in die Ermordung von psychisch Kranken und geistig Behinderten im Dritten Reich, unter Einbeziehung einer Dokumentation von Dolf Sternberger, Wunstorf 1982. Siehe auch: N.N., Asmus Finzen im Gespräch. Von Nord nach Süd, von Schleswig bis in die Schweiz – Stationen eines sozialpsychiatrischen Lebensweges. SP-Redaktionsmitglied Jens Clausen besuchte Asmus Finzen in dessen Refugium in einer Altstadtgasse von Basel, in: Soziale Psychiatrie (2004) 3, S. 44 – 47. 629 Einladung zu einem Erfahrungsaustausch über NS-Psychiatrie, 30. 9. 1983, Klaus Dörner, Ralf Seidel, Dirk Blasius. Archiv Beratungszentrum Alsterdorf, Unterlagen Michael Wunder, Ordner : Euthanasie AK 1983 – 1992, o. Pag. 630 Protokoll des Erfahrungsaustausches über NS-Psychiatrie vom 26. 11. 1983. Archiv Beratungszentrum Alsterdorf, Unterlagen Michael Wunder, Ordner : Euthanasie AK 1983 – 1992. Vgl. auch Michael Burleigh und Wolfgang Wippermann, Hilfloser Historismus. Warum die deutsche Geschichtswissenschaft bei der Erforschung der Euthanasie versagt hat, in: Karl Ludwig Rost, Till Bastian und Karl Bonhoeffer (Hg.), Thema Behinderte. Wege zu einer sozial verpflichteten Medizin – Reihe »Medizin und Ökologie«, Stuttgart 1991, S. 11 – 23. 631 Protokoll des Erfahrungsaustausches über NS-Psychiatrie am 25. November 1983. Archiv Beratungszentrum Alsterdorf, Unterlagen Michael Wunder, Ordner : Euthanasie-AK 1983 – 1992, o. Pag.

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

219

Historikern (in späteren internen Diskussionen wurde der Begriff »Barfußhistoriker« geprägt) und professionellen Historikern ab. Diskussionen über das Verhältnis von Mikro- und Makrogeschichte prägten in den nachfolgenden Jahren wiederholt die Diskussionen. Dass die zukünftige Programmatik des Arbeitskreises nur in groben Zügen feststand und dem Selbstverständnis seiner Teilnehmer nach als »historiographische Selbsthilfegruppe« auch Wandlungen unterlag, zeigt die Metamorphose der Eigenbezeichnungen. Im Zuge der Einladung zum Erfahrungsaustausch durch Vertreter der DGSP 1983 war noch von einem Arbeitskreis NS-Psychiatrie die Rede. Ein Jahr später wurde die Bezeichnung NS-AG verwendet und ein weiteres Jahr danach hatte sich der Titel AK Euthanasie-Forschung etabliert. Bis 1989 setzte sich die Bezeichnung Arbeitskreis zur Erforschung der Geschichte der »Euthanasie« durch und 1991 erfuhr der Titel Veränderungen um zwei nicht unerhebliche Details: AK zur Aufarbeitung der Geschichte der »Euthanasie« und Zwangssterilisation.632 Im Herbst 2008 konnte der Arbeitskreis auf eine 25-jährige Geschichte zurückblicken. Seine Mitglieder hatten sich seit der Gütersloher Initiierung – wenn möglich – zwei Mal im Jahr an wechselnden Orten getroffen633 und waren auf eigene Kosten angereist. Der Mannheimer Kreis diente formal als Modell,634 denn das primäre Organisationsmerkmal war damals wie heute eine Adresskartei, die nach Abschluss der jeweiligen Tagung an die nächste einladende Einrichtung weitergegeben wurde. Obwohl Arbeitsbeziehungen und Freundschaften aus diesem Forum hervorgingen, blieb der Arbeitskreis ein flexibles Netzwerk. Gerade in diesem Merkmal, fernab von festgefügten Vereinsstrukturen zu agieren, ist möglicherweise das Rezept seines erfolgreichen Fortbestands zu sehen. Inhaltlich Interessierte, neue Forschungsprojekte oder Doktoranden und Doktorandinnen ließen sich integrieren. Andere, deren Forschungsbereiche sich verschoben, erschienen weniger oft. Darüber hinaus nahmen die (bis 2012) fünf bestehenden Euthanasie-Gedenkstätten stetig an Bedeutung zu.635 Seit Jahren fanden im Vorfeld der Ar632 Entnommen den Protokollen des Arbeitskreises, Archiv Beratungszentrum Alsterdorf, Unterlagen Michael Wunder, Ordner : Euthanasie-AK 1983 – 1992. 633 Siehe eine erste Übersicht der Arbeitskreistreffen: Michael Wunder, Zur Geschichte des »Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen ›Euthanasie‹ und Zwangssterilisation«, in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation, Der sächsische Sonderweg bei der NS-»Euthanasie«. Fachtagung vom 15. bis 17. Mai 2001 in Pirna-Sonnenstein, Berichte des Arbeitskreises, Band 1, Ulm 2001, S. 9 – 19. 634 Was ist der Mannheimer Kreis? – Zur Gebrauchsanweisung – von Klaus Dörner, Düren Mai 1973. Archiv der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, Kinderzentrum München. 635 Mit der Eröffnung der »Gedenkstätte für die Opfer der Euthanasie-Morde« in Brandenburg

220

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

beitskreistagungen regelmäßige Treffen der Gedenkstättenleitungen statt, wodurch die Abstimmung und Kooperation zwischen diesen Einrichtungen und mit dem Arbeitskreis gefördert wurde. Allgemein können die Tätigkeiten des Arbeitskreises in mindestens drei Funktionen zusammengefasst werden. I. Forschungskoordination (Aufarbeitung auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene), II. Gegenwarts-Bezug (erinnerungskulturelle Impulse auf lokaler Ebene) und III. Sozial-politisches Netzwerk (erinnerungskulturelle Impulse auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene). I. Forschungskoordination Bei den Treffen wurden Forschungsergebnisse zur Diskussion gestellt. Je nach thematischem oder regionalem Bezug tauschten sich Personen mit benachbarten Untersuchungsgegenständen aus, bündelten die Ergebnisse, identifizierten Forschungslücken und legten so Forschungspfade an – die auch in akademische Forschungsprojekte eingingen. Über die Jahre differenzierten sich verschiedene Forschungsfelder aus:636 – Euthanasie-Debatte im 19. und 20. Jahrhundert, – Psychiatriegeschichte im Ersten Weltkrieg und in der Weimarer Republik, – Zwangssterilisation (GVeN), – Durchführung der Aktion T4 (1939 – 1941) auf lokaler / regionaler Ebene, – Minderjährigen-Euthanasie (1939 – 1945), – Geschichte der Ärzteschaft im 20. Jahrhundert, – Widerstand gegen die Sterilisationspraxis und NS-Euthanasie, – Haltung und Beteiligung der Kirchen, – begleitende medizinische Forschungen an Opfern, – Übergänge / Verbindungslinien zum Holocaust: Aktion 14f13 an Konzentrationslagerhäftlingen, jüdische Patienten als Opfer der Euthanasie, zweite (regionale bzw. kooperative) Phase der Euthanasie (1941 – 1945), sogenannte Aktion Brandt, – Hungersterben in der Psychiatrie vor und unmittelbar nach dem Kriegsende etc. Zusammen mit der großen Zahl von (medizin-)historischen Doktorarbeiten liegt heute eine nahezu unüberschaubare Fülle an Publikationen zur Geschichte der Zwangssterilisation und NS-Euthanasie vor, von denen viele unmittelbar / Havel am 17. 8. 2012 existieren nun erstmals an allen sechs historischen Orten der ehemaligen Tötungsanstalten der Aktion T4 Gedenkstätten. Siehe die Internetpräsentation unter : http://www.stiftung-bg.de/doku/neues/doku2.htm (12. 6. 2013). 636 Eine Darstellung der Entwicklung und Dynamik der genannten Forschungsfelder über 25 Jahre hinweg ist hier nicht möglich.

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

221

oder mittelbar dem Arbeitskreis zugerechnet werden können.637 Dies umfasst die in den ersten Jahren als »graue Literatur« erschienenen Forschungsbeiträge sowie Zeitschriftenaufsätze, Sammelbände und Monographien bis hin zu den seit 2001 im Verlag Klemm & Oelschläger (Ulm / Münster) veröffentlichten Tagungsbänden. In den letzten 15 Jahren wurden die Ergebnisse der Lokalstudien zunehmend in regionale Untersuchungsrahmen integriert. Die Zusammenführung der Ergebnisse bzw. der Beginn vergleichender Untersuchungen für das gesamte ehemalige Reichsgebiet war aber erst durch die Erschließung neuer Quellenbestände vor wenigen Jahren möglich. II. Gegenwarts-Bezug Da die Arbeitskreistreffen an wechselnden Orten in psychiatrischen Kliniken, Behinderteneinrichtungen sowie in NS-Euthanasie-Gedenkstätten Deutschlands und Österreichs organisiert wurden, ließen sich die historischen Forschungen mit übergreifenden Diskussionen über den Stand der Aufarbeitung, Formen des lebendigen Gedenkens auf lokaler Ebene sowie über aktuelle Problemfelder der Gesundheits- und Sozialpolitik auf regionaler und bundesweiter Ebene verbinden. Lokale und regionale Gedenk- und Forschungsvorhaben sollten durch die Präsenz des Arbeitskreises nachhaltig unterstützt werden. Die Diskussion über ethische Problemfelder der modernen Medizin (z. B. erneute »Lebensunwert«-Debatten in der Öffentlichkeit, aktive und passive Sterbehilfe, Pränatal- u. Präimplantationsdiagnostik, künstliche Befruchtung und Gentherapie, Organtransplantationen, Stammzellforschung etc.) war dabei ebenso in den Programmen der Frühjahrs- und Herbsttagungen verankert wie die Berichte der 1987 gegründeten Opferorganisation BEZ. III. Sozial-politisches Netzwerk Innerhalb des Arbeitskreises wuchsen Verflechtungen, durch die gemeinsame Initiativen schnell nach außen kanalisiert werden konnten. Etwa fünf bis zehn Personen engagierten sich über die Jahre hinweg besonders intensiv, etwa bei der schriftlichen Ausformulierung der Diskussionsergebnisse oder der öffentlichen Aufrufe. Zudem trat und tritt der Arbeitskreis national und zunehmend transnational als (erinnerungs-)politischer Akteur auf. Dieses Engagement umfasst Unterschriftenaktionen, Aufrufe, Memoranden und Stellungnahmen in öffentlichen Diskussionen zu Erinnerungs- und Wiedergutmachungspolitik. Dem 637 Vgl. hierzu die Bibliographie eines Arbeitskreismitglieds Christoph Beck, Sozialdarwinismus, Rassenhygiene, Zwangssterilisation und Vernichtung »lebensunwerten« Lebens. Eine Bibliographie zum Umgang mit behinderten Menschen im »Dritten Reich« – und heute, Bonn 21995; sowie ders., Auswahlbibliographie, in: Kristina Hübener (Hg.) in Zusammenarbeit mit Martin Heinze, Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NSZeit, Berlin / Brandenburg 2002, S. 403 – 474.

222

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Selbstverständnis nach geht es dem Arbeitskreis darum, die wissenschaftlichen Kenntnisse über die nationalsozialistischen Medizinverbrechen im deutschen sowie im europäischen »Kollektivgedächtnis« lebendig zu halten und als Argument in wissenschaftliche und öffentliche Debatten über medizinethische Probleme der Gegenwart einzubringen. Exemplarisch seien drei Aktivitäten herausgestellt.638 Erstens: Nach einem ersten öffentlichen Appell des Arbeitskreises im Februar 1986 in der Frankfurter Rundschau »Für die Anerkennung und Entschädigung aller Opfer des Nationalsozialismus«, der einen Impuls in der politischen Diskussion über die Neuregelung der Wiedergutmachung bis dahin ausgeschlossener Opfergruppen gab, erschienen 1987 und 1989 zwei weitere Appelle in der Frankfurter Rundschau639 – die parallel an Abgeordnete des Deutschen Bundestags verschickt wurden –, mit denen sich der Arbeitskreis gegen den Entwurf einer gesetzlichen Neuregelung zur Sterilisation aussprach. Erfolgreich waren diese Proteste insofern, als die im Betreuungsgesetz-Entwurf der Bundesregierung noch im Februar 1989 vorgesehene eugenische Indikation zur Sterilisation Behinderter fallengelassen wurde.640 Zudem wurde ein Sterilisationsverbot bei Minderjährigen aufgenommen. Der Appell regte eine breite Debatte über die Regelung der Sterilisation an. Trotzdem wurde der Forderung nach der »Bindung der Sterilisation an die persönliche, nicht ersetzbare Einwilligung«641 mit dem Betreuungsgesetz (Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige) nicht entsprochen. Zweitens: Die für den Bereich der historischen Aufarbeitung der NS-Euthanasie weitreichendste Aktivität ermöglichte den Zusammenhalt und die Erschließung von über 30.000 Krankenakten von Opfern der Euthanasie-Aktion T4. Nach dem Zusammenbruch der DDR war im ehemaligen Archiv der Staatssicherheit ein Bestand entdeckt worden, der bis dahin als verschollen bzw. vernichtet galt. Nach der Identifizierung dieser Krankenakten war die Geschichte des Bestandes zunächst ungeklärt, ebenso der zukünftige Umgang damit.642 Vertreter des Arbeitskreises setzten sich dafür ein, dass der Aktenbe638 Die Beispiele sind einer ersten Übersicht der Außenaktivitäten des Arbeitskreises von 2001 entnommen. Vgl. Wunder, Zur Geschichte, S. 17 – 19. 639 Der erste Appell wurde bereits am 1. 2. 1986 an die Fraktionsvorsitzenden des Deutschen Bundestags verschickt. Archiv Beratungszentrum Alsterdorf, Unterlagen Michael Wunder, Ordner : Euthanasie AK 1983 – 1992. Der zweite Appell: Arbeitskreis zur Aufarbeitung der Geschichte der »Euthanasie«. Zweiter Appell, »Kein neues Sterilisationsgesetz«, in: Frankfurter Rundschau, 14. 10. 1989, S. 4. 640 Das Gesetz zur Reform des Rechts der Vormundschaft und Pflegschaft für Volljährige (Betreuungsgesetz) wurde am 12. 9. 1990 erlassen und trat zum 1. 1. 1992 in Kraft (BGBl. I, S. 2002). 641 Vgl. Wunder, Zur Geschichte, S. 18. 642 Vgl. u. a.: Volker Roelcke und Gerrit Hohendorf, Akten der »Euthanasie«-Aktion T4 ge-

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

223

stand in seiner Gesamtheit erhalten bleiben konnte – und nicht, wie damals gefordert, nach dem archivrechtlich üblichen Provenienzprinzip auf Landes-, Staats- und Privatarchive verteilt wurde. Im Juli 1995 verfassten Mitglieder des Arbeitskreises einen offenen Brief an den damaligen Innenminister Manfred Kanther.643 Die Initiative hatte Erfolg. Der Bestand wurde vom Bundesarchiv Berlin übernommen, restauriert und mithilfe von eigens eingerichteten Stellen (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) über eine Datenbank zugänglich gemacht. Auf diesem Wege wurden die Voraussetzungen geschaffen, repräsentative Untersuchungen zu den Opfern der Aktion T4, ihren Lebenswegen, aber auch zu den Selektionsentscheidungen der beteiligten Ärzte zu beginnen.644 Drittens: Aus Anlass der bevorstehenden Unterzeichnung der BioethikKonvention des Europarates645 durch die deutsche Bundesregierung wurde im Arbeitskreis die »Grafenecker Erklärung zur Bioethik« diskutiert und verfasst.646 Mit einer Unterschriftenaktion wurde auf die Problematik der Bioethik-Konvention hingewiesen. Die Kritik richtete sich gegen die in der ursprünglichen Konventions-Fassung erlaubte fremdnützige Forschung an nicht einwilligungsfähigen Menschen, die Entnahme von regenerierbarem Gewebe von nichteinwilligungsfähigen Menschen, verbrauchende Forschung an menschlichen Embryonen, Eingriffe in die menschliche Keimbahn zu diagnostischen, therapeutischen und präventiven Zwecken, eugenische Selektion bei geschlechtsgebundenen Erbkrankheiten sowie gegen Gentests zur Prognose von genetischen Krankheiten, unter anderem für die wissenschaftliche Forschung.647 Mit der »Grafenecker Erklärung« stellte sich der Arbeitskreis nicht allein gegen die Konvention, sondern allgemein gegen die Hauptströmung moderner

643

644

645 646

647

funden, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41 (1993) S. 479 – 481; Peter Sandner, Die »Euthanasie«-Akten im Bundesarchiv. Zur Geschichte eines lange verschollenen Bestandes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1999) 3, S. 385 – 400. Offener Brief des Arbeitskreises an Dr. Kanther, 31. 7. 1995, unterzeichnet durch Klara Nowak, Klaus Dörner, Michael Wunder, Volker Roelcke, nachrichtlich an Präsidenten des Bundesarchivs, den Bundespräsidenten u. a., Archiv Beratungszentrum Alsterdorf, Unterlagen Michael Wunder, Ordner : Euthanasie AK 1995 – 2002. Vgl. hierzu u. a. Fuchs u. a. (Hg.), »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst«. Zum DFG-Projekt: Wissenschaftliche Erschließung des Aktenbestandes R 179 der NS-»Euthanasie« siehe http://www.rzuser.uni-heidelberg.de/~d52/Historische_Arbeits gruppe/T4_Aktion.html (6. 1. 2013) Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin (BEK). In Grafeneck (Schwäbische Alp) befand sich 1939/1940 eine der sechs Gasmordanstalten der Euthanasie-Aktion T4. Allein in Grafeneck wurden etwa 10.000 Menschen mit geistiger Behinderung oder psychischen Erkrankungen getötet. Der Arbeitskreis traf sich 1995 in der dort eingerichteten Gedenkstätte und verabschiedete den Textentwurf. Vgl. Michael Wunder und Therese Neuer-Miebach (Hg.), Bio-Ethik und die Zukunft der Medizin, Bonn 1998, S. 182 – 195; oder : http://www.fuente.de/bioethik/grfneck1.htm (6. 1. 2013). Vgl. http://www.bioethik-konvention.de/; www.kritischebioethik.de (6. 1. 2013).

224

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Bioethik, die als angewandte Ethik, so die Kritik, nicht ihre Vereinbarkeit mit der Grundlagenethik (z. B. Sozialethik) darlegte. Begleitend zur »Grafenecker Erklärung« konnten im Oktober 1996 14.000 Unterschriften an die Präsidentin des Deutschen Bundestags, Prof. Dr. Rita Süssmuth, übergeben werden. Die Erklärung wurde an alle Bundestagsabgeordneten verschickt. 1998 wurden weitere 40.000 Unterschriften symbolisch an die Öffentlichkeit übergeben, nachdem der Bundesjustizminister die Annahme verweigert hatte.648 Nach Einschätzung des Arbeitskreises trugen diese und andere Initiativen zur Stärkung des »Geschichtsarguments« und »erheblich zum Widerstand gegen die Unterzeichnung der Bioethik-Konvention des Europarates durch die deutsche Bundesregierung« bei.649

4.3.3. Bund der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten (1987 – 2009) Die Gründung einer neuen Opferorganisation im Jahr 1987 war angesichts der ungebrochenen Missachtung der Betroffenen überfällig, aber keineswegs selbstverständlich, denn viele Betroffene hatten sich gedemütigt und demoralisiert zurückgezogen. Allerdings kam es in den 1980er-Jahren zu neuen politischen Auseinandersetzungen über bis dahin nicht anerkannte Opfergruppen. Neue Forschungsarbeiten (z. B. die Monographien des Journalisten Ernst Klee sowie die historischen Untersuchungen von Gisela Bock und Hans-Walter Schmuhl) boten zudem die Chance, das Thema in die Öffentlichkeit zu tragen, die politische Debatte um Wiedergutmachung aufzugreifen und endlich die seit den 1950er-Jahren dominierenden Deutungen der Erbgesundheits- und Rassenpolitik des Nationalsozialismus zu widerlegen.650 Unter anderem angestoßen durch die Denkschrift der »Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie« (DGSP) sowie die »Gütersloher Resolution« erreichten einige SPD-Abgeordnete des Deutschen Bundestags 1980 Modifizierungen in den Härteregelungen für Zwangssterilisierte.651 Unter Vorlage der Erbgesundheitsgerichtsbeschlüsse oder 648 Wunder, Zur Geschichte, S. 19, und Wunder / Neuer-Miebach (Hg.), Bio-Ethik und die Zukunft der Medizin, S. 195. 649 Wunder, Zur Geschichte, S. 19. Bis heute ist die Konvention weder von Deutschland noch von Österreich und Lichtenstein unterschrieben und ratifiziert worden. 650 Bahnbrechend waren u. a.: Klee, »Euthanasie« im NS-Staat; Gisela Bock, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986, sowie Hans-Walter Schmuhl, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung »lebensunwerten Lebens« ; 1890 – 1945, Göttingen 1987. 651 Eine zentrale Rolle kam dabei dem BT-Abgeordneten Ernst Waltemathe (SPD) zu, der sich in Reaktion auf eine Studie des Pädagogen Horst Biesold über hunderte zwangssterilisierte Gehörlose der Sache annahm. Vgl. Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 264 – 271.

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

225

fachärztlicher Gutachten sollten die Betroffenen aus Härteausgleichsfonds nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz einmalig 5.000 DM beantragen können. Wurden diese Zahlungen gewährt, mussten die Empfänger allerdings die Abgeltung zukünftiger Ansprüche unterschreiben. Nach dem Einzug der Partei Die Grünen in den Deutschen Bundestag 1983 wurden Anträge eingebracht, die eine angemessene Wiedergutmachung (Antrag 1985), dem umfassenden Prinzip einer Sozialfürsorge folgend,652 und die Nichtigerklärung des GVeN (Antrag 1986) vorsahen. Wenngleich die Abstimmungen zu beiden Anträgen keine parlamentarische Mehrheit erreichen konnten, stieg doch der Druck auf die Bundesregierung erheblich.653 Am 8. Mai 1985 hielt der Bundespräsident Richard von Weizsäcker seine im In- und Ausland viel beachtete Rede, in der er auch benachteiligte Opfergruppen in das Gedenken einschloss.654 Im zweiten Teil seiner Rede hieß es: »Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der getöteten Homosexuellen, der umgebrachten Geisteskranken, der Menschen, die um ihrer religiösen oder politischen Überzeugung willen sterben mußten. […] Neben dem unübersehbar großen Heer der Toten erhebt sich ein Gebirge menschlichen Leids, […] Leid durch unmenschliche Zwangssterilisierung […].«655

Tümmers bezeichnet die weiteren Entwicklungen in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre treffend als eine »Phase der offiziellen Anerkennung«.656 Es war ein erinnerungspolitischer Wandel zu spüren, in dem der Begriff der Wiedergutmachung mit neuen Inhalten gefüllt wurde. Die Neugründung einer Opferorganisation wurde durch diese Veränderungen begünstigt. Initiiert wurde der Bund der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten im Jahr 1987 durch eine Betroffene. Klara Nowak und ihr Bruder waren 652 Tümmers, Schon wieder »vergessene Opfer«?, S. 288. 653 Vgl. dazu u. a. Kappeler, Der Umgang mit den Opfern, S. 142; ebenso Surmann, Was ist typisches NS-Unrecht?, S. 205. 654 Richard von Weizsäcker hatte von Klaus Dörner die Gütersloher Resolution erhalten und am 22. 1. 1985 schriftlich zugesagt, die betreffende Opfergruppe in seine Rede einzubeziehen. Anschreiben Dörner an die Mitglieder des Arbeitskreises, 29. 10. 1985. Archiv Beratungszentrum Alsterdorf, Unterlagen Michael Wunder, Ordner : Euthanasie AK 1983 – 1992. Weizsäcker besuchte später das Landeskrankenhaus Gütersloh und sprach sich für eine baldige Klärung der Entschädigungsfrage zugunsten der Betroffenen aus. Ansprache Klara Nowak zur Gründung des BEZ am 25. 2. 1987. Archiv BEZ Detmold, Ordner : 10, 15, 20 Jahre BEZ. 655 Richard von Weizsäcker, »Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft«, Ansprache des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages. Vgl. den vollständigen Text der Rede: www.dhm.de/lemo/html/dokumente/NeueHeraus forderungen_redeVollstaendigRichardVonWeizsaecker8Mai1985/index.html (6. 1. 2013). 656 Tümmers, Schon wieder »vergessene Opfer«?, S. 289.

226

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

als Jugendliche zwangssterilisiert worden. Im Umfeld ihres Wohnorts Detmold suchte sie Kontakt zu anderen Betroffenen und gründete dort die erste Selbsthilfegruppe. Zu diesem Zweck verteilte sie Informationsblätter über den Bund in der Detmolder Fußgängerzone.657 In einem weiteren offenen Brief brachte sie einerseits ihre Resignation und andererseits ihre ungewöhnliche Willenskraft zum Ausdruck: »Trotzdem einige ohne Erfolg seit 41 Jahren um eine gerechte Wiedergutmachung bemüht sind, kann man nur sage [sic!]: wir stehen vor dem Scherbenhaufen der menschlichen Ungerechtigkeit. Um an unser Ziel zu kommen ist es unbedingt notwendig, daß sich die betroffenen Menschen mehr zusammenfinden. Der Kreis muß größer werden[,] um uns durchzusetzen. […] Falls wir weiter kein Gehör finden, müssen wir ernsthaft überlegen, die Vorgänge dem internationalen [sic!] Gerichtshof in den [sic!] Haag vorzustellen[.]«658

Das Protokoll der Vereinsgründung vom 25. 2. 1987 in Detmold ist nicht erhalten. Am 21. Mai 1987 wurde die Satzung beschlossen. Als Zweck des Vereins legte die Satzung fest: »Vertretung der Interessen der Betroffenen gegenüber Politik und Öffentlichkeit, Zusammenführung der Betroffenen auf Orts-, Landes- und Bundesebene, Beratung der Betroffenen bei der Durchsetzung ihrer Rechte und bei der Linderung psychosozialer Notlagen, Aufklärung der Öffentlichkeit über die Verbrechen der NS-Psychiatrie, Unterstützung der Erforschung der Gräueltaten des Nationalsozialismus und ihrer möglichen gesellschaftspolitischen Auswirkungen auf Gegenwart und Zukunft«.659

Am 10. Juli erfolgte die Eintragung in das Vereinsregister Detmold und am 10. Oktober 1987, nach Überwindung anfänglicher Hindernisse660 seitens der zuständigen Steuerbehörden, die Anerkennung der Gemeinnützigkeit. Allein in den ersten drei Jahren seit der Gründung konnten – gemäß Zweck und Zielen des BEZ – in 16 deutschen Städten »Gesprächskreise« ins Leben gerufen werden, in denen sich Betroffene austauschen und Beratung erhalten konnten. Nach der 657 Noch vor der Vereinskonstituierung findet sich der Name des BEZ auf einem Informationsblatt, das am 7. 2. 1987 verteilt wurde. Archiv BEZ Detmold, Ordner : Presse BEZ ab 1987 (Belegmaterial). 658 Offener Brief »Liebe Mitbürger, …« Klara Nowak, 26. 11. 1986., Archiv BEZ Detmold Hefter Gesprächskreis Bremen. 659 Satzung des Bundes der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten, 21. 5. 1987. Durch das Amtsgericht Detmold beglaubigte Kopie, Archiv BEZ Detmold. 660 Dr. Heinz Düx, 10 Jahre Bund der Zwangssterilisierten und »Euthanasie«-Geschädigten, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript 1997, 16 Seiten, hier : S. 11. Archiv BEZ Detmold, Ordner 10, 15, 20 Jahre BEZ. Der BEZ musste nachweisen, eine Organisation ohne erwerbswirtschaftliche Motive zu sein, die der Allgemeinheit dient. Nur so konnte der BEZ steuerliche Vergünstigungen in Anspruch nehmen, wie z. B. die Befreiung von der Körperschaftssteuer.

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

227

deutschen Wiedervereinigung kamen weitere Gesprächskreise hinzu. So zählte der BEZ Anfang der 1990er-Jahre über 1.000 Mitglieder. Unterstützung erhielt Klara Nowak von Beginn an durch Klaus Dörner und den Arbeitskreis zur Erforschung der NS-»Euthanasie« und Zwangssterilisation. Der BEZ entfaltete bei minimaler finanzieller und technischer Ausstattung eine Vielfalt an Aktivitäten. Bereits bei der Gründungsveranstaltung 1987 hatte der BEZ einen Brief an Bundeskanzler Helmut Kohl mit der Bitte um Unterstützung gerichtet, um Zwangssterilisierte und Euthanasie-Geschädigte endlich als NSVerfolgte anerkennen zu lassen.661 Als noch im selben Jahr eine öffentliche Anhörung vor dem Innenausschuss des Bundestages zur Wiedergutmachungsfrage stattfand, wurde auch Klara Nowak eingeladen, um die Interessen der Betroffenen zu vertreten.662 Im Jahr 1988 kam es zu einer nicht nur für den BEZ enttäuschenden Überarbeitung der Härterichtlinien nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz. Ausgeschlossenen NS-Opfern erleichterte man zwar den Zugang zu den Härteleistungen. Allerdings wurde der Nachweis einer Gesundheitsschädigung sowie einer persönlichen Notlage verlangt.663 Im Juni 1991 überreichten der BEZ und der Arbeitskreis (aus Anlass der Diskussion um die Thesen des australischen Philosophen und Bioethikers Peter Singer zu Schwangerschaftsabbruch, Tötung schwerstgeschädigter Neugeborener und Sterbehilfe) gemeinsam ein »Memorandum gegen die neue Lebensunwert-Diskussion« an die Präsidentin des Deutschen Bundestags, Rita Süssmuth. Aus dem Gespräch mit der Bundestagspräsidentin entstand die Idee für ein Fachforum »Menschen mit Behinderungen in der bio-medizinischen Forschung und Praxis«, das im selben Jahr in Bonn unter ihrer Schirmherrschaft stattfand.664 Zur Zeit der Gründung des BEZ lebten in der Bundesrepublik nur noch 80.000 der ursprünglich ca. 360.000 Betroffenen der Zwangsterilisation. Zwischen 1980 und 2002 hatten 13.776 Zwangssterilisierte und 161 Euthanasie-Geschädigte einen einmaligen Betrag von 5.000 DM erhalten.665 Der überwiegende Teil erhielt

661 Anschreiben BEZ an Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, 25. 2. 1987. Archiv BEZ Detmold, Ordner : 10, 15, 20 Jahre BEZ. 662 Unter den über 30 Sachverständigen, die mündliche Stellungnahmen abgeben konnten, waren Klara Nowak, Klaus Dörner sowie Gisela Bock. Vgl. Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hg.), Wiedergutmachung und Entschädigung für nationalsozialistisches Unrecht. Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 24. Juni 1987 (Zur Sache. Themen parlamentarischer Beratung), Bonn 1987. 663 Surmann, Was ist typisches NS-Unrecht?, S. 207. Siehe auch Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 295. 664 Wunder / Neuer-Miebach, Bio-Ethik und die Zukunft der Medizin, S. 195. 665 Bis 2002 wurde 1.733 Zwangssterilisierten und 20 Euthanasie-Geschädigten eine geringe monatliche Leistung gewährt. Vgl. Surmann, Was ist typisches NS-Unrecht?, S. 2008.

228

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

demnach nach dem Kriegsende keine Rehabilitation und keine finanzielle Leistung für das zugefügte Unrecht. Im Mai 2007 stellte der Deutsche Bundestag fest, dass das GVeN gegen das Grundgesetz der Bundesrepublik verstoße und daher nie Bestandteil der bundesdeutschen Rechtsordnung geworden sei. Allerdings wurde damit kein Rechtsanspruch auf eine echte Entschädigung der wenigen verbliebenen Zwangssterilisierten und Angehörigen von Euthanasie-Opfern begründet. Seitdem sind die Betroffenen zwar öffentlich rehabilitiert, aber entschädigungspolitisch noch immer nicht als NS-Verfolgte anerkannt worden. Angesichts dieser unbefriedigenden Situation forderte der BEZ in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung noch einmal die Anerkennung der Betroffenen und deren Einbeziehung in das BEG.666 Die Zahl der noch lebenden Betroffenen sank in den letzten Jahren dramatisch. Der BEZ war damit konfrontiert, dass sich seine Mitgliederzahl seit den 1990er-Jahren halbierte. Von den Gesprächskreisen waren nur noch ein paar aufrechtzuerhalten, selbst der in Detmold musste geschlossen werden. Zwischenzeitlich haben alle Vorstandsmitglieder wie auch die Geschäftsführung das Rentenalter erreicht. Zudem signalisierte das Bundesministerium für Gesundheit, die Fortsetzung der jährlichen Finanzierungsbeihilfe von der Zahl der noch lebenden Mitglieder abhängig zu machen, d. h. sie bald nicht weiter zu gewähren.667 Nach langen internen Diskussionen entschlossen sich die Mitglieder, den Verein BEZ zum 31. Dezember 2009 aufzulösen und im Verein Gegen Vergessen – für Demokratie aufgehen zu lassen.668

4.3.4. Zwischenbilanz Vergleichende Deutung der Opferverbände: Den Münchener Zentralverband und den BEZ ereilte mit der Überführung in einen anderen Verein ein ähnliches Ende (das konkrete Schicksal des Gießener Zentralverbandes bedarf weiterer Aufklärung). Beide hatten mit äußerst knappen Ressourcen und gesellschaftlichen Widerständen zu kämpfen. Die Hintergründe der Auflösung dieser Organisationen könnten jedoch unterschiedlicher nicht sein. Anders als der Münchener Zentralverband ist der BEZ keineswegs als gescheitert anzusehen, wenngleich das Ziel der gesellschaftlichen Anerkennung als NS-Verfolgte mit angemessener Entschädigung aller noch lebenden Zwangs666 Tümmers, Schon wieder »vergessene Opfer?, S. 289. 667 Persönliche Mitteilung der seit 2001 amtierenden Geschäftsführerin des BEZ, Margret Hamm, April 2009 im Rahmen der Fachtagung »Tödliche Medizin. Zur Bedeutung der NSVerbrechen in der aktuellen Ethik-Debatte« im Jüdischen Museum Berlin. 668 BEZ Rundbrief Nr. 80, März 2009.

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

229

sterilisierten und Euthanasie-Geschädigten nicht erreicht werden konnte. Während die Zentralverbände in den 1950er-Jahren zwar Unterstützung erfuhren, aber enormen gesellschaftlichen Widerständen bis hin zu öffentlichen Diffamierungen ausgesetzt waren, standen dem BEZ in den 1980er und 1990erJahren Vertreter der Psychiatrie und Pflegeberufe (selbst vom Rande ihrer Disziplin her gegen Widerstände agierend), der Wissenschaft und auch Politik zu Seite, die bereit waren, Verantwortung für vergangenes, nun doppeltes Unrecht (»zweite Schuld«) zu übernehmen. Der besondere Einfluss der sich wandelnden erinnerungspolitischen Rahmenbedingungen in Deutschland seit der Entfaltung der neuen sozialen Bewegungen wird gerade im Vergleich mit den Ereignissen in den 1950er- und 1960er-Jahren deutlich erkennbar. In der Rückschau fällt die Bewertung des BEZ positiv aus, was nicht zuletzt dem besonderen Durchsetzungswillen und Engagement der Gründerin Klara Nowak zuzuschreiben ist. Ohne Bescheidenheit kann der BEZ für sich in Anspruch nehmen, Betroffene zusammengebracht, beraten und nach außen glaubwürdig vertreten zu haben. Der BEZ konnte sich als Sprachrohr der Betroffenen Gehör verschaffen und in nicht unerheblichem Maße Lobbyarbeit leisten. Durch Petitionen und Anhörungen in Landtagen sowie dem Deutschen Bundestag konnten Personen der politischen Öffentlichkeit (z. B. Rita Süssmuth, auch: Hans-Jochen Vogel) mobilisiert werden, sich für die Belange dieser ausgeschlossenen Betroffenen zu interessieren und einzusetzen. Über Rundfunk, Fernsehen und Zeitungen wurde die Öffentlichkeit über die Belange des BEZ informiert. Inwieweit das öffentliche Bewusstsein in der Breite erreicht wurde, wissen wir noch zu wenig. Für die Praxis der »Entschädigung« konnte erreicht werden, dass zumindest die Reglementierungen und Ausschlusstatbestände bei den Härteausgleichsleistungen (Notlagengrenze, Altersgrenze bei betroffenen Kindern) abgebaut wurden. Anders als im Fall des Münchener Zentralverbands ist die Auflösung des Vereins BEZ vorrangig mit dem natürlich bedingten Verlust seiner Mitglieder verbunden. Vor dem Hintergrund dieser absehbaren Entwicklung setzt sich der BEZ seit mehreren Jahren dafür ein, mit Oral-History-Projekten eine Brücke in die Zukunft zu bauen und für nachkommende Generationen die persönlichen Lebens- und Leidenswege von Zwangssterilisierten und Euthanasie-Geschädigten im »kollektiven Gedächtnis« zu konservieren. Deutung des Arbeitskreises: Wie keine andere Gruppe stand der Arbeitskreis Klara Nowak und dem BEZ zur Seite, vor allem mit öffentlichkeitswirksamen Aktivitäten, aber auch mit wissenschaftlicher Expertise. Hinsichtlich der zentralen Tätigkeit des Arbeitskreises, nämlich der wissenschaftlichen Aufarbeitung von Zwangssterilisation und NS-Euthanasie zur Fundierung geschichtlicher Argumentationen in gegenwärtigen Problemfeldern lässt sich die Frage formulieren, ob diese nicht treffend als »angewandte Geschichtsforschung«

230

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

charakterisiert werden könnte. »Angewandte Geschichtsforschung« würde – laut eigenem Anspruch des Arbeitskreises – bedeuten, Erkenntnisse über Fehlentwicklungen in der deutschen Geschichte für die Gegenwart nutzbar zu machen. Die seit 1967/1968 zaghaft aufkommende Frage »Lassen wir heute dieselben oder ähnliche Entwicklungen unhinterfragt zu?« wurde erst 1979 von der fortan ernsthaft gestellten Frage »Wie konnte es passieren?« begleitet. Es ist fraglich, ob die DGSP-Denkschrift in diesem Kontext tatsächlich den Beginn einer »Instrumentalisierung der Vergangenheit« (H. Tümmers) darstellt. Denn schon in den Jahrzehnten zuvor hatten die Bundesregierung, der Gesetzgeber und ihre Ministerialbürokratie Entschädigungsberechtigungen insbesondere von Zwangssterilisierten mit historischen Argumenten – allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen – abgeblockt. Der sachkundige Verweis auf die gesetzliche Rechtsgrundlage zur Sterilisation in der NS-Zeit (GVeN) sowie auf die damals auch in anderen europäischen Ländern für legitim gehaltenen eugenischen Maßnahmen dienten dem Zweck, die bundesdeutsche Abwehr der Verantwortung und vor allem die finanzpolitischen Erwägungen gegen eine Entschädigung zu verschleiern. In der allgemeinen historischen Rückschau zeigen sich wohl so viele Spielarten, die Geschichte als Argument (bzw. als Instrument) für die jeweiligen aktuellen Interessen einzusetzen, wie es historische Akteure gibt. Mit Blick auf die einleitend vorgestellten Arbeiten zur Theorie von Erinnerung und Vergessen wird sogar deutlich, dass jegliches Rekurrieren auf vergangene Ereignisse selektiv und verzerrend vonstattengeht, weil es unweigerlich an Motive und Interessen der gegenwärtigen Erinnernden gebunden ist. Diesem Verständnis nach kann jeder Rückgriff auf die Vergangenheit zur Durchsetzung gegenwärtiger Interessen wertneutral als Instrumentalisierung, hier im Sinne einer mehr oder weniger geschickten Anwendung eines Werkzeuges, aufgefasst werden. Im Falle der Vergegenwärtigung der NS-Medizinverbrechen trifft dies gewissermaßen auf alle an dem Prozess unmittelbar Beteiligten zu, wodurch allerdings die Deutung einer Instrumentalisierung endgültig an analytischer Kraft verliert.669 Wenn es also in der Denkschrift der DGSP im Jahr 1979 provokant und selbstanklagend hieß »Wir sind wie sie«, so waren damit unzweifelhaft aktuelle Interessen zur Umgestaltung der Psychiatrie verbunden. Trotzdem ist die emotionale Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nachweisbar. Sie war von dem Unbehagen gespeist, den Tätern der NS-Medizin ähnlich zu sein. Die 669 Die Instrumentalisierungsthese mit dem enthaltenen Missbrauchsvorwurf erfüllt vielmehr die Aufgabe, unseren eigenen vergangenheitspolitischen Standpunkt als Historiker zu transportieren, woraus wiederum auf einer Metaebene der Vorwurf des Missbrauchs unserer Untersuchungsgegenstände, nämlich der historischen Akteure abgeleitet werden kann.

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

231

Antwort auf die daraus abgeleitete Frage, wie Patienten grundsätzlich vor der Medizin zu schützen seien, lautete, die Perspektive und die Motive der damaligen Verantwortlichen in den historischen Kontexten zu verstehen und das Leid der Opfer emotional nachzuvollziehen. Aus dem neu gewonnenen historischen Verständnis durch Aufarbeitung, hier als »Geschichte von unten«, ließen sich neue Handlungsmaximen für die eigene Haltung zu Behinderten und psychisch Kranken ableiten. Eine der zentralen Erkenntnisse, die Dörner aus der Beschäftigung mit der NS-Psychiatrie gewann, war, dass die Gesellschaft lernen müsse, die Abweichung, »das Andere« zu ertragen. Die historische Aufarbeitung stand von der Gründung des Arbeitskreises an unter der übergeordneten Zielsetzung, die Herkunft der gegenwärtigen Missstände in ihren Ursprüngen zu verstehen – ein Ansatz, der zu Beginn der 1970erJahre noch deutlich hinter den Reformimpulsen zurückgeblieben war. Der wachsende Kenntnisstand verbesserte nun nicht nur das Verständnis der historischen Zusammenhänge bis in Gegenwart hinein, sondern begünstigte auch, die Geschichte in fundierterer Form als Argument einzubringen: z. B. im Sinne einer Verbesserung der Verhältnisse für die Betroffenen durch die – allerdings nur schleppend verlaufende – Reform der psychiatrischen Versorgung im Besonderen und des gesamten Gesundheitssystems sowie seiner gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Allgemeinen. Wie die Debatte in der Gründungsveranstaltung des Arbeitskreises im November 1983 um die Spannung zwischen Mikro- und Makrogeschichte dokumentiert, wurde zugleich die Notwendigkeit erkannt, die Ergebnisse der Lokalstudien, d. h. die Anstaltsgeschichten und damit auch die jeweiligen Handlungsspielräume in die größeren historischen Zusammenhänge des Nationalsozialismus einzubetten. Laienhistoriker sowie professionelle Historiker forderten diese Abstraktionsleistung gleichermaßen, allerdings aus unterschiedlichen Gründen. Dass im Verlauf der Jahre eine Auseinandersetzung zwischen Akademikern und sogenannten »Barfußhistorikern« aufbrach, lag dagegen an der unterschiedlichen Herangehensweise, an Fragen der Methodik und den daran gebundenen, auszuhandelnden Kompetenzansprüchen. Der Begriff der angewandten Geschichtsforschung ist allerdings – in Abgrenzung zu einer »reinen Grundlagenforschung« – nicht unproblematisch. Denn die Übergänge zwischen den beiden sind in der Vergangenheit fließend gewesen. Die Leitdifferenz erweist sich als gedankliches Konstrukt, mit dem Entwicklungen in der zeitgeschichtlichen Perspektive nur schwer zu greifen sind. Mit jeder wissenschaftlichen Forschung sind implizit Intentionen und politische Haltungen verbunden. Dies gilt auch und in vielen Fällen insbeson-

232

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

dere für geschichtliche Darstellungen.670 Das Beispiel der akademischen Forschungsförderung zeigt zudem, wie schnell unter veränderten politischen Rahmenbedingungen 1933, 1939 – und nach 1945 umgekehrt – sogenannte Grundlagenforschung in angewandte Wissenschaft (z. B. »kriegswichtige Forschung«) umdefiniert werden konnte, um Ressourcen für die Forschung zu mobilisieren.671 Was die Aufarbeitungsbemühungen der Arbeitskreismitglieder aber von der bis dahin bekannten Geschichtsschreibung unterscheidet, ist die Tatsache, dass die Motive für die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit explizit erklärt wurden.672 Viele der aus dem Arbeitskreis in den 1980er- und 1990er-Jahren entstandenen Publikationen enthalten Einführungen, aus denen Selbstreflexion, Selbstkritik und Begründungen für die individuelle Beschäftigung mit der NSMedizin sprechen. Die Aufarbeitung selbst sowie das damit verknüpfte erinnerungspolitische Engagement im Sinne der Betroffenen und ihrer Angehörigen waren durch die Annahme der »zweiten Schuld« motiviert. Die eigene Verantwortung der Nachgeborenen für die Verzögerung der Anerkennung dieser Gruppe als NSVerfolgte sowie die indirekte Verantwortung für die ausgebliebene Rehabilitation der Betroffenen durch die Gesellschaft mussten erst erkannt und angenommen werden. Klaus Dörner inszenierte diese Verinnerlichung mit der historisch konnotierten Sprachformel »Ich klage an«673, brachte aber damit die Selbstanklage des Versagens der eigenen Disziplin prägnant zum Ausdruck. 670 Peter Schöttler (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918 – 1945, Frankfurt am Main 1997. 671 Vgl. hierzu die Publikationen der »Forschergruppe zur Geschichte der Deutschen Forschungsgemeinschaft 1920 – 1970« unter : http://projekte.geschichte.uni-freiburg.de/DFGGeschichte/ (6. 1. 2013) sowie das Forschungsprojekt der Präsidentenkommission »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus« (heute Max-Plank-Gesellschaft) unter : http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/KWG/ (6. 1. 2013). 672 Insbesondere die Münchener Zeitgeschichte nach 1945 hatte sich für eine emotionsfreie, nüchterne und sachliche Darstellungsform entschieden, um die Öffentlichkeit aufzuklären, und verwehrte sich in Reflex auf die Zeit des Nationalsozialismus gegen staatliche Versuche einer politischen Indienstnahme. Vgl. dazu den selbstkritischen Beitrag von N. Frei, Abschied von der Zeitzeugenschaft, hier : S. 66 f.; Assmann / Frevert, Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit, S. 244; sowie die Gedenkschrift für Martin Broszat: KlausDietmar Henke und Claudio Natoli (Hg.), Mit dem Pathos der Nüchternheit. Martin Broszat, das Institut für Zeitgeschichte und die Erforschung des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main / New York 1991 673 Das Zitat war in einem doppelten Sinne historisch besetzt, somit ein Erinnerungsort an sich, auf den Dörner hierbei zurückgriff. 1.) Mit einem offenen Brief an den französischen Staatspräsidenten unter dem Titel »J’accuse…!« hatte sich der französische Literat Êmile Zola gegen Ende des 19. Jahrhunderts in der Dreyfus-Affäre hinter den wegen Spionage und Landesverrat angeklagten jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus gestellt. Damit wurde der Ausspruch »Ich klage an« zum Sinnbild der Kritik an der Verurteilung eines Unschuldigen

Die Reformpsychiatrie und der neue Blick auf die Betroffenen

233

Die kontinuierlichen Forderungen des Arbeitskreises, die Betroffenen anzuerkennen und angemessen zu entschädigen, können daher als selbst auferlegter Wiedergutmachungsauftrag durch eine nachfolgende Generation verstanden werden. Diese Kombination lässt sich als neues Qualitätsmerkmal in der (Medizin-)Historiographie auffassen. Den Arbeitskreis allein als Ableger der Psychiatriereform zu beschreiben, würde eine Vernachlässigung der damaligen gesellschaftlichen Dynamik bedeuten. Er entstand im Zuge des ersten umfassenderen erinnerungskulturellen Aufbruchs 1979/80. Dabei trugen seine Mitglieder den Keim der Ereignisse um 1967/1968 in sich. Dieser war aber erst nach der vollständigen Entfaltung der sozialen Bewegungen und dem Generationswechsel in den medizinischen und pflegerischen Berufen aufgegangen. Man kann diese Entwicklung auch als eine über zehnjährige »Inkubationsphase« bezeichnen. Die Aufarbeitung innerhalb der medizinischen Disziplinen begann fast ausschließlich an der Basis bzw. in der Peripherie. Sie war getragen von einer neuen und breit geführten gesellschaftlichen Debatte über die Bewertung der NSVergangenheit am Ende der 1970er-Jahre. Neben der thematischen Auseinandersetzung mit Zwangssterilisation und Krankenmord und der Aufklärung der Öffentlichkeit über die Medizinverbrechen gehört es zum Selbstverständnis des Arbeitskreises, untrennbar mit dem Diskurs über Holocaust und Nationalsozialismus, über Wiedergutmachung und Entschädigung bis hin zu aktuellen Fragestellungen der Medizinethik eingebunden zu sein. Selbst wenn in Zukunft Forschungslücken geschlossen werden und alle direkt Betroffenen der NS-Verfolgung verstorben sind, könnte der Arbeitskreis Bestand haben: weil sich seine Art der offen erklärten Motivation und Selbstkritik bewährt hat und weil im Bereich der sogenannten Bioethik implizit oder explizit Lebens(un)wert-Vorstellungen verhandelt werden, die zur fundierten Argumentation mit der Erfahrung NS-Medizin herausfordern.

in diesem französischen »Antisemitismusstreit«. 2.) Darüber hinaus war 1941 ein Propagandafilm mit dem Titel »Ich klage an« (Regie: Wolfgang Liebeneiner) in Deutschland uraufgeführt worden, der in der deutschen Bevölkerung eine zustimmende Haltung zur Euthanasie-Frage bewirken sollte. Zwar thematisierte der Film vordergründig die sogenannte Tötung auf Verlangen, enthielt aber auch unterschwellig eine Botschaft pro »Vernichtung lebensunwerten Lebens«. Vertreter von Hitlers Kanzlei, die mit der Durchführung der Krankenmorde beauftragt war, initiierten den Film in Abstimmung mit dem Propagandaministerium (Joseph Goebbels). Siehe dazu: Karl Heinz Roth, »Ich klage an« – Aus der Entstehungsgeschichte eines Propaganda-Films, in: Götz Aly (Hg.), Aktion T4 1939 – 1945. Die »Euthanasie«-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin 1987, S. 93 – 121; Karl Ludwig Rost, »Ich klage an« – ein historischer Film?, in: Udo Benzenhöfer und Wolfgang Uwe Eckart, Medizin im Spielfilm des Nationalsozialismus, Tecklenburg 1990, S. 34 – 51; sowie: Hohendorf, Empirische Untersuchungen, S. 52 u. 160, 162.

234

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

4.4. Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft im Umgang mit der Vergangenheit Als im Februar 1950 das Max-Planck-Institut für Hirnforschung (MPI) mit einem Festakt unter dem Dach der Justus-Liebig-Hochschule für Bodenkultur und Veterinärmedizin in Gießen eingeweiht wurde, blickten die Institutsmitarbeiter mit Zuversicht auf den wissenschaftlich-institutionellen Neuanfang an diesem eher kleinen Hochschulstandort und hofften, die turbulenten Ereignisse der zurückliegenden Jahre seit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges endgültig hinter sich lassen zu können. Der Weg zurück zum ursprünglichen Standort des früheren Kaiser-Wilhelm-Instituts für Hirnforschung (KWI) in Berlin-Buch, mit dem sich das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandene internationale Renommee als führender und weltweit größter Forschungseinrichtung dieser Art verband, war spätestens seit der Gründung der beiden deutschen Staaten 1949 versperrt gewesen. Auf der Suche nach einem neuen Standort war das Institut auf das rege Interesse der Medizinischen Rumpffakultät der seit 1946 geschlossenen Ludwigs-Universität Gießen gestoßen und entschied sich, unter nicht unerheblicher Einflussnahme des Hessischen Kultusministeriums, für eine zumindest übergangsweise Niederlassung in Gießen. Mit der 1950 dort neu eröffneten Akademie für medizinische Forschung und Fortbildung als Nachfolgeeinrichtung der ehemaligen Medizinischen Fakultät entstand eine enge institutionelle Bindung, die auch noch Jahre nach dem erneuten Umzug des MPI für Hirnforschung nach Frankfurt im Jahr 1962 Bestand hatte. Folgt man Annahmen aus der spärlichen Literatur zur Nachkriegsgeschichte der deutschen Hirnforschung, so befanden sich die neuroanatomischen und neuropathologischen Forschungen vor allem in den Instituten der Kaiser-Wilhelm- / Max-Plank-Gesellschaft (KWG / MPG) nach 1945 in einer Krisensituation. Als ursächlich werden dafür sowohl ereignisgeschichtliche als auch personelle, institutionelle und wissenschaftsgeschichtliche Zusammenhänge angeführt.674 Aber auch vergangenheitspolitische Aspekte seien wirksam gewesen, 674 Der Direktor des Frankfurter MPI, Prof. Wolf Singer, argumentierte in einer wissenschaftshistorischen Rückschau auf die Methoden der deutschen Hirnforschung, wie sehr die damals rein morphologischen Untersuchungen in ihrem Erkenntnisgewinn begrenzt seien und dass es gerade der Neuropathologie nicht gelungen sei, zu therapeutisch verwertbaren Ergebnissen zu kommen. Im Resultat habe die »geradezu enzyklopädische Sammlung pathologischer Befunde […] nur in Ausnahmefällen die Aufklärung funktioneller Zusammenhänge« leisten können. Singer deutet damit gerade jene Phase der NSEuthanasie-Begleitforschung in den 1940er-Jahren unter dem Aspekt einer Wissens- bzw. Erkenntniskrise dieser Disziplin an, die bis in die 1950er-Jahre angehalten habe. Der – aus seiner Rückschau – notwendig erscheinende Paradigmenwechsel sei erst in den 1960erJahren durch einen innerdisziplinären Generationswechsel, einen Wandel der Methoden und dabei gerade nicht durch Pathologen, sondern durch Biochemiker ausgelöst worden.

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

235

womit auf die Nachkriegsrezeption der NS-Euthanasie-Beteiligung der Hirnforscher Julius Hallervorden (1882 – 1965), Hugo Spatz (1888 – 1969) und Willibald Scholz (1889 – 1971) abgehoben wird. Aber gab es aus diesem Grund tatsächlich eine Krise der Hirnforschung? Eine Hypothese lautet, dass die Begleitforschungen zu den Krankenmorden der vormals hoch angesehenen Neuropathologie eine tief greifende Krise beschert habe und damit einen Neuanfang nach 1945 notwendig werden ließ. Dieser Neuanfang habe in der beginnenden Professionalisierung und Institutionalisierung der Neuropathologie seinen Ausdruck gefunden.675 Dass dieser »Neuanfang« mit Blick auf die Vergangenheit tatsächlich aber nicht stattfand, da die in die NS-Euthanasie verwickelten Neurowissenschaftler fast ausnahmslos zu den Gründungsmitgliedern der Deutschen Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie (DGNN) gehörten, blieb unerwähnt. Jürgen Peiffer deutete dagegen sehr relevante Aspekte an: 1. den tiefen Einschnitt, der sich aus der Vertreibung und Verfolgung der jüdischen Kollegen ergab, 2. den versiegenden Andrang internationaler Wissenschaftler während des Zweiten Weltkriegs, 3. die moralische Belastung der Hirnforscher durch »Material«-Annahmen aus Menschenversuchen und NS-Euthanasie sowie 4. die internationale Schwächung der Position deutscher Hirnforscher nach dem Krieg infolge des Beschweigens der Vergangenheit.676 Vor dem Hintergrund der Beteiligung von Neuropathologie und Neuroanatomie an den Euthanasie-Aktionen ist zu fragen, wie nach 1945 sowohl innerhalb des KWI / MPI für Hirnforschung als auch im näheren und weiteren Umfeld mit der Vergangenheit umgegangen wurde. Welche Rolle spielte die öffentliche Rezeption der begleitenden Hirnforschung zur Euthanasie für den Neuanfang des Institutes und dessen Einbettung in die internationale Wissenschaftsgemeinschaft? Wie reagierten die Institutsmitarbeiter auf die Thematisierung ihrer Euthanasie-Vergangenheit und welche Argumente brachten sie zur ihrer Singer charakterisiert die damals anbrechende Epoche wegen »ihrer außerordentlichen Erkenntnisträchtigkeit als das goldene Zeitalter der Hirnforschung«. Vgl. Wolf Singer, Auf dem Weg nach innen – 50 Jahre Hirnforschung in der Max Planck Gesellschaft. Festrede zum 50-jährigen Jubiläum der Max-Planck-Gesellschaft, http://www.forum.mpg.de/archiv/ veranstaltung12/hintergrund/index.html (9. 1. 2013), zugleich in: MPG-Spiegel, Sonderausgabe 2 (1998) (50 Jahre Max-Planck-Gesellschaft 1948 – 1998), S. 20 – 34, hier: S. 24 f. 675 Vgl. Wolfgang Strösser, Deutsche Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie e.V. (1950 – 1992). Eine Untersuchung zur Entwicklung der Gesellschaft und zur Förderung des Faches Neuropathologie in Deutschland, Med. Diss. Berlin 1993, hier : S. 12 f. u. 89. 676 Vgl. Jürgen Peiffer, 100 Jahre deutsche Neuropathologie, in: Der Pathologe 18 (1997) Suppl. 1, S. 21 – 32.

236

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Rechtfertigung vor? Welche Charakteristika wiesen die Vergangenheitspolitiken der Gießener Fakultät / Akademie, der Hessischen Behörden, aber auch der MPG auf ?

4.4.1. Die Hypothek der NS-Euthanasie Das KWI / MPI für Hirnforschung wurde unmittelbar in den Nachkriegsjahren mit seiner Beteiligung an der NS-Euthanasie konfrontiert. Zunächst war 1946 im Rahmen des Hauptkriegsverbrecherprozesses in Nürnberg der Name Julius Hallervorden im Zusammenhang mit der Annahme von Gehirnen aus den Euthanasie-Aktionen gefallen. Über die Bericht erstattende Presse erhielt die Öffentlichkeit erstmals Kenntnis darüber, wodurch einige Unruhe um den noch in Dillenburg verharrenden Hallervorden entstand. Aus Hallervordens Sicht dehnte sich das Problem ungünstig aus, als er auch in Dokumentationen zum Nürnberger Ärzteprozess (1946/1947) im Kontext der NS-Euthanasie genannt wurde. Zeitgleich befand sich eine international geführte Debatte über die Ethik der Wissenschaft auf ihrem ersten Höhepunkt, in der um die Verwendung publizierter Forschungsergebnisse gestritten wurde, die auf unethischen Menschenversuchen beruhten. Die Ergebnisse aus der deutschen Hirnforschung auf der Präparatgrundlage von Euthanasie-Opfern waren dabei Teil des Diskurses.677 Ende der 1940er-Jahre schien der Sturm vorübergezogen zu sein – bis die in Nürnberg verhandelten Punkte im Jahr 1953 im Vorfeld eines Neurologenkongresses in Lissabon ein zweites Mal zum Gegenstand einer international geführten, innerwissenschaftlichen Debatte gemacht wurden. Zwischenzeitlich in Gießen angekommen und im dortigen Hochschulstandort etabliert, geriet das MPI für Hirnforschung in eine Krisensituation, in der wohl nicht die unmittelbare Arbeit vor Ort, jedoch sein internationaler Ruf nun zum zweiten Mal beeinträchtigt zu werden drohte. In dieser Phase, in der sich die deutsche Hirnforschung wieder um Anschluss an die internationale Wissenschaft bemühte, lastete die Hypothek der Vergangenheit auf dem Gießener Institut und seinen Wissenschaftlern. In beiden Krisen, 1946 und 1953, reagierten Hallervorden und – nach Entlassung aus der Gefangenschaft – auch Institutsdirektor Hugo Spatz umgehend und versuchten durch Korrespondenzen mit den beteiligten Akteuren Einfluss 677 Vgl. Editor The Lancet, A Moral Problem, in: The Lancet 1946 mit anschließendem Diskurs in mehreren Leserbriefen bis 1947. Jürgen Peiffer, Assessing Neuropathological Research carried out on Victims of the ›Euthanasia‹ Programme. With two Lists of Publications from Institutes in Berlin, Munich and Hamburg, in: Medizinhistorisches Journal 34 (1999), S. 339 – 356, hier : S. 340 u. 351.

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

237

auf den Fortgang des Geschehens zu gewinnen oder sich gegenüber den Stellen, von denen das Fortbestehen des Instituts abhing, zu rechtfertigen. Angesichts der Eigendynamik beider Krisen gelang ihnen dies nur bedingt. Allerdings gaben die in die noch ungeübte demokratische Öffentlichkeit gestreuten Informationen über die Begleitforschung auf nationaler Ebene weder einen Anstoß zu einer breiten Diskussion noch zu einer juristischen Aufarbeitung.678 In der folgenden Erörterung wird zunächst auf den Verlauf beider Institutskrisen mit einer Analyse der Rechtfertigungsstrategien eingegangen. Danach ist zu fragen, wie sich das Land Hessen, die Medizinische Fakultät Gießen, aber auch die MPG zu den gegen das Institut vorgebrachten Anschuldigungen gestellt haben. Abschließend wird auf die spätere Vergangenheitspolitik der MPG in den 1990er-Jahren bezüglich der Präparate von Euthanasie-Opfern eingegangen.

4.4.2. Der Anstoß in Nürnberg 1946/47 Alle Anschuldigungen gegen Hallervorden aus den ersten Nachkriegsjahren gründeten sich auf einen Bericht des US Majors Leo Alexander.679 Dieser Bericht fand als Dokument L-170 im Hauptkriegsverbrecherprozess in Nürnberg mehrfach Verwendung. Unmittelbar nach Kriegsende hatte Alexander im Auftrag der amerikanischen Militärbehörde (hierbei für das CIOS: Combined Intelligence Objectives Sub-Committee) Pflegeanstalten und Forschungseinrich678 Einzig in Spruchkammerverfahren hatten sich Spatz und Hallervorden zu verantworten und wurden beide entnazifiziert. Spatz, seit 1938 Parteimitglied, wurde per Bescheid in die Gruppe der Mitläufer eingestuft und mit einer Geldstrafe von 1 500 RM belegt. Universitätsarchiv Gießen, 2. Lieferung, Berufungsakten, Karton 8, Spatz. Hallervorden hatte sich 1937 mit dem Ruf zum Abteilungsleiter auf Anregung von Spatz um Aufnahme in die NSDAP beworben, in die er 1939 aufgenommen worden war. In einer Stellungnahme »Über meine Zugehörigkeit zur Partei« erklärte er nach dem Krieg, bereits 1933 in Landsberg als förderndes Mitglied der SS angeworben worden zu sein. Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A Personalakte Hallervorden, S. 7. Die Neuropathologen der KWG, die sich während des Krieges über die Gehirnannahmen koordiniert haben dürften, traten nach 1945 füreinander ein. Willibald Scholz vom Hirnpathologischen Institut der DFA stellte Hallervorden im April 1947 einen »Persilschein« aus. Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, S. 6. Vgl. allgemein: Carola Sachse, ›Persilscheinkultur‹. Zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Kaiser-Wilhelm / Max-Planck-Gesellschaft, in: Bernd Weisbrod (Hg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002, S. 217 – 246. 679 Dokument No. L-170: Neuropathology and neurophysiology, including electroencephalography, in wartime Germany. Reported by Leo Alexander, Major, MC.; AUS, Hq. ETOUSA, 20 Juli 1945, CIOS Item No. 24, Medical. Archiv MPG, Abt. Vc, Rep. 4, Leo Alexander, S. 2 (im Folgenden: L-170, Alexander-Bericht).

