Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlaßbände. Band 4 Korrelationen: Die Antworten der Religion auf Fragen der Zeit [Reprint 2020 ed.] 9783112357026, 9783112357019

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German Pages 157 [160] Year 1975

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Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlaßbände. Band 4 Korrelationen: Die Antworten der Religion auf Fragen der Zeit [Reprint 2020 ed.]
 9783112357026, 9783112357019

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PAUL T I L L I C H KORRELATIONEN Die Antworten der Religion auf Fragen der Zeit

E R G Ä N Z U N G S - U N D NACHLASSBÄNDE ZU DEN GESAMMELTEN WERKEN VON PAUL T I L L I C H BAND I V

PAUL T I L L I C H

KORRELATIONEN DIE ANTWORTEN DER RELIGION AUF F R A G E N D E R Z E I T

Herausgegeben und übersetzt von Ingeborg C. Henel

EVANGELISCHES VERLAGSWERK

STUTTGART

ISBN 3 7715 0168 7 Erschienen 1975 im Evangelischen Verlagswerk Stuttgart © Alle Redite vorbehalten Druck: J . F. Steinkopf K G , Stuttgart Bindearbeiten: Großbudibinderei Ernst Riethmiiller & Co., Stuttgart

INHALT

Vorwort des Herausgebers

7

I. Das Problem der theologischen Methode (1946) . . . .

19

Methode und Wirklichkeit Theologie und Religionsphilosophie Das positive Element in der theologischen Methode . . . Die theologische Methode in der Behandlung von Bibel und Tradition Das Element der Unmittelbarkeit in der theologischen Methode Das rationale Element in der theologischen Methode . . Die Methode der Korrelation II. Absolute und relative Faktoren in der Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit (1965) Absolute und relative Elemente in der Erkenntnis

24 27 30 32 36

. . .

36

Subjekt und Objekt Die Absolutheit der Essenzen Das Absolute der Seinsstrukturen Die Absolutheit des Seins-Selbst

37 40 43 45

Absolute und relative Elemente in der moralischen Entscheidung Der absolute Charakter des moralischen Imperativs . Die Relativität der moralisdien Inhalte Prinzipien der moralischen Entscheidung

47 .

Das Heilige: Das Absolute und das Relative in der Religion Die Begegnung des Mensdien mit dem Heiligen . . . Die beiden Begriffe der Religion Die Dämonisierung der Religion Die Quasi-Religionen Kann eine besondere Religion universalen Anspruch auf Absolutheit erheben? Die Suche des Mensdien nach dem Grund des Seins . . 5

19 21 23

48 50 55 59 61 63 64 65 67 70

III. Die Relevanz des Pfarramts für die heutige Zeit und seine theologische Grundlage (1960)

. . . .

IV. Zur gegenwärtigen theologischen Lage (1949).

.

71 85

V. und Das prophetische in der (1961) christlichen Botschaft das Problem Element der Autorität

97

VI. Die Funktion der Religion in den beiden Gesellschaftssystemen von Rußland und Amerika (1952)

109

Zwei Begriffe der Religion . . . Kirche und Staat in Rußland und A m e r i k a . . . . . 1 Marxismus, Religion und die östliche Gesellschaft . . . Marxismus, Religion und die westliche Gesellschaft. . .

109 1 1 114 117

VII. Wert und Grenzen der Fortsdirittsidee (1964).

119

VIII. H a t die Eroberung des Weltraums die Würde des Menschen erhöht oder vermindert? (1963).

132

Die Die Die Die

Vorgeschichte unseres Problems gefühlsmäßige Reaktion auf die Raumforschung. geistigen Folgen der Raumforschung . . . . soziologischen Folgen der Raumforschung.

IX. Die Bedeutung der Religionsgeschichte für den systematischen Theologen (1965) . Bibliographische Anmerkungen

.

132 135 138 141 144 157

(Die Jahreszahlen beziehen sich, wenn es sich um Vorträge handelt, nicht auf das Jahr der Veröffentlichung, sondern auf das Jahr, in dem der Vortrag gehalten wurde und wahrscheinlich auch entstanden ist.) 6

VORWORT DES HERAUSGEBERS

Bereits im Jahre 1923 spradi Tillidi davon, daß er „einen ganz engen Zusammenhang" zwischen seiner philosophisdi-theologischen Arbeit und „unserer gegenwärtigen Zeit und Geisteslage sehe". Diesen Zusammenhang hielt er für nötig, da er glaubte, daß „jede Zeit die Aufgabe habe, den ewigen Sinn aller Zeit aus ihrem Leben und in ihren Worten neu zu schöpfen" (Gesammelte Werke [GW] VII, 240). Das aber ist eine Aufgabe, die nur erfüllen kann, wer das Leben und die Geisteslage der eigenen Zeit versteht. Tillidi hat das getan: Er hat auf die Fragen der Zeit gehört und sie in ihrem tieferen Sinn als existentielle Fragen aufgefaßt, die, wenn auch Fragen der Zeit, doch Antworten verlangen, die „dem ewigen Sinn aller Zeit" entsprechen. Obwohl diese Antworten die „ewigen" Antworten der Religion sind, hat Tillich es verstanden, sie in die Worte der Zeit zu kleiden. Aus diesem „inneren" Beruf, die Fragen der Zeit in Beziehung zu den Symbolen und Ideen der Religion zu setzen, hat er allmählich seine theologische Methode entwickelt, die „Methode der Korrelation", wie er sie nannte. In seiner „Systematischen Theologie" hat er sie angewandt, und in dem „Problem der theologischen Methode" hat er sie beschrieben. Der Titel, unter dem in diesem Band Aufsätze und Vorträge von Tillidi zusammengestellt sind, bezeichnet also sowohl eines der wichtigsten Themen in Tillichs Werk wie eine besondere Methode seiner Theologie. Die Anordnung der Arbeiten zu diesem Thema ergab sich aus ihrer jeweiligen besonderen Fragestellung. Der grundlegende Aufsatz über die theologische Methode, in dem Tillidi seinen Begriff der „Korrelation" definiert, dient gewissermaßen als Einleitung. Ihm sdiließen sidi zunächst Abhandlungen über allgemeinere Fragen an, philosophische wie theologische, denen dann soldie über spezifische Fragen folgen. Am Schluß steht noch einmal ein theologisches Thema, das Tillidi sein ganzes Leben beschäftigt hat und von grundlegender Bedeutung für seine theologische Arbeit war, von seinen frühen Werken bis zu diesem letzten, zehn Tage vor seinem Tode (22.10.1965) gehaltenen Vortrag. Um dem Leser Gelegenheit zu geben, die Entwicklung bestimmter Ge-

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danken Tillidis zu verfolgen, wird in dem Vorwort auf Arbeiten mit gleichen oder verwandten Themen hingewiesen und kurz über die Unterschiede zwischen frühen und späten Behandlungen desselben Themas berichtet. „Das Problem der theologischen Methode" entstand als Beitrag zu einem im Jahre 1946 gehaltenen Symposium und wurde 1947 in dem „Journal of Religion" (Bd. 27, Nr. 1) gedruckt, geht also dem Erscheinen des ersten Bandes der „Systematischen Theologie" um fünf Jahre voraus und ist eine frühe Formulierung der Gedanken, die in der Einleitung zu diesem Hauptwerk dargestellt sind. Die Vortragsserie „Absolute und relative Faktoren in der Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit" greift ein wichtiges Zeitproblem auf, nämlich das Überhandnehmen des Relativismus in der Erkenntnislehre, der Ethik und der Religion; und sie bietet eine Lösung an, indem sie auf die absoluten, also letzten Endes religiösen Faktoren in allen drei Gebieten hinweist, auf deren Grundlage schließlich auch noch das relativistische Denken beruht. Die Vorträge sind in Amerika unter dem Titel „My Search for Absolutes" in der Reihe „Credo Perspectives", New York 1967, erschienen. Der Titel wurde von der Herausgeberin gewählt; durch die Einführung des Possessiv-Pronomens hat sie den Vorträgen den Anschein persönlicher Bekenntnisse geben wollen, der ihre Aufnahme in die „ Credo"Serie rechtfertigen sollte. Audi in den Text hat sie gelegentlich eingegriffen, um den Eindruck zu erwecken, daß Tillich selbst die Vorträge als Beitrag zur „Credo"-Serie geplant habe. Die erste deutsche Ausgabe, im Peter Hammer Verlag, Wuppertal, 1969 erschienen, hat den amerikanischen Titel beibehalten. Hier ist dagegen der Titel wieder aufgenommen, den Tillich selbst der Vortragsreihe gegeben hat; im übrigen ist der Text der ersten deutschen Ausgabe mit geringen Verbesserungen übernommen worden. Für die Erlaubnis zum Nachdruck sind wir dem Hammer Verlag dankbar. Tillich hielt die Vorträge im Frühjahr 1965 in Chicago und wollte sie im folgenden Winter in Harvard wiederholen. Zu diesem Zweck wollte er sie jedoch überarbeiten. Aber nur das Tonbandtranskript des zweiten Vortrags weist vom Autor selbst angebrachte zahlreiche Korrekturen auf. Nach Tillichs Tod wurden die Vorträge von Frau Joan Brewster überarbeitet. Die Obersetzung hat jedoch auf das Tonband, das Transkript des Tonbands und vor allem auf das ziemlich genau ausgeführte handschriftliche Manuskript zurückgegriffen. 8

Tillich hat sich niemals mit Erkenntnistheorie im engeren Sinn des Wortes befaßt. Er hat sie als eine der Substanz entbehrende Methodenlehre, die sich auf die bloße Form des Erkennens richtet, als „die technische Seite der Philosophie", wie er sagte, betrachtet und ihr in den zwanziger Jahren eine dynamische „Metaphysik der Erkenntnis" entgegengestellt (in „Kairos und Logos", Darmstadt 1926, GW IV, 43 bis 76), in der er das Erkennen nicht nur als Funktion des logos, sondern auch als „geschichtliche Tat", als aus dem Schicksal, dem kairos, geboren verstand. Diese Art existentieller Erkenntnis sollte die „protestantische Auffassung des Erkennens" zum Ausdruck bringen. Einen absoluten Faktor oder einen „absoluten Standpunkt", wie Tillich in diesem Zusammenhang sagt, gibt es in dieser Art Erkenntnis nur als „Wächterstandpunkt", d. h. als negativen Standpunkt, der verhindert, „daß irgendeine Erkenntnis den Anspruch auf Unbedingtheit erhebt" (GW IV, 74), denn alle Erkenntnis ist der „Zweideutigkeit des konkreten Schicksals", in dem sie steht, unterworfen. Es ist verständlich, daß Tillidi diese Metaphysik der Erkenntnis aufgegeben hat, denn der negative absolute Standpunkt liefert keine Kriterien für die Gültigkeit einer Erkenntnis. Im Jahre 1955 hat Tillich noch einmal, aber auf andere Art, versucht, den Erkenntnisakt zu beschreiben, und zwar wieder in einer Ontologie des Erkennens: „Trennung und Einigung im Erkenntnisakt", (GW IV, 107—117). Diesmal versucht er das Problem des Erkennens mit Hilfe der „ontologisdien Prinzipien" von Partizipation und Trennung, Einigung mit dem Objekt der Erkenntnis und Distanzierung von ihm, zu lösen. Jede Erkenntnis vereinigt beide Prinzipien in sich, aber das eine oder andere Prinzip kann überwiegen und bestimmt dann die besondere Art der Erkenntnis. Tillich selbst betont die Partizipation und erweist sich damit nadi seinem eigenen Schema als Vertreter der metaphysischen oder, wie er sagt, der existentiellen im Gegensatz zur wissenschaftlichen Erkenntnis. Im Vergleich mit den beiden älteren Versuchen, eine Philosophie des Erkennens zu entwickeln, steht der letzte Versuch aus dem Jahr 1965 einer Erkenntnistheorie am nächsten. Zwar bleibt audi er der Ontologie verpflichtet, aber er hat das existentielle Element abgestreift und kann eben deshalb auf absolute Faktoren in der Erkenntnis wie Universalien, Wesenheiten, Kategorien (die hier im Gegensatz zu Kant als Seinsstrukturen verstanden werden) und Transzendentalia hinweisen, durch die sich nicht nur formale, sondern auch materiale Wahrheit enthüllt. Aber absolute Erkenntnis als solche wird nadi wie vor geleugnet. 9

Ebensowenig wie eine systematische Erkenntnistheorie hat Tillich eine systematische Ethik entwickelt. Seine erste Arbeit auf diesem Gebiet fällt in das Jahr 1941; sie enthält, wie der Chicagoer Vortrag, einen Versuch, in einer Zeit des moralischen Relativismus absolute moralische Kriterien zu finden. Ihm folgten 1945 und 1963 weitere Vorträge (alle in GW III unter dem Titel „Das religiöse Fundament des moralischen Handelns" zusammengefaßt), in denen sich zeigt, daß die gesuchten Kriterien nicht innerhalb des ethischen Bereiches gefunden werden können, sondern ihn transzendieren, d. h. daß sie transmoralischer oder religiöser Art sind. Die Überführung moralischer Probleme ins Religiöse enthält jedoch eine Gefahr: das Element der Freiheit, das Voraussetzung alles moralischen Handelns ist, tritt in den Hintergrund. In der Chicagoer Rede räumt Tillich ihm wieder eine gewisse Funktion ein, wenn er den Mut zu moralischer Entscheidung betont, der in einer Zeit ohne eindeutige Richtlinien besonders nötig ist. Vorarbeiten oder Parallelstellen zu dem Thema des letzten Chicagoer Vortrags anzuführen, ist unmöglich, denn das Thema der Religion, ihres Doppelbegriffs, ihrer Gefahren und ihrer Kriterien zieht sich durch das gesamte Werk Paul Tillichs. Deshalb soll hier nur darauf hingewiesen werden, daß er schon sehr früh, nämlich im Jahr 1922, die Notwendigkeit erkannt hat, über die Religion im engeren Sinn des Begriffs hinauszugehen (GW I, 367—388) zu dem Begriff einer Religion, die, wie er später sagte, das „Ergriffensein von einem letzten, unbedingten Anliegen" ist. Auf keinem Gebiet hat Tillich seine Grundgedanken so früh gefaßt und so entschieden festgehalten wie in der Religionsphilosophie und der Theologie. Sein erster Entwurf eines theologischen Systems, der seiner endgültigen Ausführung erstaunlich nahe steht, stammt schon aus seiner Marburger Zeit, also aus den Jahren 1924-1925. „Die Relevanz des Pfarramts für die heutige Zeit und seine theologische Grundlage" ist eine Übersetzung von „The Relevartce of the Ministry in our Time and its Theological Foundation" aus „Making tbe Ministry Relevant" (hrsg. von Hans Hofmann, New York, Scribner 1960). Dieser Artikel zeigt, wie der heutige Pfarrer die „Methode der Korrelation" in Predigt und Seelsorge anwenden kann und muß. Darin überschneidet er sich zum Teil mit einer älteren Arbeit, der „Verkündigung des Evangeliums", aus dem Jahre 1952 (GW VIII, 265—275), geht im übrigen aber über diese hinaus. Er weist nicht nur auf die existentiellen Fragen hin, die der Pfarrer aufdecken muß, um die diristlidie Botschaft für den heutigen Menschen sinnvoll zu machen, 10

sondern er beschreibt auch die Schwierigkeiten, denen der Pfarrer bei seiner Arbeit begegnet und die auf dem allgemeinen Säkularismus unserer Zeit beruhen. Aber noch schwerwiegender fast als dieser Widerstand von außen ist das Hindernis, das der Pfarrer sich selbst dadurch in den Weg legt, daß er seiner Aufgabe, die christliche Botschaft zu überbringen, in die eine oder andere Art von Pseudo-Relevanz ausweicht. Die Gefahr für den Protestantismus, die hierin liegt, ist, zumindest in Amerika, noch größer als die einer Rückkehr zur Orthodoxie, von der Tillich in dem Bericht über „Die gegenwärtige theologische Lage" spricht. Der volle Titel des englischen Originals ist „The Present Theological Situation in the Light of the Continental European Development", 1949 in „Theology Today" (Bd. VI, Nr. 3) erschienen. Dieser Artikel wurde seiner Aktualität wegen sofort mehrere Male ins Deutsche übersetzt: mit Kürzungen erschien er in der „Schweizerischen Theologischen Rundschau" (Nr. 1/2, 20. Jg. 1950) und in „Universitas" (5. Jg. 1950) und ungekürzt in „Zeichen der Zeit" (Jg. 5, 1951). Im vorliegenden Buch ist er neu übersetzt. Vor dem Krieg hatten sich Tillich und Barth trotz der theologischen Gegensätze zunächst im Religiösen Sozialismus, dann in dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus gefunden. Nach dem Krieg hat Tillich zugegeben, daß Barths Verkündung der „Diastase", d. h. der absoluten Trennung von Gott und Welt, die einzig wirkungsvolle Antwort der protestantischen Kirche auf das neue Heidentum und die Vergötterung von Volk und Rasse war, und er räumte, ganz konsequent, der Barthschen Theologie und ihrer Beherrschung der deutschen Kirchen nach dem Kriege nicht nur das Recht des Siegers ein, sondern auch ihre Rechtfertigung durch die Geschichte. Aber es war Tillich wie vielen anderen nicht wohl angesichts dieser Lage; er kehrte folglich zu der Position zurück, die er bereits im Jahre 1923 in einer Kontroverse mit Barth und Gogarten eingenommen hatte (vgl. GW VII, 216—262). Der Bericht von 1949 schließt sich an einen anderen Bericht über die religiöse Lage in Deutschland aus dem Jahre 1936 an (GW XIII, 227 bis 238). In diesem trat die Kontroverse mit Barth in den Hintergrund; Tillichs Sorge richtete sich damals ganz auf das neue Heidentum und den Säkularismus, der dadurch, daß er der Welt und dem Menschen jeden sie transzendierenden Sinn genommen hatte, eine geistige Leere geschaffen hatte, in die das Heidentum mit seinen quasi-religiösen Ansprüchen eindringen konnte. 1936 nahm Tillich — zurecht — an, daß das Heidentum besiegt würde, aber er bezweifelte — ebenfalls zu11

recht —, daß mit ihm auch der Säkularismus untergehen würde, den er für das tiefste Problem der modernen Kirchengeschichte hielt. „Das prophetische Element in der christlichen Botschaft und das Problem der Autorität" ist die Übersetzung eines 1962 gehaltenen Vortrags „The Prophetic Element in the Christian Message and the Authoritarian Personality", in „McCormick Quaterly", Bd. 17, Nr. 1, 1963, erschienen. Der Ausdrude „authoritarian personality" bringt eine Schwierigkeit mit sich. Tillich gebraucht ihn sowohl für die gebieterische oder autoritäre wie für die unterwürfige oder autoritätsgläubige Persönlichkeit. Er folgt hierin Adorno und anderen, die annehmen, daß Unterwürfigkeit unter fremde Autorität nur die andere Seite des gebieterischen oder autoritären Charakters ist und folglich immer zusammen mit diesem in der sogenannten „autoritären Persönlichkeit" auftritt. Die Übersetzung hat jedoch, dem allgemeinen Sprachgebrauch folgend, je nachdem „autoritär" oder „autoritätsgläubig" für das Wort „authoritarian" eingesetzt. In einem Vortrag über „Autorität und Offenbarung" aus dem Jahr 1951 (GW VIII, 59-69) weist Tillich auf die Wurzeln der unterschiedlichen Haltung zur Autorität hin: Insofern der Mensch seinem essentiellen Sein entfremdet ist, bedarf er der Autorität, die ihm seine Verirrungen zeigt und Gebote für ihn aufstellt; insofern er von seiner Vernunft geleitet wird, ist er autonom, er folgt dem Gesetz seiner eigenen Natur und bedarf keiner von außen kommenden Autorität. Wie man sich zu dem Problem der Autorität stellt, hängt also davon ab, ob man den Menschen in erster Linie in seiner existentiellen Verzerrung oder in seiner essentiellen Vollkommenheit sieht. Dies ist eine Alternative, aber keine Lösung des Problems der Autorität. Im Jahr 1955 wurde Tillich aufgefordert, sich über das Thema zu äußern: „Wie ist das Dilemma unserer Zeit zu überwinden?" (GW X I I I , 345—351). Gemeint war das Dilemma zwischen Autonomie und Heteronomie oder Autorität, auf das Tillich im Grunde keine andere Antwort gab, als sich offen zu halten für eine „Neue Wirklichkeit" und sich ihr nicht zu verschließen, indem man vorläufige Lösungen als endgültige annimmt. In der nachstehenden Rede von 1963 hat Tillich eine positivere Antwort gefunden. In dem prophetischen Element der christlichen Botschaft ist die Alternative von Autorität und Autonomie überwunden, denn in ihm ist der göttliche Geist gegenwärtig, der dem Propheten zugleich die persönliche Autorität und die innere Freiheit gibt, die etablierte Autorität von innen und nicht von außen wie die autonome Vernunft zu kritisieren. Dadurch vermeidet er die Gefahr 12

der Autonomie, die durch ihre rationale Kritik die innere Substanz der Tradition untergraben kann. Das Problem der Autorität ist deshalb so wichtig, weil sich heute nadi zwei Jahrhunderten der Autonomie ein starkes Verlangen nadi Autorität bemerkbar macht. Die politischen Implikationen dieser Tendenz erörtert Tillich in der Rede über „Die Funktion der Religion in den beiden Gesellschaftssystemen von Rußland und Amerika". Diese ist Tillichs Beitrag zu einem im Frühjahr 1952 am Metropolitan Museum of Art gehaltenen Symposium über „The Contemporary Scene". In etwas gekürzter Form wurde sie unter dem Titel „Religion in Two Societies: America and Russia" in dem von Robert Kimball herausgegebenen Band von Aufsätzen Tillichs „Theology of Culture" (New York 1959) gedruckt. Für den vorliegenden Band ist die ungekürzte Rede übersetzt worden. Seit 1952 hat sich die Lage zwar geändert: Rußland ist stärker und selbstsicherer geworden, Amerika hat an Macht und Selbstsicherheit verloren. Trotzdem scheint sich Tillichs Annahme zu bewahrheiten, daß die Gefahr für Amerika der Verfall seiner inneren Substanz ist und nicht der Kommunismus. Sie beruht auf der Beobachtung, daß die sozialen Reformen in den demokratischen Ländern dem Kommunismus den Boden entzogen haben, was heute durch die Tatsache bestätigt wird, daß den stärksten Widerstand gegen den Kommunismus in Amerika die Gewerksdiaften und eben nicht irgendwelche Rechtsparteien leisten. Den Vortrag über „Wert und Grenzen der Fortschrittsidee" hat Tillid» im Jahr 1964 in Ohio gehalten. Professor Jerald C. Brauer hat ihn in einem von ihm herausgegebenen Gedenkbuch für Tillich, „The Future of Religions" (New York 1966), unter dem Titel „The Decline and the Validity of the Idea of Progress" nach dem Tonband abgedruckt. Anschließend hat ihn auch „The Ohio University Review" (Athens, Ohio 1966) ebenfalls nach dem Tonband veröffentlidit. Es bestehen keine wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Druckfassungen und dem Tonband. Der Fortschrittsglaube war eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens und der Geschichte gewesen. Nach seinem allgemeinen Zusammenbruch versuchte Tillich, dem Begriff des Fortschritts in begrenzter Form neue Geltung zu verschaffen, indem er ihn auf den Reifeprozeß, im Menschen wie in einer Kultur, anwandte. Noch durch eine andere Idee versuchte er, den alten Fortschrittsglauben zu ersetzen, die Idee der großen Augenblicke in der Geschichte, der kairoi, in denen die 13

Zeit sich fragmentarisdi erfüllt. Wie es keinen Fortschritt von einem Höhepunkt der Reife zum nächsten gibt, so gibt es auch keinen Fortschritt von kairos zu kairos. Der Sinn der Geschichte liegt weder in einem stetigen Fortschritt, noch in einer zukünftigen Vollkommenheit und auch nicht am Ende der Geschichte, sondern verwirklicht sich in jedem Augenblick, hier und jetzt, in dem sich das Zeitliche zum Ewigen erhebt (vgl. Systematische Theologie III, 474). Alle wichtigen Gedanken Tillichs haben einen Platz in der „Systematischen Theologie" gefunden oder richtiger, sind aus der Arbeit an diesem Hauptwerk hervorgegangen. Den Fortschrittsgedanken erörtert Tillich im Zusammenhang mit einer Entwicklung seiner Geschichtsphilosophie im 3. Band der „Systematischen Theologie" (380—387). Da eine Form des Fortschrittsglaubens der Utopismus ist, den Tillich in der Rede nur kurz berührt, soll auch auf die größere Arbeit über „Die politische Bedeutung der Utopie im Leben der Völker" hingewiesen werden. Sie ist nach stenographischen Aufzeichnungen in GW VI, 157 bis 210 abgedruckt. Die Rede über die „Eroberung des Weltraums" hat Tillidi 1963 in einem Symposium gehalten, das der Frage galt: „Has Man's Conquest of Space Irtcreased or Diminished bis Staturef Unter den Teilnehmern waren Hannah Arendt und Aldous Huxley. Alle Vorträge wurden in „The Great Ideas Today" (hrsg. von Robert M. Hutchins, Chicago, Encyclopaedia Britannica 1963), gedruckt. Der Herausgeber hat an Tillichs Vortrag, den er nach dem Tonband abdruckte, nur geringe stilistische Glättungen vorgenommen. Im Jahre 1966 hat Professor Jerald Brauer die Rede in „The Future of Religions" nochmals abgedruckt, ohne jedoch von der früheren Veröffentlichung zu wissen. Er hat sich enger als sein Vorgänger an das Tonband gehalten und gelegentlich syntaktisch unklare Wendungen stehen lassen und einen Fehler übersehen (scepticism statt mysticism, S. 46). Der Titel „The Effects of Space Exploration ort Man's Condition and Stature" stammt von ihm; die hilfreichen Kapitelüberschriften, die die Übersetzung übernommen hat, kann er Tillichs Notizen entnommen haben. Im Jahre 1961 hat Tillich anläßlich des hundertjährigen Bestehens des Massachusetts Institute of Technology über das Thema gesprochen: „Wie hat die Wissenschaft im letzten Jahrhundert das Selbstverständnis des Menschen gewandelt?" (GW III, 209-217). In dieser Rede hat er die Wirkung der Evolutionstheorie, der Psychoanalyse und der Verhaltensforschung auf den Menschen behandelt, nicht die Wirkung von Naturwissenschaft und Technik wie in dem Vortrag von 1963. In der 14

Analyse der philosophischen und historischen Voraussetzungen jedoch überschneiden sich beide Reden zum Teil. Außerdem hat sich Tillich in drei weiteren Symposien kurz zu den Problemen von „Atombombe", „Eroberung des Mondes" und „Atomkrieg" geäußert (GW XIII, 454 bis 457) — alles Themen, die mit dem Thema der „Eroberung des Weltraums" verwandt sind. In beiden Reden über den Einfluß der Wissensdiaft auf den Mensdien lehnt Tillich jede Beschränkung oder gar Einstellung der Forsdiung wegen ihrer impliziten Gefahren ab. Die Freiheit der Forschung, die er mit der Suche nach Wahrheit identifiziert, ist für ihn ein unantastbares Prinzip. Das ist um so bemerkenswerter, als er sich nicht nur der mit den neuesten Entdeckungen verbundenen Gefahren bewußt war, sondern auch die ausschließliche Hingabe des Menschen an die Technik, an das reine Vorwärtsstreben, das, was er die „horizontale" Bewegung nannte, ablehnte. Aber er konnte eben noch hoffen, daß durch eine erneute Hinwendung des Menschen zu überzeitlichen Werten und Kriterien, d. h. durch eine Ausrichtung auf die „Vertikale", die Gefahren abgewehrt werden könnten, die mit den neuesten Entdeckungen verbunden waren, denn er sah diese Gefahren nur in der Ausnützung wissenschaftlicher Ergebnisse für Kriegszwecke. Heute, zwölf Jahre später, wissen wir jedoch, daß der Schaden nidit von dem Nutzen unserer Entdeckungen zu trennen ist, und deshalb müssen wir uns fragen, ob die Kriterien, denen nach Tillich Wissenschaft und Technik unterworfen werden sollen, nicht doch den Einhalt gewisser Forschungen gebieten. Weder der Vortrag über die Eroberung des Weltraums noch die amerikanischen Drudefassungen stehen unter einem Motto; trotzdem ist der Übersetzung die Stelle aus Psalm 8 vorangestellt, da Tillich sich auf sie bezieht, ohne sie zu zitieren, und da sie gewissermaßen den Hintergrund bildet, vor dem er sein Thema entfaltet. Obwohl die Ansprache über die „Bedeutung der Religionsgeschidite für den systematischen Theologen" nicht zum unmittelbaren Themenkreis dieses Bandes gehört, ist sie gleichwohl hier aufgenommen, weil sie Tillichs letzte, kurz vor seinem Tode gehaltene Rede ist und die Ausgabe der nachgelassenen Schriften ohne sie kaum als vollständig betrachtet werden könnte. Implizit geht es aber auch in dieser Arbeit um eine Frage der Zeit, wenn auch keine existentielle, nämlich um die Frage nach der Zukunft der Theologie, die seit dem Aufkommen der „Theologie ohne Gott" besonders dringlich geworden ist. Tillichs Antwort auf diese Frage ist die Aufforderung an den Theologen, die Er15

kenntnisse der Religionsgeschidite in seine Arbeit aufzunehmen. Diese Antwort ist sinnvoll, weil die Religionsgeschidite zeigt, wo in der Geschichte der Menschheit, nicht nur innerhalb der christlichen Welt, die religiösen oder existentiellen Fragen entstehen, welche Antworten auf sie (in Form von Symbolen, Riten, Ideen) im Laufe der Geschichte gefunden worden sind und auf welchem soziologischen Boden Fragen und Antworten gewachsen sind. Diese Erkenntnisse helfen dem Theologen, Fragen der eigenen Zeit zu verstehen und seine Antworten so zu formulieren, daß sie im Boden der heutigen Gesellschaft Wurzel fassen können. Die Bedeutung der Religionsgeschidite hatte Tillich schon in seiner Studienzeit erkannt, und ihre Erkenntnisse hatte er auf die Art, die er in seiner Rede als „Theologie der Religionsgeschidite" besdireibt, bereits in seiner „Systematischen Theologie" angewandt. Die Rede zeigt also keine neuen Wege der Theologie. Audi der Versuch, die Religionsgeschidite mittels einer Typenlehre in ein System zu bringen, ist nicht neu. Schon in seiner „Religionsphilosophie" aus dem Jahr 1925 (GW I, 295—364) hatte er eine solche Typenlehre entwickelt, und im Laufe der Jahre hat er sie, meist im Zusammenhang mit dem Versudi, eine Typologie künstlerischer Stile aus ihr abzuleiten, mit geringen Variationen wiederholt. Ursprünglich war er von der polaren Spannung zwisdien „zwei Grundrichtungen", wie er damals sagte, ausgegangen, der sakramentalen und der theokratisdien, die dem entspricht, was er später die prophetisch-kritische genannt hat (GW I, 340 ff.). Diese ursprüngliche Polarität bricht in der letzten Rede in dem Oxymoron vom „konkreten Geist" wieder durch und erweist sich den Drei- (oder gar Fünf-) Typen-Konstruktionen gegenüber als das nützlichere Arbeitsprinzip, zumal der dritte Typ, die Mystik, in dem typologischen Schema eine schwankende Stellung eingenommen hatte: sie war entweder, wie in der Schrift von 1925, dem sakramentalen Typ oder, wie in der letzten Rede, dem prophetisch-kritischen Typ zugeordnet worden. In seiner frühen Schrift bezeichnet Tillich die Synthese der verschiedenen Richtungen als „religiösen Normbegriff", in seiner letzten Rede nennt er sie „Religion des konkreten Geistes" und betrachtet sie als das telos aller Religion, aber nicht als ein zeitliches Ziel. Das geht sdion daraus hervor, daß er ihre höchste Verkörperung in der paulinischen Lehre vom Geist sieht. Das Neue an Tillichs letzter Rede ist also nicht, daß er eine neue Theologie der Zukunft entworfen hätte, wie Mircea Eliade in seinem Beitrag zu „The Future of Religions" meint, sondern daß er einen neuen Begriff für die Synthese der religiösen Typen findet, in dem sein pola16

res Denken zum Ausdruck kommt, und daß er diese Synthese mit der paulinischen Geistlehre identifiziert. Als Antwort auf eine Frage von Harvarder Studenten nach den biblischen Quellen seiner Theologie hat Tillich eben diese Lehre genannt und das, obwohl sie nach seiner eigenen Aussage den Traditionen widerspricht, aus denen er kam, der lutherischen Lehre von der Rechtfertigung durch die Gnade im Glauben und dem Religiösen Sozialismus. Die paulinische Lehre vom Geist ist in Tillidis Theologie also sowohl Anfang wie Ende, beide nicht zeitlich verstanden. Sie ist die biblische Quelle seiner Theologie und sie ist die Norm, nach der die Religionsgeschichte beurteilt werden soll und die entscheidet, welche von ihren Erkenntnissen in die Theologie aufgenommen werden sollen. Professor Brauer hat auch Tillichs letzte Rede nach dem Tonband herausgegeben. Das war keine leichte Aufgabe, da das Englisch in dieser Rede besonders mangelhaft ist, wahrscheinlich, weil der Redner schon krank war. Trotzdem hat Brauer einen sehr guten Text hergestellt und meines Wissens nur einen Hörfehler stehen lassen („the fear of the holy" statt „the sphere of the holy"). Außer dem Tonband lagen der Übersetzerin ein ziemlich ausführliches handschriftliches Manuskript vor und eine nicht ganz zuverlässige Abschrift dieses Manuskripts. Die Bemerkungen über die biblisdien Quellen seiner Theologie entstammen einem unveröffentlichten Manuskript aus dem Harvarder TillichArchiv. Vielleicht sollte am Schluß ein Wort über den Druck von Tillichs Reden nach Tonbändern gesagt werden. Es ist zweifellos sehr viel zuverlässiger als ein Druck nach stenographischen Aufzeichnungen seiner Hörer, denn der transkribierte Text kann jeder Zeit am Original nachgeprüft werden. Eine solche Nachprüfung durch eine kompetente Kraft ist allerdings notwendig, denn Hörfehler wie a solvent word statt seif and world oder fetal statt feudal (My Search for Absolutes, 76 und 99) können und müssen vermieden werden. Die Ordnung nach Satzeinheiten, die Interpunktion und die Einteilung in Abschnitte und Kapitel bleiben in den meisten Fällen freilich dem Herausgeber überlassen. Außerdem ist in der Regel das Englisch des mündlichen Vortrags korrekturbedürftiger als das einer schriftlich unterbreiteten Arbeit. Aber schließlich sind alle englisch geschriebenen Arbeiten Tillichs von Freunden, Kollegen oder Verlagslektoren vor dem Druck korrigiert worden, und oft verlangt eine Korrektur eine Interpretation und kann zu ähnlichen Problemen führen wie eine Übersetzung. Die Veröffentlichung von Tillichs Vorträgen nach Tonbändern muß letzten Endes von der 17

Bedeutung der Vorträge abhängig gemacht werden. Zu seinen Lebzeiten sind die meisten seiner Reden im Druck erschienen, und der Text wurde je nachdem nach einem Manuskript oder einem Tonband hergestellt. Daß Tillich die vielen Texte nachgeprüft hat, selbst wenn sie ihm vor der Drucklegung unterbreitet worden sind, ist zweifelhaft. Abschließend sei Herrn Pfarrer Walter Sdimidt, dem Lektor des Evangelischen Verlagswerks, herzlich gedankt für alle Anregung, Hilfe und Kritik in bezug auf den deutschen Text. Außerdem gilt mein Dank Frau Gertraut Stöber für ihre Hinweise und Unterstützung beim Korrekturlesen. North Häven, Connecticut Sommer 1975

Ingeborg C. Henel

18

DER

DAS PROBLEM THEOLOGISCHEN METHODE

I. METHODE UND WIRKLICHKEIT Methodisch vorgehen bedeutet systematisdi vorgehen, vor allem in der Wissenschaft. Es gibt keine Methode, unabhängig von ihrer Anwendung. Methodologische Überlegungen sind immer Abstraktionen von tatsächlich angewandten Methoden: Descartes' Discours de la Methode folgte Galileis Gebrauch der Methode der mathematischen Physik, brachte diese zu allgemeinem Bewußtsein und gab ihr philosophischen Ausdruck. Schleiermadier gründete die Methode, deren er sich in der Glaubenslehre bediente, auf das neue mystisch-romantische Verständnis der Religion und entwickelte daraus eine Methodologie der „inneren Erfahrung". Meine eigenen methodologischen Bemerkungen beschreiben die Methode, die ich in meinem Versuch, eine Theologie des „Gläubigen Realismus" zu entwickeln, angewandt habe. Mit dieser Theologie sollten sowohl Supranaturaiismus wie Naturalismus überwunden werden. Es taugt nichts, wenn eine Wissenschaft eine Methode aus einem anderen Wissensgebiet übernimmt, weil sie sich auf diesem Gebiet als erfolgreich erwiesen hat. So scheint mir, daß die Betonung der sogenannten empirischen Methode in der Theologie nicht auf wirklichen Bedürfnissen der Theologie beruht, sondern der Theologie durch den Druck eines methodologischen Imperialismus aufgezwungen worden ist, den das Modell der Naturwissenschaft ausübt. Die Unterwerfung der Theologie unter ein ihr fremdes Modell hat zu einer ungebührlichen Ausweitung des Begriffs „empirisch" geführt und zu mangelnder Differenzierung zwischen den verschiedenen Bedeutungen des Begriffs der Erfahrung in der Theologie. Gewisse Theologen verstehen unter Erfahrung die allgemeine menschliche Erfahrung, aus der sie durch Schlußfolgerungen zu dem Gegenstand der Religion gelangen wollen. Für andere ist Erfahrung die religiöse Erfahrung der Menschheit, die sie durdi Einfühlung zu verstehen suchen. Zuweilen handelt es sich auch um die religiöse Erfahrung des Theologen selbst und der Gruppe, der er angehört und die ihm den Stoff f ü r eine „empirische" Theologie liefert. In anderen Fällen wird ontologische Intuition als Erfahrung bezeichnet. Es ist zwar richtig, daß jede konkrete Wirklichkeit durch viele verschiedene Methoden 19

erfaßt werden kann, je nach ihren verschiedenen Ebenen oder funktionellen Potentialitäten, und alle hier erwähnten und noch weitere Methoden können zu der Erforschung des so komplexen Phänomens der Religion beitragen. Aber weder sollte der irreführende Begriff der Erfahrung auf sie alle angewandt werden, noch sollte ein methodologisdier Monismus geduldet werden, der sowohl die Chemie wie die Religion einschließt. Jede Wirklichkeit verlangt zu ihrem Verständnis eine bestimmte Methode, und dieser sollte man folgen; die Wirklichkeit bietet sich uns auf verschiedene Weisen dar, und unser Erkenntnisvermögen sollte für diese auch verschiedene Methoden finden. Eine einzige Methode auf alles anzuwenden verschließt uns den Zugang zu vielem und begrenzt das Bild, das wir von der Wirklichkeit gewinnen. Eine Welt, die wir uns nach dem Modell der klassischen Mechanik, der Hegeischen Dialektik oder den Statistiken der Verhaltensforschung bilden, ist keine erkenntnismäßige Erfüllung der Potentialitäten der Wirklichkeit. In dieser Hinsicht ist der echte Pragmatismus, der jeden Zugang offen läßt, realistischer als der dogmatische Empirismus, mit dem er zuweilen, sogar von seinen Anhängern, verwechselt wird. Wir begegnen der Wirklichkeit — oder die Wirklichkeit drängt sich uns auf — manchmal auf komplexere Art, manchmal in bestimmten und deutlichen Elementen und Funktionen. Auf welche Art wir auch der Wirklichkeit begegnen, sie fordert immer unser Erkenntnisvermögen heraus und setzt es in Bewegung. Wie unser Erkenntnisvermögen sich betätigt, hängt von drei Faktoren ab: seiner eigenen Struktur, der Struktur der Wirklichkeit, auf die es stößt, und der Beziehung der beiden Strukturen zueinander. In einer methodischen Betrachtungsweise werden diese drei Faktoren unterschieden, analysiert und bewertet. Das Prius dieser Untersuchungen ist aber immer die Begegnung selbst, und nichts ist der Erkenntnis von größerem Nachteil als die Anwendung von Methoden, die eine wirkliche Begegnung 1 verhindern oder ihr Verständnis mit einem Vorurteil belasten. Voraussetzung der Theologie ist, daß es eine besondere Begegnung mit der Wirklichkeit — oder eine besondere Art, wie sich die Wirklichkeit uns aufdrängt — gibt, die man gewöhnlich als „religiös" bezeichnet. 1 Nach meiner Meinung ist der Begriff »Begegnung* einer vortheoretisdien Beziehung zur Wirklichkeit angemessener als der Begriff „Erfahrung", der seine spezifische Bedeutung so weit eingebüßt hat, daß er »gerettet" und das heißt, auf eine theoretisch geklärte Begegnung eingeschränkt werden muß.

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I I . THEOLOGIE UND RELIGIONSPHILOSOPHIE

Die religiöse Begegnung mit der Wirklichkeit, das letztgültige Anliegen oder das, was uns unbedingt angeht, kann von zwei Seiten betrachtet werden. Es kann als ein Ereignis neben anderen Ereignissen gesehen werden, das beobachtet und aus theoretischer Distanz beschrieben werden kann. Oder es kann als ein Ereignis verstanden werden, an dem der Betrachter existentiell teilhat. Im ersten Fall haben wir es mit dem Religionsphilosophen, im zweiten mit dem Theologen zu tun. Der Religionsphilosoph erkennt in der religiösen Begegnung etwas, das uns unbedingt angeht, er kann nicht umhin, dies als einen Zug fast aller repräsentativen religiösen Gestalten, Symbole und Bräuche in der Religionsgeschichte zu finden. Aber während er dieses Merkmal der Religion untersucht, ist er selbst nur theoretisch interessiert, nicht existentiell beteiligt. Das religiöse Anliegen ist nicht das seine, insofern er Religionsphilosoph ist. Er weist darauf hin und erklärt es, aber seine Arbeit ist kein Ausdruck seiner religiösen Begegnung mit der Wirklichkeit. Bei dem Theologen verhält es sich anders. Sein letztes Anliegen hat teil an allem, was er tut, wie es ein letztes Anliegen verlangt, selbst an seiner theoretischen Ausdeutung der religiösen Begegnung. Für den Theologen ist die Interpretation des letztgültigen Anliegens selbst ein letztgültiges Anliegen, ein religiöses Tun. Diese Unterscheidung ist jedoch fragwürdig. In jeder Philosophie — nicht nur in jedem Philosophen — gibt es ein existentielles Element, das den Charakter einer unbedingten Entscheidung über den Sinn der Wirklichkeit hat. J e weniger nur technisch und je schöpferischer eine Philosophie ist, um so mehr zeigt sich in ihr, zumindest implizit, ein letztgültiges Anliegen. Keine schöpferische Philosophie kann ihr religiöses Fundament verleugnen. Daher stammt der ungeheure Einfluß der Philosophie nicht nur auf die Theologie, sondern auch auf die Religionsgeschichte. Und wie der Philosoph nicht ohne sein theologisches Fundament bestehen kann, so kann der Theologe nicht ohne sein philosophisches Werkzeug sein. Wer dies aufzugeben sucht, betrügt sich selbst. Seine Sprache, die ihm die Philosophie zur Verfügung gestellt hat, verrät ihn; das hat sogar Barth zugegeben. T r o t z alledem ist die Unterscheidung zwischen Theologie und Religionsphilosophie richtig und kann nicht ohne Gefahr aufgegeben werden. Unglücklicherweise hat die sogenannte „kontinentale" Theologie die Funktion einer unabhängigen Religionsphilosophie in Verruf gebracht. Ebenso bedauerlich ist es, daß die amerikanische (nicht-fundamentalistische) Theologie ihrer Auflösung in allgemeine Religionsphilo21

sophie keinen Widerstand leisten konnte und so zu einem selbstzerstörerischen Relativismus beigetragen hat. Theologie ist die existentielle und zugleich methodische Deutung eines letztgültigen Anliegens. Diese Deutung ist existentiell, wenn sie im Geiste eines letztgültigen Anliegens getrieben wird, und sie ist methodisch, wenn sie das Anliegen systematisch auf das Ganze unserer Erfahrung bezieht. Die Theologie vereint semantisch und historisch diese beiden Elemente. Theologische Sätze sind folglich Sätze, die sidi mit einem Gegenstand befassen, insofern er uns unbedingt angeht. Wenn dieses Kriterium angenommen wird, braucht kein Gegenstand von der Theologie ausgeschlossen zu werden, nicht einmal ein Stein; aber kein Gegenstand ist als solcher eine Angelegenheit der Theologie, selbst Gott nidit, sofern er Gegenstand einer Schlußfolgerung ist. Das macht die Theologie einerseits absolut universal, andrerseits absolut spezifisch. Die Theologie muß sich mit allem befassen, aber nur unter dem theologischen Kriterium, dem letztgültigen Anliegen. Der Begriff „letztgültiges Anliegen" oder „das, was uns unbedingt angeht" ist selbst das Ergebnis einer theologischen Überlegung. Er bringt zwei Seiten der religiösen Erfahrung zum Ausdruck. Die eine Seite ist das absolute oder unbedingte oder letztgültige Element in der religiösen Erfahrung. Jedes religiöse Verhältnis und Symbol, jede religiöse Haltung und Handlung ist von unbedingtem Ernst, absolut entscheidend und transzendiert alles Vorläufige, Vergängliche und Bedingte. Die gesamte Religionsgeschichte ist Beweis für diese Seite der religiösen Erfahrung. Jede lebende Religion erhebt einen absoluten Anspruch; sie beansprucht das „ganze Herz"; sie duldet nichts Unbedingtes neben sich. Die andere Seite der religiösen Erfahrung ist die dynamische Gegenwart des Unbedingten, Letztgültigen als dauerndes, niemals endendes, konkretes und universales Anliegen, das immer fordert und schenkt, immer droht und verheißt. Als aktuelles Anliegen manifestiert es sich in den Gegebenheiten des Lebens, verändert jeden Bereich der Existenz und gebraucht jeden Bereich der Existenz zu seiner eigenen Manifestation in Symbolen und Handlungen; denn das religiöse oder letztgültige Anliegen weist auf den letzten Grund unseres Seins und den letzten Sinn unseres Lebens hin. Deshalb können wir das abstrakte Kriterium aller theologischen Arbeit folgendermaßen definieren: Sätze sind theologisch, die sich mit einem Gegenstand befassen, insofern er zum Grund unseres Seins gehört und insofern der Sinn unseres Lebens von ihm abhängt.