238

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

tungen in den drei westlichen Zonen besucht, um den Wissensstand über die deutschen Medizinverbrechen zu erweitern. Er hatte bereits im Mai 1945 Spatz in München aufgesucht und traf nun Mitte Juni 1945 in Dillenburg ein. Die Umstände und Folgen dieses Besuches sind in der Literatur bereits eingehend beschrieben worden.680 Hallervorden in Dillenburg, der bis dahin von der Kommunikation abgeschnitten war, berichtete euphorisch noch am selben Tag an Spatz von der für ihn beeindruckenden Begegnung mit Alexander : »Das war die grösste Überraschung meines Lebens, als ich gestern Abend aus meinem Zimmer geholt wurde und mir Dr. Alexander sagte, dass er einen Brief von Ihnen und Grüsse mitbrächte. […] Es ist ungeheuer wertvoll, dass wir diese Möglichkeit der Kommunikation besitzen und ich habe ihm rückhaltlos unsere Verhältnisse dargelegt. Wir haben uns sehr lange unterhalten gestern und ich erwarte ihn in einer Stunde, um mit ihm weiterzuarbeiten. Es ist eine ganz besondere Freude, in ihm einen sachverständigen Mann zu finden und so können wir uns wieder einmal richtig über Präparate aussprechen.«681

Das Gespräch verlief offenbar in vertrauensvoller und kollegialer Atmosphäre; dafür spricht gerade Hallervordens unbedachte Offenheit. Einige Jahre später schilderte Hallervorden das Gespräch mit Alexander im Rahmen des Institutsberichts an die MPG: »Die Hauptaufgabe von Major Alexander war, sich über das Institut und die im Kriege geleistete Arbeit zu informieren […]. Dabei kam die Frage zur Sprache, ob wir Gehirne von KZ-Häftlingen untersucht hätten. Das konnte ich mit Bestimmtheit verneinen. Dagegen berichtete ich ihm, dass ich Gehirne von Patienten untersucht hatte, welche durch das Euthanasieverfahren ums Leben gekommen waren […]. Ich ahnte damals nicht, welche weitreichenden Folgen diese Mitteilung haben würde.«682

680 Vgl. u. a. Peiffer, Hirnforschung im Zwielicht. Beispiele verführbarer Wissenschaft aus der Zeit des Nationalsozialismus, Husum 1997, S. 41 ff.; Peiffer, Assessing Neuropathological Research, S. 353 f.; Götz Aly, Der saubere und der schmutzige Fortschritt, in: Aly (Hg.), Reform und Gewissen, S. 9 – 78, hier: S. 67 f.; Michael Shevell, Racial Hygiene, active euthanasia, and Julius Hallervorden, in: Neurology 42 (1992), S. 2214 – 2219; zuletzt von Maik Hager, »Mit dem Verfahren der Euthanasie habe ich niemals das Geringste zu tun gehabt, …« Major Leo Alexander, Prof. Dr. Hallervorden und die Beteiligung des KWI für Hirnforschung an »Euthanasie«-Verbrechen im Nationalsozialismus, Seminararbeit Institut für Geschichte der Medizin, Freie Universität Berlin, WS 2001/2002, http://www.geschichteerforschen.de/wissenschaft/euthanasie/ unter www.leistungsschein.de (9. 1. 2013). 681 Hallervorden an Spatz, 15. 6. 1945, Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, S. 5. 682 Professor J. Hallervorden, »Die pathologische Abteilung des Max-Planck-Institutes für Hirnforschung«, in: Die Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und Max-PlanckGesellschaft 1945 – 1949, aus Anlass des 70. Geburtstages ihres Präsidenten, Göttingen März 1949, S. 130 – 141, hier : S. 134 f. Archiv MPG, Abt. Vc, Rep. 4 KWG 1 (im Folgenden: Abteilungsbericht Hallervorden).

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

239

Alexander hatte seine Gespräche mit Wissenschaftlern, so auch mit Hallervorden in einem Tagebuch festgehalten. Auf dieser Basis verfasste er einen Monat später unter anderem den Bericht mit dem Titel »Neuropathology and neurophysiology, including electroencephalography, in wartime Germany«. Dass Alexander, der vor seiner Emigration (1933) selbst bei dem Institutsgründer Oskar Vogt 1928 am KWI gelernt hatte, von der Person und Arbeit Hallervordens beeindruckt war, spiegelt sich in dem Bericht wieder : »Dr. Hallervorden was very cooperative in discussing all his findings, demonstrating his superb histopathological preparations under the microscope, and turningover a complete bibliography of all papers published from his section by himself and his collaborators. […] Dr. Hallervorden and his coworkers have carried out a great deal of research during the war and he has kept up his high standards as a thorough accurate and ingenious observer.«683

Jener Passus im Tagebuch von Alexander, der Hallervordens Schilderungen der Annahme von Gehirnen aus der NS-Euthanasie betraf, ist bedeutsam für die spätere Rezeption des Alexander-Berichts. Das Tagebuch war abwechselnd in englischer und deutscher Sprache geschrieben. Aus seinen Gesprächsnotizen mit Hallervorden wird deutlich, dass Alexander, unabhängig davon, wie Hallervorden seine Rolle bei der NS-Euthanasie darzustellen versuchte, bereits hier den Eindruck hatte, dieser habe von sich aus die Verantwortlichen der Krankenmordaktionen angesprochen, um an die Gehirne zu kommen. Alexander hielt fest: »Die Gemeinnützige Krankentransport Gesellschaft [684] hat ihm die Gehirne gebracht, in batches of 50 – 150 of a time. He had given them the jars and boxes, and instructions for removing and fixing them (all were suspended in Formaline). Dr. Hallervorden himself initiated the collaboration. […]«

Und um seinen Eindruck zu belegen, bewahrte Alexander für sich den O-Ton Hallervordens in deutscher Sprache und notierte: »Ich habe da so was gehört, dass das gemacht werden soll, und da bin ich denn zu denen hingegangen und habe ihnen gesagt, nu Menschenskinder, wenn Ihr nu die alle um683 L-170, Alexander-Bericht, S. 17. Jahre später äußerte sich Alexander anerkennend über den Wissenschaftler Hallervorden gegenüber seinem Kollegen W. Haymaker, worin Alexanders ambivalente Haltung gegenüber Hallervorden zum Ausdruck kommt. Haymaker berichtete wiederum Spatz von Alexander: »He stated that he personally admired Herr Hallervorden and that he thought among all the German scientists he interviewed Herr Hallervorden was probably the most forthright and honest.« Zit. nach Peiffer, Hirnforschung im Zwielicht, S. 43. 684 Es handelte sich bei der »Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft« (Gekrat) um eine der Tarnorganisationen der Euthanasie-Aktion T4 in Berlin, die reichsweit mittels Bussen die Patienten aus den psychiatrischen Einrichtungen in die sechs Tötungsanstalten verbrachten.

240

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

bringt, dann nehmt doch wenigstens mal die Gehirne heraus, sodass das Material verwertet wird. Die fragten dann, nu wie viele können Sie untersuchen, da sagte ich ihnen, eine unbegrenzte Menge, – je mehr, desto lieber […].«685

In Alexanders späterer Berichtsausarbeitung ging diese Stelle trotz seiner Anerkennung für Hallervorden ein, wobei ihm zwischenzeitlich keinerlei Zweifel an der Initiative Hallervordens zur Beschaffung der Gehirne kamen. So hieß es in seinem Bericht: »Dr. Hallervorden had obtained 500 brains from killing centers for the insane. Those patients had been killed in various institutions with carbon monoxide gas. Dr. Hallervorden himself initiated this collaboration. As he put it: ›I heard that they were going to do that, and so I went up to them and told them ›Look here now, boys, if you are going to kill all these people, at least take the brains out so that the material could be utilized‹.«686

Ob Alexander in diesem Zusammenhang vermutete, Hallervorden habe sogar die Tötung bestimmter Patienten initiiert, geht weder aus dem Tagebuch noch aus dem Bericht hervor. An einer weiteren Stelle des Berichts hielt er fest, wie Hallervorden erklärte, die Gehirne bereitwillig angenommen zu haben. »I accepted these brains of course. Where they came from and how they came to me was really none of my business.«687 Angesichts des ausdifferenzierten und von Hallervorden geförderten Zuliefersystems während des Krieges ist nicht zu übersehen, dass er bald die Gefahren eines Bekanntmachens seiner Nähe zur NS-Euthanasie erkannte und begann, kritische Details zu beschweigen. Diese Äußerung, in der sich Hallervorden in eine passive Rolle und in Distanz zu den Tötungsprogrammen zu setzen versuchte, widersprach seiner Selbstdarstellung der aktiv vorgebrachten Anregung zur Herausnahme der Gehirne in den Tötungsanstalten. Um seine vorgeblich kritische Haltung zu untermauern, verwies er schließlich auf den großen Ansehensverlust, den die Psychiatrie durch die Krankentötungen erfahren habe. Alexander hielt Hallervordens Aussage mit den Worten fest: »In looking back upon that time, Dr. Hallervorden stated that he always felt alightly nauseated when another batch arrived. He was also offered brains of schizophrenics and epileptics, but these he refused – not from moral indignation – but because he felt nothing of significance would be found in them. He thinks that the cause of psychiatry was

685 Zit. nach ebd., S. 44. Peiffer bestätigt hier aus persönlicher Erinnerung an Hallervorden und dessen Redestil die Authentizität, mit der Alexander hier die wörtlichen Rede des Gespräches festhielt. 686 L-170, Alexander-Bericht, S. 24. 687 Ebd.

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

241

permanently injured by these activities, and that psychiatrics have lost the respect of the German people for ever.«688

Wie unvorbereitet und sprunghaft sich Hallervorden in der euphorischen Stimmung des Dillenburger Treffens bezüglich der NS-Euthanasie inszenierte, entging Alexander offenbar, der die gravierenden Widersprüche nicht bemerkte und auch später nicht berücksichtigte. Obwohl Alexander seine Berichte im Auftrag der amerikanischen Militärregierung für die Anklagebehörde in Nürnberg verfasste, fand im Vorfeld des Prozesses ein Materialaustausch zwischen den alliierten Behörden statt. Am 7. Februar 1946 setzte der französische Anklagevertreter M. Pierre Mounier Auszüge aus dem Bericht Alexanders (Dok. L-170) in der Anklage gegen Hermann Göring ein, um seine Ausführungen über dessen Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Kontext der Konzentrationslager zu ergänzen. Mounier interpretierte jedoch die aus dem Alexander-Bericht zitierten Stellen in einem anderen Sinn, wenn er bezüglich der Opfer und des Selektionsgrundes ausführte: »Ich möchte den Gerichtshof auf die wirklich unerhörte Grausamkeit diesen Leuten gegenüber aufmerksam machen, die lediglich deswegen getötet werden sollten, damit man ihre Gehirne untersuchen konnte.«689

Damit hatte sich Mounier zwar den historischen Tatsachen einer Tötung auf Bestellung genähert, jedoch unter fälschlicher Deutung des Alexander-Berichts und ohne jegliche Beweise. Hiermit schuf er wohl die Grundlage für Behauptungen, wie sie jenseits des Prozesses in den folgenden Jahren gegen Hallervorden vorgebracht wurden. Noch im Februar 1946 wurden die Verhandlungsberichte in zum Teil inhaltlich fehlerhaften Darstellungen in verschiedenen bayerischen, hessischen und rheinländischen Tageszeitungen abgedruckt. Der Rezeptionsfehler dürfte zum größten Teil Journalisten zuzuschreiben sein, wobei aber schon die Art der Darstellung einer Tatbeteiligung Hallervordens durch die Anklagevertretung zu einer Vermischung der Kontexte von begleitender Forschung zur NS-Euthanasie und Konzentrationslagerverbrechen einlud. Die Nürnberger Nachrichten, der Kölner Kurier und insbesondere der Wiesbadener Kurier berichteten über das KWI für Hirnforschung und brachten es mit Menschenversuchen in Konzentrationslagern in Verbindung, indem sie formulierten, das KWI (Hallervorden) habe sich Gehirne von Häftlingen aus dem Konzentrationslager Mauthausen beschafft.690 688 L-170, Alexander-Bericht, S. 25. 689 Zit. nach: International Military Tribunal: Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, 14.11.1945 – 01.10.1946, Bd. 7, Nürnberg 1947, Nachdruck München / Zürich 1984, 53. Tag, 7. 2. 1946, S. 112. 690 Nürnberger Zeitung vom 9. 2. 1946, Kölner Kurier vom 12. 2. 1946, Wiesbadener Kurier vom 13. 2. 1946. Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 5.

242

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Hallervorden reagierte wenige Tage nach den ersten Zeitungsberichten mit zwei aufeinander folgenden Anschreiben an den Präsidenten des Internationalen Gerichtshofes in Nürnberg. Er wies dabei auf die fehlerhafte Berichterstattung hin und bat um eine Zeugenvernehmung unter Eid, um den aus seiner Sicht falschen Angaben seine Aussage entgegenstellen zu können.691 Als ein Artikel in der hessischen Presse erschien und nun die Öffentlichkeit in seiner unmittelbaren Umgebung informiert sein musste, verstärkte Hallervorden seine Bemühungen durch Schreiben an die Redaktionen der Zeitungen, die er zur Korrektur oder zumindest zum Abdruck seiner Gegendarstellung aufforderte.692 Zusätzlich setzte er zwei Erklärungsschreiben an die Militärregierung in Dillenburg auf und bat um Inschutznahme gegen die Anschuldigungen.693 Bei den Zeitungen konnte er keinen Erfolg erzielen.694 Dafür bestätigte der Gerichtshof in Nürnberg mit einer zeitlichen Verzögerung von einem viertel Jahr die Tatsache unrichtiger Darstellungen in der Presse.695 Auf eine Vorladung als Zeugen oder gar Ermittlungen wegen der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen wurde jedoch verzichtet. Und auch in dem am 9. Dezember 1946 begonnenen nachfolgenden Nürnberger Ärzteprozess kam es nicht zu einer Vorladung von Wissenschaftlern des KWI.696 691 Hallervorden an den Präsidenten des Internationalen Gerichtshofes in Nürnberg, 11. 2. 1946, ebd. 692 Hallervorden an die Redaktion der Nürnberger Nachrichten und des Kölner Kurier, 18. 2. 1946, ebd. 693 Hallervorden an die Militärregierung Dillenburg, 15. 2. 1946 u. 6. 3. 1946, Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 5. 694 Mit dem Antwortschreiben vom 28. 2. 1946 informierte die Redaktion des Kölner Kuriers Hallervorden, dass ein Abdruck seiner Stellungnahme wegen Einstellung des Erscheinens der Zeitung nicht mehr möglich sei. Die Redaktion der Nürnberger Nachrichten verwies mit Schreiben vom 11. 3. 1946 auf die Tatsache, dass es sich nur um die Wiedergabe einer Meldung der DANA (Deutsche Allgemeine Nachrichten-Agentur) gehandelt habe und er sich entsprechend mit seiner Forderung dorthin wenden solle. Ebd. 695 »This report […] is untrue in the form it is given; but the Tribunal obviously cannot control the report in the Press, and certainly cannot undertake the duty of correcting errors or mistakes.« W. L. Mitchell (General Secretary, International Military Tribunal) an Hallervorden, 14. 5. 1946. Ebd. Wie Durchschläge in Hallervordens Personalakte zeigen, hatten sich Mitarbeiter des KWI, Dr. Noetzel und Dr. Welte, bereits im Februar 1946 für Hallervorden verbürgt und »Persilscheine« ausgestellt. Ebd. Hallervorden setzte Spatz in Kenntnis, »dass aber das Gericht beim besten Willen sich nicht darauf einlassen könnte, alle nebenbei in diesem Prozess vorkommenden Angelegenheiten genau nachzuprüfen. Insbesondere auch nicht die Missverständnisse, die in der Presse referiert werden«. Hallervorden an Spatz, 6. 5. 1946 u. 31. 5. 1946, Jürgen Peiffer, Hirnforschung in Deutschland 1849 bis 1974. Briefe zur Entwicklung von Psychiatrie und Neurowissenschaften sowie zum Einfluss des politischen Umfeldes auf Wissenschaftler, Berlin / Heidelberg 2004, S. 1778 u. 1779. 696 Zwar fielen im Laufe des Ärzteprozesses die Namen des KWI, von Hallervorden und Spatz, aber eher im Kontext von Hirnstromforschung, Fleckfieberforschung und Höhenversuchen in Konzentrationslagern. Obwohl auch die beglaubigte Übersetzung eines Auszuges des

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

243

Argumentativ setzte sich Hallervorden mit beiden genannten Anschuldigungen auseinander. Eine Abwehr der Behauptungen über Konzentrationslager-Verbindungen bereitete keine größere Anstrengung, existierten doch keine belastenden Beweise. Aufwendiger gestaltete sich das argumentative Gerüst zur Verschleierung seiner Beteiligung an der NS-Euthanasie. Die Annahme von OpferGehirnen war in dieser Situation nicht mehr zu leugnen, weshalb er den Angriff nach vorn antrat und die Untersuchungen zugab, aber beteuerte, mit dem Verfahren der Euthanasie selbst nie etwas zu tun gehabt zu haben. Er stellte sich als Gegner der Krankentötungen dar, der diese bereits zu Kriegszeiten verurteilt habe. Rein spekulativ behauptete er, er würde in der Position eines betreffenden Anstaltsarztes gegen die NS-Euthanasie protestiert und sein Amt niedergelegt haben.697 Der Widerspruch seiner Argumentation, Gehirne aus einer Tötungsaktion anzunehmen, die er schon damals moralisch und juristisch als Unrecht erkannt habe und als Anstaltsarzt angeblich verweigert hätte, scheint für Hallervorden nicht gravierend bzw. aus seiner Sicht leicht auflösbar gewesen zu sein. Die Gehirne nicht etwa abgelehnt zu haben, rechtfertigte er einerseits mit der Behauptung, ein Protest gegen die Krankentötungen habe keine Wirkung erzielt und zudem sei es verständlich und legitim, »wissenschaftliches Material« für die wissenschaftliche Erkenntnis auszuwerten. Letztere Argumentationsfigur vertrat er 1947 in einem Brief gegenüber Alexander Mitscherlich,698 der den Tatbestand der Begleitforschung zur NS-Euthanasie in die Dokumentation zum Nürnberger Ärzteprozess aufgenommen hatte. In der Dokumentation war die entsprechende Stelle derart formuliert, dass Hallervorden befürchten musste, die Leser bekämen den Eindruck, er habe die Tötung selbst befürwortet. Zu lesen war dort: Dokuments L-170, Alexander-Bericht, Eingang als Anklagematerial fand, wurde der Tatkomplex der NS-Euthanasie-Begleitforschung des KWI für Hirnforschung nicht explizit verhandelt. Vgl. Klaus Dörner (Hg.) in Zusammenarbeit mit Karl Heinz Roth und Paul Weindling, Der Nürnberger Ärzteprozeß 1946/47 (Mikroform). Wortprotokolle, Anklageund Verteidigungsmaterial, Quellen zum Umfeld, im Auftrag der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2000, hier : Fiches 126, 148, 149, 153, 172, 185, 188 (Anklagematerial); 320 (Verteidigung); 005, 038 (Wortprotokolle). Vgl. auch Kurzbiographien im Erschließungsband zu ebd., S. 101 u. 140. 697 Hallervordens angeblich ablehnende Haltung zur NS-Euthanasie wird durch eine Nachkriegsaussage bestätigt. Jener Tötungsarzt, Dr. Bunke, der während des Krieges im KWI angelernt wurde, Gehirnsektionen durchzuführen und die Präparate für das Bucher Institut fachgerecht zu konservieren, schilderte 1962 seine Begegnung mit Hallervorden, wonach sich dieser gegen die Krankentötungen ausgesprochen habe. Über den Unrechtscharakter war sich Hallervorden damals im Klaren. Bunke über sein Gespräch mit Hallervorden: »Erst in dieser Unterhaltung mit Prof. Hallervorden habe ich begriffen, dass es sich um ungesetzliche Massnahmen handelt.« Zit. nach Peiffer, Hirnforschung im Zwielicht, S. 45. 698 Hallervorden an Mitscherlich, 28. 7. 1947, Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 5.

244

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

»Die Vermutung medizinischer Forschung mit der Euthanasieaktion wird durch Doc. No-L-170 bestätigt. Danach erhielt Prof. Dr. Hallervorden auf Wunsch 600 Gehirne von den Euthanasie-Stätten. Sie wurden ihm nach seinen Angaben in Mengen von 150 – 250 Gehirnen durch die ›Gemeinnützige Krankentransportgesellschaft‹ zugestellt.«699

Anders als gegenüber Alexander hatte Hallervorden dem Nürnberger Militärgerichtshof auch im Detail die Herkunft der Gehirne beschrieben. Bemerkenswert ist, dass die 1938 erfolgte Angliederung der brandenburgischen Zentralprosektur an das KWI, der er in Personalunion als Abteilungsleiter der Neuropathologie vorgestanden hatte, nun argumentativ eine Möglichkeit bot, das KWI aus dem kontextuellen Rahmen Krankenmord herauszunehmen. Hallervorden erklärte dem Gerichtspräsidenten, nicht das Hirnforschungsinstitut, sondern er in seiner Funktion als Prosektor habe die Gehirne angenommen. Intendiert war damit die Umdeutung im Sinne einer Untersuchungspflicht, die mit seinem Status als Beamter der Preußischen Provinz Brandenburg verbunden war. Er versuchte den Eindruck einer normalen Berufspraxis zu erwecken, indem er als Zweck der Untersuchungen die Kontrolle der klinischen Diagnosen und der Feststellung der Krankheitsursachen angab.700 Die Tatsache, dass diese Präparate zur Forschung in die Neuropathologische Abteilung des KWI integriert worden waren und darin gerade der Sinn dieser einzigartigen Kooperation zwischen der Provinz Brandenburg und der KWG bestanden hatte, wurde gegenüber dem Gerichtspräsidenten unterschlagen. Ebenso wurden a) die zur Tötung bestellten minderjährigen Patienten aus Heinzes Anstalt, b) die intensiven Kontakte zu Gutachtern und Organisation der Aktion T4 sowie c) die konzeptionelle Beteiligung an der Gördener »Forschungsabteilung« und damit die Rückkoppelung der KWI-Forschung an Krankheitsursachen mit der Euthanasie-Indikation von Hallervorden schlichtweg beschwiegen. Um der beginnenden Rufschädigung des Instituts entgegenzuwirken, wandte sich Hallervorden im guten Glauben auf Unterstützung an Leo Alexander. Er plädierte für ein Einsehen bezüglich der Institutskrise und erbat eine Richtigstellung der Darstellung durch Alexander: »Immer wieder werden diese Dinge abgedruckt. […] In der Berliner Täglichen Rundschau steht zu lesen, dass das Institut in Buch seinen internationalen Ruf durch ›ver699 Zit. nach: Das Diktat der Menschenverachtung. Eine Dokumentation von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, Heidelberg 1947, S. 124. Mitscherlichs Mitarbeiter Fred Mielke informierte Hallervorden, dass die von ihm kritisierte Stelle im Manuskript geändert worden sei. Mielke an Hallervorden, 27. 3. 1948. Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden. Dem entgegen findet sich aber in den Auflagen der 1960er-Jahre die Stelle unverändert wieder. Vgl. Alexander Mitscherlich und Fred Mielke (Hg.), Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Hamburg 1960 und 1962, hier: S. 196. 700 Hallervorden an den Präsidenten des Internationalen Gerichtshofes in Nürnberg, 11. 2. 1946. Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 5.

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

245

brecherische Experimente‹ eingebüßt habe. […]. [A]ber es ist kein Zweifel, […] dass diese Angriffe, wenn sie unwidersprochen bleiben, uns letzten Endes doch schädigen. Werden doch die Aussagen in der ganzen Welt verbreitet und tragen als gerichtlich festgelegte Dokumente den Stempel anerkannter Wahrheit an sich. Das ist gerade jetzt, wo die Existenz unseres Instituts aufs schwerste gefährdet ist und wir versuchen, es in kleinem Rahmen irgendwo fortzuführen, besonders drückend und erschwerend. […], wenn wir nicht bald eine Anlehnung finden, geht unsere Lebensarbeit verloren.«701

Alexander ließ sich in den nachfolgenden Jahren nie auf einen weiteren Kontakt mit Hallervorden ein. Nachdem Hallervorden weder vor Gericht noch bei den Zeitungen in seinem Sinne Erfolg verzeichnen konnte, konzentrierte er sich auf die Einflussnahme einer in Vorbereitung befindlichen Veröffentlichung zur NS-Euthanasie. Gräfin Alice Platen-Hallermund, Beobachterin der deutschen Delegation um Mitscherlich im Nürnberger Ärzteprozess, änderte in Folge der Korrespondenz mit Hallervorden einzelne Passagen ihres im Entstehen begriffenen Buches zu seinen Gunsten. Zudem ist erkennbar, dass Hallervorden noch immer nicht das OriginalDokument L-170 kannte. Platen-Hallermund schrieb die beruhigenden Worte: »Ich habe den fraglichen Absatz, in dem Ihr Name nicht genannt war, umgearbeitet und schicke ihn Ihnen zu. Aus dem Dokument ging übrigens klar hervor, dass Sie von der wirklichen Organisation der Euthanasie nichts wussten. Mich interessierte das besonders und ich liess mir darum die Photokopie zeigen, weil es mich verblüffte, wie wenig jemand, der doch durch eine Arbeit in Kontakt mit der Euthanasie stand, von dem Aufbau der Organisation etc. wusste. Oder sind auch das Erfindungen Alexanders, der seiner Behörde etwas berichten wollte? Auch das halte ich für möglich.«702

Nachdem Hallervorden sie diesbezüglich aufgeklärt hatte, war sie von seiner wissenschaftlichen Redlichkeit überzeugt. Allerdings stellte sie die unbequeme Frage nach der Möglichkeit einer Annahmeverweigerung der Gehirne. Hallervorden konnte offenbar überzeugend argumentieren, dass sein Protest nichts als eine Verhinderung von Forschungsergebnissen bedeutet hätte. In PlatenHallermunds Publikation von 1949 »Die Tötung der Geisteskranken in Deutschland« wurden als Folge dieser Korrespondenz weder Hallervordens Name noch das Institut konkret benannt. Die entsprechende Stelle in PlatenHallermunds Buch spiegelt den Austausch mit Hallervorden wider. In der an701 Hallervorden an Alexander, 27. 8. 1946, ebd. Es ist nicht sicher, ob Alexander diesen Brief erhielt. Indirekt antwortete Alexander in einem Aufsatz von 1949, indem er den Gesamtzusammenhang von Medizinverbrechen und Holocaust aufzeigte und erneut Hallervorden und dessen Nutzung der Euthanasie-Opfer kritisch beschrieb. Vgl. Leo Alexander, Medical Science under Dictatorship, in: The New England Journal of Medicine, 241 (1949) 2, S. 39 – 47, hier : S. 40 f. 702 Alice Platen-Hallermund an Hallervorden, 16. 11. 1947. Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 5.

246

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

schließenden Interpretation formulierte sie ihre Kritik an der nutznießenden Wissenschaft: »Hier zeigt sich eine Erscheinung, die auf allen Wissenschaftsgebieten während des Nationalsozialismus zu beobachten war, nämlich die ›Unschuld‹ des Wissenschaftlers, für den seine Forschung außerhalb der politischen Wirklichkeit und der menschlichen Wertordnungen stand. […] Die Forschungsergebnisse mögen noch so beachtlich gewesen sein, es erhebt sich doch immer wieder die Frage, ob sie nicht unter Bedingungen erzielt waren, die Wertvolleres zerstörten. […] Und nur wenn die Wissenschaft als solche protestiert hätte, könnte sie die Verantwortlichkeit an dem Geschehen der Vergangenheit wirklich ablehnen.«703

Seit Hallervordens Gespräch mit Alexander in Dillenburg begann sich seine Rechtfertigungstaktik allmählich zu verändern. Gegenüber der Redaktion des Wiesbadener Kuriers behauptete er bereits, die Gehirne nicht angefordert zu haben.704 Und auch gegenüber Platen-Hallermund bestritt er die Darstellung der Prozessbeobachter Mitscherlich und Mielke, er habe die Gehirne erbeten. Vielmehr sei ihm von einer anderen Stelle die Frage gestellt worden, ob er die Gehirne untersuchen wolle, was wiederum seiner Version der üblichen Annahme als Prosektor zuwiderlief. Zudem verwickelte er sich in einen weiteren Widerspruch. Denn zur Rechtfertigung seiner Entscheidung für die Untersuchungen brachte er den Vergleich mit der Situation eines Anatomen an, der sich um die Körper Hingerichteter bemühe, selbst wenn er die Todesstrafe verurteile. Dieser Vergleich wurde von Hallervorden mehrfach verwendet. Offenbar konnte er damit Plausibilität und Überzeugungskraft herstellen.705 Bei genauerem Hinsehen war der Vergleich allerdings kaum schlüssig, beruhte doch theoretisch die Vollstreckung eines Todesurteils auf geltendem Recht. Gerade für die Krankentötungen – von Hallervorden angeblich selbst missbilligt – galt dies nicht. Jeder an den Krankentötungen beteiligte Arzt machte sich strafbar, da ein erhofftes Euthanasie-Gesetz von Hitler mehrmals abgelehnt worden war. Es handelte sich bei dem Vergleich

703 Zit. nach: Alice Platen-Hallermund, Die Tötung Geisteskranker in Deutschland. Reprint der Erstausgabe von 1948, Bonn 1998, S. 90 f. 704 Hallervorden an Wiesbadener Kurier, 4. 3. 1946. Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 5. 705 Briefentwurf Hallervorden an Platen-Hallermund, 6. 11. 1947, ebd. Zum Anatomievergleich durch Hallervorden gegenüber der Hessischen Ärztekammer siehe Abschnitt 4.4.3. Mit ähnlicher Argumentationsweise wurde 1949 ein Diskurs um O. v. Verschuer, J. Mengele und den sogenannten Materialbezug aus Auschwitz geführt. Der Erbbiologe Nachtsheim verteidigte v. Verschuer gegenüber dessen schärfstem Kritiker Robert Havemann mit der Behauptung, es sei kein Verbrechen, sondern eher als ein übliches Verfahren anzusehen, etwa vergleichbar mit dem Bezug von Leichenteilen aus Zuchthäusern. Vgl. Sachse, ›Persilscheinkultur‹, S. 234.

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

247

folglich um eine Verharmlosungstaktik, die die nicht zu übersehende Doppelmoral seiner Argumentation verdecken sollte. Hallervordens Rechtfertigung bis zum Ende der 1940er-Jahre bestand also in einer Kombination von vier Strategieteilen: 1. dem von ihm zugegebenen, da als legitim betrachteten Motiv wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens anhand der Gehirne von Euthanasie-Opfern, 2. der langsamen Verschiebung in der Selbstdarstellung von der aktiven zu einer passiven Rolle im Sinne einer Annahmepflicht der Gehirne, 3. der Selbstinszenierung als Gegner der Krankenmorde mit entsprechender Distanzierung zum Euthanasie-Verfahren und bewusster Ausblendung belastender Details, und 4. der Abschwächung der impliziten Kritik an der Doppelmoral durch komparative Relativierung.

4.4.3. Die Hallervorden-Affäre (»dutch affair«) von Lissabon 1953 Gegen Ende der 1940er-Jahre trat eine deutliche Beruhigung um die NS-Vergangenheit des KWI / MPI für Hirnforschung ein und die Aufmerksamkeit richtete sich intern vollständig auf die noch immer ungeklärte Standortfrage. Einzig die Anfrage eines Rechtsanwalts an Wilhelm Tönnis706 im Februar 1948 belegt die Nachbeben der Nürnberger Prozesse. Rechtanwalt Gustav Steinbauer, der in Nürnberg unter anderem als Verteidiger von Dr. Wilhelm Beiglböck707 706 Tönnis hatte vor 1945 am KWI für Hirnforschung die Leitung der Abteilung für Tumorforschung und experimentelle Pathologie des Gehirns inne, die sich damals nicht in Buch, sondern separat in der Neurologischen und Neurochirurgischen Klinik der Charit¦ Berlin (Hansaklinik) befand. Gegen Ende des Krieges war seine Abteilung nach Bad Ischl evakuiert worden. Im Jahr 1945 ergab sich für Tönnis die Möglichkeit, die Direktion des Knappschaftskrankenhauses in Bochum-Langendreer zu übernehmen. Dort wurde langsam die Tumorforschung und Neurochirurgie wieder aufgenommen. Nachdem Tönnis 1948 den Ruf auf den Lehrstuhl für Neurochirurgie in Köln erhalten hatte, nahm die dortige Neurochirurgische Klinik seine Abteilung in ihrem Gebäude auf, wo sie am 15. Juni 1951 eröffnet wurde. Siehe: Tätigkeitsbericht der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften und der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften für die Zeit vom 1. 11. 1946 bis 31. 3. 1951, in: Die Naturwissenschaften 38 (1951) 16/17, S. 361.; vgl. auch: Eckart Henning und Marion Kazemi, Chronik der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften unter der Präsidentschaft Otto Hahns (1946 – 1960), Berlin 1992, S. 42. Zu Tönnis Abteilung vor 1945 siehe: Jürgen Peiffer, Das Psychiatrische Krankenhaus Marburg und das Max-Planck-Institut für Hirnforschung. Persönliche und institutionelle Beziehungen, in: Peter Sandner, Gerhard Aumüller und Christina Vanja (Hg.), Heilbar und nützlich. Ziele und Wege der Psychiatrie in Marburg an der Lahn, Marburg 2001, S. 353 – 361, hier : S. 353. 707 Österreichischer Internist, Jahrgang 1905, der im Nürnberger Ärzteprozess wegen der Durchführung von Meerwasserversuchen an Sinti und Roma im Konzentrationslager Dachau angeklagt war. Beiglböck wurde zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Die Strafe wurde später um zehn Jahre herabgesetzt und Beiglböck kam 1951 wieder auf freien Fuß. Vgl. Klee, Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 36 f.

248

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

tätig war, erkundigte sich bei Tönnis auf Anraten eines seiner Klienten, Dr. Wolfram Sorgo, »über die Inquisitionsmethoden des Herrn Prof. Alexander«. Tönnis glaubte an eine Verwechselung seiner Person, vermutlich mit Hallervorden, und antwortete: »Zwar war Prof. Alexander damals bei uns in Bad Ischl und hat sich sehr eingehend für unsere ärztliche und wissenschaftliche Tätigkeit interessiert. Aber irgendwelche Unannehmlichkeiten sind mir daraus nicht erwachsen. Wie ich erfuhr hat Herr Prof. Hallervorden, KWG-Institut für Hirnforschung, Dillenburg, Schlossberg 3 unangenehme Sachen erlebt. Auf Grund einer wissenschaftlichen Unterhaltung soll Prof. A. erfahren haben, dass Prof. H. gewisse Gehirne untersucht habe. Auf Grund einer Mitteilung in Nürnberg durch Prof. A. ist die Sache zur Sprache gekommen, aber Gott sei Dank noch rechtzeitig beigelegt worden. Sie müssten sich darüber schon einmal bei Prof. Hallervorden erkundigen.«708

Demnach galt die erste Krise von 1946/47 ein Jahr später bereits als bewältigt. Freilich wurde die Euthanasie-Vergangenheit des Instituts oder auch die überstandene Auseinandersetzung im Zuge des Nürnberger Prozesses in Würdigungen anlässlich verschiedener Geburtstage oder bei der Einweihung des neuen Institutsstandortes Gießen nicht mehr offiziell erwähnt.709 War 1950 auf nationaler Ebene ein wichtiger Schritt zur Institutionalisierung der Neuropathologie als eigenständiger medizinischer Disziplin vollzogen worden710, begann zugleich in den 1950er- und 1960er-Jahren ein Prozess der Internationalisierung der Neurowissenschaften mit zunehmender Ausrichtung auf die Forschungen in den USA. Hallervorden und Spatz wurden 1950 und 1952 auf internationalen Fachkongressen um wissenschaftliche Beiträge gebeten.711 Alles deutete auf eine erfolgreiche Wiederannäherung an die internationale Gemeinschaft aus Neurologie, Anatomie und Pathologie hin.712 708 Tönnis an Steinbauer, 23. 2. 1948, Archiv MPG, Abt. II, Rep. 20B, Nr. 105 – 1 Hirnforschung (Tönnis). 709 Peiffer, Hirnforschung im Zwielicht, S. 48. 710 Bei der Neugründung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater (GDNP) 1948 waren zunächst die Neuroanatomie und Neuropathologie in die Sektion Neurologie integriert worden. Am 7. 10. 1950 kam es durch 38 Vertreter der Neurologie, Psychiatrie, Neurochirurgie und Pathologie zur Gründungsversammlung »Vereinigung Deutscher Neuropathologen«. Zum ersten Vorsitzenden wurde Hallervorden gewählt, der das Amt 1953 an Gerd Peters abgab. Zu den Gründungsmitgliedern gehörten u. a. Rauch (Heidelberg), Schaltenbrand und Eicke (Würzburg), Hallervorden und Spatz (Gießen), Ostertag (Tübingen), Schleussing (München). Unter den 38 Mitgliedern trafen sich demnach Wissenschaftler wieder, die in Medizinverbrechen im Nationalsozialismus verwickelt waren. Vgl. Peiffer, 100 Jahre deutsche Neuropathologie, S. 26 f.; Strösser, Deutsche Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie e. V., S. 26 f. 711 Peiffer, Hirnforschung im Zwielicht, S. 48. 712 Während der Dillenburger und Gießener Zeit zählte die Hallervorden-Abteilung des KWI / MPI auch den amerikanischen Gastwissenschaftler Edward Richardson aus Boston zu ihren

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

249

Als im Januar 1953 die Vorbereitungen für den im Herbst geplanten 5. Internationalen Kongress für Neurologie in Lissabon anliefen, kam es zum Eklat über die geplante Teilnahme Hallervordens.713 Im Namen der niederländischen Neurologen verfassten die Professoren G. G. J. Rademaker (Leiden), W. G. S. Smitt und H. Verbiest (Utrecht) sowie A. Biemond (Amsterdam) Mitte Januar 1953 ein Protestschreiben an den Themendirektor Prof. van Bogaert, der Hallervorden zu einem Beitrag aufgefordert hatte. Am 31. Januar folgte ein zweites Rundschreiben an alle Kongressteilnehmer, in der die als zu stark empfundene Einbindung von deutschen Redebeiträgen im Allgemeinen und die Teilnahme Hallervordens im Besonderen kritisiert wurden.714 Die niederländischen Kollegen kündigten an, nicht teilzunehmen, und bezogen sich in ihrer Kritik an Hallervorden direkt auf das in Nürnberg vorgelegte Dokument L-170. Dabei waren die im AlexanderBericht enthaltenen Formulierungen »Dr. Hallervorden himself initiated the collaboration« und »the more the better« Kern der Auseinandersetzungen. Alles ging folglich auf das Dillenburger Gespräch zurück und gerade die wörtlichen Zitate Hallervordens ließen erneut Spielräume für verschiedene Interpretationen entstehen. Nicht wenige kamen zu der Annahme, es habe ein direkter Einfluss auf die Zahl der Tötungen anstatt auf die Zahl der angelieferten Gehirne bestanden. Es folgte eine hitzige Kontroverse und intensive Korrespondenz unter den potenziellen Kongressteilnehmern, an der sich vor allem niederländische, amerikanische und deutsche Wissenschaftler beteiligten. Hallervorden zog nach Mitarbeitern. Richardson blieb dem MPI und insbesondere Hallervorden in den nachfolgenden Jahren verbunden, nahm 1962 an den Feierlichkeiten anlässlich des 80. Geburtstages von Hallervorden teil und verfasste eine Kurzbiographie über dessen wissenschaftliches Leben. Vgl. Edward P. Richardson Jr., Julius Hallervorden, in: Stephen Ashwal (Hg.), The Founders of Child Neurology, San Francisco 1990, S. 506 – 511. Hierin griff er unter Hinweis auf einen Artikel von Götz Aly (1989) die Anschuldigungen gegen Spatz und Hallervorden auf und wies auf die fehlenden Nachweise in Hallervordens Publikationen hin. Seine persönliche Beziehung zu Hallervorden schien aber eine kritische Positionierung zu verhindern. Vielmehr ging es ihm um eine glanzvolle Würdigung. Ebd., S. 510 f. Richardson wiederholte seine Bewunderung für Spatz und Hallervorden in einem Interview von 1994 mit Paul Kleihues, wobei er nun unter Verweis auf den Alexander-Aufsatz (1949) und den Beitrag von Jürgen Peiffer, Neuropathology in the Third Reich, in: Brain Pathology 1 (1991), S. 125 – 131, die historischen Tatsachen der Gehirnuntersuchungen aus der NSEuthanasie eingestand. Edward P. Jr. Richardson, Karl Erik Astrom, Paul Kleihues, The Development of Neuropathology at the Massachusetts General Hospital and Harvard Medical School, in: Brain Pathology 4 (1994), S. 181 – 195. 713 Der Kongress gliederte sich in vier Themensektionen, von denen die vierte »Metabolische Erkrankungen des Gehirns« unter Leitung des Themendirektors Dr. Ludo Baron van Bogaert stand. Das vorläufige Programm sah einen Doppelreferat von Hallervorden und Prof. Klenk (Köln) über die »Phosphatidspeicherungen unter den klinischen, histopathologischen und chemischen Gesichtspunkten« vor. Vgl. Vorläufiges Programm 5. Kongress für Neurologie, 7.–12. 9. 1953, Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, S. 3. 714 Rundschreiben der niederländischen Delegation vom Dezember 1952 bis Februar 1953, Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 5. Vgl. auch Peiffer, Hirnforschung im Zwielicht, S. 48.

250

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Kenntnisnahme des niederländischen Vetos seinen Vortrag umgehend zurück. Auch Spatz zog es im Anschluss an Hallervorden vor, im Interesse des Wiederaufbaus der Internationalen Wissenschaft nicht teilzunehmen. An van Bogaert schrieb er: »Der Schritt der holländischen Delegation zum 5. Internationalen Neurologen-Kongress hat mich etwas betrübt, weil ein gewisser Rückschlag in der Anbahnung der internationalen Beziehungen in der Wissenschaft dadurch zu befürchten ist. Dass die holländische Delegation die zu grosse Anzahl deutscher Referenten bedauert und darin ›une manifestation politique et pro-allemande‹ erblickt, war es für mich selbstverständliche Konsequenz, meine Anteilnahme am Kongress und den von mir angemeldeten Vortrag zurückzuziehen (Schreiben an Herrn Schaltenbrand).«715

Es bildeten sich zwei Lager: Eine Seite stellte sich hinter Hallervorden und eine andere Seite, darunter auch Leo Alexander, forderte beharrlich Hallervordens Ausschluss vom Kongress. Vermittlungsversuche gestalteten sich schwierig,716 bis schließlich der Kongress unter Teilnahme der deutschen Wissenschaftler, jedoch ohne Hallervorden, stattfand. Alexanders Position in diesem Streit war eindeutig. Sowohl in einem Schreiben an den dänischen Neurologen C. J. Munch-Petersen als auch in einem Brief an die Teilnehmerin Mrs. Jeanty begründete er seine unbedingte Ablehnung einer Einladung Hallervordens: »I really believe that everything should be done to withdraw the invitation to him, since he is definitely ethically objectionable. […] [B]ut I believe that the leadership of the Congress should be convinced that Hallervorden is not a desirable person, since he is thoroughly discredited in the Western World for his part in initiating certain organizational procedures concerning the killing centers for the insane. He admitted this freely at a time when he was still so thoroughly indoctrinated in the Nazi beliefs that he did not realize that anyone on the outside might object. While he later denied this he has never expressed regret or repentance of anything else that might re-establish his eligibility to a medical group founded on the common ground of ethical purposes the medical world has been based on for many centuries.«717 715 Spatz an van Bogaert, 17. 3. 1953, Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, S. 9. Spatz vergleicht im Weiteren die Angriffe gegen Hallervorden mit ähnlichen Angriffen holländischer Wissenschaftler gegen den Berliner Anatomen Hermann Stieve, dessen plötzlicher Tod mit diesen in Verbindung gebracht werde. 716 Siehe Korrespondenz Robert Wartenberg, J. F. Fulton und Webb Haymaker an die beteiligten, zu Hallervorden kritisch eingestellten Kollegen. Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 5. 717 Alexander an Munch-Petersen, 27. 3. 1953, Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 9. Im Weiteren lieferte Alexander noch einmal eine Abschrift der Schlüsselaussage Hallervordens aus dem Dillenburger Gespräch – hier identisch mit dem Zitat aus dem Tagebuch. Alexander bemühte sich intensiv darum, die niederländische Delegation wieder zur Teilnahme zu bewegen, wobei er die Hauptbedingung mit dem Rückzug Hallervordens erfüllt sah. Kopie Alexander an Rademaker, 15. 5. 1953, ebd.

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

251

Die Aussage war sowohl neu in ihrer Qualität hinsichtlich seiner Beziehung zu Hallervorden als auch in der Interpretation von dessen Beteiligung an der NSEuthanasie. Ob er letztere, äußerst wirklichkeitsnahe Deutung zunächst aus Rücksichtnahme gegenüber Hallervorden nur zurückgehalten hatte und dann aus Verärgerung über dessen Leugnung der Gesprächsinhalte in Dillenburg718 nun offenbar werden ließ, bleibt unklar. Jedenfalls ergaben sich bis 1953 keine neuen Belege über Hallervordens Beteiligung an den Tötungsprogrammen. Wohl aber hatte sich für Leo Alexander die durch seine Arbeit als Sachverständiger in Nürnberg erlangte Einsicht in die Dimensionen der Medizinverbrechen erweitert. Alexander war, entgegen seiner ambivalenten Haltung zu Hallervorden in den 1940er-Jahren, erkennbar auf Distanz gegangen. Seine Position wurde von einigen Kollegen als nicht nachvollziehbar empfunden. Der an der Kontroverse beteiligte Robert Wartenberg hatte sich im Mai 1953 mit Alexander in San Francisco getroffen und bemüht, ihn in einem mehrstündigen Gespräch über die »dutch affair« erstens zu einer anderen Einstellung zu Hallervorden und zweitens zur Unterzeichnung einer gemeinsamen Aufforderung an die niederländische Delegation zur Rückkehr auf den Kongress zu bewegen. Seinem Kollegen Haymaker in Washington D. C. berichtete Wartenberg: »We agreed to disagree completely in everything concerning the affair of Hallervorden, and more than ever I have the firmest conviction that Alexander did an injustice to Hallervorden. But there is no use to talk to him about it any more; here he is completely unreasonable. So are the Dutch, and I think it is best to stop the whole affair now, since everyone concerned has spoken.«719

Die Legitimität seiner »Uneinsichtigkeit« glaubte Alexander aus medizinethischen und vergangenheitspolitischen Prinzipien ableiten zu können. Er war nicht bereit, diese durch Duldung einer für Reue unempfänglichen Person herabzusetzen. Seine konsequente Haltung war das Ergebnis seiner Reflexionen über die Ursprünge und Genese der Verbrechen im Nationalsozialismus.720 Am konkreten Beispiel der Hallervorden-Affäre warnte er vor einem möglichen Dammbruch: »I believe we cannot associate ourselves officially with him without lowering our own ethical and moral standarts [sic!]. […] Democracy as well as medicine are based on the

718 Gegenüber Alice Platen-Hallermund verwahrte sich Hallervorden dagegen, derart »frivole Äußerungen« getan zu haben. Schreiben 6. 11. 1947, ebd., Personalakte Hallervorden, 5. 719 Wartenberg an Haymaker, 19. 5. 1953. Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, S. 9. 720 Hinsichtlich der Genese der NS-Medizinverbrechen formulierte Alexander 1949 eine der frühesten slippery-slope-Argumentationen. Vgl. Alexander, Medical Science under Dictatorship, S. 44.

252

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

recognition of the inviolable dignity of human life, well or sick. I am afraid that we are inviting disaster if we ever lower our standarts [sic!].«721

Die Beweggründe Alexanders, Hallervorden nicht im Rahmen der internationalen scientific community zur Rede zu stellen und auf dem direkten Wege die notwendige, offene Auseinandersetzung in der Fachdisziplin anzustoßen, bleiben hier ungeklärt. Spatz und Hallervorden, angesichts dieser neuen Krise aus der täglichen Arbeit in Gießen herausgerissen, sahen sich zu Stellungnahmen gegenüber Alexander, der Themendirektion des Kongresses, der MPG, der Landesärztekammer Hessen sowie dem Hessischen Kultusministerium veranlasst. Da Spatz in dieser Situation aktiv in die Auseinandersetzung eingriff, um nicht nur Hallervorden, sondern auch seine damals zustimmende Entscheidung zur Untersuchung der Gehirne zu verteidigen, veränderte sich auch das Strategieprofil gegenüber der ersten Krise von 1946/47. Zunächst griff Spatz Hallervordens frühere, als plausibel erscheinende Strategieelemente in einem Rechtfertigungsschreiben an den Themendirektor van Bogaert auf und verteidigte Hallervorden. Dieser habe die Gehirne nicht angefordert und in seiner Funktion als Prosektor annehmen müssen. Hallervorden unterstrich dies in einem eigenen Schreiben an van Bogaert, in dem er sich auch für die Unterstützung bedankte. Zur Frage der Initiative schrieb er: »Ich bin, zusammen mit Herrn Spatz und anderen Psychiatern, in die Reichskanzlei, also in den Sitz des Hitler-Regimes, befohlen worden. Hier wurden uns von offizieller Seite Mitteilungen über die Euthanasie-Aktion gemacht und hier wurde die Untersuchung der Gehirne verlangt. Es kann danach kein Zweifel sein, dass die Initiative von dem damaligen Regime ausgegangen ist, obwohl dasselbe gleichzeitig bemüht war, die Durchführung der Aktion geheimzuhalten.«722

Spatz behauptete, beide hätten bereits zu Kriegszeiten die Euthanasie-Maßnahmen abgelehnt.723 Doch zugleich kam ein neues Argument auf, das in der Rechtfertigung als zentral angesehen wurde: »Auch mir schien H. als Leiter der Prosektur der Irrenanstalten dazu verpflichtet zu sein, die Untersuchungen durchzuführen. Es war die einzige Kontrolle, die es bezüglich der Euthanasie-Aktion gab.«724

721 Alexander an Mrs. Jeanty, 10. 4. 1953, Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 5. 722 Hallervorden an van Bogaert, 22. 6. 1953, Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 5. 723 In einer anderen Stellungnahme hatte Spatz die Einschätzung formuliert, »dass durch diese Aktion der Euthanasiegedanke für immer ad absurdum geführt worden ist«. Erklärung MPI Gießen (Spatz), o. Dat., ebd. 724 Spatz an van Bogaert, 17. 3. 1953, Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden,

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

253

Dabei handelte es sich um ein auf Entlastung zielendes Argument, das häufiger von Ärzten (z. B. Werner Catel) benutzt wurde, die sich direkt an der EuthanasieAktion beteiligt hatten. Hallervorden hatte bis dahin nie erwähnt, eine Kontrolle des Verfahrens beansprucht zu haben. Das von Spatz vorgebrachte Argument wird einzig im Forschungskontext der Diagnosen- und Krankheitsklärung als Grundlegung der Euthanasie-Indikation verständlich. Auch wenn Spatz den eigentlichen Sinn seiner These verschwieg, belastete er indirekt sich selbst und Hallervorden mit diesem Argument, da beide wieder in die Nähe der NS-Euthanasie gerückt wurden. Des Weiteren gab Spatz zu, von der Annahme und Untersuchung der Gehirne durch Hallervorden gewusst zu haben, und leitete aus der Funktion als Institutsdirektor eine indirekte Mitverantwortung ab. Im Anschluss an Hallervordens frühere Positionen forderte er Verständnis dafür ein, dieser Versuchung nicht widerstanden zu haben: »Ausserdem war das Material, das vorwiegend aus schweren Missbildungen des Gehirns bestand, von einem ganz ungewöhnlichen Wert für die Wissenschaft.«725 Die eigene, viel direktere Verantwortlichkeit für den Eingang zahlreicher Gehirnpräparate von Euthanasie-Opfern in die Sammlung der ihm selbst unterstehenden Neuroanatomischen Abteilung beschwieg er. In einem Brief an Alexander forderte Spatz diesen zu einer klärenden Stellungnahme auf, denn noch immer hatten Hallervorden und Spatz nicht den Originalbericht zu Gesicht bekommen. Dafür griff Spatz die beschriebene Argumentationsstruktur auf und ergänzte sie um neue Elemente. Zur Diskussion um eine denkbare Ablehnung der Gehirne schrieb er an Alexander : »[…] 2. Die Verweigerung hätte die Existenz des Institutes bedroht.«726 Und um den Druck auf Alexander zu einer Reaktion noch zu erhöhen, schreckte er nicht vor Vorhaltungen zurück: »Die Angelegenheit hat nun internationales Aufsehen erregt. Es ist zu befürchten, dass die Wiederanbahnung der wissenschaftlichen Beziehungen in der Neurologie, die im vorigen Jahr auf den Kongressen in Rom und Madrid in sehr erfreulicher Weise eingeleitet worden war, durch die Aufrollung dieser 10 Jahre zurückliegenden Angelegenheit einen empfindlichen Rückschlag erfahren wird.«727

Mit dieser Art von Verjährungs- bzw. impliziter Schlussstrichargumentation appellierte er an ein »kollektives« Beschweigen zum Zwecke von Versöhnung und Neuanfang. Die von Alexander dafür als notwendig erachtete Voraussetzung eines Eingeständnisses von Schuld war jedoch nicht im Geringsten gegeben. Ob 9. Der letzte Satz ist als einziger im gesamten Dokument durch Unterstreichung hervorgehoben. 725 Ebd. 726 Spatz an Alexander, 25. 3. 1953. Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 9. 727 Ebd.

254

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

sich überhaupt ein Unrechtsbewusstsein bei den beteiligten Neurowissenschaftlern eingestellt hatte, ist nicht mehr abschließend zu klären. Die Tatsache, dass 1. nach dem Kriegsende belastende Unterlagen vernichtet wurden, dass 2. nach Aussagen von Mitarbeitern Hallervordens die Euthanasie-Thematik mit einem Tabu belegt war und entsprechend Nachwuchswissenschaftler nicht über die Herkunft der von ihnen untersuchten Präparate aufgeklärt wurden und dass 3. in eigenen Publikationen der Nachkriegszeit die Herkunft des Untersuchungsmaterials verschleiert wurde, obwohl die Annahme der Gehirnpräparate nie bestritten worden war, könnten einerseits als Anzeichen von Gewissenskonflikten gedeutet werden.728 Anderseits können diese Maßnahmen auch nüchtern als Prophylaxe zur Verhinderung einer möglichen juristischen Verfolgung aufgefasst werden. Auf den ersten Blick gibt es keine Hinweise auf eine reale Bedrohungssituation des Instituts während des Krieges, die durch Untersuchungen der Gehirne von Euthanasie-Opfern hätte entschärft werden müssen; sieht man – positiv gewendet – von »uk-Stellungen«729 einzelner Mitarbeiter des Instituts ab, die ihre Arbeit während des Krieges fortsetzen konnten. Und ob Hallervorden und Spatz die Gehirne unter anderen Umständen abgelehnt hätten, ist angesichts des großen wissenschaftlichen Werts, den sie dem Untersuchungsmaterial beimaßen, zweifelhaft. Das Selbsterhaltungsargument von Spatz, eine Verweigerung der Gehirnannahme hätte das Institut bedroht, ist allerdings vor einem anderen Hintergrund plausibel. Während des Krieges sah er sein Institut in steigender struktureller und finanzieller Abhängigkeit von militärischen Aufträgen eingenommen. Aus diesem Grund war er damals bemüht, die zunehmend verdrängten, zivilen Forschungsgebiete für eine institutionelle Unabhängigkeit (v. a. Drittmittel für Grundlagenforschung) zu erhalten. Durch die forschungsbezogene Verknüpfung mit der anlaufenden Euthanasie-Aktion hatte sich eine Möglichkeit ergeben, diesem Ziel näher zu kommen und zivile Forschungsbereiche nicht vollständig zu verlieren. Wie Hans-Walter Schmuhl herausgearbeitet hat, war gerade in dieser kriegsbedingten Konstellation der Institutsaufgaben beider Einrichtungen (Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie der KWG in München und KWI für Hirnforschung in Berlin-Buch) ein Komplementärverhältnis von mi728 Peiffer, Neuropathologische Forschung an ›Euthanasie‹-Opfern, S. 172. Peiffer wies auf die Schwierigkeit hin, dass in den von ihm und seinen Kollegen der zweiten Generation durchgeführten Studien an Präparaten einerseits der Fokus auf den wissenschaftlichen Fragen lag und andererseits in den Akten nicht ein einziger Hinweis auf die Herkunft des untersuchten Materials zu finden gewesen sei. Peiffer, Assessing Neuropathological Research, S. 350. 729 Unabkömmlichkeitsstellung während Krieges, wodurch ein Einzug zur Wehrmacht ausgeschlossen war.

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

255

litärischer Auftragsforschung und Begleitforschung zur NS-Euthanasie angelegt.730 Mit dem neu eingebrachten Bedrohungsargument in der HallervordenAffäre kam also ein altes institutspolitisches Instrument zum Vorschein, das im Verlauf des Krieges das genuine Motiv des wissenschaftlichen Erkenntnisstrebens überformt hatte. Was Spatz 1953 gegenüber Alexander als Selbstschutzmaßnahme deklarierte, umschrieb nur die Tatsache, dass das Verhältnis der Hirnforschung zur NS-Euthanasie während des Krieges ein in jeder Hinsicht instrumentelles war und die Neurowissenschaftler vor dem Hintergrund dieser Zweck-Mittel-Relation des Selbsterhalts über die brutalen Konsequenzen hinwegzusehen bereit gewesen waren.

4.4.4. Rückendeckung: die Fachgesellschaften GDNP / DGN und das hessische Institutsumfeld Spatz und Hallervorden konnten sich der Unterstützung vonseiten ihrer langjährigen deutschen Kollegen sicher sein. Ausdruck der Anerkennung für Spatz war die Verleihung der Erb-Gedenk-Münze im September 1952, die ihm bei der gemeinsamen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurologie und der Deutschen Gesellschaft für Neurochirurgie durch Max Nonne überreicht wurde.731 Höhepunkt der Unterstützungsbemühungen in der Lissabon-Krise war jedoch die Formulierung einer gemeinsamen Erklärung der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater und der Deutschen Gesellschaft für Neurologie unter Leitung von Werner Villinger (Marburg) und Georg Schaltenbrand (Würzburg), die im April 1953 als Reaktion auf die Veröffentlichung der niederländischen Delegation verfasst und in der Fachzeitschrift Nervenarzt abgedruckt wurde. Auf die Kritik der Holländer wird erwidert, »daß Prof. Hallervorden eine Referat habe, obwohl er nach den Akten des Nürnberger Gerichtes ›auf Wunsch‹ Gehirne von Euthanasiestätten bekommen hätte. Der Vorstand der Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater und der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Neurologie haben sich davon überzeugt, dass die in dem Nürnberger Prozeß angeführten Vorwürfe gegen Herrn Hallervorden nicht zutreffen. […] Darüber hinaus hat sich die Gesellschaft ohne jede Einschränkung vor die Persönlichkeit ihres 730 Hans-Walter Schmuhl, Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 1937 – 1945. Forschungsprogramm »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, hg. v. Carola Sachse, Vorabdruck der Präsidentenkommission »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, Ergebnisse 1, Berlin 2000, S. 55. Vgl. auch: Hans-Walter Schmuhl, Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 1937 – 1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), S. 559 – 609. 731 Giessener Anzeiger, 13. 10. 1953. Universitätsarchiv Gießen, 2. Lieferung, Berufungsakten, Karton 8, Spatz.

256

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

anerkannten und geschätzten Mitgliedes gestellt und hat eine Erklärung in diesem Sinne an Herrn Prof. Lima abgegeben.«732

Jene Erklärung an den Generalsekretär des Kongresses, Almeida Lima, war am 10. April 1953 ergangen und führte mit ungewöhnlicher Skrupellosigkeit und Selbstsicherheit über die Veröffentlichung im Nervenarzt hinaus, war doch mit Werner Villinger einer der beiden Mitunterzeichner ehemaliger T4-Gutachter und damit ein Hauptverantwortlicher für die NS-Euthanasie:733 »Die Gesellschaft hat stets und eindeutig die ohne Rechtsgrundlage mehr oder weniger heimlich durchgeführte Euthanasie-Aktion des Nationalsozialismus abgelehnt […].«

Es könne keine »Schuld der Gesellschaft und ihrer Mitglieder erblickt werden, […] dass die EuthanasieAktion von einer ganz kleinen Gruppe deutscher Ärzte – von denen keiner eine führende Rolle in der Gesellschaft gespielt hat oder spielt – durchgeführt«734

worden sei. Hallervorden bedankte sich im Gegenzug bei beiden Vorständen für die Unterstützung und gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass mit der Veröffentlichung im Nervenarzt die Angelegenheit endgültig abgeschlossen sei.735 Die Hessische Landesärztekammer hatte Anfang Dezember 1946 ein Erklärungsschreiben von Hallervorden erhalten. In einer Variation seiner sonst stereotyp wiederholten Ausformulierungen unterstellte er, dass man nur ihm persönlich den Vorwurf machen könne, die »Gehirne Euthanasie-Getöteter untersucht« zu haben. Der amtierende Kammerpräsident Dr. Carl Oelemann stellte sich jedoch hinter Hallervorden und sagte zu, auch noch einmal mit Mitscherlich wegen der zweiten Dokumentation zum Ärzteprozess verhandeln zu wollen. Vermutlich zur großen Erleichterung Hallervordens hatte sich Oelemann vollständig auf die Argumentationsstruktur eingelassen und sich auch den Anatomie-Vergleich zu eigen gemacht: »Ich teile Ihre Befürchtung nicht, dass man Ihnen wegen der Uebernahme der Gehirne zu 732 N.N., Erklärung des Vorstandes der GDNP sowie der DGN, in: Der Nervenarzt 24 (1953) 7, S. 312. Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte 4. Hallervorden bedankte sich im Mai 1953 bei allen unterstützenden Kollegen im In- und Ausland. Ebd., Personalakte Hallervorden, 4, 5 und 9. 733 Vgl. Faksimile-Abdruck der Gutachterliste der T4, in: Klee, »Euthanasie« im NS-Staat, S. 228. Schaltenbrand war später Vorwürfen wegen unethischer Medizinversuche in der Heil- und Pflegeanstalt Werneck ausgesetzt. Vgl. Peiffer, Hirnforschung im Zwielicht, S. 50. Zu Villinger: Schmuhl, Zwischen vorauseilendem Gehorsam und halbherziger Verweigerung. 734 Villinger, Schaltenbrand an Lima, 10. 4. 1953. Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 5. 735 Hallervorden an Vorstände der GDNP und GDN, 29. 7. 1953. Ebd., Personalakte Hallervorden, 6.