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I I I . D A S POSITIVE ELEMENT IN DER THEOLOGISCHEN M E T H O D E

Das letztgültige Anliegen ist ein konkretes Anliegen, andernfalls könnte es kein wirkliches Anliegen sein. Selbst die Mystik braucht konkrete Traditionen und Symbole, um das zum Ausdruck zu bringen, was alles Konkrete transzendiert. Deshalb muß die Theologie alles, die Symbole, Institutionen und Ideen, auslegen, in denen sich ein letztgültiges Anliegen verkörpert hat. Die Theologie ist vor allem positiv: Sie arbeitet auf der Grundlage, mit dem Inhalt und in dem Geist einer konkreten Religion. Teilhabe an einer religiösen Wirklichkeit ist Voraussetzung jeder Theologie. Man muß innerhalb einer konkreten Religion stehen, um sie existentiell verstehen zu können. Das ist der „theologische Zirkel", dem die Theologie nicht entkommen kann und soll. Es ist kein circulus vitiosus, und seine Verleugnung wäre unehrlich, denn er könnte nur im Namen eines angeblich Unbedingten verleugnet werden, was sofort den gleichen Zirkel entstehen ließe. In der Kirchengeschichte findet sich der theologische Zirkel in der Behauptung ausgedrückt, daß der Glaube Voraussetzung der Theologie sei (pistis geht der gnosis voraus, wie die Alexandriner sagten, oder credo ut intellegam, wie Anselm es, Augustin folgend, ausdrückte). Glaube bedeutet in diesem Zusammenhang überzeugte und tätige Teilnahme an dem Leben einer religiösen Gruppe, ihrer Tradition, ihren Spannungen und ihren Bräuchen, und nicht der persönliche Glaube des Theologen, wie man meinen könnte, wenn man das credo ut intellegam mißversteht. Es handelt sich um die geistige Substanz, aus der der Theologe schöpfen muß, selbst wenn er sich der Schwäche seines persönlichen Glaubens bewußt ist (und das ist jeder ehrliche Theologe). Das letztgültige Anliegen, aus dem der christliche Theologe schöpft, ist im Christentum verkörpert. Wenn ein christlidier Theologe behauptet, daß das Christentum für ihn ein Element neben anderen Elementen der Religion sei, die er interpretieren will, so kann das zweierlei bedeuten: entweder, daß er kein Theologe, sondern ein Religionsphilosoph ist oder daß er eine neue religiöse Synthese vertritt, die wie alles Konkrete zugleich inklusiv und exklusiv ist und deshalb einen theologischen Zirkel darstellt, ebenso wie das Christentum. Da eine derartige konkrete Synthese innerhalb meines eigenen theologischen Zirkels noch nicht in Erscheinung getreten ist und da ich überzeugt bin, daß das Christentum alle denkbaren Elemente religiöser Wahrheit in sich aufnehmen kann, ohne dabei seine eigene Wahrheit aufzugeben, werde ich jetzt von der christlichen Theologie sprechen als der einzigen, die ich existentiell vertreten kann. 23

Die christliche Theologie ist ein Werk der christlichen Kirche. Ihre theologische Funktion ist eine ihrer wichtigsten Funktionen, die zwar auf ein Minimum beschränkt, aber niemals aufgegeben werden kann, solange es eine Kirche gibt. Andrerseits kann christliche Theologie nur von der Kirche betrieben werden. Der positive Charakter des letztgültigen Anliegens schließt „individuelle Theologie" aus. Der individuelle Theologe kann und soll angemessene Methoden der Interpretation finden, aber er kann das nicht finden, was er interpretieren soll. Konkret gesprochen: die christliche Theologie ist die Interpretation der Botschaft, daß Jesus der Christus ist, und der Symbole und Institutionen, die auf diese Botschaft gegründet sind. Sie ist die methodische Selbstinterpretation der christlichen Kirche sowohl im Hinblick auf ihr Fundament, die neue Wirklichkeit, die sich in Jesus als dem Christus manifestiert hat, wie im Hinblick auf das Leben in Vergangenheit und Gegenwart, das von dieser neuen Wirklichkeit bestimmt ist. Das ursprüngliche Dokument der neuen Wirklichkeit ist die Bibel; der Ausdruck des Lebens, das von ihr bestimmt ist, ist die Tradition.

IV.

D I E THEOLOGISCHE M E T H O D E

IN DER BEHANDLUNG VON B I B E L UND T R A D I T I O N

Bibel und Tradition liefern der theologischen Arbeit das Material. Die Bibel enthält drei Elemente, die jeweils von verschiedenem Einfluß auf die theologische Methode sind. Als erstes und grundlegendes enthält sie die entscheidende Manifestation dessen, was uns unbedingt angeht, in dem Bild von Jesus als dem Christus. Dies ist das Kriterium jeder christlichen Theologie und der theologischen Behandlung der Bibel. Die Bibel enthält als zweites die Aufnahme dieser Manifestation durch die frühe Kirche. Die Verfasser der Bibel waren immer sowohl Zeugen der neuen Wirklichkeit in Jesus als dem Christus, als auch Zeugen der Art, wie sie und die Gruppe, der sie angehörten, die neue Wirklichkeit aufnahmen. In dieser letzteren Funktion sind sie der Beginn der Tradition, in der ersteren weisen sie auf das hin, unter dessen Kriterium die Tradition und ihr eigener Beitrag zu ihr stehen. (Das hat Luther gemeint, wenn er die Bibel das „Wort Gottes" nannte, insofern sie „Christum treibet"; unter diesem Kriterium hat er den Kanon beurteilt.) Daraus folgt, daß nicht die Bibel selbst als Teil der Religionsgeschichte die Norm für die christliche Theologie abgibt, sondern die Bibel, insoweit sie echtes Zeugnis der neuen Wirklichkeit ist. Es ist die dauernde Aufgabe der christlichen Theologie 24

(zusammen mit der Entwicklung des religiösen und historischen Verständnisses der Bibel), aus dem gesamten biblischen Material die N o r m der christlichen Theologie zu entwickeln und diese N o r m ebenso auf die Bibel wie auf die Tradition anzuwenden. Das dritte Element in der Bibel, das für die theologische Methode von Wichtigkeit ist, ist die Vorbereitung für die entscheidende Manifestation der neuen Wirklichkeit und ihre Aufnahme durch die Kirche. Im Alten wie im Neuen Testament, in ihrer Sprache und ihren Ideen und in den Riten, die sie beschreiben, finden sich Elemente einer allgemeinen Offenbarung, wie sie sich ereignet hat und sich dauernd in der menschlichen Religion im allgemeinen ereignet. Die religionsgeschichtliche Schule hat uns die Augen für diese Elemente geöffnet. Für die Methode der Theologie bedeutet das, daß jede theologische Aussage die religiöse Substanz beachten muß, die in der prophetischen und apostolischen Botschaft verwandelt und geläutert erscheint. N u r in diesem Sinn, aber in diesem Sinn sehr entschieden, gehört die Religionsgesdiichte zu dem positiven Element der christlichen Theologie. Die Universalität des christlichen Anspruchs bedeutet, daß es keine Religion gibt, selbst nicht die primitivste, die nicht zu der Vorbereitung oder Aufnahme der neuen Wirklichkeit in der Geschichte beigetragen hat oder beitragen wird. In diesem Sinn muß der Theologe immer ein Heide und ein Jude und ein Grieche (d. h. Humanist) sein und deren geistige Substanz dem Kriterium der theologischen N o r m unterwerfen. So z. B. tragen die Begriffe „Menschensohn", „Messias", „Gottessohn", „Kyrios", „Logos", die in der Religionsgeschichte erscheinen, in ihrer ursprünglichen Bedeutung zum Verständnis des Neuen Seins bei, aber diese Bedeutung muß zugleich der Kritik unterworfen und gerettet werden. Diese Methode, die Religionsgesdiichte der Kritik zu unterwerfen und zu retten, wird von allen Verfassern der Bibel verfolgt. Der Theologe muß sie methodisch und schöpferisch anwenden. Methodologisch betrachtet ist die Tradition, die mit der Bibel beginnt, keine Norm, sondern ein leitendes Prinzip. Damit ist die römischkatholische Auffassung der Tradition verworfen, und mit der Unterwerfung der Bibel unter die theologische N o r m ist auch der orthodoxe Protestantismus abgelehnt. Die Tradition kann für die christliche Theologie nicht normativ sein, weil es immer ein Element in ihr gibt, das der Kritik unterworfen werden muß und nicht sein eigener Richter sein kann. Aber der Theologe muß sich von der Tradition leiten lassen, weil sie Ausdrude der fortgesetzten Aufnahme der neuen Wirklichkeit in der Geschichte ist und weil ohne Tradition theologisches Arbeiten nicht möglich ist. Der Glaube gewisser Protestanten, 25

daß sie, indem sie zweitausend Jahre christlicher Tradition überspringen, ein unmittelbares und existentielles Verhältnis zur Bibel herstellen können, ist naive Selbsttäuschung. Die lenkende Funktion der Tradition hat eine positive und eine negative Seite. Positiv ist, daß die Tradition die Fragen aufzeigt, die in der christlichen Botschaft enthalten sind, und auf die wichtigsten möglichen Antworten hinweist, sowie auf Punkte der Übereinstimmung und auf Meinungsverschiedenheiten unter den Christen. Negativ deutet die Tradition auf Antworten hin, die im allgemeinen vermieden oder von der Kirche als häretisch bezeichnet worden sind. Wer die Tradition ernst nimmt, muß auch die Häresien ernst nehmen und sich klar machen, daß eine Häresie nicht als abweichende Meinung, sondern als existentieller Angriff auf die theologische Norm oder als Entstellung der theologischen Norm im Namen der Theologie betrachtet wird. Niemand wird leichtfertig und ohne sich dessen bewußt zu sein, daß er die Teilhabe an der neuen Wirklichkeit aufs Spiel setzt, eine Meinung vertreten, die von der allgemeinen Kirdie als häretisch bezeichnet worden ist. Das darf natürlich niemand daran hindern, seinem theologischen Gewissen zu folgen wie Luther in Worms; aber es sollte das theologische Gewissen schärfen. Das positive Element der theologischen Methode ist historisch gegeben. Aber nichts ist zweideutiger als der Begriff „historisch". Als die anglikanische Kirche die apostolische Nachfolge zu einem ihrer Hauptdogmen machte, wollte sie damit die Fortsetzung der Manifestation der neuen Wirklichkeit in der Geschichte betonen. In diesem Sinn hat das Dogma das historische Element in der Kirche und der Theologie unterstrichen. Aber als die anglikanischen Theologen als Antwort auf die römisch-katholische Kritik den apostolischen Charakter ihres Episkopats mit einer dokumentarischen Wahrscheinlichkeit von 8000:1 zu rechtfertigen suchten, gebrauchten sie den Begriff „historisch" in einem anderen Sinn, nämlich in dem der Wahrscheinlichkeit (die niemals religiöse Gewißheit werden kann) von historischen Forschungsergebnissen. In diesem Augenblick, in dem sie zwei verschiedene Bedeutungen des Begriffs „historisch" miteinander verwechselten, war ihre religiöse Stellung wissenschaftlich erschüttert. Das gleiche läßt sich von der Bibelkritik sagen. Wenn der christliche Glaube auf eine Wahrscheinlichkeit selbst von 100 000:1 gegründet wird, daß Jesus dies oder jenes gesagt, getan oder erlitten habe, wenn das Christentum auf Geburtsurkunden von Nazareth oder auf Urkunden von Verbrechen des Pontius Pilatus gegründet wird, dann hat es seine Grundlage verloren. Das historische Ereignis, daß eine neue 26

Wirklichkeit in der Menschheit und in der Welt erschienen ist, eine Wirklichkeit, die sich in dem Bild von Jesus als dem Christus manifestiert, ist Sache eines empirischen Beweises geworden, wie ihn am besten ein Berichterstatter mit Kamera, Phonograph und Psychograph liefert. Da es im Jahre 30 n. Chr. noch keinen solchen Berichterstatter gab, muß er durch mehr oder weniger wahrscheinliche Mutmaßungen ersetzt werden. Aber so kann der historische Charakter von Jesus als dem Christus nicht erfaßt werden. Es ist bedauerlich, daß eine der größten Leistungen in der Religionsgeschichte, die radikale Kritik an der christlichen Legende durch die christliche Theologie, die ein ganzes System frommen Aberglaubens zerstörte, zu dem Zweck mißbraucht worden ist, dem christlichen Glauben eine pseudowissenschaftliche Grundlage zu geben. Wenn wir sagen, daß die theologische Methode eine historische Grundlage hat, so bedeutet das nicht, daß der Theologe mit Furcht und Zittern auf die nächste Post warten muß, die ihm eine neue, je nachdem kritischere oder konservativere Feststellung über ein wichtiges Ereignis aus dem „Leben Jesu" bringen kann, nach der er seinen Glauben und seine Theologie ändern muß, sondern es bedeutet, daß seine Theologie durch das Erscheinen der neuen Wirklichkeit in der Geschichte bestimmt ist, wie sie sich in dem vollen biblischen Bild von Jesus als dem Christus manifestiert und wie sie von den Verfassern der Bibel und der gesamten Tradition bezeugt wird.

V . D A S ELEMENT DER UNMITTELBARKEIT IN DER THEOLOGISCHEN METHODE

Das oben beschriebene positive Element gibt der Theologie ihren Inhalt, das rationale Element, das später erörtert werden soll, gibt ihr die Form, und das Element der Unmittelbarkeit, dem wir uns jetzt zuwenden, gibt das Medium der theologischen Arbeit ab. Ohne Teilhabe an der Wirklichkeit, von der die Theologie spricht, ist Theologie nicht möglich; sie ist die Luft, in der die Theologie atmet. Wir nennen diese Teilhabe „Erfahrung" im weiteren Sinn des Wortes, in dem die bloße Begegnung ebenso wie die bewußt reflektierte eingeschlossen sind. Erfahrung in beiden Bedeutungen ist das Medium, das Element, in dem die Theologie sich bewegt. Aber die religiöse Erfahrung des Theologen ist keine positive Quelle und keine Norm für die systematische Theologie. Die religiöse Erfahrung des Menschen hängt immer von der Denomination ab, der er angehört; die Er-

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Ziehung durch seine eigene Kirdie öffnet ihm den Zugang zu der religiösen Wirklichkeit. Später hinzukommende persönliche Erfahrungen bestätigen oder verwandeln seine frühen Erfahrungen. Aber er sollte niemals die frühen oder die späteren Erfahrungen bewußt zum Inhalt seiner Theologie madien. Sie werden diese natürlich beeinflussen, aber das geschieht ohne die Absicht des Theologen. Die Funktion des Mediums ist es, zu vermitteln und nicht sich zu verselbständigen. Schleiermadier hatte sich der Gefahr ausgesetzt, daß sein Begriff des „religiösen Bewußtseins" mit „Erfahrung" verwechselt wurde. Aber eine Theologie auf die Erfahrung begründen, widerspricht dem Grundprinzip der Reformation, nach dem der Theologe nicht auf die eigene Person blicken soll, sondern über sich hinaus auf die neue Wirklichkeit, die von dem eigenen Selbst befreit. Unsere Erfahrung bleibt immer veränderlich und fragmentarisch, sie kann keine Quelle der Wahrheit sein, obwohl ohne sie die Wahrheit nicht zu unserer Wahrheit wird. Man kann sagen, daß die Religionsgeschichte, einschließlich der biblischen Religion und der Geschichte des Christentums, die religiöse Erfahrung der Menschheit enthält, und daß das positive Element der Theologie mit dem Inhalt dieser Erfahrung identisch ist. Diese Behauptung ist richtig, aber zweideutig. Der Inhalt einer solchen Erfahrung, z. B. derjenigen des Propheten Jesaja, ist das paradoxe Handeln Gottes in der Geschichte, und dieses göttliche Handeln transzendiert alle unmittelbare Erfahrung. Es hat sich dem Propheten auf eine Art manifestiert, die wir „Offenbarung" nennen müssen. Freilich ist sich der Prophet dieser Situation bewußt, und in dieser Hinsicht handelt es sidi um eine Erfahrung. Aber ausschlaggebend für den Propheten und f ü r den Theologen ist nicht der Aspekt der Erfahrung, sondern der der Offenbarung. Aus dem Begriff „Offenbarung" hat man eine übernatürliche Vermittlung von Wissen gemacht; es ist nicht leicht, diesen Begriff wie so viele andere von der falschen Bedeutung zu befreien, die ihm Supranaturalismus und Naturalismus gegeben haben. Aber es gibt kein angemesseneres Wort, das das ausdrücken könnte, worauf „Offenbarung" hinweist, gewiß nicht der Ausdruck „religiöse Erfahrung". Offenbarung ist die Manifestation des letzten Seins- und Sinngrundes des menschlichen Lebens (und implizit alles Lebens). Sie ist weder eine Frage objektiven Wissens und empirischer Forschung noch rationaler Schlußfolgerung. Sie ist etwas, was uns unbedingt angeht, was unsere ganze Person ergreift und was durch eine Reihe von Symbolen zu uns spricht. Offenbarung ist nicht auf eine besondere Geschichtsperiode, auf besondere Personen oder Schriften beschränkt. 28

Sie geschieht, wo immer sie will. Aber wir können von ihr nur sprechen, wenn sie Offenbarung für uns geworden ist, wenn wir sie existentiell erfahren haben. Aber nicht die Erfahrung, sondern die O f fenbarung, die wir in unserer Erfahrung empfangen, ist der Inhalt aller Theologie. Es gibt jedoch einen Punkt — und ich meine einen Punkt ohne Längen- oder Breitenausdehnung —, in dem Medium und Inhalt zusammenfallen. Es ist das Bewußtsein von dem Letztgültigen, Unbedingten-Selbst, dem esse ipsum, das den Unterschied zwischen Subjekt und Objekt transzendiert und als Voraussetzung allen Zweifels jenseits des Zweifels liegt. Es ist das Wahre-Selbst, die veritas ipsa, wie Augustin sie nannte. Wir dürfen diesen Punkt nidit Gott nennen (wie es im ontologischen Gottesbeweis geschieht), aber wir müssen ihn das in uns nennen, „was es uns unmöglich macht, Gott zu entfliehen". Es ist die Gegenwart des Elements des Unbedingten in der Struktur unseres Daseins, die Grundlage der religiösen Erfahrung. Man hat dieses Element das „religiöse a priori" genannt, aber wenn wir diesen Ausdruck gebrauchen (in der Bedeutung von anima naturaliter religiosa), müssen wir ihn allen Inhalts entkleiden und ihn auf die reine Potentialität reduzieren, Erfahrungen von der Art eines letztgültigen „unbedingten Anliegens" zu haben. Jeder Inhalt einer solchen Erfahrung hängt von der Offenbarung ab, d. h. von der besonderen Art, Form und Situation, in der sich diese Potentialität durch ein Anliegen aktualisiert, das zugleich konkret und unbedingt ist. Während die Gewißheit der reinen Unbedingtheit unbedingt, von nichts bedingt ist, ist ihre konkrete Verkörperung in Symbolen und Handlungen eine Sache des Schicksals und des wagenden Glaubens. Wenn wir von religiöser Erfahrung sprechen, müssen wir immer diese beiden, freilich untrennbaren Elemente unterscheiden: den Punkt des unmittelbaren Bewußtseins des Unbedingten, das ohne Inhalt ist, aber von bedingungsloser Gewißheit, und die Breite eines konkreten Anliegens, das inhaltsvoll ist, aber von der bedingten Gewißheit des wagenden Glaubens. Die Theologie beschäftigt sich mit dem zweiten Element, setzt aber das erste voraus und mißt jede theologische Behauptung an der N o r m der Unbedingtheit des unbedingten Anliegens.

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V I . D A S RATIONALE E L E M E N T IN DER THEOLOGISCHEN M E T H O D E

Theologie ist das rationale „Wort", der logos über Gott; die methodische Auslegung unseres letztgültigen Anliegens. Das rationale Element ist nicht die Quelle der Theologie, es gibt nicht ihren Inhalt ab, sondern ihre Form, und die Beziehung zwischen Form und Inhalt ist äußerst komplex. Theologie wird oft mit systematischer Theologie identifiziert. Obwohl diese Identifizierung nicht richtig ist, da sie die historische und die praktische Theologie von ihrer Teilhabe an der Theologie als ganzer ausschließt, weist sie doch auf etwas Richtiges hin, nämlich den ihrem Wesen nach systematischen Charakter der Theologie. Das Wort System hat eine engere und eine weitere Bedeutung. In seiner engeren Bedeutung weist das Wort auf das Ideal einer deduktiven Methode hin, in der eine Gesamtheit von Sätzen, die wechselseitig voneinander abhängen, aus Grundprinzipien abgeleitet wird. Man hat versucht, ein derartiges System auf die Geschichte des christlichen Denkens anzuwenden. Aber das positive Element in der Theologie widerstrebt jedem so verstandenen System: es verlangt Offenheit und sprengt das geschlossene System. Das Wort System hat jedoch auch eine weitere Bedeutung. Dann bezeichnet es eine Gesamtheit von Aussagen, die einander nicht widersprechen, voneinander abhängig sind und nach einer bestimmten Methode entwickelt sind. In diesem Sinn war die gesamte klassische Theologie systematisch und kann keine Theologie, wie fragmentarisch sie audi sein mag, die Systematik aufgeben. Jedes sinnvolle Fragment ist implizit ein System, wie jedes System explizit ein Fragment ist, denn der Mensch, und besonders der Theologe, lebt in Bruchstücken, in der Wirklichkeit wie in seinem Denken. Offensichtlich schließt der positive Charakter der Theologie eine rationale oder natürliche Theologie aus, wenn mit diesen Begriffen gemeint ist, daß eine distanzierte Analyse der Wirklichkeit ohne existentielle Teilhabe an einem letztgültigen Anliegen zu theologischen Aussagen führen kann. Selbst der rationale Unterbau, auf dem nach der Scholastik der offenbarte Überbau errichtet ist, hat überzeugende Kraft nur im Zustand des Glaubens. Auch wenn die logische Notwendigkeit und Richtigkeit der Argumente für die natürliche Theologie (mit Thomas und gegen Duns Scotus) anerkannt würden, könnte ihr keine existentielle Bedeutsamkeit ohne Offenbarung zugestanden werden. Die Begriffe „natürliche Religion", „natürliche Offenbarung" oder „natürliche Theologie" sind äußerst irreführend. Wenn Religion das 30

Ergriffensein von einem letztgültigen Anliegen ist, kann „ natürliche Religion" nur bedeuten, daß dieses Ergriffensein in einer Begegnung mit der Natur erfahren wird. Das ist nicht nur möglich und wirklich, sondern ist ein notwendiges Element jedes letztgültigen Anliegens; aber es kann nicht von anderen Elementen, wie persönlichen und gesellschaftlichen Elementen, getrennt werden, die ebenfalls zu dem letztgültigen Anliegen gehören. Die Begriffe „natürliche Offenbarung" und „natürliche Theologie" werden häufig auf ein Wissen von Gott angewandt, das durch Schlußfolgerung aus der Struktur der Wirklichkeit abgeleitet ist. Aber ob derartige Schlußfolgerungen richtig sind oder nicht, in keinem Fall sind sie Offenbarung und sollten nicht Theologie genannt werden; denn man kann nicht sinnvoll von Gott sprechen, wenn man ihn als ein Objekt betrachtet, das nicht zugleich der Grund unseres Sprechens von ihm ist. Man kann sinnvoll von Gott nur in einem Zustand existentiellen Ergriffenseins oder in einer Offenbarungssituation sprechen. In jeder anderen Situation wird das religiöse Wort „Gott" seines echten, d. h. seines religiösen Sinns beraubt. Deshalb können wir sagen: Es gibt eine Offenbarung durch die Natur, aber keine natürliche oder rationale Offenbarung; und: Die Theologie kann die Natur einbeziehen, aber natürliche Theologie gibt es nicht. Die Vernunft entwickelt theologische Sätze, aber sie erschafft sie nicht. Die Frage ist jedoch, ob die Ausarbeitung des positiven Elements in der Theologie nicht ein rationales Element in die Substanz selbst hineinlegt. Die Dringlichkeit dieser Frage wird offensichtlich, wenn wir an die große Zahl philosophischer Begriffe denken, die im Laufe der Geschichte des christlichen Denkens f ü r theologische Zwecke gebraucht worden sind. Man kann zwischen zwei Typen der Theologie unterscheiden, der apologetischen und der kerygmatischen. In letzterer wird das kerygma, die Botschaft, weitergegeben, ausgelegt und entweder in biblischen Begriffen oder in solchen der klassischen Tradition systematisch geordnet. In der apologetischen Theologie wird die Botschaft zu dem vorphilosophischen und dem philosophischen Verständnis der Wirklichkeit in Beziehung gesetzt. Eine Apologie gibt Antwort auf Fragen, die an eine konkrete Religion gerichtet sind, oder auf die Kritik, die gegen eine konkrete Religion gerichtet ist. Aber Antworten können nur gegeben werden, wo der Fragende und der Antwortende eine gemeinsame Basis haben. Die apologetische Theologie setzt eine universale Offenbarung voraus, auf die sie hinweisen kann, weil sie von beiden Seiten anerkannt wird. Hier gewinnt das rationale Element seine 31

größte Bedeutung und erfährt seine engste Verbindung mit dem positiven Element. Die Art, wie diese Verbindung hergestellt worden ist und hergestellt werden soll, kann man als „Methode der Korrelation" bezeichnen.

VII.

D I E M E T H O D E DER K O R R E L A T I O N

Wenn die Theologie als existentielles Unternehmen verstanden wird, nehmen alle theologischen Aussagen die Form der Korrelation an. Luther hat dieses Prinzip häufig und entschieden in dem Ausdrude ut credunt, ita habent betont. Das bedeutet nidit, daß der Glaube seinen Inhalt selbst erzeugt — das wäre Luther als gotteslästerlich erschienen —, sondern daß die objektive und die subjektive Seite im Glauben aufeinander bezogen sind; denn Glaube ist Ausdruck der Einwirkung eines Letztgültigen auf die menschliche Person; er ist Ausdruck einer existentiellen Situation und nicht Annahme einer objektiven Behauptung. Deshalb stehen die objektive und die subjektive Seite in absoluter Abhängigkeit voneinander. Es ist immer ein Kennzeichen für die beginnende Auflösung einer Theologie, wenn sie die objektive Seite als quasiwissenschaftliche Aussage von der subjektiven trennt und die subjektive Seite als emotionalen „Willen zu glauben" trotz mangelnden Beweises versteht. Das Problem der Wahrheit kann in der Theologie nicht durch objektive Beweise, sondern nur durch existentielle Kriterien gelöst werden. In den prophetischen ebenso wie in den mystischen Schriften begegnen wir immer wieder dem einen Kriterium, dem unbedingten Charakter des Unbedingten. Das Symbol hierfür ist die „Majestät Gottes" oder seine Ausschließlichkeit gegenüber allen endlichen Ansprüchen (den Götzen) oder die unbedingte Abhängigkeit jeder Macht von der göttlichen Macht oder die Rechtfertigung durch die Gnade. Jede edite Häresie ist ein Angriff auf die Göttlichkeit des Göttlichen; sie schreibt einem Endlichen unendlichen Wert zu; sie macht das Unbedingte zu einem Bedingten, indem sie es beispielsweise menschlicher Moral oder Vernunft unterwirft. Die „Wahrheit" der Theologie der Reformatoren im Gegensatz zu den im Tridentinum aufgestellten Lehren lag in ihrer Betonung der Letztgültigkeit des letztgültigen Anliegens und nicht in der „wissenschaftlichen" Überlegenheit der protestantischen über die katholischen Lehren; es war eine existentielle, keine objektive Wahrheit. Der Streit der Theologen ist wichtig, weil er, zumindest im Prinzip, um die Frage von Sein oder Nichtsein geht. 32

Die Methode der Korrelation wird vor allem von der apologetischen Theologie angewandt. Frage und Antwort müssen einander so entsprechen, daß das religiöse Symbol als angemessene Antwort auf eine Frage verstanden werden kann, die mit der menschlichen Existenz gegeben ist und in primitiven, vorphilosophischen wie in philosophisch formulierten Begriffen gestellt werden kann. So wird z. B. die Frage, die mit der menschlichen Endlichkeit gegeben ist, durch Symbole beantwortet, die die Idee von Gott konstituieren. Das Symbol der Offenbarung ist eine Antwort auf Fragen, die die Vernunft über sich hinaus treiben. Das Symbol des Christus und seines Erscheinens unter den Bedingungen der Existenz ist eine Antwort auf Fragen, die aus der existentiellen Zerrissenheit und Verzweiflung des Menschen hervorgehen. Die Idee vom göttlichen Geist kann als Antwort von Fragen verstanden werden, die in der tragischen Zweideutigkeit des Lebens, vor allem des geistigen Lebens, liegen. Und die Frage nach dem Sinn der Geschichte wird durch das Symbol vom Reich Gottes beantwortet. In allen diesen Beispielen ist mit der Methode der Korrelation eine wechselseitige Abhängigkeit von Frage und Antwort gesetzt. Die Fragen, die mit der menschlichen Existenz gegeben sind, bestimmen den Sinn und die theologische Auslegung der Antworten, wie sie in den klassischen religiösen Ideen zu finden sind. Die Form der Fragen, gleich ob in primitiver oder philosophischer Sprache gestellt, entscheidet über die theologische Form, in der die Antworten gegeben werden. Und umgekehrt ist der Inhalt der Frage durch den Inhalt der Antwort bestimmt. Niemand kann Fragen, Gott, Offenbarung, den Christus usw. betreffend, stellen, der nicht bereits im Besitz einer gewissen Antwort ist. Wir können also sagen, daß die Fragen in bezug auf das letztgültige Anliegen des Menschen den Inhalt der Antworten in sich tragen und die Antworten durch die Form der Fragen geprägt werden. Hier ist das rationale Element der theologischen Methode von ausschlaggebendem Einfluß auf die theologischen Sätze — nicht dem Inhalt nach, sondern nach ihrer Form. Aber man kann nicht a priori sagen, wieviel Inhalt in der Form verborgen ist; das stellt sich erst im Laufe der theologischen Arbeit heraus und auch dann niemals vollkommen. Die Aufnahme der neuen Wirklichkeit ist immer durch die alte Wirklichkeit bedingt, die von ihr überwunden und erfüllt wird. Aus diesem Grund hat das frühe Christentum die Lehre vom logos entwickelt, der in Jesus als dem Christus auf einmalige Weise erschienen ist und doch zugleich das universale Prinzip der Offenbarung in Religion und Kultur vertritt. In diesem Sinn kann die alte Wirklichkeit als Vorbereitung für die neue Wirklichkeit 33

verstanden werden; die philosophische Form der Frage ist im letzten Grunde auf den Inhalt der theologischen Antwort bezogen und steht ihr nicht als etwas Fremdes gegenüber. Ohne eine gewisse Logoslehre, selbst wenn der Begriff logos nicht gebraucht wird, scheint mir keine Theologie, vor allem keine apologetische Theologie, möglich. Wenige Beispiele müssen genügen, um eine konkrete Vorstellung von der Methode der Korrelation zu geben. Wenn die Frage, die in der menschlichen Endlichkeit enthalten ist, die Frage nach Gott ist und die Idee von Gott die Antwort auf diese Frage, dann gewinnt die moderne Existenzanalyse der menschlichen Endlichkeit äußerste Bedeutung für die theologische Behandlung der Gottesidee. Gott wird dann die Antwort, die der menschlichen Angst und Kontingenz entspricht; er wird das Symbol eines „transzendenten Mutes", der die Kennzeichen der Endlichkeit, die völlige Unsicherheit und Verlassenheit, die Angst vor dem Tode usw. überwindet. So gewinnt die Gottesidee existentielle Bedeutung. Die allgemeine Sinnlosigkeit und die in sich widersprüchliche Frage nach der „Existenz Gottes" wird durch eine höchst sinnvolle Frage ersetzt, die sich auf unsere Partizipation an einer unendlichen Gemeinschaft, Gewißheit und Macht und einem unendlichen Sinn im göttlichen Leben richtet. Ebenso wird die Frage, die in den selbstzerstörerischen Zügen im persönlichen und sozialen Leben des Menschen enthalten ist, als die Frage verstanden, auf die die wichtigste christliche Aussage, nämlich daß Jesus der Christus ist, die Antwort gibt. Wenn die Christologie sich auf diese Korrelation gründet, wird das Bild von Jesus als dem Christus zu der letztgültigen Manifestation der erlösenden Macht im Leben und in der Geschichte, zu dem Erscheinen einer neuen Wirklichkeit, einer Macht der Heilung und Versöhnung, die die „dämonischen" Mechanismen im persönlichen und gesellschaftlichen Leben überwindet. Dann bestimmt die Wiederentdeckung der widersprüchlichen Strukturen im Innern des Individuums und in der Gemeinschaft die Form unserer christologischen Antwort und gibt dieser Antwort existentielle Bedeutung für unsere Zeit. Die Methode der Korrelation befreit die Christologie von dem Historismus, der den christlichen Glauben an die neue Wirklichkeit auf zweifelhafte historische Wahrscheinlichkeit zu gründen versucht, und sie befreit die Christologie von der „Alchemie" der Lehre von den zwei Naturen, indem sie diese als Ausdruck des Paradoxes von der göttlich-menschlichen Einheit in einem menschlichen Leben versteht, die sich erhält trotz aller zerstörerischen Mächte in der menschlichen Existenz. Die Methode der Korrelation wird, wie diese Beispiele zeigen, niemals 34

von dem Streit zwischen Naturalismus und Supranaturalismus berührt. Sie beschreibt die Phänomene, wie sie sich dem religiösen Bewußtsein zeigen, im Lichte der menschlichen Situation, der Fragen, die mit dieser gegeben sind, und der Antworten, die die christliche Botschaft auf diese Fragen gibt. Die Theologie hat ihre korrelative und existentielle Funktion wieder entdeckt. Sie hat eine Theologie objektiver Behauptungen und subjektiver Gefühle überwunden und hat es sich wieder zur Aufgabe gemacht, Antwort auf Fragen zu geben, die unser letztgültiges Anliegen betreffen.

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ABSOLUTE U N D RELATIVE FAKTOREN IN DER B E G E G N U N G DES MENSCHEN MIT DER WIRKLICHKEIT ABSOLUTE UND RELATIVE ELEMENTE IN DER ERKENNTNIS Das Unbehagen darüber, d a ß der Relativismus alle Bereiche des Lebens und Denkens erobert hat — eine Tatsache, die sich nicht mehr bestreiten läßt — h a t mich dieses T h e m a wählen lassen. In den N a t u r wissenschaften zeigt sich der Sieg des Relativismus nicht nur in dem Vorläufigkeits-Charakter aller wissenschaftlichen Aussagen, sondern auch darin, d a ß die wissenschaftlichen Begriffe den C h a r a k t e r von bloßen Modellen annehmen, d a ß beispielsweise Begriffe wie A t o m und Molekül oder andere wie Energie u n d Bewegung auf der Grenze zwischen Begriff und Modell stehen. D a s verleiht dem wissensdiaftlichen Denken bereits einen relativistischen Anstridi. Stellt m a n die Frage, welches Modell oder welcher Begriff der Wirklichkeit am nächsten komme, k a n n man die A n t w o r t erhalten: Keiner von ihnen; was wir vor uns haben, ist ein „Spiel", allerdings ein höchst nützliches. In der zeitgenössisdien Philosophie herrschen zumeist Positivismus und Formalismus vor. So wird die A n t w o r t auf das Problem der menschlichen Existenz, das Problem unseres Seins oder Nichtseins, traditionellen Meinungen oder willkürlichen Entscheidungen überlassen und — als Reaktion auf diesen Zustand — dem Despotismus. Auch im Bereich der Ethik ist der Relativismus im Anwachsen, sowohl theoretisch wie praktisch. Schließlich untergräbt der Relativismus audi das heiligste und vielleicht problematischste aller Absolute, das Absolute der Religion. Dieser Tatbestand tritt in der weltweiten Begegnung der Religionen zutage und in der Kritik an der Religion durch den Säkularismus. Es gibt jedoch Menschen — und ich gehöre zu ihnen —, die nicht gewillt sind, diese Situation hinzunehmen u n d sich dem absoluten Relativismus auszuliefern, nicht weil sie autoritär oder reaktionär wären, sondern aus ganz bestimmten G r ü n d e n , theoretischen wie pragmatischen. Der logische E i n w a n d gegen den Anspruch des Relativismus auf absolute Geltung besteht darin, d a ß „absoluter Relativismus" ein Widerspruch in sich selbst ist, eine unmögliche Kombination von W o r t e n . Versucht man, diesen Widerspruch zu vermeiden, so wird der Relativismus seinerseits selbst relativ und hat nur relative Geltung, woraus folgt, d a ß ein Element des Absoluten in ihm nicht nur eine Möglich36

keit, sondern sogar eine Notwendigkeit ist — andernfalls wäre es nicht möglich, überhaupt Behauptungen aufzustellen. Aber auch praktisch ist der absolute Relativismus eine Unmöglichkeit. Wenn man von mir verlangt, daß ich mich total dem Relativismus ausliefere, kann ich nur antworten: „Aber ich lebe! Ich weiß, was die Prädikate ,wahr* und .falsch' bedeuten; ich tue das, was ich .besser' rechtfertigen kann als etwas anderes. Ich verehre etwas, das mich unendlich angeht und das für midi heilig ist." Die Frage ist also: Wie kann man solche Behauptungen aufstellen, wenn der Relativismus unsere letzte Weisheit ist? In den verschiedenen Bereichen der menschlichen Begegnung mit der Wirklichkeit muß es etwas Absolutes geben, das ein sinnvolles Leben möglich macht, oder das Leben wäre ähnlich dem Chaos vor der Schöpfung, wie die Genesis es beschreibt. Deshalb glaube ich, daß es ein Dienst am Leben selber ist, dieses Absolute zu suchen und seine Gültigkeit und seine Grenzen aufzuzeigen.

Subjekt und Objekt Ich will mit dem abstraktesten und schwierigsten Gebiet beginnen, das zugleich auch das theoretisch fundamentale ist, nämlich mit dem Gebiet der Erkenntnis. Was bedeutet hier „absolut"? Absolut (aus dem Lateinischen absolvere = von etwas lösen) bedeutet losmachen, befreien von allem Begrenzenden, von allen partikularen Bezügen und von dem Grund aller partikularen Bezüge, der Beziehung von Subjekt und Objekt. Das Wort „absolut" ist heute vieldeutig; für viele Menschen ist es mit dem Bild eines absoluten Wesens, das oft mit Gott identifiziert wird, verbunden. Das ist natürlich nicht das, was ich meine. Darum ist es angebracht, die Bedeutung von „absolut" mit Hilfe anderer Begriffe zu erklären, und zwar mit Hilfe gewisser Begriffspaare, wie denen des Unbedingten und des Bedingten, des Letztgültigen und des Vorläufigen, des Unendlichen und des Endlichen. Ich bevorzuge den Begriff „Letztgültiges" oder „Letztwirkliches" in einem Ausdruck wie „letztes Anliegen", den Begriff des „Unbedingten" in bezug auf den Charakter des moralischen Imperativs (was auch sein Inhalt sein möge) und den Begriff des „Unendlichen" im religiösen Bereich. Alle diese Begriffe deuten auf dasselbe hin, nämlich auf etwas, das dem Wandel des Relativen widersteht. Die Frage ist: Setzt die Idee der Wahrheit etwas Absolutes und Unbedingtes voraus, und wenn dies der Fall ist, kann dieses Absolute durdi Erkenntnisprozesse gefunden werden? Ist alle mensch37

liehe Erkenntnis relativ, oder gibt es etwas Absolutes in ihr? Dabei möchte ich von vornherein betonen, daß es so etwas wie absolute Erkenntnis nicht gibt; sie ist unmöglich. Erkenntnis gründet sich auf die ursprüngliche Einheit von Subjekt und Objekt und setzt deren notwendige Trennung und mögliche Wiedervereinigung voraus. In dieser Hinsicht gleicht die Erkenntnis der Liebe, wie die griechischen Philosophen wußten. Das griechische Wort gnosis für Erkenntnis hat dreierlei Bedeutung: sexuelle Liebe, die Erkenntnis der Essenzen oder Wesenheiten und die mystische Einung mit dem Göttlichen. Sowohl Erkenntnis wie Liebe sind Formen deir Einung des Getrennten, das jedoch zusammengehört und nach Vereinigung strebt. Beide fußen auf ursprünglicher Einheit, notwendiger Trennung und möglicher Wiedervereinigung. Dies enthüllt die Zweideutigkeit der Subjekt-Objekt-Struktur der menschlichen Erfahrung, an der wir alle teilhaben, von der wir wissen und der wir in fast jedem Augenblick begegnen. Eine Struktur, die es mir als Subjekt ermöglicht, dich als Objekt und sogar mich selbst als Objekt zu betrachten, ist notwendig, um Wahrheit zur aktuellen Wirklichkeit zu machen. Sie ist eine Voraussetzung für die Existenz der Wahrheit. Andererseits ist sie problematisch, denn in jedem Augenblick, in dem wir die Wahrheit erreichen, haben wir auf irgendeine Art die Spaltung zwischen Subjekt und Objekt überwunden. Die Frage nach dem Absoluten in der Erkenntnis ist identisch mit der Frage, wie die unvermeidliche Spaltung zwischen Objekt und Subjekt im Erkenntnisakt überwunden werden kann. Es gibt drei Situationen, in denen Subjekt und Objekt gleichsam zusammenfallen. Die erste ist die materiale Einheit von Subjekt und Objekt in jeder Sinneswahrnehmung. Nehmen wir beispielsweise an, .ich sehe eine gewisse Farbe, nämlidi Rot. Diese Erfahrung ist vorhanden, selbst wenn es sich um einen Traum oder eine Wahnvorstellung handelt. Was diese Erfahrung verursacht, kann zweifelhaft sein, aber die Erfahrung selbst, die Erfahrung von Rot als solcher, ist unmittelbar und gewiß. Was ich sehe, ist nicht mehr Objekt meines Sehens; es ist in mir, und ich bin in ihm. Die Spaltung ist überwunden, und die vollständige Wirklichkeit ist ein gegenseitiges Ineinander. Dies ist das erste Beispiel eines absoluten Faktors in der Erkenntnis. Es ist ein unmittelbares Wissen, das den Charakter des Absoluten hat. Der zweite Fall, in dem die Trennung von Subjekt und Objekt überwunden ist, ist nicht material, sondern formal. Es ist die logische Struktur des Verstandes, die in jeder Sinneswahrnehmung vorhanden und in jeder Beschreibung und Erklärung des Inhalts einer Sinnes38

•Wahrnehmung wie in jeder methodischen Darstellung vorausgesetzt ist. Diese logische und semantische Struktur ist das zweite Element eines Absoluten in unserer Erfahrung. Aber wiederum muß ich, um Irrtümer zu vermeiden, betonen, daß es keine Theorie der Logik oder der Semantik gibt, die an sich absolut ist. Es gibt viele derartige Theorien; das Absolute in ihnen ist die Struktur, die ihnen zugrunde liegt und die erst die Bildung einer Theorie ermöglicht. Wer eine neue Theorie der Logik oder der Semantik aufstellt, muß sich zu diesem Zweck der Logik und der Semantik bedienen. Er setzt voraus, worüber er eine Theorie zu entwickeln versucht. Die Struktur des Verstandes macht die Bildung einer Theorie erst möglich, nicht zuletzt einer Theorie über die Struktur des Verstandes. Dieses gleiche Absolute ist auch in jeder Begründung des Relativismus vorausgesetzt. Wer den Relativismus verteidigt, setzt voraus, daß die logische Struktur seines Arguments Gültigkeit hat; deshalb kann der konsequente Relativist keinen Beweis führen, er kann nur den Kopf schütteln. Sinneswahrnehmungen und logisdie Struktur weisen auf ein noch fundamentaleres Absolutes hin — die Gewißheit, die selbst ein relativistischer Philosoph von sich als relativistischer Philosoph hat. Dies ist der alte Beweis gegen den radikalen Skeptizismus, den Männer wie Augustin, Descartes und viele andere geführt haben. Was unser Problem betrifft, so kennt der Vertreter des Relativismus keinen Zweifel an sich selbst als Vertreter des Relativismus. Gegen seinen Willen ist er einem Absoluten ausgeliefert, das sowohl das Absolute der Sinneswahrnehmungen wie das Absolute der logisdien Form umgreift. Aus alledem geht hervor, daß der Begriff der Erkenntnis an sich eine absolute Struktur innerhalb des veränderlichen relativen Wissens voraussetzt. Der menschliche Verstand könnte seine Zentriertheit, sein Identitätsbewußtsein nicht bewahren ohne etwas, das in dem Fluß des veränderlichen Relativen absolut bliebe. Jeder Erkenntnisakt ist Ausdruck des Widerstandes gegen die Gefahr, in diesem Fluß unterzugehen. Einer der aufschlußreichsten absoluten Faktoren im Denkprozeß ist die Macht, Fragen zu stellen. Denken wir einmal darüber nach — tun wir sonst nichts, sondern denken nur darüber nach, vielleicht eine ganze Stunde lang, was es bedeutet, daß es Wesen gibt, Menschen genannt, die Fragen stellen können. In diesem einfachen Phänomen ist eine ganze Welt enthalten; hier enthüllt sich die wechselseitige Abhängigkeit von Subjekt und Objekt, die jedem Erkenntnisakt zugrunde liegt. Das fragende Subjekt besitzt in der Frage schon etwas von dem Objekt, über das es fragt — andernfalls könnte es die Frage 39

nicht stellen. Aber es bleibt von dem Objekt seines Nachdenkens getrennt und strebt nach Einung mit ihm, das heißt, es strebt nach Wahrheit. Haben und Nicht-Haben ist das Wesen des Fragens, und jeder Fragende bestätigt durch sein Fragen diese Struktur als eine absolute Struktur für den Menschen als solchen.