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

257

Forschungszwecken Vorwürfe machen könnte. Sie haben, nachdem man bei Ihnen angefragt hatte, sich mit der Zuleitung des Materials einverstanden erklärt und Ihr Vergleich mit dem Anatom, dem Leichen Hingerichteter zur Untersuchung zugeführt werden, stimmt durchaus. Von Ihrer Seite war keinerlei Einflussmöglichkeit auf das Euthanasieprogramm vorhanden. Mir ist in weiten Kollegenkreisen keinerlei Stellungnahme gegen Ihr Verhalten bekannt geworden.«736

Nicht nur die Hessische Landesärztekammer, sondern auch die Medizinalabteilung im Hessischen Innenministerium war von Hallervorden informiert worden.737 Es ist nicht ersichtlich, dass Hallervorden oder dem Institutskern in Dillenburg später in Gießen Nachteile daraus erwuchsen. Die Gefahr einer Benachteiligung bestand nur insofern, als die Vergangenheitspolitik der Hessischen Ministerien eine starke Ambivalenz im Umgang mit in der NS-Zeit belasteten Forschungseinrichtungen aufwies. Dort entschied man je nach Situation und im Einzelfall, welches Institut für die Interessen des Landes Hessen von Nutzen sein konnte und welches nicht. In Frankfurt am Main befand sich zu dieser Zeit ein Teil des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, der von dessen Direktor Otmar Freiherr v. Verschuer ohne Absprache mit der KWG nach Hessen evakuiert worden war. Obwohl sich die Hessischen Ministerien rege um jene Exzellenzinstitute der KWG bemühten, war ein Wiederaufleben speziell dieser Forschungseinrichtung in vollem Umfang nicht angedacht; Ministerialdirektor Willy Viehweg im Kultusministerium äußerte sich dazu: »Die Gründe dafür liegen teils in der Sache und teils in der Person des Leiters Prof. Dr. v. Verschuer. Geplant ist lediglich, eine Forschungsarbeit auf dem Gebiete der Tuberkuloseforschung zu betreiben, eingegliedert in die medizinische Fakultät der Universität Frankfurt am Main.«738

Aus den weiteren Ausführungen Viehwegs wird eher das Kalkül des Ministeriums offenbar, von Verschuer und seine Einrichtung möglichst zügig abgeben zu wollen: »Sollte jedoch an eine Rückführung nach Berlin und Wiedereingliederung in die dort verbliebenen Abteilungen für Erbpathologie und Erbpsychologie gedacht werden, werde ich mich diesem Gedanken nicht verschliessen.«739

Die hier unausgesprochenen Gründe lagen in der bekannt gewordenen Verbindung v. Verschuers KWI zu dessen Schüler Josef Mengele und den Menschenversuchen 736 Oelemann an Hallervorden, 8. 12. 1947, ebd., Personalakte Hallervorden, 5. Schreiben Hallervorden vom 1. 12. 1946, Personalakte 4. 737 Erwähnt in Schreiben Hallervorden an Alexander vom 27. 8. 1946. Hallervorden erwähnt den Besuch konkret unter dem Datum vom 8. 3. 1946. Abteilungsbericht Hallervorden, S. 137. 738 Viehweg an Militär-Regierung, 30. 9. 1946. National Archives, RG 260/OMGUS, 8/22 – 2/8, 1948 Nov–1948 June, 115035. 739 Ebd.

258

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

im Vernichtungslager Auschwitz.740 V. Verschuer und sein ehemaliges KWI hatten nach 1945 trotz der Unterstützung zahlreicher Kollegen mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen. Als einziger der ehemaligen Institutsdirektoren der KWG erhielt er kein eigenes Anschlussinstitut im Verband der MPG, bis er – auch zur Erleichterung der MPG – 1951 schließlich den Lehrstuhl für Humangenetik in Münster annahm.741 Berücksichtigt man die wiederholte Unterstützung für das Hirnforschungsinstitut, liegt der Schluss nahe, dass im Hessischen Kultusministerium mit zweierlei Maß gemessen wurde. Denn niemand nahm dort Anstoß an den Krankenmord-Verwicklungen der geschätzten Wissenschaftler von »Weltgeltung«, obwohl vor allem Hallervorden durch die Nürnberger Prozesse im Fokus der nationalen sowie internationalen Öffentlichkeit stand. Eine Abschiebepolitik ist in Bezug auf die Hirnforscher des KWI nicht beobachtbar. Von der Akademie für Medizinische Forschung und Fortbildung, Vorläufereinrichtung der Medizinischen Fakultät, stand eine kritische Position bezüglich der Präparatennutzung aus der NS-Euthanasie nicht zu befürchten. Hatte doch der Dekan Ferdinand Wagenseil selber während des Krieges nach anatomischem Untersuchungsmaterial Ausschau gehalten und war auch – trotz einer von Entsetzen geprägten Haltung gegenüber den politisch Verantwortlichen – nicht vor der Annahme von Leichen ausgehungerter Häftlinge aus Konzentrationslagern zurückgeschreckt.742 Entsprechend dem hochschulpolitischen Kalkül Wagenseils, durch Allianzen mit Forschungseinrichtungen den Aufbau der Akademie zu realisieren, ist das Verhältnis des Dekanats zum MPI für Hirnforschung als äußerst loyal zu bezeichnen. Nachdem 1950 Spatz mit einer Honorarprofessur und Hallervorden mit einem auf Widerruf verlängerten Lehrauftrag für Neuropathologie versorgt worden 740 Mengele und v. Verschuer interessierten sich für »spezifische Eiweißkörper«, anhand derer sie den Nachweis für die Verschiedenartigkeit von »Rassen« zu erbringen hofften. Mengele versandte aus Auschwitz Blutproben an das Verschuer-Institut in Berlin-Dahlem zur weiteren Untersuchung. Darüber hinaus verschickte er Augenpaare, die der Erforschung einer Augenpigmentstörung, der Irisheterochromie, als Grundlage dienten sollte. Seine Kollegin Karin Magnussen hatte sich mit diesem Projekt befasst. Vgl. Sachse, ›Persilscheinkultur‹, S. 218; Schmuhl, Grenzüberschreitungen. Das Hessische Kultusministerium hatte in Folge der Kenntnis um diese Sachverhalte ein Lehr- und Forschungsverbot über v. Verschuer verhängt. 1949 befasste sich eine Kommission mit der Frage, ob v. Verschuer als Hochschullehrer geeignet sei. In Reaktion auf die von der Kommission verfasste Denkschrift mit einem Votum zugunsten v. Verschuers hob der Kultusminister das Verbot wieder auf. 741 Zur Institutsgeschichte des KWI für Anthropologie vor und nach 1945 vgl. auch Hans-Peter Kröner, Von der Rassenhygiene zur Humangenetik. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik nach dem Kriege, Stuttgart u. a. 1998; Schmuhl, Grenzüberschreitungen. 742 Vgl. Sigrid Oehler-Klein, Radikalisierungen während des Krieges: Auswirkungen auf Institutionen, Personal und Patienten, in: Oehler-Klein (Hg.), Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit, S. 361 – 376, hier : S. 367 – 371.

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

259

war, zeigte sich Wagenseil weiterhin erkenntlich und veröffentlichte im Herbst 1953 in der Gießener Presse eine Laudatio auf Spatz anlässlich dessen 65. Geburtstages. Hierin brachte er die Bedeutung dieser Forscherpersönlichkeit für die Medizinische Fakultät zum Ausdruck.743 Ohne Zögern hatte sich Wagenseil 1950 auch für Hallervorden eingesetzt, als die MPG über dessen Emeritierung beriet und damit Wagenseil ein Personalverlust im Lehrkörper der zukünftigen Akademie drohte. In seinem Gutachten über Hallervorden schrieb er: »Ich beschränke mich darauf, als Dekan der Medizinischen Fakultät und künftigen Akademie für Medizinische Forschung und Fortbildung Giessen die Bedeutung von Herrn Professor Hallervorden für die Fortbildungskurse der Akademie zu betonen. Wir sind stolz darauf, dass er, eine erste Kapazität auf neuropathologischem Gebiete, vor unseren ärztlichen Kursteilnehmern spricht. Die Ärzte sind sich der wissenschaftlichen Bedeutung von Herrn Professor Hallervorden auch bewusst. Seine Vorträge finden dementsprechend bei seinem ärztlichen Auditorium immer grossen Anklang und allgemeine Resonanz. Es wäre deshalb ausserordentlich bedauerlich und ein schwerer Verlust für die ärztlichen Fortbildungskurse, wenn sie auf die Mitarbeit von Herrn Professor Hallervorden verzichten müssten.«744

Im Jahr 1962 verlieh die Medizinische Fakultät Hallervorden einen Ehrendoktor. Und nach seinem Tod am 28. Mai 1965 organisierte sie im Juni 1966 eine akademische Gedächtnisfeier, obwohl Hallervorden der Medizinischen Fakultät nie als Mitglied angehört hatte.745 Auf derselben Linie lagen die Anerkennung und Würdigungen, die vom Rektorat der 1957 wieder eröffneten Gießener Universität gegenüber Hallervorden, dem »Treuhänder Kant’schen Geistes«, ausgesprochen wurden.746 Während der Gießener Interimsphase des MPI waren der Hochschulrektor Wulf Enno Ankel und Spatz auch persönlich in einen engeren Austausch getreten, dessen absehbarer Verlust von Ankel schon 1958 bedauert wurde. Der geplante Umzug des MPI nach Frankfurt am Main, das dort mit dem renommierten Edinger-Institut zusammengeführt werden sollte, würde in Gießen eine Leerstelle hinterlassen: »Persönlich wünsche ich, es möge noch recht lange dauern, bis Sie im Zuge des Ablaufes der Zeit und der Umsiedlung Ihres Institutes Giessen und unser Kollegium verlassen[,] und werde bemüht sein so zu verfahren, dass wir noch recht oft durch persönlichen 743 Die gerade überstandene Lissabon-Krise des MPI schlug sich hierin nicht nieder. Auffällig ist jedoch, dass Spatz’ internationales Renommee eher mit der Vorkriegs- und Kriegszeit verknüpft wurde. Giessener Anzeiger und Giessener Freie Presse vom 1. 9. 1953. Universitätsarchiv Gießen, Berufungsakte Spatz. 744 Erklärung Dekan Wagenseil, 5. 5. 1950. Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 8. 745 Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 1. 746 Zitat im Schreiben Rektor Ankel an Hallervorden, 21. 10. 1957, Prof. Boguslawski (Sekr. der JLH) an Hallervorden, 20. 10. 1951. Universitätsarchiv Gießen, Berufungsakten, 2. Lieferung, Karton 3, Hallervorden.

260

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Kontakt und wissenschaftliche Diskussionen von Ihnen so viel wie möglich ›Nutzen ziehen‹.«747

Die Beziehungen des MPI in Frankfurt zum alten Gießener Standort sollten weit über die Zeit des Institutsumzuges hinaus halten. An der Frankfurter Festveranstaltung zu Spatz’ 80. Geburtstag 1968 nahm aus Gießen unter anderem der neue Dekan der Medizinischen Fakultät, Andreas Oksche, teil und in Gießen selbst wurde aus diesem Anlass eine akademische Feier veranstaltet.748 Ein Jahr später und eine Woche vor Spatz’ Tod wurde ihm noch »in Anerkennung der großen Verdienste, die er sich in Gießen um die Wiedereröffnung der Medizinischen Fakultät, die Aufnahme internationaler wissenschaftlicher Beziehungen und um sein Fach erworben hat, sowie aus aufrichtigem Dank für die fortwährende und selbstlose Verbundenheit mit der Justus Liebig-Universität«749

vom Rektor und Senat die Ehrensenatorwürde zuerkannt. Wie bei Hallervorden wurde nach Spatz’ Tod eine Gedenkveranstaltung in Gießen organisiert. Die Todesanzeige der Medizinischen Fakultät stellte Spatz als einen der »bedeutendsten Hirnforscher seiner Zeit« heraus. Während all der Jahre und auch nach Spatz’ Tod ließ die Fakultät die Vergangenheit ruhen.

4.4.5. Die Positionierung der Max-Planck-Gesellschaft In einem für die Ärzte Zeitung 2001 geführten Interview nach den Ursachen für die 50-jährige Vergangenheitsvergessenheit der MPG gefragt, führte die Historikerin Carola Sachse, wissenschaftliche Koordinatorin des Forschungsprogramms »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, ein ganzes Antwortenbündel an. Neben personellen Kontinuitäten, vorhandenen Schuldgefühlen und falsch verstandener Loyalität im wissenschaftlichakademischen Schüler-Lehrer-Verhältnis hob sie besonders auf den befürchteten Imageverlust ab: »Für eine Institution, die beansprucht, naturwissenschaftliche Spitzenforschung zu betreiben, ist das internationale Renommee ein entscheidender Faktor. Manche fürchteten um den Ruf der Max-Planck-Gesellschaft, wenn die rassenpolitischen und antisemitischen Aktivitäten eines Ernst Rüdin oder eines Otmar v. Verschuer während des Dritten Reiches öffentlich diskutiert würden. Erst recht gilt dies, wenn die professionellen Verbindungen eines Julius Hallervorden oder eines Hugo Spatz zu den Euthanasie-Morden zur Sprache kamen; […].«750 747 748 749 750

Ankel an Spatz, 19. 7. 1958, Universitätsarchiv Gießen, Personalakte Spatz. Giessener Anzeiger vom 13. 9. 1968, ebd. Einladung und Urkunde zur Verleihung der Ehrensenatorwürde, 20. 1. 1969, ebd. N.N., Schuldgefühle? Angst vor Imageverlust? Warum wurde geschwiegen? Wie die Max-

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

261

Zukünftig gilt es zu rekonstruieren, in welcher Form und Intensität innerhalb der KWG / MPG vergangenheitspolitische Motive im Umgang mit den beiden Instituten in München und Gießen zum Tragen kamen. Ob sich die Dachgesellschaft – wie Jürgen Peiffer vermutete – aufgrund latenter Ressentiments wegen der NS-Belastung zunehmend von ihrem MPI in Gießen distanzierte, muss an dieser Stelle offen bleiben. Die innerhalb der MPG kritisch und emotional geführten Diskussionen um die Fortführung und Wiedervereinigung des Instituts scheinen eher von wissenschaftlichen und finanziell-strukturellen Argumenten geleitet gewesen zu sein. Zwar ist es nicht auszuschließen, dass vorhandene Abneigungen gegenüber dem Institut, das ähnlich wie im Fall von v. Verschuer für den Neuanfang der MPG als Belastung hätte empfunden werden können,751 durch wissenschaftliche oder institutspolitische Kritik ummantelt wurden. Eine derartige Hypothese lässt sich beim derzeitigen Stand der Quellenauswertung aber weder bestätigen noch widerlegen. Sicher ist, dass Generalverwaltung und Präsidium der MPG von Beginn an über die Anschuldigungen gegenüber Hallervorden und Spatz informiert waren. Ein Hinweis darauf, dass die KWG / MPG die Rechtfertigungsstrategien des Instituts teilte, jedoch während der beiden Krisen eine abwartende und möglichst neutrale Position einnahm, geht aus der Korrespondenz zwischen Gießen und Göttingen hervor. Als sich die Hallervorden-Affäre von Lissabon im März 1953 zugespitzt hatte, wandte sich Spatz an Oberregierungsrat Hans Seeliger in der Generalverwaltung der MPG, um über den Tatsachenbestand der erneuten Angriffe gegen Hallervorden zu informieren. Unter Nennung der Ereignisse aus der ersten Institutskrise erwähnte Spatz, dass sich Hallervorden 1946 mündlich an den Generalsekretär Telschow gewandt hatte, um sich mit diesem über das Vorgehen während des Nürnberger Ärzteprozesses zu beraten. Seeliger legte Spatz’ Anschreiben Telschow vor, der handschriftlich darauf vermerkte: »Ja, ich habe den Schriftwechsel damals gelesen. Hallervorden war sehr mutig, und man hat auf Seiten der Anklage seine Rechtfertigung zur Kenntnis genommen. Gez. Dr. T., 13. 4. 1953.«752 Planck-Gesellschaft sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt, Adelbert Reif im Gespräch mit Carola Sachse, in: Ärzte Zeitung, 7. 6. 2001. 751 Insbesondere der Generalsekretär Telschow erkannte in Verschuer eine unkalkulierbare Hypothek für die Zukunft der MPG. Vgl. Sachse, ›Persilscheinkultur‹, S. 227. 752 Vertrauliches Anschreiben Spatz an Seeliger (Generalverwaltung MPG), 28. 3. 1953, Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 9. Hallervorden hatte die Ereignisse des Alexander-Besuchs in seinen Abteilungsbericht aufgenommen, der dann als Teil des Institutsberichtes des MPI in die Festschrift von 1949 anlässlich des 70. Geburtstages des Präsidenten Otto Hahn einging. Hallervorden erwähnte darin auch sein Gespräch mit Telschow am 18. 2. 1946 in Göttingen. In einem von Hallervorden verfassten Bericht für die Chronik des KWI erwähnte er ebenfalls die Beratung mit Telschow: »[…], welcher zwar meine Stellungnahme billigte, es aber seinerseits ablehnte, irgendetwas zu unternehmen.« Archiv MPG, Abt. Vc, Rep. 4, Hallervorden 1, Bl. 15.

262

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Spatz ging bezüglich der laufenden Lissabon-Kontroverse nicht davon aus, dass »bei dem derzeitigen Stand der Dinge von Seiten der Generalverwaltung etwas geschehen kann«, was Telschow wiederum mit der handschriftlichen Randnotiz: »nein, Dr. T.« bestätigte.753 Die MPG zeigte sich gegenüber Hallervorden also intern durchaus anerkennend, nach außen hin aber abwartend. Während nach Spatz die »Sache« 1946 »erledigt zu sein« schien, blieb der weitere Fortgang in der Lissabon-Krise zunächst offen. Wie sich der Gründungspräsident der MPG, Otto Hahn (1879 – 1968, zwei Amtsperioden: 1948 – 1960), im Jahr 1953 zu der problematischen NS-Vergangenheit des Gießener Instituts stellte, bleibt zu klären. Noch während seiner Amtszeit wurde Hallervorden auf Antrag der MPG anlässlich seines 75. Geburtstages das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik verliehen.754 Etwas mehr lässt sich über die Haltung späterer MPG-Präsidenten berichten. Der Chemiker, Nobelpreisträger (1939) und MPG-Präsident Adolf Butenandt (1903 – 1995, zwei Amtsperioden: 1960 – 1972), der in der Nachkriegszeit in einem guten kollegialen Verhältnis zu Spatz stand, setzte sich am Ende seiner Amtszeit gegen wiederholte Anschuldigungen erfolgreich zur Wehr. In einem Rechtsstreit gegen den Journalisten Hermann Brendel entschied das Bayerische Oberlandesgericht München zugunsten Butenandts und verbot Brendel jegliche Äußerung, nach der Institute der ehemaligen KWG Forschungen im Rahmen der Euthanasie betrieben hätten.755 Die MPG fühlte sich dadurch »beleidigt«.756 Es spricht für die starken vergangenheitspolitischen Kontinuitäten innerhalb der MPG, dass Butenandt, zur Zeit des Urteilsspruchs 1974 bereits zwei Jahre nicht mehr amtierender Präsident, weiterhin als Protektor der Gesellschaft in Erscheinung treten konnte. 753 Ebd. 754 Archiv MPG, Abt. II, Rep. 1 A, Personalakte Hallervorden, 13. 755 Ein Mitarbeiter Butenandts am KWI für Biochemie, Gerhard Ruhenstroth-Bauer, hatte während des Krieges gemeinsam mit dem Erbpathologen Hans Nachtsheim an potenziell für die Euthanasie vorgesehenen Kindern aus Brandenburg-Görden (Leitung: Hans Heinze) im Alter von elf bis dreizehn Jahren Versuche in der Unterdruckkammer im Höhenphysiologischen Laboratorium der Militärärztlichen Akademie vorgenommen, um seine bereits an Kaninchen entwickelten Forschungshypothesen zur Epilepsie zu untermauern. Das im Rahmen des Experimentalsystems versuchte Auslösen von Anfällen und die damit verbundenen gesundheitlichen Risiken wurden gezielt ins Kalkül gezogen. Ein weiterer geplanter Unterdruckversuch kam allein aus dem Grund nicht mehr zustande, dass aus Heinzes Anstalt die zusätzlich geforderten fünf- bis sechsjährigen Kinder nicht zur Verfügung gestellt werden konnten. Vgl. Schmuhl, Grenzüberschreitungen, S. 423 ff. 756 Aly, Der saubere und der schmutzige Fortschritt, S. 71; vgl. auch Jürgen Peiffer, Wissenschaftliches Erkenntnisstreben als Tötungsmotiv? Zur Kennzeichnung von Opfern auf deren Krankenakten und zur Organisation und Unterscheidung von Kinder-»Euthanasie« und T4-Aktion, hg. v. Carola Sachse, Vorabdruck der Präsidentenkommission »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, Ergebnisse 23, Berlin 2005, S. 10, Name des Journalisten dort: Hermann Brendle.

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

263

Das Fehlen selbstkritischer Reflexionen in der MPG deckt sich mit dem Befund über das allgemeine vergangenheitspolitische Klima des Beschweigens, wie es unter Einfluss wirkungsmächtiger personeller Kontinuitäten von den 1940erbis in die 1970er-Jahre hinein innerhalb der MPG anhielt.757 Zwar wurde während der Amtszeit von Butenandts Nachfolger, Reimar Lüst (*1923, zwei Amtsperioden: 1972 – 1984), 1975 das Archiv zur Geschichte der MPG eingerichtet, das mit der Sicherung historischer Unterlagen die Grundlage der späteren Aufarbeitungen erst schuf. Auch wurde am Ende der zweiten Amtsperiode Lüsts im Mai 1984 ein internationales, hochrangig besetztes Symposium zu »Verantwortung und Ethik in der Wissenschaft« abgehalten.758 Doch war die Beziehung des von Hause aus historisch interessierten Astrophysikers und Wissenschaftspolitikers Lüst zu seinem Amtsvorgänger Butenandt durch ein hohes Maß an Loyalität geprägt, wodurch eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus erschwert wurde. Ob es bei Lüst die Zustimmung zu Butenandts vergangenheitspolitischen Abwehrmaßnahmen war, weshalb er ihm dieses Feld überließ, oder ob Lüst rein taktische Überlegungen leiteten, sich selbst nicht an vorderste Front der Auseinandersetzung um die NS-Vergangenheit zu stellen, kann hier nicht geklärt werden. Butenandts Versuche jedenfalls, mittels juristischer Auseinandersetzungen die Verbreitung missliebiger Interpretationen der KWG-Geschichte zu unterdrücken, erfuhren noch in den 1980er-Jahren eine Fortsetzung. Benno Müller-Hill, Professor für Genetik an der Universität Köln, hatte ihn und die MPG »mangelnder Verantwortung« bezichtigt und v. Verschuer, Mengele, Butenandt selbst und dessen Mitarbeiter Günther Hillmann im Kontext von Medizinverbrechen in Auschwitz genannt. Daraufhin versuchte der Altpräsident mit allen Mitteln Müller-Hills geplante kritische Publikation zu verhindern.759 757 Carola Sachse, Wissenschaftseliten und NS-Verbrechen. Zur Vergangenheitspolitik der Kaiser-Wilhelm- / Max-Planck-Gesellschaft, in: Oehler-Klein / Roelcke (Hg.), Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945. 758 Uwe Opolka (Red.), Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Verantwortung und Ethik in der Wissenschaft. Symposium der Max-Planck-Gesellschaft, Schloß Ringberg / Tegernsee, Mai 1984, Stuttgart 1985. 759 Diese erschien trotz Klageandrohung u. a. durch Butenandt (bzw. durch die MPG) nach vierjähriger Vorbereitung unter dem Titel: Tödliche Wissenschaft. Die Aussonderung von Juden, Zigeunern und Geisteskranken 1933 – 1945, Reinbek bei Hamburg 1984; vgl. Sachse, ›Persilscheinkultur‹, S. 243. Müller-Hill ging darin neben der Verbindung von Josef Mengele in Auschwitz und dem Verschuer-Institut in Dahlem auch auf die begleitende Hirnforschung zur Euthanasie ein. Wie Müller-Hill in einer persönlichen Rückschau beschrieb, sei das Buch von Seiten der MPG aber auch in der Öffentlichkeit mit »Schweigen begrüßt« worden. Müller-Hill, Das Blut von Auschwitz, S. 218, Anm. 77 u. S. 224 f. Zu Butenandt vgl. auch Sven Kinas, Adolf Butenandt (1903 – 1995) und seine Schule, Berlin 2004.

264

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Betrachtet man das Verhältnis zwischen Butenandt und Lüst unter dem Aspekt des Generationsverhältnisses, so repräsentierten diese beiden aufeinander folgenden MPG-Präsidenten die Kriegsjugendgeneration des Ersten Weltkriegs auf der einen Seite – aus der sich die spätere NS-Funktionselite rekrutierte – und die »skeptische Generation« auf der anderen Seite. Lüst, der auf eindringliches Anraten Werner Heisenbergs für das Präsidentenamt kandidiert hatte, das Amt dann 1972 als einer der jüngsten Präsidenten der MPG-Geschichte antrat und gleich als erstes mit den Demokratisierungsforderungen des akademischen Mittelbaus konfrontiert war, legte besonderen Wert auf den Rat des erfahreneren Altpräsidenten.760 Lüst charakterisierte Butenandt im Gespräch mit dem Historiker Paul Nolte als einen Patriarchen, der sich mit den sozialen Bewegungen seit dem Ende der 1960er-Jahre schwergetan habe. Aber auch Lüst selbst ließ seine deutliche politische und generationelle Distanz zu den sogenannten 68ern erkennen, wenn er sich, darauf angesprochen, als Erstes an eine Veranstaltung an der Bremer Universität, der »roten Kaderschmiede«, unmittelbar bei seinem Amtsantritt entsann: »Das war das Schlimme an den ganzen Diskussionen der 68er : Toleranz kannten die ja nicht. Jeder wurde niedergeschrieen, der eine andere Meinung hatte. […] Das war die ›Demokratie‹, wie ich sie an manchen Hochschulen erlebt habe.«761 Ebenso erinnerte sich Lüst auch auf eine Nachfrage Noltes an MPGinterne Kritik gegenüber Butenandt wegen dessen Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus.762 Dies habe aber, vor allem in den 1960er-Jahren, eigentlich keine Rolle gespielt: »Die Zeit war damals so, dass diese Fragen nicht berührt wurden.«763 In die unkritische Beobachtung dieser kollektiven Praxis, gewisse Tabugrenzen bezüglich der NS-Vergangenheit nicht zu überschreiten, schloss sich Lüst demnach indirekt mit ein.764 Ein Umdenken hin zu einer als notwendig erachteten Vergegenwärtigung der NS-Vergangenheit ist für die MPG gegen Ende der Amtszeit von Heinz A. Staab (*1926, Chemiker, Amtsperiode: 1984 – 1990) feststellbar. Den breiteren Hintergrund bildete die seit Beginn der 1980er-Jahre sich entfaltende publizistische und historiographische Aufarbeitung der Wissenschaftsverbrechen im Nationalsozialismus, hierbei auch der NS-Euthanasie und ihrer Verbindung zur 760 Vgl. die Gesprächsbiographie: Reimar Lüst, Der Wissenschaftsmacher. Reimar Lüst im Gespräch mit Paul Nolte, München 2008, S. 184 f. 761 Ebd., S. 176. 762 Lüst nennt den Physiker und ehemaligen Direktor des MPI für Kernphysik in Heidelberg, Wolfgang Gentner (1906 – 1980), sowie den Biologen und ehemaligen Direktor des MPI für Biologie, Georg Melchers (1906 – 1997). 763 Ebd., S. 184. 764 Ebenfalls kritisch zur Vergangenheitspolitik der MPG unter der Präsidentschaft von R. Lüst: Feldman, Historische Vergangenheitsbearbeitung, S. 19.

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

265

Hirnforschung. Konkreten Anlass gaben die innere Konfrontation sowohl durch Benno Müller-Hill als auch durch Wissenschaftler aus dem Ausland, wie z. B. William Seidelman (Ontario / Kanada, jetzt: Israel). Seit Mitte der 1980er-Jahre trat er mehrfach an die MPG heran.765 Ende der 1980er-Jahre kam es zu einer Untersuchung der Präparatensammlungen an den Standorten in München, Köln und Frankfurt. Als »Tübinger Formel« ging der Beschluss einer Konferenz unter Leitung des Präsidenten Staab ein, alle Präparate, deren Herkunft nicht einwandfrei als unbedenklich geklärt werden konnte, zu finden und aus den neuroanatomischen und neuropathologischen Sammlungen zu entfernen.766 Sie wurden, wie es auch Götz Aly gegenüber der MPG gefordert hatte, in einer Gedenkveranstaltung am 25. Mai 1990 auf dem Münchener Waldfriedhof beigesetzt, wo seitdem ein Gedenkstein an die Opfer erinnert.767 In der 1990 erschienenen historischen Darstellung der MPG anlässlich ihres 75-jährigen Bestehens wurde allerdings nur beiläufig auf den Nutzen der Forschung an der NS-Euthanasie hingewiesen.768 In den 1990er-Jahren begann die umfassende historische Aufarbeitung der Beteiligung von Hirnforschern an der NS-Euthanasie durch den Tübinger Neuropathologen Jürgen Peiffer (1922 – 2006), bis mit der 1997 durch den MPGPräsidenten Hubert Markl (*1938, Amtszeit: 1996 – 2002) eingesetzten Präsidentenkommission »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus« unter Vorsitz der Historiker Reinhard Rürup und Wolfgang Schi765 Vgl. Sachse, Was bedeutet »Entschuldigung«?, S. 231 mit Anm. 31. Zur wissenschaftlichen Aufarbeitungsliteratur u. a.: Götz Aly, Bucher Hirnforschung in den Jahren 1939 bis 1945, S. 1 – 22, hier: S. 3 f. Archiv MPG, Abt. Vc, Rep. 4, Aly 1. Neben den bereits genannten Publikationen von Mitscherlich, Alexander, Platen-Hallermund, Müller-Hill und Aly wurde die Begleitforschung thematisiert z. B. in: Friedrich Karl Kaul, Die Psychiatrie im Strudel der Euthanasie, Köln / Frankfurt am Main 1979, S. 86; Klee, »Euthanasie« im NS-Staat, S. 395 f.; Martina Krüger, Kinderfachabteilung Wiesengrund. Die Tötung behinderter Kinder in Wittenau, in: Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik (Hg.), Totgeschwiegen 1933_1945. Zur Geschichte der Wittenauer Heilstätten; Seit 1957 Karl-Bonhoeffer-Klinik, Berlin 1989, S. 151 – 176.; Peiffer, Neuropathology in the Third Reich. Siehe auch die persönliche Darstellung von William E. Seidelman, Dissecting the history of anatomy in the Third Reich, 1989 – 2010: A personal account, in: Annals of Anatomy 194 (2012) 3, S. 228 – 236. 766 Georg W. Kreutzberg, Verwicklung, Aufdeckung und Bestattung. Über den Umgang mit einem Erbe, in: Kersting / Teppe / Walter (Hg.), Nach Hadamar, S. 300 – 308. 767 MPG-Spiegel. Aktuelle Informationen für Mitarbeiter und Freunde der Max-Planck-Gesellschaft 3 (1990), S. 10 – 11; Heinz A. Staab, Ständige Mahnung zum Bewusstsein ethischer Grundlagen. Ansprache des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, sowie: Georg Kreutzberg, Betroffen von der Erbarmungslosigkeit. Ansprache des Direktors des Theoretischen Instituts des MPI für Psychiatrie, in: MPG-Spiegel 4 (1990), S. 31 – 32 u. 33 – 35. 768 Vgl. Rudolf Vierhaus (Hg.), Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften: Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm- / Max-Planck-Gesellschaft, aus Anlass ihres 75jährigen Bestehens, Stuttgart 1990, S. 396 f.

266

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

eder eine neue Dimension der historischen Reflexion der MPG erreicht wurde. Als Anlass der Beauftragung der Präsidentenkommission diente die bevorstehende fünfzigste Wiederkehr der Gründung der MPG.769 Der erste Auftrag zu einer Berichtabfassung wurde über das KWI für Hirnforschung und die Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie in München erteilt. Den Bericht legte der Historiker Hans-Walter Schmuhl im Jahr 2000 vor.770 Es blieb nicht bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung allein. Hubert Markl, der bislang einzige Präsident, der nicht aus den Reihen der MPG hervorgegangen war,771 präsentierte am 7. Juni 2001 in Berlin eine öffentliche Stellungnahme der MPG zur dreifachen Schuld der deutschen Wissenschaften, der Biowissenschaften und konkret der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und schloss diese mit einer Entschuldigung gegenüber den Opfern wissenschaftlicher Forschung ab. Die Entschuldigung fasste ausdrücklich auch den Aspekt der historischen Verantwortung der MPG ein, sich dieser Aufgabe nicht gestellt zu haben, obwohl dies »nicht unter den Zwängen der Diktatur, sondern in einer freien Gesellschaft« geschehen sei.772 Mit der Kenntnis über die Wissenschaftsverbrechen in der NS-Zeit erhob Markl die Forderung nach weiterer rückhaltloser Aufklärung: »Wahrheit macht zwar nicht frei von Schuld und Scham, aber sie macht frei von Verdrängung und Lüge und öffnet den Weg in eine Zukunft, die aus der Vergangenheit lernen kann.«773

Am 28. April 2002 fand auch in Österreich eine Gedenkveranstaltung statt, in deren Rahmen 597 Urnen mit Gewebeteilen von Opfern der Wiener Anstalt Am Spiegelgrund beigesetzt wurden, die bis dahin der Forschung im Neurologi769 Anlässlich der 50-Jahrfeier der MPG erschien ein Sonderheft des MPG-Spiegel, in dem auf die »Zeit schamvollen Schweigens wie reuelosen Verschweigens des schonenden Beschweigens wie des Vergessenwollens« in der Nachkriegszeit Bezug genommen wurde. MPG-Spiegel, Sonderausgabe 2 (1998), S. 20 – 34. 770 Hans-Walter Schmuhl, Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 1937 – 1945. Forschungsprogramm »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, hg. v. Carola Sachse, Vorabdruck der Präsidentenkommission »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, Ergebnisse 1, Berlin 2000; Hans-Walter Schmuhl, Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 1937 – 1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), S. 559 – 609. Zur Präsidentenkommission siehe auch die Einleitung dieser Arbeit. 771 So der Hinweis bei Sachse, Was bedeutet »Entschuldigung«?, S. 226. 772 Hubert Markl, Ansprache des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., Berlin, am 7. 6. 2001 anlässlich der Eröffnung des Symposiums »Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten – Die Verbindung nach Auschwitz«, http://www.mpg.de/727151/010607biosymposiumMarkl.pdf (10. 1. 2013). 773 Ebd.

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

267

schen Institut der Universität Wien und im Ludwig-Boltzmann-Institut für klinische Neurobiologie gedient hatten. Im Vorfeld dieser Veranstaltung waren Präparate dreier Kinder aus einer brandenburgischen Familie aufgefallen, die ursprünglich aus der Sammlung der Neuropathologischen Abteilung des KWI für Hirnforschung in Buch stammten und die in den 1950er-Jahren durch Franz Seitelberger vom Gießener MPI für Hirnforschung aus nach Wien gebracht worden waren.774 Nach Rücküberführung und Übergabe der Präparate an die Landesklinik Brandenburg im Jahr 2002 wurden sie in einer Gedenkfeier in Brandenburg beigesetzt. Diese Gedenkfeier vom 28. Oktober 2003 bezog sich zugleich symbolisch auf jenen Tag im Jahr 1940, an dem nachweislich eine Tötung auf Bestellung von mindestens 59 Kindern für Hallervorden und Heinze stattgefunden hatte. Die Max-Planck-Gesellschaft war bei dieser Gedenkfeier jedoch nur durch den Leiter des Archivs zur Geschichte der MPG vertreten.775 Innerhalb der Gesellschaft hatte sich seit der Präsidentschaft von Heinz A. Staab ein erster vergangenheitspolitischer Paradigmawechsel vollzogen; ein stark verzögerter Prozess jedoch, den Carola Sachse 2001 mit den Worten umschrieb: »Die Überzeugung, daß die Gesellschaft in der internationalen Öffentlichkeit besser dasteht, wenn sie sich vorbehaltlos mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt, statt sie zu verschweigen, setzt sich erst in jüngster Vergangenheit durch.«776

Auch der Historiker Paul Weindling warf hierzu einen als problematisch bewerteten Aspekt in die Debatte um die MPG und ihre spezifische Form der Aufarbeitung ein. So habe sich die MPG unter dem internationalen Druck für eine schnelle Beisetzung der anatomischen Präparate entschieden, wodurch die Rekonstruktion der Opferidentitäten zu einem nicht unerheblichen Teil verhindert wurde. Insbesondere die nach der »Tübinger Formel« aus den Sammlungen entfernten Präparate, deren Herkunft noch ungeklärt war, hätten einer intensiven historischen Forschung bedurft. Weindling konstatiert wie auch William E. Seidelman eine mit dieser auffällig kurzfristig angelegten Lösung verbundene Schlussstrichmentalität, mit der die unangenehme Auseinandersetzung mit der prekären Vergangenheit schlicht beendet wurde.777

774 Dr. Franz Seitelberger hatte noch in Buch die Gehirnpräparate dreier Kinder aus Görden untersucht, die an der seltenen Palizäus-Merzbacher-Krankheit litten. Nach seiner Habilitation ging er 1959 nach Wien; die Präparate der drei Kindergehirne aus der Gießener Abteilungssammlung von Hallervorden wurden ihm mitgegeben. Vgl. Thomas Beddies und Kristina Hübener, Das Schicksal der drei »Brüder K.« – Eine Dokumentation, in: dies. (Hg.), Dokumente zur Psychiatrie im Nationalsozialismus, Berlin / Brandenburg 2003, 249 – 258. 775 Landesamt, Landesklinik Brandenburg, 28. Oktober 2003. 776 Sachse, ›Persilscheinkultur‹, S. 227. 777 Paul Weindling, »Cleansing« anatomical collections: The politics of removing specimens

268

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Wie ambivalent und schwierig sich der Prozess in der MPG seit der Gedenkveranstaltung von 2001 auch weiterhin gestaltete, wird an der Entwicklung in den nachfolgenden zehn Jahren deutlich. Mit ihrem aktuellen Beitrag nutzte Sachse die Gelegenheit für einen distanzierteren Rückblick. In einem neuen Beitrag wies sie darauf hin, dass nach dem ersten Schritt einer in vorbildlicher Form geleisteten historischen Aufarbeitung und dem zweiten Schritt einer offiziellen Entschuldigung gegenüber den Opfern der nächste Schritt sich längst noch nicht abzeichne; was schon die Vorsitzende der Organisation der MengeleZwillinge, Jona Laks, als Befürchtung 2001 in Berlin ausgesprochen hatte.778 Die in unvergleichbarem Umfang vorliegenden Forschungsergebnisse, so die Feststellung von Carola Sachse, seien bislang kaum in die Selbstdarstellungen der einzelnen Max-Planck-Institute, z. B. in Internetpräsentationen und Hochglanzbroschüren, integriert worden.779 Aber auch die aktuelle öffentliche Debatte um den jüngst erschienenen Jubiläumsband zum 100. Gründungsjahr dieser traditionsreichen Wissenschaftsorganisation reiht sich in diesen zu beobachtenden Trend eines wieder stagnierenden Umgangs mit der eigenen Vergangenheit ein. Historiker kritisierten, dass die MPG sich hinter den selbst gesetzten Standard einer »rückhaltlosen Aufklärung«, ja sogar hinter den bereits erreichten Forschungsstand zurückfallen ließe, indem sie vor dem Druck die wissenschaftlichen Bandbeiträge der beauftragten Historiker den jeweiligen Institutsdirektoren vorlegen ließ. Mag dies auch nur im Sinne einer Durchsicht und eventuellen Ergänzung gedacht gewesen sein – es hatte offenbar zur Folge, dass sich mehrere beteiligte Historiker mit dem Ansinnen der Instituts-Leitungen konfrontiert sahen, ihre Befunde über die Verbrechen der Wissenschaft gegenüber den besonderen wissenschaftlichen Verdiensten weit weniger zu gewichten.780 Wie im speziellen Fall des wissenschaftlichen Beitrags über die ehemalige Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie (heute: MPI für Psychiatrie) in München und deren Einbindung in die NS-Euthanasie festzustellen war, flossen seit Längerem überholte Forschungsergebnisse in bewusst offen gehaltene Bewertungen über historische Tatzusammenhänge ein, wodurch das tatsächlich bekannte Ausmaß der psychiatrischen Verbrechensbeteiligung an der NS-Euthanasie nicht vollständig in die Darstellung einging. Dies führte zu neuen from German anatomical and medical collections 1988 – 92, in: Annals of Anatomy 194 (2012), S. 237 – 242. 778 Sachse, Was bedeutet »Entschuldigung«?, S. 237. 779 Ebd. 780 Vgl. Christina Berndt, Blinde Flecken. Nach Jahren vorbildlicher Aufarbeitung geht die Max-Planck-Gesellschaft nun leichtfertig mit ihrer NS-Geschichte um, beklagen Historiker, Süddeutsche Zeitung, 25. 1. 2011; Siehe den Jubiläumsband: Peter Gruss und Reinhard Rürup (Hg.) unter Mitarbeit von Susanne Kiewitz, Denkorte. Max-Planck-Gesellschaft und Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Brüche und Kontinuitäten 1911 – 2011, Dresden 2010.

Das Max-Planck-Institut für Hirnforschung und die Max-Planck-Gesellschaft

269

Kontroversen und ließ sogar Richtigstellungen in der Öffentlichkeit notwendig werden.781 Nach Carola Sachse lassen diese Beobachtungen zur MPG in den letzten zehn Jahren den berechtigten Schluss zu: »Historische Aufarbeitung mündet nicht notwendig in lebendiger Erinnerung.«782

4.4.6. Zwischenbilanz Die freiwillige und intensive Einbindung in die NS-Euthanasie lastete nach 1945 als Hypothek auf dem KWI / MPI für Hirnforschung. Die wiederkehrenden Krisen erschwerten die gewünschte internationale Anerkennung erheblich. Unter vergangenheitspolitischen Gesichtspunkten erlebte das Institut seine schwerste Bewährungsprobe mit der Hallervorden-Affäre von Lissabon, durch die der zaghafte internationale Wissenschaftsaustausch der deutschen Hirnforscher zumindest gehemmt wurde. Auf nationaler Ebene dagegen erfuhren Spatz und Hallervorden in Kollegenkreisen keine Angriffe. Dies dürfte auch im Zusammenhang mit der seit 1950 beginnenden Institutionalisierung der Neuropathologie zu erklären sein, in der Hallervorden eine zentrale Rolle spielte. Zugleich war er voll in eine Gruppe von zum Teil selbst an der NS-Euthanasie beteiligten Medizinern und Wissenschaftlern integriert. Vergleicht man die Verteidigungsstrategien in beiden Institutskrisen von 1946 und 1953, ergibt sich, abgesehen von Hallervordens folgenschwerer Unbedachtheit und unkontrollierter Selbstdarstellung beim Alexander-Besuch in Dillenburg, das Bild eines überlegten, aber situativ angepassten Vorgehens. Die Tendenz zur Vereinheitlichung in Hallervordens und Spatz’ Rechtfertigungsschreiben ist unverkennbar. In der ersten durch den Nürnberger Prozess ausgelösten Krise ist die Strategieentwicklung – bedingt durch die Kriegsgefangenschaft von Spatz – vorrangig auf Hallervorden zurückzuführen. Von ihm wurden die zentralen Elemente auch später noch verwendeter Formulierungen angelegt. Hugo Spatz griff vor allem in der Lissabon-Krise verstärkt ein, stellte sich schützend vor Hallervorden und erweiterte das Argumentationsbündel. Neue Aspekte, wie z. B. das Szenario einer institutsbedrohlichen Situation bei 781 Vgl. den in Reaktion auf den Jubiläumsband und einen FAZ-Artikel von Heike Schmoll verfassten Lesebrief von: Volker Roelcke, [Leserbrief: NS-Euthanasie und Max-PlanckGesellschaft], Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. 1. 2011.; Heike Schmoll, Auch kein Hort des Widerstands. Wenn die Max-Planck-Gesellschaft am 11. Januar des 100. Gründungsdatums der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft gedenkt, wird sie sich auch deren problematische Geschichte vergegenwärtigen müssen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. 1. 2011. 782 Zitat aus: Sachse, Was bedeutet »Entschuldigung«?, S. 237.

270

Erinnerungsgeschehen in der Bundesrepublik Deutschland

Ablehnung der Untersuchungen, konnten nur aus der Funktion des Institutsdirektors heraus entwickelt werden. Bemerkenswert bleibt angesichts der inneren Widersprüche der Argumentationen ihre Überzeugungskraft. Hallervorden und Spatz stießen offenbar mit ihren Selbstdarstellungen bei Kollegen auf wiederum verschleiernde Selbstbilder hinsichtlich deren eigener Rolle im Nationalsozialismus. Das von Spatz und Hallervorden präsentierte Wunschbild des Wissenschaftlers, der sich in Politikferne einzig seinem Erkenntnisgegenstand verpflichtet fühlt, lud zu Sympathiebekundungen und kollegialem Schulterschluss ein. Der eher taktisch rezipierte Vergleich der eigenen Situation mit der des Anatomen war dabei ein geeignetes Instrument in der zeitgenössischen Debatte, um den Mythos des jenseits der politischen Verantwortung stehenden Wissenschaftlers zu begründen. Das besondere Potenzial des Vergleichs bestand darin, einander das selbstgefällige Bild der normalen beruflichen und wissenschaftlichen Alltagspraxis im Nationalsozialismus zu suggerieren und zu einer »kollektiven« Entlastung zu gelangen. Die Verantwortung für die unübersehbaren ethisch-moralischen Grenzüberschreitungen sollte und konnte damit in gesellschaftliche Bereiche jenseits der eigenen Einflussmöglichkeiten externalisiert werden. Für die Max-Planck-Gesellschaft kann bis weit in die 1970er-Jahre hinein eine Vergangenheitspolitik festgestellt werden, die vor dem Hintergrund ausgeprägter personeller Kontinuitäten auf Ebene des Präsidiums und der Generalverwaltung auf die Integration belasteter Kollegen setzte, sofern damit nicht ein Ansehensschaden für die MPG verbunden war. Ein Wandel im Umgang mit der eigenen NS-Vergangenheit setzte gegen Ende der 1980er-Jahre ein: a) auf Druck aus dem Ausland, aber auch auf wiederholten Druck Einzelner im Innern, b) in Folge eines fortschreitenden Forschungsstands und c) nachdem sich die intergenerationellen Loyalitätsverhältnisse (Kriegsjugendgeneration: z. B. Butenandt, Telschow – Skeptische Generation: Lüst und Staab – Zwischengeneration zur 68er-Generation: z. B. Markl) im Zuge eines mehrfachen Generationswechsel nach und nach abgeschwächt hatten.

5. Erinnerungsgeschehen in der DDR

5.1. Staatlicher Umgang mit der Vergangenheit Wie gestaltete sich der Umgang mit den Euthanasie-Verbrechen in der DDR, die sich über das Erbe des »Antifaschismus« legitimierte und die für sich in Anspruch nahm, die Täter des »Faschismus« zur Verantwortung gezogen zu haben? Wie ging man in der DDR mit den Betroffenen und den authentischen Orten, den ehemaligen Tötungsanstalten um? Welche Formen der Erinnerungspolitik sind erkennbar? Veränderte sich die Art der Vergegenwärtigung der NS-Euthanasie im Verlauf der Zeit? Parallel zur offiziellen Erinnerungskultur ist auch nach dem Umgang der belasteten medizinischen Disziplinen mit ihrer eigenen Vergangenheit zu fragen: hier der Kinderheilkunde und der Psychiatrie in der DDR.783 Und schließlich: Wie nahm sich die (Medizin-)Geschichte und damit die Wissenschaft dieser Thematik an?

5.1.1. Entschädigungspolitik in der DDR Weniger als ein Jahr nach dem Kriegsende war im Februar und März 1946 in verschiedenen Tageszeitungen (Das Volk, Die Freie Gewerkschaft, Neue Zeit, Deutsche Volkszeitung) ein Aufruf an die Angehörigen von Euthanasie-Opfern ergangen, sich beim Hauptausschuss »Opfer des Faschismus« zu melden. Dieser Ausschuss war Anfang 1946 »zwecks Durchführung der zur Aufdeckung der Morde an Geisteskranken erforderlichen Voruntersuchungen und Erhebungen« gebildet worden und unterstand Hans Jakobsohn, dem Referenten der Abteilung Wissenschaft der Zentralverwaltung für das deutsche Gesundheitswesen.784 Als 783 Erste Arbeiten zum Umgang der DDR-Psychiatrie mit den Euthanasie-Verbrechen u. a.: Hanrath, Zwischen ›Euthanasie‹ und Psychiatriereform; Kersting (Hg.), Psychiatriereform als Gesellschaftsreform; Kersting / Teppe / Walter (Hg.), Nach Hadamar. 784 Zit. nach Christoph Hölscher, NS-Verfolgte im »antifaschistischen Staat«. Vereinnahmung und Ausgrenzung in der ostdeutschen Wiedergutmachung (1945 – 1989), Berlin 2002, S. 85.

272

Erinnerungsgeschehen in der DDR

sich infolge dieses Aufrufes vor allem Betroffene der Zwangssterilisationen meldeten, blieben diese jedoch ohne Anerkennung, da sich der Hauptausschuss an alliierten Argumentationen orientierte und unter der Formel »Opfer des Nazismus« nur aus politischen, »rassischen« oder religiösen Gründen verfolgte Personen fasste.785 Die Zentrale Justizverwaltung bestritt sogar, dass es sich bei den massenhaften Sterilisationen auf der Grundlage des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses um nationalsozialistisches Unrecht gehandelt habe. Um einer von der Sowjetischen Militäradministration geforderten, konsequenten Strafverfolgung entgegenzuwirken, verwies man auf zu befürchtende Abwanderung beteiligter Mediziner, durch die die medizinische Versorgung in der SBZ gefährdet sei.786 Unter dem Begriff »Wiedergutmachung« wurden in der DDR fast ausschließlich die Reparationen (Demontage, Entnahmen aus der laufenden Produktion, Besatzungskosten) an die Sowjetunion verstanden.787 Individuelle Entschädigungen – sogenannte »Betreuungsmaßnahmen« – wurden grundsätzlich auf Bürger der DDR begrenzt. Zudem gehörten etwa seit dem Jahr 1950 nur noch Kommunisten zur anerkannten Gruppe von Verfolgten. Es konnte sogar eine Rangordnung zwischen den »Kämpfern gegen den Faschismus« und den passiven »Opfern des Faschismus« durchgesetzt werden.788 Als entscheidungsrelevant galt nur noch, ob die Verfolgten aktiv gegen den »Faschismus« vorgegangen und nicht, ob sie unter ihm gelitten hatten.789 Anderen Gruppen wurde sukzessive der Verfolgtenstatus aberkannt. Für die Opfer der Zwangssterilisation und NS-Euthanasie war damit die Situation einer Benachteiligung 785 Ebd., S. 86. Hölscher weist auf die Kontinuität eugenischen Gedankenguts unter den Ausschussmitgliedern hin, die eine Anerkennung von aus eugenischen Gründen zwangssterilisierten Personen verhinderte. Als 1950 die Anerkennungsrichtlinien für die »Verfolgten des Naziregimes« in Kraft traten, enthielten diese zwar eine Formulierung, mit der Personen anerkannt wurden, die aus politischen oder »rassischen« Gründen sterilisiert worden waren. In der Folgezeit erhielten jedoch nur 38 Personen diese Anerkennung. Vgl. Hölscher, NS-Verfolgte, S. 91. Angehörige der Euthanasie-Opfer waren gar nicht erst bedacht worden. Die Anerkennung »rassischer« Verfolgung ging allerdings auf die Bemühungen jüdischer Kommunisten und christlicher Widerstandskämpfer zurück. Vgl. Olaf Groehler, Integration und Ausgrenzung von NS-Opfern. Zur Anerkennungs- und Entschädigungsdebatte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschland 1945 – 1949, in: Jürgen Kocka (Hg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 105 – 127, hier S. 109. 786 Hölscher, NS-Verfolgte, S. 87 f. 787 Hans Günter Hockerts, Wiedergutmachung in Deutschland. Eine historische Bilanz 1945 – 2000, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49 (2000), S. 167 – 214, hier: S. 203. 788 Hockerts, Wiedergutmachung in Deutschland, S. 205. 789 Constantin Goschler, Zwei Wege der Wiedergutmachung? Der Umgang mit NS-Verfolgten in West- und Ostdeutschland im Vergleich, in: Hans Günter Hockerts und Christiane Kuller (Hg.), Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland?, Göttingen 2003, S. 115 – 137, hier S. 123.

Staatlicher Umgang mit der Vergangenheit

273

gegeben, denn eine Entschädigung war nicht vorgesehen. Die DDR verstand sich nicht als Nachfolgestaat des Deutschen Reiches und schrieb diesen Teil der deutschen Geschichte der Bundesrepublik zu.790 Wie dort wurden die Betroffenen von Zwangssterilisation und Euthanasie auch in der DDR nie mit anderen Opfergruppen der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik gleichgestellt.791

5.1.2. Die geheime Vergangenheitspolitik des MfS: Umgang mit ehemaligen Mitarbeitern Werner Catels und Einblicke in die »Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina« Dass durch das Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) eine nach außen nicht sichtbare, sprich geheime Vergangenheitspolitik im Umgang mit NS-Tätern betrieben wurde, darauf haben Annette Weinke und Henry Leide eindrücklich hingewiesen.792 Einerseits prangerte die DDR auf Grundlage der geheimdienstlichen MfS-Ermittlungen immer wieder die in der Bundesrepublik lebenden, aus der NS-Zeit zum Teil schwer belasteten Vertreter an und zwang so die bundesdeutschen Behörden zu einer politischen oder justiziellen Beschäftigung mit diesen Fällen. Andererseits kamen dem MfS zentrale vergangenheitspolitische Funktionen zu, indem ihm nicht einfach die Zuständigkeit zur Sammlung von Beweismitteln und zur geheimdienstlichen Überwachung, sondern sogar die Berechtigung zur Anwerbung von NS-belasteten Personen als inoffiziellen Mitarbeitern gegeben worden war. Dabei wurde die individuelle NS-Vergangenheit als Druckmittel eingesetzt, um die Betreffenden zur Mitarbeit zu bewegen. Anders also als die DDR mit ihrer Selbstdarstellung als »antifaschistischer Staat« glauben machte wollte, nämlich vorgeblich entgegen der Praxis in der Bundesrepublik eine systematische Verfolgung von NS-Tätern zu betreiben, zeigt sich, dass man DDR790 Die DDR wurde als völkerrechtliche Neuschöpfung aus dem Geist einer höheren Stufe der Geschichte aufgefasst, die nicht für die Verbrechen des »Hitler-Faschismus« haftbar zu machen war. Die Existenz des zweiten deutschen Staates (DDR) ließ sich so als »die eigentliche Wiedergutmachung« darstellen. Hockerts, Wiedergutmachung in Deutschland, S. 208. 791 Erst nach der Wende konnten hunderte Entschädigungsanträge aus den neuen Bundesländern gestellt werden. Vgl. auch Katja Neppert, Warum sind die NS-Zwangssterilisierten nicht entschädigt worden? Argumentationen der 1950er und 1960er Jahre, in: Matthias Hamann und Hans Asbeck (Hg.), Halbierte Vernunft und totale Medizin. Zu Grundlagen, Realgeschichte und Fortwirkung der Psychiatrie im Nationalsozialismus, Berlin 1997, S. 199 – 226; Valentin Hennig, Zur Wiedergutmachung von Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Berlin 1999. 792 Annette Weinke, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949 – 1969 oder : eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn u. a. 2002; Henry Leide, NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2005.

274

Erinnerungsgeschehen in der DDR

Bürgern, die mit einer NS-Vergangenheit belastet waren, wie Henry Leide im Resümee seiner Studie ausdrückt: »Exkulpation anbot, sofern sie Loyalität mit dem neuen System versprachen«.793 Dies galt angesichts des chronischen Mangels an Medizinern in besonderem Maße für die Gruppe der Ärzteschaft. Einzelne ehemalige Euthanasie-Ärzte, die zwischenzeitlich sogar an exponierter Stelle des Gesundheitssystems der DDR vertreten waren, brauchten strafrechtliche Ermittlungen gar nicht erst zu befürchten. Diese wurden seitens des MfS verhindert, weil ein Bekanntwerden der Verbrechensbeteiligung angesehener DDR-Mediziner dem »sorgsam gepflegten Image des staatlichen Antifaschismus widersprochen hätte«.794 Leide ergänzte für den Bereich der Medizin die in der Öffentlichkeit bekannt gewordenen Fälle Jussuf Ibrahim (Jena)795 und Rosemarie Albrecht (Stadtroda)796 um ein weiteres Beispiel: den in die DDR-Gesellschaft integrierten Pädiater HansChristoph Hempel. Der Skandal um den ehemaligen Leiter der Leipziger Universitätskinderklinik und Reichsausschuss-Gutachter Werner Catel, wie er sich 1960 in Kiel entwickelte, wurde in der DDR-Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt.797 Auch an der Leipziger Universitätskinderklinik wurde zunehmend über frühere Ober- und Assistenzärzte Catels diskutiert, die als angesehene Mediziner in der DDR tätig waren. 793 Leide, NS-Verbrecher und Staatssicherheit, S. 415. 794 Ebd., S. 418. 795 Ernst Klee, Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2001, S. 230 ff.; Susanne Zimmermann und Renate Renner, Prof. Dr. Jussuf Ibrahim und die NS-Kindereuthanasie (1), in: Ärzteblatt Thüringen 14 (2003) 7 – 8, S. 522 – 525, dies.: Prof. Dr. Jussuf Ibrahim und die NS-Kindereuthanasie (2), in: Ärzteblatt Thüringen 14 (2003) 9, S. 597 – 599; Martin Kaßler, Die Verdrängung eugenischer Verbrechen: der Fall Jussuf Ibrahim, in: Deutschland Archiv 33 (2000) 4, S. 531 – 533; Peter Reif-Spirek, Später Abschied von einem Mythos. Jussuf Ibrahim und die Stadt Jena, in: Annette Leo und Peter Reif-Spirek (Hg.), Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 2001, S. 21 – 50; Norbert Jachertz, Jena und der »Fall Albrecht«. Eine finstere Geschichte, in: Deutsches Ärzteblatt 100 (2003) 39, A 2490. 796 Der Operativvorgang »Ausmerzer« wurde vom MfS wegen verschiedener NS-Verbrechenskontexte in der thüringischen Landesklinik Stadtroda angelegt. Neben den Patiententötungen im psychiatrischen Krankenhaus (u. a. Dr. Rosemarie Albrecht – Frauenabteilung) wurden auch die Vorgänge an der Kinderfachabteilung in der Verantwortlichkeit des Klinikleiters Dr. Gerhard Kloos und der Leiterin der Tötungsstation Dr. Margarete Hielscher untersucht. Im Mai 1966 wurde jedoch der gesamte Vorgang geschlossen, da das Beweismaterial erschöpft sei. Vgl. Ute Hoffmann, »Das ist wohl ein Stück verdrängt worden …«. Zum Umgang mit den »Euthanasie«-Verbrechen in der DDR, in: Leo / Reif-Spirek (Hg.), Vielstimmiges Schweigen, S. 51 – 66, hier : S. 58 f.; Norbert Jachertz, Jena und der »Fall Albrecht«; Matthias Schlegel, Operation »Ausmerzer«. In der DDR war die NS-»Euthanasie« tabu – die Erforschung der Stasi-Akten erhellt die Gründe, Der Tagesspiegel, 16. 3. 2004, S. 24. 797 Die Leipziger Volkszeitung und das Neue Deutschland griffen die Vorwürfe gegen Werner Catel aus einem Spiegel-Artikel auf. Vgl. Leide, NS-Verbrecher und Staatssicherheit, S. 333.

Staatlicher Umgang mit der Vergangenheit

275

Entsprechende Berichte gingen beim MfS ein, woraufhin Ermittlungen gegen Hempel eingeleitet wurden.798 Dem MfS war Hempels Beteiligung an den Kindestötungen bekannt, und doch kam der zuständige Oberstleutnant Kienberg (MfS, stellv. Leiter der Berliner Hauptabteilung V) nach Prüfung der Unterlagen im Oktober 1960 zu dem Ergebnis: »Eine pol[itische] Auswertung des Materials erfolgt z. Zt. nicht, da sie größeren Schaden als Nutzen bringen könnte. Wollen die Aufmerksamkeit nicht auf unsere Ärzte lenken.«799

Die MfS-Überlegungen waren auf die westdeutschen Ermittlungen gegen ehemalige Tötungsärzte bezogen, wie der folgende Aktenauszug belegt. Mitte Januar 1961 wurde der Vorgang Hempel durch Kienberg endgültig geschlossen: »Weitere Vernehmungen erfolgen nicht, auch keine op[erative] Bearbeitung des Dr. Hempel, da der Prozess gegen die angeklagten Euthanasieärzte in Westdeutschland im Sande verlaufen ist. […]

Ende Januar hieß es in der »Ablageverfügung«: »An einer Weiterbearbeitung besteht gegenwärtig aus politischen Erwägungen heraus kein Interesse. Im Gegenteil könnte diese zur Republikflucht des Dr. Hempel führen, zumal aus den Verhandlungen gegen die in Westdeutschland wohnenden Euthanasieärzte zu ersehen ist, dass die Bonner Machthaber an einer Verurteilung dieses Personenkreises nicht interessiert sind.«800

Der Wert Hempels für das Gesundheitswesen der DDR wog mittelfristig mehr als eine mögliche propagandistische Ausschlachtung gegenüber der Bundesrepublik im Falle seines Weggangs. Wie anderen Pädiatern aus dem früheren Catel-Kollegium stand Hempel in der DDR der Karriereweg offen. Zwar musste er seine Stellung in Leipzig aufgeben, da Siegfried Liebe im Rahmen der Verhandlungen über den eigenen Wechsel von Rostock nach Leipzig die Bedingung stellte, dass Hempel bis zu seinem Amtsantritt die Kinderklinik zu verlassen habe.801 Hempel konnte dafür zunächst eine Oberarztstelle und 1962 die Chefarztstelle an der Bezirkskinderklinik in Karl-Marx-Stadt übernehmen.802 798 Im Zuge dieser Ermittlungen gegen Hempel wurden in Pfafferode die Krankenakten von Opfern der Aktion T4 durch Mitarbeiter des MfS entdeckt, nach Berlin verbracht und untersucht. Die Existenz dieses Bestandes wurde gegenüber der Bundesrepublik geheim gehalten. Heute lagern die über 30.000 von ursprünglich 70.000 Krankenakten im Bundesarchiv Berlin (Bestand R 179) und stehen für Anfragen von Angehörigen sowie der Forschung zur Verfügung. Zur Geschichte dieses Bestandes vgl. Roelcke / Hohendorf, Akten der »Euthanasie«-Aktion T4; Sandner, Die »Euthanasie«-Akten im Bundesarchiv. 799 Zit. nach Leide, NS-Verbrecher und Staatssicherheit, S. 334 f. 800 Zit. nach ebd., S. 336. 801 Dies geht aus einem Aktenvermerk betreffend die Mitteilung des Gen. Mengel (Parteisekretär der Medizinischen Fakultät) über Dr. Hempel vom 12. 10. 1960 hervor. BStU MfS Zentralarchiv Allg. P 2114/66, Bl. 51. 802 Ebd.