Die Absolutheit der Essemen Wir haben absolute Faktoren in der menschlichen Erfahrung gefunden. Gibt es auch absolute Faktoren in der Wirklichkeit, die wir erfahren? Ja, es gibt sie. In jeder Begegnung mit der Wirklichkeit finden sich drei Komponenten: Essenzen, Strukturen und das Sein-Selbst. Denkt man etwa an eine Begegnung mit Rot, so kann man sagen, daß sich in dieser Erfahrung zwei völlig verschiedene Faktoren zeigen: wir treffen auf Wesen (die rot sind) und auf Qualitäten von Wesen (ihre Röte). Wesen — beispielsweise menschliche Wesen (oder Tische, Wände, Bäume) — sind eingebettet in den Fluß des Relativen. Sie gehen und kommen; sie verändern sidi, verbergen sich, erscheinen und verschwinden wieder. Sie sind; aber ihr Sein ist Werden, und ihr Werden ist ein Prozeß gegenseitiger Begegnungen. Wie wir Menschen, uns selber eingeschlossen, anderen Lebewesen und Dingen begegnen, so begegnen diese uns und einander. Alles begegnet allem anderen, entweder direkt als einem Teil seiner Umgebung oder indirekt als einem Teil der Welt. In diesen Begegnungen manifestiert sich Sein als Werden. Diese Auffassung des Seins als Werden hat für viele Zeitgenossen — Philosophen, Dichter und alle Intellektuellen — etwas Faszinierendes, und diese Faszination trägt wesentlich zu dem Sieg des Relativismus in unserer Zeit bei. Blicken wir jedoch auf uns selbst und analysieren wir diese Faszination, so entdecken wir, daß sie der Tatsache zu verdanken ist, daß wir selber nicht nur in dem Fluß der veränderlichen Begegnungen stehen, sondern auch über ihnen. Wir können dieses Werden anschauen, wir wissen von ihm, es ist uns angenehm, oder wir fürchten uns vor ihm, und diese Macht, es zu erkennen, ist ein Absolutes, was uns ermöglicht, das Relative zu verstehen und uns von ihm faszinieren zu lassen. Es gibt mehrere absolute Faktoren in dem Fluß der relativen Begegnungen: der erste ist das Absolute, das Sprache ermöglicht; der zweite das Absolute, das Verstehen ermöglicht, und der dritte das Absolute, das Wahrheit ermöglicht. 40

Die menschliche Sprache dient einerseits der Bezeichnung oder Benennung und andererseits der Mitteilung. Mitteilung können Tiere ebenso wie Menschen durch Laute erzielen. Aber Sprache als Bezeichnung setzt eine Fähigkeit voraus, die unter den uns bekannten Wesen nur der Mensch besitzt, die Fähigkeit zur Abstraktion, die Macht, durch die Sprache Universalien zu schaffen. Nehmen wir wieder unser Beispiel von der Wahrnehmung einer Farbe, eine Erfahrung, in der Subjekt und Objekt nicht getrennt sind. Die Wahrnehmung des roten Gegenstandes ist nur die eine Seite dieser Erfahrung, die andere Seite ist das Erkennen der Farbe Rot, wo wir ihr auch begegnen. In dem roten Gegenstand sehen wir das Rote schlechthin; in dem partikularen roten Gegenstand erscheint das universale Rot. Diese Erkenntnis setzt die Fähigkeit zur Abstraktion voraus. Das Wort „Abstraktion" steht heute nicht mehr in Ehren, man zieht ein Wort wie „Ideation" vor. Ich möchte jedoch dem Begriff „Abstraktion" den Platz zurückgeben, den er verdient. Geistig nehmen wir die Essenz Rot in jedem roten Gegenstand wahr. (Essenz bedeutet hier das gleiche, was Piaton eidos = Idee nannte.) Dieses Rot ist universell gegenwärtig in jedem roten Gegenstande, dem wir begegnen, und der Begriff „rot" entsteht mit dieser Wahrnehmung, nämlich der Wahrnehmung der Essenz Rot. Rot als Essenz ist kein Ding unter anderen, sondern ist die überzeitliche Potentialität aller roten Dinge im Universum. Sie ist absolut, insofern sie unabhängig ist von ihren besonderen Erscheinungen und selbst von einer Situation, in der kosmische Ereignisse das Rot zum Verschwinden brächten. Veränderungen im Universum mögen eines Tages das Erscheinen von Rot verhindern, aber einmal war es vorhanden, und die Essenz Rot steht über diesen Veränderungen. (Man denke an das Erscheinen des Menschen auf der Erde. Lange, vielleicht Billionen von Jahren, war es unmöglich; schließlich jedoch wurde das Wesen, das wir als „Mensch" bezeichnen, Wirklichkeit. Aber niemals hätte der Mensch wirklich werden können, wenn die Essenz Mensch nicht zu den Potentialitäten des Seins gehörte.) Die Kraft der Abstraktion befähigt uns, Rot in allen roten Gegenständen zu erkennen, einen roten Gegenstand an Stelle eines grünen zu kaufen, und umgekehrt; das heißt, die Abstraktion befreit uns von der Bindung an das Partikulare, indem sie uns die Macht verleiht, Universalien zu schaffen. Ein anderer Typ von Essenzen sind Klassen und Gattungen. In jeder Kiefer begegnen wir als erstes diesem besonderen Baum in unserem Garten, zweitens der Klasse „Kiefer", welche uns das Wort „Kiefer" prägen und eine Kiefer und keine Eiche pflanzen läßt, und 41

drittens der Gattung „Baum", welche uns das Wort eingibt und uns einen Baum und keinen Strauch pflanzen läßt. Als weitere Gattungen können wir noch „Pflanze" und „organisches Lebewesen" erwähnen, das wir etwa einem plastischen Kunstwerk in unserem Garten vorziehen. Durch Abstraktion haben wir Sprache, durch Sprache die Freiheit der Wahl und durch Freiheit der Wahl die Möglichkeit zu unendlichen technischen Schöpfungen. Es ist aufschlußreich, daß in dem Mythus vom Paradies, wie er in der Genesis erzählt wird, die Sprache (das heißt die Benennung von Tieren und Pflanzen) mit der technischen Tätigkeit (der Bebauung des Gartens) verbunden ist. All dies wäre nicht möglich ohne das Absolute, das wir „Essenzen" nennen und das die Entstehung der Sprache ermöglicht. Jetzt möchte ich eine Frage aufwerfen, die wichtige religiöse Implikationen hat: Läßt sich der Begriff der Essenz auch auf das menschliche Individuum anwenden? Gewiß, es gibt eine universale Essenz „Mensch", gewöhnlich als „menschliche Natur" bezeichnet, die es uns möglich macht, von „dem Menschen" zu spredien und Menschen als Menschen zu erkennen. Aber gibt es darüber hinaus audi eine Essenz Sokrates oder Augustin, eine Essenz von dir oder mir, etwas, das von unserem zeitlichen Werden unabhängig ist? Es gibt philosophische Richtungen, die eine derartige Essenz leugnen, beispielsweise die aristotelische, und andere, die sie bejahen, beispielsweise die neuplatonische und augustinische. Man kann die positive Ansicht pragmatisch verteidigen, denn es gibt eine Gruppe von Menschen, die dem Individuum eine Essenz zuschreiben, die in ihm also etwas Absolutes sehen. Sie drücken das nicht in Form einer Philosophie aus, sondern durch ihre Werke. Es sind die Künstler, die in Gemälden und Skulpturen, Dichtungen und Biographien essentielle Bilder von Idividuen schaffen. Sie versuchen, das Absolute, Essentielle darzustellen, das durch die zeitliche Erscheinung eines menschlichen Wesens hindurchscheint. Individuelle menschliche Essenzen werden auch in Personennamen ausgedrückt, und Personennamen als solche sind etwas Erstaunliches. Die religiösen Mythen wußten noch, was ein Name bedeutet. In der biblischen Literatur ruft Gott den Menschen beim Namen, und es heißt, daß sein Name in das Buch des Lebens eingetragen werde. Aber auch Dämonen haben Namen, und es ist die T a t des Erlösers, daß er diese Namen nennt und dadurch die Macht der Dämonen bricht. Es gibt Märchen, in denen eine Gestalt versucht, ihren Namen geheimzuhalten, weil ihn zu verraten etwas Essentielles, Uberzeitliches offenbaren würde. In allen diesen Fällen handelt es sich um „individuelle

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Essenz" oder die Essenz eines Individuums, die absolut ist im Gegensatz zu seiner veränderlichen zeitlichen Existenz. Diese Anerkennung einer individuellen Essenz ist von Bedeutung für die symbolische Beschreibung der Ewigkeit und des ewigen Lebens. Sie setzt der Herrschaft der Kategorie des Werdens eine entschiedene Grenze.

Das Absolute der

Seinsstrukturen

Es gibt eine zweite Gruppe von absoluten Faktoren in der erkenntnismäßigen Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit — die Seinsstrukturen, die die Welt des Werdens zu einer Welt machen, Welt als Einheit unendlicher Mannigfaltigkeit, als Uni-versum, als Kosmos verstanden. (Das griechische Wort kosmos bedeutet sowohl Welt wie Ordnung, zentrierte Einheit.) Wie die Macht der Abstraktion zur entdeckung der Essenzen in unserer Begegnung mit der Wirklichkeit führt und von den Essenzen zu Universalien und ihrer Manifestation in der menschlichen Sprache, so führt die Macht, in unserer Begegnung mit der Wirklichkeit Fragen zu stellen, zu der Entdeckung universaler Seinsstrukturen, in denen sich die Gesamtheit alles Relativen bewegt. Die Erforschung dieser Strukturen ist eine nie endende Aufgabe. Bestimmte Gruppen von ihnen hat man als „Kategorien" bezeichnet, beispielsweise Kausalität und Substanz, Qualität und Quantität. Andere hat man „Anschauungsformen" genannt, wie Raum und Zeit. Daneben gibt es die sogenannten „Polaritäten", wie Selbst und Welt, Individuation und Partizipation, Dynamik und Form, Freiheit und Schicksal. Außerdem gibt es Strukturen, die man „Seinsweisen" nennen könnte, wie Essenz und Existenz, Endlichkeit und Unendlichkeit. Eine andere Gruppe hat man im Mittelalter „Transzendentalien" genannt, wie das Gute, das Wahre, das Sein-Selbst. Wir können uns hier nicht auf diese geradezu unendlichen philosophischen Probleme einlassen; wir können sie nur anführen, soweit sie eine Beziehung zu unserem Thema haben. Absolute Faktoren innerhalb der Relativitäten der Wirklichkeit, der wir begegnen, treten dauernd zutage, in dem Denken der Skeptiker wie der Dogmatiker, der Relativisten wie der Absolutisten, der Pluralisten wie der Monisten. Sie treten im alltäglichen Gespräch ebenso in Erscheinung wie in Literatur und Philosophie, selbst noch in einer radikal antimetaphysischen Philosophie. Wir leben in den Strukturen, die sie dem Sein geben, sie liefern uns die ontologische Sicherheit, ohne die wir weder denken noch handeln können. Man bedenke, was geschehen würde, 43

wenn sich die Seiten dieses Buches plötzlidi umwenden würden, ohne daß wir sie berührten. In diesem Augenblick würde unsere ganze Welt zusammenbrechen, denn die Kategorie der Kausalität wäre verschwunden; und das würde den Skeptiker ebensosehr erschüttern wie den Dogmatiker. Oder, um die Kategorie der Substanz als Beispiel zu nehmen: mit ihrem Verschwinden wäre unsere Identität verloren. Der Dichter Kafka behandelt dieses Thema in seiner Erzählung „Die Verwandlung", in der ein Mensch in ein Insekt verwandelt wird. Daß uns diese Geschichte so entsetzt, zeigt, wie stark wir an die Kategorie der Substanz, die unsere Identität garantiert, gebunden sind. Diese sicheren Grundstrukturen ermöglichen es unserem Verstand, die Unsicherheit, Veränderlichkeit und Relativität der Dinge, denen wir begegnen, zu erforschen. Sie geben unserem Denken ebenso Struktur wie der Wirklichkeit. Aber jetzt muß ich den Relativisten zu Wort kommen lassen. Er weist zu Recht auf die Tatsache hin, daß die Qualität der Zeit, obwohl Zeit eine Bedingung unserer endlichen Existenz ist, zu verschiedenen Zeiten verschieden verstanden worden ist, beispielsweise durch Aristoteles und Einstein. Das gleiche trifft auf die Kategorie der Kausalität zu; obwohl sie in jeder Erklärung impliziert ist, befinden sich ihre Definition und die Unterscheidung ihrer verschiedenen Typen in dauernder Veränderung. Und obwohl jede Bauersfrau, die das Wort „Substanz" noch nie gehört hat, diese Kategorie anwendet, wenn sie sich als Individuum von ihrem Mann unterscheidet, besteht noch immer Uneinigkeit zwischen Philosophen und Theologen des Abendlandes wie des Orients über die Bedeutung dieser Kategorie. Das ist der Einwand des Relativisten gegen absolute Seinsstrukturen. Auf diese Kritik eingehend, gebe ich zu, daß unsere Aufstellung von bestimmten Kategorien und unsere erkenntnismäßige Erfassung ihres Charakters relativ sind. Trotzdem muß ich daran festhalten, daß in dem Streit über die Bedeutung der Kategorien diese selbst stets wirksam sind, was auch immer ihr Charakter ist und welche Bedeutung ihnen auch von Philosophen zugeschrieben werden mag. Ohne ihre regulierende Gegenwart wäre der Streit um ihre Bedeutung nicht möglich. Das Vorhandensein ihrer fundamentalen Strukturen ist nicht abhängig von unseren Versuchen, sie zu definieren und ihre Bedeutung zu verstehen. Wenn nun der Relativist sich in seinem Angriff gegen absolute Faktoren in der erkenntnismäßigen Begegnung mit der Wirklichkeit gegen die Polaritäten wendet und diese entwertet, indem er den einen Pol leugnet und damit auch den anderen Pol untergräbt, kann man ihn 44

leicht darauf aufmerksam machen, wie tief er selbst in den Strukturen verwurzelt ist, deren fundamentales Wesen er leugnet. Man nehme als Beispiel eine wichtige Polarität, die Polarität von Freiheit und Schicksal. Der Relativist wird sie als unsinnig oder als wertlos für den Erkenntnisakt bezeichnen oder als metaphysische Spekulation verwerfen. Aber das Leben kann ihn plötzlich vor eine Entscheidung stellen, sei es eine theoretische oder eine praktische. Nach ernsthafter Überlegung trifft er seine Entscheidung, zu der er, wie er glaubt, weder durch äußeren noch durch inneren Zwang getrieben worden ist; auch hält er sie nicht für willkürlich. Er war frei in seiner Entscheidung, weder allein vom Schicksal noch allein von seiner Freiheit bestimmt. Seine Entscheidung kam aus dem einenden Zentrum seiner gesamten Person, in dem, von ihm zur zentrierten Einheit geformt, seine gesamten Lebenserfahrungen eingeschlossen sind, seine körperlichen Regungen bis zum Augenblick der Entscheidung und sein Schicksal, dieses und kein anderes Individuum zu sein. Diesen Überlegungen kann er nicht entgehen. Er leugnet zwar die Polarität von Freiheit und Schicksal, aber in dem Augenblick, in dem er eine Entscheidung fällen muß — vielleicht über eine Theorie der Freiheit —, bewegt er sich zwischen diesen beiden Polen. Wenn er, um dies nicht zugeben zu müssen, den einen der beiden Pole leugnet, etwa den Pol der Freiheit, dann ist er kein Relativist mehr, sondern ist zum dogmatischen Anhänger des Determinismus geworden. Dann ist seine Entscheidung für den Determinismus jedoch seinerseits determiniert, ist ein bloßes Ergebnis seines Schicksals, hat keinen Wahrheitswert und sollte ihn auch nicht beanspruchen, denn es gab keine Alternative für ihn. Solche Erwägungen zeigen, daß die Polaritäten absolute Faktoren in den Relativitäten der kognitiven Begegnung mit der Wirklichkeit sind. Zusammenfassend können wir sagen: Jede einzelne von unseren Behauptungen über das Absolute in unserer Erkenntnis ist relativ; das gilt auch für meine eben aufgestellten Behauptungen. Aber die absoluten Faktoren selbst, die in ihnen enthalten sind, sind nicht relativ. Man kann ihnen nicht entgehen. Auch wenn ich gegen sie eingetreten wäre, hätte ich mich ihrer bedienen müssen. Die Absolutheit des Seins-Selbst Wir haben über den absoluten Charakter der Essenzen gesprochen, die die Sprache, und über den absoluten Charakter der Seinsstrukturen, die das Verstehen ermöglichen. Wir kommen jetzt zu dem Ab45

soluten, das allen anderen absoluten Faktoren ebenso wie den relativen zugrunde liegt, dem Absoluten, das die Idee der Wahrheit ermöglicht. Dieses Absolute ist das Sein-Selbst. Man kann jede Behauptung verneinen, aber nicht die Behauptung, daß Sein ist. Wenn man fragt, was dieses „ist" bedeutet, findet man, daß es die Negation möglichen Nichtseins ist. „Ist" bedeutet „ist nicht nichts". Nichtsein ist nicht konkret vorstellbar, man kann es nur als Bedrohung erfahren. Deshalb kann die Philosophie — als metaphysische Aussage und mit logischer Begründung — sagen, daß Sein die Macht ist, dem Nichtsein zu widerstehen. Das ist das fundamentalste aller absoluten Prinzipien. Man kann alles Partikulare, was immer es auch sei, leugnen, aber nicht das Sein, denn auch das negative Urteil ist selbst noch ein Akt des Seins und nur möglich durch Sein. Sein ist das fundamentale Absolute. Wir wollen nun den Relativisten wieder zu Wort kommen lassen. Er sagt, daß diese Behauptung so wahr sei, wie sie leer ist. Der Begriff „Sein" mag fundamental für das Denken sein, weil sich das Denken auf das richtet, was ist; aber „Sein-Selbst" ist eine bloße Abstraktion, die für alles gilt, was ist. Dies indes bedeutet, daß man in ihm nichts als ein völlig leeres Absolutes hat. So viel würde der Relativist vielleicht zugeben. Aber die Frage ist: Ist Sein eine leere Abstraktion? Es gibt zwei verschiedene Begriffe von Sein. Der eine ist durch die radikalste Abstraktion gewonnen und bedeutet: nicht dieses, nicht jenes, nichts Partikulares sein, sondern einfach „sein". Das ist in der Tat eine leere Abstraktion. Der andere Begriff von Sein entspringt zwei tiefen Erfahrungen, einer negativen und einer positiven. Die negative Erfahrung ist der Schock, den das Nichtsein auslöst, und der Menschen, die von Natur Philosophen sind, theoretisch vorstellbar ist. Der Nicht-Philosoph kann ihn einfach als Mensch im Gedanken an seinen Tod erfahren. Aber das Sein kann auch positiv erfahren werden, und zwar in dem Erlebnis des eros, der Liebe zum Sein als solchem, einer gleichsam mystischen Beziehung zum Sein-Selbst. Augustin bezeichnete sie als amor amoris und Spinoza als arrtor intellectualis. Man könnte sie auch ein Gefühl für das „Heilige" des Seins als solches nennen, was dies auch immer sein mag. Dieses Sein transzendiert alles Partikulare, ohne zu einem leeren Begriff zu werden, denn es umfaßt alles Partikulare. Sein, so verstanden, ist Macht des Seins und ist von unendlicher Fülle, ein unerschöpfliches, aber unbestimmtes Absolutes. Es ist das Fundament der Wahrheit, denn es transzendiert Subjekt und Objekt. Es ist das Fundament des Guten, denn es enthält alles Sein in seiner essentiellen Natur und (wie wir noch sehen 46

werden) die Norm aller moralischen Gebote. Schließlich ist es identisch mit dem Heiligen, dem Grund alles dessen, was Sein hat. Audi mit dieser Beschreibung des Absoluten ist die Relativität in der kognitiven Begegnung mit der Wirklichkeit nicht geleugnet. Aber sie zeigt, daß Relativismus nur auf der Grundlage einer Struktur von absoluten Faktoren möglich ist. Das Absolute liegt nicht in Feststellungen mit absolutem Anspruch auf Wahrheit, sondern ist Ausdruck der Tatsache, daß die Wirklichkeit, der wir begegnen, eine Struktur, einen logos hat. Die Wirklichkeit ist strukturiert, auch wenn sie sich ständig verändert und ihre Struktur immer wieder anders beschrieben wird. Vielleicht erscheint das Absolute in meiner Beschreibung als etwas rein Theoretisches, so daß nicht ersichtlich ist, wie es moralische oder religiöse Implikationen haben kann. Aber es gibt Menschen, für die theoretische Probleme existentiell sind, eine Frage von „Sein oder Nichtsein", denn theoria bedeutet, die Dinge „anschauen" und sich auf diese Art mit ihnen einen. Meine Darlegungen richten sich an diese Menschen, ich selbst gehöre zu ihnen. Für uns ist die Frage der kognitiven Begegnung mit der Wirklichkeit, die Frage von absoluten und relativen Faktoren in dieser Begegnung ein existentielles Anliegen — ein Anliegen, das die ganze Person betrifft. Hoffentlich wird sie das für viele Menschen; letzten Endes nämlich ist Erkennen ein Akt der Liebe.

ABSOLUTE UND RELATIVE ELEMENTE IN DER MORALISCHEN ENTSCHEIDUNG

Im vorhergehenden Kapitel fanden wir ein Absolutes einerseits als Wahrheitsgewißheit in den unmittelbaren Sinneswahrnehmungen und andererseits in der logischen Struktur des Verstandes. Ich will hier ein Zitat anführen, das eigentlich in das erste Kapitel gehört hätte und aus der Korrespondenz zwischen Locke und Leibniz stammt. Lodke schrieb: „Es gibt nichts im Verstand, was nicht in den Sinnen ist." Und Leibniz antwortete: „Außer dem Verstand selbst." Das -ist es, was ich meinte, als ich von der logischen Struktur des Verstandes sprach. Weiter fanden wir absolute Faktoren in den Begriffen, die die Sprache ermöglichen, nämlich in den Universalien, und in den Strukturen, die das Verstehen ermöglichen, nämlich in den Kategorien und den Polaritäten des Seins. Schließlich fanden wir ein Absolutes in dem, was im Mittelalter „Transzendentalia" genannt wurde, nämlich im Guten, im Wahren und im Sein-Selbst (oder im Sein als Sein). 47

Der absolute Charakter des moralischen

Imperativs

Wir kommen jetzt zu einem weiteren Punkt: der Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit in Form seiner moralischen Erfahrung. Als erstes will ich auf den absoluten Charakter des moralischen Imperativs hinweisen. Das moralische Gebot, das an uns ergeht, ist ein unbedingtes Gebot. Daß die Inhalte des moralischen Imperativs mit der menschlichen Situation in Raum und Zeit wechseln, ändert nichts an der formalen Absolutheit des moralischen Imperativs selbst. In dem Augenblick, in dem wir etwas, unter welchen Bedingungen auch immer, als unsere moralische Pflicht anerkennen, ist diese Pflicht eine unbedingte. Ob wir die Pflicht anerkennen oder nicht, ist eine andere Frage, die später zu erörtern ist; aber sobald wir sie als moralische Pflicht anerkennen, ist sie unbedingt, und nichts sollte uns davon abhalten, sie zu erfüllen. Dieser Gedanke ist am deutlichsten in Kants Begriff des „kategorischen Imperativs" zum Ausdruck gebracht. Der moralische Imperativ ist kategorisch, bedeutet: er ist unbedingt, nicht-hypothetisch, das heißt, er kann nicht von Begründungen außerhalb seiner selbst abgeleitet werden. Wenn man den moralischen Imperativ auf die Furcht vor Strafe gründete, würde man ihn zu einem bedingten Imperativ machen, der von Konventionen der Gesellschaft und ihren Belohnungen und Strafen abhinge. Er wäre nicht mehr unbedingt und von absolutem Ernst, denn man könnte der Strafe auf geschickte Weise entgehen. Wenn man den moralischen Imperativ auf die Berechnung dessen gründete, was sich auf lange oder kurze Sicht am nützlichsten erweist, wie es manche philosophischen Schulen versuchen, würde man ihn von der Richtigkeit dieser Berechnungen abhängig machen, und er wäre nicht mehr unbedingt und von absolutem Ernst. Wenn man ihn auf Autorität gründete, sei es einer irdischen oder einer himmlischen, die nicht mit dem moralischen Prinzip selbst identisch ist, wäre er nicht mehr unbedingt, und wir müßten ihn sogar verwerfen. Um dies zu verstehen, müssen wir uns sowohl mit der Entwicklung des moralischen Bewußtseins in der Geschichte wie mit seiner Entwicklung hier und jetzt beschäftigen, denn in jedem einzelnen menschlichen Wesen entwickelt sich das moralische Bewußtsein von neuem. Sein Ursprung liegt in der Begegnung der Person mit einer anderen Person. Einer anderen Person begegnen, bedeutet, auf eine absolute Grenze stoßen, denn jede Person verlangt als Person, daß sie nicht als Mittel benutzt wird. Wir können als erkennende und handelnde Wesen in allen Richtungen und allen Dimensionen der Welt vor48

wärtsstreben und uns dabei aller Arten von Mitteln bedienen. Aber plötzlich begegnen wir einer Person, einem Wesen, das uns durch sein bloßes Dasein gebietet: „Bis hierher und nidit weiter! Du mußt midi als Person anerkennen, du kannst mich nicht als Mittel gebrauchen!" Das gleiche sagen wir zu dieser Person; wir verlangen beide, als Person anerkannt zu werden, unser beider Forderung ist gleich unbedingt. Ein Ding kann gebraucht werden; aber wenn wir eine Person gebrauchen, mißbrauchen wir damit nicht nur sie, sondern audi uns selbst; denn wenn ich eine Person als Ding gebrauche, verliere ich selbst meine Würde als Person. Aus dieser Tatsache entspringt der unbedingte Charakter des moralischen Imperativs. Hiermit ist allerdings nur eine Norm beschrieben, deren Gültigkeit wir jedoch erfahren können. In Wirklichkeit hat man immer gegen diese Norm verstoßen, man hat sie gebrochen und vergewaltigt; und wir vergewaltigen sie fortwährend. Aber in ihr zeigt sich die Struktur der moralischen Natur des Menschen, die wir erkennen können, gleich ob wir ihr folgen oder gegen sie verstoßen. Wenn wir jetzt fragen: Warum ist dieser moralische Imperativ unbedingt gültig?, dann müssen wir antworten: weil es unser wahres, essentielles Sein ist, das uns in dem moralischen Gebot gegenübertritt und eine Forderung an unser existentielles Sein mit allen seinen Problemen und Verzerrungen stellt. Wenn wir gegen diese Forderung handeln, die unser wahres Sein an uns stellt, vergewaltigen wir uns selbst. Aber wenn das moralische Gebot (was auch immer sein Inhalt sein mag) uns von etwas anderem als unserem wahren Sein auferlegt würde, wenn es uns von außen oder durch irgendwelche Autorität auferlegt würde, wäre es für uns kein unbedingtes Gebot. Dann könnten und müßten wir uns ihm sogar widersetzen, weil es unsere Würde als Person vernichtet. In der religiösen Ethik wird das moralische Gesetz als göttliches Gesetz bezeichnet, das den „Willen Gottes" ausdrückt. „Wille Gottes" ist ein symbolischer Ausdruck, den wir deuten müssen, um den Verdacht zu beseitigen, er beschreibe die Willkür eines himmlischen Tyrannen. Gottes Wille ist uns durch das Wesen, als das er uns geschaffen hat, mitgeteilt, das heißt durch unsere wahre Natur, unser essentielles Sein. Gottes Wille ist kein willkürlicher Befehl vom Himmel; er ist die Struktur unseres wahren Seins, das im moralischen Gebot zu uns spricht. Wenn wir eins wären mit unserem essentiellen Sein, wäre das Gebot überflüssig. Dann wären wir, was wir sein sollen, und handelten, wie wir handeln sollen. Dann gäbe es kein „Du sollst!", sondern einfadies Dasein. 49

Das ist jedoch nicht der Fall. Wir sind unserem wahren, unserem essentiellen Sein entfremdet, und deshalb steht es uns entgegen, gebietet uns, und sein Gebot ist unbedingt. Man könnte fragen: Warum sollte ich nicht gegen mich handeln und nicht auf das Gebot meines wahren Seins hören? Warum sollte ich mich nicht zerstören und meine Würde als Person opfern? Diese Frage können wir nur beantworten, indem wir uns einer anderen Dimension zuwenden, der Dimension des Heiligen. Vom Standpunkt des Heiligen gesehen, gehören wir nicht uns selbst, sondern gehören dem, von dem wir kommen und zu dem wir zurückkehren — dem ewigen Grund alles Seienden. Das ist die letzte Begründung für die Heiligkeit der Person, f ü r ihre essentielle Unverletzlichkeit und folglich f ü r den unbedingten Charakter des moralischen Gebotes, unser essentielles Sein nicht zu zerstören — dieses Sein, das uns überantwortet ist und das wir zerstören können. Dies ist der erste und grundsätzliche Schritt zu einem Verständnis des Absoluten, das im moralischen Imperativ enthalten ist. Ich wiederhole: Das moralische Gebot ergeht an uns durch unser ewig gültiges, wahres Sein; dieses spricht zu uns und verlangt von uns, daß wir es nicht zugrunde gehen lassen oder zerstören.

Die Relativität

der moralischen Inhalte

Wir müssen nun die andere Seite des moralischen Imperativs betrachten, die Relativität der moralischen Inhalte. Im Gegensatz zu dem unbedingten Charakter des moralischen Imperativs selbst sind seine Inhalte dauerndem Wechsel unterworfen. D a f ü r gibt es drei H a u p t gründe. Der erste, fundamentale Grund ist die Konkretheit aller Situationen, die moralische Entscheidungen verlangen. Der zweite sind die Veränderungen in der zeitlichen Dimension, der Wechsel der Zeiten. Der dritte sind die Unterschiede in der räumlichen Dimension, die lokalen Unterschiede, die Unterschiede von Gruppen, Kulturen und Religionen, die, selbst wenn sie einer einzigen politischen Einheit angehören, sich nebeneinander behaupten und eine pluralistische Gesellschaft konstituieren. An dieser Stelle muß ich einen Gedanken entwickeln, der dem Ziel unserer Untersuchung zu widersprechen scheint: ich muß das Absolute in Frage stellen, das heißt das falsche Absolute, um das wahre Absolute zu entdecken. Ich will das tun, indem ich das falsche Absolute relativiere. Wir kommen auf die drei Gründe f ü r die Relativität der moralischen Inhalte zurück. Als ersten Grund nannten wir die Kon50

kretheit der Situation, in der wir moralische Entscheidungen zu fällen haben. Damit meine ich nicht eine Entscheidung zwischen gut und böse, vorausgesetzt, daß wir wissen oder zu wissen glauben, was gut und was böse ist, sondern die Wahl zwischen verschiedenen Möglichkeiten, die sich gleicherweise als moralisch gut anbieten. In einer normalen Situation sind nicht viele solcher Möglichkeiten gegeben; wir brauchen nicht häufig Entscheidungen zu treffen, und oft ist es möglich, sie gänzlich zu vermeiden. Das scheint der sicherste Weg zu sein, denn Entscheidungen bedrohen die Sicherheit, die feststehende moralische Gesetze uns geben. Diese lassen uns glauben, daß wir wissen, was gut ist, gleich ob wir es tun oder nicht. In dieser Hinsicht scheint keine Unsicherheit zu bestehen. Wir fühlen uns sicher innerhalb moralischer Traditionen, die sich in Gesetzen, in gesellschaftlichen Konventionen oder in philosophischen und theologischen Ideen ausdrükken. Ihnen zugrunde liegen häufig alte heilige Gesetze, wie die Zehn Gebote, die für Juden und Christen und die gesamte abendländische Welt gültig sind. Diese traditionellen Moralgesetze sind durch Gewohnheit und Erziehung zu einem Teil unserer Natur geworden; sie sind ihr durch religiösen und sozialen Druck, durch Drohungen und Versprechungen eingepflanzt worden; sie haben ein zuverlässig funktionierendes Gewissen erzeugt, das unmittelbar reagiert und seiner sicher ist, ohne sich der Qual einer Entscheidung unterziehen zu müssen. Eine Kultur von dieser Art ist wie eine Insel, die weder äußeren Gefahren noch innerer Spaltung ausgesetzt ist. Sie ist eine statische, keine dynamische, eine monistische, keine pluralistische Kultur. Sie wird in ihrer Gesamtheit als absolut gültig akzeptiert; individuelle Entscheidungen werden nicht verlangt. Aber eine derartige Insel hat es niemals gegeben, und unsere gegenwärtige Wirklichkeit entspricht ihr bestimmt nicht. Kein moralisches System hat jemals vollständig eindeutige Anleitungen für das moralische Handeln gegeben, und der Hauptgrund dafür liegt in der Einzigartigkeit jeder konkreten Situation. Die Gesetze — und ich denke hier wieder an die Zehn Gebote — sind einerseits zu abstrakt, um auf jede konkrete Situation anwendbar zu sein, und andererseits sind sie nicht abstrakt genug, um als allgemeine Prinzipien gelten zu können; sie sind von der Kultur abhängig, aus der sie hervorgegangen sind. Das mosaische Gesetz, der Dekalog, verbietet beispielsweise das Töten. Wenn man das hebräische Wort katla mit „Mord" übersetzt, bleibt die Frage offen, wie sich Mord von Töten im allgemeinen unterscheidet; die Frage der Todesstrafe oder des Tötens im Krieg oder aus Selbstverteidigung wird nidit beantwortet. Ein anderes Beispiel 51

ist das Gebot, Vater und Mutter zu ehren. Dieses Gebot fußt auf der feudalen Tradition des absoluten Gehorsams. Wie kann es auf die liberale demokratische Situation angewandt werden und auf die Notwendigkeit, uns von der Autorität der Eltern zu befreien? Theologen und Gesetzgeber haben diese Probleme erkannt und haben unzählige Kommentare zu den alten Gesetzen geschrieben. In dem Augenblick jedoch, in dem uns eine ganz bestimmte konkrete Situation vor eine moralische Entscheidung stellt, werden wir uns kaum um diese Kommentare kümmern. Sie könnten uns letztlich auch keine wirkliche Antwort geben, denn keiner ihrer Verfasser war jemals genau in der gleichen Lage, in der wir uns in einem solchen Augenblick befinden. Deshalb müssen wir es wagen, selbst zu entscheiden. Ein zweiter Grund für die mangelnde Sicherheit in den moralischen Systemen ist die Tatsache, daß in jeder konkreten Situation mehr als ein Gesetz anwendbar ist. Wir nennen das einen Konflikt der Pflichten, und wir alle sind ihm im Leben dauernd ausgesetzt. Aus dem Gespräch mit Ärzten habe ich erfahren, welch schweres Problem bei todkranken Patienten die Wahl zwischen Ehrlichkeit und Mitleid bedeutet. Dem Patienten die Wahrheit sagen, ist Grausamkeit, sie ihm vorenthalten, ist eine Entwürdigung des Menschen in ihm. Dieser Konflikt besteht, und kein Kommentar kann dem Arzt in dieser konkreten Situation, diesem einzigartigen Individuum als Patienten gegenüber, genau sagen, was er tun soll. Er selbst muß die Entscheidung treffen, und seine Entscheidung mag die falsche sein. Das dritte relative Element im moralischen Inhalt ist die Relativität des Gewissens. Ich habe von der „Verinnerlichung der Gesetze" gesprochen, die das Gewissen unmittelbar reagieren läßt. Aber auch damit ist uns nichts Absolutes gegeben. Das Gewissen kann gespalten sein, und die Gesetze, die in ihm verinnerlicht sind, können einander widersprechen und miteinander im Kampf liegen. Oder unser Mut, etwas Neues zu wagen, kämpft gegen unsere Bindung an die Tradition, die unser Gewissen geprägt hat. Außerdem kann das Gewissen sich irren. Man kann an gewisse Nationalsozialisten denken, die mit gutem Gewissen Greueltaten begingen, weil „die Stimme Gottes", die für sie die Stimme Hitlers war, sie von ihnen verlangte. Keine äußere Autorität kann uns von der Bürde befreien, inmitten der Relativitäten der menschlichen Situation selber Entscheidungen zu treffen. Wenn wir diese schwere Verantwortung, die uns als Person auferlegt ist, einer äußeren Autorität, sei es einer weltlichen oder einer religiösen, überantworten, verringern wir zwar die Qual der Entscheidung, aber wir verringern auch unsere Würde als Person. 52

Diese Probleme bestehen in jeder Kultur; aber in unserer Kultur, die so durchaus dynamisch ist, sind sie ungeheuer intensiviert. Gewiß gibt es auch in alten und statischen Kulturen dynamisdie Entwicklungen. Kulturen werden durch schöpferische Individuen langsam verändert, so daß sich die Veränderung kaum bemerkbar macht; aber daneben gibt es plötzliche und radikale Umwälzungen durch politische Revolutionen, die eine neue Gesellschaftsschicht zur Herrschaft bringen und damit auch die bisher geltenden Werte, Gesetze und moralischen Sitten verändern. Neue Ideologien werden der Gesellschaft auferlegt; diese werden allmählich „verinnerlidit" und schaffen so ein neues moralisches Bewußtsein. Das gleiche spielt sich in religiösen und philosophischen Revolutionen ab, wie etwa der Reformation, dem Humanismus, dem Naturalismus und dem Existentialismus. Die bestehenden Traditionen werden untergraben und neue werden gesdiaffen. Mit diesen Revolutionen gehen häufig technische Revolutionen einher, die die äußere Welt verändern; diese ziehen moralische Veränderungen nach sich, die zunächst verdeckt bleiben und erst allmählich sichtbar werden. Selbst wenn moralische Theorien diesen Veränderungen zu folgen suchen, kann das praktische Leben nicht auf ihre Ergebnisse warten; jeder Augenblick fordert Entscheidungen. Der Relativismus, den diese zeitlichen Veränderungen verursachen, wird durch wachsende räumliche Annäherung und gegenseitige Beeinflussung verschiedener Kulturen verstärkt. Wenn in der gleichen politischen Gemeinschaft verschiedene Traditionen nebeneinander bestehen, haben wir eine pluralistische Gesellschaft wie diejenige, in der wir leben. Wenn wir einen Blick auf die Geschichte werfen, erkennen wir, daß eine solche pluralistische Gesellschaft nicht vor dem siebzehnten Jahrhundert entstehen konnte. Voraussetzung für sie war die Relativierung der kulturellen Werte durch die Renaissance und der religiösen Traditionen durch die Reformation. Bis zum Jahre 1600 war die abendländische Gesellschaft in religiöser Hinsicht monolitisch. Der Pluralismus setzte sich erst langsam und unter Schwierigkeiten durch, hauptsächlich unter dem Einfluß des schrecklichsten aller Kriege, des Dreißigjährigen Krieges. Heute leben wir in einer entschieden pluralistischen Gesellschaft. Wir alle wissen es, wenn wir es auch nicht theoretisch formulieren, denn wir erfahren es auf allen Gebieten, dem politischen, dem kulturellen und dem religiösen. Nachdem ich die Hauptursachen des Relativismus beschrieben habe, will ich jetzt auf einige seiner weitreichenden Wirkungen eingehen. Keinem von uns ist es noch möglich, moralischen Entscheidungen zu 53

entgehen. Jedes Urteil, beispielsweise über die junge Generation — und das sage ich denen, die der älteren Generation angehören, — muß darauf Rücksicht nehmen, daß wir in einer dynamischen und pluralistischen Gesellschaft leben. Auf den jungen Menschen liegt heute eine schwere Last, wenn sie moralisch den richtigen Weg finden wollen. Diese Situation haben sie nicht selbst verschuldet; deshalb sollten wir sie nicht eilfertig verurteilen. Viele Menschen, auch unter der jungen Generation, versuchen, Entscheidungen auszuweichen, indem sie der Tradition folgen, in der sie aufgewachsen sind. Andere vermeiden moralische Entscheidungen, indem sie schlau zu berechnen versuchen, was das Vorteilhafteste für sie ist, und zuweilen haben sie Erfolg damit, wenn auch nur vorübergehend. Aber es gibt viele, die der Situation nicht ausweichen und mutig die Last auf sich nehmen, die der Relativismus und die Wahl zwischen den Alternativen, von denen ich sprach, ihnen auferlegen. Ich denke beispielsweise an die Wahl zwischen Religion und Säkularismus in unserem Leben und Denken oder an die Wahl zwischen einer konservativen und einer liberalen politischen Haltung, zwischen nationalen und übernationalen Interessen. Oder es kann sich um die Entscheidung zwischen Bejahung und Verleugnung unserer Erfüllung, besonders in sexueller Hinsicht, handeln oder um eine Entscheidung zwischen der unbefragten Annahme der elterlichen Autorität und dem Durchbruch zur eigenen Reife oder um eine Entscheidung zwischen unbeschränktem Konkurrenzkampf im Berufs- und Geschäftsleben und einem Leben, dessen Sinn in seiner inneren Erfüllung gesehen wird ohne Rücksicht auf äußeren Erfolg. Oder es kann eine Entscheidung sein zwischen einer dauernden Selbstaufgabe, dem Verzicht auf ein eigenes erfülltes Leben (wie der Selbstaufgabe von Töchtern für ihre Eltern oder von Müttern für ihre Kinder), sowie der Pflicht, die eigenen Potentialitäten zu entwickeln. Menschen, die vor solche und unzählige andere Entscheidungen gestellt sind, stellen die Frage nach dem Absoluten in der moralischen Entscheidung mit äußerstem Ernst. Sie wissen, daß das Wagnis, das jede Entscheidung bedeutet, sie in vielerlei Hinsicht an den Rand der Selbstzerstörung führen kann. Deshalb suchen sie nach Prinzipien, nach Leitsternen, die ihnen auf dem endlosen Meer der Relativitäten die Riditung weisen. Die eine Entscheidung haben sie bereits getroffen: die Entscheidung, Entscheidungen nidit auszuweichen, und dies ist die wichtigste und die mutigste Entscheidung, wenn sie sich an sie halten. Sie haben den sicheren Hafen der Tradition verlassen, nun suchen sie nach Leitsternen. Viele befinden sich in dieser Lage, wenn sich auch nicht alle ihrer im 54

gleichen Maße bewußt sind und wenn sie auch nicht für alle gleich extrem ist. Das alltägliche Leben stellt uns vor Entscheidungen, die keineswegs immer dramatisch sind. Aber durch viele kleine Entscheidungen vollziehen wir oft eine große Entscheidung, bevor wir uns bewußt werden, daß wir bereits entschieden haben.