276

Erinnerungsgeschehen in der DDR

Ein weiterer ehemaliger Mitarbeiter Catels, Hans-Joachim Hartenstein, der nachweislich in die Tötungen an der Kinderfachabteilung Leipzig eingebunden war, hatte sich nach 1945 als Facharzt für Pädiatrie mit einer eigenen Praxis in West-Berlin niedergelassen und fiel somit nicht mehr in den unmittelbaren Einflussbereich des MfS.803 Nach derzeitigem Forschungsstand war Catels Assistenzarzt Friedrich Hartmut Dost nicht an der Kindereuthanasie beteiligt.804 Allerdings stellt sich für seine Person die Frage nach einer Mitwisserschaft, hatte er sich doch 1940 bei Catel habilitiert. Im Jahr 1953 wurde er Leiter der Kinderklinik und ordentlicher Professor für Kinderheilkunde an der Humboldt-Universität Berlin. Noch vor dem Bau der »Mauer« siedelte Dost nach Gießen über. Er unterhielt nach dem Krieg einen intensiven Austausch mit Catel und teilte dessen Vorstellungen einer »begrenzten Euthanasie« (siehe Abschnitt 4.2.). Erich Häßler (1899 – 2005), Catels ehemaligen städtischen Oberarzt805 an der Universitätskinderklinik, berief man 1953 als Nachfolger von Jussuf Ibrahim (1877 – 1953) zum Ordinarius für Kinderheilkunde in Jena.806 Lothar Weingärtner 803 Klee, Personenlexikon zum Dritten Reich, S. 228. Hartenstein bemühte sich mit Unterstützung Catels und Adalbert Loeschkes (Berlin) um eine Umhabilitierung an die Freie Universität Berlin. Später ließ er sich in Haar bei München nieder und engagierte sich in der Gesellschaft für Sozialpädiatrie, die sich für die Rehabilitation behinderter Kinder einsetzte. Er war dort bis mindestens 1978 Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats. Archiv der Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V., Bibliothek Kinderzentrum München. 804 Im Bundesarchiv Berlin, Bestand NS 53/227, der eine Liste der am Reichsausschussverfahren beteiligten und dafür mit Sondergratifikationen bedachten Personen enthält, werden Hartenstein und Hempel aufgeführt. Dost wird dagegen nicht genannt. 805 Laut Vorlesungsverzeichnis von 1939 wurde zwischen planmäßigen (städtischen) und außerplanmäßigen (klinischen) Assistenzarztstellen unterschieden. Demnach hatte Erich Häßler die städtische Oberarztstelle an der Universitätskinderklinik Leipzig inne. Vgl. Universität Leipzig, Personal- und Vorlesungsverzeichnis. Sommersemester 1939, Leipzig 1939, S. 43 f. Folgt man den persönlichen Bekundungen Erich Häßlers im Interview mit Christoph Buhl, so war die Leipziger Kinderklinik zum einem Teil städtisches Kinderkrankenhaus und zu einem anderen Teil staatliche Universitätsklinik. Häßler wurde in seiner Funktion als Leiter der Poliklinik zum städtischen Beamten (Stadtmedizinalrat) ernannt. 806 Erich Häßler wurde, nach Petersen und Zankel im September 2000, im Dezember desselben Jahres von dem Leipziger Diplomanden Christoph Buhl interviewt. Im Rahmen dieses Gespräches behauptete Häßler bezüglich des Beginns der Kindereuthanasie, dass Hitlers Leibarzt Karl Brandt im Mai 1939 unangemeldet in der Leipziger Kinderklinik erschienen sei, um das behinderte »Kind K.« zu begutachten. Brandt habe sich mit ihm als stellvertretendem Klinikleiter über das weitere Vorgehen besprochen, da Catel nicht vor Ort gewesen sei. Brandt ließ demnach Catel ausrichten, dass er, wie auch immer er mit dem Kind verfahren sollte, straffrei ausgehen würde. Buhl veröffentlichte das Interview im Rahmen seiner 2003 mit dem Förderpreis des Sächsischen Staatsministeriums ausgezeichneten Diplomarbeit: Christoph Buhl, Von der Eugenik zur Euthanasie. Eine Spurensuche in Leipzig, Leipzig 2001, S. 37 – 41. Häßler starb im Jahr 2005 in Jena im Alter von 106 Jahren.

Staatlicher Umgang mit der Vergangenheit

277

erhielt 1958 das Ordinariat und Direktorat an der Universitäts-Kinderklinik in Halle.807 Die westdeutschen Turbulenzen um den Kieler Ordinarius Catel erregten auch das lokale Interesse des Staatssicherheitsdienstes in Halle. Bereits Mitte der 1950er-Jahre hatte man dort einen Überprüfungsvorgang zur »Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina« eingeleitet, die, wie es hieß, »eine selbstständige Akademie [ist], auf die das Staatssekretariat für Hochschulwesen sowie die Universität Halle keinen unmittelbaren Einfluß ausüben kann«.808 Drei Jahre später erging der Beschluss, über den Präsidenten der »Leopoldina«, Prof. Dr. Kurt Mothes, einen Operativvorgang anzulegen. Als Begründung wurde vermerkt: »Mothes und andere bilden ein reaktionäres Zentrum an der Universität Halle, das sich aus Mitgliedern der »Leopoldina« zusammensetzt. Sie werden beschuldigt, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln der Politik der Regierung bei der Schaffung der soz. Hochschule Widerstand zu leisten. Weiterhin propagieren sie offen die bürgerliche Ideologie und sind in diesem Sinne wirksam.«809

In Folge eines am 18. August 1960 im Deutschlandsender ausgestrahlten Berichts über Werner Catel wurde eine Überprüfung durch die Bezirksverwaltung, Abteilung V/6, in Halle ausgelöst. Man stellte fest, dass Catel seit 1937 Mitglied der »Leopoldina« gewesen war, und fing ein Antwortschreiben des Pädiaters Rudolf Degkwitz an den Vizepräsidenten der Akademie, Prof. Erwin Reichenbach, ab. Darin erhob Degkwitz Einwände gegen zwei in Vorschlag gebrachte Personen zur Wahl als Obmann in der Akademie-Sektion Pädiatrie: Carl-Gottlieb BennholdtThomsen und Werner Catel. Im Wortlaut des Briefes hieß es: »Herr Benholdt-Thomsen [sic!] ist der oberste Hitler-Jugend Führer für Böhmen und Mähren gewesen. […] Der zweite ist Herr Catel, der als erster an der Berliner Zentralstelle als Massen-Euthanasist tätig war, die für ca. 70.000 Kinder verantwortlich ist. Ich habe ein [sic!] Akte in der Hanburger [sic!] GesundheitsBehörde [sic!] in der Hand gehabt; in der, von Herrn Catel unterschrieben, die folgenden Sätze standen: ›Was wir tun ist Mord. Es gibt kein Gesetz, das uns schützt. Das Deutsche Volk ist noch nicht reif dafür.‹«810 807 Klee, Deutsche Medizin im Dritten Reich, S. 107. 808 Bericht über die Jahrestagung der »Leopoldina« vom 9. 11. 1955, U.-Ltn. [Unter-Leutnant] Trautsch, Überprüfungsvorgang Nr. 36/58, Band I. BSTU, Außenstelle Halle, Halle 3557/69, Bl. 14. Die Einsichtnahme in die Unterlagen in der BStU erfolgte teilweise durch Gerrit Hohendorf während der gemeinsamen Projektarbeit am Gießener SFB 434 »Erinnerungskulturen«. 809 Beschluss zum Operativvorgang unter dem Decknamen »Komet« vom 5. 12. 1958, ebd., Bl. 167. 810 Schreiben Rudolf Degkwitz (New York) an Reichenbach, 9. 6. 1960. BStU, Außenstelle Halle, Halle 1329/60, Bl. 26 f. Degkwitz verwechselte hier die Opferzahlen der NS-Kindereuthanasie mit jenen der Euthanasie-Aktion T4. Zur geplanten Beteiligung Bennholdt-Thomsens am Reichsausschussverfahren in Prag siehe Abschnitt 4.2.1.5.1. in dieser Arbeit.

278

Erinnerungsgeschehen in der DDR

Wie die nachfolgende Meldung von Unterleutnant Trautsch an die Berliner MfSHauptabteilung V/6 verdeutlicht, basierten zu diesem Zeitpunkt alle Informationen in Halle auf den Berichten der westdeutschen Medien und den – allerdings fälschlichen – Angaben in Degkwitz’ Korrespondenz.811 Die Hallenser Anfrage zur Prüfung einer »politisch-agitatorischen Auswertung« der Catel-Affäre wurde in Berlin von dem mit dem Fall Hempel befassten Oberstleutnant Kienberg beantwortet. Demnach sei dort »kein op. verwertbares Material über C. vorhanden«, aber im Bezirk Leipzig werde »Material über ihn (Zeugenaussagen) zusammengestellt«.812 Sollten innerhalb der Akademie Auseinandersetzungen um Catels Person stattgefunden haben, so haben sie jedenfalls keinen Eingang in die Akten des auf Mothes und die »Leopoldina« angesetzten Operativvorgangs gefunden. Die Funktion des Obmanns blieb auch weiterhin, wie schon 1959, in den Händen von Bennholdt-Thomsen, der erst Ende der 1960er-Jahre durch Gerhard Joppich abgelöst wurde.813 Es gibt Hinweise darauf, das Catel in der »Leopoldina« mit Rückhalt rechnen konnte. Dies zeigt nicht nur eine wohlwollende Reaktion auf Catels Rechtfertigungsschrift von 1962. Prof. Rudolph Zaunick vom Archiv für Geschichte der Naturforschung und Medizin und Director Ephemeridum der »Leopoldina« schrieb an Catel: »Ich möchte Ihnen auch noch sagen, dass Ihre ›Grenzsituationen des Lebens‹ von mir einigen interessierten Lesern gegeben worden sind, die eigentlich alle Ihren ärztlichen Standpunkt geteilt haben.«814

Eine ähnliche Anerkennung erfuhr Catel von Mothes persönlich, der ihm seinen Respekt für den »Mut« zollte, zur Frage der »begrenzten Euthanasie« öffentlich Stellung genommen zu haben.815 811 Trautsch an HA V/6, Berlin, 2. 10. 1963. BStU, Außenstelle Halle, Halle 1329/60, Bl. 29 f. 812 Kienberg an Bezirksverwaltung Halle, Abteilung V/6, Trautsch, 13. 10. 1960. BStU, Außenstelle Halle, Op.-Vorgang »Komet«, Reg. Nr. 1329/65, Beiakte, Halle 3557/69, Bl. 33. 813 Siehe Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina zu Halle / Saale gegr. 1652. Struktur und Mitgliederbestand, Halle, hier die Ausgaben von 1959, 1962, 1965, 1969. 814 Zaunick an Catel, 21. 12. 1962. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin, Nachlass Catel. 815 Hier und im Folgenden nach: Sibylle Gerstengarbe, Das Leopoldinamitglied Werner Catel. Vortrag am 20. September 2002 in Leipzig, bei der Tagung der Kinderärzte, 9 Seiten, unveröffentlichtes Manuskript zum Vortrag »Werner Catel und die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina«, Jahrestagung der DGfKJ Leipzig 2002, Sektion: Geschichte der Kinderheilkunde. Ich danke Frau Gerstengarbe für die freundliche Überlassung des Manuskripts und erkläre mich im Sinne der Absprache bereit, keine Quellenzitate aus ihrem Skript wiederzugeben. Eigene Bemühungen im Februar 2008, die einschlägigen Akten im Archiv der Leopoldina einzusehen, müssen als gescheitert bezeichnet werden. Auch zwei nachfolgende schriftliche Anfragen zur Genehmigung der Akteneinsicht blieben unbeantwortet.

Staatlicher Umgang mit der Vergangenheit

279

Und dennoch muss es im Präsidium der Leopoldina in mehreren Sitzungen zu intensiven Diskussionen über die Mitgliedschaft Catels gekommen sein, denn im Jahr 1961 beschloss man, Catels Mitgliedschaft, im Falle seiner Zustimmung, als ruhend zu betrachten. Wie auch der Vorstand der Gesellschaft für Kinderheilkunde entschieden hatte, in ein »schwebendes Verfahren« nicht eingreifen zu wollen, so wartete man im Präsidium der Leopoldina den Ausgang des am Landgericht Hannover anhängigen Ermittlungsverfahrens ab. Der Präsident, obwohl Catel gegenüber respektvoll verbunden, befürchtete eine Rufschädigung der Leopoldina im In- und Ausland, sollten die in der Presse vorgebrachten Anschuldigungen gegen Catel gerichtlich bestätigt werden. Letzterer lehnte wie im Streit mit seiner Fachgesellschaft eine ruhende Mitgliedschaft prinzipiell ab. Catel wurde trotz aller internen Auseinandersetzungen und entgegen der Handhabung in zwei anderen Fällen während der Amtszeit von Präsident Mothes (Hygieniker Niels Eugen Haagen, gestrichen 1955, Physikochemiker Heinrich Bütefisch, gestrichen 1964) nicht von der Liste der Leopoldina-Mitglieder genommen. Den Hauptgrund sieht Sibylle Gerstengarbe in der Tatsache, dass Catel – anders als Bütefisch und Haagen816 – nie rechtskräftig verurteilt wurde. Darüber hinaus vermutet sie, dass sich mehrere Präsidiumsmitglieder mit Catel verbunden fühlten und dass Mothes »zumindest einen Teil der theoretischen Überlegungen Catels zur Euthanasie akzeptierte«.817 Die konträren Haltungen zu Catel innerhalb der Leopoldina kamen noch einmal 1974 zum Ausdruck, als sich der Berliner Pädiater Hans Wolfgang Ocklitz weigerte, eine vom Präsidenten Mothes gewünschte Laudatio zu Catels 80. Geburtstag zu formulieren. Ocklitz schlug an seiner statt Friedrich Hartmut Dost als Laudator vor, dessen Ergebenheit gegenüber Catel demnach auch in der Leopoldina kein Geheimnis war. Sowohl aus christlicher als auch aus ärztlicher Überzeugung lehnte Ocklitz die von Catel propagierte »begrenzte Euthanasie« ab und legte dem Präsidenten unter anderem eine Rezension des renommierten Schweizer Pädiaters Guido Fanconi zu Catels Buch »Grenzsituationen des Lebens« bei.818 Das Präsidium entschied daraufhin, Catel nur ein Glückwunschtelegramm zu übersenden und auf eine Laudatio zu verzichten. An dieser Lösung hielt auch der neue Präsident Heinz Bethge im Jahr 1979 zu Catels 85. Geburtstag fest.819

816 Sybille Gerstengarbe, Heidrun Hallmann und Wieland Berg, Die Leopoldina im Dritten Reich, in: Scriba (Hg.), Das Verhältnis von Akademien und ihrem wissenschaftlichen Umfeld zum Nationalsozialismus, S. 183. 817 Gerstengarbe, Das Leopoldinamitglied Werner Catel, S. 8. 818 Es dürfte sich um jene Buchbesprechung handeln, in der Fanconi vermutete, Catel habe vielleicht ein »entartetes Herz«. Siehe Abschnitt 4.2.1.4.4. in dieser Arbeit. 819 Gerstengarbe, Das Leopoldinamitglied Werner Catel, S. 7.

280

Erinnerungsgeschehen in der DDR

5.1.3 Authentische Orte der NS-Euthanasie am Rande der staatlichen Erinnerungskultur: Pirna / Sonnenstein, Brandenburg a. d. Havel, Bernburg Auf dem Gebiet der DDR lagen drei der ehemals sechs Tötungsanstalten der Aktion T4: Pirna / Sonnenstein, Bernburg und Brandenburg an der Havel. Waren die einengenden erinnerungspolitischen Rahmenbedingungen in der DDR im Allgemeinen für diese drei Orte gleich, so unterschieden sich dennoch die drei lokalen Entwicklungen erheblich. Über die »Euthanasie«-Anstalt Pirna / Sonnenstein820 war in der Presse nur selten zu lesen gewesen. Der erste nachweisbare Artikel datiert im Jahr 1964.821 Allerdings beschäftigte sich an der 1. Pirnaer Oberschule eine Arbeitsgemeinschaft »Junge Historiker« mit den Krankenmorden und 1969 wurde eine Broschüre über »Ehrenmale, Gedenkstätten, Erinnerungsstätten und Mahnstätten der Arbeiterbewegung, des antifaschistischen Widerstands und der deutschsowjetischen Freundschaft im Kreis Pirna« herausgegeben, in der auf die Massentötungen eingegangen wurde.822 Ein Ort des Gedenkens bestand nicht. Verhindert wurde dies vor allem durch die mit Auflagen zur Geheimhaltung verbundene Nutzung des Geländes, in deren Zuge auch der öffentliche Zugang zum ehemaligen Tötungstrakt untersagt war. Wie Nora Manukjan rekonstruieren konnte, war das Areal von 1945 bis 1948 als Umsiedlerlager, ab 1948 als Polizeischule mit besonderer Abschirmung des Geländes und seit 1953 durch die Errichtung einer Forschungseinrichtung zur Entwicklung von Flugzeugtriebwerken (VEB Entwicklungsbau) belegt. 1962 erfolgte die Umstellung der Produktion, unter anderem auf Bootsantriebe für die Volksmarine der DDR.823 1973 wurde auf Anregung des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR von der SED-Kreisleitung Pirna eine Steintafel im Be820 Zum Umgang mit dem historischen Ort: Nora Manukjan, »Euthanasie« – das lange verdrängte Verbrechen. Zum Umgang mit den nationalsozialistischen Krankenmorden in der SBZ und DDR, in: Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.), Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen. Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen, Dresden 2004, S. 173 – 196. 821 N.N., Die Toten schweigen nicht, Zeit im Bild, 19. Jg., Nr. 25 vom 3. 6. 1964. 822 SED, Kreisleitung Pirna, Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung (Hg.), Ehrenmale, Gedenkstätten, Erinnerungsstätten und Mahnstätten der Arbeiterbewegung und des antifaschistischen Widerstandes im Kreis Pirna, Pirna 1969 – vgl. auch die Ausgabe von 1984. 823 Manukjan, »Euthanasie« – das lange verdrängte Verbrechen, S. 187. Zur Geländenutzung in der unmittelbaren Nachkriegszeit siehe auch die Einzelbeiträge im Sammelband: Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V. (Hg.), Durchgangsstation Sonnenstein. Die ehemalige Landesanstalt als Militärobjekt, Auffanglager und Ausbildungsstätte in den Jahren 1939 – 1954, Pirna 2007.

Staatlicher Umgang mit der Vergangenheit

281

reich der Schlossmauer angebracht, worüber die Sächsische Zeitung eine entsprechende Meldung brachte.824 Die Inschrift der Tafel lautete: »Zum Gedenken an die Opfer faschistischer Verbrechen, verübt in der ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt auf dem Territorium Pirna-Sonnenstein 1940 – 1941«. Diese Gedenkfeier zielte vorrangig auf die ermordeten Konzentrationslagerinsassen (Aktion 14f13). Dem Gedenken an die Euthanasie-Opfer wurde nur begrenzt Raum gegeben. Die angebrachte Tafel hatte überdies keinen korrekten örtlichen Bezug zur ehemaligen Tötungsanlage im Haus 14. Für die nachfolgenden Jahre sind Thematisierungen der Euthanasie-Verbrechen auf dem Sonnenstein kaum nachweisbar. Erst im Jahr 1979 riefen die Sächsischen Neuesten Nachrichten das Thema wieder ins Lokalbewusstsein.825 Gegen Ende der 1980er-Jahre setzte eine zaghafte Auseinandersetzung mit der Euthanasie-Vergangenheit ein.826 Im Jahr 1988 starteten Mitglieder des Pirnaer Kreistages eine kleine Initiative, ein Gedenkstättenkonzept zu entwerfen.827 1989 ließ sich der Plan in die Tat umsetzen.828 Unter Mitwirkung kirchlicher Kreise konnte im Gemeindezentrum Pirna-Sonnenstein eine Wanderausstellung des Westberliner Historikers Götz Aly zur Aktion T4 gezeigt werden.829 Im Jahr 1990 gab der Rat der Stadt Pirna auf Grundlage der Vorarbeit eines ortsansässigen Lehrers eine erste Publikation heraus.830 Die Errichtung einer Gedenkstätte, für die sich seit 1989 eine Bürgerinitiative einsetzte, fiel jedoch in die Zeit nach dem Ende der DDR.831 824 Gedenktafel enthüllt, Sächsische Zeitung, 5. 10. 1973, abgedruckt bei Manukjan, »Euthanasie« – das lange verdrängte Verbrechen, S. 188. Originärer Impuls für das Komitee war allerdings der Frankfurter Euthanasie-Prozess. Vgl. Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, in: Bert Pampel, Spuren Suchen und Erinnern. Gedenkstätten für die Opfer politischer Gewaltherrschaft in Sachsen, hg. v. der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft, Leipzig 1996, S. 21 – 34, hier : S. 34. 825 Manfred Hickmann, Der Faschismus wütete auf dem Sonnenstein, Sächsische Neueste Nachrichten, Nr. 98, 26. 4. 1979. 826 So wurde 1987 auf dem Gelände der ehemaligen Zwischenanstalt Arnsdorf eine Gedenktafel für die Euthanasie-Opfer angebracht. Etwa zeitgleich begannen in der Klinik Großschweidnitz Überlegungen zur Gestaltung des Gedenkens. Anlass war dort der Fund von Krankenakten ermordeter Patienten. Manukjan, »Euthanasie« – das lange verdrängte Verbrechen, S. 189. 827 Ebd. S. 190. 828 Hinzu kam die Einzelinitiative eines damaligen Pirnaer Oberschülers. Er legte später die erste und bis heute einschlägige Studie zur Tötungsanstalt Pirna vor: Thomas Schilter, Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Tötungsanstalt PirnaSonnenstein 1940/41, Leipzig 1999. 829 Schilter und Götz Aly waren in Kontakt zueinander getreten, woraufhin Aly ihm seine Dokumentation zur Aktion T4 schenkte. Vgl. Manukjan, »Euthanasie« – das lange verdrängte Verbrechen, S. 190. 830 Hugo Jensch, Euthanasie-Aktion »T4«. Verbrechen in den Jahren 1940 und 1941 auf dem Sonnenstein in Pirna, Pirna 1990. 831 Zum weiteren Werdegang bis zur Gründung der Gedenkstätte im Jahr 2000 und darüber

282

Erinnerungsgeschehen in der DDR

Die Tötungsanlage in Brandenburg war 1939 von der Euthanasie-Dienststelle T4 im dortigen alten Zuchthaus in der Neuendorfer Straße 90 installiert worden. Die Massenmorde spielten sich also mitten im Ortszentrum ab. Die Beunruhigung im näheren Umfeld war ein Grund dafür, dass das Krematorium noch 1940 am Paterndamm außerhalb der Stadt errichtet und die Tötungen schließlich nach Bernburg verlagert wurden. Als nach dem Kriegsende Pläne zur Umgestaltung des Geländes in der Neuendorfer Straße Gestalt annahmen, hielt im September 1947 die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) eine Gedenkfeier in der Stadthalle ab. Auf der Außenseite des ehemaligen Krematoriums stand auf der Klinkermauer geschrieben: »Was geschah hier im Sommer 1940?«. Ein Pfeil verwies auf rauchende Schornsteine.832 Die VVN wollte damit gegen die geplanten Abrissarbeiten protestieren.833 Mitte der 1950er-Jahre wurden die baulichen Reste der Gaskammer im Rahmen einer FDJ-Aktion endgültig beseitigt. Das Gelände wurde vielfältig genutzt, unter anderem für den Rat der Stadt. An die Vergangenheit erinnerte zunächst nichts mehr, bis am 8. September 1962 eine durch den Bildhauer Franz Treyne entworfene Gedenktafel am Brandenburger Rathaus angebracht wurde: »VERGESST ES NIE! Durch die Euthanasie-Morde der Faschisten wurden 1940 auf diesem Gelände 8.000 unschuldige Menschen getötet«. Auf wessen Initiative hin die Gedenktafel angebracht wurde, ist nicht bekannt. Nach Recherchen von Stefanie Endlich unternahmen aber einzelne Bürger der Stadt wiederholt Versuche, das Thema ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.834 In unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang zur Anbringung der Gedenkhinaus siehe u. a.: Boris Böhm, »Euthanasie«-Verbrechen ausstellen – Das Beispiel der Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein, in: Westermann / Kühl / Ohnhäuser (Hg.), NS-»Euthanasie« und Erinnerung, S. 123 – 132. 832 Fotografie des Schriftzuges in: Günter Weigelt, Euthanasie in Brandenburg, in: Brandenburger Kulturspiegel, September (1962), S. 24 – 27 und Oktober (1962), S. 18 – 21, hier : S. 26. 833 Stefanie Endlich, »Das Gedenken braucht einen Ort«. Formen des Gedenkens an den authentischen Orten, in: Kristina Hübener (Hg.) in Zusammenarbeit mit Martin Heinze, Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit, Berlin-Brandenburg 2002, S. 341 – 387, hier: S. 345. Die VVN konnte sich zunächst eine gewisse Eigenständigkeit in der Erinnerungslandschaft der DDR bewahren. Doch 1953 wurde von der SED die Selbstauflösung der VVN betrieben, an dessen Stelle das Komitee der antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR trat. Dieser Vorgang war Ausdruck eines Konkurrenzkampfes zwischen verschiedenen Erinnerungsinteressen, in dem sich linientreue SEDMitglieder profilierten und den von ihnen heroisierten antikommunistischen Widerstandskampf als hegemoniale Erinnerungskultur institutionell durchsetzten. Vgl. Goschler, Zwei Wege der Wiedergutmachung?, S. 121. Zur Auflösung der VVN vgl. Elke Reuter und Detlef Hansel, Das kurze Leben der VVN von 1947 bis 1953. Die Geschichte der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes in der SBZ und in der DDR, Berlin 1997. 834 Endlich, »Das Gedenken braucht einen Ort«, S. 345. Endlich verweist auf eine Vielzahl von Initiativen einzelner Bürger.

Staatlicher Umgang mit der Vergangenheit

283

tafel veröffentlichte der Direktor des Heimatmuseums Brandenburg, Günter Weigelt, in der Lokalzeitung Kulturspiegel zwei Artikel unter dem Titel »Euthanasie in Brandenburg«.835 Weigelt versuchte in den nachfolgenden Jahrzehnten immer wieder, die Erinnerung an die Geschehnisse während des Krieges wachzuhalten. Bemühungen, das Gelände unter Denkmalschutz zu stellen, verzögerten sich und Entwürfe für eine Gedenkmedaille wurden von politischer Seite abgelehnt.836 1976 erschien im Kulturspiegel erneut ein Artikel zum Thema NS-Euthanasie in Brandenburg, initiiert durch die Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung bei der SED-Kreisleitung Brandenburg. Der Autor, Bernhard Bogedain, nahm darin Bezug auf Weigelts Veröffentlichungen 14 Jahre zuvor und nannte das Motiv für den neuen Artikel: »Es erscheint an der Zeit, besonders die inzwischen heranwachsenden jungen Menschen wieder auf jene Verbrechen der deutschen Faschisten aufmerksam zu machen. Auch hat 1973 der bekannte Jurist Prof. Dr. Friedrich Karl Kaul in seinem Buch ›Nazimordaktion T4‹ einen ersten zusammenhängenden Bericht über die EuthanasieMordaktion der Faschisten gegeben und ist dabei auch auf Brandenburg eingegangen.«837

In den 1980er-Jahren unternahm ein Klinikarzt aus Brandenburg-Görden erste konkrete Forschungen zur Euthanasie-Vergangenheit seiner Klinik. Folkert Schröder setzte seine Ergebnisse 1990 in einer Ausstellung mit dem Titel »Vergessenes Grauen« um. Auch der Direktor der Gördener Klinik, Hans-Hinrich Knaape, befasste sich mit der Geschichte des Ortes während des Zweiten Weltkrieges und stellte auf Anfrage interessierter Kollegen Archivmaterial zur Verfügung.838 Die Ergebnisse seiner eigenen Untersuchungen präsentierte er in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre zunächst in Vortragsform.839 1988 erfolgte die 835 Weigelt, Euthanasie in Brandenburg. 836 Endlich, »Das Gedenken braucht einen Ort«, S. 345. 837 Bernhard Bogedain (Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung bei der SED-Kreisleitung Brandenburg), Nazimordaktion T4 in Brandenburg, in: Kulturspiegel, September (1976), S. 1 – 9. Der Autor nutzte neben eigenen Archivrecherchen Literatur, in der Details über die Krankenmorde enthalten waren. (1969: Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung; 1974: Deutschland im Zweiten Weltkrieg). Auf die genannte Publikation von Kaul wird im folgenden Kapitel genauer eingegangen. 838 Persönliche Mitteilung von Lothar Pelz bei einem Gespräch in Rostock, 14. 12. 2006. 839 Einige dieser Vortragsmanuskripte kursierten als einfache Kopien in Kollegenkreisen, wurden aber auch gedruckt. Hans-Hinrich Knaape, Die medizinische Forschung an geistig behinderten Kindern in Brandenburg-Görden in der Zeit des Faschismus, in: Samuel Mitja Rapoport und Achim Thom (Hg.), Das Schicksal der Medizin im Faschismus. Auftrag und Verpflichtung zur Bewahrung von Humanismus und Frieden. Internationales wissenschaftliches Symposium europäischer Sektion der IPPNW, 17.–20. November 1988, Erfurt / Weimar, Berlin 1989, S. 224 – 228; Hans-Hinrich Knaape, »Euthanasie« – Der faschistische

284

Erinnerungsgeschehen in der DDR

Gründung der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Brandenburg, allerdings mit einer Verzögerung von Jahrzehnten, verglichen mit der Gründung der staatlicherseits präferierten Gedenkstätten Buchenwald (1958), Ravensbrück (1959) und Sachsenhausen (1961).840 In Bernburg befand sich nach dem Kriegsende weiterhin eine Heil- und Pflegeanstalt. Der ehemalige Tötungstrakt im Keller wurde vollständig in den Anstaltsbetrieb integriert, d. h. für die klinische Arbeitstherapie genutzt.841 Die Lokalpresse griff die Krankenmorde in Bernburg nur sporadisch auf.842 1947 wies die Presse darauf hin, dass im Bernburger Sekretariat der Freien Deutschen Jugend eine Ausstellung über die Tötungsanstalt zu sehen gewesen war.843 1952 initiierte auch in Bernburg der Verein für die Verfolgten des Naziregimes die Errichtung eines Gedenksteins in der ehemaligen Gaskammer mit der Inschrift »Den Toten zu Ehren – Den Lebenden zur Mahnung« und ließ symbolisch eine Urne für die Opfer der »Sonderbehandlung« aufstellen. Der Raum wurde nur noch für Gedenkzeremonien genutzt, war aber nicht öffentlich zugänglich.844 Vor dem Hintergrund dieser verzerrten Wahrnehmung der Geschehnisse, die durch das Einschließen quasi wie eine mineralogische Inklusion konserviert wurde, mag es nicht verwundern, dass noch 1972 in der Veröffentlichung »Gedenk- und Erinnerungsstätten der Arbeiterbewegung im Kreis Bernburg zur ›Euthanasie‹-Anstalt Bernburg« historisch unrichtige Angaben von unreflektierten Lebens(un)wert-Vorstellungen begleitet wurden:

840 841

842 843 844

Massenmord an psychisch Kranken in Brandenburg, sowie: Kinderpsychiatrie und Euthanasie in der Landesanstalt Görden, Manuskripte der Vorträge auf der Tagung des Arbeitskreises zur Aufarbeitung der »Euthanasie« und Zwangssterilisation in Lobetal vom 28.10 – 1.11.1989, hg. v. Diakonisches Werk der evangelischen Kirchen, Lobetal 1990, S. 18 – 35 und 7 – 17. Erst 1995 wurde das Gelände unter Denkmalschutz gestellt. Zu der am 17. 8. 2012 neu eingerichteten Gedenkstätte für die Opfer der »Euthanasie«-Morde in Brandenburg siehe die Internetpräsentation unter : http://www.stiftung-bg.de/doku/index.html (7. 1. 2013) Die umfassendsten Darstellungen zur Nachkriegsgeschichte liegen über Bernburg vor: Hoffmann, »Das ist wohl ein Stück verdrängt worden …«; Martin Kaßler, Zwischen Verdrängung und Neubeginn. Der historische Umgang mit der »Euthanasieanstalt Bernburg« in der DDR, in: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland (DA) 33 (2000) 4, S. 571 – 581; kritisch zu Kaßler : Ute Hoffmann, Die NS-»Euthanasie«-Anstalt Bernburg in der DDR. Anmerkungen zu Martin Kaßler, in: DA 33 (2000) 5, S. 803 – 804; Martin Kaßler, Strukturgeschichte versus Mikrohistorie? Replik auf Ute Hoffmann, in: DA 33 (2000) 5, S. 804 – 805. Kaßler, Zwischen Verdrängung und Neubeginn, S. 572. Freiheit, 17. 9. 1947, Angabe nach Ute Hoffmann, Todesursache: »Angina«. Zwangssterilisation und »Euthanasie« in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg, Magdeburg 1996, S. 100. Artikel: Bernburg, Landkreis Bernburg, in: Bundeszentrale politische Bildung (Hg.), Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, von Stefanie Endlich u. a., Bd. II, Bonn 1999, S. 516.

Staatlicher Umgang mit der Vergangenheit

285

»Zunächst wurden auf Grund des Befehls [845] alte und gebrechliche, oder sonstige Schwerkranke, die den Staat nur Geld kosteten, sowie auch Schwerbeschädigte aus dem I. und II. Weltkrieg vernichtet […]. Das Furchtbarste aber, was hier geschah, daß hier [sic!] auch politische, unbequeme und rassenfremde Menschen hier [sic!] ebenfalls vergast und verbrannt wurden […]. Darunter waren auch solche wertvollen Menschen wie Olga Benario, Tilde Klose […].«846

Der erinnerungskulturelle Umbruch in Bernburg kam mit dem Wechsel der Klinikleitung. Seit etwa Mitte der 1970er-Jahre begründeten Mitarbeiter des Krankenhauses eine neue Initiative, die lange Zeit ganz ohne staatliche Unterstützung auskommen musste.847 Federführend war der ärztliche Direktor der psychiatrischen Klinik, Helmut F. Späte (*1936, 1975 – 84). Bei Dienstantritt wurden Späte durch seinen Vorgänger Prof. Dr. Jochen Quandt, der die Vergangenheit in Bernburg im Grunde als überwunden ansah,848 auch die Kellerräumlichkeiten gezeigt. Die ehemalige Gaskammer der Tötungsanstalt war mit einer Brettertür und Vorhängeschloss abgesichert.849 In Spätes Erinnerungen an die damaligen Motive einer lokalen Aufarbeitung heißt es:

845 Gemeint war das von Adolf Hitler auf den 1. September 1939 rückdatierte Ermächtigungsschreiben, das als Grundlage der Euthanasie-Aktionen diente und mit dem indirekt den beteiligten Ärzten Straffreiheit zugesichert wurde. Ein Euthanasie-Befehl war damit nicht verbunden. Auch hatte das Schriftstück, auf privatem Briefpapier Hitlers gedruckt, keine Gesetzeskraft. 846 Zit. nach: Hoffmann, »Das ist wohl ein Stück verdrängt worden …«, S. 61. Beide Frauen waren 1942 aus dem Konzentrationslager Ravensbrück nach Bernburg verbracht und dort mit anderen jüdischen Insassinnen im Rahmen der Aktion 14f13 ermordet worden. 847 Ebd. 848 Ein Jahr zuvor hatte Quandt seine Bezirksnervenklinik für eine Auszeichnung anlässlich des 25. Jahrestages der DDR-Gründung vorgeschlagen. In seiner Begründung verwies er u. a. auf die aus seiner Sicht vorbildliche Aufarbeitung der Vergangenheit durch die Mitarbeiter der Klinik: »Insbesondere trugen die Bemühungen der Mitarbeiter des Bezirkskrankenhauses dazu bei, daß die durch den Faschismus auf der Nervenklinik Bernburg lastende Vergangenheit überwunden wurde und sich die unserem sozialistischen Gesundheitswesen innewohnende humanistische Haltung auch gegenüber Geisteskranken und Geistesschwachen voll durchsetzte.« Prof. Jochen Quandt, Vorschlag des Bezirkskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie Bernburg anlässlich des 25. Jahrestages der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik mit dem »Karl-Marx-Orden« oder dem Orden »Banner der Arbeit«, Bernburg 1974. Kopie, Persönliche Unterlagen Helmut F. Späte, dem Autor freundlicherweise zur Verfügung gestellt bei einem Gespräch am 20. 8. 2008 in Halle. Vgl. auch: Mieke Hagenah, 20 Jahre Gedenkstätte Bernburg. Einige Anmerkungen zum Entstehen der Gedenkstätte, in: Erinnern! Aufgabe, Chance, Herausforderung. Rundbrief Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt 2 (2009), S. 41 – 49, S. 45. 849 Persönliche Mitteilung Helmut Späte, Halle 20. 8. 2008. Laut Angabe der amtierenden Gedenkstättenleiterin in Bernburg war der Raum nicht verschlossen und somit frei zugänglich. Vgl. Ute Hoffmann, Aspekte der gesellschaftlichen Aufarbeitung der NS-»Euthanasie«, in: Westermann / Kühl / Ohnhäuser (Hg.), NS-»Euthanasie« und Erinnerung, S. 67 – 75, hier : S. 73.

286

Erinnerungsgeschehen in der DDR

»Um mit der Last leben zu können, Direktor eines Krankenhauses zu sein, in dem mehrere Tausend Kranke umgebracht worden sind, haben wir seit 1975 systematisch begonnen, das, was noch vorhanden war, zu bewahren und entsprechendes Material zusammenzutragen.«850

Bereits 1976 konnte eine behelfsmäßige Ausstellung zur Psychiatriegeschichte und zur Euthanasie-Anstalt Bernburg erstellt werden, die in der Folgezeit allerdings nur vereinzelt von Bewohnern Bernburgs besucht wurde.851 Den 1982 bevorstehenden 40-jährigen Todestag der in der Bernburger Gaskammer getöteten Kommunistinnen Olga Benario-Prestes und Tilde Klose nahm man zum Anlass, in Bernburg zunächst eine Ausstellung zur Geschichte der Psychiatrie seit 1800 zu konzipieren. Die von der Klinikleitung ursprünglich gewünschte Fokussierung auf die Gruppe der Euthanasie-Opfer wurde durch Erinnerungsinteressen der SED-Kreisleitung und ein daran ausgerichtetes museumspolitisches Kalkül wieder eingeschränkt.852 Die SED-Kreisleitung beharrte darauf, in der Gedenkstätte vorrangig den »antifaschistischen Widerstand« repräsentiert zu sehen, sei doch die Psychiatriegeschichte nur für Fachkreise von Interesse.853 In Vorbereitung der neuen Ausstellung wurde nun die Arbeitstherapie des psychiatrischen Krankenhauses von den Kellerräumen in andere Gebäude auf dem Gelände verlegt.854 War zu der Zeit (1982) der Kenntnisstand der Forschung über die Krankenmorde und auch die Gestaltung der Ausstellung gleichermaßen rudimentär entwickelt, so stieß letztere auf ein steigendes öffentliches Interesse von Schulen, Betrieben und FDJ-Gruppen. Späte bekräftigte 1983 rückblickend auf die anfänglichen Überlegungen zur Gedenkstätte seine Forderung nach einer öffentlichkeitswirksamen Beschäftigung mit der Euthanasie-Vergangenheit. Überzeugt postulierte er : »Die Überwindung des düsteren Erbes der Zeit des Faschismus ist nur dann möglich, wenn sich jeder Bürger aktiv damit auseinandersetzt.«855 Geschickt knüpfte er dazu an den in der DDR geläufigen Begriff der Traditionspflege an und versuchte, ihm einen neuen Sinn zu geben. Bis dahin hatte der Begriff für monoton wiederkehrende Gedenkrituale und Ordensverleihungen gestanden. Der Gedenkort Bernburg rückte Mitte der 1980er-Jahre weiter in das Blickfeld 850 Schreiben Spätes an Dr. Rohland, Generalsekretariat der Medizinisch-Wissenschaftlichen Gesellschaften beim Ministerium für Gesundheitswesen der DDR vom 13. 10. 1986; zit. nach: Hagenah, 20 Jahre Gedenkstätte Bernburg, S. 41. 851 Kaßler, Zwischen Verdrängung und Neubeginn, S. 574. 852 Ebd., S. 575. 853 Hagenah, 20 Jahre Gedenkstätte Bernburg, S. 47. 854 Hoffmann, Todesursache »Angina«, S. 102. 855 Helmut F. Späte, Faschistische Massenvernichtung psychisch Kranker – Traditionspflege als Mahnung, in: Achim Thom und Horst Spaar (Hg.), Medizin im Faschismus. Protokoll, Symposium über das Schicksal der Medizin in der Zeit des Faschismus in Deutschland 1933 – 1945, Berlin 1983, S. 333 – 340, hier: S. 337.

Staatlicher Umgang mit der Vergangenheit

287

von SED-Funktionären. Neben der Bezirksleitung der SED Halle und dem Bezirks-Komitee Antifaschistischer Widerstandskämpfer (KAW) befasste sich auch das Ministerium für Gesundheit mit den konzeptionellen Überlegungen. Diese waren von der Rezeption der westdeutschen NS-Euthanasie-Gedenkstätte Hadamar (s. o. Abschnitt LÄK Hessen) beeinflusst. Man hatte die dortigen Entwicklungen seit der Gründung der Gedenkstätte im Jahr 1983 aufmerksam verfolgt und wollte dem in der DDR in nichts nachstehen.856 Nun nahm sich sogar der Gesundheitsminister Ludwig Mecklinger persönlich der Sache an und schlug 1986 vor, zur Frage der Neugestaltung »in der nunmehr vorgesehenen Dimension nach Abklärung der erforderlichen Voraussetzungen eine Vorlage für das Sekretariat des Zentralkomitees (der SED) vorzubereiten«.857 Den Auftrag erhielt Achim Thom, Direktor des Leipziger Karl-SudhoffInstituts für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften. Sein Entwurf umfasste ein mehrstufiges Entwicklungsmodell für eine Mahn- und Gedenkstätte Bernburg unter Trägerschaft des Ministeriums für Gesundheit. Doch offenbar drängte die Zeit im Wettstreit mit den westdeutschen Projekten. Um zu einer baldigen Umsetzung zu kommen, unterstellte das Ministerium die Gedenkstätte dem Bezirk, der schneller Mittel für die geplanten Sanierungen bereitstellen konnte.858 Die auf Initiative von Klinikmitarbeitern erkämpfte, in ehrenamtlicher Tätigkeit geführte Gedenkstätte859 wurde gegen Ende der 1980er-Jahre vom Rat des Stadtbezirks Halle zu einer staatlich anerkannten Gedenkstätte aufgewertet.860 Mit der Einweihung am 19. September 1989 wurde der neue Ansatz eines Gedenkstättenkonzeptes auch in Form einer erweiterten Ausstellung (unter anderem mit Leihgaben aus West-Berlin) umgesetzt. 1990 kam eine Dokumentation als zweite Ausstellung hinzu.861 Die mit dem Zusammenbruch der DDR verbundene Existenzkrise der Gedenkstätte konnte erst im Jahr 1991 durch einen Förderkreis und durch fachliche und organisatorische Unterstützung verschiedener Einrichtungen im In- und Ausland überwunden werden.862

Vgl. Kaßler, Zwischen Verdrängung und Neubeginn, S. 577. Zit. nach: ebd. Ebd., S. 578. Hierzu zählte auch die heutige Gedenkstättenleiterin Ute Hoffmann, die als Geschichtsstudentin die Bernburger Arbeitsgruppe seit etwa 1982 unterstützte, 1987 als Historikerin vor Ort ihre Arbeit aufnahm und der 1989 die Leitung der Gedenkstätte übertragen wurde. Vgl. Hagenah, 20 Jahre Gedenkstätte Bernburg, S. 47. 860 Hoffmann, Todesursache »Angina«, S. 102. 861 Vgl. ebd. 862 Ebd.

856 857 858 859

288

Erinnerungsgeschehen in der DDR

5.2. Zur Vergegenwärtigung der Vergangenheit in der DDR-Medizin 5.2.1. Psychiatrie-Streit um das Buch »Nazimordaktion T4« Das folgende Beispiel wird aus dem Nachlass und damit aus der Perspektive des Juristen und Publizisten Friedrich Karl Kaul (1906 – 1981) vorgestellt. Kaul, seit den 1960er-Jahren durch Rundfunk- und Fernsehproduktionen der DDR-Öffentlichkeit bekannt, war eine einzigartige Figur in der deutsch-deutschen Rechtsgeschichte. Da er noch vor der Trennung der deutschen Justiz im Jahr 1949 seine Zulassung als Rechtsanwalt erhalten hatte, konnte er in den Folgejahren als DDR-Anwalt vor sämtlichen Gerichten der Bundesrepublik als Strafverteidiger arbeiten. Dort trat er als Vertreter der Nebenklage für DDRBürger auf; unter anderem für Betroffene der NS-Zwangssterilisation und Angehörige von Euthanasie-Opfern. Zugleich stand er in intensivem Kontakt mit Albert Norden vom SED-Politbüro, von dem aus »Anti-BRD-Kampagnen« entworfen wurden.863 Dennoch unterlag er gewissermaßen selbst der geheimen Vergangenheitspolitik des MfS. Ihm wurde nahegelegt, im Rahmen seiner Vertretung der Nebenklage in den westdeutschen Euthanasie-Prozessen die Beteiligung von Medizinern nicht überzubetonen.864 Diese Euthanasie-Prozesse unter Kauls Beteiligung waren bis Ende der 1960er-Jahre abgeschlossen. Offenbar bestand bereits zu dieser Zeit – 1968 war im Berliner Verlag Volk und Gesundheit das Buch »Ärzte in Auschwitz« erschienen865 – eine Absprache mit dem Minister für das Gesundheitswesen, Ludwig Mecklinger, nun ein Buch über den Tatkomplex NS-Euthanasie zu verfassen. Mecklinger maß dem Projekt eine »wertvolle erzieherische Funktion« gegenüber dem ärztlichen Nachwuchs

863 Annette Rosskopf, Strafverteidigung als ideologische Offensive. Das Leben des Rechtsanwalts Friedrich Karl Kaul (1906 – 1981), http://fhi.rg.mpg.de/articles/9808rosskopf.htm (5. 1. 2013). Dies., Friedrich Karl Kaul. Anwalt im geteilten Deutschland (1906 – 1981), Berlin u. a. 2002. Zu Norden siehe: Norbert Podewin, Der Rabbinersohn im Politbüro. Albert Norden – Stationen eines ungewöhnlichen Lebens, Berlin 22003. 864 Man war sich im MfS im Klaren darüber, dass im Zuge der westdeutschen Ermittlungen auch Informationen über für Verbrechen verantwortliche, in der DDR etablierte Mediziner gesammelt wurden. Eine Ausnutzung dieses Beweismaterials durch die Bundesrepublik sollte möglichst vermieden werden. Vgl. Annette Rosskopf, Zum Leben und Wirken des Rechtsanwaltes Friedrich Karl Kaul (1906 – 1981), in: Beiträge zur juristischen Zeitgeschichte der DDR, Berlin 2000, S. 4 – 32, hier : S. 26. 865 Friedrich Karl Kaul, mit Unterstützung von Winfried Matthäus, Ärzte in Auschwitz, Berlin 1968. Im Mai 1971 waren von ca. 10.000 Exemplaren dieses Buches bereits 6.730 verkauft. Der Verlag Volk und Gesundheit wertete diesen Befund als eher mäßigen Erfolg und schrieb dies in erster Linie der begrenzten Zielgruppe zu. Nachlass Friedrich Karl Kaul, BArch Berlin N 2503, Nr. 751, Bl. 42.

Zur Vergegenwärtigung der Vergangenheit in der DDR-Medizin

289

der DDR bei.866 Als im März 1971 Dr. Christian Donalies, Oberarzt des Krankenhauses für Kinderpsychiatrie Hubertushöhe bei Storkow / Mark, in einem persönlichen Anschreiben einige Quellenhinweise zur Durchführung der Krankenmorde speziell im Raum Berlin und Umgebung erbat,867 wies Kaul den Kinder- und Jugendpsychiater zunächst auf die besondere Rolle von Werner Catel im Fall des Kindes Knauer hin, der als Auslöser aller NS-EuthanasieProgramme fungiert habe. Die spezielle Anfrage zur Region Berlin / Brandenburg konnte er nicht zufriedenstellend beantworten. Als Ausgleich übersandte er seinen Schlussvortrag als Nebenkläger im Euthanasie-Prozess vor dem Schwurgericht Frankfurt am Main (1967/1968: gegen Reinhold Vorberg, Gustav Kaufmann, Gerhard Bohne und Dietrich Allers). Auf der Grundlage aller seiner Prozessunterlagen beabsichtige er auch, das Buch zu verfassen. Kaul bedauerte, dieses in Absprache mit Mecklinger geplante Buch wegen genereller Arbeitsüberlastung noch nicht realisiert zu haben. Doch war es ihm ein Anliegen, die Anfrage aus Storkow zu würdigen: »Ich habe Ihr Schreiben […] mit um so größerem Interesse zur Kenntnis genommen, weil im allgemeinen aus Eigeninitiative in den Kreisen Ihrer Kollegen kein besonders starkes Interesse an den als ›Euthanasie‹ getarnten Massenmorden besteht, obwohl diese Massenmordaktion T4 […] das Muster für alle weiteren Massenmordaktionen in den sogenannten Vernichtungslagern Treblinka, Belczek und Sobibor gewesen war.«868

Bereits zwei Wochen später hatte Kaul seinen Entschluss gefestigt, das Buch doch noch, und zwar mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verwirklichen. Aus der Korrespondenz mit dem Verlagsleiter Volk und Gesundheit, Hr. Studzinski,

866 Mecklinger an Kaul, Dezember 1971, Nachlass Kaul, BArch Berlin N 2503, Nr. 751, Bl. 99. 867 Donalies hatte 1968 während seiner Tätigkeit an der Nervenklinik der Humboldt-Universität Berlin (Direktorat: Prof. Karl Leonhard) gemeinsam mit einem Kollegen einen historischen Beitrag veröffentlicht, in dem er die Beteiligung der Charit¦-Klinik an Zwangssterilisationen und Krankenmorden thematisierte. Die Autoren gingen von knapp 2.000 begutachteten Anträgen auf Zwangssterilisation und nicht weniger als 14.400 BerlinBrandenburger Opfern der NS-Euthanasie-Programme aus. Sie mussten sich allerdings dabei auf ältere Literatur stützen, hierbei v. a. auf Christel Roggenbau (Univ.-Nervenklinik Berlin), Über die Krankenbewegung an der Berliner Universitätsnervenklinik in den Jahren 1933 bis 1945, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 1 (1949) 5, S. 119 – 133. Vgl. Heinz A. F. Schulze und Christian Donalies, 100 Jahre Psychiatrie und Neurologie im Rahmen der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie und der Nervenklinik der Charit¦, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität Berlin, Math.-Nat. R. XVII (1968) 1, S. 5 – 10, hier : S. 9. Donalies bemühte sich in den nachfolgenden Monaten, den Kontakt zu Kaul zu halten, und verfolgte vermutlich das Ziel, eine eigene Publikation vorzulegen, die sich aus ähnlichen Gründen wie bei Kaul verzögert haben muss oder gar nicht realisiert werden konnte. So auch die Einschätzung bei: Manukjan, »Euthanasie« – das lange verdrängte Verbrechen, S. 180. 868 Kaul an Donalies, 15. März 1971, Nachlass Kaul, BArch Berlin N 2503, Nr. 751, Bl. 35.

290

Erinnerungsgeschehen in der DDR

geht hervor, welches Ereignis den Anstoß dazu gab. Kaul schilderte eine Gegebenheit, die er während seines eigenen Krankenhausaufenthaltes erlebte: »Ich war 14 Tage bei Prof. Baumann in der Klinik Buch und hielt auf dessen Wunsch vor den Ärzten und Krankenschwestern einen Vortrag. Mir fiel kein besseres Thema ein als die Aktion T 4. Danach konnte ich mich vor Besuchern in meinem Krankenzimmer, die Auskunft über Einzelheiten dieser Dinge haben wollten, kaum retten. So wurde mir klar, welche Lücke eigentlich darin besteht, daß bei uns – im übrigen ist es »drüben« nicht anders – in dieser Beziehung nichts erschienen ist.«869

Kaul deutete bei Übersendung des Expos¦s an, auch mit dem Verlag Neues Berlin in Verhandlungen über das Buchprojekt zu stehen. Studzinski überließ dem Autor die Entscheidung, würde doch der größere Verlag Neues Berlin »auch die gewissermaßen letzte Buchhandlung« erfassen. Aus welchem Grund sich Kaul entschied, im Juni 1971 den Verlagsvertrag mit Studzinski abzuschließen, bleibt offen. Der Arbeitstitel lautete zunächst noch »Mörder im Ärztekittel«. Der zweite Titelentwurf »T4 – Muster des vom Nazismus industriemäßig betriebenen Massenmords« erschien dem Verlag als zu lang, woraufhin Kaul im März 1972 dem Verlag wahlweise »Mord war es!« bzw. »Aktion T4 – es war Mord!« vorschlug. Das Buch erschien 1973 wie geplant im VEB Verlag Volk und Gesundheit und war laut Vertragswerk für »die gesamte Bevölkerung – insbesondere Ärzte« gedacht.870 Kauls Buch provozierte jedoch schon vor dem Erscheinen vehementen Widerstand aus den Reihen der DDR-Psychiatrie. Noch bevor das Manuskript Kauls in den Druck gehen konnte, war seitens des Verlags angedacht worden, ein medizinisches Gutachten einzuholen, um die von Kaul angerissenen »spezifischmedizinische[n] Aspekte im Zusammenhang mit der nazistischen Euthanasie« prüfen zu lassen.871 Kaul hatte als Autor das Vorschlagsrecht für den Gutachter und dachte einen in der Sache Verbündeten ausgewählt zu haben: den Neurologen Prof. Dr. Dagobert Müller, von 1962 – 1972 Leiter der Neuroradiologischen Abteilung der Charit¦. Kaul war ihm begegnet, als er vor Ärzten der Berliner Charit¦ einen Vortrag zur Aktion T4 gehalten hatte. Dabei war ihm besonders in Erinnerung geblieben, dass der ihm »damals nicht persönlich bekannte Genosse Dr. Dagobert Müller in kämpferischer Weise gegen seinen Chef Prof. Leonhard, der für ein gewisses Verständnis der Massenmordaktion gegenüber plädierte, auftrat.«872 Sollte sich Müller gegen die Position des damaligen Leiters der Nerven869 Kaul an Studzinski, VEB Verlag Volk und Gesundheit, 16. 4. 1971, Nachlass Kaul, BArch Berlin N 2503, Nr. 751, Bl. 37. 870 Verlagsvertrag, 2. 6. 1971, Nachlass Kaul, BArch Berlin, N 2503, Nr. 751, Bl. 1 – 4. Friedrich Karl Kaul, Nazimordaktion T4. Ein Bericht über die erste industriemäßig durchgeführte Mordaktion des Naziregimes, Berlin 1973. 871 Studzinski an Kaul, 11. 5. 1971, BArch Berlin, Nachlass Kaul, N 2503, Nr. 751, Bl. 41. 872 Kaul an Ministerium für Gesundheitswesen, Minister Mecklinger, 2. 12. 1971, BArch Berlin, Nachlass Kaul, N 2503, Nr. 751, Bl. 96.

Zur Vergegenwärtigung der Vergangenheit in der DDR-Medizin

291

klinik an der Charit¦ ausgesprochen haben, so kam er in seinem Gutachten über Kauls Buch zu einer grundlegend anderen Einschätzung. In dem Gutachten spiegelt sich der zeitgenössische Diskurs unter Medizinern über den rechtfertigenden oder kritischen Umgang mit belasteten Kollegen in beiden deutschen Staaten. Denn Müller reagierte auch auf die von Kaul thematisierte Beteiligung von Werner Catel am Reichsausschussverfahren. Kaul hatte eine 30-seitige Darstellung der NS-Kindereuthanasie an den Anfang seines Buches gestellt und darin den in der Bundesrepublik lebenden Kinderarzt quasi zum Prototyp eines unbescholtenen Euthanasie-Täters erklärt.873 Müller erklärte in seinem Gutachten: »Während der juristische Autor einen primär aus der Gesellschaft stammenden Konflikt zur Kenntnis und zur Verbesserung der Urteilsfähigkeit in der Gesellschaft […] publizieren kann, ist dies dem Mediziner grundsätzlich verwehrt […]. Seine ›Fälle‹ aus der Psychiatrie z. B. können nicht öffentlich dargelegt werden und Entscheidungen, welche von außen an ihn herangetragen oder verlangt werden, sind nicht immer als seine Individualentscheidung zu werten oder aufzufassen, sondern häufig unter dem Druck oder unter gewissen selektiven Bedingungen entstanden. Der Arzt befindet sich daher grundsätzlich in einer anderen Situation. Im übrigen hat eine Aufwertung des Ansehens von Catel zu seinem 60. Geburtstag stattgefunden. Professor Dost, Direktor der Universitäts-Kinderklinik der Charit¦, verfaßte in der DDR-Zeitschrift ›Kinderärztliche Praxis‹ eine Laudatio für Catel als Kinderarzt. […] Sicherlich würden Chirurgen, Internisten und alle, die mit operativen Maßnahmen zu tun haben, sich in ein psychologisch gleiches Licht [wie W. Catel, S.T.] gerückt sehen, was von äußerster Fragwürdigkeit im Rahmen unseres Gesundheitswesens wäre.«874

Die Stellungnahme Müllers lässt sich dahingehend deuten, dass er einerseits eine neue medizinethische und andererseits auch eine vergangenheitspolitische Diskussion innerhalb der Ärzteschaft der DDR befürchtete. Aus diesem Grund band er seine gutachterliche Zustimmung zu dem Buch auch an die Bedingung, der Gesundheitsminister möge persönlich in einem Vorwort »die Stellung der Pädiater und Psychiater in der DDR eindeutig klarstellen«; d. h. die DDR-Medizin deutlich von den Verbrechen der NS-Medizin abgrenzen. »Das Vertrauen in das sozialistische Gesundheitswesen und die Fachbereiche würde erschüttert werden und in der DDR, besonders in Fachkreisen, aber auch im breiteren 873 Vgl. Kaul, Nazimordaktion T4. Am Ende seines Buches kam Kaul auf Catel zurück, der für ihn zum Sinnbild eines Mörders im Arztkittel geworden war und der für den Missbrauch eines guten Euthanasiegedankens verantwortlich war : »Es war nicht ›Euthanasie‹, an der sich Catel maßgeblich beteiligt hatte. Es war schlichtweg Mord! Das muß umso mehr klargestellt werden, als der wirklichen Euthanasie nichts Deliktisches anhaftet. Demgegenüber bleibt die ›Sterbehilfe‹ mit gezielter (beabsichtigter) Lebensverkürzung […] objektiv immer eine strafrechtlich zu wertende Verhaltensweise.« Ebd. 874 Paraphrasierung Kaul »Aus dem Gutachten Prof. Dr. Dagobert Müller«, Kaul an Mecklinger, 2. 12. 1971, BArch Berlin, Nachlass Kaul, N 2503, Nr. 751, Bl. 95 – 97.

292

Erinnerungsgeschehen in der DDR

Publikum wäre kein Echo zu erwarten. Angebracht jedoch wäre es [das Buch] […] besonders für die BRD.«875

Warum sollte aber »kein Echo« zu erwarten sein, wenn das Buch Erschütterungen in der DDR-Medizin hervorrufen würde? Befürchtete Müller über eine doch zu erwartende, heftige Diskussion hinaus nicht vielmehr einen Ansehensverlust gerade wegen personeller, konzeptioneller oder struktureller Kontinuitätslinien in der DDR-Psychiatrie, die durch neue Debatten offenbar werden könnten? Weder der Verlagsleiter Studzinski noch der Minister für das Gesundheitswesen, Ludwig Mecklinger, der in der Tat auf Kauls Wunsch hin das Vorwort verfassen sollte, konnten und wollten der widersprüchlichen Argumentation Müllers folgen. Studzinski erkannte in der erwähnten Laudatio durch den Pädiater Dost876 keine Rehabilitierung von Werner Catel. Er hielt den Abdruck der Laudatio, der immerhin schon 17 Jahre zurücklag, für einen »groben Fehler« der Herausgeber und des Verlags (VEB Georg Thieme Leipzig). Letzterer habe aber damals noch nichts über die Beteiligung Catels an den medizinischen Verbrechen während des Krieges gewusst.877 Gesundheitsminister Mecklinger griff darüber hinaus den Aspekt eines möglichen Kontinuitätsvorwurfes auf. Er war überzeugt, »daß Genosse Müller in keiner Weise der tatsächlich vollzogenen inneren Wandlung unserer Ärzte, insbesondere unserer Pädiater und Psychiater Rechnung trägt, bei denen Dein Buch keinesfalls negative Emotionen auslösen wird«.878

Die Auseinandersetzung um das erste Gutachten Müllers regte den Gesundheitsminister dazu an, in seinem Vorwort für das Buch den inneren Wandlungsprozess der Medizin in der DDR zu betonen.879 Rückblickend stelle sich, so Mecklinger, die Medizin in der DDR die Frage, wie man es erklären könne, dass Ärzte »wie Catel u. a.« zu Mördern wurden. Die Ursachen dafür (z. B. die lange ideologische Vorbereitung der Ärzte im imperialistischen Staat, »Rassenhygiene u. a.«, der ärztliche Glaube, im »faschistischen Staat« von der persönlichen Verantwortung entbunden zu sein) seien in der DDR »ausgerottet«. Dennoch schien das Buch für Mecklinger keineswegs ungeeignet für die DDR zu sein. Es sollte einerseits als Informationsmöglichkeit über die »Verbrechensgeschichte im deutschen Faschismus« und andererseits als Grundlage dafür dienen, die großen Missstände in der bundesdeutschen Medizin umso deutlicher erkennen zu können. Sei es etwa ein Zufall, so fragte Mecklinger, 875 Ebd. 876 Friedrich Hartmut Dost, Gedenktage. Professor Dr. W. Catel zum 60. Geburtstag, in: Kinderärztliche Praxis 22 (1954) 6, S. 241 – 243. 877 Studzinski an Kaul, 9. 12. 1971, Nachlass Kaul, N 2503, Nr. 751, B. 98. 878 Mecklinger an Kaul, Dezember 1971, BArch Berlin, Nachlass Kaul, N 2503, Nr. 751, Bl. 99 f. 879 So bereits im Vorabdruck, in: Humanitas 13 (1973), S. 9 (s. u.).