Prinzipien der moralischen

Entscheidung

Wir wollen jetzt nach Leitsternen, wie idi sie genannt habe, suchen, das heißt nach Prinzipien für die moralische Entscheidung. Sie sind das Absolute in der Relativität der moralischen Inhalte und die Kriterien, die uns zwar nicht von der Notwendigkeit befreien, Entscheidungen zu treffen, uns aber doch davor bewahren, der Willkür und dem Zufall zu verfallen. Das lateinische Wort für „Entscheidung", decisio, bedeutet zugleich „Abschneiden". Jede Entscheidung ist notwendigerweise ein Abschneiden, nämlich ein Abschneiden anderer Möglichkeiten, und kann aus eben diesem Grunde willkürlich sein, vom Zufall bedingt, ohne bestimmende Normen. Deshalb müssen wir fragen, ob es richtunggebende Prinzipien gibt, mit deren Hilfe wir echte Entscheidungen von der Zwanghaftigkeit willkürlicher Entscheidungen unterscheiden können. Solche Prinzipien müßten einerseits absolut, andererseits relativ sein. Ein letztes Prinzip für unsere moralischen Entscheidungen muß beides sein: Fehlte ihm die Absolutheit, so könnte es uns nicht davor bewahren, uns in dem Chaos der Relativitäten zu verlieren; fehlte ihm die relative Seite, so bliebe es ohne Beziehung auf unsere konkrete Situation und könnte keinen moralischen Inhalt abgeben. Wir können bei der Suche nach einem solchen Prinzip von dem Absoluten ausgehen, von dem wir sprachen, dem unbedingten Imperativ, jede Person als Person anzuerkennen. Wenn wir nach dem Inhalt fragen, den dieses absolute Prinzip uns gibt, so finden wir zunächst einen negativen Inhalt, nämlich das Verbot, eine Person als Ding zu behandeln. Das scheint wenig zu sein, ist jedoch viel: es ist der Kern des Gerechtigkeitsprinzips. Die Idee der Gerechtigkeit hat viele Aspekte. Für Plato war Gerechtigkeit die Tugend, die alle anderen Tugenden in sich schließt. Aristoteles betonte die proportionale Gerechtigkeit, die jedem gibt, was seinem Wert entspricht. Die Stoiker betonten das Element der Gleichheit 55

in d e r Gerechtigkeit u n d v e r l a n g t e n die E m a n z i p a t i o n v o n F r a u e n , K i n dern, F r e m d e n u n d S k l a v e n . 1 I m A l t e n T e s t a m e n t n i m m t das P r i n z i p der Gerechtigkeit ein anderes E l e m e n t in sich a u f . Zedaquah

ist m e h r als die prinzipielle A n e r k e n -

nung der a n d e r e n P e r s o n u n d m e h r als die p r o p o r t i o n a l e

Gerech-

tigkeit, die j e d e m zubilligt, w a s e r v e r d i e n t — sie ist schöpferische Gerechtigkeit, denn sie v e r w a n d e l t den a n d e r e n ; sie erhebt den, dem sie g e w ä h r t w i r d , in einen höheren S t a n d ; sie gibt ihm m e h r , als w a s ihm zukommt. I m N e u e n T e s t a m e n t k o m m t z u d e m P r i n z i p der Gerechtigkeit ein weiteres E l e m e n t ,

das jedoch k e i n e m der a n d e r e n E l e m e n t e

wider-

spricht. E s ist das E l e m e n t der Liebe, in d e r Sprache des N e u e n T e s t a ments agape

g e n a n n t . Ich gebrauche das griechische W o r t w e g e n der

Vieldeutigkeit des W o r t e s Liebe. Agape

ist die E r f ü l l u n g der schöp-

ferischen Gerechtigkeit des A l t e n T e s t a m e n t s . Sie findet i h r e n höchsten A u s d r u c k in d e r A u f o p f e r u n g für die geliebte P e r s o n , m i t der auf 1 (Den folgenden Absatz hat Tillich auf dem Tonbandtranskript in K l a m mern gesetzt; es ist ein Exkurs, der den Hauptgedankengang unterbricht, weshalb er hier als Anmerkung gebracht wird.) - Dieser Aspekt der Gerechtigkeit kann zum Problem der Sozialethik führen. Die Frage ist, ob es für das Absolute, das die persönliche moralische Entscheidung bestimmt, Analogien in den Entscheidungen einer sozialen Gruppe gibt, die durch ihre Führer getroffen werden. Eine solche Analogie kann jedodi nur beschränkte Geltung haben, und zwar vor allem, weil eine Gruppe kein bestimmtes Zentrum hat, wie eine Person es besitzt. Eine Gruppe ist keine Person, und das verändert das gesamte Bild. Diejenigen, die, anscheinend aus moralischen Gründen, die Analogie so weit wie möglich treiben und den Staat zur Person machen, wollen auf diese Art den Staat den gleichen Prinzipien unterwerfen wie das Individuum, sich selbst eingeschlossen. Tatsächlich jedodi bereiten sie auf diese Art nur der D i k tatur den Weg; denn in dem Augenblick, in dem der Staat zur Person gemacht wird, wird der Führer zum Zentrum, von dem die Entscheidungen ausgehen, und es gibt keine N o r m mehr, nach der er kritisiert werden kann. Aus diesem Grund warne ich alle, für die die Sozialethik ein wichtiges Anliegen ist, davor, diese Analogie zu weit zu treiben. - Es gibt noch einen zweiten, ebenso wichtigen Grund, warum das Gerechtigkeitsprinzip nicht in gleicher Weise auf Gruppen wie auf Individuen angewandt werden kann, nämlidi die Tatsache, daß soziale Gruppen eine Maditstruktur besitzen und deshalb nicht einfach wie Individuen beurteilt werden können. Das Individuum hat hinsichtlich seiner Beziehung zu einer sozialen Gruppe wie dem Staat vielerlei Entscheidungen zu treffen, und für diese gelten die Prinzipien, von denen wir hier sprechen. Aber die Beziehungen der Gruppen oder Staaten zueinander und zu Individuen liegen in einer anderen Dimension und verlangen andere Maßstäbe. Gerechtigkeit ist allerdings ein Prinzip, das auch für sie gilt, aber es ist nicht die Gerechtigkeit, die für Individuen gilt, die sidi in der Situation befinden, moralische Entscheidungen treffen zu müssen.

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diese Art eine tiefe Einung vollzogen wird. Agape geht also weit über die bloße Anerkennung der anderen Person als Person hinaus. Sie strebt nach Vereinigung mit dem anderen und mit allem, von dem der Mensch getrennt ist. Liebe als agape ist das absolute moralische Prinzip, nach dem wir gefragt haben. Um zu verstehen, was dieser Begriff bedeutet, müssen wir ihn von allen irreführenden Nebenbedeutungen befreien. Liebe als agape schließt das Grundprinzip der Gerechtigkeit in sich ein. Wer anderen Gerechtigkeit versagt und statt dessen behauptet, daß er sie liebe, hat den Sinn der agape völlig mißverstanden; er verbindet Ungerechtigkeit mit Sentimentalität und nennt es Liebe. Agape darf auch nicht mit anderen Formen der Liebe verwechselt werden, mit Liebe als libido, als Freundschaft, als Mitleid und als eros. Agape steht zwar mit diesen allen in Zusammenhang und kann mit ihnen vereint werden; aber sie ist zugleich das Kriterium, unter dem sie alle stehen. Ihre Größe liegt darin, daß sie den andern annimmt und erträgt, auch wenn er unannehmbar und schwer zu ertragen ist. Ihr Ziel ist eine Vereinigung, die mehr ist als Einigkeit auf Grund von Sympathie und Freundschaft. Sie kann Vereinigung trotz Feindschaft sein. Seine Feinde lieben ist keine Sentimentalität, die Feindschaft bleibt bestehen. Aber trotz ihrer nehme ich den anderen nicht nur als Person an, sondern ich vereine mich mit ihm in etwas, das über ihm und mir steht, nämlich in dem letzten Grund seines und meines Seins. Agape ist das erste Element in dem Prinzip, nach dem wir suchen, wenn wir eine moralische Entscheidung fällen. Das zweite Element ist die konkrete Situation, der die Liebe sich zuwendet. Die Liebe hört hin auf diese Situation, sie sieht sie in ihrer ganzen Konkretheit und erforscht die tiefsten Regungen der anderen Person. Wir können heute solche Regungen besser verstehen, als man das in früheren Zeiten konnte, weil uns die Einsichten der Psychologie und der Soziologie in die inneren und äußeren Bedingungen der menschlichen Situation zu Gebote stehen. Diese können der Liebe helfen, die konkrete Situation zu sehen und auf sie zu hören. Diese hinhörende Liebe, die auf den anderen eingeht, tritt an die Stelle des automatischen Gehorsams gegen die moralischen Gebote. Auch diese Gebote stammen aus moralischen Einsichten, die dann jedoch zu moralischen Gesetzen erstarrt sind; und kein moralisches Gesetz kann uns die moralische Entscheidung ersparen und uns vor einem moralischen Wagnis bewahren. Wir können uns bei ihm Rat holen, aber das ist auch alles; das wird deutlich, wenn wir um Rat gefragt werden. Wenn ein Student zu mir kommt, der vor einer schweren moralischen 57

Entscheidung steht, halte ich ihm nicht die Zehn Gebote vor oder die Worte der Bergpredigt oder irgendwelche anderen Gesetze, audi nicht die der humanistischen Ethik. Ich sage ihm vielmehr, daß er sich fragen soll, was ihm die agape in seiner Situation gebietet, und daß er diesem Gebot folgen soll, selbst wenn es Tradition und Konvention widerspricht. Allerdings muß ich ihm auch klarmachen, daß er sich mit seinem Entsdiluß tragischen Folgen aussetzt. In den moralischen Geboten, ebenso wie in anderen Gesetzen und Traditionen, hat sich die Weisheit der Jahrhunderte verkörpert, und wer ihnen nicht folgt, muß gewillt sein, Tragik auf sich zu nehmen. Das führt uns zu einer allgemeinen Betrachtung über die Funktion des Gesetzes, der Zehn Gebote, der Gebote der Bergpredigt oder der Briefe der Apostel und der Gesetze anderer Religionen. Diese Gesetze selbst sind nicht absolut, aber sie sind aus dem absoluten Prinzip der agape abgeleitet, der Liebe, die mit Gerechtigkeit vereint ist, und sind in unzähligen konkreten Situationen der menschlichen Geschichte erprobt worden. Die moralischen Gebote, wo wir ihnen auch in der Geschichte begegnen, sind Ausdruck der moralischen Erfahrungen der Menschheit. Sie können Schöpfungen der Weisheit genannt werden, der göttlichen Macht, die Gott bei der Erschaffung der Welt zur Seite stand und „öffentlich am Wege steht" und die Menschen ermahnt (Sprüche 8). Die Gesetze enthalten die moralische Weisheit aller Zeiten und dürfen nicht leichtfertig verachtet werden. Nur wo wir einsehen, daß das Gesetz für eine konkrete Situation unanwendbar ist, sind wir berechtigt, gegen es zu verstoßen. Zum Schluß möchte ich über diejenigen, die es wagen, echte moralische Entscheidungen zu treffen, noch zweierlei sagen. Indem sie mutig ihre Entscheidung treffen und sich dabei von dem Prinzip der agape, die auf die konkrete Situation hinhört, und von der Weisheit der Zeiten leiten lassen, tun sie etwas nicht nur für sich selbst und für die, die von ihren Entscheidungen betroffen werden, sondern auch etwas, das hierüber hinausgeht. Sie verwirklichen Möglichkeiten des geistigen Lebens, die bis dahin nicht sichtbar waren; sie tragen schöpferisch zur Entwicklung des moralischen Bewußtseins in der Zukunft bei. Darin liegt die schöpferische Möglichkeit eines moralischen Lebens, die heute vor allem für die jüngere Generation vorhanden ist. Sie bedeutet allerdings eine schwere Bürde für die jungen Menschen, denn sie setzt diese einer Unsicherheit aus, die die Unsicherheit, die auch frühere Generationen kannten, bei weitem übertrifft. Für diese war das Problem noch: Tue ich das Gute, von dem ich weiß, daß es gut ist? Dieses Problem wird zwar immer bestehen, aber heute kommt ein weiteres Pro58

blem hinzu, nämlich die Frage: Was ist das Gute? Darüber müssen die jungen Menschen selbst entscheiden, und jede Entscheidung ist ein moralisches Wagnis. Aber wenn wir auch eine falsche Entscheidung treffen, die uns Leiden bringt, so kann doch das schöpferische Element, das in jeder ernsthaften Wahl enthalten ist, uns Mut verleihen, neue Entscheidungen zu wagen. Das ist das erste, was ich allen denen sagen möchte, die es wagen, wirkliche moralische Entscheidungen zu treffen. Und nun das zweite: Je ernsthafter wir alle Faktoren bedenken, die zu einer solchen Entscheidung beitragen, die absoluten ebenso wie die relativen, um so gewisser können wir sein, daß eine Macht in der Tiefe des Lebens uns annimmt trotz des Verstoßes gegen das Leben, dessen wir uns durch eine falsche Entscheidung schuldig machen. Die Mischung aus Absolutem und Relativem gibt der moralischen Entscheidung ihre Größe und setzt sie Gefahren aus. In ihr ist die Würde und die Tragik des Menschen begründet, seine schöpferische Freude und die Qual über seine Verfehlungen. Deshalb sollten wir nicht versudien, der Entscheidung auszuweichen, weder in Willkür ohne Norm nodi in Sicherheit ohne Freiheit.

D A S H E I L I G E : DAS A B S O L U T E UND DAS R E L A T I V E IN DER R E L I G I O N

Die beiden ersten Kapitel haben drei verschiedene Tatbestände aufgezeigt. Als erstes wurden die relativen Faktoren in der kognitiven und der moralischen Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit — sowohl auf Seiten des Subjekts wie auf Seiten des Objekts — beschrieben. Zweitens wurden Elemente des Absoluten inmitten der Relativitäten erkannt, sowohl auf der subjektiven wie der objektiven Seite. Im Bereich der Erkenntnis waren diese absoluten Elemente die Struktur des Verstandes, die Sinneseindrücke ermöglicht, obwohl sie selbst keine Sinneserfahrung ist; die Universalien, die die Sprache ermöglichen, und die Kategorien und Polaritäten, die das Verständnis der Wirklichkeit ermöglichen. Im moralischen Bereich fanden wir das Absolute in dem unbedingten Charakter des moralischen Imperativs, was auch sein Inhalt sein möge, in dem Prinzip der Gerechtigkeit, das jede Person als Person anerkennt, und in dem Prinzip der agape, der Liebe, die die Gerechtigkeit in sich einschließt und zugleich über sie hinausgeht und das Relative und das Absolute vereinigt, indem sie auf jede konkrete Situation eingeht. Aber darüber hinaus haben die beiden ersten Kapitel noch auf etwas 59

drittes hingewiesen, das fundamentaler ist als Kategorien und Universalien, nämlich das Sein-Selbst jenseits der Spaltung in Subjekt und Objekt — das Problem unseres dritten Kapitels. Oder mit anderen Worten: Indem wir das Prinzip der Wahrheit und das Prinzip des Guten beschrieben, kamen wir zu der Quelle aller absoluten Faktoren in unserer Begegnung mit der Wirklichkeit, zum Absoluten-Selbst. Die Begegnung mit ihm ist die Begegnung mit dem Heiligen.2 Wir hätten das Absolute-Selbst auch auf einem anderen Weg erreidien können, beispielsweise durch eine Analyse der ästhetischen Begegnung mit der Wirklichkeit. Dieser Bereich scheint zwar vollständig vom Relativismus beherrscht zu sein; man behauptet, über den Geschmack ließe sich nicht streiten. Aber man kann sehr wohl die Frage diskutieren, ob ein modernes Gemälde oder eine antike Skulptur Kunstwerke sind oder nicht. Es gibt gewisse absolute Kriterien für die Beurteilung von Kunstwerken, wenn man Kunst von anderen Funktionen wie Technik, Naturwissenschaft usw. unterscheidet: Ein Kunstwerk enthält etwas Absolutes, insofern es Ausdruck der letzten unbedingten Wirklichkeit ist. Es stellt ein Stück der endlichen Wirklichkeit dar, die es durch seine schöpferische Kraft transparent macht für das Unbedingt-Wirkliche. Das gibt allen großen Kunstwerken einen unerschöpflichen Sinn. In diesem Hinweis auf etwas, das jenseits des Werks selber liegt, ist das Absolute im Bereich der schöpferischen Kunst gegenwärtig, das trotz allen Wechsels in Stil und Geschmack vorhanden ist. Es gibt noch einen anderen Weg zum Absoluten-Selbst, nämlich den Weg durch den gesellschaftlich-politischen Bereidi. Hier zeigt sich das Absolute vor allem in der Heiligkeit der Gesetze, die sich auf die eine oder andere Art in den meisten Rechtssystemen ausdrückt. Das Gefühl für die Heiligkeit des Gesetzes hat selbst die allgemein gewordene Säkularisierung überlebt und zeigt sich beispielsweise noch in Eidesformeln und in einer quasi-rituellen Haltung des Gerichts, derzufolge ein Verstoß gegen das Gericht als säkularisierter Verstoß gegen Gott und als eine Art Blasphemie betrachtet wird. Wir finden die gleiche Haltung noch in der Ehrfurcht vor dem Landesrecht und, besonders in Amerika, vor dem gesellschaftlich-politischen Fundament des Staates, der Verfassung. Oder wir finden sie in dem mythisierten „Willen des Volkes", den mythisierten Staatsgründern oder dem ebenso mythisierten Kaiser oder König von Gottes Gnaden (unter einem von denen 2

Die Übersetzung der beiden vorangehenden Absätze folgt dem Tonband, da sie in der amerikanischen Ausgabe stark verändert sind.

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ich noch aufgewachsen bin). Gesetze und Verfassungen wechseln, aber ihre rechtliche und soziale Gültigkeit als solche ist absolut; sie wurzelt in dem Heiligen selbst. Der Weg zum Absoluten-Selbst, zu dem Grund alles Absoluten in den partikularen Bereichen, ist ein anagogischer, das heißt aufwärtsführender Weg. Wir sind hier nicht von der letzten Wirklichkeit oder von der Existenz Gottes ausgegangen, sondern von den verschiedenen Bereichen, in denen der Mensch der Wirklichkeit begegnet, dem kognitiven, dem moralischen und — gewissermaßen unter dem Strich — dem ästhetischen und dem gesellschaftlich-politischen, und haben gesehen, daß hier absolute Faktoren vorhanden sind, ohne die diese Begegnungen nicht möglich wären. Weiter haben wir gefunden, daß es in jedem dieser Faktoren einen Punkt gibt, an dem er über sich hinausweist auf das Absolute-Selbst, das wir als das Heilige erfahren. Im kognitiven Bereich nannten wir diesen den Grund des Seins, im moralischen das Gute selbst. Mit anderen Worten: Wir haben auf dem Weg der Analyse herausgefunden, daß in dem Universum von Relativitäten etwas Absolutes gegenwärtig ist, das über sich hinausweist auf das Absolute-Selbst. Diese Methode hat uns der Aufgabe enthoben, Beweise für die Existenz eines absoluten Wesens zu liefern, ob es Gott, das Eine, Brahman-Atman, Schicksal, Natur oder Leben genannt wird. Das Absolute, zu dem uns unsere Analyse geführt hat, ist kein absolutes Wesen, das ein Widerspruch in sich selbst wäre, sondern ist das Sein-Selbst.

Die Begegnung des Menschen mit dem Heiligen In der vielfältigen Begegnung mit der Wirklichkeit begegnet der Mensch auch dem Heiligen. Aber diese Begegnung ist ihrem Wesen nach keine Begegnung neben den anderen, sondern eine Begegnung in den anderen. Sie ist die Erfahrung des Absoluten-Selbst. Erst nachdem wir diesen Punkt klargemacht haben, können wir von einer partikularen Begegnung mit dem Heiligen sprechen, nämlich der Religion im traditionellen Sinn des Wortes. In der Begegnung mit dem Heiligen ist die Erfahrung des Absoluten als solchen nicht nur impliziert, sondern bewußt angestrebt. Das ist entscheidend zum Verständnis der Religion. Es ist das absichtliche Daraufhinstreben, dem Absoluten als solchem zu begegnen, was die Religion zur Religion macht und sie zugleich unendlich transzendiert. Das Element des Absoluten ist am mächtigsten ausgedrückt in dem großen Gebot: 61

„Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüte und mit allen deinen Kräften." Das ist Absolutheit in religiöser Sprache, und es ist, um ein Geständnis zu machen, die Basis für meine Definition der Religion als Ergriffensein von einem unbedingten Anliegen. Dieses Gebot ist jüdisch-christlich, aber es gibt in allen Religionen ähnliche Ausdrucksformen für das Absolute. Viele Religionen kennen eine absolute Drohung und eine absolute Verheißung, die beispielsweise als Hölle und Himmel versinnbildlicht werden und als Ausdruck für die psychologischen Zustände äußerster Verzweiflung und höchster Seligkeit verstanden werden können. Diese Symbole für ein Absolutes brechen in die Relativität unserer gewöhnlichen Erfahrung ein, unseres Leids und unserer Lust, unserer Freude und unserer Sorge, unserer Hoffnung und unseres Zweifels. Sie stehen für zwei absolute Möglichkeiten, die von unserer Beziehung zu dem Unbedingten-Selbst abhängig sind. Im Islam, im Hinduismus, im Mahajana-Buddhismus und im Christentum und Judentum finden sich mächtige Symbole für diese Idee, in denen sich die absolute Ernsthaftigkeit unserer Beziehung zum Heiligen, zum Absoluten-Selbst ausdrückt. Diese Auffassung des Heiligen stimmt mit Rudolf Ottos Analyse des Heiligen überein. Der Name Rudolf Otto ist für mich mit der Erinnerung an wunderbare Stunden in den zwanziger Jahren verbunden, in denen wir zusammen über die Hügel und durch die Wälder um Marburg wanderten und uns über Probleme des Christentums und der asiatischen Religionen unterhielten. Er war ein großer Kenner dieser Religionen und hatte wiederholt Reisen nadi Asien unternommen. In seiner Analyse des Begriffs des Heiligen beschreibt er dieses zuerst als Mysterium; es ist das Absolute-Selbst, der Grund aller absoluten Elemente, die wir in den verschiedenen Bereichen der Begegnung des Menschen mit der Wirklichkeit gefunden haben. Es kann weder aus unseren endlichen Erfahrungen in Form einer Beweisführung abgeleitet werden, noch kann es in seinem Wesen vom endlichen Verstand begriffen werden. Trotzdem können wir eine Beziehung zu dem haben, was uns und allen mensdilichen Wesen ein Mysterium ist, und können um diese Beziehung wissen, wenn wir das Mysterium auch nur als das Mysterium unseres Seins und des Seins überhaupt begreifen, nämlich als das Mysterium: Warum ist etwas und ist nicht vielmehr nichts? Otto beschreibt das Mysterium durch die Reaktionen, die es in uns auslöst als mysterium tremendum und als mysterium fascinosum, je nadidem ob es in uns Grauen, Schrecken und Schauder erregt oder uns anzieht, entzückt, beseligt. Das tremendum ist der äußerste Schrecken 62

darüber, daß wir unsere Erfüllung verfehlen können, das fascinosum ist das äußerste Verlangen, sie zu erreichen. Die Beispiele, die Otto aus den verschiedenen Religionen heranzieht, zeigen deutlich, daß die Menschen in diesen Erfahrungen dem Absoluten als solchem begegnet sind, das die einzelnen Elemente des Absoluten transzendiert, die wir in den verschiedenen Begegnungen mit der Wirklichkeit finden.

Die beiden Begriffe der Religion Jetzt erhebt sich eine Frage, die für unsere ganze heutige Kultur von Wichtigkeit ist: Ist die Begegnung mit dem Absoluten-Selbst auf unsere Erfahrungen innerhalb dessen, was wir gewöhnlich „Religion" nennen, beschränkt? Die Antwort darauf kann nur sein: Gewiß nicht! Das geht schon aus der Tatsache hervor, daß wir das Absolute außerhalb der Religion gefunden haben. Man könnte sagen, daß es für jedermann etwas gibt, das ihm heilig ist, selbst für den, der die Erfahrung des Heiligen leugnet. Wir können hier an das anknüpfen, was wir oben gesagt haben, daß das Absolute auf verschiedene Art erfahren werden kann, nämlich indirekt und direkt. Entsprechend können wir zwei Begriffe der Religion unterscheiden, einen weiteren und einen engeren. Religion im weiteren Sinn erscheint als Dimension des Unbedingten in den verschiedenen Funktionen des menschlichen Geistes. Sie ist — metaphorisch gesprochen — die Dimension der Tiefe, der unausschöpflichen Tiefe des Seins, die in diesen Funktionen indirekt erscheint. Direkt begegnen wir in diesen Bereichen etwas anderem, etwa der Wahrheit, dem moralischen Imperativ, der Gerechtigkeit oder der ästhetischen Ausdruckskraft. In diesen allen ist das Heilige gegenwärtig, aber indirekt, es ist im Profanen verborgen und wird durch die Strukturen des Profanen als heilig erfahren. Religion auf dieser Grundlage und in ihrem universalen Sinn kann bezeichnet werden als das Ergriffensein von einem Unbedingten, das sich in verschiedenen Formen manifestiert. Diese Definition trifft auch auf den engeren Begriff der Religion zu. In ihr ist jedoch die Erfahrung des Heiligen eine direkte. Ich habe sie gewöhnlich als die Erfahrung des Heiligen in einer besonderen Verkörperung seiner selbst beschrieben, wie einem heiligen Ort oder einer heiligen Zeit, einer heiligen Person oder einem heiligen Buch, Bild oder Sakrament. Diese direkte Begegnung mit dem Heiligen findet meist innerhalb einer heiligen Gemeinschaft statt, die im Abendland durch eine Kirche, einen Orden oder eine religiöse Bewegung vertreten ist. Sie drückt den besonderen 63

Charakter ihrer Erfahrung des Heiligen in gewissen Symbolen aus, in Bildern, im Kult und in Regeln f ü r das moralische und soziale Leben der Gruppe. Dies ist Religion im engeren und traditionellen Sinn. Religion im ersteren, weiteren Sinn richtet sich auf das Absolute jenseits aller Unterschiede von Religion und Nicht-Religion; Religion im zweiten, engeren Sinn repräsentiert das Absolute vermittels direkter konkreter Symbole. Daraus folgt, daß das Heilige, das AbsoluteSelbst, jede konkrete Religion transzendiert und über sie richtet. Das Unbedingte in Sein und Sinn kann letztlich nicht an einem heiligen Ort oder in einer heiligen Handlung, das heißt in einer besonderen Religion, eingefangen werden. Aber diese eben aufgestellte Behauptung, daß das Unbedingte in keiner besonderen Religion eingefangen werden kann, kann selbst nur auf dem Boden einer besonderen Religion gemacht werden, einer Religion, die fähig ist, ihre eigene Partikularität zu transzendieren und damit vielleicht die Macht hat, auch andere Religionen der Kritik zu unterwerfen. Die Religion im weiteren Sinn ist das Fundament für die Religionen im engeren Sinn und ihr Richter. Daraus ergeben sich wichtige Konsequenzen sowohl für die Beziehung der Religionen zueinander wie für die Beziehung der Religion zu dem Bereich des Säkularen. Die erste von ihnen ist, daß der Säkularismus, der gewöhnlich von der Kirche verdammt wird, eine positive religiöse Funktion erhält. Dies zu zeigen ist ein Hauptzweck meiner Darstellung.

Die Dämonisierung der Religion Es gibt ein Phänomen, das wir die Dämonisierung der Religion nennen können. Das Dämonische ist mehr als Irrtum und Verzerrung, ja selbst mehr als ein beabsichtigtes Böses, es ist ein negatives Absolutes. Es ist die Erhebung von etwas, in dem Negatives und Positives gemischt sind, zu einem absoluten Wert. Es ist die Vergottung eines Zweideutigen; etwas, in dem Positives und Negatives, Schöpferisches und Zerstörerisches, zweideutig vereint sind, wird als unzweideutig positiv, als in sich selbst heilig betrachtet. Auf die Religion angewandt, heißt das, daß eine besondere Religion Ansprudi darauf erhebt, mit dem religiös Absoluten identisch zu sein, und jede Kritik an sich verwirft. Dies führt innerhalb der Religion zu dämonischer Unterdrückung von Zweifel, Kritik und ehrlicher Suche nach Wahrheit; und es führt nach außen zu den dämonischsten und — in physischer wie geistiger Hinsicht — zerstörerischsten Kriegen, den Religionskrie64

gen. Diese Folgen sind unvermeidlich, wenn eine besondere Manifestation des Heiligen mit dem Heiligen selbst identifiziert wird. Ein klares Beispiel für die Dämonisierung einer Religion, wie sie sich innerhalb der Religion auswirkt, ist — im christlichen Bereich — die Inquisition, und für eine solche, die sich nach außen kehrt, der Dreißigjährige Krieg. Aber in der Gesdiichte aller Religionen gibt es ähnliche Ereignisse. Die unmittelbare Folge des Dreißigjährigen Krieges war die entschiedenste Säkularisierung in der gesamten Geschichte. Die säkulare Macht, der Staat, mußte die Herrschaft an sich reißen, um Europa vor der völligen Selbstvernichtung zu bewahren. Zur gleichen Zeit erschütterten die säkularisierte Philosophie und der Fortschritt der Naturwissenschaften mit ihrer relativierenden Wirkung den Anspruch der kämpfenden Kirchen auf Absolutheit. In diesem Zusammenhang kann der Säkularismus als Urteil des wahren Absoluten über die dämonischen Ansprüche der besonderen Religionen oder religiösen Gruppen auf Absolutheit betrachtet werden.

Die Quasi-Religionen

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Der Prozeß der Säkularisierung und der Relativierung hat heute, nach weiteren Jahrhunderten, theoretisch und praktisch einen kaum noch zu übertreffenden Höhepunkt erreicht, den ich am Anfang dieser Abhandlung zu beschreiben suchte. Aber diese Situation hat zu einer Gegenbewegung geführt, zu einem Streben nadi einem neuen Absoluten auf der Basis des Säkularismus. Dieses Absolute tritt in den sogenannten Quasi-Religionen zutage und ihren Folgen, den QuasiReligionskriegen, wie wir sie heute erleben. Wer wie ich miterlebt hat, wie sich die Menschen, besonders die Jungen, in neue Bewegungen mit Absolutheitsansprüchen wie Faschismus, Nationalsozialismus und Kommunismus stürzen, der durchschaut den quasi-religiösen Charakter dieser Bewegungen. Sie erheben — wie die traditionellen Religionen — ihr Grunddogma über alle Zweifel und dehnen seine Geltung auf alle Gebiete des Lebens aus. Moralische Entscheidungen werden durch Gebote bestimmt, die von diesem Dogma abgeleitet sind und zunächst von einer äußeren Autorität ausgehen, dann aber — was das gefährlichere ist — zum Teil des Volksgewissens werden. Rechtsprinzipien und Gesellschaftsstrukturen werden in strenger Übereinstimmung mit dem GrundDieses T h e m a hat Tillith ausführlich behandelt in: „Das Christentum und die Begegnung der Weltreligionen", G W V , 5 1 - 9 8 . s

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dogma entwickelt; ein Ritual wird eingeführt, das das herrschende System sanktioniert, und die Künste müssen dazu dienen, es zu glorifizieren. Das Ergebnis sind Lebensformen, die im Dienst eines alles beherrschenden Absoluten stehen, einer absoluten Autorität unterworfen sind und zu absoluten Prinzipien auf allen Gebieten führen. Wir sind heute von solchen Systemen umgeben. Neben ihnen besteht jedoch ein anderes politisch-kulturelles System, das wir gewöhnlich als „westliche Kultur" bezeichnen und das sich in den angelsächsischen Ländern, besonders in Amerika, ausgebildet hat. Wir könnten es als quasi-religiösen liberalen Humanismus bezeichnen. Es hat im Namen seiner eigenen absoluten Ideen, des Liberalismus und des Humanismus, gegen den Absolutismus des Faschismus und des Kommunismus gekämpft und hat den ersteren zumindest vorläufig besiegt, während es den letzteren weiter bekämpft. Unser System ist den anderen dadurch überlegen, daß es sowohl den in sich widersprüchlichen absoluten Relativismus einerseits wie den dämonisierten Absolutismus der quasi-religiösen Systeme andererseits zu vermeiden sucht. Aber wir dürfen uns nicht über unsere eigene Haltung täuschen: auch unser System ist ein quasi-religiöses. Seine absoluten Elemente sind höchst eindrucksvoll in der amerikanischen Verfassung verkörpert und wirken sich auf alle Gebiete unseres Lebens aus. Aber unserem System ist es gelungen, ein äußerst feines Gleichgewicht zwischen seinem prinzipiellen absoluten Element und seinem fast unbeschränkten Relativismus herzustellen — ein Gleichgewicht, das jedoch dauernd gefährdet ist. In seinem Kampf gegen die absoluten Ansprüche der anderen Systeme kann der liberale Humanismus leicht die Formen übernehmen, die er bekämpft; auch kann er indirekt die Kritik seiner liberalen Bürger unterdrücken. Zudem kann er äußerlich in eine Zwangslage geraten, in der er den Humanismus durch Mittel verteidigen muß, die ihrer Natur nach inhuman sind. Der liberale Humanismus kann mit tragischer Notwendigkeit innenpolitisch den Liberalismus und außenpolitisch den Humanismus opfern. Wenn er beides vermeiden will, kann es sogar geschehen, daß er sein eigenes absolutes Element aufgeben muß und praktisch wie theoretisch dem totalen Relativismus verfällt. Die Vereinigten Staaten kämpfen heute ernsthaft gegen die drohende kulturelle und moralische Auflösung an. Den Anhängern des liberalen Humanismus wird der Kampf dadurch erschwert, daß auf ihrer Seite auch solche stehen, die nicht an den liberalen Humanismus glauben und sich dem Kampf zur Förderung eines neuen absoluten Nationalismus verschrieben haben, der dem ähnelt, gegen den Amerika im 66

Namen der Freiheit und der Humanität zu Felde gezogen ist. Solche unerwünschten Verbündeten treiben die Verteidiger des liberalen Humanismus in die entgegengesetzte Richtung, nämlich in einen extremen Relativismus. Ich hoffe, daß ich mit dieser Analyse ein Problem beschrieben habe, das mich ebensosehr bewegt wie die jüngere Generation, für diese aber noch wichtiger ist, denn es ist ihr Schicksal, das in diesen Konflikten entschieden wird.

Kann eine besondere Religion universalen Anspruch auf Absolutheit erheben? Nach diesem Exkurs über die Quasi-Religionen kommen wir nun zu einer Frage, die sich Ihnen gewiß schon aufgedrängt hat: Wenn sich in der Religion das Absolute-Selbst, der Grund aller absoluten Faktoren, manifestiert, gibt es dann vielleicht eine Religion, die vor allen anderen Religionen Absolutheit für sidi beanspruchen kann? Tatsächlich haben die meisten großen Religionen diesen Anspruch erhoben und erheben ihn nodi immer, vor allem das Christentum, der Islam und die jüdische Religion. Andere Religionen haben sich für absolut nur innerhalb eines beschränkten Kulturbereidies erklärt. Ich nenne diese letzteren die Lieblinge der Anthropologen, denn diese sind immer glücklich, wenn sie eine Religion mit der Kultur irgendeiner entfernten pazifischen Insel identifizieren und so ihrer eigentlichen Bedeutung berauben können. Aber unter diesen Religionen finden sich auch große Religionen, die nur nie missioniert haben, wie der Schintoismus in Japan, der Hinduismus in Indien und der Konfuzianismus in China. Diese haben niemals universale Geltung beansprucht, sondern nur Geltung für ihren Kulturbereidi; sie repräsentieren das Phänomen einer partikularen Absolutheit, die sich mit ihrer Partikularität zufriedengibt und nicht versucht, über sie hinauszugehen. Diesen beiden Religionsgruppen steht eine andere Religion gegenüber, die vor allem in negativer Hinsicht wichtig ist, nämlich der Buddhismus. Im ursprünglichen Buddhismus gibt es keine Götter; in seiner späteren Entwicklung jedoch erkennt er Verkörperungen des Buddha-Geistes an und kann, wie seine Vertreter behaupten, auch prophetische Gestalten wie Moses, Jesus und Mohammed in sich aufnehmen. Dies erscheint wie eine radikale Selbst-Relativierung, ist es aber nicht; denn die Aufnahme fremder göttlicher Wesen ist nur möglich, weil diese, indem sie dem Buddhismus einverleibt werden, ihre ursprüngliche Bedeutung verlie67

ren. Innerhalb ihrer eigenen Religionen sind sie konkrete Verkörperungen des positiven und exklusiven Absoluten und nicht relative Manifestationen des Geistes, der in Buddha lebte und immer wiederkehren kann. Unsere Frage betrifft also Religionen, die Absolutheit für eine besondere Offenbarungserfahrung beanspruchen: Judentum, Christentum und den Islam. Die sektiererischen Bewegungen, die es in anderen Religionen gibt, sind anderen Ursprungs und beanspruchen keine absolute Gültigkeit für sich. Außerdem gibt es synkretistisdie Religionen wie den Bahaismus, der dadurch allumfassend sein will, daß er Elemente aus vielen Religionen in sich aufnimmt, aber kein eigentlich neues Grundprinzip aufstellt. Es sind die drei Israel entstammenden Religionen, die uns vor die Frage stellen, ob eine besondere Religion universalen Anspruch auf Absolutheit erheben kann. Der Kampf der Propheten gegen die Abgötterei hat diesen Ansprudi zu einem allgemeinen Problem gemacht. Der exklusive Monotheismus, wie er sich im Alten Testament findet, ist seinem Wesen nach absolutistisch. Er mußte exklusiv sein, weil er einen ungeheuren Kampf gegen die Abgötterei, das heißt gegen die dämonische Erhebung eines Endlichen zum Göttlichen, zu kämpfen hatte. Die Abgötter, gegen die er kämpfte, vertraten einen endlichen Bereich, ein besonderes Land oder Volk oder waren Vergottungen von Elementen wie Wasser und Luft, von Funktionen des menschlichen Geistes oder von spezifischen menschlichen Tugenden wie Weisheit, Macht, Gerechtigkeit. Gegen diese Erhebung einzelner Bereiche zu göttlichen Wesen kämpften die Propheten für die Absolutheit des Absoluten. Man darf das Problem von Monotheismus und Abgötterei nidit entwerten, indem man es als eine Frage der Zahl betrachtet. In dem Kampf gegen die Abgötterei ging es nicht darum, daß der eine Gott der Vielheit von Göttern als überlegen entgegengestellt wurde, sondern darum, daß der eine Gott das Absolute, Unbedingte, Letzt-gültige repräsentierte. Das Ergebnis dieses Kampfes war, daß die Absolutheit des Absoluten anerkannt wurde und einzelne absolute Elemente zu Attributen des einen Absoluten reduziert wurden und daß besondere Tugenden wie Wahrheit und Gerechtigkeit zu Attributen des Göttlichen wurden. Als solche erhielten sie dann universale Gültigkeit, so daß Gott sogar sein auserwähltes Volk verwerfen kann, wenn es gegen die Gerechtigkeit verstößt. Dieses einzigartige Ereignis, daß das Volk, das die Absolutheit des Absoluten repräsentiert, von dem Absoluten-Selbst verworfen wird, ist die größte innerreligiöse Manifestation des Absoluten. Deshalb kann die Bibel nicht ohne das Alte Testament und ohne den Kampf der Propheten auskommen. 68

Aus alledem geht hervor, daß der innerreligiöse Kampf des Absoluten gegen das Relative, das für sich Absolutheit beansprucht, eine Notwendigkeit ist. Er erscheint überall in der Geschichte und besonders in der Religionsgeschichte als der Kampf Gottes gegen die Religion. In jedem Menschen ist eine Neigung zur Abgötterei vorhanden, und in der Religion ist diese Neigung besonders stark. Der Versuch der Jünger, Jesus als Abgott zu gebrauchen, und Jesu Widerstand gegen diesen Versuch ist eines der Hauptthemen des Neuen Testaments. Daß Jesus dieser Versuchung widerstanden hat, gibt dem Christentum im Prinzip das Kriterium gegen sich selbst an die Hand, und dadurch, daß es in sich selbst das Kriterium besitzt, kann es zum Kriterium für alle anderen Religionen werden. Das Christentum darf seine Funktion als Kriterium jedoch nicht ausüben, indem es anderen Religionen ihre Gültigkeit bestreitet oder sie als »falsche Religionen" verwirft, sondern es muß in der Begegnung mit ihnen diese zu dem Punkt führen, an dem sie selbst über sich urteilen können. Jede Religion hat eine Tiefendimension, die jedoch durch ihre Konkretheit verdeckt ist. In den meisten Religionen wird ein Kampf gegen die Verzerrung des Absoluten gekämpft, und als Ergebnis eines soldien Kampfes haben sich die großen mystischen Religionen des Ostens entwickelt. Aber in keiner Religion ist der Kampf jemals radikal genug gewesen, um das Absolute vollkommen von seinen Verzerrungen zu befreien. Deshalb dürfen wir in dem Dialog mit den Anhängern anderer Religionen nicht versuchen, diese zu bekehren, sondern müssen versuchen, sie in die Tiefe ihrer eigenen Religion zu führen, in der sie dem Absoluten begegnen und erkennen, daß ihre Religion selbst nicht das Absolute ist. Aus dieser Einsicht folgt erstens, daß der Anspruch einer Religion auf Absolutheit nur der Anspruch sein darf, daß sie das Absolute mit relativen und endlichen Mitteln bezeugt. Die Religion ist nur ein Mittel. Je mehr sie dieses im Sinne ihrer essentiellen Natur gebraucht, um so mehr weist sie über sich hinaus auf das hin, von dem sie Zeugnis ablegt und dessen Manifestation sie ist. Zweitens darf sich die Beziehung zwischen den Religionen nidit in erster Linie auf den Versuch zur Bekehrung gründen, sondern muß ein Versuch sein, in der gegenseitigen Begegnung, gebend und nehmend zugleich, zu der Tiefe der Religion durchzudringen bis zu dem Punkt, an dem die Begegnung mit dem Heiligen-Selbst uns von der Bindung an eine besondere Manifestation des Heiligen befreit. Aus einem solchen Dialog mag sich ein Übertritt von einer Religion zu einer anderen ergeben, aber das ist nicht sein Zweck. Und sdiließlidi drittens: Die Beziehung der Religio69

nen zu der säkularen Welt und dem Säkularismus muß von beiden Seiten her geändert werden. Die Religion darf die Unabhängigkeit der anderen Funktionen des menschlichen Geistes — der Kunst, der Wissenschaft, des Rechts, der Gesellschaft und des Staates — nicht antasten; sie darf sich nidit in deren Tätigkeit einmischen und diese zu beherrschen versuchen. Andererseits muß die säkulare Welt das Recht der Religion achten, sich auf das Unbedingte-Selbst zu richten und die Erfahrung des Heiligen in ihrer eigenen Sprache und in besonderen Formen zum Ausdruck zu bringen. Der Kampf um das Absolute in der säkularen Welt vollzieht sich innerhalb des säkularen Bereiches selbst und ist ihm nicht von irgendwelchen religiösen Bestrebungen aufgezwungen. Er ist die Reaktion auf einen Zustand, dem die Sinnstruktur fehlt. Die Religionen müssen diesen Kampf anerkennen und dürfen ihn nicht durch anmaßenden Absolutismus ersticken. Sie müssen auf alle hören, die die Frage nach dem Absoluten, gleich ob innerhalb oder außerhalb der Kirche, mit unbedingtem Ernst stellen.4 Die Suche des Menschen nach dem Grund des Seins In diesen drei Kapiteln habe ich etwas von dem zu beschreiben versucht, was uns heute alle bewegt. Ich habe von Relativitäten gesprochen, von der Flut, von der wir umgeben sind und in der wir nach einem Absoluten suchen. In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts war das Verlangen nach einem Absoluten in der europäischen Jugend so stark, daß sie jedem folgte, der ihr ein Absolutes zu geben versprach, wenn es auch ein dämonisches Absolutes war. Wenn es aber so ist, daß der Mensch nicht ohne etwas leben kann, das er unbedingt ernst nehmen kann, wie er es auch nennen mag, dann sollten wir in unserer liberal-humanistischen Kultur nach einem solchen Absoluten suchen, freilich ohne den Fanatismus und die Verzweiflung, die die damalige Jugend in Europa zur Tat antrieb und schließlich zu der weitgehenden Zerstörung des ganzen Kontinents führte. Wir sollten es tun, solange es noch nicht zu spät ist, und wir sollten dabei theoretisches Verstehen mit praktischem Handeln verbinden. Und wir sollten es in dem Bewußtsein tun, daß wir selbst uns des letzten Sinns in unserem Leben stärker vergewissern müssen. 4 Der letzte Absatz ist einem ersten Entwurf entnommen; er findet sidi nidit in dem Vortrag selbst, ist aber in die amerikanische Ausgabe, wenn auch an etwas anderer Stelle, aufgenommen.