Zur Vergegenwärtigung der Vergangenheit in der DDR-Medizin

293

»daß viele Eltern ihre Kinder mit angeborenen bzw. erworbenen Schädigungen keinem Arzt und keiner Fürsorge vorstellen, […] wenn Männer wie Catel ungestraft als Hochschullehrer und Klinik-Direktoren fungieren konnten und ihre Auffassungen von ›unwertem Leben‹ öffentlich weiter propagieren dürfen«.880

Mecklinger stellte die NS-Kindereuthanasie damit in den Kontext der nationalsozialistischen Gesundheits- und Bevölkerungspolitik und prangerte am Beispiel Catels die personellen und ideellen Kontinuitäten in der Bundesrepublik an. Der westdeutsche Streit um Werner Catel und dessen erste beiden Rechtfertigungsschriften war auf Ministerialebene der DDR aufmerksam verfolgt worden. Mit dem Buch »Nazimordaktion T4« nutzte man diese Angriffsfläche und zielte darauf ab, die Legitimität der DDR als besserer deutscher Gesellschaftsentwurf auch vergangenheitspolitisch zu bekräftigen. Infolge des für Kaul überraschend ablehnenden Votums des Universitätspsychiaters Müller fasste man den Entschluss, eine zweite medizinische Stellungnahme einzuholen. Welcher der beteiligten Akteure vorschlug, einen zweiten Gutachter zu bestellen, ist aus dem Nachlass Kauls nicht zu eruieren. Die Wahl fiel auf den ehemaligen Direktor der Universitäts-Nervenklinik in Greifswald, Hanns Schwarz (1898 – 1977).881 Ob hierbei persönliche Kontakte z. B. zu Albert Norden bestanden, wäre zu klären. Schwarz, ein forensischer Psychiater und akademischer Schüler von Karl Bonhoeffer, hatte sich als einer der ersten seiner Disziplin seit 1948 kritisch mit den Medizin- und speziell den Psychiatrieverbrechen beschäftigt.882 Als ärztlicher Sachverständiger setzte er sich in mehreren Entschädigungsverfahren für die Betroffenen der Zwangssterilisation ein.883 Unmittelbar nach dem Kriegsende war Schwarz noch der

880 Vorwort von Prof. Dr. med. habil. Mecklinger, in: Kaul, Nazimordaktion T4. 881 Schwarz war seit 1928 mit der Tochter eines Rabbiners verheiratet. 1941 wurde ihm die Berufsausübung untersagt. Ein mehrere Jahre laufender Prozess über die Frage seiner eigenen ›arischen‹ Abstammung – die Kassenärztliche Vereinigung hatte ihn 1938 als Jude eingestuft – ging überraschend zu seinen Gunsten aus. Mithilfe der Interventionen von Karl Bonhoeffer sowie eines erstellten Abstammungsgutachtens von Eugen Fischer am Berliner KWI für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik, der Schwarz dessen Herkunft »deutschen oder artverwandten Blutes« bescheinigte, konnte Schwarz der Verfolgung entgehen. Seine Frau und er überlebten das Kriegsende. Von 1943 bis 1945 arbeitete er an einer Kindernervenklinik in München-Schwabing, bis er 1946/47 zunächst als außerordentlicher, dann als ordentlicher Professor an die Universität Greifswald berufen wurde. Vgl. Siegfried Lietz, Hanns Schwarz – Als Arzt im Spannungsfeld von Wissenschaft, Kultur und Politik, in: Wolfgang Fischer und Heinz-Peter Schmiedebach (Hg.), Die Greifswalder Universitäts-Nervenklinik unter dem Direktorium von Hanns Schwarz, 1946 – 1965. Symposium zur 100. Wiederkehr des Geburtstages von Hanns Schwarz am 3. 7. 1998, Greifswald 1999, S. 16 – 29, hier u. a.: S. 21. 882 Arne Pfau, Hanns Schwarz und seine Auseinandersetzung mit Zwangssterilisation und »Euthanasie« während der Zeit des Nationalsozialismus, in: ebd., S. 48 – 59. 883 Vgl. z. B. Hanns Schwarz, Ein Gutachten über die ärztliche Tätigkeit im sog. Erbgesund-

294

Erinnerungsgeschehen in der DDR

Überzeugung, das Gros der deutschen Ärzteschaft sei gegen die EuthanasieMaßnahmen gewesen, wenngleich er Belege des Widerspruchs durch namhafte ärztliche Vertreter vermisse.884 Schwarz übernahm später die Betreuung des Dissertationsvorhabens des Mediziners Peter Reumschüssel, das wohl seine eigenen Vorarbeiten zu der Thematik erweitern sollte. Reumschüssels Arbeit mit dem Titel »Euthanasiepublikationen in Deutschland – Eine kritische Analyse als Beitrag zur Geschichte der Euthanasieverbrechen« wurde 1968 abgeschlossen und stellte einen ernst zu nehmenden Versuch dar, die Ideen- und Realgeschichte der Euthanasie im 20. Jahrhundert bibliographisch zu erschließen.885 Es ist davon auszugehen, dass Kaul und Mecklinger über diese Bemühungen des Greifswalder Kollegen Schwarz im Bilde waren und ihn deshalb ansprachen. Schwarz stimmte einer Stellungnahme zu Kauls Manuskript zu und zeigte sich gegenüber Kaul von dem Buch sehr beeindruckt.886 Nun sollte das Buch ohne weitere Komplikationen erscheinen. Doch noch kurz vor Auslieferung bekamen Kaul und der Verleger den nächsten Widerstand zu spüren. Auslöser war ein Vorabdruck in der Zeitschrift Humanitas. Mehrere T4-Tötungsanstalten, unter anderem jene in Brandenburg a. d. Havel, wurden darin ebenso namentlich erwähnt wie die Kindertötungsstation des Reichsausschusses (Kinderfachabteilung) in Brandenburg-Görden.887 In unmittelbarer Reaktion darauf gingen bei Kaul und dem Verlag Volk und Gesundheit Beschwerdebriefe des ärztlichen Direktors der Bezirksnervenklinik Brandenburg (Görden) ein. Dipl.-Jurist Dr. med. Siegfried Schirmer, ein Schüler Karl Leonhards mit sozialpsychiatrischen Ambitionen,888 warf Kaul und dem Verlag vor,

884

885

886 887 888

heitsverfahren (Mediz.-jurist. Grenzfragen unter besonderer Berücksichtigung der Psychiatrie und Neurologie, Heft 1), Halle 1950. Hanns Schwarz, Das Euthanasieproblem im Blickfeld des Arztes, in: Urania. Monatsschrift über Natur und Gesellschaft 11 (1948) 1, S. 11 – 18, hier: S. 15. Das Wissen über die Realgeschichte der Krankenmorde bezog Schwarz aus zwei Dokumentensammlungen einer Zeitschrift: N.N., Dokumente zu den Geisteskranken-Morden, sowie: N.N., Weitere Dokumente zu den Geisteskranken-Morden. Stimmen des Widerspruchs und des Ausweichens, in: Die Wandlung 2/3 (1947), S. 160 – 174 u. 251 – 267. Darüber hinaus erhielt er von einem Mitarbeiter, der 1946 eine der ehemaligen Tötungsanstalten (welche, bleibt ungenannt) besichtigt hatte, eine Skizze der dortigen Räumlichkeiten. So konnte Schwarz eine Schilderung des Tötungsablaufs liefern. Reumschüssel zog nicht nur die wissenschaftlichen Arbeiten zum Euthanasie-Diskurs der Zwischenkriegszeit heran, sondern stützte die Darstellung der Realgeschichte der NS-Euthanasie auf die Prozessunterlagen des Nürnberger und Dresdener Ärzteprozesses. Alle Angaben nach: Manukjan, »Euthanasie« – das lange verdrängte Verbrechen, S. 179 u. S. 181. Schwarz an Kaul, 3. 1. 1972, BArch Berlin, Nachlass Kaul, N 2503, Nr. 751, Bl. 103. Es war nicht »Euthanasie« – es war schlechthin Mord! Vorabdruck aus dem in Kürze erscheinenden neuen Buch von Prof. Dr. F. K. Kaul »Nazimordaktion T4«, in: Humanitas 13 (1973), S. 9. BArch Berlin, Nachlass Kaul, N 2503, Nr. 752, Bl. 1. Vgl. Wolfgang Rose, mit einem Beitrag von Annette Weinke, Anstaltspsychiatrie in der

Zur Vergegenwärtigung der Vergangenheit in der DDR-Medizin

295

die ehemalige Landesanstalt Brandenburg-Görden mit der Gasmordanstalt im alten Zuchthaus der Stadt Brandenburg undifferenziert gleichgesetzt zu haben. Dies entspräche »nicht der Sorgfalt, die der Historiker beachten«889 müsse. Wenn überhaupt, dann bestand bei ungenauem Lesen eine Verwechslungsgefahr durch den Vorabdruck. Kaul ließ dort die Zeugenaussage des Chemikers Dr. August Becker wiedergeben, in der jener den ersten Testdurchlauf in der Gaskammer im alten Zuchthaus Brandenburg beschrieben und in diesem Zusammenhang von der »Heilanstalt Brandenburg« gesprochen hatte. Energisch verlangte Schirmer einen berichtigenden Nachdruck in der Humanitas sowie eine Korrektur des Buches noch vor dessen Auslieferung: »Der Leser und damit die gesamte Öffentlichkeit innerhalb und außerhalb der DDR muß zwangsläufig zu der Erkenntnis kommen, daß diese Tötungsmaschinerie in der heutigen Bezirksnervenklinik Brandenburg ablief. […] Die Mitarbeiter der Bezirksnervenklinik Brandenburg sind stolz darauf, daß ihre große Einrichtung nicht an der Euthanasieaktion beteiligt war. Sie können es nicht zulassen, daß durch eine grob entstellende Geschichtsschreibung ihr Ruf noch nachträglich verunglimpft wird.«890

Krasser konnte der Kontrast zwischen entlastender Selbstkonstruktion und vergangener Wirklichkeit nicht sein, war doch Brandenburg-Görden während des Krieges unter der Leitung des Kinder- und Jugendpsychiaters Hans Heinze ein Zentrum der Krankenmorde gewesen. Heinze hatte die Kindereuthanasie sowohl als Gutachter als auch mit der ersten belegbaren Kinderfachabteilung unter der Zuständigkeit von Dr. Friedericke Pusch betrieben. Darüber hinaus selektierte Heinze Patienten als Gutachter in der Aktion T4. BrandenburgGörden fungierte als Zwischenanstalt im T4-System. Aus seiner Anstalt gingen mehrere Kindertransporte in die Gaskammer in Brandenburg. Diese Kinder wurden für Zwecke der wissenschaftlichen Auswertung (s. o. Abschnitt KWI für Hirnforschung) gezielt ausgewählt, getötet und seziert. Zudem starben vor Ort Patienten an Hunger und Unterversorgung. Mit seinem Angriff gegen Kaul kolportierte Schirmer auch den Topos »Altes Zuchthaus Brandenburg / Havel« (A. Weinke), den schon seine Vorgängerin in Brandenburg-Görden, die reformorientierte Psychiaterin Dr. Liselotte Eichler, vorgebracht hatte. Ihr war im Oktober 1966 über den Rat der Stadt Brandenburg eine Anfrage des Landgerichts Frankfurt am Main zugeleitet worden, um den Kenntnisstand über die Vorgänge in der Landesanstalt Brandenburg-Görden

DDR. Die brandenburgischen Kliniken zwischen 1945 – 1990, Berlin-Brandenburg 2005, S. 149 ff. 889 Schirmer an Kaul, 29. 6. 1973, BArch Berlin Nachlass Kaul, N 2503, Nr. 752, Bl. 3. Die Vorgänge um D. Müller und S. Schirmer fanden eine erste kurze Erwähnung bei: Manukjan, »Euthanasie« – das lange verdrängte Verbrechen, S. 180. 890 Ebd., Bl. 2.

296

Erinnerungsgeschehen in der DDR

während des Zweiten Weltkrieges wiederzugeben. Ohne auf die Geschehnisse in Görden konkret einzugehen, erklärte sie: »Wie Ihnen bekannt ist, nannte sich das jetzige Bezirkskrankenhaus BrandenburgGörden ›Brandenburgische Landesanstalt Görden Brandenburg-Havel‹. Die Heil- und Pflegeanstalt Brandenburg / Havel hat mit der ehemaligen Brandenburgischen Landesanstalt nichts zu tun, und war lediglich eine fingierte Dienststelle, die Euthanasie an Geisteskranken vornahm. Wie ich aus der letzten Nummern [sic!] der Zeitschrift ›Für Dich‹ entnahm, wurden dort 8.000 Geisteskranke vergast.«891

Schirmer wiederum, der erst eineinhalb Jahre vor der Debatte mit Kaul die Direktorenstelle von der pensionierten Liselotte Eichler übernommen hatte (1. 1. 1972), fühlte sich verpflichtet, sich schützend vor seine Angestellten, insbesondere vor die älteren Mitarbeiter zu stellen. Die Tatsache, so argumentierte er gegenüber Kaul, dass die damalige Gaskammer nicht in der großen Anstalt auf dem Görden, sondern im alten Zuchthaus in der Stadt Brandenburg installiert worden war, sei doch ein Beweis dafür, dass die »Faschisten« die Gördener Angestellten als »unzuverlässig« für die Euthanasie-Aktionen angesehen hätten.892 Aus dieser Bemerkung geht deutlich die Aufregung der älteren Gördener Klinikmitarbeiter hervor, denen in den Nachkriegsjahren das Misstrauen aus der Bevölkerung direkt entgegenschlug. Aus der Perspektive des neuen Klinikleiters Schirmer verband sich möglicherweise die Loyalitätsbekundung gegenüber dem ihm unterstellten Personal taktisch mit dem Kalkül, die Umsetzung des von ihm avisierten Reformkonzepts der »Therapeutischen Gemeinschaft« (in Anlehnung an das Konzept des US-amerikanischen Psychiaters Maxwell Jones) voranzubringen. Mit diesem psychiatrischen Konzept wollte er neue Impulse in der seit den »Rodewischer Thesen« (1963) gestrandeten Reformpsychiatriebewegung der DDR setzen.893 Und ohne Rückhalt in der eigenen Belegschaft war ein Aufbrechen der verkrusteten Strukturen der Psychiatrie nicht durchsetzbar. Der Streit zwischen Kaul und dem Brandenburger Klinikleiter wurde sehr emotional ausgetragen. Ein enger Mitarbeiter Kauls, Winfried Matthäus, erinnerte sich bei dieser Gegebenheit, schon einmal im Zuge einer früheren Anfrage an die Brandenburger Klinik ein Rückschreiben »in unverschämtem Ton« erhalten zu haben. Schirmer habe damals darauf hingewiesen, »daß die von ihm 891 Zit. nach: Annette Weinke, Nachkriegsbiographien brandenburgischer »Euthanasie«-Ärzte und Sterilisationsexperten. Kontinuitäten und Brüche, in: Rose, Anstaltspsychiatrie in der DDR, S. 179 – 243, hier : S. 234. 892 Schirmer an Kaul, 10. 8. 1973, BArch Berlin Nachlass Kaul, N 2503, Nr. 751, Bl. 175 f. 893 Während seiner Direktorenzeit am Krankenhaus für Neurologie und Psychiatrie Teupitz (1967 – 1971) waren seine Reformversuche gescheitert; vor allem infolge mangelnder Ressourcen und fehlender Einsicht bei zentralen Gesundheitsbehörden der DDR. Vgl. Rose, Anstaltspsychiatrie in der DDR, S. 149 ff. und 162 ff.

Zur Vergegenwärtigung der Vergangenheit in der DDR-Medizin

297

geleitete Institution jetzt einen anderen Namen führe – nämlich Bezirksnervenklinik Brandenburg – und insofern nichts mehr mit der alten Anstalt gemein habe«.894 Die erneute Kritik Schirmers schätzte Matthäus als »nicht nur idiotisch, sondern auch in höchstem Maße ahistorisch« ein: »Schirmer scheint nicht – wie die Gerichte der DDR in einschlägigen Verfahren und wir in unseren Veröffentlichungen – die Vergangenheit bewältigen zu wollen, sondern sie vielmehr streichen zu wollen.«895

Kaul reagierte in einem ersten Schreiben an Schirmer zunächst betont sachlich, kündigte eine ausführliche Stellungnahme an und übersandte ihm ein BuchExemplar, das zu dem Zeitpunkt bereits vorlag.896 Noch im selben Monat verfasste Kaul eine vierseitige Erwiderung, mit der er die Vorwürfe Schirmers abschmetterte und sich weitere Schritte vorbehielt. Der Streit um das Buch zog sich hin, bis Schirmer das ganze Buch selbst gelesen hatte und teilweise einlenkte. Er forderte schließlich nur noch eine nachträgliche Korrektur in der Humanitas, die auch eine viel größere Leserschaft habe als das Buch selbst. Offenbar wurde Schirmer im Verlauf des Streits mit Kaul bewusst, welche Schlüsse aus seiner Argumentation gezogen werden konnten, und er bemühte sich, einen Schaden an seinem eigenen Ansehen und an dem seiner Klinik abzuwenden: »Mir geht es keineswegs darum, die historische Schuld der deutschen Psychiater am ›Euthanasie‹-Mord zu verringern. Daß die Auswahl der Opfer in Brandenburg-Görden ebenso wie in anderen psychiatrischen Einrichtungen vorkam, bleibt unbestritten.«897

Kaul befremdete, neben der persönlich empfundenen Beleidigung, noch immer die Befürchtung eines Kontinuitätsvorwurfes am meisten: »Soll ich Ihnen noch einmal erklären, daß Institutionen unseres sozialistischen Staates auch nicht entfernt in einen Identitätskonnex zu Anstalten zu setzen sind, die in der Na894 Matthäus an Kaul, 5. 7. 1973, BArch Berlin Nachlass Kaul, N 2503, Nr. 751, Bl. 157. 895 Ebd.; Unterstreichungen im Original, Matthäus hatte gemeinsam mit Kaul das Buch »Ärzte in Auschwitz« sowie den vierten Band zur Geschichte des Reichsgerichts (1933 – 1945), erschienen 1971 im Akademie-Verlag Berlin, bearbeitet. Zum Zeitpunkt des SchirmerStreits bereitete er seine Dissertation in zwei Bänden für den Druck vor. Vgl. Winfried Matthäus, Die industriemäßig betriebene Menschenvernichtung im Nazisystem als nach dem internationalen Strafrecht zu verfolgendes Delikt eigener Art. Die Grundlagen ihrer Entstehung, ihrer Entwicklung und ihrer Absicherung durch die Nazi-Justiz, jur. Diss. A, Humboldt-Univ. Berlin, 1974. Als Kaul 1981 starb, übernahm Matthäus gemeinsam mit dem Kollegen Dr. Ullmann Kauls Kanzlei. Dabei setzte er auch die intensive Kooperation mit dem MfS der DDR fort. Vgl. Siegfried Sukut u. a. (Hg.), Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte, Struktur und Methoden – MfS-Handbuch –, hier Anm. 26. http://www.bstu. bund.de/DE/Wissen/Publikationen/Publikationen/handbuch_rechtsstelle_knabe. pdf ?__blob=publicationFile (5. 1. 2013). 896 Kaul an Schirmer, 2. 7. 1973, BArch Berlin Nachlass Kaul, N 2503, Nr. 751, Bl. 148 f. 897 Schirmer an Kaul, 10. 8. 1973, BArch Berlin Nachlass Kaul, N 2503, Nr. 751, Bl. 175.

298

Erinnerungsgeschehen in der DDR

zizeit bestanden?«898 Mit einer Weiterleitung der Korrespondenz an den Minister Mecklinger erklärte Kaul die Auseinandersetzung für beendet. Abschließend empfahl er dem Brandenburger Klinikleiter, sein Buch der dortigen Bibliothek »einzuverleiben, damit auch der geringste Zweifel an dem Bestehen einer abgrundtiefen Zäsur zwischen psychiatrischer Vergangenheit und Gegenwart in Brandenburg-Görden beseitigt wird«.899 Die geradezu autoritäre Vehemenz, mit der Kaul auf Schirmer reagierte, legt die Vermutung nahe, dass er weit mehr über die langfristigen personellen Kontinuitäten in der DDR-Psychiatrie wusste, als er zugab, und an dieser Stelle indirekt mit den Folgen der von ihm selbst mitgetragenen Vergangenheitspolitik der DDR konfrontiert wurde. Bestätigung findet diese Deutung in den persönlichen Erinnerungen von Ulrich Trenckmann, der Ende der 1970er-Jahre als Assistenzarzt bei Klaus Weise (s. u.) in Leipzig arbeitete. In einem persönlichen Gespräch erbat Treckmann 1978 bei Kaul Unterstützung für den Zugang zu Archiven. Kaul lehnte dieses Anliegen mit der Begründung ab, die DDR könne kein Interesse daran haben, alle Unterlagen zur Zeit des Nationalsozialismus offenzulegen, weil man nach 1945 mit den Gleichen habe weitermachen müssen;900 ein direktes Eingeständnis einer Entschuldung belasteter Mediziner vor dem Hintergrund des Ärztemangels in der DDR. In all den Monaten hatte Friedrich Karl Kaul eine Entschuldigung Schirmers erwartet. Ob es eine derartige Geste zu einem späteren Zeitpunkt gab, ist nicht überliefert. Jedoch muss von einer beiderseitigen Annäherung ausgegangen werden. Denn Kaul erhielt von Schirmer eine Einladung nach Brandenburg, um im Rahmen einer jährlichen Schwesternfortbildung einen Vortrag über die NSEuthanasie zu halten. Mehrere Teilnehmer nutzten diese Gelegenheit, sich ein Autogramm von Kaul geben zu lassen; so auch der junge Sozialpsychiater Helmut F. Späte, dem 1975 die Leitung der Bezirksnervenklinik Bernburg übertragen wurde.901 898 Kaul an Schirmer, 16. 8. 1973, BArch Berlin Nachlass Kaul, N 2503, Nr. 752, Bl. 20. 899 Ebd., Bl. 21. 900 Ulrich Trenckmann, Nach Hadamar. Zur Rezeption der NS-Vergangenheit durch die deutsche Psychiatrie, in: Kersting / Teppe / Walter (Hg.), Nach Hadamar, S. 273 – 286, hier : S. 283. 901 Persönliche Mitteilung Helmut Späte, Halle 20. 8. 2008. Späte erinnerte sich, bei Schirmer diesbezüglich einen Lernprozess beobachtet zu haben, woraufhin auch die Einladung an Kaul ausgesprochen worden sei. An der Veranstaltung habe auch der spätere Direktor des Leipziger Sudhoff-Instituts für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Achim Thom, teilgenommen. Bei der erwähnten Veranstaltung dürfte es sich um die 1975 initiierten, DDR-weiten Arbeitstagungen der medizinischen Fachschulkräfte in der Neurologie und Psychiatrie, »Brandenburger Schwesterntag«, gehandelt haben. Vgl. Rose, Anstaltspsychiatrie in der DDR, S. 165 f. In einer Zeitzeugenbefragung zur DDR-Psychiatrie, u. a. mit Achim Thom und Klaus Weise, findet die Fortbildungsveranstaltung als Forum für Vorträge und Diskussionen zu einzelnen Aspekten der NS-Psychiatrie Erwäh-

Zur Vergegenwärtigung der Vergangenheit in der DDR-Medizin

299

Späte musste sich in Bernburg auf eigene Art der Euthanasie-Vergangenheit stellen und ging dort, im Vergleich zu seinem früheren Chef Schirmer, einen geradezu konträren Weg der »Bewältigung«. Was Schirmer und Späte zunächst in Brandenburg, aber auch in nachfolgenden Jahren inhaltlich verband, war der Versuch, Reformen innerhalb der DDR-Psychiatrie voranzutreiben. Beide Psychiater gehörten, gemeinsam mit dem stellvertretenden Direktor von Brandenburg-Görden, Karl Müller, zu den Initiatoren und Unterzeichnern der »Brandenburger Thesen« von 1974, mit denen sie die Umsetzung des Prinzips der »offenen Tür« und das demokratisch ausgerichtete Konzept der »Therapeutischen Gemeinschaft« noch einmal innerhalb der Psychiatrie anregen wollten.902 Schirmer konnte hierfür auch seine Arbeit als Redaktionssekretär (spätestens seit 1972) für »Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie« nutzen. Es handelte sich dabei um das einzige regelmäßig erscheinende Publikationsorgan der DDR-Psychiatrie.903 Deren Herausgeber hatten bei Gründung der Zeitschrift im Jahr 1949 einen Zusammenhang zwischen NSEuthanasie und dem zerstörten Vertrauen der Öffentlichkeit gegenüber der Psychiatrie gesehen. Aus dieser Beobachtung leiteten sie die Aufgabe der Zeitschrift ab: »Die deutsche Psychiatrie hat begreiflicherweise durch diese Vorgänge einen schweren Schaden an Vertrauen im In- und Ausland genommen. Wenn wir selbst auch wissen, daß es eine unzutreffende Verallgemeinerung ist, eine solche Entartung des ärztlichen Denkens einzelner fanatisierter führender nationalsozialistischer Ärzte dem deutschen Psychiater generell zu unterstellen, so wird es Zeit und Anstrengung erfordern, das Vertrauen der Bevölkerung und das Ansehen, das der deutsche Nervenarzt in

nung. Vgl. Oliver Frey, Psychiatrie und Gesellschaft am Beispiel der DDR, Magister-Arbeit TU Berlin 1999, S. 107. 902 Siegfried Schirmer, Karl Müller und Helmut F. Späte, Neun Thesen zur Therapeutischen Gemeinschaft, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 26 (1974) 1, S. 50 – 54. Die Initiatoren nahmen sprachlich und inhaltlich einen älteren, durchaus gesamtgesellschaftlichen Reformimpuls auf, wie er 1963 in den »Rodewischer Thesen« formuliert worden war. Dieser hatte aber in der DDR-Psychiatrie aus verschiedenen Gründen keine nachhaltige Breitenwirkung entfalten können. In den Brandenburger Thesen wurde nun nicht mehr die Reform der Gesellschaft, sondern nur noch der Reformansatz innerhalb der Psychiatrie vertreten. Doch wie sollten Patienten mit der Diskrepanz von basisdemokratischen Psychiatriekonzepten und autoritärer Gesellschaftsform der DDR, vor allem nach ihrer Entlassung umgehen? Vgl. Jörg Schulz, Die Rodewischer Thesen von 1963 – ein Versuch zur Reform der DDR-Psychiatrie, in: Kersting (Hg.), Psychiatriereform als Gesellschaftsreform, S. 87 – 100; Sabine Hanrath, Strukturkrise und Reformbeginn. Die Anstaltspsychiatrie in der DDR und der Bundesrepublik bis zu den 60er Jahren, in: ebd., S. 31 – 62; Frey, Psychiatrie und Gesellschaft am Beispiel der DDR. 903 Rose, Anstaltspsychiatrie in der DDR, S. 149. Schirmer rezensierte in der Zeitschrift 1987 wohlwollend das 1983 im Fischer Verlag erschienene Standardwerk »›Euthanasie‹ im NSStaat« von Ernst Klee.

300

Erinnerungsgeschehen in der DDR

wissenschaftlicher und humanitärer Hinsicht vor 1933 gehabt hat, wiederherzustellen. Daran mitzuarbeiten wird die nächste Aufgabe der neuen Zeitschrift sein.«904

Friedrich Karl Kaul zeigte sich 1973 mit dem Vertrieb seiner Bücher »Ärzte in Auschwitz« und »Nazimordaktion T4« recht unzufrieden. Mehrere Hörer und Zuschauer seiner Rundfunk- und Fernsehberatersendungen hatten sich mit der Bitte an ihn gewandt, ihnen gegen Entgelt Exemplare zukommen zu lassen. Selbst in den Buchhandlungen einiger Großstädte wie Leipzig oder Dresden, wurde ihm mitgeteilt, hatten sie vergeblich nach den Büchern gefragt. Kauls Mitarbeiter Matthäus machte bei einigen Stichproben in Buchhandlungen dieselbe Erfahrung. »Wie ist das möglich?« fragte Kaul beim Verlag Volk und Gesundheit an und kritisierte dessen mangelhafte Distribution mit den Worten: »Während die Bücher, die im Verlag ›Neues Berlin‹ herauskommen, im selben Augenblick vergriffen sind, wenn sie erscheinen, müssen wir bei den Büchern, denen auch in der Bundesrepublik eine große Aufmerksamkeit geschenkt wird, das Gegenteil feststellen.«905

Eine Rezeptionsgeschichte des Buches steht noch aus.906 Doch wie Kaul in dem zuletzt wiedergegebenen Schreiben bereits andeutete, wurde dem Buch besonderes Interesse aus bundesdeutschen Verlagen zuteil, womit sich die Ansicht des ersten Gutachters Dagobert Müller, »Nazimordaktion T4« sei vor allem für die BRD geeignet, bewahrheitete. Im Jahr 1979 brachte die Europäische Verlagsanstalt Kauls Buch mit neuem Vorwort und unter einem neuen Titel auf dem westdeutschen Markt heraus.907

904 Einführung von Prof. Dr. Bonhoeffer †, Berlin, in: Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie, 1 (1949) 1/2, S. 1. Unter den Mitwirkenden der Zeitschrift wurde allerdings auch Carl Schneider (Heidelberg) genannt, der selbst an der Euthanasie beteiligt war. Vgl. u. a. Volker Roelcke, Erbpsychologische Forschung im Kontext der »Euthanasie«. Neue Dokumente und Aspekte zu Carl Schneider, Julius Deussen und Ernst Rüdin, in: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 66 (1998), S. 331 – 336; Gerrit Hohendorf, Volker Roelcke und Maike Rotzoll, Die Forschungsabteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg 1943 – 1945 und ihre Verwicklung in die nationalsozialistische »Euthanasie«, in: Mundt / Hohendorf / Rotzoll (Hg.), Psychiatrische Forschung und NS-»Euthanasie«, S. 41 – 62. 905 Kaul an den Verlag Volk und Gesundheit Berlin, 30. August 1973, BArch Berlin, Nachlass Kaul N 2503, Nr. 751, Bl. 181. 906 Zumindest nach dem Zeitzeugenbericht eines Leipziger Psychiaters blieb Kauls Buch über zehn Jahre lang die einzige neuere, überhaupt greifbare und umfassende Darstellung zur NS-Euthanasie bis etwa Mitte der 1980er-Jahre. Vgl. Trenckmann, Nach Hadamar, S. 283. 907 Kaul, Die Psychiatrie im Strudel der Euthanasie.

Zur Vergegenwärtigung der Vergangenheit in der DDR-Medizin

301

5.2.2. Gesellschaft für Pädiatrie der DDR: Geschichte als Argument in der Medizinethik? (1978) Die Euthanasie-Vergangenheit wirkte in der DDR-Pädiatrie noch gegen Ende der 1970er-Jahre teils verdeckt, teils offensichtlich nach. Dieser Befund lässt sich an den unmittelbaren Reaktionen auf den ins Deutsche übersetzten Artikel »Der Rückschlag des Pendels bei der Behandlung der Myelomeningocele« von John Lorber (1978) nachweisen. Seit dem Erscheinen des Artikels waren auch die westdeutschen Kollegen, insbesondere 1981 am Tegernsee im Rahmen der ersten Ethik-Tagung der DGfK, mit der Frage der Sterbehilfe und des Therapieabbruchs beschäftigt (s. Abschnitt 4.2.2.). Die Gesellschaft für Pädiatrie der DDR beauftragte eine ihrer ständigen Arbeitsgruppen, sich mit den von Lorber aufgeworfenen Fragen auseinanderzusetzen.908 Die fachlich primär zuständige AG Neuropädiatrie unter Leitung von Helmut Patzer (1919 – 2009) kam nach internen Beratungen zu folgendem Schluss: »Es wird als vertretbare ärztliche Entscheidung angesehen, bei Neugeborenen, bei denen neben der Meningomyelocele schwere Lähmungen der unteren Körperhälfte, weitere schwere Mißbildungen oder Symptome eines bereits manifesten schweren Hydrocephalus vorliegen, von jeder aktiven Therapie (Operation, Reanimation, Antibiotikatherapie) abzusehen.«909

In Punkt Drei der Erklärung fand sich der Vorschlag für ein standardisiertes Entscheidungsverfahren: »Die Entscheidung sollte der Kinderchirurg bzw. Neurochirurg nach sorgfältiger Beratung mit dem Pädiater treffen. Den Eltern ist nach sorgfältiger Erläuterung die Möglichkeit zu geben, der Entscheidung zuzustimmen oder sie abzulehnen. Daraus ergibt sich die Forderung, daß der auf diesem Gebiet erfahrene Pädiater das geschädigte Neugeborene in jedem Falle vor der Operation gründlich untersucht und aus dem Untersuchungsergebnis die Prognose ableitet.«910

Die Option des Sterbenlassens von schwerstgeschädigten Neugeborenen nach der Geburt, die Lorber mit seinem Artikel enttabuisiert hatte, fand durch die Neuropädiater Bestätigung. Allerdings wurde unter dem vierten Punkt der Stellungnahme in einer Hinsicht zur Vorsicht gemahnt: 908 Helmut Patzer an den Vorsitzenden der Gesellschaft für Pädiatrie (GP) der DDR, Dr. Großmann, 6. 10. 1978. Unterlagen der GP der DDR, Ordner AG Neuropädiatrie. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin. 909 Stellungnahme der Arbeitsgemeinschaft »Neuropädiatrie« zur Frage der differenzierten Indikationsstellung zur Operation von Neugeborenen mit Meningomyelocelen, o. Dat. (Oktober 1978). Unterlagen der GP der DDR, Ordner AG Neuropädiatrie. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin. 910 Ebd.

302

Erinnerungsgeschehen in der DDR

»Die Bezeichnungen ›Kommission‹ oder ›Selektion‹ sollten streng vermieden werden, da sie in der Bevölkerung falsche Vorstellungen wecken können.«911

Was damit vorsichtig angedeutet wurde, war nicht die Warnung vor einem ärztlichen Auswahlverfahren an sich, sondern lediglich vor einer sprachlichen Kennzeichnung als solches. Folglich befürchteten die Mitglieder der AG Neuropädiatrie, dass es zu einem Vertrauensverlust der eigenen Klientel kommen könnte. Ob hierbei das Wissen um eine ähnliche Entwicklung, wie sie durch das Reichsausschussverfahren in der NS-Zeit ausgelöst worden war, in die Überlegungen zur begrifflichen Kodierung einfloss, geht aus der Stellungnahme selbst und der überlieferten Korrespondenz nicht hervor. Sollte dies innerhalb der Gruppe um Patzer der Fall gewesen sein, so kam inhaltlich, d. h. hinsichtlich der Lorber’schen Liberalisierungsüberlegungen zur operativen Praxis, der NS-Vergangenheit allenfalls auf subtile Weise Bedeutung, jedoch kaum argumentative Abwehrkraft zu. In Reaktion auf die Erklärung der AG Neuropädiatrie wandte sich der Vorsitzende der Sektion Kinderchirurgie der Gesellschaft für Chirurgie der DDR, Wolfram Tischer, direkt an Helmut Patzer. Er zeigte sich brüskiert und beklagte, dass die Kinderchirurgen von den Pädiatern bei dieser Frage nicht konsultiert worden waren, obwohl sie sich seit Jahrzehnten intensiv mit der Problematik beschäftigen würden. Zur fachlichen Frage des Entscheidungsverfahrens hieß es in Tischers Schreiben kritisch: »Das Problem der sogenannten ›Selektion‹ ist so diffizil und brisant, daß man dazu gar keine Stellungnahme in dieser Form erarbeiten sollte. […] Die Operationsindikation kann einzig und allein der Operateur stellen. Sie lässt sich nicht in ein Schema pressen und ist von Fall zu Fall unterschiedlich. […] Den Eltern kann man keinesfalls die Entscheidung überlassen.«912

Die Ansichten über das Problem einer standardisierten Entscheidungsfindung wichen also weit voneinander ab. Der Vorstand der Gesellschaft für Pädiatrie der DDR leitete daraufhin die Stellungnahme der Neuropädiater an eine zweite ihrer Arbeitsgruppen weiter und bat um eine Einschätzung. Es handelte sich um die AG Klinische Genetik unter Leitung von Lothar Pelz. Diese wiederum lehnte es nach Prüfung der Thematik entschieden ab, sich der Empfehlung der AG Neuropädiatrie, insbesondere den Punkten eins bis vier, anzuschließen. Als Begründung wurde knapp formuliert: »Zahlreiche, u. a. ärztlich-ethische und medizin-juristische Fragen veranlassen uns zu diesem Hinweis.«913 Eine von der 911 Ebd. 912 Wolfram Tischer an Helmut Patzer, o. Dat. (November 1978), ebd. 913 Lothar Pelz an den Vorstand der GP der DDR, Rostock 28. 9. 1979. Unterlagen der GP der DDR, Ordner AG Klinische Genetik. Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität Berlin.

Zur Vergegenwärtigung der Vergangenheit in der DDR-Medizin

303

AG Klinische Genetik angebotene ausführliche Erläuterung wurde vom Vorstand der Gesellschaft nicht mehr in Anspruch genommen. Innerhalb der AG Klinische Genetik war man sich über die Tragweite des zweiten Abschnitts der Erklärung der AG Neuropädiatrie vollkommen im Klaren. Der stellvertretende Vorsitzende der AG Klinische Genetik erklärte gegenüber dem Schriftführer, »daß das darin Gesagte mit dem Begriff der passiven Euthanasie gleichzusetzen ist und ich darin eine große Gefahr für unsere Sache sehe«.914 Das historische Argument der NS-Kindereuthanasie hatte in der internen Diskussion eine gewichtige Rolle gespielt und zur Ablehnung der Stellungnahme beigetragen.915 Lothar Pelz befasste sich seit seinen ersten Berufsjahren mit medizinethischen Fragestellungen. Als Auslöser der Beschäftigung speziell mit der NSMedizingeschichte sah Pelz selber Werner Catels »missglückte« Rechtfertigungsschrift von 1962 an (s. Abschnitt 4.2.4.). Als die Anfrage zur Stellungnahme über die Nichteinleitung der »aktiven Therapie« an behinderten Neugeborenen bei der AG Klinische Genetik einging, fügte sie sich in ein medizinethisches Themenfeld ein, mit dem Pelz auch unter historischem Blickwinkel seit Längerem befasst war. Gerade ein Jahr zuvor hatte er sich beispielsweise im Rahmen eines Vortrags gegen Spätabbrüche von Schwangerschaften aus sogenannter »genetischer Indikation« (z. B. bei Trisomie 21) mit der Begründung ausgesprochen, dies sei Mord am Kranken und in keiner Weise moralisch vertretbar. Um seine Position zu bekräftigen, brachte er mit Verweis auf Alexander Mitscherlichs Dokumentation des Nürnberger Ärzteprozesses »Medizin ohne Menschlichkeit« die NS-Vergangenheit als Argument für die Existenzberechtigung von Menschen mit Behinderung ein: »Erinnerungen an solche Methoden gibt es in der deutschen Geschichte hinlänglich aus einer Zeit, in welcher ›Verbrechen als Menschlichkeit‹ (Mitscherlich) moralisch gerechtfertigt werden sollten.«916

Die historischen Unterlagen enthalten keine Hinweise darauf, wie die medizinethische Debatte innerhalb der Gesellschaft für Pädiatrie fortgeführt wurde. Die rekonstruierten Bruchstücke dieser Auseinandersetzung lassen allerdings erkennen, dass die NS-Kindereuthanasie als historische Erfahrung einerseits subtil – in Form einer auffälligen Vorsicht auf der begrifflichen Ebene – wirksam 914 G. Seidlitz an den Schriftführer W. Mieler, 9. 8. 1979. Unterlagen der GP der DDR, Ordner AG Klinische Genetik, Archiv für Kinder- und Jugendmedizin, Berlin. 915 Persönliche Mitteilung von Lothar Pelz bei einem Gespräch in Rostock, 14. 12. 2006. 916 Lothar Pelz, Ethische Probleme der pränatalen Diagnostik genetisch bedingter Leiden. Vortrag auf der 19. Tagung der Regionalgruppe Neubrandenburg, Rostock, Schwerin der Gesellschaft für Klinische Chemie und Laboratoriumsdiagnostik, 25.–26. 11. 1977 in AltSammit b. Krakow, unveröffentlichtes Manuskript.

304

Erinnerungsgeschehen in der DDR

war (AG Neuropädiatrie) und andererseits eine sehr direkte argumentative Präsenz bei den Kritikern (AG Klinische Genetik) des »genetisch« indizierten Schwangerschaftsspätabbruchs und der »passiven Euthanasie« zeigte. Werner Catel hatte sich wie in der westdeutschen Pädiatrie auch bei ostdeutschen Kollegen zum Symbol einer falschen ärztlichen Ethik entwickelt. Diese Fehlentwicklung wurde jedoch eher unter den Vorzeichen der »faschistischen Ideologie« und weniger als ein der Medizinethik immanentes Problem (Th. Hellbrügge) gedeutet. Als Wolfgang Braun, Direktor der Leipziger Universitätskinderklinik und somit ein Amtsnachfolger Catels, zu einem Vortrag in die USA eingeladen wurde, um mit einem Vortrag die Geschichte der deutschen Pädiatrie zu präsentieren, ging er explizit auf die Zeit des Nationalsozialismus ein: »It is impossible to talk about the highlights of pediatrics in Germany without examining the darkest chapter of German history, the time of fascism […]. It began with the development of fascist ideology, with the Nuremberg laws and the ideas of worthless life, with sterilization of men and women, and killing of malformed and handicapped children. There were some pediatricians who, infected with fascist ideology, were willing to put these ideas into practice, men such as Catel.«917

An anderer Stelle distanzierte sich Braun in weit differenzierterer Form von seinem Vorgänger : »Wissenschaftliche Begabung und wertvolle Publikationen, wie die Differential-diagnostische Symptomatologie von Krankheiten des Kindesalters, ändern nichts an der Tatsache, daß unter Catel die lebensverachtende Ideologie des Faschismus auch an der Leipziger Klinik nicht vorüberging.«918

Die Person Werner Catel wurde quasi als mahnendes Erinnerungszeichen markiert, wodurch, vergleichbar mit den Reaktionen in der westdeutschen Fachgesellschaft DGfK, die Verantwortlichkeit der Kinderärzte insgesamt leichthin ausgeblendet wurde. Zugleich waren aber Brauns Formulierungen Ausdruck eines historischen Reflexionsgrades, der aus einer breiteren wissenschaftlichen Thematisierung der NS-Euthanasie im Kontext der »Faschismus«Forschung resultierte.

917 Wolfgang Braun, German Pediatrics, in: Buford L. Nichols, Angel Ballabriga und Norman Kretchmer (Hg.), History of Pediatrics 1850 – 1950, New York 1991, S. 23 – 30. 918 Wolfgang Braun, Einleitung, in: ders. (Hg.), 100 Jahre Universitäts-Kinderklinik, Leipzig 1991, S. 19.

Die wissenschaftliche Vergegenwärtigung der NS-Euthanasie

305

5.3. Die wissenschaftliche Vergegenwärtigung der NS-Euthanasie in der DDR-Medizinhistoriographie Im Jahr 1991 stellten die Historiker Wolfgang Wippermann und Michael Burleigh in einem gemeinsamen Beitrag fest, dass sich die deutsche Geschichtswissenschaft sowohl in der Bundesrepublik als auch in der DDR an der Aufarbeitung der Euthanasie-Verbrechen kaum beteiligt hatte. Unter dem Titel »Hilfloser Historismus«919 attestierten sie der Historiographie ein totales Versagen hinsichtlich der Euthanasie-Aufarbeitung. Nach ihrer Interpretation habe das nicht an den mangelnden Kenntnissen, sondern an den allgemeinen geschichtstheoretischen Vorstellungen gelegen. Sowohl Vertreter des Historismus und des Marxismus als auch der Sozialgeschichte hätten die Bedeutung der nationalsozialistischen Rassenpolitik unterschätzt. Die NS-Euthanasie habe nicht in die vorherrschenden Bilder vom Nationalsozialismus gepasst. Daraus sei die Verspätung einer wissenschaftlichen Thematisierung zu erklären. Allerdings blieben die beiden Autoren die äußerst sinnvolle kritische Auseinandersetzung mit marxistischen Historiographien schuldig.920 Im Rückblick auf die Medizinhistoriographie der DDR fällt auf, dass die NSEuthanasie-Verbrechen in den 1960er-Jahren gehäuft thematisiert wurden. Das in Ost-Berlin erschienene Standardwerk »Geschichte der Medizin. Einführung in ihre Grundzüge« von Alexander Mette und Irena Winter enthielt einen Beitrag von Reimer Schorr zur Geschichte der Pädiatrie. Darin hieß es: »Die Zeit des Faschismus führte wie auf anderen Gebieten weitgehend zu Stagnation und Rückschritt. […] Leider fanden sich auch Vertreter der Kinderheilkunde, die sich an den ›Euthanasie‹-Verbrechen der Faschisten beteiligten. W. Catel, in jener Zeit Direktor der Kinderklinik Leipzig, propagiert noch heute die Vernichtung des in der Sprache der Barbarei so genannten ›lebensunwerten Lebens‹. Aber nicht nur der Vorstand der Sektion Pädiatrie der Deutschen Gesellschaft für klinische Medizin, der alle Kinderärzte der DDR angehören, sondern auch namhafte Fachvertreter Westdeutschlands haben sich voller Empörung gegen diese antihumanistische Auffassung gewandt.«921

Mit der Fokussierung auf Catel wurde der breitere Themenkomplex Kindereuthanasie und alle anderen verantwortlichen Mediziner eher umgangen als kri919 Michael Burleigh und Wolfgang Wippermann, Hilfloser Historismus, S. 11 – 23. 920 Die Autoren hatten 1991 gemeinsam ein Buch veröffentlicht, in dem sie auf die besondere Bedeutung der Rassenpolitik abhoben und für sich in Anspruch nahmen, daraus die Entwicklung der Zwangssterilisation und des Krankenmords erklären zu können, Vgl. Wolfgang Wippermann und Michael Burleigh, The Racial State. Germany 1933 – 1945, Cambridge 1991. 921 Reimer Schorr, Kinderheilkunde, in: Alexander Mette und Irena Winter, Geschichte der Medizin. Einführung in ihre Grundzüge, Berlin 1968, S. 365 – 382, hier: S. 379.

306

Erinnerungsgeschehen in der DDR

tisch erhellt.922 Auch dem kurzen Abschnitt über die NS-Euthanasie im Beitrag des Herausgebers Alexander Mette zur psychiatrisch-neurologischen Konzeptund Therapiegeschichte wohnt gerade durch die simple Art der politisch-moralischen Distanzierung von den »Hitler-Faschisten« ein »kollektives« Entlastungsmotiv inne. Die große Mehrheit der deutschen Psychiater und Neurologen habe die Ermordung der Psychiatriepatienten verabscheut. Sie »sahen sich zur Machtlosigkeit verurteilt, wenn Verlegungen aus den von ihnen geleiteten Häusern stattfanden, die bezweckten, die dazu ausersehenen Patienten im Geheimen zu vernichten«.923 Mette entwirft hier Ende der 1960er-Jahre das Bild einer Psychiatrie, die den politischen Umständen der NS-Zeit wehrlos ausgeliefert war. Auf die Arbeiten von Friedrich Karl Kaul und Peter Reumschüssel wurde bereits eingegangen. 1971 hatte Kurt Nowak als Promotionsstudent an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig ebenfalls eine Dissertation eingereicht. Sie wurde allerdings erst 1977 im Max-Niemeyer-Verlag in Halle publiziert924 und erschien dann sogar 1978 in der Bundesrepublik bei Vandenhoeck & Ruprecht. Nowaks detaillierte Untersuchung richtete zusätzlich den Blick auf die Haltung der Kirchen zu Zwangssterilisation und Euthanasie während der NS-Zeit. Unter dem Schutz seines in der DDR anerkannten Doktorvaters, Dr. Kurt Meier, und gewissen Spielräumen einer Theologischen Fakultät war es Nowak möglich, das Thema anhand von Archivrecherchen zu bearbeiten und eine historische Untersuchung von damals kaum vergleichbarer Qualität vorzulegen.925 Medizingeschichte als potenzieller Raum für eine Vergegenwärtigung der Euthanasie-Verbrechen wurde damals an der Karl-Marx-Universität im traditionsreichen Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften gelehrt.926 Achim Thom, vor Ort seit 1977, war Leiter des »Wis922 Vergleichbares ist allerdings in dem Pädiatrie-historischen Standardwerk von Albrecht Peiper (Nachfolger von Werner Catel als Direktor der Leipziger Universitätskinderklinik), das seit 1951 in mehreren Auflagen erschien, nicht zu finden, obwohl bereits in der ersten Ausgabe im Kapitel »Das Kind in der Gesellschaft« historische Fälle des Kindesmordes aufgeführt wurden. Vgl. Albrecht Peiper, Chronik der Kinderheilkunde, Leipzig 1951. 923 Alexander Mette, Neurologie und Psychiatrie, in: Mette / Winter, Geschichte der Medizin, S. 383 – 410, hier : S. 406 f. 924 Kurt Nowak, »Euthanasie« und Sterilisierung im »Dritten Reich«. Die Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche mit dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« und der »Euthanasie«-Aktion (Arbeiten zur Kirchengeschichte und Religionswissenschaft 6), Halle a. d. Saale 1977. Unter demselben Titel als Band 12 der Ergänzungsreihe »Arbeiten zur Geschichte des Kirchenkampfes« erschienen, Göttingen 1978. 925 Manukjan, »Euthanasie« – das lange verdrängte Verbrechen, S. 183. 926 Medizingeschichte wurde auch an der Humboldt-Universität Berlin gelehrt (Dietrich Tutzke). Darüber hinaus bestanden kleinere Institute für Medizingeschichte an den Medizinischen Akademien, z. B. in Dresden, Erfurt, Magdeburg, die jedoch andere thematische

Die wissenschaftliche Vergegenwärtigung der NS-Euthanasie

307

senschaftsbereichs Geschichte der Medizin«. Medizinhistorische Vorlesungen für die Studenten wurden gegen Ende der 1970er-Jahre obligatorisch. Das Thema Medizin im Nationalsozialismus war unter den vorgegebenen Themenschwerpunkten zunächst nicht vertreten. Es musste erst in die Lehre eingebracht werden.927 Eine breitere historische Forschung zur NS-Euthanasie setzte dann Mitte der 1980er-Jahre ein. Das Leipziger Institut unterhielt seit den 1970er-Jahren einen regen Austausch mit Klinikern der DDR – Pädiatern, Kinderchirurgen, Gynäkologen, Psychiatern –, die zu Vorträgen und Diskussionsrunden eingeladen wurden. Dabei diskutierte man sowohl aktuelle medizinethische Fragen als auch Probleme des Gesundheitssystems der DDR und reflektierte diese vor dem Hintergrund der historischen Entwicklungen in der NS-Zeit.928 In Leipzig, Brandenburg, Bernburg, aber auch Berlin-Lichtenberg, Ückermünde und Neuruppin versuchten Klinikleiter und -leiterinnen gegen überkommene, rein biologisch ausgerichtete psychiatrische Schulen neue Impulse für eine soziale Psychiatrie zu setzen.929 Seit 1977 war die Reihe »Medizin und Gesellschaft« im Gustav Fischer Verlag Jena in Form von Beiheften zur »Zeitschrift für ärztliche Fortbildung« erschienen. In einem Vorwort von Helmut F. Späte, Achim Thom und Klaus Weise930 hieß es 1982 zum Anliegen dieser Publikationsreihe: »Die Anforderungen an das sozialistische Gesundheitswesen der Deutschen Demokratischen Republik in den 1980er Jahren sind mit wachsenden Ansprüchen an das

927 928

929 930

Schwerpunkte setzten. In Halle lehrte ein Internist (Kaiser) als Nebentätigkeit Medizingeschichte. Persönliche Mitteilung Prof. Achim Thom, 22. 10. 2007. In Jena arbeitete Susanne Zimmermann am Institut für Geschichte der Biologie den Fall Jussuf Ibrahim auf. Roelcke benennt in seinem Überblicksbeitrag zur Entwicklung der Medizingeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, in dem auch die DDR-Medizinhistoriographie einbezogen ist, zusätzlich medizinhistorische Institute bzw. Abteilungen in Greifswald und Halle. Eine spezielle Abteilung für Medizinische Zeitgeschichte war mit dem von Thom benannten Berliner Institut verbunden. Vgl. Volker Roelcke, Die Entwicklung der Medizingeschichte seit 1945, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 2 (1994), S. 193 – 216, hier : S. 197. Persönliche Mitteilung Prof. Achim Thom, Telefonat am 1. 2. 2007. Hierzu zählte das obligatorische Seminar »Arzt und Gesellschaft«. Universitätsarchiv Leipzig, ZM 12429. Korrespondenz Achim Thom. Universitätsarchiv Leipzig, ZM 12365, Bd 1. Seit etwa 1977/78 bestand zunächst unter Leitung von Ulrich Trenckmann eine Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Psychiatrie, die sich speziell dem Zeitraum 1933 – 1945 widmete, hierzu in psychiatrischen Einrichtungen Archivalien erfasste und Zeitzeugengespräche führte. Thom an Klaus Dörner, 3. 6. 1980. ZM 12365, Bd. 2, o. Pag. sowie: ZM 12429. 1980 legte A. Thom zwei Artikel zur Euthanasie-Thematik vor: Karl Heinz Karbe und Achim Thom, NSVerbrechen an Kindern – ein heute noch aktuelles Thema, in: Humanitas 11 (1980), S. 9; sowie: Achim Thom, Psychiatrie im Faschismus – Bilanz der historischen Analyse, in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 26 (1980) 8, S. 553 – 560. Trenckmann, Nach Hadamar, S. 284. Direktor der Psychiatrischen Klinik des Bereiches Medizin der Karl-Marx-Universität Leipzig.

308

Erinnerungsgeschehen in der DDR

Wissen und Können sowie an die ethisch-moralische und weltanschauliche Haltung der Ärzte, Schwestern und anderen Mitarbeiter verbunden. Um eine höhere Qualität und Wirksamkeit zu erreichen, ist in Verbindung mit dem neuesten Stand medizinischer Erkenntnis die Anwendung und Entwicklung der marxistisch-leninistischen Philosophie und Gesellschaftswissenschaften unverzichtbar. Die Schriftenreihe ›Medizin und Gesellschaft‹ will dazu einen Beitrag leisten, mit der Erarbeitung und Verbreitung weltanschaulicher und theoretischer Grundlagen die medizinische Praxis und Forschung befruchten sowie den Meinungsstreit fördern.«931

Der deutsch-deutsche Systemvergleich war für die Thematisierung der »Medizin im Faschismus« bis zum Ende der DDR ein forschungsleitendes Motiv. Durch eine »kritische Analyse der Gesundheitspolitik und des Gesundheitswesens im Kapitalismus und durch die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Ideologie« (Vorwort) sollten die Vorzüge der sozialistischen Gesellschaft und ihres Versorgungssystems umso deutlicher von dem als rückständig angesehenen westdeutschen Gesundheitswesen abgehoben werden. Die realen Probleme der gesellschaftlichen Vernachlässigung von Randgruppen in der DDR, wie geistig behinderten und psychisch erkrankten Menschen, wurden zumindest thematisiert.932 Dass für Späte, Thom und Weise die Auseinandersetzung mit den NSMedizinverbrechen tatsächlich ein konstitutiver Bestandteil ihres sozialistischen Selbstbewusstseins war und dass letzteres keineswegs eine plakative Tarnung hinter abgenutzten Formeln bedeutete, geht aus den gesellschaftstheoretisch und philosophisch reflektierten Arbeiten der 1980er-Jahre hervor. Die Motive für die Rezeption der Euthanasie-Verbrechen waren insofern nicht sehr weit von denen der westdeutschen Reform- und Aufarbeitungsbestrebungen der 1980er-Jahre entfernt. Von daher lag es sogar nahe, sich mit von Thom so bezeichneten »progressiven« Sozialpsychiatern und Vertretern der beginnenden Aufarbeitung in der Bundesrepublik auszutauschen, von denen einige aufgrund ihrer eigenen politischen Ausrichtung durchaus mit der DDR sympathisierten. Unter anderen bestanden Kontakte zu Gerhard Baader und Johanna Bleker, die die West-Berliner Medizingeschichte vertraten, zu dem Historiker Götz Aly, aber ganz besonders zu den Sozialpsychiatern Erich Wulff (Gießen, Hannover), Manfred 931 Helmut F. Späte, Achim Thom und Klaus Weise, Theorie, Geschichte und aktuelle Tendenzen in der Psychiatrie (Medizin und Gesellschaft 15), Jena 1982, S. 7. Der Band enthält eine lesenswerte Darstellung zum Stand der Psychiatrie in der Bundesrepublik aus ostdeutscher Sicht, in der auch die Rolle der Rezeption der NS-Euthanasie für die westdeutschen Psychiatriereformbemühungen thematisiert wird. Ebd. S. 80 ff. 932 Vgl. z. B. Helmut Späte und Achim Thom, Die Verantwortung der sozialistischen Gesellschaft für ihre geistig schwer behinderten Mitglieder, in: Uwe Körner, Karl Seidel und Achim Thom (Hg.), Grenzsituationen ärztlichen Handelns, Jena 1981, S. 153 – 165. Zur Kritik am psychiatrischen Versorgungssystem der DDR: Späte / Thom / Weise, Theorie, S. 111 u. S. 134 f.

Die wissenschaftliche Vergegenwärtigung der NS-Euthanasie

309

Bauer (Hannover), Karl Peter Kisker (Hannover) und Klaus Dörner (Gütersloh).933 Durch diese Grenzen überschreitenden Verbindungen konnten auch die wichtigsten Publikationen ausgetauscht werden. Die Korrespondenz Achim Thoms dokumentiert den regen postalischen Austausch von wissenschaftlichen Materialien, aber auch die inhaltlichen Diskussionen, die durch Besuche der bundesdeutschen Kollegen in Leipzig vertieft wurden. Auch griffen westdeutsche Nachwuchswissenschaftler auf die Leipziger Expertise zurück. Die Leipziger wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der »Medizin im Faschismus« und speziell der nationalsozialistischen Euthanasie lässt sich anhand des Publikationsverzeichnisses des Karl-Sudhoff-Institutes nachvollziehen.934 Anhand der Themenauswahl und Betreuung von Habilitations- und Dissertationsschriften am Leipziger Institut sowie der seit Beginn der 1980erJahre veröffentlichten Monographien und wissenschaftlichen Aufsätze wird nicht nur deutlich, dass die NS-Medizin als Untersuchungsobjekt eine progressive Entwicklung durchmachte, sondern auch, dass drei Schwerpunkte in dem Forschungsdreieck Medizinethik – Theorie – Medizingeschichte (speziell im »Faschismus«) ausgeformt werden konnten. Thom brachte die Geschichte der Psychiatrie im 20. Jahrhundert als Forschungsfeld in das Institut ein, wodurch die Entwicklung des Anstaltswesens, der psychiatrischen Versorgung und modernen Therapie seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beleuchtet und schließlich als Vorgeschichte der Medizin im Nationalsozialismus gedeutet werden konnte.935 Im Vordergrund des Interesses standen zunächst aber medizinethische Themen mit Praxis- und Fortbildungsbezug zur Medizin in der DDR, die einen Rückgriff auf die »Medizin im Faschismus« gerade sinnvoll erscheinen ließen.936 933 Die Beziehungen zwischen Klaus Dörner, Achim Thom und Klaus Weise bestanden spätestens seit dem Jahr 1971. Universitätsarchiv Leipzig, ZM 12365, Bd. 1. Die Kontakte zu Erich Wulff und Karl Peter Kisker reichten sogar in den Zeitraum der späten 1960er-Jahre zurück. Wie intensiv sich diese Vernetzungen entwickelten, zeigt sich an einer 1990 geschlossenen Vereinbarung zur Forschungskooperation zwischen der Psychiatrischen Poliklinik der Medizinischen Hochschule Hannover (Wulff, Pfefferer-Wolf) und der Klinik für Psychiatrie der Karl-Marx-Universität Leipzig (Weise, Uhle). Archiv für Leipziger Psychiatriegeschichte, Vorlass Klaus Weise. Ordner : Gäste / Besucher und nachfolgende Kontakte 1985 – 1992 sowie Ordner : Psychiatrie in der DDR. 934 Achim Thom und Ortrun Riha (Hg.), 90 Jahre Karl-Sudhoff-Institut an der Universität Leipzig, Leipzig 1996. 935 Z.B. Achim Thom und Susanne Hahn, Euthanasie im Dritten Reich – nur ein Problem der Psychiatrie? Zur Entwicklung der Sterbehilfe-Debatte in den Jahren von 1933 – 1941 in Deutschland, in: Zeitschrift für die gesamte Innere Medizin und ihre Grenzgebiete 41 (1986) 2, S. 44 – 48. 936 Susanne Hahn und Achim Thom, Sinnvolle Lebensbewahrung, humanes Sterben. Positionen zur Auseinandersetzung um den ärztlichen Bewahrungsauftrag gegenüber menschlichem Leben, Berlin 1983 (hierin u. a. eine Auseinandersetzung mit Werner Catels Rechtfertigungsschriften); Körner / Seidel / Thom, Grenzsituationen ärztlichen Handelns.

310

Erinnerungsgeschehen in der DDR

Erste von Thom betreute Doktorarbeiten mit thematischem Bezug zur Zwangssterilisation und Euthanasie und Zugangsmöglichkeiten zu originärem Archivmaterial erschienen in der ersten Hälfte der 1980er Jahre.937 Die Grundlagenforschung begann mit Ansätzen in lokaler oder biographischer Perspektive. Einige Dissertationen wurden vor dem Ende der DDR938 bzw. noch zur Zeit der sogenannten Wende fertiggestellt.939 Nach der Wiedervereinigung Deutschlands boten sich archivalisch breitere Möglichkeiten für historische Rekonstruktionen.940 Eigene Archivreisen zum Bundesarchiv Koblenz waren für Thom erst seit Ende der 1980er-Jahre mit Unterstützung des DAAD möglich.941 Offenbar emanzipierte sich das Thema »Medizin im Faschismus« zu Beginn der 1980er-Jahre zunehmend von seinem Gegenwartsbezug Medizinethik und rückte phasenweise ganz in den Vordergrund des wissenschaftlichen Interesses. Um den Stand der Forschung bis dahin zu reflektieren und neue Forschungs937 Jürgen Schmidt, Darstellung, Analyse und Wertung der Euthanasiedebatte in der deutschen Psychiatrie von 1920 – 1933, Med. Diss. Leipzig 1983; Hans-Bodo Schwerdtner und Michael Meixner, Zur Entwicklung der Rassenhygiene in Deutschland und das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«. Grundlagen, Diskussionen, Auswirkungen und Vergleich an Hand ausgewählter Krankheitsbilder, Med. Diss. Leipzig 1985. 938 Andreas Liebner, Zur Lage der Gehörlosen in den Jahren 1933 bis 1945 und deren Einbeziehung in die Zwangssterilisationspraxis. Eine Fallstudie anhand von Erbgesundheitsgerichtsakten aus Leipzig, Med. Diss. Leipzig 1988; Kerstin Munkelt, Die Landesheil- und Pflegeanstalt Jerichow und die Schicksale ihrer Patienten in den Jahren 1933 bis 1945, Dipl.Arbeit, Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Leipzig 1988. Renate Koch, Die Behandlung psychisch Kranker in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen in der Zeit der faschistischen Diktatur unter besonderer Berücksichtigung der Patienten mit Schizophrenie, manisch-depressivem Irresein und psychischen Wesensveränderungen nach Epilepsie, Med. Diss. Leipzig 1989. 939 Christiane Bach, Die Zwangssterilisationspraxis aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im Bereich der Gesundheitsämter Leipzig und Grimma, die Tötung Geisteskranker und die Rolle der erbbiologischen Erfassungs- und Begutachtungspraxis der Psychiatrie zwischen 1933 und 1945, Med. Diss. Leipzig 1990 (ursprünglich 1984 gemeinsam mit Gesine Schimmel unter dem Titel: Die Zwangssterilisationspraxis im faschistischen Deutschland. Analyse der damaligen Gesundheitsämter Leipzig und Grimma); Tatjana Heilek und Elke Schreiber, Die Betreuung und Behandlung psychisch Kranker in der Landesheilanstalt Altscherbitz (1918 – 1945), Med. Diss. Leipzig 1990. 940 Günter Reimer, Der Einfluß der rassenhygienischen Gesetze und Verordnungen auf die Anstaltspsychiatrie und das Schicksal der Patienten in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Hubertusburg während der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland (1933 – 1945), Med. Diss. Leipzig 1991; Heike Bernhard, Die Anstaltspsychiatrie in Pommern 1939 bis 1946. Ein Beitrag zur Aufhellung nationalsozialistischer Tötungsaktionen unter besonderer Berücksichtigung der Landesheilanstalt Ueckermünde, Med. Diss. Leipzig 1993; Katrin Mäckel, Professor Dr. med. Hermann Paul Nitsche. Sein Weg vom Reformpsychiater zum Mittäter an der Ermordung chronisch psychisch Kranker zur Zeit des Nationalsozialismus, Med. Diss. Leipzig 1993; Holm Krumpolt, Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Psychiatriepolitik auf die sächsische Landesheilanstalt Großschweidnitz im Zeitraum 1933 – 1945, Med. Diss. Leipzig 1995. 941 Persönliche Mitteilung Prof. Achim Thom, Telefonat am 1. 2. 2007.

Die wissenschaftliche Vergegenwärtigung der NS-Euthanasie

311

felder abzustecken, wurde vom 31. Januar bis zum 2. Februar 1983 in Leipzig in Kooperation zwischen der Karl-Marx-Universität (Karl-Sudhoff-Institut), der Akademie für Ärztliche Fortbildung der DDR (Berlin) und des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer der DDR ein international besetzter »Kongress über das Schicksal der Medizin in der Zeit des Faschismus in Deutschland 1933 – 45« organisiert: »An der Tagung nahmen über 100 Wissenschaftler – Mediziner, Historiker, Philosophen und Juristen – sowie eine größere Gruppe von Frauen und Männern teil, die Jahre ihres Lebens in Konzentrationslagern zugebracht und dort oder als Emigranten gegen die Nazibarbarei gekämpft hatten.«942

In diesem Rahmen wurden unter anderem die Zwangssterilisationen und die Krankenmorde (Helmut Späte) mit Vorträgen thematisiert. Der Protokollband war allerdings nur in kleiner Auflage gedruckt worden und ausschließlich über den Buchhandel der DDR erhältlich.943 Zwei Jahre später erschienen die Protokolle als Neuabdruck in der Reihe »Medizin und Gesellschaft« und Achim Thom stellte den Einzelbeiträgen eine überarbeitete Fassung seines historiographischen Überblicks voran. Darin hob er drei beiderseits der Mauer zu beobachtende Forschungsschwerpunkte besonders hervor: »die direkte Mitwirkung der Medizin an der Legitimierung und Umsetzung des faschistischen Antisemitismus und der NS-Rassenpolitik, die Praxis der Zwangssterilisation, die als ›Euthanasie‹ getarnten Massenmordaktionen an geistig Behinderten und psychisch Kranken in der Zeit von 1939 bis 1945.«944

Das Thema »Medizin im Faschismus« stieß auf internationales Interesse. 1986 begannen Verhandlungen über ein vergleichbares Symposium zwischen den Vertretern mehrerer europäischer Sektionen der Organisation International Physicians for the Prevention of Nuclear War (IPPNW). Ein Jahr später wurde ein internationales Vorbereitungskomitee beauftragt, das wissenschaftliche Programm und die Referenten festzulegen und die organisatorischen Rahmenbedingungen zu klären. Die Einladungen zu Beiträgen lösten eine große Resonanz aus.945 Unter besonderer Vorbereitung durch das Sekretariat der IPPNW-Sektion der DDR und des Generalsekretariats der medizinisch-wis942 Das Protokoll wurde noch im selben Jahr veröffentlicht: Thom / Spaar, Medizin im Faschismus, hier : Vorwort S. III. 943 Späte / Thom / Weise, Theorie, S. 283. 944 Achim Thom und Horst Spaar, Einführung. Bedeutsame neue Trends und Ergebnisse der Forschungsarbeit zur Stellung der Medizin im faschistischen Herrschaftssystem in Deutschland von 1933 – 1945 und ihre Folgewirkungen, in: dies. (Hg.), Das Schicksal der Medizin im Faschismus, Berlin 1985, S. 11 – 31, hier S. 18. 945 Achim Thom und Samuel Mitja Rapoport, Bilanz einer fruchtbaren Begegnung – zur Einführung in diesen Protokollband, in: Rapoport / Thom (Hg.), Das Schicksal der Medizin im Faschismus, Berlin 1989, S. 1.

312

Erinnerungsgeschehen in der DDR

senschaftlichen Gesellschaften der DDR fand die Tagung vom 17. bis 20. November 1988 in Erfurt und Weimar statt. Im Rahmen des breit angelegten Programms wurde die NS-Kindereuthanasie mit Einzelbeiträgen behandelt. Die Protokolle der IPPNW-Tagung erschienen 1989 als Doppelpublikation in der DDR im Verlag Volk und Gesundheit und der Bundesrepublik im Verlag Jungjohann, Neckarsulm. Parallel zu den Vorbereitungen der IPPNW-Tagung liefen seit 1985 die Vorbereitungen für einen Sammelband, der ebenfalls 1989 unter dem Titel »Medizin unterm Hakenkreuz« erschien. Das Ziel der Herausgeber Achim Thom und Ivanovicˇ Caregorodcev war es, »die Lage der Medizin und die Eigenarten der ärztlichen Praxis in der Zeit der faschistischen Diktatur in Deutschland in ihrem Zusammenhang mit dem sozialen und politischen Charakter dieses Regimes darzustellen und als Ergebnis einer gezielten Indienstnahme der medizinischen Wissenschaft und der Ärzteschaft für die in diesem System dominierenden Herrschaftsinteressen zu begreifen«.946

Es ging um das gegenseitige Interessenverhältnis von Wissenschaft und nationalsozialistischer Politik. Aus diesem Ansatz resultierte eine Ausdehnung des Fokus. Bis dahin vernachlässigte Themen der Medizingeschichte – Militärmedizin, Humanexperimente in Konzentrationslagern, Gerichtsmedizin, Zahnheilkunde und Naturheilkunde im Nationalsozialismus, aber auch die Verfolgung Homosexueller sowie die Auswirkungen der deutschen Okkupation auf das polnische und russische Gesundheitswesen – sollten aufgezeigt werden. Die Zwangssterilisationen und die NS-Euthanasie standen aber weiterhin im Zentrum der Darstellung. Im Jahr 1990 wurde ein Erinnerungszeichen an die Anfänge der deutschen Aufarbeitung von Medizinverbrechen gesetzt. Achim Thom und Horst Spaar verfassten das Nachwort für eine neue Auflage von Alexander Mitscherlichs Dokumentation zum Nürnberger Ärzteprozess »Medizin ohne Menschlichkeit«.947

5.4. Zwischenbilanz Die Betroffenen der Zwangssterilisation und NS-Euthanasie waren auch in der offiziellen Gedenkkultur der DDR eine randständige, nicht anerkannte Gruppe, 946 Achim Thom, Zur Einführung, in: Achim Thom und Genadij Ivanovicˇ Caregorodcev (Hg.), Medizin unterm Hakenkreuz, Berlin 1989, S. 11. 947 Alexander Mitscherlich (Hg.), Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Mit einem neuen Vorwort von Alexander Mitscherlich und einem für diese Auflage verfassten Nachwort von Horst Spaar und Achim Thom, Berlin Verlag Volk und Gesundheit, sowie im Urban und Fischer-Verlag für Medizin (München) 1990.

Zwischenbilanz

313

was mit den Benachteiligungen behinderter und psychisch kranker Menschen korrespondierte. Entschädigungen als Wiedergutmachung waren nicht vorgesehen. Da das öffentliche Gedenken in der DDR seit Beginn der 1950er-Jahre zunehmend unter dem Zeichen des »Antifaschismus« stand, konnte es sogar geschehen, dass Euthanasie-Opfer zu politisch Verfolgten umgedeutet wurden.948 Das Ausmaß des gesellschaftlichen Beschweigens war, abgesehen von den frühen Thematisierungen der bald unterdrückten Opferorganisation Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes, bis in die 1960er-Jahre hinein allumfassend. Wie die Beispiele Sonnenstein, Brandenburg und Bernburg aber auch verdeutlichen, ging von diesen historischen Orten der NS-Euthanasie eine Art nachhaltige Vergangenheitspräsenz aus, die sich zwar mittelfristig ausblenden, aber langfristig nicht ignorieren ließ.949 An allen drei Orten kam es vor dem Zusammenbruch der DDR zu perspektivischen Überlegungen oder sogar konkreten Initiativen, die Vergangenheit im Rahmen einer Ausstellung oder gar einer Gedenkstätte zu dokumentieren. Der Ursprung der heutigen EuthanasieGedenkstätten liegt damit in allen Fällen in der Endphase der DDR. Die starke Verzögerung spricht allerdings für den allseits beengenden Einfluss hegemonialer, staatlicher Erinnerungsinteressen der DDR-Führungsriege mit ihren jahrzehntelangen personellen Kontinuitäten und dem Primat des »antifaschistischen Widerstands«. Die wiederum unterschiedlichen zeitlichen Entwicklungen in Sonnenstein, Bernburg und Brandenburg haben ihre Ursachen in der Art der Gebäude- und Geländenutzung, die freilich selbst schon Aufschluss über die dem Ort beigemessene Wertigkeit gibt. Bernburg kommt im Vergleich zu den anderen beiden Orten sicherlich eine Sonderrolle zu, da dort seit der Kriegszeit ohne Unterbrechung eine psychiatrische Einrichtung bestand. Darüber hinaus trat hier mit dem neuen Leiter der Nervenklinik Helmut F. Späte eine spezielle personelle Konstellation ein: Er brachte nicht nur ein ausgeprägtes Geschichts- und Verantwortungsbewusstsein ein, sondern hatte auch den Willen, gemeinsam mit der Klinikbelegschaft Vergangenheitsaufarbeitung und Psychiatriereform gleichermaßen zu verwirklichen. Diese Aufarbeitung »von unten« wurde in den späten 1980er-Jahren von staatlicher Seite anerkannt. Man kann diesen Prozess der Pluralisierung auch als eine Art langsame Demokratisierung der Erinnerungskultur der DDR verstehen. Die Vermutung, dass dieser Prozess mit einem 948 »Die Asche von 80 unbekannten Widerstandskämpfern und Kämpferinnen gegen Krieg und Faschismus. Ihr Leben wurde 1941 bis 1942 in Bernburg vernichtet. Ihr Tod mahnt uns.« Friedhof in Bernburg, vgl. Hoffmann, Todesursache »Angina«, S. 101. 949 Stefanie Endlich stellt den Zusammenhang heraus, dass die Dokumentation und Bildungsarbeit, aber vor allem die Bedeutung der historischen Orte selbst mit wachsender zeitlicher Distanz, abnehmender Zeitzeugenschaft und immer neuer Vergegenwärtigung zunehmen. Vgl. Endlich, »Das Gedenken braucht einen Ort«, S. 349.

314

Erinnerungsgeschehen in der DDR

beginnenden Generationswechsel in den lokalen und überregionalen SED-Leitungsebenen einherging, konnte hier nicht geprüft werden, ist aber nicht ganz abwegig. Allerdings sind, wie das Beispiel Bernburg mit dem Vergleichsblick der staatlichen Funktionäre auf die hessische Euthanasie-Gedenkstätte Hadamar dokumentiert, auch andere Motive nachweisbar. Die NS-Geschichte war ein gemeinsamer erinnerungskultureller Bezugspunkt beider deutscher Staaten. Die staatliche Vergangenheitspolitik der DDR war aber immer auf die Entwicklungen in der Bundesrepublik bezogen, da sie eine besondere Legitimationsfunktion zu erfüllen hatte; ein Befund, der schon durch die früheren Forschungsergebnisse zur geheimen Vergangenheitspolitik des MfS belegt werden konnte. Das vorgestellte Beispiel des Streits um das Buch von Friedrich Karl Kaul, das einen erhellenden Einblick in die DDR-Psychiatrie der 1970er-Jahre ermöglicht, fügt sich in diese Interpretation ein. Noch stärker als in den vorgestellten Entwicklungen in Sonnenstein, Brandenburg und Bernburg wird der Bezug zur bundesrepublikanischen Auseinandersetzung um die Täter der NS-Euthanasie deutlich. Wie allerdings die Reaktionen aus der universitären Psychiatrie (D. Müller), aber auch der Anstaltspsychiatrie (S. Schirmer) zeigen, löste der Jurist und Publizist Kaul als ein der Medizin Außenstehender in der ostdeutschen Psychiatrie aus, den Rückstand ihrer eigenen Auseinandersetzung mit den NSPsychiatrieverbrechen zu offenbaren. Dies geschah unwillentlich und zum Ärgernis von Kaul selbst, der zwar das fehlende Interesse unter DDR-Psychiatern bemerkt, aber mit einer derart vehementen Abwehrreaktion nicht gerechnet hatte. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass Kaul, der Verlag Volk und Gesundheit, aber auch Gesundheitsminister Mecklinger durch die Anfechtung im Vorfeld der Buchveröffentlichung erst auf die Auswirkungen der auch in der DDR wirksamen Hypothek der Psychiatrie aus der NS-Euthanasie gestoßen wurden. Die aus der Psychiatrie formulierten Ängste vor einer direkten Identifizierung von historisch belasteten Psychiatriestandorten und vor einem erneuten Ansehensverlust war für einige Psychiatrievertreter Grund genug, zu handeln und sich gegen eine Thematisierung auszusprechen. Aufseiten der Buchinitiatoren provozierte diese Erinnerungsabwehr Irritationen und ließ sie ihre vorgebliche Geschichtsdeutung einer »abgrundtiefen Zäsur« zwischen der NS-Medizin und der Medizin in der sozialistischen Gesellschaft noch besonders betonen. Die durch die Psychiater Müller und Schirmer indirekt aufgeworfenen Fragen nach den tiefer liegenden Ursachen, d. h. nach den langfristigen Nachwirkungen a) der Psychiatrieverbrechen und b) der fehlenden Beschäftigung damit in der DDR wurden unter einem »kollektiven« Entlastungsangebot (Vorwort Mecklinger) langfristig verworfen. Deshalb ist der Aufarbeitungs- und Lehranspruch gegenüber den heranwachsenden Medizinergenerationen in der DDR, mit dem Kaul, seine Mitarbeiter und der

Zwischenbilanz

315

Gesundheitsminister zu Beginn der 1970er-Jahre an das Buchprojekt gingen, wenig glaubhaft, da primär propagandistisch motiviert. Berücksichtigt man den deutsch-deutschen Systemkonflikt und Kauls Rolle bei den Anti-BRD-Kampagnen in Absprache mit dem SED-Politbüro (A. Norden) als Hintergrund des geplanten Buches, so wird sichtbar, worin die Begrenztheit des Aufklärungsanspruches begründet lag: 1.) in der Stoßrichtung des Buches gegen die Bundesrepublik (z. B. Fingerzeig auf Werner Catel) und in der Abstimmung auf die offizielle und »geheime« Vergangenheitspolitik der DDR, hier in der Absicht, die eigenen Mediziner nicht zu belasten; 2.) in der selbstentlastenden Konstruktion einer neuen Zeit- und Raumdimension für die DDR(-Medizin), durch die diese von ihren tatsächlichen historischen Entwicklungszusammenhängen abgetrennt werden sollte, und damit verbunden: 3.) darin, dass die innermedizinischen, personellen und konzeptionellen Kontinuitäten zwar erkannt, aber wegdiskutiert oder schlichtweg beschwiegen und die möglichen Folgen des Beschweigens billigend in Kauf genommen wurden. Zukünftige Untersuchungen zur Rezeptionsgeschichte des Buches werden zeigen müssen, ob es trotzdem den kritischen Umgang (vereinzelt belegbar bei B. Bogedain, H. Schwarz, Chr. Donalies, H. Späte, Kl. Weise) mit der NS-Psychiatrie und ihren langfristigen Folgen auch in der Breite gefördert hat. Der für die 1970er-Jahre festgestellte Befund, dass bei einzelnen Psychiatrievertretern die mehr oder minder stark ausgeprägte Professionskritik und Reformorientierung nicht zwangsläufig mit einer Forderung nach offensiver Aufarbeitung der Vergangenheit verbunden war (Siegfried Schirmer oder dessen Vorgängerin Lieselotte Eichler ; anders bei Helmut F. Späte), deckt sich mit den Beobachtungen zur westdeutschen Psychiatrie, in der einige der prononciertesten jüngeren Sozialpsychiater zu dem Zeitpunkt noch mitten in der Bestandsaufnahme der als katastrophal empfundenen Psychiatrien in der Bundesrepublik steckten (Psychiatrie-Enquete des DBT) und die dann um die Dekadenwende von den 1970er- zu den 1980er-Jahren mit einer intensiven Beschäftigung mit der NS-Psychiatrievergangenheit begannen. Wie schon am Bespiel der westdeutschen Kinderheilkunde zu beobachten war, wurde auch von einigen ostdeutschen Pädiatern die historische Schuld auf die Protagonisten der NS-Kindereuthanasie abgewälzt und so von der »kollektiven« Verantwortlichkeit der Pädiatrie abgelenkt. Die argumentative Bezugnahme auf die NS-Kindereuthanasie erfolgte, wenn überhaupt, entweder subtil in Form von Ängsten vor einem Vertrauensverlust gegenüber der Medizin oder implizit im Rahmen medizinethischer Grenzziehungsversuche. Während eine Regelung zur Nichtbehandlung bestimmter schwerstgeschädigter Kinder nach der Geburt für einige Vertreter der Pädiatrie wieder diskutabel geworden war, lehnten andere diese als passive Euthanasie aus ethischen Gründen ab. Bewusstere Reflexionen über die Vergangenheit setzten in der ostdeutschen Kin-

316

Erinnerungsgeschehen in der DDR

derheilkunde mit Beginn der wissenschaftlichen Thematisierung der NS-Euthanasie im Verlauf der 1980er-Jahre ein. Aus dem verzögerten Einsetzen der historischen Forschungen resultierte bis in die 1970er-Jahre ein geschichtliches Zerrbild, das aber mit der beginnenden Aufarbeitung in den 1980er-Jahren korrigiert werden konnte. Für die verspätete wissenschaftliche Thematisierung und Forschung bleibt allerdings festzuhalten, dass die Euthanasie-Vergangenheit als konstitutives Argument sowohl für eine kritische Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Gesellschaft als auch für die eigenen Reformbemühungen in der Medizin der DDR vorgebracht wurde. Aufarbeitung und Reformaufbruch fielen zunehmend zeitlich und in einigen Fällen auch personell (Kl. Weise, H. Späte) zusammen. Auffälligerweise erfuhren im Jahre 1989 die wissenschaftlichen Bemühungen um eine öffentlichkeitswirksame Reflexion über die »Medizin im Faschismus« ihren Höhepunkt, als der »antifaschistische« Staat DDR seine schwerste Legitimationskrise nicht mehr bewältigen konnte und dem Ende entgegenging.

6. Zusammenfassende Thesen

Realgeschichtlich zentraler Ausgangspunkt der vorliegenden Studie sind die verschiedenen, von 1939 bis 1945 systematisch durchgeführten NS-Euthanasieprogramme, die etwa 300.000 minderjährige und erwachsene Patienten das Leben kosteten. Wie mehrere Beiträge in der Forschungsliteratur herausstellen, war und ist die NS-Euthanasie ein wichtiger Referenzpunkt in den Nachkriegsdebatten der deutschen Ärzteschaft. Im Kern kreisen diese angesichts der unabweisbaren prekären Vergangenheit erstens um das Selbstverständnis der Berufsgruppe und zweitens um die Konstitution des ärztlichen Werte- und Normensystems. Die übergeordnete Leitfrage der vorliegenden rezeptionsgeschichtlichen Untersuchung lautete daher, ob für den Untersuchungszeitraum von 1945 bis etwa 2010 Formen von Vergegenwärtigungen der NS-Euthanasie in der deutschen Medizin nach 1945 identifiziert werden können, und wenn ja, welche das sind. Darüber hinaus wurde gefragt, mit welcher Dynamik und Spezifik sich diese Vergegenwärtigungen über die Zeit verändert haben. Die sich wandelnden Bezugnahmen auf die NS-Euthanasie-Vergangenheit waren zugleich in die breiteren Kontexte der deutsch-deutschen Nachkriegsgesellschaften und deren Reflexionsprozesse zum Nationalsozialismus und Holocaust einzubetten. Damit kann die Untersuchung im Forschungsfeld der Erinnerungskultur in Deutschland verortet werden. Für die historische Rekonstruktion und Analyse wurden mehrere, teils sehr unterschiedliche Gegenstände ausgewählt. Im Zentrum standen dabei medizinische Disziplinen, deren Vertreter sich direkt oder indirekt an der NS-Euthanasie beteiligt hatten. Hierfür wurden insbesondere die Pädiatrie, aber auch die Psychiatrie und die Neuropathologie fokussiert. Mit der Landesärztekammer Hessen wurde exemplarisch eine berufsständische Organisation der bundesdeutschen Ärzteschaft hinzugezogen. Spezielle Beachtung fanden dabei Konstellationen, in denen das Verhältnis von individueller und kollektiver Beteiligung von Ärzten oder die Frage nach der Kontinuität von Personen und Denkmodellen über die politischen Zäsuren von 1933 und 1945 hinweg explizit verhandelt wurden. Dies geschah insbesondere in öffentlich debattierten

318

Zusammenfassende Thesen

Skandalen um die zuvor vertuschte Beteiligung einzelner prominenter Mediziner an den nationalsozialistischen Krankentötungen, aber auch in den verschiedenen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen über die sogenannte Wiedergutmachung gegenüber den Opfern. Um die Perspektive der Betroffenen der NS-Zwangssterilisation und NS-Euthanasie einbringen zu können, war zu fragen, wie sich nachweisbare Opferverbände entwickelten und wie speziell die Ärzteschaft mit ihnen umging. Eine breitere erinnerungskulturelle Einbettung der NS-Euthanasie-Rezeption ab 1945 erfolgte, indem sowohl vorhandene Aufarbeitungsliteratur (Medizinhistoriographie) untersucht wurde als auch indem die Entstehungsgeschichte von vier NS-Euthanasie-Gedenkstätten dargestellt wurde. Neben diesen spezifischen Formen, den beteiligten Akteuren und privilegierten Orten des Vergangenheitsbezugs in der Medizin wurden in der Untersuchung in einer weiteren Perspektive auch die in die Zukunft gerichteten Aktualisierungen der Vergangenheit in den Blick genommen. Eine Frage war hierbei, wie die Bezugnahme auf die NS-Euthanasie in Form von verschiedenartigen Geschichtsargumenten in Medizinethikdiskursen verwertet wurde und schließlich auch in die Formulierung ethischer Programmatik einging. Die aus der vorliegenden Untersuchung gewonnenen Erkenntnisse über den Umgang mit der NS-Euthanasie in der deutsch-deutschen Medizin nach 1945 können im Folgenden in Form sechs allgemeiner, zum Teil ineinander verschränkter Thesen und Befunde zur Diskussion gestellt werden. Hinsichtlich der speziellen, auf die einzelnen Untersuchungsgegenstände bezogenen Ergebnisse sei auf die umfassenderen Reflexionen in den entsprechenden Zwischenfazits zurückverwiesen: 1. Von der Externalisierung zur Internalisierung950 der NS-Euthanasie (NS-Vergangenheit) in das Selbstbild der Gruppe Bezüglich der in der Untersuchung betrachteten Medizinergruppen lassen sich je eigene, sehr spezifische Entwicklungen konstatieren. Doch bei aller Verschiedenartigkeit, Vor- und Nachzeitigkeit dieser Prozesse lässt sich im Rückblick auf die letzten sechs Dekaden für alle betrachteten Beispiele eine Parallele 950 An dieser Stelle bedarf es der Erklärung, dass die beiden Begriffe eigenständig aus der historischen Analyse entwickelt und reflektiert wurden. Unabhängig davon finden sich unter Verwendung derselben Terminologie ähnliche Konzepte in älteren Arbeiten, die sich ebenfalls mit dem gesellschaftlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit befassen und die somit durch die vorliegende Studie bestätigt werden. Vgl. u. a. die Arbeit von Assmann / Frewert, Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit (1999); sowie die des Soziologen M. Rainer Lepsius, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des »Großdeutschen Reiches«, in: M. Rainer Lepsius, Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen, Göttingen 1993, S. 229 – 245.

Zusammenfassende Thesen

319

feststellen: der Wandel von der Fremd- zur Selbstzuschreibung historischer Verantwortung für die in der Vergangenheit begangenen Verbrechen. Über die Frage der Verantwortung wird unter den Mitgliedern einer Gruppe verhandelt, entweder aus Anlass eines gegenüber der mit den Taten assoziierten Gruppe erhobener Fremdanspruch durch juristische Instanzen, durch die Öffentlichkeit (Medien) oder durch die Gruppe der NS-Verfolgten. Sie kann aber auch über einen Prozess der Autoreflexion in einer Gruppe als Selbstanspruch entwickelt und zunehmend sich selbst zugeschrieben werden. Dieser Prozess ist durch den Übergang von der Externalisierung zur Internalisierung solcher Vergangenheitsinhalte charakterisiert, die das Selbstbild der Gruppen destabilisieren. Die Externalisierung ist dabei durch folgende Merkmale gekennzeichnet: Sowohl bei den Repräsentanten als auch in der breiten Mitgliedschaft einer Medizinergruppe besteht zunächst ein ausgeprägter Unwille, intern, geschweige denn in der Öffentlichkeit über die vergangenen Verbrechenskontexte zu sprechen. Freiwillig wird die NS-Vergangenheit nicht thematisiert. Lässt sich eine Thematisierung durch vorrangig externe Einflüsse nicht umgehen, so findet nur eine marginale, oberflächliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit statt. Vereinzelt bestehende selbstkritische Haltungen von Mitgliedern der Gruppe werden übergangen, unterdrückt und vor allem im Inneren der Gruppe eingehegt. Das entscheidende Motiv für diese Abwehrreaktion ist das Interesse am Schutz des Ansehens der gesamten Gruppe in der nationalen und internationalen Öffentlichkeit. In einigen Fällen hängt dieser erinnerungspolitische Protektionismus mit dem Wunsch zusammen, den in der NS-Zeit entstandenen Verlust der international führenden Stellung im jeweiligen Wissenschaftszweig, d. h. in der scientific community, auszugleichen. Die dabei gruppenintern geteilten und nach außen transportierten Geschichtsbilder sind zunächst überwiegend geprägt von der Ausklammerung einer Mitverantwortung an den Verbrechenskomplexen. In Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus überwiegt das Selbstbild von weitgehend unpolitischen Wissenschaftlern, die durch politische Instanzen zu bestimmten Maßnahmen gezwungen wurden. Der Abwehr der historischen Mitverantwortung entspricht die Abwehrhaltung, die noch lebenden Betroffenen oder Angehörigen zur Kenntnis zu nehmen, diese anzuerkennen oder gar zu unterstützen. Die Merkmale der Internalisierung, die sich in Abhängigkeit von den jeweiligen Gegenwartsbezügen in einer gebrochenen Dynamik aus Schüben und zwischenzeitlichen Stagnationsphasen951 vollzieht, weisen in die entgegenge951 Der Historiker Henning Tümmers hat parallel die Entwicklung der gesamtgesellschaftlichen Aushandlung über die Bedeutung der NS-Zwangssterilisation als »intermittierenden Lernprozess« bezeichnet. Vgl. Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 13.

320

Zusammenfassende Thesen

setzte Richtung. Es beginnt über die Zeit eine von vorübergehend heftigen Streitigkeiten begleitete, über verschiedene Auslöser dann wiederholte gruppeninterne Aushandlung über die Inhalte und Bedeutung der prekären Vergangenheitsinhalte. Die konjunkturellen Hochphasen der Auseinandersetzung sind von einer nachhaltigen Ausdifferenzierung der vertretenen und zunehmend offen diskutierten Selbstbilder geprägt. Die protektionistischen Beharrungskräfte in der Gruppe schwächen sich fortschreitend ab. Es setzt eine verstärkt quellenfundierte und den aktuellen Forschungsstand rezipierende Beschäftigung mit der Vergangenheit ein. Vertreter mit selbstkritischen Positionen bezüglich der Vergangenheit werden zunehmend toleriert und integriert. Im Zuge dieser Entwicklung erfolgte vorrangig in den 1980er-Jahren eine Diversifizierung der erinnerungskulturellen Paradigmen. Dem Isolationsparadigma, das Volker Roelcke für die psychiatriebezogene Medizinhistoriographie konzeptionalisierte und das in den 1950er- bis 1970er-Jahren dominierte, wurde nun das Kontinuitätsparadigma zur Seite gestellt. Beide waren noch am Ende des 20. Jahrhunderts nachweislich stark konkurrierend wirksam und stehen bis heute im Repertoire sinnstiftender Aushandlungsprozesse über die Vergangenheit optional zur Verfügung. Auf der Ebene der konkreten Vergegenwärtigungsobjekte ist ein typischer Zweisprung zu beobachten, in dem die konkrete Abfolge der bearbeiteten Themen für den Bereich der Medizin seit dem Beginn der 1990er-Jahre – und möglicherweise darüber hinaus – erinnerungskulturell signifikant zu sein scheint: Die Internalisierung prekärer Vergangenheit in das Geschichts- und Selbstbild der Gruppe gelang zuerst auf der Ebene der Identifikation mit den verfolgten, zumeist jüdischen Mitgliedern aus den eigenen Reihen. Erst zeitlich nachziehend erfolgte die Hinwendung zu den geschädigten Personenkreisen aus der eigenen Patientenklientel und deren Familien. Dieser zweistufige Internalisierungsprozess mündete in allen untersuchten Beispielen in öffentlichkeitswirksamen Erklärungen über die Mitschuld der eigenen Berufsgruppe an den NS-Verbrechen. Diese wurden durch offizielle, vom überwiegenden Teil der Gruppenmitglieder getragene Gedenkveranstaltungen ritualisiert und für die Zukunft konserviert. Die Nachhaltigkeit der Verinnerlichung hängt dabei nicht allein von der inhaltlichen Tiefe der Beschäftigung mit der Vergangenheit ab, sondern insbesondere von der dauerhaften Rezeption des produzierten Wissens und dessen aktiver Implementierung in den erinnerungskulturellen Alltag. In diesen Zusammenhang lassen sich z. B. die beobachtbaren spezifischen Probleme in der Max-Planck-Gesellschaft einordnen. In den offiziellen Schuldeingeständnissen drückt sich auch der Versuch aus, die Perspektive zu wechseln, nämlich hin zu den noch lebenden Betroffenen der NS-Verfolgung. Verbal eingestanden wird zumeist auch die Verantwortung für das diesen Menschen zugefügte zweite Leid, verursacht durch die fehlende

Zusammenfassende Thesen

321

Unterstützung bzw. die jahrzehntelang ausbleibende Anerkennung. Vereinzelt sind Bemühungen beobachtbar, nach Formen eines lebendigen Gedenkens zu suchen und diese zu verwirklichen. Weiterführende Ansätze, aus der Vergangenheit Rückschlüsse auch auf das gegenwärtige und zukünftige berufsethische Selbstverständnis zu ziehen, sind bislang nur in Ansätzen erkennbar. Der Befund eines verstärkt um die Milleniumwende beobachtbaren, universellen Bußrituals mit dem Dreiklang aus Aufarbeitung, Entschuldigung und lebendiger Erinnerung findet durch die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zur NSEuthanasie-Rezeption eine Bestätigung – mit eben der Einschränkung, dass der dritte Schritt noch keinesfalls umfassend vollzogen ist, wie von Carola Sachse, Paul Weindling und anderen Wissenschaftshistorikern äußerst kritisch problematisiert wird. 2. Auslöser der Vergegenwärtigung – zur Bedeutung der gescheiterten bzw. erfolgten juristischen Ahndung, der Verjährungsdebatten, der Skandale, Jahrestage und der medialen Ereignisse Dass die Entwicklung der NS-Euthanasie-Vergegenwärtigung eben keineswegs harmonisch und fließend vonstattenging, wie aus der ersten These der Eindruck entstehen könnte, zeigt der Blick auf die Chronologie der Ereignisse. So erfolgten die meisten der erwähnten offiziellen Entschuldigungsbemühungen überwiegend in jüngster Vergangenheit: in der Landesärztekammer Hessen im Jahr 1993, in der MPG im Jahr 2001, in der Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin 1998 und 2010, in der DGPPN ebenfalls im Jahr 2010 und in der Bundesärztekammer sogar erst im letzten Jahr. Doch die Vorentwicklungen reichen zum Teil bis weit in die 1970er- und 1960er-Jahre zurück und zeugen von den ausgeprägten und anhaltenden Widerständen gegen selbstkritische Narrative innerhalb der deutschen Medizin. In der zeitgeschichtlichen Forschung wurden bereits einige öffentliche Anlässe benannt, denen besondere Bedeutung für eine ungewollte oder auch freiwillige Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit zukam. Anhand der Quellenfunde lässt sich dokumentieren, dass der Nürnberger Ärzteprozess und seine Rezeption, die bis in die 1960er-Jahre anhaltenden Verjährungsdebatten im Deutschen Bundestag, vor allem aber die Ermittlungsverfahren im Vorfeld von dann teilweise nicht eingeleiteten NS-Euthanasie-Prozessen die bundesdeutsche Ärzteschaft mit der Vergangenheit konfrontierten. Hinzu traten verschiedene Skandale um inkriminierte, jedoch in die bundesrepublikanische Gesellschaft integrierte Ärzte, die mit kollegialer und politischer Rückendeckung wieder praktizierten. Im Umfeld eines dieser Enthüllungsskandale sah sich beispielweise die Gesellschaft für Kinderheilkunde im Jahr 1960 gezwungen, sich mit einem für die NS-Kindereuthanasie hauptverantwortlichen Mitglied aus

322

Zusammenfassende Thesen

den eigenen Reihen zu beschäftigen: dem Kieler Ordinarius für Pädiatrie Werner Catel. Während Ermittlungsverfahren, Prozesse und Skandale sich vor allem in den 1960er- und 1970er-Jahren häuften, übernahmen seit den 1980er-Jahren andere medial verstärkte Ereignisse zunehmend eine Anstoßfunktion. Darunter regte eines am nachhaltigsten die Dynamik von geschichtlichen Verinnerlichungsprozessen in Teilen der Medizin an: die 1979 erfolgte Ausstrahlung der vierteiligen Fernsehserie »Holocaust«. Der beobachtbare quantitative und qualitative Sprung in der Erinnerungspolitisierung und NS-Medizinaufarbeitung kann wohl begründet als Teil einer gesamtgesellschaftlichen erinnerungskulturellen Zäsur in den Jahren 1979 / 1980 verstanden werden. Ausgelöst durch »Holocaust« kam es in der Landesärztekammer Hessen unmittelbar zur Organisation der Bad Nauheimer Tagung mit dem Thema »Unmenschliche Medizin«. Hier zeigte sich eine vergleichsweise frühe Rezeption des Nürnberger Ärzteprozesses verknüpft mit dem – auf der kontextuellen Folie der NS-Vergangenheit – intensiv diskutierten medizinethischen Gegenwartsbezug der Zulässigkeit von Schwangerschaftsabbrüchen. Auch fand 1980 in Berlin als provokante Gegenveranstaltung zum Deutschen Ärztetag der erste alternative Gesundheitstag mit dem thematischen Fokus »Medizin im Nationalsozialismus« statt. Hier hatte »Holocaust« als vergangenheitspolitischer Impuls eine verstärkende Bedeutung für die bereits bestehende alternative Gesundheits- und Aufarbeitungsbewegung. Bundesweit schärfte die emotionale Auseinandersetzung mit der Serie das Bewusstsein für die Notwendigkeit historischer Aufarbeitung. In der Folge kam es erstens zur engeren Vernetzung von bereits bestehenden lokalen Forschungsinitiativen bis hin zur Gründung des Arbeitskreises NS-Euthanasie im Jahr 1983. Zweitens setzte ein gezieltes und breiteres Engagement von einzelnen Medizinergruppen für eine entschädigungspolitische Anerkennung der überlebenden Personen und ihrer Angehörigen ein. Drittens wurde dadurch die Gründung einer neuen NS-Verfolgtenorganisation, des Bundes der Zwangssterilisierten und Euthanasie-Geschädigten, im Jahr 1987 begünstigt. Zukünftige Forschungen dürften die Liste dieser neuartigen, von jüngeren Medizinvertretern betriebenen Aktivitäten zu erweitern helfen. Derartige mediale Ereignisse, die sich nicht nur auf den Zeitpunkt, sondern auch auf die Intensität und Qualität der Vergegenwärtigung auswirkten, waren nicht die einzigen gesamtgesellschaftlichen Einflussfaktoren. Hinzuzurechnen sind auch zahlensymbolisch aufgeladene »runde« Jahrestage, die auf politischer Ebene in den 1980er- und 1990er-Jahren zunehmend als Anlass für Neuverhandlungen über die Bedeutung der NS-Vergangenheit für die bundesdeutsche Gesellschaft wirksam wurden.

Zusammenfassende Thesen

323

3. Historische Akteure – zur Bedeutung der Zentrum-Peripherie-Konstellation und des biographischen Hintergrunds Ein wichtiger Befund ergab sich hinsichtlich der Bedeutung der besonderen Position von impulsgebenden Akteuren (memory agents). Solange die Vergangenheit noch aus dem Selbstbild der Gruppe teilweise oder vollständig ausgeklammert wurde, traten vereinzelt Personen mit kritischen Positionen und Forderungen nach einer ungehinderten Beschäftigung mit der Vergangenheit auf, Personen, die sich an der Peripherie bzw. an den Rändern der betrachteten Gruppe befanden: konkret – im Ausland (Schweiz, USA, Kanada, Niederlande) oder in noch kaum institutionalisierten Disziplinzweigen wie z. B. der Sozialpädiatrie. Dieses Phänomen ließ sich sowohl an den Beispielen Kinderheilkunde, Psychiatrie in der BRD und DDR, der Neuropathologie (MPG) als auch am Fall Landesärztekammer Hessen zeigen. Der detaillierteste Einblick in den Verlauf der Vergegenwärtigung der NSEuthanasie gelang für die deutsche Kinderheilkunde. Die Überlieferung erlaubte trotz auffälliger Lücken im Aktenbestand der Fachgesellschaft die Rekonstruktion des Wandels in dieser Gruppe von den späten 1950er-Jahren bis heute. Die Diskursteilnehmer brachten dabei ihre je eigene Geschichte aus der Zeit des Nationalsozialismus indirekt oder direkt ein. Es waren diese biographischen Hintergründe, die sich als Kontext unmittelbar auf den Diskurs und auf die Form der Vergegenwärtigung auswirkten. Am deutlichsten tritt dies in der Tatsache hervor, dass z. B. die aus dem Ausland agierenden Erinnerungsgestalter selbst eine Verfolgungsgeschichte in der NS-Zeit aufzuweisen hatten und sich vor diesem Hintergrund aktiv gegen die Vergangenheitspolitik mit ihrer mehr oder minder stillschweigenden Täter-Integration in die Nachkriegsfachgesellschaft wehrten. Für einige dieser Vertreter ließ sich nachweisen, dass sie sich in ihrer oppositionellen Haltung zum NS-System schon während des Zweiten Weltkrieges gegen die NS-Euthanasie ausgesprochen hatten. In einem spiegelbildlichen Verhältnis stehen dazu im Streit um die Person Werner Catel die indifferenten, zurückhaltenden oder vermittelnden Haltungen jener Kinderärzte, die mit dem Nationalsozialismus sympathisiert hatten. Sie stellten sich zwar auch nicht öffentlich hinter Catel, waren aber eher bereit, auf ihn zuzugehen oder ihn zu dulden. Der besondere Einfluss dieses biographischen Faktors war im Falle der Kinderheilkunde vorrangig für die 1960er- und 1970er-Jahre feststellbar. Mit dem beruflichen Rückzug der von den NS-Erfahrungen unmittelbar geprägten Mitglieder schwächte sich auch der Einfluss des biographischen Hintergrunds in den Auseinandersetzungen ab, bis er Mitte der 1990er-Jahre keine nachweisbare Rolle mehr spielte. Letzteres deutet darauf hin, dass die fortschreitende Abfolge der Generationen ein entscheidender Einflussfaktor für den Wandel im Umgang

324

Zusammenfassende Thesen

mit der NS-Vergangenheit war, der in den 1990er-Jahren in allen untersuchten Medizinergruppen einsetzte. 4. Politisierung und Pluralisierung – Reformimpulse und Generationalität als Einflussfaktoren auf den Wandel der Vergegenwärtigung Bezüglich der generationellen Postition der historischen Akteure und deren konkreten Einfluss auf die Dynamik der Vergegenwärtigung konnten nur vorläufige Befunde gesammelt werden. Am deutlichsten zeichneten sich diese in der Untersuchung der berufsständischen Organisationen, der Ärztekammer Hessen, ab. Dort waren es vor allem die Vertreter der oppositionellen Kammerlisten (überwiegend »68er«-Generation, Vertreter der Gewerkschaften, Studentenbewegung und Gesundheitsbewegung), die seit ihrem erfolgreichen Einzug in die Ärztekammern seit Mitte der 1970er-Jahre ihre Kritik an dem Beschweigen der NS-Medizinverbrechen gegenüber den älteren Kammermitgliedern auch hier vom Rand aus artikulierten. Bei letzteren handelte es sich ihrer Stellung im Gruppenzentrum nach um die Repräsentanten (Vorstände, Präsidien). Wie sich zeigen ließ, konnte die etablierte Gruppe älterer Kammervertreter diese Kritik der Jüngeren bis in die erste Hälfte der 1980er-Jahre erfolgreich abwehren. Die aus den sozialen Bewegungen der 1960er- und 1970er-Jahre hervorgehenden Oppositionellen und Reformmediziner mussten sich anfangs sowohl in den berufsständischen Organisationen als auch in den medizinischen Einzeldisziplinen (z. B. Sozialpsychiatrie und Sozialpädiatrie) mit ihrer schwachen Position abfinden. Sie konnten sich aber im Laufe der 1980er- und 1990er-Jahre in die Machtzentren der deutschen Medizin »hineinarbeiten«. Oder ihnen gelang, einhergehend mit der Ausdifferenzierung der Medizinfelder und mit deren Institutionalisierung (z. B. Sozialpsychiatrie, Sozialpädiatrie, Medizinische Soziologie, im Verlagswesen: Mabuse-Verlag), die Entwicklung von eigenen Zentren und Aktionsradien, in denen sie ihre Reform- und Aufarbeitungsziele realisierten. Insbesondere die Beispiele der Ärztekammern in Hessen und Berlin zeigen, dass mit dem Vordringen der oppositionellen Gruppen in die Institutionsorgane und Machtpositionen der Kammern das Ende der Vermeidungsstrategien gegenüber der NS-Thematik eingeleitet wurde. Sowohl die mit der politischen Pluralisierung verbundene Demokratisierung als auch die Verschiebung der generationellen Verhältnisse innerhalb der Ärzteschaft waren hierfür ausschlaggebend.

Zusammenfassende Thesen

325

5. Parallelen und Unterschiede in der Medizin der Bundesrepublik und der DDR Die erinnerungspolitischen Rahmenbedingungen in der DDR waren bekanntlich andere als in der Bundesrepublik. Die DDR verstand sich nicht als Nachfolgestaat des Deutschen Reichs und behauptete mit ihrer Gründung, von der historischen Verantwortung befreit zu sein. Im Verlauf der 1950er-Jahre wurden Erinnerungsinteressen von einzelnen NS-Verfolgtengruppen durch kommunistische bzw. sogenannte antifaschistische Gruppen an den Rand gedrängt. Eine staatliche Entschädigung der Zwangssterilisierten und NS-EuthanasieGeschädigten war nicht vorgesehen. Auf der Ebene der untersuchten medizinischen Diszplinen wurde erstens erkennbar, wie ausgeprägt die Vergegenwärtigungsprozesse in Ost und West aufeinander bezogen waren, und zweitens, wie sehr diese durch die deutschdeutsche Systemkonkurrenz figuriert waren. Dass dabei in der DDR-Medizin bis in die 1970er-Jahre dieselben Motive und Abwehrmechanismen gegen eine Thematisierung auftraten wie in der Bundesrepublik, spricht für vergleichbare berufsgruppeninhärente Wirkzusammenhänge. Dazu zählen die vehementen Versuche von ostdeutschen Psychiatrievertretern, die Publikation des Juristen und Publizisten Friedrich Karl Kaul zu verhindern, weil sie einen Ansehensverlust der ostdeutschen psychiatrischen Einrichtungen befürchteten. Bezüglich der auf dem Gebiet der DDR liegenden zentralen historischen Orte zeigen sich lokale Erinnerungsinitiativen, die ähnlich wie in der Bundesrepublik von Vertretern der Reformpsychiatrie getragen wurden. Doch stießen diese bis zur Mitte der 1980er-Jahre anhaltend auf Gegenwehr der SED-Kreisleitungen. Erst für die Zeit des Endes der DDR ist unter Rezeption der umfangreicheren Medizinhistoriographie zum Themenkomplex Medizin und Faschismus eine Pluralisierung der Geschichtsbilder und eine Ausweitung des erinnerungskulturellen Spektrums zu konstatieren. 6. Geschichte als Argument in der Medizinethik In der Geschichte der deutschen Medizinethikdiskurse nach 1945 lassen sich vielfältige Formen feststellen, wie mit den NS-Euthanasieverbrechen argumentiert wurde. Die häufigsten Anwendungsbereiche fanden sich in den Debatten über den Schwangerschaftsabbruch auf Grundlage von § 218, aber vor allem über die aktive und passive Euthanasie. Weitere relevante Themenfelder lagen mit der Indikationsfrage bei der Sterilisation behinderter Menschen oder auch mit den Thalidomid-geschädigten Kindern vor. Es zeigt sich ein Zusammenhang zwischen spezifischen Argumentationsweisen und der jeweiligen Phase der Vergegenwärtigung. Von den 1950er- bis in die 1970er-Jahre dominieren in den hier betrachteten medizinethischen Dis-

326

Zusammenfassende Thesen

kussionen deontologische Verweise auf die christliche Ethik, den Hippokratischen Eid und das von Albert Schweitzer formulierte Postulat der Ehrfurcht vor dem Leben. Aus diesen Diskussionen spricht das Bedürfnis, universale Werte der Medizin zu bewahren und – wie bereits Eva-Corinna Simon betont hat – an frühere, unbelastete Traditionen anzuknüpfen. In der zu Beginn der 1980erJahre breiter einsetzenden Ethikdiskussion treten aus der medizinischen Praxis abgeleitete Begründungsentwürfe hinzu, die sich verstärkt an der Frage nach den Folgen einer medizinischen Behandlung oder Nichtbehandlung orientieren. Historisch begründete Argumentationen mit direktem Bezug zur NS-Medizin treten eher nachziehend hinzu, nämlich mit dem Fortschreiten der NS-Aufarbeitung und der daraus folgenden Integration der problematischen Vergangenheit in das Selbstbild der einzelnen Medizingruppen. Mit dem schrittweisen Übergang von der Externalisierung zur Internalisierung treten verstärkt historisch fundierte Argumente gegen eine Ausweitung von Zulässigkeitsregelungen auf. Nicht zufällig werden warnende Positionen in Form von Dammbruch- oder Schiefe-Ebene-Argumenten insbesondere von Vertretern der medizinischen Aufarbeitungsbewegung seit den 1980er-Jahren in den politischen Willensbildungsprozess auf Landes- und Bundesebene eingebracht. Im Zuge dessen wird auch der Nürnberger Kodex von 1947 als Lernerfahrung aus den im Nürnberger Ärzteprozess verhandelten NS-Medizinverbrechen gezielt rezipiert. Die über Jahrzehnte tendenziell nebeneinander bestehenden Bereiche von Vergangenheitsaufarbeitung und Medizinethik werden von einzelnen historischen Akteuren und Gruppen stärker als zuvor in Beziehung zueinander gesetzt. Wie allerdings die Detailanalyse des Euthanasiediskurses in der Pädiatrie offengelegt hat, durchdringen die beiden Felder einander – trotz fortschreitender gruppeninterner Verinnerlichung der prekären Vergangenheit – keineswegs zwangsläufig auf allen Ebenen. So konnten zwar historische Analogieschlüsse zur NS-Vergangenheit einerseits eine begrenzende Wirkung auf spezielle medizinethische Positionen entfalten. Der Befund der prinzipiellen Ablehnung einer Legalisierung aktiver Sterbehilfe in beiden deutschen Staaten, die als internalisierte Konsequenz aus der NS-Euthanasievergangenheit verstanden werden kann, ist evident. Andererseits liegen auch Indizien dafür vor, dass sich berufspolitische Interessen wie z. B. spezifische ärztliche Autonomieansprüche in Gestalt medizinethischer Positionierungen sowohl fruchtbar als auch in umgekehrter Richtung mit stark begrenzender Wirkung auf die Qualität der historischen Reflexion auswirken können. Somit verweisen die Ergebnisse der vorliegenden rezeptionsgeschichtlichen Untersuchung zur deutschen Medizin nach 1945 auf ein allgemeineres Phänomen, das sich auch auf andere gesellschaftliche Bereiche übertragen lässt: das grundsätzlich ambivalente Potenzial einer immer neuen Sinnstiftung aus historischer Erfahrung für gegenwärtiges und zukünftiges Handeln.

7. Liste der einbezogenen öffentlichen und privaten Archive

Archiv Beratungszentrum Alsterdorf (Michael Wunder) Archiv der Opferorganisation BEZ, Detmold Archiv Institut für Zeitgeschichte, München Archiv Landesärztekammer Hessen, Geschäftsstelle Frankfurt am Main Archiv der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin, Kinderzentrum München (DGSPJ) Archiv für Kinder- und Jugendmedizin im Universitätsarchiv der HumboldtUniversität Berlin (einschließlich der Unterlagen aus der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und GP der DDR) Archiv für Leipziger Psychiatriegeschichte Archiv des Instituts für Medizinische Soziologie (Hans-Ulrich Deppe), Frankfurt am Main Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Berlin-Dahlem Bundesarchiv Berlin Bundesarchiv Koblenz Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), Zentralstelle und Außenstellen

328

Liste der einbezogenen öffentlichen und privaten Archive

Historisches Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Außenstelle am Max-PlanckInstitut für Psychiatrie, München Medizinhistorische Sammlung des Klinikum Chemnitz National Archives and Records Administration, Washington DC Niedersächsisches Hauptstaatsarchiv Hannover Privatarchiv Peter Degkwitz, Hamburg Privatarchiv Helmut F. Späte, Halle Privatarchiv Winfried Beck, Offenbach Universitätsarchiv Freiburg Universitätsarchiv Leipzig Universitätsarchiv Gießen Staatsarchiv Hamburg Staatsarchiv Basel, Schweiz Stadtarchiv Chemnitz Stadtarchiv Wetzlar Unterlagen der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie

8. Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

Alexander, Leo, Medical Science under Dictatorship, in: The New England Journal of Medicine 241 (1949) 2, S. 39 – 47. Althaus, Claudia, Geschichte, Erinnerung und Person. Zum Wechselverhältnis von Erinnerungskultur und Offizialkultur, in: Günter Oesterle (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen 2005, S. 589 – 609. Aly, Götz, Der saubere und der schmutzige Fortschritt, in: Götz Aly (Hg.), Reform und Gewissen. »Euthanasie« im Dienst des Fortschritts, Beiträge zur Nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 1, Berlin 1985, S. 9 – 78. Aly, Götz, Der Mord an behinderten Hamburger Kindern zwischen 1939 und 1945, in: Angelika Ebbinghaus (Hg.), Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg, Hamburg 1984, S. 147 – 155. Aly, Götz und Karl Friedrich Masuhr, Der diagnostische Blick des Gerhard Kloos, in: Götz Aly (Hg.), Reform und Gewissen. »Euthanasie« im Dienst des Fortschritts, Beiträge zur Nationalsozialistischen Gesundheits- und Sozialpolitik, Bd. 2, Berlin 1985, S. 81 – 106. Anthuber, Christoph u. a. (Hg.), Herausforderungen. 100 Jahre Bayerische Gesellschaft für Geburtshilfe und Frauenheilkunde, Stuttgart / New York 2012. Arbeitskreis zur Aufarbeitung der Geschichte der »Euthanasie«, Zweiter Appell, »Kein neues Sterilisationsgesetz«, in: Frankfurter Rundschau, 14. 10. 1989, S. 4. Arendt, Hannah, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München / Zürich 61996. von Arnim, Hans, Konsistorialpräsident, Zur Frage der Sterilisierung. Eine Stellungnahme von evangelischer Seite, in: Berliner Gesundheitsblatt 1 (1950) 23, S. 579. Ärztekammer Berlin in Zusammenarbeit mit der Bundesärztekammer (Hg.), Redaktion: Christian Pross und Götz Aly, Der Wert des Menschen. Medizin in Deutschland 1918 – 1945, Berlin 1990. Assmann, Aleida, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. Assmann, Aleida und Jan Assmann, Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis, in: Klaus Merten u. a. (Hg.), Die Wirklichkeit der Medien. Eine Einführung in die Kommunikationswissenschaften, Opladen 1994, S. 114 – 140. Assmann, Aleida und Ute Frevert, Geschichtsvergessenheit und Geschichtsversessenheit. Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten nach 1945, Stuttgart 1999.

330

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

Assmann, Jan, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. Assmann, Jan, Collective Memory and Cultural Identity, in: New German Critique 65 (1995), S. 125 – 133. Baader, Gerhard und Ulrich Schultz (Hg.), Medizin und Nationalsozialismus. Tabuisierte Vergangenheit, ungebrochene Tradition. Dokumentation des Gesundheitstages Berlin 1980, Berlin 1980. Babel, Andreas, Ehemaliger Celler Chefärztin 12 Tötungen zur Last gelegt, in: Cellesche Zeitung vom 2. 6. 2010, http://www.cellesche-zeitung.de/website.php/website/story/ 91367 (5. 1. 2013). Bach, Christiane, Die Zwangssterilisationspraxis aufgrund des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im Bereich der Gesundheitsämter Leipzig und Grimma, die Tötung Geisteskranker und die Rolle der erbbiologischen Erfassungs- und Begutachtungspraxis der Psychiatrie zwischen 1933 und 1945, Med. Diss. Leipzig 1990. Bamatter, Fred u. a., Gratulation. Hommage au Professeur Adolf Hottinger — l’occasion de son 70e anniversaire, in: Schweizerische Medizinische Wochenschrift 97 (1967) 46, S. 1551 – 1552. Bareuther, Herbert (Hg.), Medizin und Antisemitismus. Historische Aspekte des Antisemitismus in der Ärzteschaft, Münster 1998. Bar-On, Dan, Die Last des Schweigens. Gespräche mit den Kindern von Nazi-Tätern, Frankfurt am Main 1993. Baumann, Ruth, Charlotte Köttgen und Inge Grolle, Arbeitsfähig oder unbrauchbar? Die Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie seit 1933 am Beispiel Hamburgs, Frankfurt am Main 1994. Beck, Christoph, Sozialdarwinismus, Rassenhygiene, Zwangssterilisation und Vernichtung »lebensunwerten« Lebens. Eine Bibliographie zum Umgang mit behinderten Menschen im »Dritten Reich« – und heute, Bonn 21995. Beck, Christoph, Auswahlbibliographie, in: Kristina Hübener (Hg.) in Zusammenarbeit mit Martin Heinze, Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit, Berlin / Brandenburg 2002, S. 403 – 474. Beddies, Thomas, Der Kinderarzt und »Euthanasie«-Gutachter Ernst Wentzler, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 151 (2003), S. 1020 – 1026. Beddies, Thomas, »Du hast die Pflicht, gesund zu sein.« Der Gesundheitsdienst der HitlerJugend 1933 bis 1945, Berlin / Brandenburg 2010. Beddies, Thomas und Kristina Hübener, Das Schicksal der drei »Brüder K.« – Eine Dokumentation, in: Thomas Beddies und Kristina Hübener (Hg.), Dokumente zur Psychiatrie im Nationalsozialismus, Berlin / Brandenburg 2003, 249 – 258. Beddies, Thomas und Heinz-Peter Schmiedebach, Der Pädiater Dr. Ernst Wentzler und die Kinderklinik Frohnau (1923 – 1964), in: Jürgen Wetzel (Hg.), Berlin in Geschichte und Gegenwart. Berlin 2002, S. 137 – 158. Bennholdt-Thomsen, Carl-Gottlieb, Ärztliches zur Welt des Kindes, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 108 (1959) 3, S. 83 – 89. Bennholdt-Thomsen, Carl-Gottlieb, Eröffnungsansprache. Verhandlungen der 61. ordentlichen Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde in Köln 1963, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde, 112 (1964), S. 109 – 111.

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

331

Bennholdt-Thomsen, Carl-Gottlieb, Grenzen der Therapie bei Kindern, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 115 (1967), S. 178 – 182. Benzenhöfer, Udo, »Kinderfachabteilungen« und »NS-Kindereuthanasie«, Wetzlar 2000. Benzenhöfer, Udo, Genese und Struktur der »NS-Kinder- und Jugendlicheneuthanasie«, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 10 (2003), S. 1012 – 1019. Benzenhöfer, Udo, Hans Heinze: Kinder- und Jugendpsychiatrie und »Euthanasie«, in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation (Hg.), Beiträge zur NS-»Euthanasie«-Forschung 2002. Fachtagungen vom 24. bis 26. Mai 2002 in Linz und Hartheim / Alkhoven und vom 15. bis 17. November 2002 in Potsdam, Ulm 2003, S. 9 – 51. Berndt, Christina, Blinde Flecken. Nach Jahren vorbildlicher Aufarbeitung geht die MaxPlanck-Gesellschaft nun leichtfertig mit ihrer NS-Geschichte um, beklagen Historiker, Süddeutsche Zeitung, 25. 1. 2011. Bernhard, Heike, Die Anstaltspsychiatrie in Pommern 1939 bis 1946. Ein Beitrag zur Aufhellung nationalsozialistischer Tötungsaktionen unter besonderer Berücksichtigung der Landesheilanstalt Ueckermünde, Med. Diss. Leipzig 1993. Bernhard, Michael, Der Pädiater Ernst Freudenberg 1884 – 1967, Med. Diss. Marburg 2001. Binding, Karl und Alfred Hoche, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form, Leipzig 1920. Bock, Gisela, Zwangssterilisation und Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik. Opladen 1986. Bodnar, John, Remaking America. Public Memory, Commemoration, and Patriotism in the Twentieth Century, Princeton, N.J. 1992. Böhm, Boris, »Euthanasie«-Verbrechen ausstellen – Das Beispiel der Gedenkstätte PirnaSonnenstein, in: Stefanie Westermann, Richard Kühl und Tim Ohnhäuser (Hg.), NS»Euthanasie« und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung, Gedenkformen, Betroffenenperspektiven, Berlin u. a. 2011, S. 123 – 132. Bogedain, Bernhard (Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung bei der SED-Kreisleitung Brandenburg), Nazimordaktion T4 in Brandenburg, in: Brandenburger Kulturspiegel, Sept. (1976), S. 1 – 9. Bonhoeffer, Karl, Einführung von Prof. Dr. Bonhoeffer †, Berlin, in: Psychiatrie, Neurologie und Medizinische Psychologie 1 (1949) 1/2, S. 1. von Bormann, Felix, Medizinische Versuche am Menschen, in: Nation Europa 6 (1956) 7, S. 62 – 72. Braun, Ottheinz, Probleme bei sterbenden Kindern, in: Helmuth Müller und Hermann Olbing (Hg.), Symposium Ethische Probleme in der Pädiatrie und ihren Grenzgebieten, 1981 Tegernsee, München 1982, S. 270 – 279. Braun, Wolfgang, German Pediatrics, in: Buford L. Nichols, Angel Ballabriga und Norman Kretchmer (Hg.), History of Pediatrics 1850 – 1950, New York 1991, S. 23 – 30. Braun, Wolfgang (Hg.), 100 Jahre Universitäts-Kinderklinik, Leipzig 1991. Brehme, Thilo, Aufgaben und Bedeutung der Kinderheilkunde im neuen Deutschland, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 62 (1934), S. 183 – 185. Brink, Cornelia, Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860 – 1980, Göttingen 2010. Brodehl, Johannes, Grenzen der konservativen Therapie bei Kindern mit infauster Pro-

332

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

gnose, in: Helmuth Müller und Hermann Olbing (Hg.), Symposium Ethische Probleme in der Pädiatrie und ihren Grenzgebieten, 1981 Tegernsee, München 1982, S. 210 – 219. Brodehl, Johannes, Wie es dazu kam. Persönliche Erinnerungen an den Aufbruch der DGfKJ zur Rückbesinnung auf ihre Vergangenheit. Ansprache beim ersten Zusammentreffen mit den Gästen am Vorabend der Gedenkveranstaltung, 2. 10. 1998, in: Öffentliche Gedenkveranstaltung im Rahmen der 94. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, Dresden Schauspielhaus, 3. Oktober 1998, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde, Suppl. 1 (1999), S35-S37. vom Bruch, Rüdiger und Brigitte Kaderas (Hg.), Wissenschaften und Wissenschaftspolitik. Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, Stuttgart 2002. Buhl, Christoph, Von der Eugenik zur Euthanasie. Eine Spurensuche in Leipzig, Leipzig 2001. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Gedenkstätten für die Opfer des Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, von Stefanie Endlich u. a., Bd. II, Bonn 1999. Burleigh, Michael und Wolfgang Wippermann, Hilfloser Historismus. Warum die deutsche Geschichtswissenschaft bei der Erforschung der Euthanasie versagt hat, in: Karl Ludwig Rost, Till Bastian und Karl Bonhoeffer (Hg.), Thema Behinderte. Wege zu einer sozial verpflichteten Medizin – Reihe »Medizin und Ökologie«, Stuttgart 1991, S. 11 – 23. Burlon, Marc, Die »Euthanasie« an Kindern während der Zeit des Nationalsozialismus in den zwei Hamburger Kinderfachabteilungen, Med. Diss. Hamburg 2009. van den Bussche, Hendrik, Medizinische Wissenschaft im Dritten Reich. Kontinuität, Anpassung und Opposition an der Hamburger Medizinischen Fakultät, Berlin / Hamburg 1989. van den Bussche, Hendrik, Rudolf Degkwitz. Die politische Kontroverse um einen außergewöhnlichen Arzt, in: Kinder- und Jugendarzt 30 (1999) Teil I: Nr. 4, S. 425 – 431; Teil II: Nr. 5, S. 549 – 559. Castell, Rolf, Jan Nedoschill, Madeleine Rupps und Dagmar Bussiek, Geschichte der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Deutschland in den Jahren 1937 – 1961, Göttingen 2003. Catel, Werner, Lehrbuch der Tuberkulose des Kindes und des Jugendlichen, Leipzig 1950 (2. Aufl. 1954). Catel, Werner (Hg.), Kongressbericht der Norddeutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, 4. bis 6. Mai 1956 in Kiel, im Auftrag des Vorstandes, Lübeck 1957. Catel, Werner, Grenzsituationen des Lebens. Beitrag zum Problem der begrenzten Euthanasie, Nürnberg 1962. Catel, Prof. Dr. med. W., Rubrik Briefe, Euthanasie, in: Der Spiegel 10 (1964), S. 6. Catel, Werner, Leidminderung – richtig verstanden. Mit einer Einleitung von Fabian von Schlabrendorff, Nürnberg 1966. Catel, Werner, Leben im Widerstreit – Bekenntnisse eines Arztes, Nürnberg 1974. Chroust, Peter, Herwig Groß u. a. (Hg.), »Soll nach Hadamar überführt werden«: den Opfern der Euthanasiemorde 1939 – 1945. Katalog Gedenkausstellung in Hadamar, hg. von der Autorengruppe Peter Chroust, bearb. von M. Hamann mit Beitr. von H. Gross, Frankfurt am Main 1989. Classen, Christoph, Die Fernsehserie »Holocaust« – Rückblicke auf eine »betroffene Na-

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

333

tion«, in: Zeitgeschichte-online März 2004 / Oktober 2005, http://www.zeitgeschichteonline.de/sites/default/files/documents/classen_einf.pdf (5. 1. 2013). Confino, Alon, Collective Memory and Cultural History : Problems of Method, in: The American Historical Review 102 (1997), S. 1386 – 1403. Conrad-Martius, Hedwig, Utopien der Menschenzüchtung. Der Sozialdarwinismus und seine Folgen, München 1955. Degkwitz, Rudolf, Das alte und das neue Deutschland, Hamburg 1946. Degkwitz, Rudolf (New York), »Masseneuthanasie« im Dritten Reich, Rubrik Aussprache, in: Ärztliche Mitteilungen 45 (1960) 2, S. 2382. Deppe, Hans-Ulrich, Ärzte in der Gesundheitsbewegung, in: Winfried Beck, Hans-Ulrich Deppe, Renate Jäckle und Udo Schagen (Hg.), Ärzteopposition, Neckarsulm / München 1987, S. 29 – 50. Deppe, Hans-Ulrich, Krankheit ist ohne Politik nicht heilbar. Zur Kritik der Gesundheitspolitik, Frankfurt am Main 1987. Deppe, Hans-Ulrich, Winfried Beck, Renate Jäckle und Udo Schagen, Warum Kammeropposition?, in: Hans-Ulrich Deppe, Winfried Beck, Renate Jäckle und Udo Schagen (Hg.), Ärzteopposition, Neckarsulm / München 1987, S. 99 – 133. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V., Erklärung zur Gedenkveranstaltung am 18. September 2010 in Potsdam, http://www.dgkj.de/ueber_uns/geschichte/gedenkveranstaltung_2010/ (31. 12. 2012). Deutscher Bundestag, Referat Öffentlichkeitsarbeit (Hg.), Wiedergutmachung und Entschädigung für nationalsozialistisches Unrecht. Öffentliche Anhörung des Innenausschusses des Deutschen Bundestages am 24. Juni 1987 (Zur Sache. Themen parlamentarischer Beratung), Bonn 1987. Deutscher Bundestag 7. Wahlperiode, Drucksache 7/4200, Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland – Zur psychiatrischen und psychotherapeutisch / psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung. Abschlussbericht 1975, http://www.dgppn.de/schwerpunkte/versorgung/enquete.html (5. 1. 2013) Diner, Dan (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988. Diner, Dan, Kreisläufe. Nationalsozialismus und Geschichte, Berlin 1995. Diner, Dan, Zivilisationsbruch, Gegenrationalität, ›Gestaute Zeit‹. Drei interpretationsleitende Begriffe zum Thema Holocaust, in: Hans Erler, Ernst Ludwig Ehrlich und Ludger Heid (Hg.), »Meinetwegen ist die Welt erschaffen«. Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Judentums, Frankfurt am Main 1997, S. 513 – 520. Dinges, Martin (Hg.), Medizinkritische Bewegungen im Deutschen Reich (ca. 1870–ca. 1933), Stuttgart 1996. von Ditfurth, Hoimar, Mord soll Mord genannt werden, in: Die ZEIT 17 (1962), 30, 27. 7. 1962. Dittrich, Joachim Karl, Rechtfertigungen? Betrachtungen zu drei Buchveröffentlichungen Werner Catels, in: Wieland Kiess, Ortrun Riha und Eberhard Keller (Hg.), 110 Jahre Universitätsklinik und Poliklinik für Kinder und Jugendliche in Leipzig, Basel 2003, S. 27 – 40. Dost, Friedrich Hartmut, Gedenktage. Professor Dr. W. Catel zum 60. Geburtstag, in: Kinderärztliche Praxis 22 (1954) 6, S. 241 – 243. Dörner, Klaus, Nationalsozialismus und Lebensvernichtung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 15 (1967), S. 121 – 152.