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D I E R E L E V A N Z DES PFARRAMTS F Ü R DIE H E U T I G E ZEIT UND SEINE THEOLOGISCHE GRUNDLAGE

I. Die Frage, die ich erörtern soll, lautet: Was für eine allgemeine theologische Weltauffassung ist erforderlich, um das Pfarramt für die heutige Zeit wieder einigermaßen relevant zu machen? Das ist in der Tat eine wichtige, weitreichende, aber auch äußerst schwierige Frage. Wir wollen zuerst die Voraussetzungen, auf denen diese Fragestellung beruht, betrachten. A m offensichtlichsten ist die Voraussetzung, daß das Pfarramt heute nicht relevant ist. Weniger offensichtlich, aber doch vorhanden, ist die Voraussetzung, daß das Pfarramt in unserer Zeit wieder relevant werden kann, zumindest „einigermaßen". Dieses „einigermaßen" bringt eine tiefe Skepsis über die Möglichkeiten zum Ausdruck, das Pfarramt wieder so relevant zu machen, wie es nach seinem eigenen Urteil sein sollte. Weiterhin setzt die so formulierte Frage den Glauben voraus, daß ein besonderer T y p der Theologie gefunden werden könnte, der das Pfarramt wieder relevant machen oder zumindest dazu beitragen könnte. Ich will von vornherein sagen, daß ich diese Voraussetzungen annehme, wenn auch mit gewissen Modifikationen. Als Träger dgr christlichen Botschaft können Pfarrer niemals völlig irrelevant werden aus dem einfachen Grund, daß die christliche Botschaft niemals völlig irrelevant werden kann. Wäre das nicht der Fall, so wäre die Frage, wie das Pfarramt wieder relevant werden kann, von keiner größeren Bedeutung als etwa die Frage, wie eine überholte Mode wieder relevant gemacht werden könnte — im Interesse des Fabrikanten. (In diesem Fall nimmt der Fabrikant die Stelle des Pfarrers ein.) Deshalb setzt eine ernsthafte Erörterung unserer Frage die Annahme voraus, daß das Pfarramt, da es die christliche Botschaft verkündet, für eine Sache von letztgültiger Bedeutung eintritt, für etwas, das von dem Wechsel der Denk- und Lebensgewohnheiten unabhängig ist. Daß dies der Fall ist, ist meine Uberzeugung, und auf dieser Grundlage kann ich die mir gestellte Frage als eine erörternswerte Frage ernst nehmen.

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Ich muß nodi eine weitere Modifikation machen. Es ist nicht wahr — und wird audi nidit für wahr gehalten —, daß das Amt des Pfarrers heute völlig irrelevant geworden ist. Viele Menschen gehen nicht nur regelmäßig in die Kirche, sondern sind sich dank der Anleitung ihres Pfarrers und seiner Auslegung der christlichen Botschaft auch der existentiellen Bedeutung der Andacht bewußt. Selbst der Durchschnittsmensch aus der Vorstadt, der den Sonntagsgottesdienst besucht, ist nicht nur und nicht immer ein Vertreter der Vorstadtkonformität. Er wird gelegentlich von einem besonderen Gottesdienst ergriffen und verwandelt. Selbst ein Pfarrer, der kein guter Prediger ist, kann durch die Liturgie und durch sein Wesen die Botschaft für gewisse Menschen relevant machen. Nachdem idi diese zwei Einschränkungen gemacht habe, kann ich der skeptischen Zurückhaltung in der Fragestellung zustimmen, dem „einigermaßen" und der Annahme, daß die Theologie entschieden zu einer stärkeren Relevanz des Pfarramts beitragen kann. U m diese Frage zu beantworten, müssen wir zuerst die Gründe erörtern, die dazu beigetragen haben, das Pfarramt für die heutige Zeit weitgehend irrelevant zu machen. Eine Sache kann aus zwei Gründen irrelevant werden: entweder weil sie in ihrer Relevanz nicht verstanden wird oder weil sie keine wesentliche Beziehung zu dem hat, für das sie relevant sein will. Aus diesem zweiten Grund finden viele Menschen das Amt des Pfarrers irrelevant für sie selbst oder für unsere Zeit im allgemeinen. Nach ihrer Meinung hat der Pfarrer den heutigen Menschen nichts wesentlich Bedeutendes zu sagen. Wenn man jedoch annimmt, daß das Pfarramt wieder relevant werden kann, muß man diese Ansicht verwerfen und die erste Alternative annehmen, daß das Pfarramt irrelevant geworden ist, weil es in seiner Relevanz nicht mehr verstanden wird. Mit diesem Problem also müssen wir uns beschäftigen. Das Amt des christlichen Pfarrers wird nicht nur von Außenstehenden, sondern auch von Menschen innerhalb der Kirche nicht mehr in seiner Relevanz verstanden. Jene bestreiten, daß das Pfarramt irgendeine Art von Relevanz besitzt; diese sehen die Relevanz an einer falschen Stelle. Aber beide sind von der kulturellen Entwicklung abhängig, die die Vorstellung vom christlichen Pfarramt grundlegend verändert hat. Ich spreche hier als Protestant und bin mir bewußt, daß die Lage in der katholischen Kirche anders ist, weil Rom sich dem Laienprinzip widersetzt hat, das gleichzeitig in der Renaissance und der Reformation in Erscheinung trat und heute Säkularismus wie Protestantismus gleichermaßen beherrscht. Es wird freilich einzelne 72

Katholiken geben, die selbständig über dieses Problem nachdenken, aber kaum ein theologisches Anliegen daraus machen. Unser Problem ist also die Frage der Relevanz des Pfarramts für die säkulare Welt wie f ü r den Protestantismus, insoweit er unter dem Einfluß des Säkularismus steht. Denn es war nicht der Protestantismus als solcher, der das Pfarramt irrelevant gemacht hat. Das Prinzip der Priesterschaft aller Gläubigen hat die hierarchische Stellung des Pfarrers beseitigt, d. h. die Priesterschaft als ein besonderes, sakramental geheiligtes Amt, aber die Funktion des Pfarrers hat es nicht beseitigt. Im Gegenteil, es hat dem Pfarrer die höchste Funktion zugesprochen, die der Protestantismus kennt, nämlich das „Wort" zu predigen, was die Spendung der Sakramente mit umfaßt wie im Calvinismus die Übung der Zucht. Allerdings kann im Protestantismus jeder christliche Laie im Prinzip diese Funktion ausüben, wenn dies auch in der Kirche gewöhnlich nicht geschieht. Aber sobald er das tut, handelt er eben als Pfarrer, und das Problem der Relevanz des Pfarramts gilt ebenso für ihn wie für den beamteten Pfarrer. Das ist ein besonders wichtiger Punkt für die beratende Funktion des Pfarrers, d. h. für die Seelsorge. Jeder Christ, der Psychotherapeut eingeschlossen, kann Priester für einen anderen Christen sein. Es ist nicht die Aufgabe des Psychotherapeuten, Priester zu sein, aber er kann durch seine Fähigkeit als Arzt und durch seine Persönlichkeit seinen Patienten seelische Hilfe leisten. In diesem Fall gilt das Problem der Relevanz des Pfarramts für ihn ebenso wie f ü r den ordinierten Pfarrer. N u r darf er seine therapeutische Hilfe nidit mit seiner priesterlichen verwechseln. Wenn wir voraussetzen, daß es die eigentliche Aufgabe des Pfarrers ist, das „Wort Gottes" zu verkünden, zu predigen, zu lehren und in der persönlichen Beratung zu übermitteln, ist es keine Frage, daß das Pfarramt für jeden Menschen relevant ist, denn das „Wort Gottes" bedeutet die Manifestation dessen, was uns unbedingt angeht, und gewiß kann nichts größere Relevanz f ü r den Menschen haben als das, was ihn unbedingt angeht. Wenn nun trotz dieser Voraussetzung das Pfarramt irrelevant geworden ist, so kann das nur bedeuten, daß die Mehrzahl der Pfarrer das „Wort Gottes" nicht so predigen und lehren, daß es von den heutigen Menschen als Sache eines unbedingten Anliegens verstanden und aufgenommen werden kann. Unsere Betrachtungen müssen sich also auf die Tatsache riditen, daß das Pfarramt seine Relevanz verloren hat, weil es die christliche Botschaft, die eine Sache unseres unbedingten Anliegens ist, nicht als eine Sache unseres unbedingten Anliegens, d. h. religiös gesprochen, als „Wort Got73

tes" übermitteln kann. Der Grund f ü r diese Situation liegt nicht darin, daß die heutigen Pfarrer geistig oder geistlich weniger fähig wären als die Pfarrer früherer Zeiten; ich möchte im Gegenteil darauf bestehen, daß sie fähiger und in mancher Hinsicht denen gewisser Zeiten sogar weit überlegen sind. Trotzdem hat das Pfarramt für viele Menschen unserer christlichen Zivilisation seinen Sinn verloren, weil es viele Pfarrer nicht verstanden haben, zu den Menschen einer weitgehend säkularisierten Welt so zu sprechen, daß sie das Gefühl haben: die Botschaft betrifft mich unendlich, sie ist für mich eine Angelegenheit von Sein oder Nichtsein. Diese Irrelevanz besteht trotz der Tatsache, daß es viele hochgebildete, fromme, theologisch gelehrte Menschen mit sozialem Gewissen und moralischem Verantwortungsbewußtsein im Pfarramt gibt. Aber zusammen mit den weniger hervorragenden Vertretern ihres Berufs leiden sie unter ernsten und fast unlösbaren Konflikten, vor die sie die Begegnung mit einer säkularisierten Welt innerhalb wie außerhalb der Kirchen stellt. II. Es gibt Versuche, das Pfarramt relevant zu machen, die ich als Pseudo-Relevanz des Pfarramts bezeichnen möchte. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Funktionen selbst, die in diese Kategorie fallen, irrelevant sind, sondern daß sie nicht geeignet sind, das Pfarramt als solches relevant zu machen. Die sozialen, politischen, pädagogischen und psychotherapeutischen Betätigungen der Pfarrer, die hier gemeint sind, sind alle wichtig im Leben, aber keine von ihnen macht den Pfarrer als Pfarrer relevant. Es ist nicht unwichtig, daß es Gemeinden gibt, die unter der Leitung des Pfarrers Menschen, die andernfalls einsam wären, Gemeinschaft mit anderen ermöglichen. Es ist nicht unwichtig, daß die Gemeinde für Gelegenheit sorgt, wo Menschen in einer Atmosphäre christlichen Geistes zusammen essen, spielen, sich unterhalten und tanzen können. Aber was den Sinn des Pfarramts betrifft, haben alle diese Unternehmungen nur PseudoRelevanz. Sie neigen dazu, die Grundlage für die Relevanz des Pfarramts zu verdecken. Sie machen den Pfarrer zum Leiter eines gesellschaftlichen Vereins und hindern ihn daran, sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die ihn relevant machen könnte, nämlich auf die Verkündung und Verkörperung der Botschaft von der Neuen Wirklichkeit. Eine andere Form von Pseudo-Relevanz des Pfarramts ist seine politische Betätigung. Auch hier müssen wir betonen, daß es wichtig ist, daß sich die Stimme der Kirche in öffentlichen Angelegenheiten hören 74

läßt. Es gehört zu den Nachteilen der kontinental-europäischen Kirchen, daß sie diese Verantwortung vernachlässigt haben und noch immer vernachlässigen. Aber wenn sich die Kirche den Aufgaben politischer Organisationen widmet, so muß sie das als Kirche tun. Die Relevanz des Pfarramts liegt nicht in seinen politischen Äußerungen, wie wertvoll sie auch sein mögen, sondern darin, daß es die Quelle verkörpert, aus der solche Äußerungen entspringen sollen. Wenn die Kirchen unter der Leitung ihrer Pfarrer als politische Gruppen agitieren, so tun sie nichts anderes, als was andere Gruppen auch tun können, während keine andere Gruppe die Kirche ersetzen kann. Die Kirche und ihre Pfarrer haben Relevanz für unsere Zeit nur, wenn sie die Neue Wirklichkeit, auf der sie gegründet sind, verkörpern und predigen. Selbst seine erzieherischen Bemühungen können das Pfarramt nicht als Pfarramt relevant machen. Ein Pfarrer kann einen guten R u f als Erzieher haben, etwa als R e k t o r einer Universität oder als Vorsitzender eines pädagogischen Verbandes. Aber das macht ihn nicht als Pfarrer relevant. E r kann aufgrund seiner beruflichen Qualitäten, die er zum Teil seinem Amt verdankt, eine wichtige Rolle spielen. Aber die Relevanz des Pfarramts ist nicht durch das Vorhandensein dieser Qualitäten bestimmt. Als Pfarrer verkörpert er die Neue Wirklichkeit, aus der er oder andere Prinzipien für die Erziehung gewinnen können. Das gilt selbst für den Religionsunterricht. Der Pfarrer mag in diesem Beruf einen Beitrag zur allgemeinen Erziehung liefern, in der alle Fächer eine gewisse Relevanz für den Schüler haben sollen. Aber wenn der Pfarrer nichts weiter als dieses Ziel erreicht, kann er durch irgendeinen anderen Religionslehrer ersetzt werden. N u r wenn es ihm gelingt, junge oder auch ältere Menschen in die Wirklichkeit des christlichen Lebens einzuführen, besitzt er Relevanz als Pfarrer. Was wir über die Pseudo-Relevanz des Pfarramts gesagt haben, bezieht sich auch auf das neue und äußerst wichtige Verhältnis des Pfarramts zur Psychiatrie und den vielen Arten psychologischer Hilfeleistung. Es kann für geistig gestörte oder kranke Patienten von großem Vorteil sein, wenn der Pfarrer mit dem Psychotherapeuten zusammen für seine Heilung arbeitet. Und zumindest in einigen Fällen kann der theologisch und psychologisch ausgebildete Pfarrer mehr sehen als der Psychotherapeut allein. Aber selbst wenn diese Fälle häufiger wären, so wäre damit noch nicht die Relevanz des Pfarrers als Pfarrer erwiesen. N u r wenn ihm seine Einsicht in psychologische Probleme dazu verhilft, seine Pflicht als Seelsorger besser auszuüben, kann sie zur Relevanz des Pfarramts als Pfarramt beitragen. Denn 75

als Pfarrer versucht er, die Heilkraft der christlichen Botschaft zu verkünden, die Versöhnung des Entfremdeten und Wiedervereinigung des Getrennten ist. Die Relevanz des christlichen Pfarramts muß abnehmen, wenn sich viele von unseren jüngeren Pfarrern nicht nur als Leiter von Vereinen, als politische Agenten und Erzieher, sondern auch als psychotherapeutische Amateure betätigen. Zweifellos stehen wir heute vor dieser Gefahr. III. Das christliche Pfarramt ist heute relevant, insoweit es fähig ist, die Botschaft von der Neuen Wirklichkeit als Antwort auf die mit der menschlichen Existenz gegebenen Fragen zu verkünden. Das ist jedoch eine Aufgabe von fast unüberwindbarer Schwierigkeit, die nicht zu lösen wäre, wenn sie einzig vom guten Willen der Pfarrer und Theologen abhinge. Aber das ist nicht der Fall: die Geschichte schließt und öffnet Türen. Sie hat das Problem der Irrelevanz des Pfarrers geschaffen, und nicht die unvermeidlichen Schwächen und Irrtümer der Pfarrer, Theologen und Kirchenführer. Und sie ist es auch, die den Kirchen Gelegenheit gibt, die Relevanz des Pfarramts wiederherzustellen. Aber um von dieser Gelegenheit Gebrauch zu machen, müssen Theologen und Pfarrer sie erkennen und den Mut haben, sie wahrzunehmen. Das ist keine Unmöglichkeit; die Kirche hat viele Perioden einer Beinahe-Irrelevanz überlebt, weil zumindest einige wenige von ihren Gliedern die Lage erkannt haben und von der geistigen Macht der christlichen Botschaft dazu angetrieben wurden, eine schöpferische Lösung zu finden. Die Entwicklung einer unabhängigen weltlichen Kultur im Abendland hat das Amt des Pfarrers an den Rand der Gesellschaftsstruktur gedrängt. Im Leben und Denken der industriellen Gesellschaft bildet die christliche Botschaft einen Fremdkörper. Es gibt viele gute Analysen dieser Situation in soziologischer, psychologischer und philosophischer Sprache. Sie alle machen dasselbe deutlich: Die moderne säkulare Kultur konzentriert sich auf die Untersuchung und Manipulierung von Dingen und ihrer Beziehung innerhalb des bekannten Universums. Sie transzendiert die berechen- und regulierbare Welt nicht, sondern lebt und denkt innerhalb ihrer Grenzen. Gleich ob man sich mehr mit der Natur und ihrer technischen Nutzbarmachung beschäftigt oder mit dem Menschen und der Entwicklung seiner Potentialitäten, ob man mehr naturwissenschaftlich oder mehr humanistisch interessiert ist, in keinem Fall überschreitet man in irgendeiner Richtung die Grenzen der Totalität endlicher Dinge. Meta76

phorisch gesprochen könnte man sagen, daß die Dimension der Tiefe und Höhe für die horizontale Dimension geopfert wird. Man blickt weder nach unten noch nach oben, sondern nach vorne und schreitet in allen Richtungen vorwärts. Die christliche Botschaft kommt jedoch aus der vertikalen Dimension und versucht, den Mensdien auf die Richtung der Tiefe und Höhe zu lenken. Wo sie vernommen wird, erschüttert sie das Universum endlicher Dinge. Aber sie wird nicht mehr vernommen, weil der von der Industriegesellschaft geprägte Mensch sich gegen den Angriff aus der vertikalen Dimension verschließt, der Dimension des unbedingten Sinns und Seins. Nur wenige wie Holbadi im 18., Nietzsche im 19. und Russell im 20. Jahrhundert verwerfen die christliche Botschaft oder die Religion im allgemeinen ausdrücklich; die Mehrheit verschließt sich ihr durch Methoden, die die Religion irrelevant werden lassen. Entweder wird das Christentum als Ventil für das Gefühlsleben oder als nützliche gegen-revolutionäre Ideologie geduldet, oder es wird benutzt, um die bestehende Zivilisation mit ihrer konventionellen Moral zu unterstützen, oder es dient als Zierrat für das allzu nüchterne Gebäude des täglichen Lebens. Außerdem gibt es feinere Arten, von ihm Gebrauch zu machen, die wir in der Beschreibung der Pseudo-Relevanz des Pfarramts erwähnt haben. Im Gegensatz zu diesen indirekten Versuchen, das Pfarramt und seine Botschaft irrelevant zu machen, gibt ihm seine direkte Verwerfung zumindest eine negative Relevanz, was die Wendung zu einer positiven Relevanz erleichtert. IV. Unsere nächste Frage ist: Wie verhält sidi die Kirdie selbst zu der weltlichen Kultur, die sie zur Irrelevanz verdammt hat? Sie hat zwei Wege eingeschlagen, um relevant zu bleiben, die beide als Mißerfolg betrachtet werden müssen: sie hat die weltliche Kultur radikal verworfen, und sie hat sich ihr radikal angepaßt. Das kann man sowohl im Leben wie im Denken der Kirdie verfolgen. Uns interessiert hier das Letztere, die Botschaft, die der Pfarrer den Menschen unserer Zeit nahe zu bringen versucht. Wir müssen also die Relevanz im Denken der Kirdie betrachten. Die Alternative: Bewahrung oder Anpassung ist das große Problem seit der Entwicklung der Industriegesellsdiaft und ihrer weltlichen Denkformen. Für Bewahrung treten hauptsächlich die Orthodoxie in Europa und der Fundamentalismus in Amerika ein, für Anpassung der theologische Humanismus oder die liberale Theologie auf beiden Kontinenten. 77

Beide Versuche sind z u m Teil f ü r die gegenwärtige Irrelevanz des Pfarramts verantwortlich. Die Bewahrung macht die christliche Botschaft unzugänglich, die Anpassung macht sie überflüssig. U m sie zugleich zugänglich u n d sinnvoll zu machen, m u ß ein anderer Weg gef u n d e n werden. Wer v o n der christlichen Botschaft ergriffen ist, m u ß davon überzeugt sein, daß ihre Macht selbst sich einen Weg durch das Dickicht der gegenwärtigen Verwirrungen und Verzerrungen dieser Botschaft bahnen wird, einen Weg, der die Nachteile der beiden anderen Wege vermeidet. Er nimmt an, daß, wenn Jesus zurecht der Christus genannt wird, der logos, d. h. das Prinzip der göttlichen Selbst-Manifestation, es keine Zeit in Vergangenheit u n d Z u k u n f t geben kann, in der die christliche Botschaft irrelevant wäre. Auf der Basis dieser Überzeugung will ich einige Beispiele geben, in denen ich diesen dritten Weg beschreibe, der weder der Weg der Bewahrung noch der der Anpassung ist. V. Die Macht des Menschen, die gegebene Welt in allen Richtungen zu transzendieren, ändert nichts an seiner Endlichkeit, obwohl sie häufig dazu gebraucht wird, die Nacktheit seiner Endlichkeit zu verdecken. Der Mensch erfährt seine Endlichkeit als Antizipation seines Todes, als Unsicherheit u n d die immer gegenwärtige Gefahr des Leidens, als U n r u h e seines inneren u n d äußeren Lebens, als Verlassenheit in Gesellschaft u n d u n t e r Freunden, als Angst v o r dem Nicht-Sein u n d dem Sein. Wenn der Pfarrer die ersten W o r t e des Apostolischen Glaubensbekenntnisses spricht „Ich glaube an Gott, den Vater, den Allmächtigen, Schöpfer des Himmels und der Erde", so soll er sie, wenn er sie f ü r seine Gemeinde relevant machen will, zu der N o t der menschlichen E n d lichkeit in Bezug setzen. Er darf nicht den Eindruck erwecken, als ob er die Geschichte einer längst vergangenen Zeit erzähle, in der ein allmächtiges Wesen sich plötzlich entschlossen hätte, v o n seinen schöpferischen K r ä f t e n Gebrauch zu machen; er soll vielmehr auf die Fragen in den H e r z e n u n d Gedanken seiner Zuhörer hinweisen, auf die diese Worte eine Antwort enthalten. Die existentielle Lage aller Geschöpfe in Raum und Zeit wird erkannt und akzeptiert. U n d doch wird jedes einzelne Geschöpf als ein Wesen verstanden, das in einem schöpferischen Grund verwurzelt ist, aus dem es kommt und zu dem es zurückkehrt und von dem es erhalten und im Leben gelenkt wird. Die Gewißheit dieser Tatsache und der Mut, die Gewißheit dadurch aufrecht zu erhalten, daß man den unausweichlichen Zweifel in sie hineinnimmt, ist der Mut, aus dem die Worte des Glaubensbekenntnisses geboren sind. Diese 78

drücken den Mut zum Glauben aus und sind keine Lehren, an die man aufgrund einer Autorität glauben soll. Sie weisen auf das Ewige hin, worin wir die Kraft finden, die natürliche Angst vor dem Tode zu ertragen. Sie zeigen uns ein All-Gegenwärtiges, das unsere geschöpfliche Verlassenheit in Einsamkeit und in universale Gemeinschaft mit dem Ewigen verkehrt. Sie beantworten die Fragen, die das Leiden und das Rätsel der Ungleichheit aufwerfen. Sie strömen eine Ruhe aus, die die Unruhe des Herzens nicht aufhebt, aber transzendiert. Sie beantworten die Fragen, die das Leiden und das Rätsel der Ungleichheit aufwerfen, aber nicht, indem sie diese als moralische oder erzieherische Notwendigkeit erklären, sondern indem sie auf ein ewiges Schicksal für alle Geschöpfe hinweisen. Eine solche Botschaft war und ist relevant und wird es bleiben, solange Menschen Menschen sind. Aber sie muß von dem dogmatischen und rituellen Staub befreit werden, der sie bedeckt und für Pfarrer und Gemeinde gleichermaßen unzugänglich gemacht hat. VI. In Glaubensbekenntnissen, Kirchenliedern und Gebeten steht im Mittelpunkt des Christentums „Jesus als der Christus". Unzählige Male gebraucht der Pfarrer die Worte „Jesus Christus" und betont dabei entweder das Christus-Element in dem Namen, wenn es ihm um die Bewahrung des Christentums gegen die säkulare Welt geht, oder das Jesus-Element, wenn es ihm um Anpassung an die säkulare Welt zu tun ist. In keinem der beiden Fälle gelingt es ihm, die Worte „Jesus Christus" für seine teilweise oder völlig verweltlichten Hörer relevant zu machen. Unter Christus verstehen die meisten von ihnen ein halbgöttliches Wesen, das als der Mensch Jesus von Nazareth vom Himmel auf die Erde kommt, das Werk der Erlösung vollzieht und zu dem Platz zurückkehrt, von dem es kam. Dieser Mythus ist den Zuhörern so fremd, daß sie nicht nur seinen wörtlichen Sinn verwerfen, sondern audi seine symbolische Kraft nicht anerkennen, nachdem er von seiner wörtlichen Bedeutung befreit ist. Ist es möglich, die Verbindung des Menschen Jesus von Nazareth mit dem alten Symbol des Gesalbten (des Messias oder des Christus) dem verweltlichten Geist unserer Gesellschaft sinnvoll und relevant zu machen? Bestimmt ist es nicht möglich, wenn man das Christus-Element entfernt und das Jesus-Element durch die Betonung der Menschlichkeit Jesu zu erhalten sucht. Denn Jesus als Prophet oder Märtyrer ist kein Fundament, auf dem man Kirche und Pfarramt errichten kann. Seine Lehren allein konstituieren nicht die Botschaft der Versöhnung einer entfremde79

ten Welt und der Erscheinung der Neuen Wirklichkeit unter den Bedingungen der Existenz. Aber dies ist es gerade, wonach der heutige Mensch verlangt. Er ist sich nicht nur seiner Endlichkeit bewußt, sondern auch seiner Schuld und der Entfremdung von seinem wahren Wesen. Hinter der Fassade des weltlichen Humanismus verbirgt er eine quälende Sorge über ein Leben, das trotz seiner hohen Moralität weit entfernt von erfüllter Menschlichkeit ist. Psychotherapie und Beratung entdecken, wo sie es am wenigsten erwartet hätten, Schuldgefühle vielerlei Art, echte wie neurotische. Das führt zu der Frage, die im Mittelpunkt der christlichen Botschaft steht: Wie kann der innere Konflikt zwischen dem Guten, das man will, und dem Bösen, das man nicht will, gelöst werden? Der Pfarrer darf nicht versuchen, diese Frage zu beantworten, indem er ihrer Ernsthaftigkeit aus dem Weg geht. Darin würde er zwar nicht wie der Psychoanalytiker vorgehen, der den Unterschied zwischen echten und neurotischen Schuldgefühlen verwischt und alle Schuldgefühle von neurotischen Störungen ableitet. Aber der Pfarrer antwortet nicht selten mit moralischen Ratschlägen auf ein Schuldbekenntnis, — etwas, was kein Psychoanalytiker tun würde. Diese Haltung macht den Pfarrer für die heutigen Menschen weniger relevant, als es der Psychoanalytiker ist, und folglich fliehen die Menschen vom Pfarrer zum Psychoanalytiker. Das Amt des Pfarrers ist Versöhnung, und es ist ein trauriger Zustand, daß viele Menschen das Wort der Versöhnung nicht vom Pfarrer hören, sondern bei dem Psychologen suchen müssen. Moralpredigten helfen dem Menschen nicht in seiner Verzweiflung über sich selbst; sie treiben ihn nur noch tiefer in die Verzweiflung oder zu einem Kompromiß zwischen seinem tatsächlichen Sein und dem, was er sein sollte. Als Vertreter des moralischen Gesetzes hat der Pfarrer nur Pseudo-Relevanz; es fehlt ihm die Relevanz dessen, der die Botschaft der Versöhnung bringt. Zugegebenermaßen hängt dann alles von der Art ab, wie die Botschaft überbracht wird. Wenn in dem Versuch, das Christentum zu erhalten, die Symbole der Erlösung — das Kreuz Christi und die Auferstehung — in eine Sprache gekleidet werden, die der säkulare Geist nicht versteht, so kann das nur die Irrelevanz des Christentums bewirken. Die traditionelle liturgische Sprache ist in dieser Hinsicht besonders unangemessen und verdammt den Pfarrer, der sich ihrer bedienen muß, zur Irrelevanz. Dagegen kann der Mensch von heute eine ehrliche Beschreibung der menschlichen Situation verstehen, die Schuld und Verzweiflung beim Namen nennt, sowie eine Analyse der Situation, in der der Mensch gegen sich selbst steht, wenn dabei Be80

griffe wie Erbsünde vermieden werden. Das Verlangen nach einer heilenden Kraft ist selbst in Menschen, die sich Materialisten oder Humanisten nennen, tief verwurzelt. Eine Botschaft, die diese Lage beschreibt und dazu Belege aus der Bibel wie aus der Kulturgeschichte heranzieht, ist gewiß für unsere Zeit relevant. Sie kann die Frage, die in der Situation des Mensdien gegen sich selbst enthalten ist, formulieren, und sie kann das besser als der säkulare Geist, weil sie bereits die Antwort kennt, die den Hauptpunkt der christlichen Botschaft bildet, das Wort der Versöhnung. Umgekehrt jedoch ist die Form dieser Antwort von der Form der Frage beeinflußt. Sie weist auf die Erscheinung Jesu als des Christus hin, in dem die Neue Wirklichkeit der Versöhnung und der Heilung manifest ist. Diese Deutung der Gestalt Jesu als des Christus ist der säkularen Welt angemessen, die von der mythologischen Symbolik der klassischen Theologie nicht mehr angesprochen wird. Das Bild von dem „leidenden Knecht" sowohl im Alten wie im Neuen Testament kann den Menschen in jeder soziologischen und psychologischen Lage ergreifen. Es transzendiert alle theologischen Auslegungen und gibt allen ein Element der Wahrheit; es ist neuen Auslegungen offen und macht das Amt des Pfarrers relevant, wo immer von ihm gesprochen wird. Es hilft vielen, die Angst vor der Schuld zu überwinden, die von keiner theologischen Erklärung der Schuld wissen. Die Relevanz des Pfarramts wird nicht durch eine Theologie des Kreuzes gefördert, sondern durch das Bild von dem Gekreuzigten. Die schwierigste Aufgabe für den Pfarrer besteht darin, den Menschen unserer Zeit den Sinn der christologischen Symbolik klarzumachen. Viele wenden sich vom Christentum ab und mystischen Formen der Frömmigkeit zu, in mittelalterlicher, buddhistischer, hinduistischer und taoistischer Gestalt. Diese geben ihnen die Erfahrung der vertikalen Dimension, ohne sie an dogmatisch festgelegte Symbole zu binden, die ihren Stoff aus bestimmten historischen Ereignissen nehmen und aus dem Leben einer besonderen historischen Gemeinschaft stammen. Wenn der Pfarrer nicht zeigen kann, daß die Partikularität der christlichen Botschaft einen universal menschlichen Sinn hat, bleibt er für uns irrelevant. Dabei sei daran erinnert, daß bereits die klassische Theologie dasselbe Problem kannte und durch die Logoslehre zu lösen suchte. VII. Das auffälligste Problem der Gegenwart ist nicht das Verlangen nadi der Uberwindung der Angst, die mit Endlichkeit und Schuld verbun81

den ist, sondern die Überwindung der Sinnlosigkeit des Lebens. Das ist eine unmittelbare Folge des Säkularismus in dem Stadium der inneren Leere, und es ist das Problem, das den Pfarrer am meisten herausfordert. In diesem Punkt wird über Relevanz oder Irrelevanz des Pfarramts entschieden. Aber auch in diesem Fall bietet die Geschichte eine Hilfe an: sie hat den feinfühligsten Menschen unserer Zeit Einsicht in die N o t der heutigen Gesellschaft gegeben. Das bezeugen die existentialistische Kunst, Literatur und Philosophie. Ein Pfarrer, der von diesen Zeugen keine Kenntnis nimmt, verdammt sich selbst zur Irrelevanz; ein Pfarrer, der diese Zeugnisse unserer N o t aufgreift und ihre Beziehung zu den biblischen Schriften und zur christlichen Botschaft zeigt, kann für unsere Zeit höchst relevant werden. Wenn der Pfarrer — nicht nur in der Liturgie oder einmal im Jahr zu Pfingsten — vom Heiligen Geist spricht, so sollte er diesen Begriff mit den Problemen der Personhaftigkeit verbinden, die Existentialismus und Psychoanalyse beschreiben. Er sollte zeigen, daß dieses Symbol die Antwort auf tiefgründige Fragen enthält, die uns heute mehr denn je beschäftigen. Das Symbol vertritt die Dimension der Tiefe im geistigen Leben, religiös gesprodien, die Gegenwart des Göttlichen im Zentrum der menschlichen Person. Aber diese Antwort kann nur relevant gemacht werden, wenn sie mit den Einsichten in den Prozeß der personhaften Selbst-Integration des Menschen verbunden wird. 1 Wenn Begriffe wie Gerechtigkeit, Macht, Liebe, der Zusammenhang des Unterbewußtseins mit dem Bewußtsein im Menschen nicht erklärt werden, wenn die Strukturen der moralisdien oder konventionellen Verdrängung nicht verstanden werden, wenn die dämonischgöttliche Zweideutigkeit der Religiosität nicht beschrieben wird, wenn die Selbstverachtung und der Selbsthaß in der sogenannten Selbstliebe nicht gesehen wird und die äußerst schwierige, aber notwendige Selbstliebe im Sinne von Selbstannahme nicht betont wird, bleibt der 1

Wer mit Tillichs Lehre vom Leben und dem Geist, die er im III. Band seiner „Systematischen Theologie" darstellt, nidit vertraut ist, wird diese Andeutungen nicht verstehen. Gemeint ist, daß der Mensch vollkommene, wenn auch nur fragmentarische Selbst-Integration oder Zentriertheit (wie Tillich statt Ganzheit sagt) seiner Person nur erreichen kann durch die Gegenwart des göttlichen Geistes in ihm, der sein personhaftes Zentrum in die Einheit mit dem göttlichen Zentrum erhebt. In dieser Einheit findet der Mensch die Kriterien, die ihm ermöglichen, sein wahres Wesen, sein essentielles Sein zu verwirklichen. Mit ihrer Hilfe kann er beispielsweise beurteilen, was er zur Erfüllung seines Wesens in sich aufnehmen soll und was er ablehnen muß, weil es seine Person spalten würde. 82

Begriff des Heiligen Geistes ohne Relevanz. Ein Pfarrer, der sich dieser Probleme nicht bewußt ist und am Pfingstsonntag gleichwohl mit Leidenschaft von der Gabe des Heiligen Geistes predigt, ist heute irrelevant. Als letztes Beispiel will ich das Symbol vom Reich Gottes in seiner geschichtlichen und seiner übergeschichtlichen Bedeutung nennen. Das Amt des Pfarrers kann heute nicht relevant werden, wenn es das Reich Gottes — wie es in den letzten fünfzig Jahren oft geschehen ist — mit den Ergebnissen des wissenschaftlichen, technischen, politischen und pädagogischen Fortschritts identifiziert. Wie man diesen Fortschritt auch beurteilen mag, ihn die Verwirklichung des Reiches Gottes zu nennen, ist schlimmer als falsch, es ist überflüssig. Die religiöse Verherrlichung des Fortschritts durch die Theologie der Anpassung hat sich als verheerend für die Relevanz des Pfarramts erwiesen. Aber die Idee vom Reich Gottes wieder wie früher von der Geschichte zu trennen, würde sie für unsere Zeit ebenso irrelevant machen. Es überließe die Geschichte sich selbst, ohne an der Dimension des Ewigen teilzuhaben. Dieser Transzendentalismus würde dem Reich Gottes den dynamischen, kämpferischen, antidämonischen, innergeschichtlichen Charakter nehmen und es in einen statischen Himmel verwandeln, in den die Einzelseele einzugehen hofft. Die Frage nach dem Sinn der Geschichte und ihrer Beziehung zum Ewigen bliebe ohne Antwort. Das Symbol des Reiches Gottes wäre für die geschichtliche Existenz des Menschen irrelevant, und folglich wäre es irrelevant für eine Periode der Geschichte, in der die Frage nach dem Sinn unserer geschichtlichen Existenz vorherrschend ist. Über das Reich Gottes zu sprechen, dessen Nähe schließlich die fundamentale Botschaft des Neuen Testaments ist, ohne auf die Frage nach dem Ziel der Geschichte hinzuweisen, auf die tragische Zweideutigkeit aller geschichtlichen Ereignisse, die Mächte, die Chancen und Kräfte der Geschichte, die Beziehung des Einzelnen zur Geschichte, nimmt dem Amt des Pfarrers, nämlidi das Kommen des Reiches Gottes zu verkünden, die Relevanz. Viele Menschen, selbst innerhalb der Kirche, erwarten vom Pfarrer, daß er sie der Fortsetzung des zeitlichen Lebens nach dem Tode vergewissere und wieder vergewissere. Da dieser Glaube auch von vielen weltlich eingestellten Mensdien geteilt und von vielen moralischen, politischen und sogar wirtschaftlichen Interessen gefördert wird, kommt die Unterstützung dieser Propaganda durch den Pfarrer einer weiteren Form seiner Pseudo-Relevanz gleich. Aber die Lage ist ernster. Es ist die Funktion des Pfarramts, den verbreiteten Glauben 83

an die Unsterblichkeit der Seele zu verurteilen und durch den Glauben an das ewige Leben jenseits des geschichtlichen Prozesses zu ersetzen. Relevanz bedeutet in diesem Punkt mutige Kritik an einem egozentrischen Aberglauben; zugleich bedeutet sie eine Antwort auf die Frage der Endlichkeit, der Ungleichheit des Einzelschicksals, des Lebenssinnes und des Ziels der Geschichte. Alle diese Fragen sind zu jeder Zeit relevant, auch in der gegenwärtigen Zeit. Pfarrer, die zu diesen Problemen etwas zu sagen haben und den Antworten, die zu geben sie die geistige Macht haben, entsprechend leben, besäßen heute mehr Relevanz als irgendeine andere Gruppe. Mit innerer Autorität auf das Ewige hinzuweisen, ist das relevanteste Amt, das Menschen heute ausüben können.

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ZUR GEGENWÄRTIGEN T H E O L O G I S C H E N LAGE

I. Ein amerikanischer Theologe und Kirchenführer beschrieb, nachdem er von einer Reise aus Deutschland zurückkehrte, die Lage des Protestantismus auf dem Kontinent mit folgenden Worten: „Der Neuprotestantismus auf dem Kontinent ist tot". Alle Gruppen, ob Lutheraner, Reformierte oder Barthianer, betrachteten die letzten 200 Jahre der protestantischen Theologie im Grunde als Irrweg. Das Jahr 1933 habe dem theologischen Liberalismus, der sich von Schleiermacher, Ritsehl und Troeltsch herleitete, ein Ende gemacht. Diese Feststellung stimmt mit meinen eigenen Beobachtungen überein, die ich während des Sommers 1948 in Deutschland machte, sowie mit Briefen aus Europa, die ich seitdem empfing; und sie stimmt mit den Eindrücken vieler Beobachter sowohl innerhalb wie außerhalb der europäischen Kirchen überein, von denen einige abseits stehen, einige den Kirchen freundlich, andere ihnen feindlich gesinnt sind. Sie stimmt weiter mit Bekenntnissen überein, die während des Kirchenkampfes abgelegt wurden, und anderen offiziellen Erklärungen, sowie schließlich mit der Logik der Ereignisse in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts.