334

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

Dörner, Klaus, Bürger und Irre. Zur Sozialgeschichte und Wissenssoziologie der Psychiatrie, Frankfurt am Main 1969. Dörner, Klaus, Diagnosen der Psychiatrie. Über die Vermeidungen der Psychiatrie und Medizin, Frankfurt am Main / New York 1975. Dörner, Klaus (Hg.), Gestern minderwertig – heute gleichwertig? Folgen der Gütersloher Resolution. Dokumentation und Zwischenbilanz des Menschenrechtskampfes um die öffentliche Anerkennung der im 3. Reich wegen seelischer, geistiger und sozialer Behinderung zwangssterilisierten oder ermordeten Bürger und ihrer Familien als Unrechtsopfer und NS-Verfolgte, 2 Bde., Gütersloh 1985 und 1986. Dörner, Klaus (Hg.) in Zusammenarbeit mit Karl Heinz Roth und Paul Weindling, Der Nürnberger Ärzteprozeß 1946/47 (Mikroform). Wortprotokolle, Anklage- und Verteidigungsmaterial, Quellen zum Umfeld, im Auftrag der Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 2000. Dörner, Klaus, »Ich klage an«. Rede zur Enthüllung des Mahnmals im psychiatrischen Landeskrankenhaus Wehnen / Oldenburg gehalten am 1. September 2001 im Auftrag der Angehörigen der Opfer der NS-Euthanasie Wehnen, in: Soziale Psychiatrie (2002) 2, S. 34 – 35. Dörner, Klaus, Christiane Haelin, Veronika Rau, Renate Schemus und Arnd Schwendy, Der Krieg gegen die psychisch Kranken. Nach »Holocaust«: Erkennen – Trauern – Begegnen, Rehburg-Loccum 1980. Drexler, Siegmund, Ärzte-Opposition – Die Liste Demokratischer Ärztinnen und Ärzte in der LÄKH, in: Landesärztekammer Hessen (Hg.), 50 Jahre Landesärztekammer Hessen. 1956 – 2006, Frankfurt am Main 2006, S. 133 – 136. Drexler, Siegmund, Siegmund Kalinski und Hans Mausbach, Ärztliches Schicksal unter der Verfolgung 1933 – 1945 in Frankfurt am Main und Offenbach: Eine Denkschrift, erstellt im Auftrag der Landesärztekammer Hessen, Frankfurt am Main 1990. Dutt, Carsten (Hg.), Die Schuldfrage. Untersuchungen zur geistigen Situation der Nachkriegszeit, Heidelberg 2010. Eckart, Wolfgang Uwe, Lange Schatten aus Königsberg – Philipp Bamberger (1898 – 1983) und die Heidelberger Kinderklinik in schwerer Nachkriegszeit, in: Georg F. Hoffmann, Wolfgang Uwe Eckart und Philipp Osten (Hg.), Entwicklungen und Perspektiven der Kinder- und Jugendmedizin. 150 Jahre Pädiatrie in Heidelberg, Mainz 2011, S. 99 – 135. Eckart, Wolfgang Uwe, Volker Sellin und Eike Wolgast (Hg.), Die Universität Heidelberg im Nationalsozialismus, Heidelberg 2006. Editor The Lancet, A Moral Problem, in: The Lancet 1946. Ehrhardt, Helmut, Euthanasie und Vernichtung »lebensunwerten Lebens«, Stuttgart 1965. Elsner, Gine, Schattenseiten einer Arztkarriere. Ernst Wilhelm Baader (1892 – 1962), Gewerbehygieniker und Gerichtsmediziner, Hamburg 2011. Elsner, Peter und Ulrich Zwiener (Hg.), Medizin im Nationalsozialismus am Beispiel der Dermatologie, Jena 2002. Endlich, Stefanie, »Das Gedenken braucht einen Ort«. Formen des Gedenkens an den authentischen Orten, in: Kristina Hübener (Hg.) in Zusammenarbeit mit Martin Heinze, Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit, Berlin-Brandenburg 2002, S. 341 – 387. Engisch, Karl, Arzt und Patient im Recht der Gegenwart. Grundsätzliche Überlegungen, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 114 (1966) 4, S. 135 – 144.

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

335

Engstrom, Eric J. und Volker Roelcke, Die ›alte Psychiatrie‹? Zur Geschichte und Aktualität der Psychiatrie im 19. Jahrhundert, in: dies. (Hg.), Psychiatrie im 19. Jahrhundert. Forschungen zur Geschichte von psychiatrischen Institutionen, Debatten und Praktiken im deutschen Sprachraum, Mainz 2003, S. 9 – 25. Erll, Astrid, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung, Stuttgart / Weimar 2005. Evangelische Akademie Bad Boll (Hg.), Medizin im Nationalsozialismus. Tagung vom 30. April–2. Mai in Bad Boll, Bad Boll 1982. Fanconi, Guido, Buchbesprechung W. Catel, Grenzsituation des Lebens, in: Münchener Medizinische Wochenschrift 105 (1963), S. 1434. Fanconi, Guido, Der Wandel der Medizin. Wie ich ihn erlebte, Bern u. a. 1970. Fangerau, Heiner und Karen Nolte (Hg.), »Moderne« Anstaltspsychiatrie im 19. und 20. Jahrhundert. Legitimation und Kritik, Stuttgart 2006. Faulstich, Heinz, Die Zahl der »Euthanasie«-Opfer, in: Andreas Frewer und Clemens Eickhoff (Hg.), »Euthanasie« und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik, Frankfurt am Main / New York 2000, S. 218 – 236. Feldman, Gerald D., Unternehmensgeschichte im Dritten Reich und die Verantwortung der Historiker. Raubgold und Versicherungen, Arisierung und Zwangsarbeit, in: Norbert Frei, Dirk van Laak und Michael Stolleis (Hg.), Geschichte vor Gericht. Historiker, Richter und die Suche nach Gerechtigkeit, München 2000, S. 103 – 129. Feldman, Gerald D., Historische Vergangenheitsbearbeitung. Wirtschaft und Wissenschaft im Vergleich, Vorabdrucke aus dem Forschungsprogramm »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, hg. v. Carola Sachse im Auftrag der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., Ergebnisse 13, Berlin 2003. Finzen, Asmus, Auf dem Dienstweg. Die Verstrickung einer Anstalt in die Ermordung von psychisch Kranken und geistig Behinderten im Dritten Reich, unter Einbeziehung einer Dokumentation von Dolf Sternberger, Wunstorf 1982. Fischer, Torben und Matthias N. Lorenz (Hg.), Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007. Forsbach, Ralf, Medizin und Ethik. Die Medizin im Nationalsozialismus in der öffentlichen Diskussion nach 1945, in: ders. (Hg.), Medizin im »Dritten Reich«. Humanexperimente, »Euthanasie« und die Debatten der Gegenwart, Hamburg 2006, S. 1 – 80. Forsbach, Ralf, Die 68er und die Medizin, Göttingen 2011. Frei, Norbert, Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit, München 22003. Frei, Norbert, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008. Frei, Norbert, Abschied von der Zeitzeugenschaft. Der Nationalsozialismus und seine Erforschung auf dem Weg in die Geschichte, in: Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2009, S. 56 – 77. Frei, Norbert, Deutsche Lernprozesse, NS-Vergangenheit und Generationenfolge seit 1945, in: Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2009, S. 38 – 55. Frei, Norbert, Erinnerungskampf, in: Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2009, S. 143 – 158.

336

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

Frei, Norbert, Von deutscher Erfindungskraft. Oder : Die Kollektivschuldthese in der Nachkriegszeit, in: Norbert Frei, 1945 und wir. Das Dritte Reich im Bewußtsein der Deutschen, München 2009, S. 159 – 170. Frewer, Andreas und Ulf Schmidt, Nuremberg Medical Code of Ethics. Geschichte und Ethik des Ärzteprozesses, in: Andreas Frewer und Ulf Schmidt (Hg.), Standards der Forschung. Historische Entwicklung und ethische Grundlagen medizinischer Forschung, Frankfurt am Main u. a. 2007, S. 37 – 73. Frey, Oliver, Psychiatrie und Gesellschaft am Beispiel der DDR, Magister-Arbeit Technische Universität Berlin 1999. Friedlander, Henry, Der Weg zum NS-Genozid. Von der Euthanasie zur Endlösung, Berlin 1997. Friedrich, Bundesvorsitzender des »Verbandes der Sterilisierten und Gegner der Sterilisation«, Zur Sterilisationsfrage, in: Berliner Gesundheitsblatt 1 (1950) 20, S. 507 – 508. Fuchs, Petra, Maike Rotzoll, Ulrich Müller, Paul Richter und Gerrit Hohendorf (Hg.), »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst«. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen »Euthanasie«, Göttingen 2007. Furch, Wolfgang, Medizinische Ethik – weltweit in Gefahr, in: Deutsches Ärzteblatt (1981) 51, S. 2447 – 2450. Furch, Wolfgang, Medizinische Ethik – weltweit in Gefahr. Fortsetzung aus Heft 51 und Schluß, in: Deutsches Ärzteblatt (1981) 52/53, S. 2495 – 2501. Gaupp, Robert, Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens, in: Deutsche Strafrechtszeitung 7 (1920) 11/12, S. 332 – 337. Gaupp, Vera, Über Dispersionsverhältnisse der Plasmaeiweißkörper bei Lues III, (Prof. Dr. von Romberg), Tübingen 1928. Gaupp, Vera (Stuttgart), Aussprache, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 112 (1964) 4, S. 208. George, Uta, Erinnerung und Gedenken in Hadamar, in: Uta George, Georg Lilienthal, Volker Roelcke, Peter Sandner und Christine Vanja (Hg.), Hadamar. Heilstätte – Tötungsanstalt – Therapiezentrum, Marburg 2006, S. 429 – 442. Gerst, Thomas, Nürnberger Ärzteprozeß und ärztliche Standespolitik. Der Auftrag der Ärztekammern an Alexander Mitscherlich zur Beobachtung und Dokumentation des Prozeßverlaufs, in: Deutsches Ärzteblatt 91 (1994), A 1606 – 1622. Gerst, Thomas, Catel und die Kinder. Versuche an Menschen – ein Fallbeispiel 1947/48, Miszelle in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts 15 (2000) 2, S. 100 – 109. Gerst, Thomas, Ärztliche Standesorganisationen und Standespolitik in Deutschland 1945 – 1955, Stuttgart 2004. Gerst, Thomas, Medizin in der NS-Zeit. Forschung kaum noch zu überblicken, in: Deutsches Ärzteblatt 108 (2011) 13, A 692-A 693. Gerst, Thomas, Bitte um Verzeihung an NS-Opfer. Eine Ausstellung erinnert in Nürnberg an das Schicksal jüdischer Ärztinnen und Ärzte in Bayern nach 1933, in: Deutsches Ärzteblatt 109 (2012) 22 – 23, S. A 1134-A 1135. Gerstengarbe, Sybille, Heidrun Hallmann und Wieland Berg, Die Leopoldina im Dritten Reich, in: Christof J. Scriba (Hg.), Das Verhältnis von Akademien und ihrem wissenschaftlichen Umfeld zum Nationalsozialismus. Leopoldina-Symposion: Die Elite der Nation im Dritten Reich – Das Verhältnis von Akademien und ihrem wissenschaftli-

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

337

chen Umfeld zum Nationalsozialismus, vom 9. bis 11. Juni 1994 in Schweinfurt, Wissenschaftliche Vorbereitung und Organisation: Eduard Seidler, Christoph Scriba, Wieland Berg, Uwe Müller, Halle 1995, S. 167 – 205. Gerstengarbe, Sibylle, Das Leopoldinamitglied Werner Catel. Vortrag am 20. September 2002 in Leipzig bei der Tagung der Kinderärzte, 9 Seiten, unveröffentlichtes Manuskript zum Vortrag »Werner Catel und die Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina«, Jahrestagung der DGfKJ Leipzig 2002, Sektion: Geschichte der Kinderheilkunde. Girth, Ernst, Die kritische Alternative zur konservativen Standespolitik: Die Liste demokratischer Ärzte in der Landesärztekammer Hessen, in: Winfried Beck, Hans-Ulrich Deppe, Renate Jäckle und Udo Schagen (Hg.), Ärzteopposition, Neckarsulm / München 1987, S. 134 – 151. Goschler, Constantin, Zwei Wege der Wiedergutmachung? Der Umgang mit NS-Verfolgten in West- und Ostdeutschland im Vergleich, in: Hans Günter Hockerts und Christiane Kuller (Hg.), Nach der Verfolgung. Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in Deutschland?, Göttingen 2003, S. 115 – 137. Graf, Günther, Zur Sterilisationsfrage, in: Berliner Gesundheitsblatt 1 (1950) 22, S. 556. Groehler, Olaf, Integration und Ausgrenzung von NS-Opfern. Zur Anerkennungs- und Entschädigungsdebatte in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschland 1945 – 1949, in: Jürgen Kocka (Hg.), Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien, Berlin 1993, S. 105 – 127. Grolle, Joist, Einer der hinsah, wo andere wegsahen: Der Hamburger Kinderarzt Rudolf Degkwitz gibt Zeugnis von den NS-Verbrechen, in: Dirk Brietzke, Norbert Fischer und Arno Herzig (Hg.), Hamburg und sein norddeutsches Umland. Aspekte des Wandels seit der Frühen Neuzeit. Festschrift für Franklin Kopitzsch, Hamburg 2007, S. 377 – 389. Grondin, Jean, Hans-Georg Gadamer. Eine Biographie, Tübingen 1999. Gross, G. W. (Friedberg, Hessen), Prof. Dr. med. Felix v. Bormann 60 Jahre, in: Ärztliche Praxis XIII (1961) 25, S. 1495. Grundmann, Kornelia, »Vergangenheitsbewältigung« nach dem 2. Weltkrieg – zur Berufungspraxis an der Marburger Medizinischen Fakultät. Werner Catel als Bewerber um den Marburger Lehrstuhl für Kinderheilkunde, in: Benno Hafeneger und Wolfram Schäfer (Hg.), Marburg in den Nachkriegsjahren 3. Entwicklungen in Politik, Kultur und Architektur, Marburg 2006, S. 47 – 68. Grundmann, Kornelia, Ernst Freudenberg und die Entwicklung der Pädiatrie in Marburg, in: Verein für Hessische Geschichte und Landeskunde (Hg.), Die Philipps-Universität zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Kassel 2006, S. 193 – 206. Gruss, Peter und Reinhard Rürup (Hg.) unter Mitarbeit von Susanne Kiewitz, Denkorte. Max-Planck-Gesellschaft und Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Brüche und Kontinuitäten 1911 – 2011, Dresden 2010. Habenicht, Verhütung erbkranken Nachwuchses, in: Berliner Gesundheitsblatt 1 (1950) 14, S. 360. Habenicht, Für und wider die Sterilisierung, Rubrik Referate, in: Berliner Gesundheitsblatt 3 (1952) 1, S. 23 – 24. Habermas, Jürgen, Eine Art Schadensabwicklung, Die ZEIT, 11. Juli 1986. Hacke, Axel und Giovanni di Lorenzo, Wofür stehst Du? Was in unserem Leben wichtig ist – eine Suche, Köln 2010. Hagenah, Mieke, 20 Jahre Gedenkstätte Bernburg. Einige Anmerkungen zum Entstehen

338

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

der Gedenkstätte, in: Erinnern! Aufgabe, Chance, Herausforderung. Rundbrief Stiftung Gedenkstätten Sachsen-Anhalt 2 (2009), S. 41 – 49. Hager, Maik, »Mit dem Verfahren der Euthanasie habe ich niemals das Geringste zu tun gehabt, …« Major Leo Alexander, Prof. Dr. Hallervorden und die Beteiligung des KWI für Hirnforschung an »Euthanasie«-Verbrechen im Nationalsozialismus, Seminararbeit Institut für Geschichte der Medizin, Freie Universität Berlin, WS 2001/2002, http:// www.geschichte-erforschen.de/wissenschaft/euthanasie/ (9. 1. 2013). Hahn, Susanne und Achim Thom, Sinnvolle Lebensbewahrung, humanes Sterben. Positionen zur Auseinandersetzung um den ärztlichen Bewahrungsauftrag gegenüber menschlichem Leben, Berlin 1983. Halbwachs, Maurice, Les cadres sociaux de la m¦moire, Paris 1925. Halbwachs, Maurice, La m¦moire collective, Paris 1950. Halbwachs, Maurice, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin / Neuwied 1985. Hanrath, Sabine, Zwischen ›Euthanasie‹ und Psychiatriereform. Anstaltspsychiatrie in Westfalen und Brandenburg: Ein deutsch-deutscher Vergleich (1945 – 1964), Paderborn u. a. 2002. Hanrath, Sabine, Strukturkrise und Reformbeginn. Die Anstaltspsychiatrie in der DDR und der Bundesrepublik bis zu den 60er Jahren, in: Kersting, Franz-Werner (Hg.), Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre, Paderborn u. a. 2003, S. 31 – 62. Heilek, Tatjana und Elke Schreiber, Die Betreuung und Behandlung psychisch Kranker in der Landesheilanstalt Altscherbitz (1918 – 1945), Med. Diss. Leipzig 1990. Heitmann, Claus, Grenzen der Therapie bei Kindern, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 115 (1967) 4, S. 182 – 186. Hellbrügge, Theodor, Ärztliche Gesichtspunkte zu einer »begrenzten« Euthanasie, in: Ärztliche Mitteilungen Nr. 25 (1963), S. 1428 – 1440. Hellbrügge, Theodor, In memoriam Dr. med. Ernst Wentzler, in: Der Kinderarzt 20 (1973) 10, S. 701. Henke, Klaus-Dietmar und Claudio Natoli (Hg.), Mit dem Pathos der Nüchternheit. Martin Broszat, das Institut für Zeitgeschichte und die Erforschung des Nationalsozialismus, Frankfurt am Main / New York 1991. Henning, Eckart und Marion Kazemi, Chronik der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften unter der Präsidentschaft Otto Hahns (1946 – 1960), Berlin 1992. Hennig, Valentin, Zur Wiedergutmachung von Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Eine Dokumentation, Berlin 1999. Herbert, Ulrich, Best. Biographische Studien über Radikalismus, Weltanschauung und Vernunft, Bonn 31996. Herbert, Ulrich (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945 – 1980, Göttingen 2002. Herbert, Ulrich, Drei politische Generationen im 20. Jahrhundert, in: Jürgen Reulecke (Hg.) unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003, S. 95 – 114. Herzka, Heinz Stefan, Unterwegs im Zwischen. Autobiographie, Frauenfeld 2007.

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

339

Hickmann, Manfred, Der Faschismus wütete auf dem Sonnenstein, Sächsische Neueste Nachrichten, Nr. 98, 26. 4. 1979. Hinz-Wessels, Annette, Das Robert-Koch-Institut im Nationalsozialismus, Berlin 2008. Hinz-Wessels, Annette, Hans Heinze. Psychiater und Aktivist der nationalsozialistischen »Euthanasie«, in: Jüdisches Museum Berlin (Hg.), Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus, Göttingen 2009, S. 108 – 115. Historische Kommission der DGfKJ (Hg.), 125 Jahre Deutsche Gesellschaft für Kinderund Jugendmedizin e.V. 1883 – 2008. Jubiläumspublikation der DGfKJ, Berlin 2008. Hockerts, Hans Günther, Wiedergutmachung in Deutschland. Eine historische Bilanz 1945 – 2000, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 49 (2000), S. 167 – 214. Hofer, Martin, Hans Rietschel (1878 – 1970) – Direktor der Universitäts-Kinderklinik Würzburg von 1917 – 1946, Würzburg 2006. Hoffmann, Ute, Todesursache: »Angina«. Zwangssterilisation und »Euthanasie« in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Bernburg, Magdeburg 1996. Hoffmann, Ute, Die NS-»Euthanasie«-Anstalt Bernburg in der DDR. Anmerkungen zu Martin Kaßler, in: Deutschland Archiv 33 (2000) 5, S. 803 – 804. Hoffmann, Ute, »Das ist wohl ein Stück verdrängt worden …«. Zum Umgang mit den »Euthanasie«-Verbrechen in der DDR, in: Annette Leo und Peter Reif-Spirek (Hg.), Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 2001, S. 51 – 66. Hoffmann, Ute, Aspekte der gesellschaftlichen Aufarbeitung der NS-»Euthanasie«, in: Stefanie Westermann , Richard Kühl und Tim Ohnhäuser (Hg.), NS-»Euthanasie« und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung, Gedenkformen, Betroffenenperspektiven, Berlin u. a. 2011, S. 67 – 75. Hohendorf, Gerrit, Volker Roelcke und Maike Rotzoll, Die Forschungsabteilung der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg 1943 – 1945 und ihre Verwicklung in die nationalsozialistische »Euthanasie«, in: Christoph Mundt, Gerrit Hohendorf und Maike Rotzoll (Hg.), Psychiatrische Forschung und NS-»Euthanasie«, Heidelberg 2001, S. 41 – 62. Hohendorf, Gerrit, Ideengeschichte und Realgeschichte der nationalsozialistischen »Euthanasie« im Überblick, in: Petra Fuchs, Maike Rotzoll, Ulrich Müller, Paul Richter und Gerrit Hohendorf (Hg.), »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst«. Lebensgeschichten von Opfern der nationalsozialistischen »Euthanasie«, Göttingen 2007, S. 36 – 52. Hohendorf, Gerrit, Empirische Untersuchungen zur nationalsozialistischen »Euthanasie« bei psychisch Kranken – mit Anmerkungen zu aktuellen ethischen Fragestellungen, Habilitationsschrift Technische Universität München 2008. Hohendorf, Gerrit, The Representation of Nazi »Euthanasia« in Post-War German Psychiatry 1945 to 1998 – A Preliminary Survey, in: Korot. The Israel Journal of the History of Medicine and Science 19 (2007 – 2008), Jerusalem 2009, S. 29 – 48. Hohendorf, Gerrit, The Sewering Affair, in: Korot. The Israel Journal of the History of Medicine and Science 19 (2007 – 2008), Jerusalem 2009, S. 83 – 104. Hohendorf, Gerrit, Die nationalsozialistischen Krankenmorde zwischen Tabu und Argument – Was lässt sich aus der Geschichte der NS-Euthanasie für die gegenwärtige Debatte um die Sterbehilfe lernen?, in: Stefanie Westermann, Richard Kühl und Tim

340

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

Ohnhäuser (Hg.), NS-»Euthanasie« und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung, Gedenkformen, Betroffenenperspektiven, Berlin u. a. 2011, S. 211 – 230. Hohmann, Joachim S., Die nationalsozialistische »Euthanasie« in sächsischen Anstalten und ihre strafrechtliche Ahndung in der SBZ, in: Historical Social Research 20 (1995) 4, S. 31 – 60, http://hsr-trans.zhsf.uni-koeln.de/hsrretro/docs/artikel/hsr/hsr1995_370. pdf (5. 1. 2013). Hölscher, Christoph, NS-Verfolgte im »antifaschistischen Staat«. Vereinnahmung und Ausgrenzung in der ostdeutschen Wiedergutmachung (1945 – 1989), Berlin 2002. Honolka, Bernd, Die Kreuzelschreiber. Ärzte ohne Gewissen. Euthanasie im 3. Reich, Hamburg 1961. Hottinger, Adolf, Buchbesprechung Grenzsituationen des Lebens, in: Hippokrates (1962), S. 815 – 817. Hulverscheidt, Marion und Anja Laukötter (Hg.), Infektion und Institution. Zur Wissenschaftsgeschichte des Robert-Koch-Instituts im Nationalsozialismus, Göttingen 2009. International Military Tribunal, Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof Nürnberg, 14.11.1945 – 01.10.1946, Bd. 7, Nürnberg 1947, Nachdruck München / Zürich 1984. Jachertz, Norbert, Jena und der »Fall Albrecht«. Eine finstere Geschichte, in: Deutsches Ärzteblatt 100 (2003) 39, A 2490. Jachertz, Norbert, Medizinverbrechen: Erinnern und beherzigen, in: Deutsches Ärzteblatt 106 (2008) 50, A2698-A2700. Jachertz, Norbert, Krankenmorde in der NS-Zeit. Das Bußritual der Psychiater, in: Deutsches Ärzteblatt 108 (2011) 1 – 2, S. A 35-A36. Jachertz, Norbert, Anpassung, eine Ehrenpflicht, in: Deutsches Ärzteblatt 108 (2011) 27, S. A 1526-A 1527. Jachertz, Norbert, Portrait: Gine Elsner. Als »68erin« nach wie vor aktiv, in: Deutsches Ärzteblatt 110 (2013) 1 – 2, A 24-A 25. Jahnke-Nückles, Ute, Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Diss. Freiburg im Breisgau 1992. Jakob, Helga, Peter Chroust und Matthias Hamann, Aeskulap & Hakenkreuz. Zur Geschichte der Medizinischen Fakultät in Gießen zwischen 1933 und 1945. Eine Dokumentation der Arbeitsgruppe »Medizin und Faschismus«, Gießen 1982. Jensch, Hugo, Euthanasie-Aktion »T4«. Verbrechen in den Jahren 1940 und 1941 auf dem Sonnenstein in Pirna, Pirna 1990. Jensen, Brigitte, DFG-Projekt Inventar der Quellen zur Geschichte der »Euthanasie«Verbrechen 1939 – 1945, in: Bundesarchiv Berlin, Matthias Meissner (Red.), Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation. Frühjahrstagung 12.–14. Mai 2000 in Berlin-Lichterfelde, Schwerpunktthema: Archivbestände und »Euthanasie«, Berlin 2000, S. 66 – 75. Jörges, Hans-Ulrich, Das Skalpell der SS, in: Stern, 10. 4. 2008. Joppich, Gerhard, Zum 80. Geburtstag von Dr. Wentzler, in: Der Kinderarzt. Mitteilungen des Berufsverbandes der Kinderärzte Deutschlands e.V. 20 (1972) 8, S. 342. Joppich, Gerhard, Begegnung mit großen Pädiatern aus der Frühzeit der deutschen Kinderheilkunde. Festvortrag, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 132 (1984), S. 318 – 324.

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

341

Jütte, Robert in Verbindung mit Wolfgang Uwe Eckart, Hans-Walter Schmuhl und Winfried Süß, Medizin und Nationalsozialismus. Bilanz und Perspektiven der Forschung, Göttingen 2011. Kaelber, Lutz, Gedenken an die NS-»Kindereuthanasie«-Verbrechen in Deutschland, Österreich, der Tschechischen Republik und Polen, in: Lutz Kaelber und Raimund Reiter (Hg.), Kindermord und »Kinderfachabteilungen« im Nationalsozialismus. Gedenken und Forschung, Frankfurt am Main u. a. 2011, S. 33 – 66. Kaminsky, Uwe, Zwischen Rassenhygiene und Biotechnologie. Die Fortsetzung der eugenischen Debatte in Diakonie und Kirche, 1945 bis 1969, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 116 (2005) 2, S. 204 – 241. Kansteiner, Wulf, Finding Meaning in Memory. A Methodological Critique of Collective Memory Studies, in: History and Theory 41 (2002), S. 179 – 197. Kansteiner, Wulf, Genealogy of a Category Mistake. A Critical Intellectual History of the Cultural Trauma Metaphor, in: Rethinking History 8 (2004), S. 193 – 221. Kappeler, Manfred, Der Umgang mit den Opfern spiegelt die Haltung zu den Verbrechen der Täter, in: Manfred Sesser (Hg.), Herrschaft und Verbrechen. Kontrolle der Gesellschaft durch Kriminalisierung und Exklusion, Berlin 2008, S. 109 – 156. Karbe, Karl Heinz und Achim Thom, NS-Verbrechen an Kindern – ein heute noch aktuelles Thema, in: Humanitas 11 (1980), S. 9. Kaßler, Martin, Zwischen Verdrängung und Neubeginn. Der historische Umgang mit der »Euthanasieanstalt Bernburg« in der DDR, in: Deutschland Archiv. Zeitschrift für das vereinigte Deutschland (DA) 33 (2000) 4, S. 571 – 581. Kaßler, Martin, Strukturgeschichte versus Mikrohistorie? Replik auf Ute Hoffmann, in: Deutschland Archiv 33 (2000) 5, S. 804 – 805. Kaßler, Martin, Die Verdrängung eugenischer Verbrechen: der Fall Jussuf Ibrahim, in: Deutschland Archiv 33 (2000) 4, S. 531 – 533. Kaul, Friedrich Karl mit Unterstützung von Winfried Matthäus, Ärzte in Auschwitz, Berlin 1968. Kaul, Friedrich Karl, Nazimordaktion T4. Ein Bericht über die erste industriemäßig durchgeführte Mordaktion des Naziregimes, Berlin 1973. Kaul, Friedrich Karl, Die Psychiatrie im Strudel der Euthanasie, Köln / Frankfurt am Main 1979. Kern, Björn, Die Erlöser AG, München 2007. Kersting, Franz-Werner, Helmut Schelskys »Skeptische Generation« von 1957. Zur Publikations- und Wirkungsgeschichte eines Standardwerkes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002) 3, S. 465 – 495. Kersting, Franz-Werner (Hg.), Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre, Paderborn u. a. 2003. Kersting, Franz-Werner, Abschied von der »totalen Institution«? Die westdeutsche Anstaltspsychiatrie zwischen Nationalsozialismus und den Siebziger Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), S. 267 – 292. Kersting, Franz-Werner, Die Landesheilanstalt Hadamar in den ersten Nachkriegsjahren, in: Uta George, Georg Lilienthal, Volker Roelcke, Peter Sandner und Christine Vanja (Hg.), Hadamar. Heilstätte – Tötungsanstalt – Therapiezentrum, Marburg 2006, S. 327 – 343.

342

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

Kersting, Franz-Werner, Karl Teppe und Bernd Walter (Hg.), Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Paderborn 1993. Kinas, Sven, Adolf Butenandt (1903 – 1995) und seine Schule, Berlin 2004. Kirk, Beate, Der Contergan-Fall: eine unvermeidbare Arzneimittelkatastrophe? Zur Geschichte des Arzneistoffs Thalidomid, Stuttgart 1999. Klee, Ernst, »Euthanasie« im NS-Staat. Die »Vernichtung lebensunwerten Lebens«, Frankfurt am Main 1983. Klee, Ernst (Hg.), Dokumente zur »Euthanasie«, Frankfurt am Main 1985. Klee, Ernst, Deutsche Medizin im Dritten Reich. Karrieren vor und nach 1945, Frankfurt am Main 2001. Klee, Ernst, Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945, Frankfurt am Main 22007. Knaape, Hans-Hinrich, Die medizinische Forschung an geistig behinderten Kindern in Brandenburg-Görden in der Zeit des Faschismus, in: Samuel Mitja Rapoport und Achim Thom (Hg.), Das Schicksal der Medizin im Faschismus. Auftrag und Verpflichtung zur Bewahrung von Humanismus und Frieden. Internationales wissenschaftliches Symposium europäischer Sektion der IPPNW, 17.–20. November 1988, Erfurt / Weimar , Berlin 1989, S. 224 – 228. Knaape, Hans-Hinrich, »Euthanasie« – Der faschistische Massenmord an psychisch Kranken in Brandenburg. Manuskript des Vortrags auf der Tagung des Arbeitskreises zur Aufarbeitung der »Euthanasie« und Zwangsterilisation in Lobetal vom 28.10 – 1.11.1989, hg. v. Diakonisches Werk der evangelischen Kirchen, Lobetal 1990, S. 18 – 35. Knaape, Hans-Hinrich, Kinderpsychiatrie und Euthanasie in der Landesanstalt Görden, Manuskript des Vortrags auf der Tagung des Arbeitskreises zur Aufarbeitung der »Euthanasie« und Zwangsterilisation in Lobetal vom 28.10 – 1.11.1989, hg. v. Diakonisches Werk der evangelischen Kirchen, Lobetal 1990, S. 7 – 17. Kneuker, Gerhard und Wulf Steglich, Begegnungen mit der Euthanasie in Hadamar, Rehburg-Loccum 1985. Koch, Renate, Die Behandlung psychisch Kranker in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Leipzig-Dösen in der Zeit der faschistischen Diktatur unter besonderer Berücksichtigung der Patienten mit Schizophrenie, manisch-depressivem Irresein und psychischen Wesensveränderungen nach Epilepsie, Med. Diss. Leipzig 1989. Kolb, Stephan, Paul Weindling, Volker Roelcke and Horst Seithe, Apologising for Nazi medicine: a constructive starting point, in: The Lancet 380 (2012), S. 722 – 723. Körner, Uwe, Karl Seidel und Achim Thom, Grenzsituationen ärztlichen Handelns, Jena1984. Köttgen, Ulrich, Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind. Aufgabe und Entwicklung, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 112 (1964) 4, S. 204 – 206. Köttgen, Ulrich, 50 Jahre medizinisches Lernen und Lehren in der Kinderheilkunde (Vortrag gehalten 1977 am Medizinhistorischen Institut Mainz), in: Gunter Mann und Franz Dumont (Hg.), Medizin in Mainz. Sonderdruck: Praxis und Wissenschaft. Entwicklungen und Erinnerungen. 40 Jahre Medizinische Fakultät und Klinikum 1946 – 1986, Mainz 1986, S. 273 – 288. Kreutzberg, Georg W., Betroffen von der Erbarmungslosigkeit. Ansprache des Direktors

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

343

des Theoretischen Instituts des MPI für Psychiatrie, in: MPG-Spiegel 4 (1990), S. 33 – 35. Kreutzberg, Georg W., Verwicklung, Aufdeckung und Bestattung: Über den Umgang mit einem Erbe, in: Franz-Werner Kersting, Karl Teppe, Bernd Walter (Hg.), Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Paderborn 1993, S. 300 – 308. Krischel, Matthis, Friedrich Moll, Julia Bellmann, Albrecht Scholz und Dirk Schultheiss (Hg.), Urologen im Nationalsozialismus. Zwischen Anpassung und Vertreibung, Berlin 2011. Krischel, Matthis, Friedrich Moll, Julia Bellmann, Albrecht Scholz und Dirk Schultheiss (Hg.), Urologen im Nationalsozialismus. Biografien und Materialien, Berlin 2011. Kröner, Hans-Peter, Von der Rassenhygiene zur Humangenetik. Das Kaiser-WilhelmInstitut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik nach dem Kriege, Stuttgart u. a. 1998. Krüger, Martina, Kinderfachabteilung Wiesengrund. Die Tötung behinderter Kinder in Wittenau, in: Arbeitsgruppe zur Erforschung der Geschichte der Karl-BonhoefferNervenklinik (Hg.), Totgeschwiegen 1933 – 1945. Zur Geschichte der Wittenauer Heilstätten; Seit 1957 Karl-Bonhoeffer-Klinik, Berlin 1989, S. 151 – 176. Krumpolt, Holm, Die Auswirkungen der nationalsozialistischen Psychiatriepolitik auf die sächsische Landesheilanstalt Großschweidnitz im Zeitraum 1933 – 1945, Med. Diss. Leipzig 1995. Kuratorium Gedenkstätte Sonnenstein e.V. (Hg.), Durchgangsstation Sonnenstein. Die ehemalige Landesanstalt als Militärobjekt, Auffanglager und Ausbildungsstätte in den Jahren 1939 – 1954, Pirna 2007. Landesamt für Soziales und Versorgung, Landesklinik Brandenburg, 28. Oktober 2003 Gedenkfeier, Brandenburg 2003. Landeswohlfahrtsverband Hessen (Hg.), Euthanasie in Hadamar. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik in hessischen Anstalten. Begleitband. Eine Ausstellung des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen, Kassel 1991. Leibbrand, Werner, Um die Menschenrechte der Geisteskranken, Nürnberg 1946. Leide, Henry, NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Die geheime Vergangenheitspolitik der DDR, Göttingen 2005. Lennert, Thomas, Die »Gleichschaltung« der Berliner Kinderheilkunde 1933, in: Schriftenreihe zur Geschichte der Kinderheilkunde aus dem Archiv des Kaiserin Auguste Viktoria Hauses (KAVH) – Berlin 10 (1992), S. 5 – 30. Lennert, Thomas, Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und der Karger-Verlag 1938/ 39, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 143 (1995), S. 1197 – 1203. Lennert, Thomas, Ehrenmitglieder der DGKJ, in: Historische Kommission der DGfKJ (Hg.), 125 Jahre Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. 1883 – 2008. Jubiläumspublikation der DGfKJ, Berlin 2008, S. 87 – 89. Lepicard, Etienne, Trauma, Memory, and Euthanasia at the Nuremberg Medical Trial, 1946 – 1947, in: Austin Sarat, Nadav Davidovich and Michal Alberstein (eds.), Trauma and Memory. Reading, Healing, and Making Law, Stanford California 2007, S. 204 – 224. Lepicard, Etienne, Reception of National Socialist »Euthanasia« vs. »Human Experimentation« and the Transformation of Medical Ethics into Bioethics, 1947 – 1980s, in:

344

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

Korot. The Israel Journal of the History of Medicine and Science 19 (2007 – 2008), Jerusalem 2009, S. 65 – 81. Lepsius, M. Rainer, Das Erbe des Nationalsozialismus und die politische Kultur der Nachfolgestaaten des »Großdeutschen Reiches«, in: M. Rainer Lepsius, Demokratie in Deutschland. Soziologisch-historische Konstellationsanalysen, Göttingen 1993, S. 229 – 245. Leven, Karl-Heinz, Fleckfieber beim deutschen Heer während des Krieges gegen die Sowjetunion (1941 – 1945), in: Ekkehart Guth (Hg.), Sanitätswesen im Zweiten Weltkrieg, Herford 1990, S. 127 – 166. Leven, Karl-Heinz und Philipp Rauh, Ernst Wilhelm Baader (1892 – 1962) und die Arbeitsmedizin im Nationalsozialismus, in: Arbeitsmedizin, Sozialmedizin, Umweltmedizin 47 (2012) 2, S. 72 – 75. Liebe, Sandra, Prof. Dr. med. Jussuf Ibrahim (1877 – 1953). Leben und Werk, Med. Diss. Universität Jena 2006. Liebner, Andreas, Zur Lage der Gehörlosen in den Jahren 1933 bis 1945 und deren Einbeziehung in die Zwangssterilisationspraxis. Eine Fallstudie anhand von Erbgesundheitsgerichtsakten aus Leipzig, Med. Diss. Leipzig 1988. Lietz, Siegfried, Hanns Schwarz – Als Arzt im Spannungsfeld von Wissenschaft, Kultur und Politik, in: Wolfgang Fischer und Heinz-Peter Schmiedebach (Hg.), Die Greifswalder Universitäts-Nervenklinik unter dem Direktorium von Hanns Schwarz, 1946 – 1965. Symposium zur 100. Wiederkehr des Geburtstages von Hanns Schwarz am 3. 7. 1998, Greifswald 1999, S. 16 – 29. Lilienthal, Georg, Von der »zentralen« zur »kooperativen Euthanasie«. Die Tötungsanstalt Hadamar und die »T4«, in: Maike Rotzoll, Gerrit Hohendorf, Petra Fuchs, Paul Richter, Christoph Mundt und Wolfgang E. Eckart (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn u. a. 2010, S. 100 – 110. Lilienthal, Georg, Opfer und Angehörige im Kontakt mit dem Ort des Verbrechens – Ein Bericht aus der Gedenkstätte Hadamar, in: Stefanie Westermann, Richard Kühl und Tim Ohnhäuser (Hg.), NS-»Euthanasie« und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung, Gedenkformen, Betroffenenperspektiven, Berlin u. a. 2011, S. 143 – 152. Loeschke, Adalbert, Begrüßungsansprache der 64. Ordentlichen Versammlung der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde in Berlin 1966, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 115 (1967) 4, S. 125 – 126. Lorber, John, Der Rückschlag des Pendels bei der Behandlung der Myelomeningocele, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 126 (1978), S. 9 – 13. Lorber, John and Stephan A. W. Salfield, Results of selective treatment of spina bifida cystica, in: Archives of Disease in Childhood 56 (1981), S. 822 – 830. Lüst, Reimar, Der Wissenschaftsmacher. Reimar Lüst im Gespräch mit Paul Nolte, München 2008. Lutz, Thomas, Rückblick – zwei Jahrzehnte nach der Einrichtung der Gedenkstätte in Hadamar, in: Uta George, Georg Lilienthal, Volker Roelcke, Peter Sandner und Christine Vanja (Hg.), Hadamar. Heilstätte – Tötungsanstalt – Therapiezentrum, Marburg 2006, S. 500 – 501. Mackensen, Rainer (Hg.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik im »Dritten Reich«, Opladen 2004.

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

345

Mackensen, Rainer, Jürgen Reulecke und Josef Ehmer (Hg.), Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts »Bevölkerung« vor, im und nach dem »Dritten Reich«, Wiesbaden 2009. Mäckel, Katrin, Professor Dr. med. Hermann Paul Nitsche. Sein Weg vom Reformpsychiater zum Mittäter an der Ermordung chronisch psychisch Kranker zur Zeit des Nationalsozialismus, Med. Diss. Leipzig 1993. Mai, Hermann, Gelebte Ethik in Lambarene, in: Helmuth Müller und Hermann Olbing (Hg.), Symposium Ethische Probleme in der Pädiatrie und ihren Grenzgebieten, 1981 Tegernsee, München 1982, S. 289 – 297. Maio, Giovanni, Ethik der Forschung am Menschen. Zur Begründung der Moral in ihrer historischen Bedingtheit, Stuttgart-Bad Cannstatt 2002. Mann, Gunter, Sozialbiologie auf dem Wege zur unmenschlichen Medizin des Dritten Reiches, in: Förderkreis Bad Nauheimer Gespräche, Frankfurt am Main (Hg.), Unmenschliche Medizin. Geschichtliche Erfahrungen, gegenwärtige Probleme und Ausblick auf die zukünftige Entwicklung. Seminar, Mainz 1983, S. 22 – 43. Mannheim, Karl, Das Problem der Generationen (1928), in: Karl Mannheim, Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, eingeleitet und hg. von Kurt H. Wolff, NeuwiedBerlin 21970, S. 509 – 565. Manukjan, Nora, »Euthanasie« – das lange verdrängte Verbrechen. Zum Umgang mit den nationalsozialistischen Krankenmorden in der SBZ und DDR, in: Stiftung Sächsische Gedenkstätten (Hg.), Nationalsozialistische Euthanasieverbrechen. Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschichte in Sachsen, Dresden 2004, S. 173 – 196. Markl, Hubert, Ansprache des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., Berlin, am 7. 6. 2001 anlässlich der Eröffnung des Symposiums »Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten – Die Verbindung nach Auschwitz«, http://www.mpg.de/727151/010607biosymposiumMarkl .pdf (10. 1. 2013). Martin, Ludwig, Unmenschliche Medizin unter besonderer Berücksichtigung der Erfahrungen aus der Zeit von 1933 – 1945, in: Förderkreis Bad Nauheimer Gespräche, Frankfurt am Main (Hg.), Unmenschliche Medizin. Geschichtliche Erfahrungen, gegenwärtige Probleme und Ausblick auf die zukünftige Entwicklung. Seminar, Mainz 1983, S. 44 – 61. Mattes, Jasmin Beatrix, Die Stationsbenennungen des Klinikums der Albert-LudwigsUniversität Freiburg im Breisgau. Erinnerungskultur, kollektives Gedächtnis und Umgang mit nationalsozialistischer Vergangenheit, Frankfurt am Main u. a. 2008. Matthäus, Winfried, Die industriemäßig betriebene Menschenvernichtung im Nazisystem als nach dem internationalen Strafrecht zu verfolgendes Delikt eigener Art. Die Grundlagen ihrer Entstehung, ihrer Entwicklung und ihrer Absicherung durch die Nazi-Justiz, jur. Diss. A, Humboldt-Univ. Berlin, 1974. Mausbach, Hans, Eine gescheiterte Disziplinierung, in: Das Argument 69, 13 (1971) 11/12, S. 971 – 1001. Mette, Alexander, Neurologie und Psychiatrie, in: Alexander Mette und Irena Winter (Hg.), Geschichte der Medizin. Einführung in ihre Grundzüge, Berlin 1968, S. 383 – 410. Meusch, Matthias, Die strafrechtliche Verfolgung der Hadamarer »Euthanasie«-Morde, in: Uta George, Georg Lilienthal, Volker Roelcke, Peter Sandner und Christine Vanja (Hg.), Hadamar. Heilstätte – Tötungsanstalt – Therapiezentrum, Marburg 2006, S. 305 – 326. Mildenberger, Hermann, Grenzen chirurgischer Therapie beim multipel geschädigten

346

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

Kind, in: Helmuth Müller und Hermann Olbing (Hg.), Symposium Ethische Probleme in der Pädiatrie und ihren Grenzgebieten, 1981 Tegernsee, München 1982, S. 205 – 210. Mitscherlich, Alexander und Fred Mielke, Das Diktat der Menschenverachtung. Eine Dokumentation von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, Heidelberg 1947. Mitscherlich, Alexander und Fred Mielke, Wissenschaft ohne Menschlichkeit, Heidelberg 1949. Mitscherlich, Alexander und Fred Mielke (Hg.), Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses, Hamburg 1960. Mitscherlich, Alexander und Fred Mielke (Hg.), Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. Mit einem neuen Vorwort von Alexander Mitscherlich und einem für diese Auflage verfassten Nachwort von Horst Spaar und Achim Thom, Berlin / München 1990. Mitscherlich, Alexander und Margarete Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern, München 1968. Möhrle, Alfred, Der Arzt im Nationalsozialismus. Der Weg zum Nürnberger Ärzteprozess und die Folgerungen daraus, in: Deutsches Ärzteblatt 44 (1993) 43, A-2766-A-2775. Mommsen, Hans, Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann, in: Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München / Zürich 61996, S. 9 – 48. MPG-Spiegel. Aktuelle Informationen für Mitarbeiter und Freunde der Max-Planck-Gesellschaft 3 (1990), S. 10 – 11. MPG-Spiegel, Sonderausgabe 2 (1998) (50 Jahre Max-Planck-Gesellschaft 1948 – 1998), S. 20 – 34. Müller, Helmuth und Hermann Olbing (Hg.), Symposium Ethische Probleme in der Pädiatrie und ihren Grenzgebieten, 1981 Tegernsee, München 1982. Müller-Bauseneik, Jens, Die US-Fernsehserie »Holocaust« im Spiegel der deutschen Presse (Januar–März 1979). Eine Dokumentation, in: Zeitgeschichte-online, März 2004, http://www.zeitgeschichte-online.de/sites/default/files/documents/shpressebiblio.pdf (5. 1. 2013). Müller-Bauseneik, Jens, Auswahlbibliographie der Zeitungs- und Zeitschriftenartikel zur US-Fernsehserie »Holocaust«, in: Zeitgeschichte-online, März 2004, http://www.zeitgeschichte-online.de/sites/default/files/documents/shpressebiblio.pdf (13. 1. 2013). Müller-Hill, Benno, Tödliche Wissenschaft. Die Aussonderung von Juden, Zigeunern und Geisteskranken 1933 – 1945, Reinbek bei Hamburg 1984. Müller-Hill, Benno, Das Blut von Auschwitz und das Schweigen der Gelehrten, in: Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Erster Band, Göttingen 2000, S. 189 – 227. Munkelt, Kerstin, Die Landesheil- und Pflegeanstalt Jerichow und die Schicksale ihrer Patienten in den Jahren 1933 bis 1945, Dipl.-Arbeit, Karl-Sudhoff-Institut für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaften, Leipzig 1988. Mutters, Tom, Lebenshilfe für das geistig behinderte Kind, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 109 (1961) 5, S. 271 – 275. N.N., Appell »Im Gedenken an die Opfer der Medizin im Nationalsozialismus«, Nürnberg Mai 2012, http://www.ippnw.de/commonFiles/pdfs/Soziale_Verantwortung/Appell_ Deutscher_Aerztetag_2012.pdf (5. 2. 2013).

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

347

N.N., Approbation wird nicht entzogen. Gemeinsame Erklärung der Hamburger Gesundheitsbehörde und der Ärztekammer Hamburg, in: Ärztliche Mitteilungen 46 (1961) 5, S. 234 – 235. N.N., Asmus Finzen im Gespräch. Von Nord nach Süd, von Schleswig bis in die Schweiz – Stationen eines sozialpsychiatrischen Lebensweges. SP-Redaktionsmitglied Jens Clausen besuchte Asmus Finzen in dessen Refugium in einer Altstadtgasse von Basel, in: Soziale Psychiatrie (2004) 3, S. 44 – 47. N.N., Aus Menschlichkeit töten? Spiegel-Gespräch mit Professor Dr. Werner Catel über Kinder-Euthanasie, in: Der Spiegel Nr. 8 (1964), S. 41 – 47. N.N., Die Toten schweigen nicht, Zeit im Bild 19. Jg., Nr. 25 vom 3. 6. 1964. N.N., Dokumente zu den Geisteskranken-Morden, in: Die Wandlung 2/3 (1947), S. 160 – 174. N.N., Ein Gesetzentwurf des Sterilisiertenverbandes, in: Berliner Gesundheitsblatt 2 (1951) 9, S. 214. N.N., Entschließung des 115. Deutschen Ärztetages, Nürnberger Erklärung, auf Antrag von Herrn Dr. Scholze, Herrn Dr. Pickerodt, Frau Dr. Pfaffinger, Herrn Dr. Wambach, Herrn Dr. med. Montgomery, Herrn Dr. Kaplan, Frau Dr. Wenker, Frau Dr. Lux und Frau Kulike (Drucksache I – 26). 115. Deutscher Ärztetag Nürnberg, 22.05.–25. 05. 2012, I-26, Beschlussprotokoll, S. 12 – 13, unter : www.ärzteblatt.de (5. 2. 2013). N.N., Erklärung der Ärztekammer Berlin zur Schuld von Ärzten im Nationalsozialismus, 9. 11. 1988, in: Deutsches Ärzteblatt 85 (1988) 48, C-2069. N.N., Erklärung des Vorstandes der GDNP sowie der DGN, in: Der Nervenarzt 24 (1953) 7, S. 312. N.N., Erklärung des Vorstands der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde Supp. 1 (1999), S3. N.N., Grenzen der ärztlichen Behandlungspflicht bei schwerstgeschädigten Neugeborenen. Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht, erarbeitet beim 1. Einbecker Expertengespräch 27.–29. Juni 1986, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 134 (1986), S. 828 – 829. N.N., Mißgeburten durch Tabletten? Alarmierender Verdacht eines Arztes gegen ein weitverbreitetes Medikament, Welt am Sonntag vom 16. 11. 1961. N.N., Nachricht über den 70. Geburtstag Adolf Hottingers, Rubrik Tagesgeschichte, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 115 (1967) 12, S. 580. N.N., Rubrik Affären Euthanasie, »Eingeschläfert«, in: Der Spiegel Nr. 34, 17. 8. 1960, S. 31 – 33. N.N., Rubrik Aussprache: »Approbation wird nicht entzogen« Zu der gemeinsamen Erklärung der Hamburger Gesundheitsbehörde und der Ärztekammer Hamburg, veröffentlicht in ÄM 5/1961, Seite 234, in: Ärztliche Mitteilungen 46 (1961) 20, S. 1173 – 1178. N.N., Rubrik Euthanasie, Die Kreuzelschreiber, Ärzte, in: Der Spiegel Nr. 19 (1961), S. 35 – 44. N.N., Schuldgefühle? Angst vor Imageverlust? Warum wurde geschwiegen? Wie die MaxPlanck-Gesellschaft sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzt, Adelbert Reif im Gespräch mit Carola Sachse, in: Ärzte Zeitung, 7. 6. 2001. N.N., Todesmeldung Ernst Freudenberg, Rubrik: Tagesgeschichte, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 115 (1967) 8, S. 456.

348

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

N.N., Weitere Dokumente zu den Geisteskranken-Morden. Stimmen des Widerspruchs und des Ausweichens, in: Die Wandlung 2/3 (1947), S. 251 – 267. Nachtsheim, Hans, Die Frage der Sterilisation vom Standpunkt des Erbpathologen, in: Berliner Gesundheitsblatt 1 (1950) 24, S. 603 – 604. Nachtsheim, Hans, Vortrag »Für und wider die Sterilisierung« vor der Berliner Medizinischen Gesellschaft am 12. Dezember 1951, in: Berliner Gesundheitsblatt 3 (1952) 2, S. 39. Neppert, Katja, Warum sind die NS-Zwangssterilisierten nicht entschädigt worden? Argumentationen der 1950er und 1960er Jahre, in: Matthias Hamann und Hans Asbeck (Hg.), Halbierte Vernunft und totale Medizin. Zu Grundlagen, Realgeschichte und Fortwirkung der Psychiatrie im Nationalsozialismus, Berlin 1997, S. 199 – 226. Neukamp, Franz, Ist das Erbkrankheitsgesetz ein Nazigesetz? in: Berliner Gesundheitsblatt 2 (1951) 11, S. 250 – 252. Nietzsche, Friedrich, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, hg. v. und mit einem Nachwort von Michael Landmann, Zürich 1984. Noack, Thorsten, Ein unglaubliches Kriegsgerücht. Anmerkungen zur zeitgenössischen Wahrnehmung der »Aktion T4« in der Tagespresse der Vereinigten Staaten, in: Stefanie Westermann, Richard Kühl und Tim Ohnhäuser (Hg.), NS-»Euthanasie« und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung, Gedenkformen, Betroffenenperspektiven, Berlin u. a. 2011, S. 45 – 66. Nolte, Karen, Gelebte Hysterie. Erfahrung, Eigensinn und psychiatrische Diskurse im Anstaltsalltag um 1900, Frankfurt am Main / New York 2003. Nora, Pierre, Zwischen Geschichte und Gedächtnis, Berlin 1990. Nora, Pierre (Hg.), Erinnerungsorte Frankreichs, München 2005. Nowak, Kurt, »Euthanasie« und Sterilisierung im »Dritten Reich«. Die Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche mit dem »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« und der »Euthanasie«-Aktion, Halle a. d. Saale 1977. Oehler-Klein, Sigrid, Gründung einer Akademie für medizinische Forschung und Fortbildung und die Entnazifizierung des ehemaligen Lehrkörpers, in: Sigrid Oehler-Klein (Hg.), Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit: Personen und Institutionen, Umbrüche und Kontinuitäten, Stuttgart 2007, S. 467 – 501. Oehler-Klein, Sigrid, Radikalisierungen während des Krieges: Auswirkungen auf Institutionen, Personal und Patienten, in: Sigrid Oehler-Klein (Hg.), Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit: Personen und Institutionen, Umbrüche und Kontinuitäten, Stuttgart 2007, S. 361 – 376. Oelschläger, Thomas, Zur Praxis der NS-Kinder-»Euthanasie« am Beispiel Österreichs, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 10 (2003), S. 1033 – 1041. Oesterle, Günter, Einleitung, in: Günter Oesterle (Hg.), Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen 2005. Olbing, Hermann, Eröffnungsansprache zur 77. Tagung der DGfK, Düsseldorf 1981, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 130 (1982), S. 325 – 329. Olbing, Hermann, Festakt zum hundertsten Jahrestag der Gründung der Gesellschaft für Kinderheilkunde, 12. September 1983, Eröffnungsansprache mit Totenehrung, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 132 (1984), S. 316 – 317.