II. Zunächst wollen wir die Entwicklung vor und während des großen Kampfes der europäischen Kirchen gegen den Nationalsozialismus näher betrachten. Zu Beginn des Jahrhunderts beherrschte Harnacks „Wesen des Christentums" den theologischen Schauplatz. Dieses Werk gründete sich erstens auf die in seiner monumentalen Dogmengeschichte dargelegte These, daß das Dogma im ursprünglichen Sinn eine Schöpfung des griechischen Geistes sei und im Prinzip in der Reformation, tatsächlich aber im Pietismus und in der Aufklärung, sein Ende gefunden habe. Zweitens gründete es sich auf 150 Jahre historischer Analyse und Kritik der biblischen Schriften, deren Ergebnissen Harnack klassische Form verlieh. Als drittes gründete es 85

sich auf die Theologie der Ritschlschen Schule, die versucht hatte, mit Hilfe Kantscher Begriffe zwischen der theologischen Tradition und dem modernen Naturalismus und Historismus zu vermitteln. Trotz starker Reaktionen von Seiten der Orthodoxie schien der Neuprotestantismus die Spaltung zwischen Christentum und modernem Geist überwunden zu haben, unter dem das Abendland seit dem Protest der Aufklärung gegen die traditionelle Theologie aller Konfessionen gelitten hatte. Das Dogma wurde als Hellenisierung des Christentums verstanden und auf diese Weise sowohl seiner heiligenden wie seiner bedrückenden Macht beraubt. Die Theologie gründete sich von neuem auf den Quell des Christentums, nämlich den Menschen Jesus von Nazareth. Die Bibelkritik hatte diesen Quell aufs neue unter den verschiedenen Schichten der frühen Tradition entdeckt, vor allem in der Dialektik des Paulus und der Mystik des Johannesevangeliums. Die Theologie Ritschis brachte die Metaphysik und die theologische Spekulation in Verruf und stellte das Ideal der sittlich-religiösen Persönlichkeit auf, das mit den edelsten Idealen der bürgerlichen Gesellschaft in Einklang stand und angeblich mit dem übereinstimmte, was Jesus von Nazareth gewollt hatte. Der Erfolg von Harnades „Wesen des Christentums" und der neuprotestantisdien Theologie als ganzer war überall gesichert, wo eine Synthese von Christentum und modemer bürgerlicher Weltanschauung eine historische Notwendigkeit war wie bei uns in Amerika. Die Substanz des Neuprotestantismus veränderte sich auch in Amerika nicht, obwohl hier der soziale Aspekt von Ritschis Theologie viel stärker betont wurde als in Deutschland. Kurz nachdem Harnack den Gipfel seines Erfolges erreicht hatte, begannen die Erschütterungen, die zu der gegenwärtigen europäischen Lage führten. Marx bedrohte die gesellsdiaftliche Basis der bürgerlichneuprotestantischen Synthese, Nietzsche ihre moralische und Kierkegaard ihre religiöse Grundlage. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehrten sich die Anzeichen der kommenden Katastrophe. Die großen Werke der russisdien und französischen Literatur, die Entdeckungen Freuds und seiner Sdiule und die Lebensphilosophie enthüllten die Tiefenschicht im persönlichen Leben wie in der Gemeinschaft. Die Maler des Expressionismus wurden zu Propheten des bevorstehenden Zusammenbruchs: sie zerschlugen die organisch-klassischen Formen und deuteten so den drohenden Zerfall der glatten, harmonischen Oberfläche der modernen Existenz voraus. Die Theologie, im Gefolge der Bibelkritik, führte schließlich zur Auflösung der Synthese von traditionellem Glauben und historischer 86

Forschung. Albert Schweitzer formulierte am Ende seines dramatischen Buches „Die Geschichte der Leben-Jesu-Forschung" die Alternative, die nach seiner Meinung das Ergebnis der Bibelkritik war, mit den Worten: „entweder konsequenter Skeptizismus oder konsequente Eschatologie"! Das hieß: der Geist Jesu ist uns entweder völlig unbekannt oder völlig unerreichbar. Auf keiner dieser Alternativen kann eine christliche Theologie aufgebaut werden, und Schweitzer, den viele für die größte christliche Persönlichkeit unserer Zeit halten, machte nicht einmal den Versuch dazu. Zur gleichen Zeit kam das Problem der Religionsgeschichte auf. Ihr ist es zu verdanken, daß die schwachen Grenzen fielen, die Ritsehl zwischen der Bibel und der Kirchengeschichte einerseits und der Bibel und den Religionen und Zivilisationen der benachbarten Länder andrerseits gezogen hatte. Troeltsch, empfänglich für diese neuen Ideen, zog die Konsequenzen. Er fand in jedem Menschen das „religiöse Apriori" und sah überall wirkliche Offenbarung. Er griff Harnacks Begriff vom „Wesen des Christentums" und Hegels Idee einer „absoluten Religion" an und erschütterte so den Anspruch des Christentums auf Einmaligkeit und Absolutheit. Für ihn war das Christentum abhängig von der westlichen Zivilisation und ein Bestandteil der künftigen Synthese, die er „Europäismus" nannte. Es sei, wie er meinte, durch die rassische und wirtschaftliche Grundlage der europäischen Gesdiichte bedingt; die Reformation gehöre noch zum Mittelalter. Der Neuprotestantismus hat mit der Aufklärung begonnen und ist ein radikaler Bruch mit der christlichen Tradition von 1700 Jahren. Die Synthese, die von Harnack aufgestellt worden war, wurde von Troeltsch widerrufen. Als Harnack im Jahre 1923, wenige Jahre vor seinem eigenen Tode, bei dem Begräbnis von Troeltsch sprach, war die Welt, der beide Männer angehörten, bereits vom ersten Erdbeben erschüttert worden. Die Atmosphäre, in der sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hatten, war bei ihrem Tode bereits völlig verändert. Mit ihnen scheint der Neuprotestantismus in Europa gestorben zu sein. Er hatte seinen Todesstoß in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs und in den folgenden gesellschaftlichen und politischen Katastrophen erlitten. In der Mitte und gegen Ende der zwanziger Jahre herrschte eine neue geistige und geistliche Atmosphäre. Marx hatte Rußland erobert, Nietzsche Deutschland und Italien, und Kierkegaards Einfluß machte sich in den protestantischen Kirchen des Kontinents bemerkbar. Diese Männer sind hier als symbolische Vertreter von Bewegungen genannt, die selbst sehr viel komplexer sind, als die Namen andeuten. 87

Die gleichen Einflüsse machten sich in der Theologie der Krise geltend. Neben Kierkegaard trugen noch folgende Kräfte zu ihrer Stärkung bei: der Widerstand des konservativen Luthertums gegen die liberale Theologie, der sich in dem Maße versteifte, in dem diese an Radikalismus zunahm; der biblische Realismus, der oft mit pietistischen Tendenzen verbunden war; die sogenannte Luther-Renaissance, eine Wiederentdeckung der tieferen Aspekte der Reformation; die religiös-sozialistischen Ideen, nach denen Gott eine Beziehung zur Welt als ganzer hat, nicht nur zur religiös-sittlichen Persönlichkeit. Alle diese Tendenzen wurden verstärkt durdi Karl Barths Kommentar zum Römerbrief, der jedoch weder ein Kommentar noch ein System war, sondern ein prophetischer Aufruf an Religion und Kultur, die Gottheit des Göttlichen anzuerkennen und die neuprotestantische Synthese zwischen der göttlichen und der menschlichen Schöpferkraft aufzulösen. Dieser Aufruf zeigte seine richtige Bedeutung erst, als durch die Tätigkeit der Deutschen Christen das Christentum in Nationalismus aufgelöst wurde. Seitdem der Neuprotestantismus zu einem liberalen Humanismus geworden war, war der Protestantismus immer nationalistischer geworden. Der Mangel an Lebenskraft, Symbolik, sakramentaler Madit, Gemeinschaft und Autorität in den protestantischen Kirchen öffnete dem neuen Lebensgefühl, den neuen Symbolen und pseudo-sakramentalen Handlungen, der Blutsgemeinschaft von Nation und Rasse und der Autorität des Führers als göttlicher Stimme den Weg. Die klassische theologische Rechtfertigung dieser Verwandlung des Christentums stammt von dem einzigen großen Theologen der Deutschen Christen, Emmanuel Hirsch aus Göttingen. Als Motto über eines seiner Bücher schrieb er: „Im gegenwärtigen Stadium der Geschichte ist das Schicksal des Christentums nicht mehr vom Schicksal der Kirchen abhängig." Diese Worte stammen von Richard Rothe, einem Schüler von Hegel und Schleiermacher. Nach ihm sollte das Christentum in der nationalen Kultur Ausdruck finden. Theologie und Philosophie, christliche Ethik und nationale Forderungen, Kirchengemeinde und Volksgemeinschaft sollten eine Einheit bilden. Was Rothe prophezeit hatte, verwirklichte Hitler. Die zunehmende Entfremdung zwischen Kirche und Volk, die durch die ehrlichen Versuche des bürgerlichen Neuprotestantismus nicht überbrückt worden war, sollte durch die große Wiedergeburt, durch das leibliche, seelische und geistige „Rinascimento" der deutschen Nation überwunden werden. Diese Botschaft der Deutschen Christen war sogar für hochgebildete Menschen eine Versuchung. 88

Barths Verkündigung der Diastase 1 gab der deutsdien Kirche die Kraft, dieser Versuchung zu widerstehen, und die Erklärung, daß es mit dem Neuprotestantismus zu Ende sei, half auch den nicht-deutschen Kirchen, in ihren Ländern den Widerstand zu stärken. Das hatte keine andere Bewegung erreicht, selbst diejenigen nicht, die der neuorthodoxen Theologie den Weg bereitet hatten. Der biblizistische Pietismus zeigte eine überraschende Neigung zum Nationalismus. Das konservative Luthertum folgte dem politischen Konservatismus und leistete erst Widerstand, als das ursprüngliche Bündnis zwischen Konservatismus und Nationalismus zerbrach; auch dann noch vereinte es in seiner Widerstandsbewegung politisch-reaktionäre Tendenzen mit religiösen und kirchlichen. Die Theologen, die die Wiederentdeckung Luthers vertreten hatten, verloren mit Emmanuel Hirsch ihren Führer an die „Deutschen Christen" und blieben lange unentschlossen. In einer sehr zweideutigen Lage befanden sich die Religiösen Sozialisten. Mit wenig Ausnahmen widerstanden sie der deutsch-christlichen Versuchung, und viele von ihnen wurden ihres Amtes enthoben, verhaftet oder umgebracht. Aber sie konnten die Diastase nicht unterstützen, die im entscheidenden Augenblick die Rettung war, denn sie hatten versucht, ein Korrelation herzustellen, die sich sowohl von der Synthese zwischen Neuprotestantismus und Bürgertum wie der zwischen Christentum und Nationalismus unterschied. Obwohl ich selbst einer Richtung dieser Bewegung angehörte und glaube, daß ihre Hauptideen noch immer Geltung haben, kann ich nicht bestreiten, daß der Religiöse Sozialismus in eine höchst zweideutige Lage geriet, als der Nationalsozialismus zur Macht kam. Als Sozialisten wurden seine Anhänger, gleich ob sie einer Partei angehörten oder nicht, automatisch verfolgt und konnten sich nicht länger öffentlich Gehör verschaffen. Und selbst wenn ihnen das möglich gewesen wäre, so konnten sie doch nicht überzeugen, weil die Deutschen Christen antworten konnten und tatsächlich antworteten, daß letzten Endes kein Unterschied zwischen dem religiösen Nationalismus und dem religiösen Sozialismus bestehe. Sie konnten sich sogar gewisser Hauptideen des Religiösen Sozialismus bedienen und taten das auch, so z. B. der Idee des kairos, der Erfüllung der Zeit oder der göttlichen Vorsehung, wenn sie das Erscheinen Hitlers als den kairos bezeichneten, der das 1 Diastase, vom griechischen diastole, im Neuen Testament als „Unterschied" wiedergegeben (Rom. 3, 22; 10, 12), bedeutet hier die absolute Trennung von G o t t und Welt, christlicher Botschaft und menschlicher Existenz. Sie steht also in Gegensatz zu Tillichs Begriff der Korrelation. Die Definition im englischen Text ist nicht korrekt.

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deutsche Volk direkt, alle anderen Völker indirekt betreffe. Diese Zweideutigkeit der äußeren und inneren Lage verurteilte den Religiösen Sozialismus zum Schweigen. Die Botschaft von der kompromißlosen Diastase war die einzige, die dem historischen Augenblick angemessen war. Diese Tatsache bestimmt die gegenwärtige Lage der Theologie in Europa. Diejenigen, die den Widerstandskampf gewonnen haben, sind jetzt an der Macht, und das nicht nur mit dem Recht des Siegers, sondern auch gerechtfertigt durch die Geschichte.

III. Wenn wir die protestantische Theologie als Ganzes betrachten, was wir besonders in einer Zeit der ökumenischen Konferenzen tun müssen, so sehen wir, daß die Lage in Europa die gesamte protestantische Theologie vor ein ernstes Problem stellt. Die Entwicklung auf dem Kontinent zu ignorieren und uns auf eine britische oder amerikanische Theologie oder eine Theologie der jüngeren Kirchen zu konzentrieren, ist eine Unmöglichkeit. Es wäre ein Verrat an der Wahrheit, würde die Theologie sich vornehmen, schwedisch, schweizerisch oder amerikanisch zu sein; zudem zeigte dies die Neigung zur Synthese zwischen Christentum und Nationalismus an, die unwiderruflich zum Untergang des Christentums führen müßte. Wir gehören zwar einem Volk, einem Kontinent und einer gewissen Zeit an, und unsere Theologie trägt unverkennbare nationale Züge, was zu ihrem Reichtum beiträgt; aber wenn diese Züge ausdrücklich herausgestellt werden, so ist das nicht ein Beitrag zur Theologie, sondern eine Verzerrung der Wahrheit. Die protestantische Theologie muß den transkontinentalen Dialog fortsetzen. Ich möchte die Aufmerksamkeit auf vier dringliche Probleme richten, die in dem Problem „Diastase gegen Synthese" enthalten sind. Erstens das Problem von Gott und Mensch, zweitens das von Mythos und kerygma, drittens das von kritischer Forschung und Autorität, sowie viertens das von Ethik und Eschatologie. Ich biete keine Lösung an, nur den Versuch, diese Probleme im Lichte des Sieges zu sehen, den in Europa die Diastase über die Synthese errungen hat. Die erste Frage ist, ob Diastase bedeutet, daß es keine Korrelation zwischen der menschlichen Existenz und ihren kulturellen Formen und dem kerygma gibt. Karl Barth hat diese Frage verneint und in seinen Schriften den Begriff der Korrelation ausdrücklich angegriffen. Korrelation kann wechselseitige Abhängigkeit bedeuten, aber ist dann nicht eine teilweise Abhängigkeit der Offenbarung von menschlichen 90

Möglichkeiten behauptet, etwa von den schöpferischen Möglichkeiten des deutschen Volkes, einschließlich seiner klassischen Philosophie; oder eine Abhängigkeit von der griechischen Kultur einschließlich ihrer Tragödie, des Piatonismus und der Stoa; oder eine Abhängigkeit vom Römischen Recht und seinem eklektischen Rationalismus; oder eine Abhängigkeit von der amerikanischen Demokratie und ihrem pragmatischen Empirismus? Und würde auf dem Gebiet der Mission Korrelation nicht teilweise Abhängigkeit der christlichen Botschaft von der Metaphysik der Hindus oder der Ethik des Konfuzius bedeuten? Wenn wir andererseits jede Art von Korrelation leugnen und die völlige Unabhängigkeit der Botschaft von allem Menschlichen betonen, erhebt sich die Frage, wie dann die Botschaft empfangen und verkündigt werden kann. Auf diese Frage weiß die Theologie der Diastase keine Antwort. Das darf uns jedoch nicht dazu verleiten, zu der Antwort zurückzukehren, die von den verschiedenen Richtungen der neuprotestantischen Synthese gegeben worden ist. Müssen wir uns also der klassischen römisch-katholischen Tradition zuwenden und einen Unterbau von natürlicher Religion mit einem Überbau von offenbarter Religion vereinen? Auch das dürfen wir nicht, denn wenn der Mensch Gott durch die Vernunft erreichen kann, sei es auch nur auf unvollkommene Weise, so liegt sein Verhältnis zu Gott teilweise in seiner eigenen Hand; nach römisch-katholischem Glauben kann er zudem sein Verhältnis zu Gott teilweise durch seine moralischen Handlungen bestimmen. Die Reformation hat den letzten Teil dieser Lehre entschieden verworfen, aber nicht den ersten. Deshalb konnte die protestantische Theologie später den Unterbau mit dem Uberbau verschmelzen, und die neuprotestantische Synthese war fertig. Das Problem der Korrelation kann nicht durch einen erneuten Versuch, eine natürliche Theologie zu entwickeln, gelöst werden. In der menschlichen Existenz findet sich keine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis des Menschen zu Gott; hier gibt es nur die Frage. In der Struktur der menschlichen Existenz, in der Struktur der Endlichkeit, die Angst und Mut erzeugt, in der Struktur der Entfremdung, die zu Verzweiflung und Selbstzerstörung führt, in dem zweideutigen Charakter des Lebens mit seiner Schöpferkraft und seiner Tragik — in alledem ist die Frage nach Gott enthalten. Aber die Antwort gibt, wenn sie gegeben wird, die Offenbarung. Natürliche Theologie und Religionsphilosophie sollten zu einer Analyse der Fragen werden, die in der Struktur der menschlichen Existenz und der Existenz überhaupt enthalten sind. Die protestantische Theologie sollte 91

ebenso eine unmögliche Diastase wie eine voreilige Synthese vermeiden und vielmehr eine Korrelation zwischen den Fragen, die mit der Existenz gegeben sind, und den Antworten, die das kerygma gibt, entwickeln. IV. Das zweite Problem, das durch die europäische Lage in den Vordergrund gerückt ist, ist das Problem des Mythos. Es ist leidenschaftlich diskutiert worden und hat bereits dazu geführt, daß der bedeutendste Vertreter der historisdien Bibelkritik in Deutschland, Rudolf Bultmann, einer doppelten Häresie beschuldigt worden ist, trotz seiner starken Beeinflussung durch Barth. Das Problem, um das es hier geht, ist die Frage, ob das Neue Testament mythologische Elemente enthält. H a t Bultmann recht, wenn er jeden Bericht als Mythologie bezeichnet, in dem der wunderbare Eingriff eines übernatürlichen Reiches in die Geschichte beschrieben wird? Er sieht solche mythologischen Elemente sowohl im Leben Jesu wie in den eschatologischen Erwartungen, in Jesu Auferstehung wie in dessen meisten Wundertaten. Es gehört zu der Undurchsichtigkeit der theologischen Lage in Europa, daß Bultmann, der Führer des linken Flügels der Bekennenden Kirche, sich hier in völliger Übereinstimmung mit Hirsch, dem Führer der Deutschen Christen, befindet, obwohl Hirsch Bultmann der Inkonsequenz und Unehrlichkeit beschuldigt. Aber Bultmann ist weder inkonsequent noch unehrlidi, vielmehr versudit er als großer Gelehrter und leidenschaftlicher Theologe, die theologische Diastase mit wissenschaftlicher Unbestechlichkeit zu verbinden. Aber ist das möglich? Die Neuprotestanten vom Schlage Harnacks hatten sich über solche Probleme keine Gedanken gemacht. Sie glaubten, daß die historische Kritik zu einem entschiedenen Ergebnis gef ü h r t habe, nämlich zu einem Bild von Jesus, auf das man die Theologie aufbauen könne. Aber tatsächlich war kein derartiges Ergebnis zu verzeichnen, und was die historische Kritik zutage gefördert hatte, gab keineswegs ein Fundament f ü r das Glaubensbekenntnis ab, mit dem die Bekennende Kirche die Deutschen Christen hätte schlagen können. In allen ihren öffentlichen Erklärungen spielen die Elemente die größte Rolle, die Bultmann als mythologisch bezeichnet hatte. In diesem Punkt sind alle europäischen Theologen, die im Kirchenkampf gelitten haben, äußerst empfindlich. Als ich auf einer Kirchenkonferenz die Bibelkritik in Schutz nahm, behauptete man, daß das ein Verrat an Christus sei. Von ähnlichen Erfahrungen berichten alle, die mit europäischen Theologen — und noch schlimmer — mit euro92

päischen Laien zusammenkamen. Ist es möglich, sowohl wissensdiaftliche Ehrlichkeit, die sich nicht a priori auf bestimmte Ergebnisse festlegen kann, zu bewahren wie die Macht des kerygma zu erhalten, die alle Ergebnisse der Wissenschaft transzendiert? Ein Mythos ist ein Gefüge von Symbolen, die die Beziehung des Menschen zu dem, was ihn unbedingt angeht, zu dem Grund und Sinn seines Lebens zum Ausdrude bringt. Er ist mehr als ein primitives Weltbild, mit dem Bultmann ihn zu Unrecht gleichsetzt. Er ist die notwendige und angemessene Ausdrucksform der Offenbarung. Darin stimme ich mit Barth überein, der wegen fragwürdiger terminologischer Bedenken von „Sage" statt von Mythos spricht. Die Frage ist: wie können wir die Wahrheit und die Macht des Mythos erhalten und doch seinen mythologischen Charakter, seine Eigentümlichkeit, im empirischen Sinn unhistorisch zu sein, nicht leugnen? Die Antwort muß meiner Ansicht nach sein, daß die Kirche von ihrem Anfang bis auf den heutigen Tag an einer Wirklichkeit teilhat, die sich von jeder anderen Wirklichkeit unterscheidet und deshalb das Neue Sein genannt werden kann. Die vollkommene und endgültige Offenbarung dieser Wirklichkeit und deshalb das Fundament und die dauernde Macht der Kirche ist das historische Ereignis, das in symbolisch-mythologischer Form als das Erscheinen des Christus beschrieben wird. Diese Deutung zerbricht die neuprotestantische Synthese, ohne dabei zu opfern, was der Stolz der protestantischen Theologie ist, die wissenschaftliche Ehrlichkeit in der Erforschung der eigenen Quellen.

V. Das dritte Problem, vor das uns der europäische Protestantismus stellt, ist das Problem der Autorität: aufgrund welcher Autorität konnte man der Autorität des Nationalsozialismus widerstehen und konnte man verlangen, daß Menschen zu Märtyrern werden? Das war die Frage der kämpfenden Kirche, und die Antwort war: erstens unter Berufung auf die Bibel, zweitens unter Berufung auf die Kirche, oder zusammengefaßt: unter Berufung auf die Kirche unter der Autorität der biblischen Botschaft. Diese Überlegung förderte einen strengen Biblizismus und mit ihm das Verlangen, daß die Kirchenleitung die biblische Botschaft vor theologischer, philosophischer und politischer Verzerrung schütze. Gleichzeitig wurde die biblische Botschaft mit den kämpferischen Bekenntnissen der Bekennenden Kirdie identifiziert. Jahrhundertelang war der Protestantismus mit Gewissensfreiheit 93

gleichgesetzt worden, d. h. mit der Freiheit, auszusprechen, was das religiöse Gewissen fordert. Es gab zwar Disziplinarverfahren, aber sie wurden als Rückfall in den Katholizismus betrachtet. Die Entwicklung des Neuprotestantismus zeigte jedoch, daß Autonomie dadurch, daß sie ein Vakuum erzeugt, in dem sich dämonische Heteronomien ansiedeln, unausweichlich zum Säkularismus führt. Darin besteht das Wesen der Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts. Aber ist die Alternative zu Autonomie tatsächlich Heteronomie? Kein europäischer Theologe würde das zugeben, obwohl die meisten nach diesem Grundsatz gehandelt haben. Keine Klage ist heute in Deutschland häufiger zu hören als die, daß die Autoritäten der Bekennenden Kirche, die heute die Autorität der gesamten deutschen Kirche darstellen, in heteronomer Weise von ihrer Macht Gebrauch machen. Aber wie kann das nach allem, was geschehen ist, vermieden werden? Sollen neuprotestantische Radikale, Deutsche Christen oder religiöse Kommunisten Pfarrer werden? Der Kampf gegen die Deutschen Christen wurde auf dem Boden des Dogmas geführt, in dessen Zentrum die Autorität des Alten und Neuen Testaments als die einzige Norm für das Leben der Kirche stand. Diese Erfahrung ist nicht leicht zu vergessen, und man fragt sich, ob sie nicht zu einem neuen Fundamentalismus führen muß. Diese Frage bewegt alle europäischen Theologen, und einige wichtige Persönlichkeiten sind zum Katholizismus übergetreten, weil der Protestantismus auf diese Frage keine Antwort zu wissen schien. In ganz Europa ist der Einfluß der katholischen Kirche ungeheuer gewachsen. Sie erfüllt das Verlangen nach Autorität in einer Weise, mit der der Protestantismus nicht wetteifern kann. Bedeutet das das Ende des protestantischen Zeitalters, zumindest in Europa? Oder wird der Protestantismus in Form des amerikanischen Denominationalismus weiterleben in einem durch gesunden Menschenverstand vor Extremen bewahrten Gleichgewicht, durch gesellschaftliche Konventionen unterstützt und durch biblisch-evangelistische und humanistisch-demokratische Elemente gestärkt? Aber wenn das in Amerika noch möglich ist, bedeutet das, daß es auch anderswo denkbar ist, nachdem die neuprotestantische Synthese zerfallen ist und Katholizismus, Kommunismus und Neofaschismus in Europa und Asien einen dreifachen Drude ausüben? Was hat die Theologie, abgesehen von diesen pragmatischen Erwägungen, nun zu dieser Lage zu sagen? Ich sprach einmal in einem ausgewählten katholischen Kreis über die Vereinigung von katholischer Substanz und protestantischem Prinzip; katholische Substanz, verstanden als die Tradition, in der das 94

Neue Sein sich vor, in und nach seiner endgültigen Offenbarung in Jesus als dem Christus verkörpert und ausgedrückt hat; protestantischens Prinzip, verstanden als die kritische Macht des prophetischen und rationalen Geistes, welche die Tradition vor Dämonisierung und Verzerrung bewahrt. Der katholische Kreis nahm diese Gedanken an, aber unter dem Vorbehalt, daß der prophetische und rationale Geist der päpstlichen Autorität unterstellt werde. Damit endete die Diskussion. Der Protestantismus muß ein Wagnis auf sich nehmen, sonst hört er auf zu sein, was er ist. Aber Wagnis bedeutet Möglichkeit des Mißlingens. Vielleicht muß der Protestantismus zu einer Untergrundbewegung in den verschiedenen autoritären Systemen werden, etwa in einem evangelistischen Fundamentalismus mit unfehlbaren synodalen oder bischöflichen Autoritäten. Aber bevor das geschieht, sollten wir danach streben, den Reichtum, die geistige Tiefe und die Subtilität der katholischen Substanz aufzunehmen, ohne die kritische Stärke des protestantischen Geistes zu schwächen. Es besteht die Hoffnung, wenn auch nicht die Gewißheit, daß dies in der gegenwärtigen Lage noch möglich ist. VI. Das vierte Problem, dem man in Europa begegnet, liegt in der europäischen Haltung gegenüber dem „Ende", dem eschatologischen Bewußtsein und seinen verschiedenen Folgen f ü r Dogma und Ethik. Das Ende wird in kaum zu beschreibender Weise als wirklich aufgefaßt; nicht daß man auf naive Art das Datum des Endes berechnen würde oder eine phantastische Beschreibung der Endkatastrophe gäbe; man identifiziert das Ende nicht einmal mit der Vernichtung des Lebens durch Atomwaffen. Vielmehr setzt man jeden Augenblick in direkte Beziehung zu dem Ende. Dieses wird als zeitliches Ereignis verstanden, das die Zeit aufhebt. Manchmal wird das Ende der Zeit mit dem Ende der geschichtlichen Zeit identifiziert; häufiger jedoch wird es in biblisdier Symbolik als das Ende aller Zeit betrachtet. In diesem Fall nimmt man an, daß eine kosmische Katastrophe vorausgeht. In beiden Fällen stellt man sich wieder auf den geozentrischen Standpunkt. Der Planet, auf dem sich die Geschichte vollzieht und auf dem der logos Fleisch geworden ist, bildet das Zentrum des Universums. Das wörtliche Verständnis der Bibel bringt eine Rückkehr zu dem Geozentrismus mit sich, wie er vor der Renaissance, allerdings nicht auf astronomischem Gebiet, herrschte. In der realistischen Erwartung des Endes findet das Prinzip der Diastase seinen stärksten Ausdruck. Sie entwertet alle kulturelle 95

Tätigkeit und legt das Gewicht gänzlich auf die gegenwärtige persönliche Entscheidung und die Erlösung des Einzelnen. Das entspricht der Stimmung von Menschen, die jede Hoffnung auf irgendeine Art von Erfüllung in der Geschichte verloren haben. Und es wäre zynisch, von diesen Menschen, die in ihren Ruinen sdion jetzt psychologisch und wirtschaftlich und morgen vielleicht sogar physisch den Kampfplatz zwischen Osten und Westen abgeben, zu erwarten, daß sie an irgendwelche rettende Macht in der Geschichte glauben. Damit ist nicht die vorübergehende Stimmung einer bestimmten Gruppe beschrieben, sondern eine Haltung, die sich in der gesamten Geschichte findet, gewiß im Neuen Testament und dem größten Teil der Kirchengeschichte bis zur neuprotestantisch-bürgerlichen Synthese. Es ist auch die Haltung der alten Völker, einschließlich Israels; denn immer, wenn sie eine Zeit der Erfüllung erwarteten, so schrieben sie diese, selbst in den besten Zeiten, einem transzendenten Handeln Gottes oder eines göttlichen Wesens zu. Niemals leiteten sie die Erfüllung der Geschichte von der Geschichte selbst ab. Die Diastase zwischen der Geschichte und dem Reich Gottes ist für die große Mehrheit der Menschen innerhalb und außerhalb des Christentums weit natürlicher, als sich ein Europäer des 19. oder ein Amerikaner des 20. Jahrhunderts vorstellen kann. Jedenfalls stellt uns die religiöse und theologische Lage in Europa heute wieder vor dieses höchst dringende Problem. Vielleicht kann man sagen, daß jede individuelle oder gemeinschaftliche Handlung, in welcher die heilende Macht des Neuen Seins wirkt, von unmittelbarer Wirkung auf das Ende in dem doppelten Sinn von Beendigung und Vollendung ist. Nichts Gutes, das sich in der Geschichte ereignet hat, ist verloren, selbst wenn die Geschichte morgen zu Ende sein sollte. Und der Glaube an die geschichtliche Vorsehung bedeutet, daß es keine Situation in der Geschichte gibt, in der die heilende Macht fehlen könnte. Glaube an die Gegenwart des Neuen Seins in der Geschichte hier und jetzt, an das Gericht als Gabe und als Forderung muß die utopische Erwartung ersetzen, daß das Alte Sein sich selbst im Laufe der Geschichte heilen kann oder daß das Neue Sein das letzte Stadium einer geschichtlichen Entwicklung ausmacht. Das Problem der Diastase ist kein zufälliges, durch die europäische Lage hervorgerufenes Problem. Es war längst durch die Entwicklung des Neuprotestantismus selbst vorbereitet, und deshalb ist es ein Problem, das den ganzen Protestantismus angeht, hier wie in Europa, im Osten wie im Westen, und es wird eine weit radikalere Neuorientierung der Theologie verlangen, als wir heute annehmen.

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DAS P R O P H E T I S C H E E L E M E N T IN DER C H R I S T L I C H E N BOTSCHAFT UND DAS PROBLEM DER AUTORITÄT

I.

U m über dieses Thema zu sprechen, muß ich als erstes, wie es der logische Analytiker verlangt, die Begriffe, die ich gebrauche, logisch klären. Der erste und schwierigste Begriff ist der Begriff der Autorität. Man muß zwei Arten von Autorität unterscheiden: die spontan oder freiwillig anerkannte Autorität und die einem Menschen seines Amtes oder seiner Stellung wegen zuerkannte. Man hat auch andere Arten von Autorität unterschieden; Erich Fromm etwa hat von rationaler und irrationaler Autorität gesprochen. Diese Definition scheint mir jedoch zu viel von einem Werturteil zu enthalten. Deshalb bevorzuge ich die Unterscheidung von spontan anerkannter und etablierter Autorität; 1 beide Arten beruhen auf Vertrauen. Für die spontan anerkannte Autorität gibt es viele Beispiele: wir verlassen uns, wenn wir selbst keinen Zugang zu den Tatsachen haben, auf die Aussagen von Augenzeugen, auf das Urteil von Fachleuten und auf historische Dokumente. Wir vertrauen auf Menschen von überlegenem Wissen oder überlegener Weisheit, die wir ohne weiteres als überlegen anerkennen entweder wegen ihres Alters — was keineswegs immer ein gutes Kriterium ist — oder wegen ihrer persönlichen Qualitäten. Solchen spontan wirkenden oder spontan anerkannten Autoritäten folgen wir dauernd im Leben. 1 An anderen Stellen hat Tillich die beiden Arten von Autorität anders benannt. Mit den Bezeichnungen „funktionale oder partielle" und „hypostasierte oder totale Autorität" versucht er in einem Vortrag aus dem Jahr 1951 Fromms Ausdrücke „rationale und irrationale" Autorität (in dessen Buch „Psydioanalysis and Religion") zu ersetzen (GW VIII, 62). Fromms Begriffe treffen jedoch nicht genau die gleichen Unterschiede wie die hier gemachten. In der deutschen Ausgabe der „Systematischen Theologie" (III, 102) werden die gleichen Arten von Autorität wie hier als „faktische und prinzipielle" Autorität bezeichnet, eine Übersetzung von „actual" und „establisbed authority" (III, 83). Der in unserer Übersetzung gebrauchte Ausdruck „etablierte Autorität" entspricht sowohl dem englischen „establisbed" in der „Systematischen Theologie" wie dem in unserem englischen Original gebrauchten „in-

vested

authorithy".

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Von dieser Art Autorität müssen wir die etablierte Autorität unterscheiden, d. h. die Autorität, die Menschen dank ihrer Stellung in der Gesellschaft genießen, wie die von Eltern, Lehrern, amtlichen Vorgesetzten, Königen, Präsidenten usw. Sie alle besitzen Autorität curch ihre Stellung, selbst wenn sie keinen großen Anspruch auf persönliche oder spontane Autorität erheben können. Ich bin immer wieder von der Szene im „Hamlet" beeindruckt, in der der König, als Laerte; mit Aufständigen in sein Gemach eindringt, die Königin mit den Worten beruhigt: „Denn solche Göttlichkeit schirmt einen König: Verrat, der nur erblickt, was er gewollt, steht ab von seinem Willen." (IV. Akt, 5. Szene) Das ist ein typischer Fall von etablierter Autorität. Die gleichen zwei Arten von Autorität gibt es in der Religion. In der frühen Kirche wurde Christus und, in geringerem Grade, denen, die vom Geist ergriffen waren, den pneumatikoi, spontan Autorität zuerkannt. Aber bald wurde die etablierte Autorität wichtiger, d. h. die auf einer besonderen Stellung beruhende Autorität, die sich auf Ordination oder andere feierliche Weihen gründet. Priester, Bischöfe und der Papst besitzen Autorität dieser Art. Im frühen Protestantismus wurde den Doktoren der Theologie eine ähnliche Autorität zuerkannt. Luther hat in seiner Verzweiflung Selbstgewißheit in dem Gedanken gefunden, daß er als Doktor der Theologie die Wahrheit predigen müsse, selbst wenn er damit Aufruhr und Uneinigkeit in der Kirche verursache. Er besaß nicht nur persönliche, charismatische Autorität, sondern auch von der Institution der Kirche verliehene Autorität. Jede etablierte Autorität innerhalb wie außerhalb der Kirche ist im Grunde sakramental. Religiöse Autorität ist unmittelbar sakramental, das Sakrament der Ordination macht dies deutlich. Säkulare Autorität dagegen ist, obwohl sie dieselbe sakramentale Grundlage hat, nur indirekt und implizit sakramental. Das sakramentale Denken sieht das Heilige in einem Konkreten, an Ort und Zeit Gebundenen, in einem sinnlich Wahrnehmbaren wie dem Brot des Abendmahls, heiligen Gebäuden und Personen, heiligen Handlungen und Ämtern. Die Gegenwart des Heiligen wird hier und jetzt an einem Ding erfahren. Sie verleiht den Personen Autorität, die eine Stellung in der Hierarchie einnehmen, und dem Ort, an dem das Heilige sich offenbart, denn es ist eine Manifestation der letztgültigen Wirklichkeit. Es gibt viele Beispiele f ü r die Abhängigkeit weltlicher von religiöser 98

Autorität. Der sakramentale Ursprung der etablierten Autorität ist in den meisten Fällen leicht zu erkennen. In meiner Jugend hörte ich oft den Ausdruck „Wir, König von Preußen, deutscher Kaiser von Gottes Gnaden"; das machte mir großen Eindruck. Es besagte nicht, daß der König oder Kaiser eine besondere Gnade für sich als Person beanspruchte, sondern daß sein Amt auf einem providentiellen Akt beruhte, der ihn mit Autorität ausstattete. In Amerika wird man auf ein Amt vereidigt, und ein Eid ist ein sakramentaler Akt, eine Verbindung von Worten und Gesten, in denen das Heilige gegenwärtig ist. Wer den Eid ablegt, nimmt absolute Verantwortung auf sich. Das gleiche gilt von dem religiösen Gebot, Vater und Mutter zu ehren, oder von der Macht der Eltern, die Kinder zu segnen oder zu verfluchen. Die Ableitung der weltlichen Autorität aus ihrer sakramentalen Grundlage widerspricht nicht der Ableitung der konkreten Formen der Autoritätsstrukturen aus psychologischen und soziologischen Grundlagen. Nur der Zug der Weihe, der Hingebung weist in vielen Fällen auf den sakramentalen Hintergrund einer weltlichen Autorität hin. Diese Beschreibung macht es verständlich, daß eine sakramental begründete, religiöse Autorität eine ungeheure Anziehung auf autoritätsgläubige Menschen ausübt. Zunächst ein Wort über die autoritäre Persönlichkeit: Man darf sie nicht mit der konservativen identifizieren oder der liberalen entgegenstellen. Eine liberale Persönlichkeit kann sehr autoritär in ihrem Liberalismus sein, wie umgekehrt die konservative Persönlichkeit sehr tolerant im Gebrauch ihrer Autorität sein kann. Es wäre traurig, wenn wir in einer Analyse der heutigen Lage die sogenannten RechtsRadikalen mit echten Konservativen verwechselten. Konservatismus ist der Tradition verbunden, aber das Bedürfnis einer autoritätsgläubigen Persönlichkeit, sich einer etablierten Autorität zu unterwerfen, ist etwas ganz anderes. Das Verlangen nach etablierter Autorität hat eine tiefe Wurzel. Sie erscheint der autoritätsgläubigen Persönlichkeit als Vertreter einer letztgültigen, göttlichen Autorität und schenkt trotz des Drucks, den sie ausübt, etwas höchst Nötiges, nämlich innere Sicherheit. Diese kann niemals durch spontan anerkannte, persönliche Autorität oder durch autonome Entscheidung gegeben werden. Diese Analyse erklärt, warum in großen sozialen Umwälzungen ein Verlangen nach unbestreitbarer religiöser Autorität aufkommt. In Mitteleuropa kam nach den gesellschaftlichen und politischen Katastrophen der beiden Weltkriege diese Tendenz in der Hinwendung zu 99

der etablierten und geheiligten Autorität der katholischen Kirche zum Ausdruck. Am auffallendsten war diese Wendung zur Autorität unter der weitgehend weltlich eingestellten abendländischen Intelligenz; und in Europa war diese Tendenz noch stärker als in Amerika. Die Grundlage für das Denken der Gebildeten war zweifellos autonomes Schöpfertum auf allen Gebieten der Kultur. Viele von ihnen unterstützten die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und an den utopischen Erwartungen der revolutionären Bewegungen. Aber Autonomie ohne ein letztgültiges Anliegen führt zu innerer Leere und ihrer zynischen Verteidigung. Und Utopismus führt unausweichlich zu tiefer existentieller Enttäuschung und der zynischen Abkehr von allen Erwartungen. Dieses Stadium ist notwendigerweise von kurzer Dauer, denn das geistige Leben duldet ebensowenig wie die Natur ein Vakuum. Viele Vertreter der Intelligenz wandten sich folglich autoritären Systemen zu, religiösen oder quasi-religiösen. Unter den religiösen Autoritäten übte die katholische Kirche die größte Anziehung auf die enttäuschte Intelligenz aus, unter den weltlidien Autoritäten entweder der Konservatismus mit seinem Streben nach einer hierarchischen Gesellschaftsstruktur oder die totalitären Systeme, Faschismus und Kommunismus. Menschen, die zynische Verächter jeder Art von Autorität gewesen waren, wurden zu Führern dieser diktatorischen Organisationen. Im Protestantismus gab es ähnliche Entwicklungen. Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus führte das Verlangen nach Autorität in den deutschen protestantischen Kirchen zu einer beträchtlichen Stärkung der kirchlichen Autorität. Dies war eine Folge des Kirchenkampfs in der Zeit des Nationalsozialismus: die Notwendigkeit der Verteidigung verlangte größere Zentralisation und die Ausübung strenger Autorität von Seiten der Führer des religiösen Widerstands. Nach dem Eindringen der Deutschen Christen in die Kirchen war das Wichtigste die Festlegung der Lehre und ihre Verteidigung durch die geistlichen Autoritäten. Es dauerte lange, bis sich die Lage änderte und man in den deutschen Kirchen die Stimme der kritischen Autonomie wieder hören konnte. Die autoritäre Haltung im Protestantismus enthüllt einen tiefen inneren Widerspruch, denn der Protestantismus war aus dem prophetischen Protest gegen die sakramentalen Autoritäten der spätmittelalterlichen Kirche geboren; er hatte als einzige Autorität die Bibel anerkannt. Aber die Bibel ist eine Sammlung von Schriften, die in einem Zeitraum von fast tausend Jahren entstanden sind. Sie bedarf der Übersetzung und der Auslegung; ihre entscheidenden Lehren müssen 100

aufgrund von Glaubensbekenntnissen ausgewählt werden, und dazu sind Persönlichkeiten mit Autorität erforderlich, Doktoren der Theologie. Auf kurze Zeit wurden die Theologischen Fakultäten zu Sitzen tatsächlicher Autorität; das bedeutete jedoch eine Spaltung der Autorität, denn die Theologen boten verschiedene Auslegungen an. Aus dieser Lage gab es zwei Auswege: man konnte in der protestierenden Haltung des ursprünglichen Protestantismus verharren, oder man konnte Leben und Denken der protestantischen Kirche auf das Stadium ihrer endgültigen dogmatischen Festlegung in der Zeit der Orthodoxie zurückbringen. Der erste Weg ist der Weg der liberalen Theologie, der zweite Weg wird in Europa — nach dem Grade des Dogmatismus, den er zur Schau stellt — als konservative oder orthodoxe Theologie bezeichnet. In Amerika nennt man ihn meistens Fundamentalismus. Dieser ist häufig mit Erweckungsbewegungen verknüpft, da die Menschen in dem Augenblick, in dem Zweifel an der absoluten Geltung der biblischen Autorität aufkommt, von tiefer Angst ergriffen werden. Die buchstäbliche Auffassung des symbolischen Begriffs „Wort Gottes" und seine Identifizierung mit dem Text der biblisdien Schriften wie die weitere Identifizierung des biblisdien Inhalts mit der Theologie einer bestimmten Periode der Kirdiengeschichte führen dazu, daß jede wissenschaftliche Untersuchung der biblischen Schriften als Verstoß gegen die göttliche Autorität selbst erscheint. Da es jedoch schwer ist, sich den Ergebnissen ernsthafter Forschung vollkommen zu verschließen, macht sidi in vielen Menschen orthodoxer oder fundamentalistischer Überzeugung ein Mechanismus der Verdrängung bemerkbar, der seinerseits neurotische Symptome erzeugt in Form von Entziehungserscheinungen und Fanatismus oder in Form einer Bewußtseinsspaltung mit der sie begleitenden Angst. Der fundamentalistisdie Versuch, durch das Wörtlichnehmen der Bibel Gewißheit zu gewinnen, führt zu einer Selbstbesdiränkung des Denkens, die oft gefährlicher ist als die ungebrochene Annahme der lebendigen Autorität in der katholischen Kirche. Trotz alledem üben die Kirchen, in denen der Fundamentalismus besonders stark ist wie in der Lutherischen Missouri-Synode und in dem südlichen Baptismus, eine besondere Anziehung auf Menschen aus, die dogmatische Gewißheit suchen und nicht von theoretischen Zweifeln angefochten werden. Das Anwachsen dieser Kirchen zeigt, welch mächtiger soziologischer Faktor die autoritätsgläubige Persönlichkeit in unserer Zeit ist. Gewisse politische Kräfte sind sich dieser Tatsache nur zu bewußt und nutzen sie für ihre Zwecke aus. Unter dem Namen „Radikale Rechte" oder „Konservatismus" (eine irre101

führende Benennung) verbinden sich faschistische und fundamentalistische Bewegungen und bilden ein durch Propaganda vergiftetes Asyl für viele Formen neurotischer und häufig sogar paranoischer autoritärer Bestrebungen. Dieses Phänomen bringt uns zu dem Punkt zurück, von dem wir ausgingen, nämlich der Behauptung, daß die Grundlage jeder etablierten Autorität sakramentale Weihe ist. Selbst die antireligiösen Diktatoren bezeugen diese Tatsache. Je raffinierter sie sind, um so weniger greifen sie in die Angelegenheiten der Kirche ein. Aber wenn sie es tun wie im nationalsozialistischen Deutschland, so um sidi der religiösen Kräfte zur Heiligung ihrer eigenen politischen Zwecke zu bedienen, oder wie im kommunistischen Rußland, indem sie ihrer politischen Ideologie einen quasi-religiösen Anschein geben durch heilige Schriften (von Marx und Lenin) und autoritative Interpreten (den Parteiführern). In diesem Fall werden autoritäre Kirchen wie die katholische als unmittelbare Konkurrenten empfunden und wenn nicht verfolgt, so doch ihres autoritären Einflusses, besonders auf die Jugend, beraubt. Hier wie im nationalsozialistischen Deutschland wird der Anschein einer gewissen sakramentalen Weihe der herrschenden Autoritäten aufrechterhalten. II. Die etablierte Autorität wird von zwei Seiten, der prophetischen und der rationalen, angegriffen. Die prophetische Kritik entspringt den inneren Spannungen des Sakramentalen selbst; sie ist Religion, die gegen sich selbst als Religion kämpft. Die rationale Kritik kommt von außerhalb des religiösen Bereichs, aus der rationalen Struktur des Menschen, den Prinzipien des Wahren und des Guten. Letzten Endes haben diese Prinzipien zwar auch religiöse Wurzeln. Sie sind Manifestationen des göttlichen logos, aber sie sind nicht auf die religiöse Sphäre im engeren Sinn des Begriffs beschränkt, sondern wirken auch in den verschiedenen kulturellen Funktionen des menschlidien Geistes und führen zu ernsten Konflikten zwischen Religion und Kultur. Wenn wir von „rationaler" Kritik an den etablierten und sakramental geheiligten Autoritäten sprechen, meinen wir das Wort „rational" nicht im Sinne der beredinenden, analytischen oder technischen Vernunft, sondern in dem Sinn, in dem die klassischen und revolutionären Denker des 18. und 19. Jahrhunderts den Begriff gebrauchten: Vernunft, ratio, ab Übereinstimmung mit der wahren Struktur des Geistes und der Welt, denn in beiden wird die gleiche rationale Struktur erkannt. Auf Vernunft in diesem Sinn gründeten sich sowohl die 102

revolutionären Bewegungen der letzten zwei Jahrhunderte wie das intuitive Verhältnis zum Universum in den klassischen und romantischen Strömungen derselben Zeit. Die Macht der Vernunft in diesem Sinn war das Kriterium, dem in der klassisch-romantischen Philosophie und Kunst und in den revolutionären Bewegungen die etablierten Autoritäten unterworfen wurden. Wenn wir nach den Ursprüngen der kritischen Vernunft in der westlichen Welt fragen, denken wir zuerst an die frühgriechische Philosophie, Kunst und Literatur. Aber der erste Schritt zum autonomen Denken wurde nicht von Philosophen und Dichtern gemacht, sondern von der Religion, die sich selbst der Kritik unterwarf. Der prophetische Angriff auf die etablierte Autorität ging dem rationalen voraus, sogar in Griechenland. Der erste Schritt zur Befreiung der Vernunft war die Befreiung des griechischen Unterbewußtseins von Blut-und-Boden-Mächten durch die olympischen Götter, besonders durch das Erscheinen von Apoll und Dionysos. Der delphische Apoll tötet den göttlich-dämonischen Herrscher von Delphi, ein Verbrechen gegen die Blut-und-Boden-Götter, für das er mit sieben Jahren Knechtschaft sühnen muß. Athene gibt im Rat der Götter die Stimme ab, die Orest von dem Fluch befreit, den er durch die Ermordung seiner Mutter, eine Rache für die Ermordung seines Vaters, auf sich lud. Athenes Stimme bedeutete den Sieg über die sakramental geheiligten Autoritäten der Vergangenheit. Die griechische Tragödie enthüllt, indem sie sowohl die Unendlichkeit des Menschen wie seine moralische Freiheit anerkennt, die wahre menschliche Lage und verweist auf die Möglichkeit, die dämonischen Kräfte zu bezwingen, die die Tragik herbeiführen. Auf dieser Grundlage konnte der griechische Humanismus wachsen und in den frühgriechischen Philosophen eine Kritik an der Religion ermöglichen, die trotz ihres Rationalismus große Ähnlichkeit mit der Kritik der jüdischen Propheten aufweist. Die Wiedergeburt der humanistischen Autonomie in der Neuzeit, in der Renaissance, weist dieselben Züge auf wie die Antike; auch hier folgt die rationale Kritik an der etablierten Autorität dem Weg, den die Selbstkritik der Religion gebahnt hat. Das Wort „Renaissance" Wiedergeburt, ist von dem religiösen Begriff des „Neugeborenwerdens" abgeleitet, der im Johannesevangelium erscheint und, diesem folgend, in theologischen Beschreibungen des Prozesses der persönlichen Erlösung. Als das gleiche Wort zur Bezeichnung einer Periode, der Renaissance, gebraucht wurde, sollte dies eine Wiedergeburt der gesamten Gesellschaft auf allen Gebieten, der Religion wie der Kultur, 103

ausdrücken. Deshalb konnte das Wort Renaissance gegen das Wort Reformation ausgewechselt werden. Es bedeutete, daß die Autonomie der Vernunft — im Sinne von logos — wieder zur Herrschaft gelangt, nachdem sie in der Spätantike und im Frühmittelalter verloren gegangen war. Die ungeheuren Möglichkeiten, die diese Wende der Geistesgeschichte mit sich gebracht hatte, wurden jedoch wegen der Religionskriege nicht entwickelt. Trotz des Kampfes der protestantischen Reformation gegen die etablierten Autoritäten, die politischen ebenso wie die religiösen, setzte sich die Autonomie der Vernunft erst im 18. Jahrhundert mit der Kritik an den traditionellen Autoritäten durch die Philosophen der Aufklärung völlig durch. All dies zeigt, daß die beiden großen anti-autoritären Bewegungen in der westlichen Welt mit einer innerreligiösen Kritik begannen; dann entwickelten sie sich stufenweise, um schließlich in einem radikalen Skeptizismus zu enden. Mit dem Verschwinden aller geheiligten Autoritäten wurde die Autonomie alles Sinnes entleert und dem Einbruch neuer heteronomer Mächte und der Errichtung neuer Autoritäten, religiöser wie weltlicher, zugänglich. Im letzten Jahrhundert vor Christus trat die griechische Philosophie selbst in ein religiöses Stadium ein, dessen Höhepunkte der religiöse Humanismus der Stoiker und die mystische Philosophie des Neuplatonismus waren. In dieser Situation trat das Christentum auf und wurde zum Kristallisationspunkt für all diese verschiedenen Elemente der spätantiken Welt und verwandelte sie. Man kann die Frage aufwerfen, ob unsere Zeit Züge trägt, die denen der religiösen Periode der Antike ähneln. Gewisse Symptome weisen in diese Richtung: die wachsende Bedeutung der Kirchen, der katholischen wie der protestantischen; die ungeheure Zunahme an sektiererischen Gruppen, die ihren Anhängern Gewißheit und Lebenssinn geben, allerdings für den Preis, daß sie ihre geistige Autonomie opfern; das Wiederaufleben des religiösen Interesses an den Universitäten; der Einfluß der neuen Theologie auf viele Gebiete der Kultur und vor allem das leidenschaftliche Verlangen der jungen Generation nach einem letztgültigen Lebenssinn. Außerhalb der Religion im engeren Sinn des Begriffs finden wir kulturelle Bewegungen, die deutlich ein Suchen nach Antworten auf die letzten Fragen bezeugen, besonders in der existentialistischen Philosophie und Literatur, der expressionistischen Kunst, in der Bereitschaft älterer wie jüngerer Menschen, autoritäre Lösungen anzunehmen, wenn auch nicht immer solch radikale wie Faschismus und Kommunismus. Diese Tendenzen mögen früher oder später zur Errichtung neuer Arten etablierter 104

Autorität führen, vielleicht sogar zu einer Zentralisierung von autoritären Institutionen. Wenn das geschehen sollte, könnte man entschieden von einer Analogie unserer Zeit zu der spätantiken Welt sprechen. Aber selbst in diesem Fall würde sich das prophetische Element in der Religion im allgemeinen und im Judaismus und im Christentum im besonderen geltend machen, wenn auch nur als Untergrundbewegung. Deshalb müssen wir uns fragen, wie die prophetische Kritik an der etablierten Autorität vorgeht. Als erstes gebraucht der Prophet Elemente der Tradition, in der er lebt, um sie gegen den verzerrten Zustand dieser Tradition einzusetzen. Die Kritik des Propheten kommt nicht von außen; das gibt ihr die Macht, die Tradition zu verändern, was eine Kritik von außen nicht könnte. Nicht der Humanist Erasmus, sondern der Augustinermönch Luther brachte die Reformation. Die rationale Kritik kann die prophetische Selbstkritik der Religion unterstützen, aber nicht ersetzen; sie kann den Geist für das Neue, das der Prophet bringt, vorbereiten. Sie kann dieses in Begriffe fassen und organisieren, aber sie ist nicht religiös schöpferisch. Das gilt sogar für Bewegungen wie die frühe Demokratie, den Sozialismus und den Kommunismus. Sie alle bezogen ihren schöpferischen Antrieb aus dem Alten Testament, den revolutionären Sekten der Reformationszeit oder älteren Schwärmerbewegungen und mystischen Visionen oder aus dem religiösen Humanismus, dem Vorläufer des weltlichen Humanismus und Nationalismus. Die philosophischen und soziologischen Formulierungen, in denen die revolutionären Bewegungen ihr Programm niederlegten und sich rechtfertigten, sind sekundär gegenüber dem ursprünglichen prophetischen Antrieb. Deshalb werden die Worte der Propheten in die Gestaltung der neu etablierten Autorität aufgenommen. Das trifft nicht nur auf die Kirchen zu, die durch prophetische Kritik gebildet oder umgebildet werden, sondern auch auf weltliche Lebens- und Denksysteme, die durch prophetische wie rationale Kritik geschaffen werden. Das wichtigste Beispiel in der Gegenwart ist die quasi-biblische Stellung, die die Schriften von Marx in der kommunistischen Welt einnehmen. Was aber ist die Grundlage für die Autorität des Propheten? Was für eine Autorität besitzt er? Die biblische Antwort ist: der göttliche Geist gibt dem Propheten Autorität, und diese Autorität ist keine etablierte, sondern wurzelt in der unmittelbaren Gegenwart des göttlichen Geistes im menschlichen Geist. Sie ist die Manifestation der Gegenwart des göttlichen Geistes. Das bezeugen die Propheten des Alten Testaments, wenn sie die Visionen beschreiben, in denen sie 105

den Auftrag zu ihrer Sendung empfangen haben. Das bezeugt das Neue Testament, wenn Jesus sein majestätisches „Ich aber sage euch" dem Buchstaben des mosaischen Gesetzes entgegenhält. In beiden Fällen handelt es sich nicht um von außen kommende Kritik. Das Gesetz wird aufrecht erhalten, aber der göttliche Geist legt es durch den Mund des Propheten aus. In der Geistlehre des Paulus sind tatsächliche Autorität und persönliche Freiheit auf eine Art vereint, die man als Lösung des Problems von Autorität und Kritik bezeichnen könnte. Der göttliche Geist greift nicht in Einzelfällen von oben ein, sondern er verbindet von Generation zu Generation Tradition und neue Schöpfung. Er zwingt dem, der von ihm ergriffen ist, nicht von außen etwas auf, sondern befreit ihn von Zwängen, die sein Personzentrum spalten und seine Entscheidungskraft versklaven. Paulus verwirft in seiner Lehre vom Geist alle sakramental geheiligten Autoritäten. Die Persönlichkeit, die vom Geist ergriffen wird, ist das Gegenteil einer autoritären oder autoritätsgläubigen Persönlichkeit. Allerdings ist selbst Paulus nicht immer seiner tiefen Einsicht gefolgt, und die Kirchen haben sie allmählich vergessen und den Geist durch das Amt ersetzt, d. h. durch die etablierte Autorität. Für diese Entwicklung gab es widitige Gründe. Die prophetische Autorität ist diarismatisch, eine Gabe des göttlichen Geistes, wie Jesus sie im Gesprädi mit den Pharisäern über die Autorität Johannes des Täufers nennt. Hinter Johannes steht keine etablierte Autorität; trotzdem läßt sich Jesus von ihm taufen. Eine charismatische Autorität anerkennen enthält jedodi ein Wagnis: der Prophet kann ein falscher Prophet sein; der Geist, der ihn ergriffen hat, kann ein zerstörerischer Geist sein. In der frühen Kirche traten viele Propheten auf, die von den etablierten Autoritäten der Kirdie verworfen wurden. Das war der einzige Weg, die Kirdie vor zerstörerischen Mäditen zu schützen, aber es war ein zweideutiger Weg. Er konnte zum Schutz etablierter Autoritäten und Institutionen der Kirche gegen den göttlidien Geist wahrer prophetischer Kritik führen. Und so geschah es auch; und die geistige Schöpferkraft in der Kirche wäre ganz und gar unterdrückt worden, wenn radikale Bewegungen, wie vor allem die protestantische Reformation, sich nicht gegen die etablierten Autoritäten erhoben hätten. Die Frage ist, ob es Kriterien zur Unterscheidung zwischen wahren und falschen Propheten gibt oder, im Hinblick auf das Problem der autoritätsgläubigen Persönlichkeit, zur Unterscheidung zwischen berechtigtem und unberechtigtem Widerstand gegen geheiligte Autoritäten und Institutionen. Ich will diese Frage mit Hilfe eines Begriffs

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beantworten, der sowohl mythologische wie psychologische und soziologische Bedeutung hat, ich meine den Begriff des Dämonisdien. Der wahre Prophet ist daran zu erkennen, daß er gegen den dämonischen Anspruch eines Endlichen auf Unendlichkeit, auf unbedingte Ernsthaftigkeit, auf letztgültigen Sinn kämpft. Dies ist ein Anspruch, der mit dem entmythologisierten Begriff „dämonisch" bezeichnet werden kann. Der falsche Prophet unterstützt den dämonischen Anspruch, der wahre Prophet stellt seinen dämonischen Charakter bloß. Der Begriff des Dämonischen dient zur Erhellung des Problems der autoritären wie der autoritätsgläubigen Persönlichkeit, d. h. der Persönlichkeit, die Autorität ausübt, wie derjenigen, die sich ihr unterwirft. Die Tyrannei der etablierten Autorität hat dämonischen Charakter, insofern sie darauf beruht, daß ihre Macht als geheiligt betrachtet wird und deshalb als erhaben über prophetische oder rationale Kritik. Die meisten Hierarchien haben diesen Charakter und am deutlichsten die etablierte Autorität der Geistlichkeit über die Laien und des Papstes über alle religiösen wie weltlichen Mächte der katholischen Kirche. Die revolutionären Reformatoren nannten den Papst den Antichrist, ein entschieden dämonisches Symbol, nicht weil er als Person besonders böse gewesen wäre, sondern weil er absolute und unangreifbare Autorität beanspruchte. Was die autoritätsgläubige Persönlichkeit betrifft, so ist es ihr gespaltenes Selbst, das Züge dämonischer Besessenheit zeigt. Paulus spricht von der Angst, von der die Heiden ihr ganzes Leben besessen sind, weil sie kosmischen Mächten unterworfen sind, welche zugleich zerstörerische Kräfte im Individuum und in der Gesellschaft sind. Paulus enthüllt die tiefe Dialektik der autoritätsgebundenen Persönlichkeit: Die Flucht vor der Angst vor den herrschenden Mächten dieser Welt führt sie zur Unterwerfung unter eine oder mehrere dieser Mächte. Diesen wird letztgültige Autorität zuerkannt, und man erwartet von ihnen, daß sie endgültige Sicherheit gewähren. So befriedigen sie für den Augenblick, aber sie sind von anderen potentiellen Autoritäten bedroht, da sie nur eine endliche Basis haben. Zudem wird die Angst ihrer Anhänger nicht gemildert, sondern nur vertieft. Man kann dieselbe Dialektik auch mit psychologischen Begriffen beschreiben. Ein besonderer Trieb innerhalb des zentrierten Selbst nimmt das Zentrum selbst ein und bestimmt Entscheidungen und Handlungen. Es kann eine Leidenschaft sein oder ein Verbot gegen sie, es kann moralistische Unterwerfung unter das Gesetz sein oder das Wagnis der Gesetzlosigkeit. In allen diesen Fällen scheint das zen107

trierte Selbst zu entscheiden, aber die Basis ist zu schmal. Andere Triebe versuchen, das Zentrum zu beherrschen, und die Angst, die diese Konflikte erzeugen, ist dem Konflikt zwischen verschiedenen Göttern analog und oft identisch mit ihm. Die Zuflucht zu dem einen Element in uns als einer Sache von letztgültigem Anliegen bringt keinen Erfolg; selbst die totale Hingabe an eines der edelsten Elemente in uns wie Arbeit, Wohltätigkeit, Wissenschaft oder Kunst bringt keine Rettung vor der Angst, die durch seine dämonische Ausschließlidikeit erzeugt wird. Diese Triebe in der psychologischen Struktur gleichen etablierten Autoritäten, die in der soziologischen Struktur Anspruch auf absolute Geltung erheben. In allen drei Fällen, dem religiösen, dem psychologischen und dem soziologischen, versucht die autoritätsgebundene Persönlichkeit die Angst zu überwinden, indem sie sich an die innere oder äußere Autorität klammert und sich ihrem unbedingten Anspruch unterwirft. Dabei verteidigt sie ängstlich die Aufgabe ihrer schöpferischen Freiheit nicht nur auf psychologischem, sondern auch auf religiösem und soziologischem Gebiet. In allen diesen Fällen treten Abwehrmechanismen in Kraft durch die Angst, daß man seine Sicherheit verliert, wenn man die etablierten inneren und äußeren Autoritäten verliert. Die autoritätsgläubige Persönlichkeit unterwirft sich dämonischen Ansprüchen, um der Angst zu entgehen; aber dadurch wird sie das Opfer einer noch größeren Angst. Es ist die Funktion des wahren Propheten, diese Situation zu enthüllen und zu versuchen, aus ihr zu befreien. Bei dieser Aufgabe stößt er auf den Widerstand des falschen Propheten, der die Unbedingtheit einer begrenzten Macht und Autorität (einer Nation, einer Kirche, einer Bewegung, einer kulturellen Funktion) und ihrer Vertreter verkündet. Der falsche Prophet bestätigt die Neurose, die dem Verhalten der autoritätsgläubigen Persönlichkeit zugrunde liegt. Er befreit seine Anhänger für den Augenblick von der Angst, nur um sie im nächsten Augenblick in tiefere Angst zu stürzen. Er stärkt, mythologisdi ausgedrückt, den Dämon, von dem sie besessen sind. Das Mittel, durch das der wahre Prophet die autoritätsgebundene Persönlichkeit zu befreien und zu heilen versucht, ist die Botschaft einer unbedingten Gewißheit, jenseits von Ungewißheit und Gewißheit. Er enthüllt den dämonischen Charakter jeder unbedingten Knechtschaft unter eine etablierte Autorität und zeugt von der Kraft des göttlichen Geistes, die Ekstase mit Ordnung, Schöpfertum mit Gemeinschaft und Freiheit von allen etablierten Autoritäten mit Freiheit für alle Autoritäten verbindet, welche vor der Kritik des Propheten bestehen können. 108

DIE F U N K T I O N IN

DEN

BEIDEN

VON

DER

RELIGION

GESELLSCHAFTSSYSTEMEN

RUSSLAND

U N D

AMERIKA

ZWEI BEGRIFFE DER RELIGION Bevor ich auf die konkrete Seite des Themas eingehe, möchte ich zwei Begriffe der Religion definieren, deren Unterscheidung für die folgende Analyse wichtig ist. Dann will ich zeigen, welche Beziehung die Religion im engeren Sinne des Begriffs zu Staat und Gesellschaft in den beiden Gesellschaftssystemen hat. Schließlich will ich die beiden Gesellschaftsformen analysieren, wie sie vom Standpunkt der Religion im weiteren Sinne des Begriffs erscheinen. Religion wird gewöhnlich als Glaube an göttliche Wesen und deren Verehrung verstanden. In diesem Sinne ist Religion eine Wirklichkeit für das Individuum und für die Gruppe, der es angehört. Wie in allem geistigen Leben sind auch in der Religion die individuelle Erfahrung und die der Gruppe untrennbar miteinander verbunden, aber voneinander unterscheidbar. Es gibt keine persönliche Religion, die nicht letzten Endes durch die Symbole und Erfahrungen der Gruppe bestimmt wäre. Allerdings kann und muß die öffentliche Religion eine Religion des Herzens sein, wenn sie lebendig sein und bleiben will. In dem Prozeß der Verinnerlichung der religiösen Substanz einer Gruppe werden die Symbole der öffentlichen Religion entweder vertieft oder verflacht. Eine Religion des Herzens kann die Inhalte der öffentlichen Religion zu vagen Gefühlen ohne intelektuelien Inhalt oder moralisches Gewicht machen. Aber sie kann die Macht der traditionellen Symbole auch vertiefen und ihnen radikale Wirksamkeit verleihen. Sie kann die Frömmigkeit der Gruppe stärken, sie kann aber auch zu dem Angriff eines Propheten oder Reformators auf eine entstellte öffentliche Religion führen und damit zu einer Veränderung des sozialen und kulturellen Lebens der Gruppe. Religion des Herzens von Männern wie dem Propheten Arnos, Franz von Assisi und Martin Luther verwandelte die Religion ihrer Gruppe und dadurch schließlich die Geschichte der Menschheit. Aber eine solche Leistung hätten diese Männer nicht ohne enge Zugehörigkeit zur Tradition vollbringen können. Die Vertiefung der Tradition in ihrem per109

sönlichen religiösen Leben gab ihnen die Kraft, Systeme der öffentlichen Religion anzugreifen, zu erschüttern und zu verändern und neue Formen einer Religion des Herzens zu finden. In den letzten zweihundert Jahren hat sich unter den Gebildeten des Abendlandes eine Haltung entwickelt, die man als Anerkennung der Religiosität und Ablehnung der Religion bezeichnen kann, die Bestätigung der Religion des Herzens und die Verachtung der öffentlichen Religion. Man will religiös sein, aber keiner Religion angehören. Das ist jedoch eine Selbsttäuschung, denn religiös in diesem Sinne sein, bedeutet, daß man die traditionelle Religion fast gänzlich ihres rationalen Inhalts entkleidet und nur mit ihren gefühlsmäßigen und moralischen Resten lebt. Diese Haltung läßt sich nicht mit dem Hinweis auf die Mystik rechtfertigen, denn alle großen Mystiker haben ihre höchsten mystischen Erfahrungen durch gesteigerte Teilhabe an den Symbolen und Bräuchen einer konkreten religiösen Tradition erreicht. Diese Tradition wird in der letzten mystischen Vereinigung zwar transzendiert, aber sie dient als notwendige geistige Stufe zu dieser Vereinigung. Deshalb müssen wir, wenn wir die Funktion der Religion in einer Gesellschaft analysieren wollen, beide, die öffentliche Religion und die Religion des Herzens, in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit voneinander betrachten. Daraus ergeben sich wichtige Folgerungen: erstens darf Religion im weiteren Sinne nicht mit Rückzug auf subjektive Religiosität identifiziert werden, mit Gefühl ohne Inhalt und Moral ohne Frömmigkeit. Der weitere wie der engere Begriff von Religion umfassen öffentliche Religion und Religion des Herzens. Religion im weiteren Sinne des Wortes ist der Zustand des Ergriffenseins von einem letztgültigen Anliegen, von etwas, das für uns von unendlichem Interesse ist, das wir bedingungslos annehmen, denn wir erfahren in ihm den Grund alles Seins und Sinns. Ein derartiges Anliegen ist eine Wirklichkeit im Individuum, es ist aber auch in den Institutionen einer Gesellschaft verkörpert und übt eine Wirkung auf Gesellschaftsgruppen aus. Es bildet die geistige Substanz einer Kultur und einer Epoche und hat seine Symbole und Riten, seine gefühlsmäßige Macht und seine moralischen Gehalte; aber es kann nicht mit Glauben an göttliche Wesen und deren Verehrung identifiziert werden. Göttliche Wesen können Symbole für dieses Anliegen sein, aber sie sind nicht die einzigen Symbole. Die ersten Christen wurden des Atheismus angeklagt, weil sie das Pantheon der Heidengötter verließen und an seiner Stelle den Grund alles Seins verehrten. Ihr Gott war nicht ein Wesen, sondern die Macht, die allen Wesen Sein ver110

leiht. Diese Gottesidee war dem heidnischen Theismus zu radikal, und sie erweist sich noch immer als zu radikal für einen gewissen christlichen Theismus, der in vielen christlichen Kirdien gepredigt wird. Sie ist jedoch ein wahres Symbol für das, was uns unendlich angeht. In den letzten 200 Jahren haben sich viele Menschen ernsthaft, aber vergeblich bemüht, sich aus der öffentlichen Religion auf eine Religion des Herzens zurückzuziehen, denn sie haben erlebt, daß die Symbole für ein letztgültiges Anliegen ihren Sinn verloren haben oder daß das Anliegen selbst sich verändert hat, ohne angemessene Symbole für die neue Erfahrung zu finden. Aber das geistige Leben duldet ebensowenig wie die N a t u r ein Vakuum. Ein letztes Anliegen muß in der Gesellschaft zum Ausdruck kommen, es muß alle Bereiche menschlicher Existenz ergreifen. Bewußt oder unbewußt findet es in der menschlichen Sprache, der fundamentalsten aller menschlichen Schöpfungen, Ausdruck, und von da aus durchdringt es das gesamte Leben einer Gesellschaft. Die Sprache derer, die der religiösen Tradition abgesagt haben, ist eine weltliche Sprache. Die Alternative zur religiösen Tradition ist für diese Menschen keine neue Religion gewesen, sondern weltliches Wissen, weltlicher Staat, weltliche Kunst und weltliche Lebensweisen, wie sie sich seit der Renaissance entwickelt haben. Wenn man Religion in ihrer engeren Bedeutung versteht, steht die weltliche Sprache im Gegensatz zur religiösen. Wenn man sie jedoch in ihrer weiteren Bedeutung faßt, bringt die weltliche Sprache das religiöse Anliegen ebenso zum Ausdruck, wie sie es verhüllt. Wir müssen uns dieser Sprache bedienen, wenn wir in der Mitte des 20. Jahrhunderts über die Funktion von Religion in zwei verschiedenen Gesellschaftssystemen sprechen wollen.

KIRCHE UND STAAT IN RUSSLAND UND AMERIKA

Bevor wir den schwierigeren Teil unseres Themas in Angriff nehmen, wollen wir die Stellung der Kirche in einer totalitären und einer demokratischen Gesellschaft, in Rußland und in Amerika, vergleichen. Der Mangel hinreichender Nachrichten über die Lage der Ostkirche erlaubt uns nur wenige Andeutungen. 1 Soweit der ökumenische R a t der Kirchen in Erfahrung bringen konnte, ist das religiöse Leben der 1

Dieser V o r t r a g wurde 1952 gehalten.

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russischen Ostkirche keineswegs erloschen, sondern nur in seinem Umfang und seinem Einfluß beschränkt. Die Kirche darf sich weder in die Erziehung einmischen, noch an öffentlichen Diskussionen oder an Propaganda irgendwelcher Art teilnehmen. Die Zahl der Kirchen ist wesentlich verringert worden; aber ihre Angehörigen werden nicht mehr verfolgt wie in den Anfängen der Sowjetherrschaft. Heute haben die politischen Führer kein Interesse mehr daran, den religiösen Atheismus zu propagieren, der die orthodoxe Kirche in Kußland mit dem gleichen Fanatismus bekämpfte, mit dem sich feindliche Kirchen gegenseitig zu bekämpfen pflegten. Im Gegenteil, die Sowjets bedienen sich der Kirche gerne, um psychologische Bedürfnisse zu befriedigen, die andernfalls die politische Struktur bedrohen könnten. Man hat es der orthodoxen Geistlichkeit zum Vorwurf gemacht, daß sie sich diese Rolle hat aufdrängen lassen, und zweifellos tritt in einer Lage wie der, in der sich heute die Ostkirche befindet, die menschliche Schwäche an den Tag wie in den Zeiten der Verfolgung im Frühchristentum. Aber das ist nur die eine Seite der Wahrheit. Im östlichen Christentum gibt es eine Tradition, den Cäsaro-Papismus, in der die höchste kirchliche Autorität mit der Autorität des Kaisers oder Königs identifiziert wird. Der Herrscher gilt als der Christus seines Volkes; so wurde z. B. Konstantins Grab mit den symbolischen Gräbern der zwölf Apostel umgeben. Der Zar galt als der Beschützer des Heiligen Synod und damit als Oberhaupt der Kirche. Und um auch das Gemeinsame der beiden Gesellschaftssysteme, deren Gegensätze wir hier untersuchen wollen, zu zeigen, sei erwähnt, daß die Kirchen der lutherischen Reformation den Landesfürsten als summm episcopus, als obersten Bischof seines Landes, einsetzten. In England hat schon im 12. Jahrhundert der sogenannte anonymus von York für die Anerkennung des Königs von England als Christus seines Volkes und gegen die päpstliche Autorität über die englische Geistlichkeit gekämpft. Diese Tatsachen lassen uns die Lage der russischen orthodoxen Kirche besser verstehen. Daß das weltliche Oberhaupt zugleich Oberhaupt der Kirche ist, ist nichts Neues. Aber für den Osten bedeutet diese Tatsache etwas anderes als für den Westen. Die Ostkirche vertritt eine sakramentale Mystik, sie kennt keine sozialen oder politischen Ziele. Dadurch sind die Möglichkeiten eines Konflikts zwischen weltlicher und kirchlicher Autorität begrenzt. Ein Zar hätte kaum je einen Buchstaben der Liturgie ändern können; aber wenn ein Patriarch sich einer christlichen Lehre zur Kritik an der sozialen oder politischen Struktur des Staates bedient hätte, hätte der Zar ihn augenblicklich 112

erledigt. Die Haltung der Sowjetführung scheint nicht viel anders zu sein; nur daß sie auf die Ehre verzichtet, Beschützer des Heiligen Synod zu spielen. Hier in Amerika haben wir die Trennung von Kirche und Staat, ein Ergebnis des Kampfes der evangelischen „Außenseiter" der Reformation gegen die römisch-katholische wie gegen die protestantische Kirche. Wir sind auf dieses Erbe stolz, und die religiöse Freiheit gehört mit zu den anderen Freiheiten, die wir genießen. In der letzten Zeit fragt man sich jedoch, ob die Trennung nicht zu weit gegangen ist, besonders auf dem Gebiet der Erziehung. Man hat den Eindruck, daß in den meisten Schulen weltliche Erziehung nicht religiöse Neutralität bedeutet, sondern „antireligiöse Religion". Aber wenn der Staat auch nur im geringsten eine „religiöse Religion" in den Schulen unterstützen würde, so könnte das die Trennung von Kirche und Staat gefährden. Es ist nicht überraschend, daß dieses Problem in beiden Gesellschaftssystemen auftritt, denn in jedem Gesellschaftssystem besteht das Problem: wer soll Erzieher sein? Oder genauer: wer soll die Erzieher erziehen? Solange der typische angelsächsische Konformismus auch im amerikanischen religiösen Leben herrschte, war das Problem weniger dringlich. Die Nonkonformisten der alten Welt hatten in der neuen Welt zuerst durch Gewaltmaßnahmen, dann durch Toleranz einen neuen Konformismus geschaffen. Dieser Konformismus besteht noch immer, was ein Einwanderer wahrscheinlich klarer erkennt als ein geborener Amerikaner, und der Konformismus wird immer universaler trotz großer Hindernisse. Er ist die treibende Kraft in der ökumenischen Bewegung und in der Zusammenarbeit nicht nur der amerikanischen Denominationen, sondern aller Konfessionen, die griechisch-orthodoxe Kirche eingeschlossen. Aber in der demokratischen Gesellschaft der Vereinigten Staaten spielt der institutionelle Protestantismus noch eine andere Rolle. Im Gegensatz zu der sakramental-mystischen Selbstbescheidung der östlichen Orthodoxie bedeutet er eine gesellschaftliche Macht höchsten Grades. Mit demokratischen Mitteln beeinflußt er politische Entscheidungen, Gesellschaftsideale, Lebensweisen und internationale Verhandlungen. Die katholische Kirche wirkt auf die gleiche Weise, und da sie die Kirche mit den meisten Anhängern im Lande ist und eine straff organisierte autoritäre Gruppe bildet, ist sie mächtiger als irgendeine protestantische Denomination und in gewisser Hinsicht sogar mächtiger als alle Protestanten zusammen. Diese Macht kann sie ausüben dank des Toleranzprinzips. Es ist nämlich eine der Para113

doxien des Protestantismus in diesem Land, daß er sich tolerant gegen die verhalten muß, die ihrem Wesen nadi die Toleranz in dem Augenblick zerstören müssen, in dem die Toleranz der Demokratie sie zur Macht hat kommen lassen.

M A R X I S M U S , R E L I G I O N U N D DIE Ö S T L I C H E G E S E L L S C H A F T

Wir müssen nun versuchen, die verborgenen religiösen Mächte im Osten und im Westen zu analysieren, nachdem wir die religiöse Wirklichkeit (im Sinne des engeren Begriffs der Religion) in beiden Gesellschaftssystemen besprochen haben. Unsere Frage: was ist der religiöse Hintergrund der antireligiösen Bewegungen in beiden Gesellschaftssystemen, bringt uns zu einer Betrachtung der Religion im weiteren Sinne des Begriffs, denn Religion in diesem Sinne bestimmt das Schicksal aller Staaten in der ehemals christlichen Welt. Wie war es möglich, daß der Marxismus den größten Teil der östlichen christlichen Welt erobern konnte, und wie konnte der Marxismus nur wenige Jahrzehnte nach seinem Sieg zum Stalinismus werden? Auf diese Fragen gibt es viele Antworten, die einander nicht ausschließen. Es ist unsere Aufgabe, diese geheimnisvollen und bedeutenden Phänomene vom Standpunkt der Religion in ihrer weiteren Bedeutung als Ergriffensein von einem Unbedingten zu durchdringen. Die griechische Orthodoxie entwickelte sich früh zu einer mystischsakramentalen Religion. Sie verkörpert den einen T y p der Religion, der sich überall in der Geschichte findet, den Typ, der die Gegenwart des Heiligen, die sakramentale und mystische Einung mit dem Göttlichen, die Intuition des Göttlichen, betont, wie es sich überall in der geistigen Tiefe aller Dinge in N a t u r und Geschichte manifestiert. Es ist eine Religion sichtbarer Schönheit, liturgischer Vollkommenheit, theologischer Spekulation und mystischer Erhebung. Es ist keine Religion gesellschaftlicher und politischer Tätigkeit und Veränderung. Sie transzendiert den vorgegebenen Stand der Dinge, ohne den Versuch zu machen, ihn zu ändern. Aber das Heilige ist nicht nur gegenwärtiges Sein, es ist auch das Seinsollende, vor allem das, was Gerechtigkeit verlangt. Deshalb setzt da, wo die Religion ihre gesellschaftlichen und politischen Implikationen verleugnet, eine Reaktion der vernachlässigten Seite der Religion ein, die sich gegen das sakramentale System durchsetzen und es sogar zerstören kann. Das geschah etwa, als der Islam weite Gebiete des byzantinischen Reiches eroberte, besonders in den Gebieten, in denen wie 114

in Ägypten der Sakramentalismus in magischen Aberglauben verfallen war. Diesem entarteten Christentum war der Puritanismus und Legalismus des Islam überlegen, der sich in erster Linie der Organisation und Erziehung der Gesellschaft, oft auf ihrer niedrigsten Kulturstufe, annahm. Einige der byzantinischen Kaiser suchten ihr Reich vor dem Ansturm des Islam durch Reinigung des Christentums von dem abergläubigen Gebrauch der Christusbilder, der sogenannten Ikone, zu schützen. Aber sie konnten ihr Reich weder vor dem Radikalismus und Fanatismus des Islam bewahren, noch konnten sie sich gegen den Traditionalismus der Kirche durchsetzen. Sie konnten die russische Kirdie nicht beeinflussen, die zu einer unsozialen, sakramentalen und mystischen Religion wurde und nach Jahrhunderten dasselbe Schicksal erlitt wie die anderen östlichen Kirdien. Sie fiel einer anderen sozialen Bewegung mit puritanischem Charakter und fanatischem Glauben zum Opfer, dem Marxismus. Marxismus bedeutet hier weder Stalinismus, noch Leninismus noch die Art von Marxismus, die sich nach Marx entwickelt hat, sondern den Einfluß auf Denken und Handeln, der von Marx selber ausging. So verstanden, ist Marxismus ein Aufruf zu sozialer Gerechtigkeit gegen ein konservatives System politischer und kirchlicher Hierarchien, deren Führung in einer Hand liegt und die auf jedem Gebiet zusammenarbeiten. Wie die Kaiser von Byzanz versuchte auch der Zar, die drohende Gefahr einerseits durch Unterdrückung potentieller Feinde, andererseits durch Sozialreformen abzuwehren. Aber es war bereits zu spät. Das System brach unter dem Angriff des kommunistischen Radikalismus zusammen. Es war eine Revolution von innen, keine Revolution einer irreligiösen Macht, sondern einer Religion der sozialen Gerechtigkeit in weltlicher Form. Sie vertrat ein letztgültiges Anliegen, für das das Kriterium der Wahrheit die Gerechtigkeit war, wie sie es für die Propheten, für Jesus, für Mohammed, für radikale Sekten der Reformation, für die bürgerlichen Revolutionäre des 18. Jahrhunderts, für die Gründer der Vereinigten Staaten von Amerika, für die vor-marxistischen Sozialisten und für Marx selber war. Ohne diesen historischen Hintergrund kann die Bedeutung der russischen Revolution nicht verstanden werden. Wie entscheidend auch die tatsächlichen Umstände waren, die unvorstellbare soziale Ungerechtigkeit, der Zusammenbruch nach dem Ersten Weltkrieg, die wirtschaftliche und technische Rückständigkeit — eines läßt sich nicht durch sie erklären: die menschliche Hingabe der Männer, die unter ungeheuren Leiden die Revolution vorbereiteten und durchführten. Die Veränderung der Wirklichkeit war für sie ein Ietz115

tes Anliegen, als das wir die Religion im weiteren Sinne des Wortes definiert haben, ein Anliegen, das an die Stelle eines anderen letzten Anliegens, der Heiligung der Wirklichkeit, trat. Oder, wie man audi sagen kann, es war die weltliche und atheistische Form eines eschatologischen Strebens nach dem Kommen des Reiches Gottes, das die sakramentale Einheit mit dem immer gegenwärtigen Gott überwand. Aber die eine Seite eines letztgültigen Anliegens kann nicht ohne die andere bestehen: man kann mit dem „Du sollst" alleine nicht leben. Die Revolution verschlingt nidit nur ihre eigenen Kinder, sondern auch sich selbst. Um ihre Ergebnisse zu erhalten, muß sie konservativ werden. Sakramentale oder quasi-sakramentale Ideen, Riten, Institutionen müssen aufgestellt, verwirklicht und verteidigt werden. Neue Hierarchien entstehen; Traditionen, besonders nationale, werden wiederbelebt. Personen, Worte und Institutionen erhalten Weihe und werden zu Symbolen eines letztgültigen Anliegens, das die ganze Gesellschaft ergreift. Aber in diesem Stadium der Entwicklung wird nidit nur die Vergangenheit wiederbelebt, sondern audi viele Elemente der revolutionären Periode werden bewahrt. Das messianische Sendungsbewußtsein lebt weiter und richtet sich auf die übrige Welt. Es bedroht andere Völker und fordert ihre Gegenwehr heraus. Die Ideale der sozialen Gerechtigkeit, in deren Namen das sakramentale System überwunden wurde, werden weiter verkündet, obwohl die Situation, aus der sie hervorgingen, nicht mehr besteht. Sie werden zu Schlagworten und Werkzeugen der Propaganda innerhalb und außerhalb des Systems. Die Haltung und Sprache des Säkularismus bleibt unverändert, wird jedodi auf eine besondere Weise mit einer starken nationalen Mystik vereint. Heute lehnt man die kosmopolitische Seite des marxistischen Rationalismus ab, und eine Verwandtschaft mit dem Panslawismus des 19. Jahrhunderts tritt zutage. Die Panslawisten waren überzeugt, daß die geistige Substanz des Ostchristentums den degenerierten Westen retten kann; ähnlich wie er verbindet der gegenwärtige russische Byzantismus eine grenzenlose Verachtung der autonomen westlichen Kultur mit dem Glauben an seine eigene rettende Kraft. Aber anders als die Slawophilen borgt der russische Byzantismus seine Terminologie von den autonomen philosophischen Strömungen des Westens und bedient sich der raffiniertesten Methoden zur Manipulierung von Natur und Gesellschaft, um seine Macht zu erhalten und zu stärken. Er gebraucht den Terror auf eine Art und Weise, die ohne den Triumph der technischen Vernunft in der westlichen Kultur nicht 116

denkbar wäre. Mit seiner revolutionären Eschatologie beeinflußt er die Massen außerhalb Rußlands, und teils mittels Terror, teils mittels eines mystischen Neobyzantismus russischer Prägung beherrscht er die Massen in Rußland. Ohne religiöse Analyse der Lage in Rußland läßt sich das Paradox des russischen Totalitarismus nicht verstehen. Man muß zuweilen die Propaganda vergessen und die tieferen Schichten einer historischen Wirklichkeit wie der kommunistischen Gesellschaft betrachten. Ein derartiger Versuch kann sich letzten Endes sogar als nützlich für den Propagandakrieg selbst erweisen.

MARXISMUS, RELIGION UND DIE WESTLICHE GESELLSCHAFT

Auf die gleiche Weise wie die russische müssen wir unsere eigene Gesellschaft analysieren. Wie wir bei der Analyse Rußlands die Propaganda gegen dieses Land vorübergehend außer acht ließen, müssen wir jetzt die Propaganda für Amerika vergessen. Das ändert nichts an der Tatsache, daß unsere Analyse selbst ein Produkt des autonomen Denkens der wissenschaftlichen Methode und der liberalen Toleranz des Westens ist. Sich diese Tatsache bewußt machen bedeutet nicht, daß wir uns einer kritischen Analyse unserer eigenen Existenz unter dem Gesichtspunkt der Religion in ihrer weiteren Bedeutung enthalten müssen. Wir haben auf den Konformismus in der angelsächsischen Welt hingewiesen. Er besteht im heutigen Amerika in einer Verbindung von protestantischem Geist und wissenschaftlichem Humanismus. Die katholische Kirche hat trotz ihrer politischen Macht die Form dieses Konformismus nicht entscheidend beeinflußt. Der amerikanische Konformismus wurzelt in Zügen, die dem frühen wie dem späten westlichen Christentum gemeinsam sind, nämlich der positiven Bewertung der Persönlichkeit und der Geschichte und entsprechend dem religiösen Interesse an Sozialethik und Politik. Wir haben gesehen, daß aus dieser Tradition eine Entwicklung hervorging, die in ihrer marxistischen Form schließlich den östlichen Teil der Christenheit eroberte. Obwohl der Marxismus aus dem Westen stammt, konnte er sich im Westen nicht durchsetzen. Das hat seinen Grund darin, daß die sektiererischen Bewegungen des Mittelalters und der Reformation ebenso wie die bürgerliche Revolution des 18. und 19. Jahrhunderts viele Teile des Programms verwirklicht hatten, die für den Osten eine neue, rettende Botschaft waren. 117

Das Problem der westlichen Gesellschaft, vom Standpunkt der Religion als letztgültiges Anliegen betrachtet, ist nicht die Gefahr des Kommunismus, sondern die des Zerfalls des demokratischen Konformismus und einer möglichen autoritären Reaktion gegen diesen Zustand. Das zeigt sich im Hinblick sowohl auf die protestantischen wie die humanistischen Elemente der westlichen Gesellschaft. Die religiöse Autonomie, die das protestantische Prinzip verlangt, und die kulturelle Autonomie, die das humanistische Prinzip verlangt, werden dauernd durch die Selbstentfremdung der menschlichen Natur bedroht. Dies ist das Thema der Existentialisten von Schelling, Kierkegaard und Nietzsche bis zu den Expressionisten und Surrealisten. Sie alle stellen eine tiefgründige Frage, die alte religiöse Frage über die Not, Endlichkeit und Selbstentfremdung des Menschen, seine Angst und seine Verzweiflung. Sie wehren sich gegen die zunehmende Verwandlung des Menschen in ein Ding, ein Rad in dem Mechanismus von Produktion und Konsumtion. Sie lehnen sich gegen die Erziehung zur Anpassung auf, die den Menschen nach einer Schablone prägt, indem sie ihn Tag und Nacht den zentral dirigierten Kommunikationsmedien aussetzt. Sie kämpfen gegen die Zweidimensionalität und Entpersönlichung des Menschen durch die industrielle Gesellschaft. Obwohl antireligiös, atheistisch, oft zynisch und verzweifelt, vertreten sie ein letztgültiges religiöses Anliegen, erkennen sie die Wahrheit der mensdilidien N o t im allgemeinen und in jeder besonderen Lage. Die Frage in dieser radikalen Form kann in der westlichen Welt nicht länger überhört werden. Von ihrer Beantwortung hängt das geistige und weitgehend auch das politische Schicksal der westlichen Welt ab. Wird es möglich sein, eine totalitäre Reaktion auf den allgemeinen Verfall zu vermeiden, für den die existentialistische Frage sowohl Symptom wie mögliches Heilmittel ist? Die Frage unterdrücken ist ebensowenig ein Ausweg wie dem Beispiel ihrer östlichen Lösung folgen. Aber das Heilige selbst zeigt uns einen Weg. Es hat, wie wir sahen, zwei Seiten: die Heiligkeit des Seinsollenden mit seinen sozialen und politischen Implikationen, die wir in der westlichen Kultur finden, und die sakramental-mystische Heiligkeit des östlichen Christentums. Werden wir diese beiden Seiten in einer schöpferischen Synthese vereinigen und die geistige Substanz des östlichen Christentums in die persönlich-sozialen Formen der westlichen Kultur aufnehmen können? Das ist die Frage, vor der wir heute stehen.

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WERT U N D G R E N Z E N DER FORTSCHRITTSIDEE

I. Die Idee des Fortschritts besaß einmal allgemeine Gültigkeit, hat dann aber wesentlich an Bedeutung verloren. Die Frage ist heute, ob sie in neuer Form wieder zum Leben erweckt werden kann. Deshalb habe ich den Titel „Wert und Grenzen der Fortschrittsidee" gewählt. Wir wollen zuerst den Begriff des Fortschritts selbst untersuchen. Die Vertreter der Semantik bestehen zu Recht darauf, daß Philosophen wie Theologen die Begriffe, derer sie sich bedienen, definieren, denn wir leben heute in einem Babylon nach der Zerstörung des Turms und der Verwirrung und Zersplitterung der Sprachen in der ganzen Welt. In dieser Lage ist es nötig, daß wir mit einem lästigen Exkurs über Logik, Semantik und Geschichte beginnen. Als erstes müssen wir zwischen dem Begriff und der Idee des Fortschritts unterscheiden. Der Begriff „Fortschritt" ist eine Abstraktion, die auf der Beobachtung und Beschreibung von Tatsachen fußt, die auf Wahrheit beruhen, aber auch verfälscht sein können. Die Idee des Fortschritts dagegen ist eine Auffassung des Lebens, in erster Linie unseres eigenen Lebens. Die Idee des Fortschritts annehmen ist also eine Sache der Entscheidung, denn sie ist eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn unseres Lebens. „Fortschritt" als Idee ist ein Symbol für eine gewisse Einstellung zum Leben. Wie es so oft in der Geschichte geschieht, ist hier ein Begriff, der empirischer Beschreibung und logischer Analyse zugänglich ist, zu einem Symbol geworden, und in diesem Fall ist die Verschiebung von Begriff zu Symbol sogar besonders deutlich. Ein Begriff, der aus einem besonderen Tatsadienbereich abstrahiert ist, ist zum Ausdruck für eine allgemeine Lebensanschauung geworden. Deshalb müssen wir „Fortschritt" in seiner doppelten Bedeutung betrachten, als Begriff und als Symbol. D a Beobachtung des Lebens immer seiner Auslegung vorausgeht, soll hier in erster Linie von dem Begriff „Fortschritt" gesprochen werden. Überdies stammen die Irrtümer über das Symbol „Fortschritt" aus einer begrenzten und falschen Analyse des Begriffs „Fortschritt". Offensichtlich ist Fortschritt eine allgemeine Erfahrung, die jeder Mensch macht. Das Wort besagt, daß man aus einer weniger befriedi119

genden Lage zu einer besseren fortschreitet. Denken wir z. B. an einen Vortrag wie diesen über den Fortschritt. Selbst wenn der Redner den Fortschritt leugnen wollte, könnte er nicht umhin, für Fortschritt zu wirken, denn er würde gewiß aus den weniger gut unterrichteten Zuhörern besser unterrichtete machen wollen. In diesem Sinn setzt er den Begriff des Fortschritts voraus, selbst wenn er die Idee des Fortschritts verwirft: implizit ist er „fortsdirittsgläubig", wie ich diese Art des Denkens nenne, die in jeder Tätigkeit vorausgesetzt ist. Jeder Mensch handelt, um einen bestehenden Zustand zu verändern, und zwar zu einem besseren zu machen. Dies ist die einfachste Erklärung des „Fortschritts" und zugleich die grundlegende und die am wenigsten dem Widerspruch ausgesetzte: „Fortschritt", als der jeder Tätigkeit innewohnende Fortschrittsglaube. Aber diese einfache Bedeutung von „Fortschritt" ist weit entfernt von „Fortschritt", als Lebensgesetz und als Gesetz der menschlichen Geschichte verstanden. Wie konnte also, müssen wir uns fragen, die Idee aufkommen, daß die menschliche Geschichte und die ihr vorausgehende Geschichte des Universums fortschrittlich sind, Fortschritt von einer niederen zu einer höheren Stufe bedeutet? Was führte zu dieser Idee? Hier müssen wir einen Blick in die Geschichte werfen. 1 In Amerika herrscht der Glaube, daß mit der Gründung der Nation ein neuer Anfang in der menschlichen Geschichte gemacht ist. Das ist in mancher Hinsicht richtig. Aber ein neuer Anfang ist niemals ganz und gar neu, er ist immer auch Ergebnis vorausgegangener Ereignisse. Während Europa unter der Last leidet, die ihm seine Vergangenheit aufgeladen hat, besteht die Gefahr für Amerika darin, daß es nur in die Zukunft blickt, ohne den schöpferischen Kräften Rechnung zu tragen, aus denen die gesamte abendländische Kultur hervorgegangen ist. Wir müssen uns also als nächstes der Vergangenheit zuwenden, und wir werden sehen, wie wichtig sie zum Verständnis einer Idee wie der des Fortschritts ist. Wir wollen mit dem religiösen Hintergrund der Fortschrittsidee beginnen. Dann wird sich zeigen, daß die prophetische Religion, wie sie im Alten Testament, und in anderen Formen: im Judaismus, im Christentum und im Islam, zum Ausdruck kommt, für die Idee des Fortschritts von grundlegender Bedeutung ist. In dieser Religion begegnen wir dem Gedanken, daß Gott ein Volk auserwählt oder, wie im Christentum, Völker aus aller Welt aufgerufen und ihnen Verspre1 Hier ist ein Zusatz ausgelassen, der sich speziell an amerikanische Studenten wendet.