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

349

Olick, Jeffrey K., Collective memory. The Two Cultures, in: Sociological Theory 17 (1999) 3, S. 333 – 348. Opolka, Uwe (Red.), Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften. Verantwortung und Ethik in der Wissenschaft. Symposium der Max-Planck-Gesellschaft, Schloß Ringberg / Tegernsee, Mai 1984, Stuttgart 1985. Pampel, Bert, Spuren Suchen und Erinnern. Gedenkstätten für die Opfer politischer Gewaltherrschaft in Sachsen, hg. v. der Stiftung Sächsische Gedenkstätten zur Erinnerung an die Opfer politischer Gewaltherrschaft, Leipzig 1996. Peiffer, Jürgen, Neuropathology in the Third Reich, in: Brain Pathology 1 (1991), S. 125 – 131. Peiffer, Jürgen, Hirnforschung im Zwielicht. Beispiele verführbarer Wissenschaft aus der Zeit des Nationalsozialismus. Julius Hallervorden – H.-J. Scherer – Berthold Ostertag, Husum 1997. Peiffer, Jürgen, 100 Jahre deutsche Neuropathologie, in: Der Pathologe 18 (1997) Suppl. 1, S. 21 – 32. Peiffer, Jürgen, Assessing Neuropathological Research carried out on Victims of the ›Euthanasia‹ Programme. With two Lists of Publications from Institutes in Berlin, Munich and Hamburg, in: Medizinhistorisches Journal 34 (1999), S. 339 – 356. Peiffer, Jürgen, Neuropathologische Forschung an ›Euthanasie‹-Opfern in zwei KaiserWilhelm-Instituten, in: Doris Kaufmann (Hg.), Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven der Forschung, Bd. 1, Göttingen 2000, S. 151 – 173. Peiffer, Jürgen, Das Psychiatrische Krankenhaus Marburg und das Max-Planck-Institut für Hirnforschung. Persönliche und institutionelle Beziehungen, in: Peter Sandner, Gerhard Aumüller und Christina Vanja (Hg.), Heilbar und nützlich. Ziele und Wege der Psychiatrie in Marburg an der Lahn, Marburg 2001, S. 353 – 361. Peiffer, Jürgen, Die Prosektur der brandenburgischen Landesanstalten und ihre Einbindung in die Tötungsaktionen, in: Kristina Hübener (Hg.) in Zusammenarbeit mit Martin Heinze, Brandenburgische Heil- und Pflegeanstalten in der NS-Zeit, Berlin 2002, S. 155 – 168. Peiffer, Jürgen, Hirnforschung in Deutschland 1849 bis 1974. Briefe zur Entwicklung von Psychiatrie und Neurowissenschaften sowie zum Einfluss des politischen Umfeldes auf Wissenschaftler, Berlin / Heidelberg 2004. Peiffer, Jürgen, Wissenschaftliches Erkenntnisstreben als Tötungsmotiv? Zur Kennzeichnung von Opfern auf deren Krankenakten und zur Organisation und Unterscheidung von Kinder-»Euthanasie« und T4-Aktion, hg. v. Carola Sachse, Vorabdruck der Präsidentenkommission »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, Ergebnisse 23, Berlin 2005. Peiffer, Jürgen, Phases in the Postwar German Reception of the »Euthanasia Program« (1939 – 1945). Involving the Killing of the Mentally disabled and its Exploitation by Neuroscientists, in: Journal of the History of the Neurosciences 15 (2006) 3, S. 210 – 244. Peiffer, Jürgen, Phasen der deutschen Nachkriegsauseinandersetzung mit den Krankentötungen 1939 – 1945, in: Sigrid Oehler-Klein und Volker Roelcke (Hg.) unter Mitarbeit von Kornelia Grundmann und Sabine Schleiermacher, Vergangenheitspolitik in der

350

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

universitären Medizin nach 1945. Institutionelle und individuelle Strategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart 2007, S. 331 – 359. Peiper, Albrecht, Chronik der Kinderheilkunde, Leipzig 1951. Pelz, Lothar, Ethische Probleme der pränatalen Diagnostik genetisch bedingter Leiden. Vortrag auf der 19. Tagung der Regionalgruppe Neubrandenburg, Rostock, Schwerin der Gesellschaft für Klinische Chemie und Laboratoriumsdiagnostik, 25.–26. 11. 1977 in Alt-Sammit b. Krakow, unveröffentlichtes Manuskript. Pelz, Lothar, Kinderärzte im Netz der »NS-Kindereuthanasie« am Beispiel der »Kinderfachabteilung« Görden, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 151 (2003), S. 1027 – 1032. Pelz, Lothar, »… Aber ich sorge mich so um mein Kind …«. Kinderärzte und NS-»KinderEuthanasie«, Hamburg 2006. Peter, Jürgen, Der Nürnberger Ärzteprozeß im Spiegel seiner Aufarbeitung anhand der drei Dokumentensammlungen von Alexander Mitscherlich und Fred Mielke, Münster / Hamburg 1994. Petersen, Hans-Christian und Sönke Zankel, ›Ein exzellenter Kinderarzt, wenn man von den Euthanasie-Dingen einmal absieht‹ – Werner Catel und die Vergangenheitspolitik der Universität Kiel, in: Berit Lahm, Thomas Seyde und Eberhard Ulm (Hg.), 505 Kindereuthanasieverbrechen in Leipzig – Verantwortung und Rezeption, Leipzig 2008, S. 165 – 219. Peukert, Detlev, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987. Pfau, Arne, Hanns Schwarz und seine Auseinandersetzung mit Zwangssterilisation und »Euthanasie« während der Zeit des Nationalsozialismus, in: Wolfgang Fischer und Heinz-Peter Schmiedebach (Hg.), Die Greifswalder Universitäts-Nervenklinik unter dem Direktorium von Hanns Schwarz, 1946 – 1965. Symposium zur 100. Wiederkehr des Geburtstages von Hanns Schwarz am 3. 7. 1998, Greifswald 1999, S. 48 – 59. Platen-Hallermund, Alice, Die Tötung Geisteskranker in Deutschland. Reprint der Erstausgabe von 1948, Bonn 1998. Podewin, Norbert, Der Rabbinersohn im Politbüro. Albert Norden – Stationen eines ungewöhnlichen Lebens, Berlin 22003. Puchowski, Georg, Domkapitular, Stellungnahme zur Frage der Sterilisation, in: Berliner Gesundheitsblatt 1 (1950) 21, S. 532. Radke, Michael, NS-Zeit: Kein Ritual, in: Deutsches Ärzteblatt 108 (2011) 14, S. A 767. Rapoport, Samuel Mitja und Achim Thom (Hg.), Das Schicksal der Medizin im Faschismus. Auftrag und Verpflichtung zur Bewahrung von Humanismus und Frieden. Internationales wissenschaftliches Symposium europäischer Sektion der IPPNW, 17.–20. November 1988, Erfurt / Weimar, Berlin 1989, S. 224 – 228. Rauschmann, Michael A. und Klaus-Dieter Thomann, Bilder aus der Vergangenheit, 200 Jahre Orthopädie, in: Orthopädie 29 (2000), S. 1008 – 1017, http://www.or thopaedie-museum.de/geschichte.html (6.2.3013). Redies, Christoph und Sabine Hildebrandt, Ohne jeglichen Skrupel , in: Deutsches Ärzteblatt 109 (2012) 48, S. A 2413-A 2415 u. A 4-A 5. Redler-Hasford, Elisabeth und Renate Jäckle, Gesundheitsläden und Gesundheitstage. Versuch einer Bilanz nach neun Jahren, in: Winfried Beck, Hans-Ulrich Deppe, Renate

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

351

Jäckle und Udo Schagen (Hg.), Ärzteopposition, Neckarsulm / München 1987, S. 81 – 98. Regau, Thomas, Schon wieder Euthanasie?, Rubrik Rundschau in: Hochland 55 (1962 – 1963), S. 85 – 87. Regau, Thomas, Es bleibt Mord. Euthanasie im Zwielicht – Der Totschlag aus falschem Mitleid – Wieviel muss der Eid des Hippokrates gelten?, in: Die ZEIT Nr. 33, 13. 8. 1965. Regenbrecht, J., Spätergebnisse nach Operationen bei Meningomyelocelen, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 132 (1984), S. 398 – 401. Reicherdt, Babette, »Gördener Forschungskinder«. NS-»Euthanasie« und Hirnforschung, in: Maike Rotzoll, Gerrit Hohendorf, Petra Fuchs, Paul Richter, Christoph Mundt und Wolfgang E. Eckart (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn u. a. 2010, S. 147 – 151. Reif-Spirek, Peter, Später Abschied von einem Mythos. Jussuf Ibrahim und die Stadt Jena, in: Annette Leo und Peter Reif-Spirek (Hg.), Vielstimmiges Schweigen. Neue Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 2001, S. 21 – 50. Reimer, Günter, Der Einfluß der rassenhygienischen Gesetze und Verordnungen auf die Anstaltspsychiatrie und das Schicksal der Patienten in der Landes-Heil- und Pflegeanstalt Hubertusburg während der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland (1933 – 1945), Med. Diss. Leipzig 1991. Reulecke, Jürgen (Hg.) unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, München 2003. Reulecke, Jürgen, Warum und wie jede Generation sich ihr eigenes Bild von der Vergangenheit macht, in: Jörg Calließ (Hg.), Die frühen Jahre des Erfolgsmodells BRD – Oder : Die Dekonstruktion der Bilder von der formativen Phase unserer Gesellschaft durch die Nachgeborenen, Loccumer Protokolle 25/2002, Rehburg-Loccum 2003, S. 13 – 23. Reulecke, Jürgen und Volker Roelcke (Hg.), Wissenschaften im 20. Jahrhundert. Universitäten in der modernen Wissenschaftsgesellschaft, Stuttgart 2008. Reuter, Elke und Detlef Hansel, Das kurze Leben der VVN von 1947 bis 1953. Die Geschichte der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes in der SBZ und in der DDR, Berlin 1997. Richardson Jr., Edward P., Julius Hallervorden, in: Stephen Ashwal (Hg.), The Founders of Child Neurology, San Franscisco 1990, S. 506 – 511. Richardson Jr., Edward P., Karl Erik Astrom und Paul Kleihues, The Development of Neuropathology at the Massachusetts General Hospital and Harvard Medical School, in: Brain Pathology 4 (1994), S. 181 – 195. Roelcke, Volker, Die Entwicklung der Medizingeschichte seit 1945, in: NTM Zeitschrift für Geschichte der Wissenschaften, Technik und Medizin 2 (1994), S. 193 – 216. Roelcke, Volker, Erbpsychologische Forschung im Kontext der »Euthanasie«. Neue Dokumente und Aspekte zu Carl Schneider, Julius Deussen und Ernst Rüdin, in: Fortschritte der Neurologie und Psychiatrie 66 (1998), S. 331 – 336. Roelcke, Volker, Trauma or Responsibility? Memories and Historiographies of Nazi Psychiatry in Postwar Germany, in: Austin Sarat, Nadav Davidovich and Michal Alberstein (eds.), Trauma and Memory. Reading, Healing, and Making Law, Stanford California 2007, S. 225 – 242. Roelcke, Volker, Medizin im Nationalsozialismus: Historische Kenntnisse und einige

352

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

Implikationen, in: Sigrid Oehler-Klein (Hg.), Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen im Nationalsozialismus und in der Nachkriegszeit: Personen und Institutionen, Umbrüche und Kontinuitäten, Stuttgart 2007, S. 13 – 32. Roelcke, Volker [Leserbrief: NS-Euthanasie und Max-Planck-Gesellschaft], Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. 1. 2011. Roelcke, Volker, Medizin im Nationalsozialismus – Radikale Manifestation latenter Potentiale moderner Gesellschaften, in: Heiner Fangerau und Igor J. Polianski (Hg.), Medizin im Spiegel ihrer Geschichte, Theorie und Ethik. Schlüsselthemen für ein junges Querschnittsfach, Stuttgart 2012, S. 35 – 50. Roelcke, Volker und Gerrit Hohendorf, Akten der »Euthanasie«-Aktion T4 gefunden, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 41 (1993), S. 479 – 481. Roelcke, Volker, Gerrit Hohendorf et Maike Rotzoll, Science m¦dicale, ethos et transformations politiques: la recherche psychiatrique en Allemange, 1925 – 1945, in: Christian Bonah, Êtienne Lepicard et Volker Roelcke (eds.), La m¦decine exp¦rimentale au tribunal. Implications ¦thiques de quelques procÀs m¦dicaux du XXe siÀcle europ¦en, Paris 2003, S. 157 – 183. Roer, Dorothee und Dieter Henkel (Hg.), Psychiatrie im Faschismus. Die Anstalt Hadamar 1933 – 1945, Frankfurt am Main 21996. Roggenbau, Christel, Über die Krankenbewegung an der Berliner Universitätsnervenklinik in den Jahren 1933 bis 1945, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinischen Psychologie 1 (1949) 5, S. 119 – 133. Rohrbach, Jens Martin, Augenheilkunde im Nationalsozialismus, Stuttgart 2007. Rohrbach, Jens Martin, Jüdische Augenärzte im Nationalsozialismus – eine Gedenkliste: Jewish ophthalmologists during National socialism – a memorial file, in: Klinische Monatsblätter für Augenheilkunde 228 (2011), S. 70 – 83. Rose, Wolfgang, mit einem Beitrag von Annette Weinke, Anstaltspsychiatrie in der DDR. Die brandenburgischen Kliniken zwischen 1945 – 1990, Berlin-Brandenburg 2005. Rosskopf, Annette, Strafverteidigung als ideologische Offensive. Das Leben des Rechtsanwalts Friedrich Karl Kaul (1906 – 1981), http://fhi.rg.mpg.de/articles/9808rosskopf. htm (5. 1. 2013). Rosskopf, Annette, Zum Leben und Wirken des Rechtsanwaltes Friedrich Karl Kaul (1906 – 1981), in: Beiträge zur juristischen Zeitgeschichte der DDR, Berlin 2000, S. 4 – 32. Rosskopf, Annette, Friedrich Karl Kaul. Anwalt im geteilten Deutschland (1906 – 1981), Berlin u. a. 2002. Rost, Karl Ludwig, »Ich klage an« – ein historischer Film?, in: Udo Benzenhöfer und Wolfgang Uwe Eckart (Hg.), Medizin im Spielfilm des Nationalsozialismus, Tecklenburg 1990, S. 34 – 51. Roth, Karl Heinz, »Ich klage an« – Aus der Entstehungsgeschichte eines PropagandaFilms, in: Götz Aly (Hg.), Aktion T4 1939 – 1945. Die »Euthanasie«-Zentrale in der Tiergartenstraße 4, Berlin 1987, S. 93 – 121. Rotzoll, Maike und Gerrit Hohendorf, Zwischen Tabu oder Reformimpuls. Der Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik nach 1945, in: Sigrid Oehler-Klein und Volker Roelcke (Hg.) unter Mitarbeit von Kornelia Grundmann und Sabine Schleiermacher, Vergangenheitspolitik in der universitären

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

353

Medizin nach 1945. Institutionelle und individuelle Strategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart 2007, S. 307 – 330. Rotzoll, Maike, Gerrit Hohendorf, Petra Fuchs, Paul Richter, Christoph Mundt und Wolfgang E. Eckart (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer. Geschichte und ethische Konsequenzen für die Gegenwart, Paderborn u. a. 2010. Rousso, Henry, The Vichy Syndrome: History and Memory in France since 1944, Cambridge, Mass. 1991. de Rudder, Bernhard, Ärztliches zur Welt des Kindes, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 108 (1959) 3, S. 79 – 83. Sabrow, Martin und Norbert Frei (Hg.), Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, Göttingen 2012. Sachse, Carola, ›Persilscheinkultur‹. Zum Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Kaiser-Wilhelm / Max-Planck-Gesellschaft, in: Bernd Weisbrod (Hg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002, S. 217 – 246. Sachse, Carola, Wissenschaftseliten und NS-Verbrechen. Zur Vergangenheitspolitik der Kaiser-Wilhelm- / Max-Planck-Gesellschaft, in: Sigrid Oehler-Klein und Volker Roelcke (Hg.), Vergangenheitspolitik in der universitären Medizin nach 1945. Institutionelle und individuelle Strategien im Umgang mit dem Nationalsozialismus, Stuttgart 2007, S. 43 – 64. Sachse, Carola, Was bedeutet »Entschuldigung«? Die Überlebenden medizinischer NSVerbrechen und die Max-Planck-Gesellschaft, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 34 (2011) 3, S. 224 – 241, Erstveröffentlichung online (www.bwg.wiley-vch.de) am 18. 3. 2011 mit vorläufigen Seitenzahlen, S. 1 – 18. Sandner, Peter, Die »Euthanasie«-Akten im Bundesarchiv. Zur Geschichte eines lange verschollenen Bestandes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 47 (1999) 3, S. 385 – 400. Sax, Michael, Heinz-Peter Schmiedebach und Rebecca Schwoch, Die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933 – 1945. Die Präsidenten, Heidelberg 2011. Schadewaldt, Hans, Medizinhistorische Einleitung, in: Helmuth Müller und Hermann Olbing (Hg.), Symposium Ethische Probleme in der Pädiatrie und ihren Grenzgebieten, 1981 Tegernsee, München 1982, S. 13 – 18. Schadewaldt, Hans, Zur Problematik der Unmenschlichkeiten in der Medizin aus historischer Sicht, in: Förderkreis Bad Nauheimer Gespräche, Frankfurt am Main (Hg.), Unmenschliche Medizin. Geschichtliche Erfahrungen, gegenwärtige Probleme und Ausblick auf die zukünftige Entwicklung. Seminar, Mainz 1983, S. 12 – 21. Schagen, Udo, Vom Kritiker zum Standesfunktionär? in: Winfried Beck, Hans-Ulrich Deppe, Renate Jäckle und Udo Schagen (Hg.), Ärzte-Opposition, Neckarsulm / München 1987, S. 106 – 133. Schelsky, Helmut, Die skeptische Generation, Düsseldorf 1957. Schildt, Axel, Detlef Siegfried und Karl Christian Lammers (Hg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000. Schilter, Thomas, Unmenschliches Ermessen. Die nationalsozialistische »Euthanasie«Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein 1940/41, Leipzig 1999. Schirmer, Siegfried, Karl Müller und Helmut F. Späte, Neun Thesen zur Therapeutischen

354

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

Gemeinschaft, in: Psychiatrie, Neurologie und medizinische Psychologie 26 (1974) 1, S. 50 – 54. von Schlabrendorff, Fabian, Begegnungen in fünf Jahrzehnten, Tübingen 1979. Schlegel, Matthias, Operation »Ausmerzer«. In der DDR war die NS-»Euthanasie« tabu – die Erforschung der Stasi-Akten erhellt die Gründe, in: Der Tagesspiegel, 16. 3. 2004, S. 24. Schlich, Thomas, Zeitgeschichte der Medizin. Herangehensweise und Probleme, in: Medizinhistorisches Journal 42 (2008), S. 269 – 298. Schlink, Bernhard, Die Bewältigung von Vergangenheit durch Recht, in: Helmut König u. a. (Hg.), Vergangenheitsbewältigung am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, Sonderheft Leviathan 18 (1998), S. 433 – 451. Schmidt, Jürgen, Darstellung, Analyse und Wertung der Euthanasiedebatte in der deutschen Psychiatrie von 1920 – 1933, Med. Diss. Leipzig 1983. Schmoll, Heike, Auch kein Hort des Widerstands, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6. 1. 2011 Schmuhl, Hans-Walter, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Vernichtung ›lebensunwerten Lebens‹, 1890 – 1945, Göttingen 1987. Schmuhl, Hans-Walter, Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 1937 – 1945. Forschungsprogramm »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, hg. v. Carola Sachse, Vorabdruck der Präsidentenkommission »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, Ergebnisse 1, Berlin 2000. Schmuhl, Hans-Walter, Nationalsozialismus als Argument im aktuellen Medizinethikdiskurs. Eine Zwischenbilanz, in: Andreas Frewer und Clemens Eickhoff (Hg.), »Euthanasie« und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte. Die historischen Hintergründe medizinischer Ethik, Frankfurt / New York 2000, S. 386 – 404. Schmuhl, Hans-Walter, Zwischen vorauseilendem Gehorsam und halbherziger Verweigerung. Werner Villinger und die nationalsozialistischen Medizinverbrechen, in: Der Nervenarzt 73 (2002), S. 1058 – 1063. Schmuhl, Hans-Walter, Hirnforschung und Krankenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung 1937 – 1945, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 50 (2002), S. 559 – 609. Schmuhl, Hans-Walter, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927 – 1945, Göttingen 2005. Schneider, Frank, Psychiatrie im Nationalsozialismus – Erinnerung und Verantwortung –, Rede anlässlich der Gedenkveranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN), Berlin, 26. November 2010, in: Der Nervenarzt 82 (2011) 1, S. 104 – 112. Schorr, Reimer, Kinderheilkunde, in: Alexander Mette und Irena Winter (Hg.), Geschichte der Medizin. Einführung in ihre Grundzüge, Berlin 1968, S. 365 – 382. Schottdorf, Andrea, Gesundheit und Krankheit 1970 – 2000. Organisierte Ärzteschaft und ärztliche Opposition im Spiegel der Protokolle der Deutschen Ärztetage und der Zeitschrift »Dr. med. Mabuse«, med. Diss. Köln 2009. http://digitool.hbz-nrw.de:1801/ webclient/StreamGate?folder_id=0& dvs=1359244204538~383 (5. 1. 2013). Schöttler, Peter (Hg.), Geschichtsschreibung als Legitimationswissenschaft 1918 – 1945, Frankfurt am Main 1997.

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

355

Schreiber, Jürgen, »Tante Marianne«. Das große Geheimnis des Malers Gerhard Richter, Der Tagesspiegel, 23. 8. 2004. Schreiber, Jürgen, Ein Maler aus Deutschland. Gerhard Richter. Das Drama einer Familie, München u. a. 2005. Schreiber, Jürgen, Drama um Gerhard Richters Bild. Tante Marianne muss hier bleiben, in: Der Tagesspiegel, 19. 6. 2006. Schuder, Werner, Kürschners Deutscher Gelehrten-Kalender 1970, Berlin 1970. Schulz, Jörg, Die Rodewischer Thesen von 1963 – ein Versuch zur Reform der DDRPsychiatrie, in: Franz-Werner Kersting (Hg.), Psychiatriereform als Gesellschaftsreform. Die Hypothek des Nationalsozialismus und der Aufbruch der sechziger Jahre, Paderborn u. a. 2003, S. 87 – 100. Schulze, Dietmar, »Euthanasie« im Reichsgau Sudetenland und im Protektorat Böhmen und Mähren. Ein Forschungsbericht, in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation (Hg.), Beiträge zur NS-»Euthanasie«-Forschung 2002. Fachtagungen vom 24. bis 26. Mai 2002 in Linz und Hartheim / Alkhoven und vom 15. bis 17. November 2002 in Potsdam, Ulm 2003, S. 147 – 168. Schulze, Heinz A. F. und Christian Donalies, 100 Jahre Psychiatrie und Neurologie im Rahmen der Berliner Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie und der Nervenklinik der Charit¦, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität Berlin, Math.Nat. R. XVII (1968) 1, S. 5 – 10. Schulze, Winfried und Götz Aly (Hg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 2000. Schwarz, Hanns, Das Euthanasieproblem im Blickfeld des Arztes, in: Urania. Monatsschrift über Natur und Gesellschaft 11 (1948) 1, S. 11 – 18. Schwarz, Hanns, Ein Gutachten über die ärztliche Tätigkeit im sog. Erbgesundheitsverfahren (Mediz.-jurist. Grenzfragen unter besonderer Berücksichtigung der Psychiatrie und Neurologie, Heft 1), Halle 1950. Schwartz, Michael, »Euthanasie«-Debatten in Deutschland (1895 – 1945), in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 46 (1998) 4, S. 617 – 665. Schweier, Paul und Eduard Seidler (Hg.), Lebendige Pädiatrie, München 1983. Schweitzer, Albert, Die Lehre der Ehrfurcht vor dem Leben, Berlin 61969. Schweizer, Arndt, Sadistische Einzeltäter oder Kollektivschuld eines ganzen Standes? 50 Jahre Berichterstattung über NS-Verbrechen von Ärzten in Spiegel und Zeit, Hannover 1997, www.redaktion-medizin.de/img/dipl_as.pdf (15. 1. 2013). Schwerdtner, Hans-Bodo und Michael Meixner, Zur Entwicklung der Rassenhygiene in Deutschland und das »Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses«. Grundlagen, Diskussionen, Auswirkungen und Vergleich an Hand ausgewählter Krankheitsbilder, Med. Diss. Leipzig 1985. von Schwerin, Alexander, Experimentalisierung des Menschen. Der Genetiker Hans Nachtsheim und die vergleichende Erbpathologie, 1920 – 1945, Göttingen 2004. Scriba, Christof J. (Hg.), Das Verhältnis von Akademien und ihrem wissenschaftlichen Umfeld zum Nationalsozialismus. Leopoldina-Symposion: Die Elite der Nation im Dritten Reich – Das Verhältnis von Akademien und ihrem wissenschaftlichen Umfeld zum Nationalsozialismus, vom 9. bis 11. Juni 1994 in Schweinfurt, Wissenschaftliche Vorbereitung und Organisation: Eduard Seidler, Christoph Scriba, Wieland Berg, Uwe Müller, Halle 1995.

356

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

SED, Kreisleitung Pirna, Kommission zur Erforschung der Geschichte der örtlichen Arbeiterbewegung (Hg.), Ehrenmale, Gedenkstätten, Erinnerungsstätten und Mahnstätten der Arbeiterbewegung und des antifaschistischen Widerstandes im Kreis Pirna, Pirna 1969. Seidelman, William E., Dissecting the history of anatomy in the Third Reich, 1989 – 2010: A personal account, in: Annals of Anatomy 194 (2012) 3, S. 228 – 236. Seidler, Eduard, Ethische Probleme im Umgang mit dem Kind, in: Helmuth Müller und Hermann Olbing (Hg.), Symposium Ethische Probleme in der Pädiatrie und ihren Grenzgebieten, 1981 Tegernsee, München 1982, S. 45 – 56. Seidler, Eduard, Carl Gerhardt und seine Rede: »Die Aufgaben und Ziele der Kinderheilkunde« (1879), in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 131 (1983), S. 545 – 548. Seidler, Eduard, Die Kinderheilkunde und der Staat, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 143 (1995), S. 1184 – 1191. Seidler, Eduard, Das Schicksal jüdischer Kinderärzte im Nationalsozialismus. Ein Vorbericht, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 146 (1998), S. 744 – 753. Seidler, Eduard, Kinderärzte 1933 – 1945. Entrechtet – geflohen – ermordet, Bonn 2000. Seidler, Eduard, »Kindereuthanasie« im Nationalsozialismus, in: Christoph Mundt, Gerrit Hohendorf und Maike Rotzoll (Hg.), Psychiatrische Forschung und NS-»Euthanasie«. Beiträge zu einer Gedenkveranstaltung an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg. Heidelberg 2001, S. 129 – 144. Seidler, Eduard, Editorial Kinder-»Euthanasie«, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 151 (2003), S. 1010 – 1011. Seidler, Eduard, Kinderärzte 1933 – 1945. Entrechtet – geflohen – ermordet, erweiterte Neuauflage, Basel 2007. Seidler, Eduard, Euthanasie: Historische Kommission, in: Deutsches Ärzteblatt 106 (2009) 10, S. A 461. Seidler, Eduard und M. Posselt, Jussuf Ibrahim. Anmerkungen zu seinem wissenschaftlichen Schrifttum, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 150 (2002), S. 1000 – 1003. Shevell, Michael, Racial Hygiene, active euthanasia, and Julius Hallervorden, in: Neurology 42 (1992), S. 2214 – 2219. Simon, Eva-Corinna, Geschichte als Argument in der Medizinethik. Die Bezugnahme auf die Zeit des Nationalsozialismus im internationalen Diskurs (1980 – 1994), Med. Diss. Justus-Liebig-Universität Gießen 2004. Sˇimu˚nek, Michal, Getarnt – Verwischt – Vergessen: Die Tätigkeit von Em. Univ.-Prof. Mudr. Franz Xaver Lucksch (1872 – 1952) und Univ.-Prof. Dr. med. Carl BennholdtThomsen (1903 – 1971) im Kontext der NS-»Euthanasie« auf dem Gebiet des Protektorates Böhmen und Mähren, in: Karen Bayer, Frank Sparing und Wolfgang Woelk (Hg.), Universitäten im Nationalsozialismus und in der frühen Nachkriegszeit, Stuttgart 2004, S. 125 – 146. Sˇimu˚nek, Michal, Planung der nationalsozialistischen »Euthanasie« im Protektorat Böhmen und Mähren im Kontext der Gesundheits- und Bevölkerungspolitik der deutschen Besatzungsbehörden, in: Michal Sˇimu˚nek und Dietmar Schulze (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie« im Reichsgau Sudetenland und Protektorat Böhmen und Mähren 1933 – 1945, Prag 2008, S. 117 – 189. Singer, Wolf, Auf dem Weg nach innen – 50 Jahre Hirnforschung in der Max Planck Gesellschaft. Festrede zum 50-jährigen Jubiläum der Max-Planck-Gesellschaft, in:

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

357

MPG-Spiegel, Sonderausgabe 2 (1998) (50 Jahre Max-Planck-Gesellschaft 1948 – 1998), S. 20 – 34. Skriver, Anskar, Eine gefährliche Veröffentlichung. Zu Professor Catels Buch »Grenzsituationen des Lebens«, Frankfurter Rundschau vom 20. 10. 1962. Sonderforschungsbereich 434 Erinnerungskulturen, Dokumentation des Abschlusskolloquiums. Übersichten und Listen, 1997 – 2008, Justus-Liebig-Universität Gießen, Stand: 31. Dezember 2008. Späte, Helmut F., Faschistische Massenvernichtung psychisch Kranker – Traditionspflege als Mahnung, in: Achim Thom und Horst Spaar (Hg.), Medizin im Faschismus. Protokoll, Symposium über das Schicksal der Medizin in der Zeit des Faschismus in Deutschland 1933 – 1945, Berlin 1983, S. 333 – 340. Späte, Helmut F. und Achim Thom, Die Verantwortung der sozialistischen Gesellschaft für ihre geistig schwer behinderten Mitglieder, in: Uwe Körner, Karl Seidel und Achim Thom (Hg.), Grenzsituationen ärztlichen Handelns, Jena 1981, S. 153 – 165. Späte, Helmut F., Achim Thom und Klaus Weise, Theorie, Geschichte und aktuelle Tendenzen in der Psychiatrie, Medizin und Gesellschaft 15, Jena 1982. Staab, Heinz A., Ständige Mahnung zum Bewusstsein ethischer Grundlagen. Ansprache des Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft, in: MPG-Spiegel 4 (1990), S. 31 – 32. Stauber, Manfred, Gynäkologie im Nationalsozialismus – oder »Die späte Entschuldigung« (Sonderveranstaltung im Rahmen des Kongresses), in: Archives of Gynecology and Obstetrics 257 (1995) 1 – 4, S. 753 – 771. Stauber, Manfred und Günther Kindermann, Über inhumane Praktiken der Frauenheilkunde im Nationalsozialismus und ihre Opfer. Untersuchung zu konkreten Ereignissen, in: Geburtshilfe und Frauenheilkunde 54 (1994), S. 479 – 489. Steuer, Armin D., Braune Vorgeschichte. Der Conterganerfinder, in: Spiegel Online,19. 11. 2007, http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/730/der_contergan_ erfinder.html (28. 1. 2013). Stoll, Peter, Die ethischen Probleme aus gynäkologischer Sicht, in: Helmuth Müller und Hermann Olbing (Hg.), Symposium Ethische Probleme in der Pädiatrie und ihren Grenzgebieten, 1981 Tegernsee, München 1982, S. 74 – 81. Strösser, Wolfgang, Deutsche Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie e.V. (1950 – 1992). Eine Untersuchung zur Entwicklung der Gesellschaft und zur Förderung des Faches Neuropathologie in Deutschland, Med. Diss. Berlin 1993. Sukut, Siegfried u. a. (Hg.), Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte, Struktur und Methoden – MfS-Handbuch –, http://www.bstu.bund.de/DE/Wissen/Publikationen/ Publikationen/handbuch_rechtsstelle_knabe.pdf ?__blob=publicationFile (5. 1. 2013). Surmann, Rolf, Was ist typisches NS-Unrecht? Die verweigerte Entschädigung für Zwangssterilisierte und »Euthanasie«-Geschädigte, in: Margret Hamm (Hg.), Lebensunwert – zerstörte Leben. Zwangssterilisation und »Euthanasie«, Frankfurt am Main 2005, S. 198 – 211. Süß, Winfried, Der »Volkskörper« im Krieg. Gesundheitspolitik, Gesundheitsverhältnisse und Krankenmord im nationalsozialistischen Deutschland 1939 – 1945, München 2003, S. 127 – 151. Thiel, Antje, Schmerzhafte Erinnerungen, in: Deutsches Ärzteblatt 108 (2011) 49, S. A 2656.

358

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

Thom, Achim, Psychiatrie im Faschismus – Bilanz der historischen Analyse, in: Zeitschrift für die gesamte Hygiene und ihre Grenzgebiete 26 (1980) 8, S. 553 – 560. Thom, Achim, Zur Einführung, in: Achim Thom und Genadij Ivanovicˇ Caregorodcev (Hg.), Medizin unterm Hakenkreuz, Berlin 1989. Thom, Achim und Horst Spaar, Medizin im Faschismus. Symposium über das Schicksal der Medizin in der Zeit des Faschismus in Deutschland 1933 – 1945, Berlin 1983. Thom, Achim und Horst Spaar, Einführung. Bedeutsame neue Trends und Ergebnisse der Forschungsarbeit zur Stellung der Medizin im faschistischen Herrschaftssystem in Deutschland von 1933 – 1945 und ihre Folgewirkungen, in: Achim Thom und Horst Spaar (Hg.), Das Schicksal der Medizin im Faschismus. Berlin 1985, S. 11 – 31. Thom, Achim und Ortrun Riha (Hg.), 90 Jahre Karl-Sudhoff-Institut an der Universität Leipzig, Leipzig 1996. Thom, Achim und Samuel Mitja Rapoport, Bilanz einer fruchtbaren Begegnung – zur Einführung in diesen Protokollband, in: Samuel Mitja Rapoport und Achim Thom (Hg.), Das Schicksal der Medizin im Faschismus. Auftrag und Verpflichtung zur Bewahrung von Humanismus und Frieden. Internationales wissenschaftliches Symposium europäischer Sektionen der IPPNW, 17.–20. November 1988, Erfurt / Weimar – DDR, Berlin 1989. Thom, Achim und Susanne Hahn, Euthanasie im Dritten Reich – nur ein Problem der Psychiatrie? Zur Entwicklung der Sterbehilfe-Debatte in den Jahren von 1933 – 1941 in Deutschland, in: Zeitschrift für die gesamte Innere Medizin und ihre Grenzgebiete 41 (1986) 2, S. 44 – 48. Thomann, Klaus-Dieter und Michael A. Rauschmann, Orthopäden und Patienten unter der nationalsozialistischen Diktatur, in: Orthopäde 10 (2001) 30, S. 696 – 711. Thurmann, Karl O., Sterilisierung Schwachsinniger, in: Berliner Gesundheitsblatt 1 (1950) 16, S. 41. Topp, Sascha, Der »Reichsausschuß zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden«. Zur Organisation der Ermordung minderjähriger Kranker im Nationalsozialismus 1939 – 1945, in: Thomas Beddies und Kristina Hübener (Hg.), Kinder in der NS-Psychiatrie, Berlin-Brandenburg 2004, S. 17 – 54. Topp, Sascha, »Meldung eines Falles von Idiotie Hydrocephalus«. Die NS-»Kindereuthanasie« am Beispiel der Krankengeschichte von Ilse Angelika S., Fundstück, in: Babette Quinkert, Philipp Rauh und Ulrike Winkler (Hg.), Krieg und Psychiatrie 1914 – 1950, Göttingen 2010, S. 189 – 205. Topp, Sascha und Jan Lekschas, Ilsze Lekschas »Aber ich habe Kirchenlieder gesungen und gelacht.«, in: Jüdisches Museum Berlin (Hg.), Tödliche Medizin. Rassenwahn im Nationalsozialismus, Berlin 2009, S. 66 – 71. Trenckmann, Ulrich, Nach Hadamar. Zur Rezeption der NS-Vergangenheit durch die deutsche Psychiatrie, in: Kersting, Franz-Werner, Karl Teppe und Bernd Walter (Hg.), Nach Hadamar. Zum Verhältnis von Psychiatrie und Gesellschaft im 20. Jahrhundert, Paderborn 1993, S. 273 – 286. Trunk, Achim, Zweihundert Blutproben aus Auschwitz. Ein Forschungsvorhaben zwischen Anthropologie und Biochemie (1943 – 1945), Vorabdrucke aus dem Forschungsprogramm »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, hg. v. Carola Sachse im Auftrag der Präsidentenkommission der Max-PlanckGesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V., Ergebnisse 12, Berlin 2003.

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

359

Tuffs, Annette, Apologies for the Nazi Crimes, in: The Lancet 344 (1994), September 17, S. 808. Tümmers, Henning, Spätes Unrechtsbewußtsein. Über den Umgang mit den Opfern der NS-Erbgesundheitspolitik, in: Norbert Frei, Constantin Goschler und Jos¦ Brunner (Hg.), Die Praxis der Wiedergutmachung. Geschichte – Erfahrung – Wirkung, Göttingen 2009, S. 443 – 479. Tümmers Henning, Schon wieder »vergessene Opfer«? Zwangssterilisierte zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Ärzteblatt Baden-Württemberg 65 (2010) 7, S. 286 – 289. Tümmers, Henning, Ärztliches Handeln, bundesrepublikanische Befindlichkeiten und die Schatten der Vergangenheit: Der Fall Dohrn, in: Dominik Groß, Richard Kühl und Stefanie Westermann (Hg.), Medizin im Dienst der Erbgesundheit. Beiträge zur Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene, Münster u. a. 2010, S. 215 – 240. Tümmers, Henning, Anerkennungskämpfe. Die Nachgeschichte der nationalsozialistischen Zwangssterilisation in der Bundesrepublik, Göttingen 2011. Universität Leipzig, Personal- und Vorlesungsverzeichnis. Sommersemester 1939, Leipzig 1939. Vergau, Jutta, Aufarbeitung von Vergangenheit vor und nach 1989. Eine Analyse des Umgangs mit den historischen Hypotheken totalitärer Diktaturen in Deutschland, Marburg 2000. Vierhaus, Rudolf (Hg.), Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften: Forschung im Spannungsfeld von Politik und Gesellschaft. Geschichte und Struktur der Kaiser-Wilhelm- / Max-Planck-Gesellschaft, aus Anlass ihres 75jährigen Bestehens, Stuttgart 1990. Vierhaus, Rudolf und Ludolf Herbst (Hg.), Biographisches Handbuch der Mitglieder des Deutschen Bundestages 1949 – 2002, Band 2: N-Z, München 2002. Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde, Mit ärztlichem Berufsethos unvereinbar, in: Ärztliche Mitteilungen 46 (1961), S. 1519. Vorstand des Verbandes der Sterilisierten und Gegner der Sterilisation, Protest gegen eine vom Gesundheitsamt Berlin beantragte Sterilisation an einem schwachsinnigen Mädchen, in: Berliner Gesundheitsblatt 1 (1950) 17, S. 436. Walter, Bernd, Psychiatrie und Gesellschaft in der Moderne. Geisteskrankenfürsorge in der Provinz Westfalen zwischen Kaiserreich und NS-Regime, Paderborn 1996. Weber, Gerhard (München), Buchbesprechung Grenzsituationen des Lebens, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 110 (1962), S. 543. Weigelt, Günter, Euthanasie in Brandenburg, in: Brandenburger Kulturspiegel Sept. (1962), S. 24 – 27 und Okt. (1962), S. 18 – 21. Weindling, Paul, Ärzte als Richter. Internationale Reaktionen auf die Medizinverbrechen des Nationalsozialismus während des Nürnberger Ärzteprozesses in den Jahren 1946 – 1947, in: Claudia Wiesemann und Andreas Frewer (Hg.), Medizin und Ethik im Zeichen von Auschwitz. 50 Jahre Nürnberger Ärzteprozeß, Erlangen 1996, S. 31 – 44. Weindling, Paul J., Nazi Medicine and the Nuremberg Trials. From Medical War Crimes to Informed Consent, Houndmills 2004. Weindling, Paul, »Cleansing« anatomical collections: The politics of removing specimens from German anatomical and medical collections 1988 – 92, in: Annals of Anatomy194 (2012), S. 237 – 242.

360

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

Weinke, Annette, Die Verfolgung von NS-Tätern im geteilten Deutschland. Vergangenheitsbewältigungen 1949 – 1969 oder : eine deutsch-deutsche Beziehungsgeschichte im Kalten Krieg, Paderborn u. a. 2002. Weinke, Annette, Nachkriegsbiographien brandenburgischer »Euthanasie«-Ärzte und Sterilisationsexperten. Kontinuitäten und Brüche, in: Wolfgang Rose, mit einem Beitrag von Annette Weinke, Anstaltspsychiatrie in der DDR. Die brandenburgischen Kliniken zwischen 1945 und 1990, Berlin-Brandenburg 2005, S. 179 – 243. Weisbrod, Bernd (Hg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002, S. 217 – 246. Weisbrod, Bernd, Generation und Generationalität in der Neueren Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 8 (2005), 11 Seiten, http://www.generationengeschichte.unigoettingen.de/wbapz.pdf (13. 1. 2013). von Weizsäcker, Richard, »Zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft«, Ansprache des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, www.dhm.de/lemo/html/dokumente/NeueHerausforderungen_ redeVollstaendigRichardVonWeizsaecker8Mai1985/index.html (6. 1. 2013). von Weizsäcker, Viktor, »Euthanasie« und Menschenversuche, Heidelberg 1947. Welzer, Harald, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall, »Opa war kein Nazi«. Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis, Frankfurt am Main 2002. Wentzler, Ernst, Die Säuglingstabelle, Hinweise für die Kollegen, in: Der Kinderarzt 20 (1972) 7, S. 294 – 295. Werther, Thomas, Fleckfieberforschung im Deutschen Reich. Untersuchung zu Beziehungen zwischen Wissenschaft, Industrie und Politik, Diss. Marburg 2004, http:// archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2008/0157/pdf/dtw.pdf (5. 1. 2013). Westermann, Stefanie, Verschwiegenes Leid. Der Umgang mit den NS-Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik Deutschland, Köln / Weimar / Wien 2010. Westermann, Stefanie, Richard Kühl und Tim Ohnhäuser (Hg.), NS-»Euthanasie« und Erinnerung. Vergangenheitsaufarbeitung, Gedenkformen, Betroffenenperspektiven, Berlin u. a. 2011. Wildt, Michael, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamts, Hamburg 2002. Wilke, Jürgen, Die Fernsehserie »Holocaust« als Medienereignis, in: Zeitgeschichte-online, März 2004. http://www.zeitgeschichteonline.de/md=FSHolocaust-Wilke (5. 1. 2013). Windorfer, Adolf, Zur Geschichte der »Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde«, in: Monatsschrift für Kinderheilkunde 126 (1978), S. 461 – 462. Windorfer, Adolf und Rolf Schlenk, Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde. Ihre Entstehung und historische Entwicklung, Berlin / Heidelberg / New York 1978. Winkelmann, Fritjof, Ärzte gegen Atomkrieg, in: Winfried Beck, Hans-Ulrich Deppe, Renate Jäckle und Udo Schagen (Hg.), Ärzteopposition, Neckarsulm / München 1987, S. 51 – 64. Wippermann, Wolfgang und Michael Burleigh, The Racial State. Germany 1933 – 1945, Cambridge 1991. Wojak, Irmtrud, Fritz Bauer 1903 – 1968. Eine Biographie, München 2009. Wunder, Michael, Der Nürnberger Kodex und seine Folgen, in: Angelika Ebbinghaus und

Verzeichnis der gedruckten Quellen und Literatur

361

Klaus Dörner (Hg.), Vernichten und Heilen. Der Nürnberger Ärzteprozeß und seine Folgen, Berlin 2001, S. 477 – 488. Wunder, Michael, Zur Geschichte des »Arbeitskreises zur Erforschung der nationalsozialistischen ›Euthanasie‹ und Zwangssterilisation«, in: Arbeitskreis zur Erforschung der nationalsozialistischen »Euthanasie« und Zwangssterilisation, Der sächsische Sonderweg bei der NS-»Euthanasie«. Fachtagung vom 15. bis 17. Mai 2001 in PirnaSonnenstein, Berichte des Arbeitskreises, Ulm 2001, S. 9 – 19. Wunder, Michael und Therese Neuer-Miebach (Hg.), Bio-Ethik und die Zukunft der Medizin, Bonn 1998. Zerubavel, Yael, Recovered Roots. Collective Memory and the Making of Israeli National Tradition, Chicago 1995. Zeuch, Christian, Die Gedenkstätte Hadamar als Ort der deutschen Erinnerungskultur von 1945 bis heute, Examensarbeit Historisches Institut der Justus-Liebig-Universität, 112 Seiten, Gießen 2008. Zimmermann, Susanne, »Euthanasie wäre durchaus zu rechtfertigen …«. Der Jenaer Professor Jussuf Ibrahim und die NS-Krankenmorde, in: Ralf Forsbach (Hg.), Medizin im »Dritten Reich«. Humanexperimente, »Euthanasie« und die Debatten der Gegenwart, Hamburg u. a. 2006, S. 81 – 98. Zimmermann, Susanne (Hg.), Quellen zur Geschichte Thüringens. Überweisung in den Tod. Nationalsozialistische »Kindereuthanasie« in Thüringen, Erfurt 32008. Zimmermann, Susanne und Renate Renner, Prof. Dr. Jussuf Ibrahim und die NS-Kindereuthanasie (1), in: Ärzteblatt Thüringen 14 (2003) 7 – 8, S. 522 – 525. Zimmermann, Susanne und Renate Renner, Prof. Dr. Jussuf Ibrahim und die NS-Kindereuthanasie (2), in: Ärzteblatt Thüringen 14 (2003) 9, S. 597 – 599.

9. Abkürzungsverzeichnis

Abs. Art. AG AGDV AK AStA BÄK BArch BDC BEG BEZ BRD BStU BT CfP CIOS DANA DAF DAAD DÄÄ DBT DDR DFA DFG DGfK DGGG DGKJ DGMR DGNN DGPPN DGSP DGSPJ

Absatz Artikel Arbeitsgemeinschaft Arbeitsgemeinschaft für Geschichte der Dermatologie und Venerologie Arbeitskreis Allgemeiner Studentenausschuss Bundesärztekammer Bundesarchiv Berlin Document Center im Bundesarchiv Berlin Bundesentschädigungsgesetz Bund der »Euthanasie«-Geschädigten und Zwangssterilisierten Bundesrepublik Deutschland Bundesbeauftragte(r) für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR Bundestag Call for Paper Combined Intelligence Objectives Sub-Committee Deutsche Allgemeine Nachrichten-Agentur Deutsche Arbeitsfront Deutscher Akademischer Austauschdienst Demokratische Ärztinnen und Ärzte, Liste in der Landesärztekammer Hessen Deutscher Bundestag Deutsche Demokratische Republik Deutsche Forschungsanstalt für Psychiatrie Deutsche Forschungsgemeinschaft Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin Deutsche Gesellschaft für Medizinrecht Deutsche Gesellschaft für Neuropathologie und Neuroanatomie Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin

364 DKP DM Dok. Dt. WV FAZ FDJ GDNP GG GP d. DDR GVeN HJ IPPNW KdF KAW KWG KWI LÄK LWV MfS MPI MPG NS NSDAP NSDÄB NSD NSV OdF OStA RKI SA SBZ SD SED s. o. SPD SS s. u. TBC TU T4 USA VDÄÄ VEB VVN I. WK

Abkürzungsverzeichnis

Deutsche Kommunistische Partei Deutsche Mark Dokument Deutsche Wiedervereinigung Frankfurter Allgemeine Zeitung Freie Deutsche Jugend Gesellschaft Deutscher Neurologen und Psychiater Grundgesetz Gesellschaft für Pädiatrie der DDR Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses Hitlerjugend International Physicians for the Prevention of Nuclear War Kanzlei des Führers Komitee Antifaschistischer Widerstandskämpfer Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft Kaiser-Wilhelm-Institut Landesärztekammer Landeswohlfahrtsverband Ministerium für Staatssicherheit der DDR Max-Planck-Institut Max-Planck-Gesellschaft Nationalsozialismus bzw. nationalsozialistische Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei Nationalsozialistischer Deutscher Ärztebund Nationalsozialistische(r) Deutsche(r) Nationalsozialistische Volkswohlfahrt Bund der Opfer des Faschismus und des Krieges Oberstaatsanwalt Robert Koch-Institut Sturmabteilung Sowjetische Besatzungszone Sicherheitsdienst des Reichsführers SS Sozialistische Einheitspartei Deutschlands siehe oben Sozialdemokratische Partei Deutschlands Schutzstaffel siehe unten Tuberkulose Technische Universität Tiergartenstraße 4 in Berlin, Sitz der Organisations- und Durchführungszentrale der NS-Euthanasie United States of America Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte Volkseigener Betrieb Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Erster Weltkrieg

Personenregister

Adorno, Theodor W. 42 Albers, Lotte 104 Albrecht, Rosemarie 274 Alexander, Leo 237 – 241, 244 – 253, 255, 257, 261, 265, 269 Allers, Dietrich 289 Althaus, Claudia 63, 64 Aly, Götz 78, 180, 182, 249, 265, 281, 308 Ankel, Wulf Enno 259 Arendt, Hannah 19 Asperger, Hans 115 – 116, 118, 140, 155, 158 – 159, 162 – 163, 192, 199 Assmann, Aleida 41, 64 – 66, 72 Assmann, Jan 60, 61, 64 – 66 Auerbach, Philipp 207 Baader, Gerhard 180, 308 Ballowitz, Leonore 182 Bamberger, Philipp 110, 111, 113 – 118, 139 – 141, 155, 158, 162, 192 – 194 Bauer, Fritz (Frankfurt am Main) 16 – 17, 42, 151 Bauer, Fritz (München) 208 Bauer, Manfred 52, 309 Bayer, Wilhelm 104, 135, 139 – 140, 160, 183, 194 Bechtoldt, Wolfgang 81 Beck, Winfried 37, 77 Becker, August 295 Begemann, Michael 80 Beiglböck, Wilhelm 247 Benario-Prestes, Olga 285 – 286 Bennholdt-Thomsen, Carl-Gottlieb 105,

139 – 146, 149 – 150, 153 – 157, 161, 166, 192, 194, 199, 277 – 278 Bensel, Ursula 104 Benzenhöfer, Udo 183 Bessau, Georg 105, 107, 112, 115 Bethge, Heinz 279 Biemond, Arie 249 Biesold, Horst 212, 224 Binding, Karl 103, 110, 118, 132, 150, 174, 200 Blasius, Dirk 218 Bleker, Johanna 308 Bloch, Marc 62, 66 Bock, Gisela 224, 227 Bogedain, Bernhard 283, 315 Boguslawski, Prof. (Gießen) 259 Bonhoeffer, Dietrich 103 Bonhoeffer, Karl Ludwig 293 – 294, 300 Bormann, Martin 47 Bott, Odina 127 – 128 Bouhler, Philipp 32, 47 Brandt, Karl 32, 276 Braun, Wolfgang 304 Brehme, Thilo 139, 180 Breitford, Ilse 104 Brendel, Hermann 262 Brodehl, Johannes 170, 172 – 175, 182 – 183, 185 – 186, 188, 195, 199 Broszat, Martin 232 Buchner, Paul 123 Buhl, Christoph 276 Bunke, Heinrich 243 Bürger-Prinz, Hans 112

366 Burleigh, Michael 305 Bütefisch, Heinrich 279 Butenandt, Adolf 262 – 264, 270 Caregorodcev, Genadij Ivanovicˇ 312 Carstens, Karl 80 Catel, Isolde, geb. Heinzel 33 Catel, Werner 31 – 33, 37 – 38, 101 – 108, 110, 112, 115 – 133, 135, 139 – 165, 167, 170 – 172, 174, 178 – 181, 184, 186, 189, 191 – 197, 199 – 200, 253, 273 – 280, 289, 291 – 293, 303 – 306, 309, 315, 322, 323 Chomsky, Marvin J. 42 Christiani, Edmund 108 Chroust, Peter 89 – 90 Claas, Gabriele 80 Confino, Alon 68 – 71, 73 – 74 Czerny, Adalbert 146 Dahm, Georg 123 de Crinis, Max 116, 153 de Rudder, Bernhard 105 – 106, 133, 148, 192 Degkwitz, Rudolf 104, 107 – 115, 117 – 118, 135, 140, 142, 151 – 152, 155, 158, 162, 181, 184, 191 – 194, 277 – 278 Degkwitz, Rudolf jun. 111 – 112 Deneke, Volrad 82 Deppe, Hans-Ulrich 37, 76, 80 – 81 Dick, Hr. (Landgerichtsrat) 122, 124 Diner, Dan 57 – 59 Donalies, Christian 289, 315 Dönhoff, Marion 128 Dönitz, Karl 47 Dörner, Klaus 52, 91, 214 – 215, 217 – 218, 223, 225, 227, 231 – 232, 307, 309 Dost, Friedrich Hartmut 102 – 103, 132, 143 – 144, 161, 192, 200, 276, 279, 291 – 292 Drexler, Siegmund 95 – 97 Dreyfus, Alfred 232 Eckstein, Albert 137 Ehrhardt, Helmut 51, 83, 135, 166 Eichler, Liselotte 295, 315 Eicke, Werner-Joachim 248

Personenregister

Elsner, Gine 23 Endlich, Stefanie 282, 313 Engisch, Karl 165, 199 Engstrom, Eric 53 – 54 Eppinger, Sven 24 Fanconi, Guido 130 – 131, 161 – 163, 181, 192, 200, 279 Feldman, Gerald D. 20, 26, 28, 54 – 55 Finzen, Asmus 52, 217 – 218 Fischer, Eugen 293 Fogt, Helmut 44 Forsbach, Ralf 22, 28 Foucault, Michel 63 Frank, Karl Hermann 145 Frei, Norbert 20, 41 – 44, 46, 49, 51, 56, 60 Freisler, Roland 111 Freudenberg, Ernst 135 – 140, 144 – 146, 150, 156, 158, 162, 192 – 194 Frick, Paul 110, 155 Friedrich, Oskar 204 – 205 Fulton, John F. 250 Furch, Wolfgang 81, 83 – 86, 98 Gadamer, Hans-Georg 119 – 124 Gaupp, Robert Eugen 150, 195 Gaupp, Vera 149, 150, 192, 195, 199 Genewein, Curt Maria 81 Gentner, Wolfgang 264 Gerstenberger, Henry 138 Gerstengarbe, Sibylle 189, 278 – 279 Girth, Ernst 80 Glock, Karl Borromäus 127 – 129 Goebbels, Joseph 47, 233 Goebel, Fritz 103, 137 Goldhagen, Daniel 43 Gordeler, Carl 103 Göring, Hermann 47, 241 Goslar, Hans-Günter 81 – 83 Grondin, Jean 121 Groß, Herwig 90 Großmann, Peter 301 Haagen, Niels Eugen 279 Habenicht, Gerhard 202 – 203, 206 Haedke, Kurt 95

367

Personenregister

Hahn, Otto 261 – 262 Halbwachs, Maurice 57, 61 – 66, 72 Hallervorden, Julius 35 – 36, 235 – 262, 267, 269 – 270 Hamann, Matthias 84, 86, 90 Hamburger, Franz 115, 116, 136, 138 – 139, 179 – 180 Hamm, Magret 228 Hansen, Hans-Georg 119 Härtel, Rainer 80 Hartenstein, Hans-Joachim 103, 139, 276 Häßler, Erich 102, 276 – 277, 141 Haugg, Friedrich 208 – 210 Havemann, Robert 246 Haymaker, Webb 239, 250 – 251 Hefelmann, Hans 16, 32 Heidegger, Martin 121 Heimpel, Hermann 42, 121 Heinemann, Gustav 80 Heinze, Hans 32 – 33, 35, 151, 179, 244, 262, 267, 295 Heisenberg, Werner 121, 264 Heitmann, Claus 166 – 167, 199 Hellbrügge, Theodor 133 – 135, 149, 158, 160 – 162, 186, 192, 195, 199 – 200, 304 Hempel, Hans-Christoph 102, 139, 141, 274 – 278 Henkel, Dieter 91 Herbert, Ulrich 44 – 45 Herxheimer, Karl 24 Heyde, Werner (alias Fritz Sawade) 15 – 17, 107, 113, 151 Hielscher, Margarete 274 Himmler, Heinrich 47 Hitler, Adolf 32, 34, 47, 103, 113, 130, 171, 233, 246, 252, 276, 285 Hoche, Alfred 103, 110, 118, 132, 150, 174, 200 Hofer, Hans-Georg 22 Hoffmann, Ute 287 Hofmeier, Kurt 139 Hohendorf, Gerrit 177, 213, 277 Honolka, Bernd 128, 135 Hottinger, Adolf 129, 130, 135 – 137, 139 – 140, 144 – 146, 150, 156, 162, 192 – 194 Hottinger, Arnold 136 – 137

Huber, Ellis 77 Hübner, Jürgen 174, 199 Ibrahim, Jussuf 116, 180 – 181, 189, 195, 274, 276, 307 Illies, Florian 48 Jachertz, Norbert 48, 185, 187 Jeanty, Mrs. 250, 252 Jochims, Joachim 131, 142 Jones, Maxwell 296 Joppich, Gerhard 109 – 113, 137, 160 – 161, 178 – 180, 192, 194, 278 Jütte, Robert 21 Kaiser, Hr. (Halle) 307 Kalinski, Siegmund 97 Kansteiner, Wulf 68, 71 – 73 Kanther, Manfred 223 Kaul, Friedrich Karl 38, 283, 288 – 301, 306, 314 – 315, 325 Kehler, Egon 119 Keller, Walter 131 – 132, 139, 178 Kerger, Hermann 80 – 81 Kersting, Franz-Werner 87 Kienberg, Paul 275, 278 Kisker, Karl Peter 309 Klee, Ernst 180 – 182, 224, 299 Kleihues, Paul 249 Kleinschmidt, Hans 137, 160, 194 Klenk, Ernst 249 Klinger, Prof. (Leipzig) 123 Kloos, Gerhard 274 Klose, Tilde 285 – 286 Klotz, E. (Stuttgart) 130 Klotz, Helmuth 93 – 96 Kneuker, Gerhard 88, 91 Knoch, Habbo 71 Koch, Erich 114 Kohl, Helmut 44, 227 Königer, Kurt 205, 207 – 208 Köttgen, Ulrich 116 – 118, 148 – 150, 161 – 163, 192, 195, 199 Kraepelin, Emil 35 Kretschmer, Ernst 137

368 Laks, Jona 268 Landwehr, Hr. (Oberstaatsanwalt) 120 Lange de la Camp, Maria 104 Lanzmann, Claude 43 Leide, Henry 273 – 275 Lennert, Thomas 138, 182, 188 Lenz, Fritz 134 Lenz, Widukind 134 Leonhard, Karl 289, 290, 294 Lepicard, Etienne 25, 68 Liebe, Siegfried 102 – 103, 141, 275 Liebeneiner, Wolfgang 233 Lilienthal, Georg 34, 188 Lima, Almeida 256 Linden, Herbert 47 Linneweh, Friedrich 102 Loeschke, Adalbert 137, 155 – 156, 158, 161, 166, 167, 192, 194, 276 Lorber, John 170 – 172, 176, 199, 301 – 302 Lübbe, Hermann 20, 50 Lüst, Reimar 263 – 264, 270 Luther, Martin 123 Lüthje, Emma 104 Mädler, Irmgard 33 Mai, Hermann 139, 145, 151 – 157, 162, 164, 192, 194 Mann, Gunter 81 – 82, 84 Mannheim, Karl 47 Markl, Hubert 265 – 266, 270 Martin, Ludwig 82 – 83, 86 Matthäus, Winfried 296, 300 Mausbach, Hans 80 – 82, 84, 97 Mecklinger, Ludwig 287 – 289, 291 – 294, 298, 314, 315 Meier, Christian 19 Meier, Kurt 306 Melchers, Georg 264 Mengele, Josef 106, 246, 257 – 258, 263, 268 Mette, Alexander 305 – 306 Meyer, Hr. (Landgerichtsrat) 159 Mieler, Wolfgang 303 Mielke, Fred 26, 83, 85, 109, 192, 206, 244, 246 Mildenberger, Hermann 170 – 172, 199

Personenregister

Mitchel, William L. 242 Mitscherlich, Alexander 26, 71, 80, 83, 85, 128, 192, 206, 243 – 246, 256, 265, 303, 312 Mitscherlich, Margarete 71, 96 Möhrle, Alfred 79, 94 – 98, 100 Mothes, Kurt 277 – 279 Mounier, M. Pierre 241 Mückter, Heinrich 134 Müller, Dagobert 290 – 293, 295, 301, 314 Müller, Helmuth 164 Müller, Karl 299 Müller, Pius 129 Müller-Hill, Benno 263, 265 Munch-Petersen, Carl Julius 250 Mutter, Tom 148 Nachtsheim, Hans 203, 211, 246, 262 Natzschka, Jürgen 184 Neukamp, Franz 206 Niemöller, Martin 88 Nietzsche, Friedrich 65 Noetzel, Hugo 242 Nolte, Paul 48, 264 Nonne, Max 103, 255 Nora, Pierre 61, 65 Norden, Albert 288, 293, 315 Nowak, Klara 95, 223, 225 – 227, 229 Nowak, Kurt 306 Ocklitz, Hans Wolfgang 279 Oehme, Johannes 103 Oksche, Andreas 260 Olbing, Hermann 116, 163 – 164, 176, 178 – 179 Olick, Jeffrey 61 Ostertag, Berthold 248 Parthier, Benno 27 Patzer, Helmut 301 – 302 Peiffer, Jürgen 48 – 51, 55, 235, 240, 254, 261, 265 Peiper, Albrecht 306 Pelz, Lothar 185 – 186, 188 – 190, 198, 200, 283, 303 Peters, Gerd 248

369

Personenregister

Petersen, Ursula 104 Peukert, Detlev 44 – 45, 53 Pfältzer, Bernhard 80 Pfannenstiel, Wilhelm Hermann 136 Pfefferer-Wolf, Hans 309 Platen-Hallermund, Alice 245 – 246, 251, 265 Pross, Christian 78 Quandt, Jochen 285 Rademaker, Gijsbertus G. J. 249 – 250 Rauch, Hans-Joachim 248 Regau, Thomas 129 Regenbrecht, J. (Regensburg) 176 Reichenbach, Erwin 277 Reumschüssel, Peter 294, 306 Rheindorf, Horst Joachim 80 – 82, 84 Richardson, Edward 248, 249 Riemann, Hr. (Landgerichtsdirektor) 159 Rietschel, Hans 109 Ritzmann, Iris 140 Roelcke, Volker 24 – 25, 48, 51, 53 – 55, 167, 193, 223, 307, 320 Roer, Dorothee 91 Rominger, Erich 136 – 139 Ronner, Hermann 119, 151 Ruhenstroth-Bauer, Gerhard 262 Rürup, Reinhard 265 Sachse, Carola 20, 26, 260, 26 – 269, 321 Santo, Fr. Dr. (Mammolshöhe) 101 Sawade, Fritz – Heyde, Werner 15, 107, 113 Schadewaldt, Hans 82, 163, 169, 199 Schaltenbrand, Georg 248, 250, 255, 256 Scheel, Walter 80 Schieder, Wolfgang 265 Schilter, Thomas 281 Schirmer, Siegfried 294 – 299, 314 – 315 Schleussing, Hans 248 Schmidt, Eberhard 185 Schmidt, Helmut 215 Schmuhl, Hans-Walter 25, 39 – 40, 99, 105, 200, 224, 254, 266 Schneider, Carl 300

Schneider, Frank 22 Scholz, Willibald 235, 237 Schorr, Reimer 305 Schreiber, Jürgen 15 – 16 Schröder, Folkert 283 Schulte, Walter 51 Schuster, Werner 93 – 96, 98, 100 Schwabe, Gisela 104 Schwarz, Hanns 293 – 294, 315 Schweier, Paul 180 Schweitzer, Albert 153 – 154, 169, 199, 326 Seeliger, Hans 261 Seidel, Ralf 218 Seidelman, William 265, 267 Seidler, Eduard 37, 163, 168, 172, 174 – 181, 183 – 190, 197 – 199 Seidlitz, Günter 303 Seitelberger, Franz 267 Sewering, Hans-Joachim 22 Shakespeare, William 165 Simon, Eva-Corinna 38 – 40, 326 Singer, Peter 227 Singer, Wolf 234 – 235 Smitt, Willem Gerrit Silleves 249 Sonnemann, Helene 104 Sörensen, Jan 90 Sorgo, Wolfram 248 Späte, Helmut F. 285 – 286, 290, 299, 307, 311, 313, 315 – 316 Spatz, Hugo 35 – 36, 235 – 239, 242, 248 – 250, 252 – 255, 258 – 262, 269 – 270 Spielberg, Steven 43 Staab, Heinz A. 264 – 265, 267, 270 Steglich, Wulf 88, 91 Steinbauer, Gustav 247 – 248 Stöffler, Friedrich 87 Stoll, Peter 169 – 170, 200 Stolterfoht, Barbara 94 – 95 Studzinski, Hr. (Berlin) 289 – 290, 292 Stutte, Hermann 148 Süssmuth, Rita 224, 227, 229 Telschow, Ernst 261 – 262, 270 Tenbruck, Friedrich 45 Thom, Achim 38, 287, 298, 306 – 312 Thomas, Manfred 80

370 Tischer, Wolfram 302 Toellner, Richard 94, 95 Tönnis, Wilhelm 247 – 248 Trautsch, Hr. (Unterleutnant MfS) 278 Trenckmann, Ulrich 298, 307 Treyne, Franz Andre 282 Tümmers, Henning 206, 210 – 211, 216 – 217, 225, 230, 319 Tutzke, Dietrich 306 Uflacker, Hanna(h) 102 – 103, 139, 147 – 148, 151, 159 – 160 Uhle, Matthias 309 Ullmann, Dr. G. (Berlin-Ost) 297 van Bogaert, Ludo Baron 249 – 250, 252 Verbiest, Henk 249 Viehweg, Willy 257 Villinger, Werner 148, 167, 211, 255 – 256 Vogel, Hans-Jochen 229 Vogt, Oskar 35, 239 Volhard, Franz 101, 103 von Baeyer, Walter 51 – 52 von Bormann, Felix 108 – 114, 117, 139, 141 – 143, 192 von Ditfurth, Hoimar 128 von Hegener, Richard 32 von Lamenzan, Ortrud 104 von Schlabrendorff, Fabian 103, 120, 127 – 130, 140, 144, 147, 152, 156 – 158 von Stockert, Franz Günther 103 von Verschuer, Ottmar 105 – 106, 134, 246, 257 – 258, 260 – 261, 263 von Weizsäcker, Richard 41, 43 – 44, 225 von Weizsäcker, Viktor 110, 166 – 167 Vorberg, Reinhold 289 Wagenseil, Ferdinand 258 – 259

Personenregister

Warburg, Aby 61, 69 Wartenberg, Robert 250 – 251 Weber, Gerhard (München) 132 – 133, 146, 150 – 152, 155, 162, 192, 195 Weber, Gerhard (Gießen) 204 Wedler, Marianne 80 Weigelt, Günter 283 Weindling, Paul 267, 321 Weingärtner, Lothar 103, 141, 276 Weinke, Annette 273, 296 Weisbrod, Bernd 47 Weise, Klaus 38, 298 – 299, 307 – 309, 315 – 316 Weitbrecht, Hans-Jörg 51 Welte, Eduard 242 Welzer, Harald 64 Wentzler, Ernst 32 – 33, 104, 107, 151, 159 – 161, 179 – 180 Westermann, Stefanie 205 – 209, 212 Wetzel, Ingeborg 104 Wieacker, Franz 121 – 123 Wiedemann, Hans-Rudolf 134, 161, 178 Winau, Rolf 180 Windorfer, Adolf 162 Winter, Irena 305 Wippermann, Wolfgang 305 Wiskott, Alfred 105 – 106, 110, 162 Wolff, Joachim 110, 113, 116, 139 – 142, 144, 147 – 148, 150, 152 – 155, 157, 162 Wulff, Erich 52, 308 Wunder, Michael 38, 223 Zaunick, Rudolph 278 Zepp, Fred 190 Zerres, Gustaf 128 Zeuch, Christian 88 – 90 Zimmermann, Susanne 307 Zola, Êmile 232