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chungen für die Zukunft gemacht hat, die er trotz des Widerstandes der Menschen erfüllen wird. In diesem Gedanken findet sich bereits eine Vision des Fortschritts. Der Glaube der Propheten, daß Jahwe, der Gott Israels, sein Reich oder seine himmlische Herrschaft über die ganze Welt aufrichten wird, hat bereits einen ersten Grundstein gelegt für eine Deutung der Geschichte als dem Ort, an dem sich das Göttliche in Form eines Fortschritts auf ein Endziel zu offenbart. Für die Entwicklung des Christentums blieb dieser Gedanke von Bedeutung. Joachim von Floris z.B., ein Abt aus Kalabrien, der im 12. Jahrhundert lebte, vertrat die Fortschrittsidee in seiner Lehre von den drei Ordnungen oder Zeitaltern der Geschichte: dem Zeitalter des Vaters, das ungefähr der Zeit des Alten Testaments entspricht, dem Zeitalter des Sohnes, das etwas über tausend Jahre umfaßt, und dem Zeitalter des Geistes, das mit Benedikt im 6. Jahrhundert beginnt, aber bis in die Zukunft reicht (die Zeitalter überschneiden sich).2 In dem letzten Zeitalter ist die Kirche überflüssig geworden, da die Menschheit vom göttlichen Geist selbst belehrt wird. Es herrscht allgemeine Gleichheit; das Mönchstum schließt alle Menschen ein; es werden keine Ehen mehr geschlossen: die Geschichte ist an ihr Ende gelangt. Dieser teils phantastische, teils realistische Gedanke übte großen Einfluß auf die ganze folgende Kirchengeschichte und sogar auf die Geschichte Amerikas aus. Die Idee von dem dritten Stadium der Geschichte wurde zur Zeit der Reformation von den Schwärmern aufgegriffen, deren Lehren die Hauptgrundlage der amerikanischen Denominationen bilden. Sie liegt ferner dem revolutionären oder fortschrittlichen Glauben an das Kommen des Reiches Gottes im Calvinismus zugrunde, und sie bildet die religiöse Grundlage für das Denken des abendländischen Menschen. Um das zu erkennen, braucht man nur mit Indern oder Japanern zu sprechen. Ich war zehn Wochen in Japan und unterhielt mich täglich mit buddhistischen Priestern oder Gelehrten. Sie sagten mir, daß die orientalischen Religionen auf die Vergangenheit, nicht auf die Zukunft ausgerichtet seien. Die frommen Orientalen wollen zu dem Ewigen zurückkehren, aus dem sie zu kommen glauben. Die Geschichte interessiert sie nicht; wenn möglich, entfliehen sie ihr einmal im Leben und gehen in die Wüste. Wenn man das mit unserem abendländischen Glauben an eine fortschreitende Entwicklung vergleicht, sieht man den Unterschied zwischen orientalischem und abendländischem Denken. So weit die religiösen Wurzeln der Fortschrittsidee —; jetzt kommen 2

Diese Stelle ist etwas genauer ausgeführt als im englischen Original. 121

wir zu ihren weltlichen Grundlagen und ihrer allgemeinen weltanschaulichen Entwicklung, die mit der Renaissance beginnt. Der Renaissancemensch ist ein neuer Typ, nicht nur im Vergleich mit dem mittelalterlichen, sondern auch im Vergleich mit dem spätantiken Menschen. Die wichtigste Anregung, die er durch die Antike empfing, war die durch die stoische Philosophie, aber nicht die stoische Philosophie der Resignation, wie sie sich in der spätgriechischen Welt unter der Herrschaft Roms entwickelt hatte, sondern ein veränderter Stoizismus der Tat, die der Renaissance durch die Römer und einige ihrer Kaiser übermittelt wurde. Dem Renaissancemenschen war jedoch das Gefühl der Abhängigkeit vom Schicksal, das die Stoiker beherrschte, fremd. Er glaubte vielmehr, Herr seines Schicksals zu sein, was er in folgendem Bild zum Ausdruck brachte: Das Schicksal wird mit einem Segelschiff verglichen, das von dem Wind des Zufalls getrieben, aber von dem Menschen am Steuerrad gelenkt wird. Eine solche Auffassung vom Schicksal, die in der griechischen Welt undenkbar gewesen wäre, ist eine Voraussetzung der Fortschrittsidee, die in der modernen Welt herrscht. Ihr entsprangen die großen Utopien der Renaissance, die Visionen eines Zustands, der in der Welt „keinen Platz" hat — das ist die Bedeutung des Wortes outopos —, aber dennoch erwartet wird. Utopien sind bis ins zwanzigste Jahrhundert geschrieben worden; sie fußen auf -der Idee eines dritten Stadiums der Geschidite, in der bürgerlichen Welt als Herrschaft der Vernunft und im Marxismus als klassenlose Gesellschaft verstanden. Es war die Säkularisierung der religiösen Idee vom dritten Zeitalter, von der wir sprachen. Aber die Leidenschaft des Fortschrittsglaubens beruhte nicht nur auf Ideen, sie hatte audi noch andere Quellen: die neue gesellschaftliche Wirklichkeit, der Tätigkeitsdrang des Bürgertums, die Eroberung von Kolonien in allen Weltteilen, die eine Expansion des Lebensraums brachte — alle diese Dinge unterstützten die Idee des Fortschritts. Dazu kommen in unseren Tagen die Raumforschung und die zunehmende Beherrschung der Welt und Dienstbarmachung der Natur durch Wissenschaft und Technik, und die Grenzen der Wissenschaft erweitern sich noch von Jahr zu Jahr. Die Fortschrittsidee wurde «noch von einem weiteren wichtigen Element genährt, nämlidi dem Verständnis der Natur als Prozeß, der vom Atom zum Molekül, von der Zelle zum Organismus und schließlich zum Menschen fortschreitet. Dies war der Gedanke der Evolution, die zur Vereinigung immer größerer Elemente in einem einzigen Wesen, dem zentrierten und dadurch machtvollen Individuum führt. Die Entwicklungslinie wurde noch über die Natur hinaus gezogen 122

durch die menschliche Geschichte, vom primitiven zum zivilisierten Menschen, bis zum Menschen der Aufklärung und der voll entwickelten Vernunft, in dem die in der Schöpfung angelegten Potentialitäten ihre Erfüllung gefunden haben. Wenn man diese Gedanken zurückverfolgt, versteht man, wie überwältigend ihr Einfluß gewesen sein muß, so daß es schlechterdings unmöglich war, der Macht der Fortschrittsidee als Glaubenssymbol zu widerstehen. So wurde die Fortschrittsidee im 19. Jahrhundert nicht nur zu einer bewußt proklamierten Lehre, sondern auch zum unbewußten Dogma. Als ich im Jahre 1933 nach Amerika kam und im Gespräch mit Theologen gewisse Vorstellungen von Gott, von Christus, dem Heiligen Geist, der Kirche und solche von Sünde und Erlösung kritisierte, berührte sie das nicht sehr; aber als ich die Fortschrittsidee kritisierte, antwortete man mir: „Aber an was sollen wir da noch glauben? Wie steht es da mit unserem eigentlichen Glauben?" Und das waren Theologen. Das zeigt, daß alle christlichen Dogmen im Unterbewußtsein dieser Menschen, das durch meine Fragen an die Oberfläche gebracht worden war, zum Fortschrittsglauben gemacht worden waren. Aber dann trat eine Veränderung ein. Wie es prophetische Geister im 19. Jahrhundert, zuerst in Europa, dann aber audi in Amerika vorausgesagt hatten, erlebte das Dogma vom Fortschritt eine Erschütterung. In Europa versetzte Nietzsche dem Fortschrittsglauben den empfindlichsten Stoß mit der Verkündigung — die inzwischen leider zum Modewort geworden ist —, daß Gott tot ist. Damit hatte er zwar nicht dem primitiven materialistischen Atheismus das Wort geredet — von dem war er weit entfernt —; aber er hatte das bestehende Wertsystem untergraben, das christliche wie das profane, und die menschliche Situation als Situation des Konfliktes, der Zerstörung und der Entfremdung von der wahren Menschlichkeit dargestellt und war so zum Vorläufer des Existentialismus geworden. Einen weiteren Beitrag zur Erschüttung des Fortschrittsglaubens lieferte der historische Pessimismus von Männern wie Oswald Spengler, in dessen „Untergang des Abendlandes" historische Vorstellungskraft mit vielen wahren Voraussagen gemischt war. Im Jahre 1916 sagte er die heraufkommende Herrschaft der Diktatur voraus, und in den frühen dreißiger Jahren waren kommunistische und faschistische Diktaturen Wirklichkeit geworden. Der Erste Weltkrieg und der Totalitarismus zerstörten den Fortschrittsglauben in Europa. In Amerika wurde er bis zu einem gewissen Grad durch die große Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre erschüttert, in Deutschland durch die Herrschaft Hit123

lers und die Erfahrung, daß es Rückschritt in der Geschichte geben kann und daß Barbarisierung selbst in einer hochentwickelten Kultur jederzeit möglich ist. Auf diese Ereignisse folgten der Zweite Weltkrieg, der kalte Krieg und die Atombombe, die zusammen dem zu Anfang des Jahrhunderts propagierten Utopismus ein Ende machten. An seine Stelle traten jetzt die negativen Utopien wie Aldous Huxleys „Brave New World" und George Orwells „1984". Audi in vielen anderen Romanen und Abhandlungen wird die Zukunft nicht als Zeit der Erfüllung, sondern als Zeit der Entmenschlichung beschrieben. Eine ähnliche Tendenz zeigt sich in den bildenden Künsten, im existentialistischen Stil, gleich ob in expressionistischer, kubistischer oder abstrakter Form, in dem das Dämonische, das im Unterbewußtsein des Individuums oder einer Gruppe lebt, nicht mehr in der menschlidien Gestalt oder im menschlichen Antlitz zum Ausdruck gebracht wird, sondern in abstrakten Elementen, die unter der Oberflädie der Wirklichkeit liegen. Zur gleichen Zeit zieht sich die Philosophie auf eine rein formale Analyse der Erkenntnis zurück und befaßt sich nicht mehr mit der Wirklichkeit. Aber wenn auch der Fortschrittsglaube als Dogma zerstört ist, so können doch die Fortschrittsidee und der Reiz neuer Möglichkeiten in der Zukunft als Beweggrund für unser Handeln nicht untergehen. Deshalb müssen wir heute Wert und Grenzen der Fortschrittsidee von neuem untersuchen. Anzeichen ihrer Neubewertung gibt es bereits, z. B. in der Philosophie, die sich der verfeinerten Methoden der logischen Analyse bedient, um die wirklichen Probleme menschlicher Existenz zu ergründen. In der Kunst wird zumindest der Versuch gemacht, die Elementarformen, die man in den letzten fünfzig Jahren gefunden hat, zu einer neuen Darstellung der Wirklichkeit, wie sie sidi uns offenbart, zu gebraudien. Und es gibt noch andere Anzeichen: die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen, die Bemühungen um eine Lösung der Rassenfrage, und in der Theologie, sogar unter ihren konservativen Vertretern, die Einsicht, daß wir uns mit den niditdiristlidien Religionen zu einem Dialog zusammenfinden müssen; sogar der Papst hat davon gesprochen. Aber dies sind bloße Versprechungen, noch keine Erfüllungen, und ein Rückfall in den Pessimismus (wenn wir dieses für einen Philosophen ungehörige Wort gebrauchen wollen) bleibt immer eine Gefahr. Um zu einer Neubewertung der Fortschrittsidee zu gelangen, müssen wir als nächstes ihre Bedeutung für die verschiedenen Lebensbereiche analysieren, für unser eigenes Handeln und für das akademische Leben. 124

II.

Die ungeheure Macht der Fortschrittsidee beruhte in erster Linie auf der Beobachtung des wissenschaftlichen und technischen Fortschritts. Diese Beobachtung war jedoch einseitig; deshalb müssen wir jetzt auf die nicht-fortschrittlichen Elemente in der Wirklichkeit und in der Kultur eingehen und feststellen, wie sie mit den fortschrittlidien verknüpft sind. Dabei stoßen wir auf ein allgemeines Prinzip: Wo Freiheit besteht, der Erfüllung unseres wahren Wesens zu widerstehen, ist das Gesetz des Fortschritts durchbrochen. Die Freiheit, die hier gemeint ist, ist die Freiheit des moralischen Handelns, zu dem wir Tag für Tag unzählige Male genötigt sind. Hier aber gibt es keinen Fortschritt, denn es gibt keine Moral ohne freie Entscheidung, ohne daß der Mensch sich der Möglichkeit bewußt wird, daß er als zentriertes Individuum die Wahl hat, die eine oder die andere Richtung einzuschlagen. Das bedeutet jedoch, daß jeder Mensch mit jeder Entscheidung einen neuen Anfang setzt, gleich ob er einer niederen oder einer höheren Kultur- und Bildungsstufe angehört. Die deutsche Barbarisierung in der Hitlerzeit schockierte die Welt, weil sie dem Fortschrittsglauben verfallen war. In einem höchst kultivierten Land wurden von einzelnen Entscheidungen getroffen und von vielen gutgeheißen, die allem widersprachen, was wir als Wesen des Menschen und seine Erfüllung betrachten. Damit ist eine erste Antwort auf die Frage nach dem Fortschritt gegeben. Jedes neugeborene Kind kann, sobald es eine gewisse Stufe des Bewußtseins erreicht hat, den Fortschritt aufhalten, indem es der Erfüllung dessen zuwiderhandelt, was der Mensch seinem Wesen nach sein soll. In der Regel denken wir, wenn wir von Fortschritt auf moralischem Gebiet sprechen, an den Reifeprozeß. Das Kind gelangt zur Reife, und in diesem Sinne gibt es Fortschritt, wie in der Natur aus dem Samen die Frucht oder der voll ausgewachsene Baum wird. Aber der Prozeß der Reife ist ein Vorgang im Individuum, und dieses kann jederzeit aus ihm ausbrechen. Wir wissen, wie oft das geschieht, wie viele Menschen niemals reif werden. Es gibt etwas Ähnliches wie Reifen auch in Gesellschaftsgruppen. Reifen bringt eine tiefere Einsicht in das Wesen des Menschen als Individuum und als Glied der Gesellschaft mit sich. Aber dies ist kein moralischer, sondern ein kultureller Fortschritt auf moralischem Gebiet, denn diese Einsicht macht den Menschen nicht besser. Wenn wir in Amerika z. B. ein besseres Verhältnis zwischen den Rassen herstellen könnten, so würde das bedeuten, daß wir auf einer Stufe höherer, reiferer Kultur angelangt wären; wir bewiesen dann ein tieferes Verständnis für die menschliche Natur und die mo125

raiischen Gebote, aber wir wären keine besseren Menschen geworden, denn moralische Vollkommenheit oder Unvollkommenheit gibt es auf jeder Stufe der Kultur und der Erkenntnis. Deshalb können wir sagen — und das ist sehr wichtig für unser Verständnis der Fortsdirittsidee und unsere gesamte heutige Kultur —, daß in bezug auf die freie moralische Entscheidung immer wieder neue Anfänge sowohl von Seiten des Individuums wie der Gesellschaft gemacht werden, daß wir aber, was den Inhalt der Kultur betrifft, von Reifen und Fortschritt von einer Generation zur nächsten sprechen können. Es besteht ein Unterschied zwischen einer primitiven und einer höher entwickelten Ethik, aber auf der primitiven Stufe sind die Menschen nicht schlechter als auf der höheren. In der geringfügigsten Entscheidung im akademischen Leben, in der Familie oder wo auch immer, handelt es sich um das gleiche Problem, wenn eine Entscheidung gefällt werden muß, wie bei dem primitiven Höhlenmenschen; wir sind nicht besser als er. Ein Einzelner von uns mag besser sein als ein Einzelner von ihnen, aber ein Einzelner von ihnen mag besser sein als ein Einzelner von uns. Der Unterschied zwischen dem Problem der individuellen moralischen Entscheidung und dem Fortschritt im Inhalt der moralischen Gebote ist grundlegend für unsere Beurteilung der gesamten Geschichte. Wenn wir jetzt einen Blick auf die Geschichte der Erziehung werfen, kommen wir zu dem gleichen Ergebnis. Erziehung führt zu einer höheren Kulturstufe, zu Fortschritt und Reife, zu zivilisierten Verhaltensweisen. Als Folge mag sich eine Art zweiter Natur im Menschen bilden, die dem gesellschaftlichen Zusammenleben nützlich ist; aber wenn eine moralische Entscheidung verlangt wird, besteht immer die Möglichkeit, daß wir in die Barbarei zurückfallen, wenn auch nidit immer in eine solch offensichtliche, wie es die unter Hitler war — in Barbarei im Verhalten zu unseren Kindern, unserer Frau oder unseren Freunden. Wir haben immer die Freiheit, dem zuwiderzuhandeln, was wir sein sollen. Selbst wenn wir zu der allgemeinen Erziehung, die wir in der Schule und auf der Universität genießen, noch eine besondere, eine psychotherapeutische oder eine psychoanalytische oder irgendeine andere wichtige hinzufügen, bleibt die Frage offen: wie kann uns diese Erziehung fördern? Sie kann Störungen beseitigen, kann uns von einem Zwang befreien; aber wenn wir z. B. durch erfolgreiche Psychoanalyse von einem Zwang befreit werden, bleibt immer noch das Problem unserer freien Entscheidung bestehen. Wir haben keinen moralischen Fortschritt gemacht, sondern unsere Heilung hat einen Fortschritt gemacht und uns dazu verholfen, eine wirklich freie Entscheidung zu fällen. 126

Außer dem Bereich, in dem moralische Freiheit entscheidet, gibt es ein anderes Gebiet, auf dem es keinen Fortschritt gibt, nämlich dort, wo die Freiheit geistigen Schöpfertums besteht, d. h. in den kulturellen Schöpfungen. Unter den verschiedenen kulturellen Funktionen will ich als erstes die Kunst betrachten. Gibt es Fortschritt in der Kunst? Es gibt Fortschritt in der technischen Behandlung des Materials wie der Verbesserung der Farbstoffe; aber gibt es Fortschritt in der Kunst selbst? Ist Homer jemals übertroffen worden? Oder Shakespeare? Ist ein frühgriechischer Fries weniger wert als eine klassische Skulptur? Oder diese weniger wert als ein modernes expressionistisches Bildwerk? Die Antwort ist: Nein. Ein Stil kann einen Reifepunkt erreichen; es gibt gute und schlechte Verkörperungen eines Stils; aber das Nacheinander verschiedener Stile bildet keine fortschreitende Linie. Ein neuer Stil beginnt oft sehr bescheiden als vorläufige Äußerung, um sich dann bis zur Reife in seinen größten Schöpfungen zu entwickeln und wieder zu verfallen. Aber es gibt keinen Fortschritt von Stil zu Stil, z. B. vom klassischen zum gotischen Stil. Das ist gegen unsere gotischen Kirchengebäude aus dem 19. Jahrhundert einzuwenden. Wir können nicht zur Gotik zurückkehren, nachdem sich unser modernes Kunstempfinden und unsere künstlerischen Möglichkeiten verändert haben. Die schöpferische Freiheit in den Künsten ermöglicht das Reifen eines Stils, große Augenblicke in der Kunst, kairoi, Höhepunkte und Wendepunkte, aber keinen Fortschritt von einem Stil zu einem anderen. Das gleiche gilt auf dem Gebiet der Erkenntnis. Wenn wir einen Blick auf die Geschichte der Philosophie werfen, sehen wir in ihr sowohl ein analytisches wie ein visionäres Element. Aristoteles z. B. vereint beide. Man kann auch von einem logischen und empirischen Element einerseits sprechen, das notwendigerweise eine distanzierte Haltung voraussetzt, und einem existentiellen und inspirierten Element andrerseits, das Ergriffensein ausdrückt. Die Tatsache, daß in jeder großen Philosophie immer das Visionäre, das Element der Inspiration und des Ergriffenseins vorhanden ist, erlaubt uns nicht, von Fortschritt in der Geschichte der Philosophie zu sprechen, abgesehen von Gebieten, in denen eine Verfeinerung der logischen Analyse und eine Zunahme empirischen Wissens zutage tritt. Ich habe noch keinen Philosophen gefunden, der Parmenides, einen Eleaten aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., übertroffen hätte. Das empirische Wissen ist zwar gewachsen, und die analytischen Methoden haben sich verfeinert, aber die Vision des Parmenides oder des ihm polar entgegengesetzten Heraklit kann nicht überboten werden. Von Heraklit zu Whitehead besteht kein Fortschritt. 127

Auch hinsichtlich der individuellen Menschlichkeit, der humanitas, gibt es keinen Fortschritt. Das fiel mir auf bei dem Anblick einer sumerischen Plastik, die vielleicht eine Priesterin darstellte. In den folgenden drei- oder viertausend Jahren hat die Kunst kein Bildwerk einer großen Persönlidikeit geschaffen, in dem größere Menschlichkeit Ausdruck gefunden hätte. Es gibt Unterschiede zwischen Verkörperungen der Menschlichkeit, aber keinen Fortschritt. Das bedeutet, daß selbst Gerechtigkeit keinen Fortschritt kennt, abgesehen von technischen Momenten. Selbst die Demokratie ist nicht fortschrittlich, abgesehen von ihrer zunehmenden Reife und der wachsenden Zahl der Menschen, die sie umgreift. Gerechtigkeit gab es im Athenischen Stadtstaat, im alten Israel, in Rom und im Mittelalter wie in der modernen Demokratie. Der Fortschritt ist rein quantitativ, die Ideen der humanitas und der Gerechtigkeit sind qualitativ nicht fortgeschritten. Jetzt kommen wir zu dem schwierigsten Problem, dem Fortschritt in der Religion. Wenn wir allerdings den orthodoxen oder fundamentalistischen Standpunkt einnehmen, daß es nur eine wahre Religion gibt und alle anderen Religionen falsdi sind, ist das Problem einfach, denn dann ist Fortschritt nicht denkbar. Aber auch hier zeigt sich eine Schwierigkeit: Gibt es nicht im Alten Testament und auch im Christentum so etwas wie eine fortschreitende Offenbarung? Selbst in der Geschichte der Kirche soll es Fortschritt geben: Nach dem JohannesEvangelium hat Jesus versprochen, daß der Geist der Wahrheit kommen und uns in „alle Wahrheit leiten" werde (Joh. 16, 13). Außerdem gibt es christliche Theologen, die neue Offenbarungen nach Jesus dem Christus erwarten. Diese wären nachchristliche Religionen. Hier begegnen wir also einer großen Schwierigkeit: einerseits behauptet das Christentum, daß kein Fortschritt über das hinaus möglich sei, was durch Jesus den Christus offenbart ist. Andererseits sehen wir auf vielen Gebieten deutlichen Fortschritt innerhalb der Weltgeschichte, z. B. in der Wissenschaft. Wie können wir dieses Problem lösen? Hier kann uns die Religion zu einer Einsicht verhelfen, die uns das Problem besser verstehen lehrt. Wir müssen davon ausgehen, daß es in der Geschichte nicht eine einzige fortschreitende Entwicklung gibt, sondern zwei Prozesse. Wir müssen den Begriff des Fortschritts durch zwei andere Begriffe ersetzen: den Begriff des Reifens und den des kairos, des großen, entscheidenden Augenblicks. Ich hoffe, daß aus dem, was ich über den Fortschritt in den anderen Bereichen, dem moralischen, dem kulturellen, dem der Kunst, der Wissenschaft und der Philosophie, gesagt habe, hervorgeht, was ich hier meine. Der große Augenblick oder der kairos (wie ich lieber sage, ein griechisches Wort 128

aus dem Neuen Testament aufnehmend), d. h. die rechte Zeit, die Zeit der Erfüllung, die Zeit, in der sich etwas Entscheidendes ereignet, ein qualitativer Begriff also, muß von dem quantitativen Begriff doronos, der meßbaren Zeit, der Uhrzeit, unterschieden werden. Ich möchte also sagen, daß es in der Geschichte zwei verschiedene Prozesse und keinen universalen Fortschritt gibt. Einerseits gibt es die Verwirklichung von Potentialitäten, das Reifen eines Stils oder das Reifen des Menschen, z. B. mit Hilfe der Erziehung. Aber über den reifen Menschen hinaus gibt es keinen Fortschritt; sein geistiger Besitz mag sich auf seine Kinder vererben, aber diese müssen ihre Entscheidungen selbständig treffen; darin müssen sie von neuem beginnen. Andrerseits gibt es die kairoi, die großen Momente in der Geschichte, in denen etwas Neues geschieht. Aber diese bilden keine fortschreitende Linie. Fortschritt gibt es nur in bezug auf technische, wissenschaftliche und logische Elemente der Entwicklung, nicht im Bereich geistigen Schöpfertums und moralischen Handelns. Meine Beschreibung und Analyse des „Fortschritts" waren ausführlicher, als es die Regel ist, denn ich glaube, daß ein akademischer Vortrag über die üblichen Klischees hinaus zu dem eigentlichen Problem führen soll. Vielleicht können wir jetzt Nutzen aus den Ergebnissen meiner Ausführungen ziehen. Wenn „Fortschritt" zu einer Idee oder einem Symbol erhoben wird, kann er zweierlei Bedeutung annehmen. Er kann als endloser, unbegrenzter Fortschritt verstanden werden, der zu immer besseren Verhältnissen führt. Oder er kann die historisch weit wichtigere utopisdie Bedeutung annehmen, daß an einem gewissen Punkt in der Zukunft die Erfüllung der wesentlichen Natur des Menschen erreicht wird. Was in dem Menschen als Möglichkeit angelegt ist, soll dann Wirklichkeit werden. Wie kommen diese beiden Arten des „Fortschritts" nun zum Ausdruck? Im ersteren Fall wird ein ununterbrochener Fortschritt angenommen, ohne daß es ein Ziel gibt, auf das er hinführt, es sei denn, man versteht das Fortschreiten selbst als Ziel. Wenn meine Analyse richtig ist, ist ein solcher Fortschritt auf dem Gebiet der Technik und der Wissenschaft möglich, aber nicht in dem Bereich, in dem Vision und Inspiration eine Rolle spielen. Die andere, utopische Fortschrittsidee ist im Laufe der Geschichte immer wieder mit großer Leidenschaft verfochten worden, denn sie ist das Prinzip, auf dem Revolutionen beruhen. Aber nach jeder erfolgreichen Revolution stellt sich eine große Enttäuschung ein, die zum Zynismus führt und zuweilen zu einem völligen Indifferentismus der Geschichte gegenüber wie in gewissen Formen des Christentums, dem Luthertum und der griechisch-orthodoxen Kirche. Der Calvinismus 129

und die radikalen Sekten, aus denen die amerikanischen Denominationen hervorgegangen sind, sind weniger anfällig gegen ein« solche Reaktion. Audi in den orientalischen Religionen, besonders im Buddhismus, begegnen wir dem Rückzug aus der Geschichte als Folge langer Leidenserfahrungen. Die Frage ist nun: Ist es möglich, ohne in Gleichgültigkeit gegen die Geschichte zu verfallen, den Utopismus zu vermeiden, den Glauben, daß die klassenlose Gesellschaft, die Herrschaft der Vernunft, die reife Menschlichkeit oder die Herrschaft der wahren Gerechtigkeit unmittelbar bevorsteht? Wenn nur alle Menschen guten Willens zusammenhalten, d. h. immer: wenn wir zusammenhalten, wird sidi alles zum Guten wenden — das ist Utopismus. Mit meiner kritischen Analyse der Fortschrittsidee möchte ich uns alle vor der Enttäuschung und dem Zynismus bewahren, die dem Utopismus immer folgen. Während meines langen Lebens habe ich den Zusammenbruch des Utopismus unter der westlichen Intelligenz sowohl in Europa wie in Amerika erlebt und den völligen Zynismus und die Verzweiflung beobachtet, die ihm folgten und schließlich ein Gefühl der Leere erzeugten, da das Leben seinen letztgültigen Sinn verloren hatte. Deshalb glaube ich, daß wir etwas anderes an Stelle der beiden Arten des Fortsdirittsglaubens setzen müssen. Endloser Fortschritt ist wie ein unaufhaltsames Vorwärtsjagen in den leeren Raum. Das ist eine Möglichkeit, aber es ist nicht der Sinn des Lebens. Noch ist die immer weitere Verbesserung technischer Verfahren der Sinn des Lebens. Aber was ist dann dieser Sinn? Vielleicht sind es die großen kairoi in der Geschichte. Sie bringen zwar keine vollkommene Erfüllung, aber sie bedeuten jeweils einen Sieg über eine besondere dämonische Macht, die einmal schöpferisch war, dann aber zerstörerisch geworden ist. Ein solcher Sieg ist möglich, aber er ist nicht notwendig. Der kairos braucht nicht einzutreten. Sein Ausbleiben ist eine ständige Gefahr in der Geschichte. Nach dem Ersten Weltkrieg glaubten wir in Deutschland, gerade wegen der Niederlage Deutschlands, daß ein kairos, ein großer Augenblick, bevorstünde, in dem etwas Neues geschaffen werden könne. Insofern waren wir fortschrittlich, aber wir glaubten nicht, daß ein kairos kommen müsse oder daß Fortschritt eine Notwendigkeit sei. Was wir erhofften, wurde damals durch Hitler unmöglich gemacht. Diese Erfahrungen lehrten uns, daß dadurch, daß eine einzelne dämonische Macht zerstört wird, kein besonderes Problem gelöst werden kann, wie z. B. das Rassenproblem in Amerika. Aber selbst wenn es gelingt, so bedeutet das noch nidit ungehinderten Fortschritt. Wir müssen für den Sieg kämpfen, und es ist möglich, daß wir den Kampf verlieren; aber auch 130

wenn wir ihn gewinnen, werden sich andere, neue dämonische Mädite erheben. Ein wunderbares Symbol für diese Gedanken findet sich in der „Offenbarung Johannis" (Kap. 20, 1—7). Hier wird die tausendjährige Herrschaft Christi in der Geschichte verkündet (wobei die Zahl tausend symbolisch verstanden werden muß). Während dieser Zeit werden die Dämonen in Ketten gebunden und in den Abgrund verbannt; aber sie werden nicht vernichtet und können wieder aus dem Gefängnis ausbrechen. In einem letzten Kampf wird das geschehen. Nach dem Ersten Weltkrieg gebrauchten wir dieses Symbol, um zum Ausdruck zu bringen, daß einzelne dämonische Mächte besiegt werden können. So wurde später Hitler vernichtet, aber die Mächte, aus denen seine Herrschaft hervorgegangen war, die dämonischen Kräfte in der Menschheit wie in jedem einzelnen Menschen wurden nicht vernichtet; sie waren nur für den Augenblick in den Abgrund verbannt und können zurückkehren. Wir dürfen also von der Geschichte keine utopische Erfüllung oder ziellosen Fortschritt erwarten, sondern müssen auf die großen Augenblicke, die kairoi, hoffen, für sie müssen wir uns bereit halten. In ihnen mag der Kampf zwischen dem Göttlichen und dem Dämonischen auf einen Augenblick zugunsten des Göttlichen entschieden werden, obwohl es keine Garantie gibt, daß es so kommen muß. Nach der Bibel, insbesondere dem Buch der Offenbarung, steht der wachsenden Macht des Göttlichen in der Geschichte ein Wachsen der dämonischen Mädite entgegen. Der Kampf zwischen beiden vollzieht sich in jedem Augenblick der Geschichte. Wir können nur das eine tun: Wenn uns Gelegenheit zu einem neuen Anfang gegeben wird, können wir ihn nutzen, um uns zur Reife zu entwickeln. Und wenn es in der Weltgeschichte einen neuen Anfang gibt, wie jetzt in Amerika und in anderen Ländern, können wir helfen, das Begonnene zur Reife zu bringen. Aber wir dürfen die Geschichte nicht als fortschreitenden Prozeß betrachten, der zu einem herrlichen Ziel und zur Erfüllung führt. Als christlicher Theologe möchte ich sagen, daß sich Erfüllung in jedem Augenblick, hier und jetzt, in der Geschichte und jenseits der Geschichte vollzieht, nicht in einer unbestimmten Zukunft, sondern, uns transzendierend, hier und jetzt. Um das Gesagte auf unsere heutige Versammlung anzuwenden, kann man sagen: es ist möglich, daß in einem von uns durch eine innere Bewegung etwas geschieht, das diesen Augenblick aus der Zeit in die Ewigkeit erhebt. Darin wäre dann der Sinn der Geschichte und unseres persönlichen Lebens nicht in utopischer Weise, sondern wahrhaft erfüllt. 131

HAT

DIE E R O B E R U N G DES WELTRAUMS DIE W Ü R D E DES M E N S C H E N ERHÖHT ODER VERMINDERT?

„Wenn ich schaue deine Himmel, das Werk deiner Finger, den Mond und die Sterne, die du hingesetzt hast: Was ist doch der Mensch, daß du seiner gedenkst? und des Menschen Kind, daß du seiner dich annimmst? Du machtest ihn wenig geringer als Engel, mit Ehre und Hoheit kröntest du ihn. Du setztest ihn zum Herrscher über das Werk deiner Hände, alles hast du ihm unter die Füße gelegt." Psalm 8, 4 - 7 Unser Thema hat zwei Aspekte: es betrifft einerseits die Wirkung der Raumforschung auf die Lage des Menschen, andererseits ihre Wirkung auf sein Selbstverständnis. Beide müßten also untersucht werden. Wenn wir jedoch die konkreten Probleme betrachten, die sich aus der Eroberung des Weltraums ergeben, kann diese Unterscheidung kaum aufrechterhalten werden. Hier ist das neue Selbstverständnis des Menschen aufgrund seiner Erfolge entscheidend. Es finden sich aber auch Widersprüche in diesem Selbstverständnis, die auf dem Gegensatz zwischen positiven und negativen Wirkungen der Raumforschung auf den Menschen beruhen. Deshalb werde ich unser Problem ohne scharfe Unterscheidung zwischen der Wirkung der Raumforschung auf die menschlidie Situation und auf das menschliche Selbstverständnis behandeln. I. DIE VORGESCHICHTE UNSERES PROBLEMS Unsere heutige Lage ist das Ergebnis einer langen Entwicklung des abendländischen Menschen von der Renaissance bis zum heutigen Tag. Die letzte Stufe dieser Entwicklung f ü r sich zu betrachten, wie wich132

tig und einzigartig sie auch sein mag, ergäbe kein realistisches Bild der Lage und könnte zu keiner angemessenen Antwort auf unsere Frage führen. Wissenschaft und Technik haben seit der Renaissance den Menschen und sein Selbstverständnis beeinflußt. Wenn man heute die Einzigartigkeit der neuesten Erfolge auf Kosten der älteren Entwicklung betont, die die letzten Erfolge erst möglich gemacht hat, so kann das nur zu einer Entstellung der Tatsachen und Wertungen führen. Die Renaissance ist keine Wiedergeburt des klassischen Altertums, wie man häufig meint, sondern die Wiedergeburt der abendländischen Gesellschaft auf allen Gebieten, der Religion, der Kultur und der Politik, die durch die Entdeckung und Beschäftigung mit der antiken Mittelmeerkultur gefördert wurde. Die alte Tradition wurde jedoch durch den Einfluß des Christentums in vielerlei Hinsicht verändert. Eine der wichtigsten Veränderungen war die Abwendung von der griechischen kontemplativen Haltung und von den mittelalterlichen transzendenten Idealen zu einem Ideal tätiger Weltbeherrschung und Weltgestaltung. Dieses neue Ideal brachte eine Hochschätzung der Wissenschaft und Technik mit sich und den Beginn jener fruchtbaren Wechselwirkung zwischen theoretischer und angewandter Wissenschaft, die eine schnelle Entwicklung beider zur Folge hatte. Im alten Griechenland und in der Spätantike gab es diese Wechselwirkung kaum; sie ist etwas Neues, keine Wiedergeburt, sondern eine Neugeburt. Man kann die Weltanschauungen der drei Kulturkreise, des antik-griechischen, des mittelalterlichen und des modernen, in drei geometrischen Symbolen ausdrücken: der Kreis steht f ü r die Erfüllung der Lebenspotentialitäten innerhalb des Kosmos — die griechische Anschauung; die vertikale Linie steht f ü r das mittelalterliche Streben über den irdischen Kosmos hinaus zu dem transzendenten Einen, dem letzten Sein und Sinn; die horizontale Linie versinnbildlicht das Streben nach Beherrschung und Neugestaltung des Kosmos im Dienste Gottes oder des Menschen, wie es die moderne Kultur seit Renaissance, Reformation und Aufklärung kennzeichnet. Die „Entdeckung der Horizontalen" ist die erste Stufe einer Entwicklung, deren vorläufig letzte Stufe die Raumforschung ist. Beide Stufen bedeuten den Sieg der horizontalen über die kreisförmige und die vertikale Linie. Der Umschwung von der vertikalen zur horizontalen Linie in der Bestimmung des inneren Ziels, des telos, der Menschheit, wurde weitgehend durch die Astronomie und das utopische Denken der Renaissance herbeigeführt. Die kopernikanische Astronomie hatte die Erde aus dem Mittelpunkt des Weltalls — dem am wenigsten göttlichen Platz — gerückt und ihr die Würde eines Sterns unter Sternen ver133

liehen. U m die gleiche Zeit lehrte ein einflußreicher Philosoph, Nikolaus von Kues, daß das Unendliche im Endlidien, d. h. in der Welt und im Menschen, immanent sei. Dadurch, daß das Weltliche auf diese Art zum Ausdruck des Göttlichen gemacht wurde, erhöhte sidi seine Bedeutung. Folglich konnte auch die Erfüllung der Geschichte als ein Ereignis auf dieser Welt erwartet werden. Die utopistische Literatur der Renaissance zeichnete ein Zukunftsbild, in dem religiöse, politische und technische Elemente vereinigt waren. Damit gewann die Technik im Verhältnis zur reinen Wissenschaft eine Bedeutung, die diejenige, die ihr in Griechenland und im Mittelalter zugestanden war, weit übersteigt. Ein typischer Vertreter dieser Einstellung ist Leonardo da Vinci, der das neue Ideal, das seine Bilder vorausahnen lassen, mit empirischen Studien natürlicher Phänomene und mit technischen Experimenten verband, unter denen die Kriegsmaschinen — wie heute wieder — eine wichtige Rolle spielen. Im 17. Jahrhundert ist das Bewußtsein der Probleme, die in den Anfängen der modernen abendländischen Geschichte angelegt waren, gewachsen und kam in Pascals Gegenüberstellung der menschlichen Nichtigkeit mit der menschlidien Größe auf bezeichnende Weise zum Ausdruck. Wie viele seiner Zeitgenossen erschütterte ihn die Erkenntnis der Geringfügigkeit des Mensdien angesichts eines Universums, das die kopernikanische Astronomie ungeheuer erweitert hatte. Gleichzeitig war er als Mathematiker und Physiker mit der Kraft des menschlichen Verstandes vertraut, in die berechenbaren Strukturen der Natur einzudringen, was ihm die mensdilidie Größe selbst angesichts der quantitativen Ausdehnung des Universums bewies. Pascal hat viele der gegenwärtigen Probleme des menschlichen Selbstverständnisses vorausgesehen. Er warf bereits die Frage auf, die für uns heute so dringlich ist: Was ist unter der Herrschaft der horizontalen Richtung aus der vertikalen geworden, der Richtung auf das hin, was den Kosmos transzendiert? Und er beantwortete die Frage mit den berühmten Worten (die er in einem Amulett bei sidi trug), daß sein G o t t „der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs" sei und nicht „der Gott der Philosophen und Gelehrten". 1 Pascal kämpfte um die Rettung der Dimension des Unbedingten, Letztgültigen, in der Größe wie Nichtigkeit des Mensdien transzendiert ist, und er gewann den i Vgl. Biaise Pascal: Pensées, Sect. VII-VIII, vol. 33, 243 b - 2 7 7 b. Das Beispiel Pascals soll zeigen, daß ein Mensch, der als Gelehrter in der Horizontalen, d. h. in der Welt der „Philosophen und Gelehrten" lebt, nicht deren Gott anzubeten braucht, sondern sich als Gläubiger in die Vertikale zu dem Gott der Bibel wenden kann. 134

Kampf für seine eigene Person. Aber die allgemeine historische Entwicklung folgte der horizontalen Linie, im 18. Jahrhundert mit dem Glauben an den menschlichen Fortschritt und im 19. Jahrhundert mit dem Glauben an die allgemeine Evolution; in die gleiche Richtung wiesen die neuen Ideologien, die die industriellen, die sozialen und die politischen Revolutionen der letzten 300 Jahre unterstützten. Daneben wurden von Theologen, Mystikern, Romantikern und Klassizisten immer wieder Versuche gemacht, die vertikale Linie zurückzugewinnen oder zu dem kreisförmigen Denken der Griechen zurückzukehren. Aber der Drang nach vorwärts erwies sich stärker als die Sehnsucht nach einer Welt, in der die Betrachtung ewiger Wesenheiten wichtiger war als die Antizipation einer vom Menschen zu schaffenden Zukunft. Die Verdrängung des Menschen und seiner Erde aus dem Zentrum des Universums wurde vor allem in der Theologie als Schock empfunden. Da die Bibel und ihre Auslegung in den 1500 Jahren der Kirchengeschidite auf eine Anschauung der Welt gegründet war, in der die Erde den Mittelpunkt des Universums bildete und die menschliche Geschichte als das letzte Ziel der Schöpfung und der Christus als die Mitte der Geschichte galt, erhob sich jetzt die dringende Frage: Wie steht es um die Stellung des Menschen in dem providentiellen Handeln Gottes? Wie um die kosmische Bedeutung des Christus? Untergräbt die Verdrängung der Erde aus dem Mittelpunkt nicht sowohl die zentrale Bedeutung des Menschen wie die kosmische Bedeutung des Christus? Wird das „Drama der Erlösung" nicht zu einer Reihe von Geschehnissen, die sich auf einem kleinen Gestirn zu einer gewissen Zeit abspielen, ohne universelle Bedeutung zu haben? Mit diesen bereits bestehenden Problemen begann das Zeitalter der Raumforschung.

I I . D I E GEFÜHLSMÄSSIGE R E A K T I O N AUF DIE RAUMFORSCHUNG

Als es dem Menschen gelang, das Schwergewichtsfeld der Erde zu durchbrechen, war die erste Reaktion Staunen, Bewunderung und Stolz. Dabei wurde der Stolz auf die menschliche Leistung noch erhöht durch den Stolz auf die eigene Nation, der der Durchbruch gelungen war, und verringert, wenn auch nicht vernichtet, durch die nationale Demütigung der anderen, denen möglicherweise das Gleiche gelungen wäre, wenn sie es versucht hätten. Im allgemeinen jedoch herrschte Staunen über die Möglichkeiten des menschlichen Verstan135

des, die sich bis dahin nodi nicht offenbart hatten. Es zeigte sich, daß der Mensch nicht nur den Weltraum erforschen, sondern das astronomische Weltbild auch schöpferisch verändern konnte. Die Bewunderung galt vor allem dem theoretischen und technischen Verstand der Männer, denen der Vorstoß in den Weltraum gelungen •war, und dem moralischen Mut der Astronauten, die ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatten, um neue menschliche Möglichkeiten zu verwirklichen. Sie wurden, auch wenn sie dem feindlichen Lager angehörten, zu Helden erhoben und zu Trägern eines esoterischen Wissens gemacht, das den meisten Menschen unerreichbar schien. Diese gefühlsmäßigen Reaktionen waren sehr stark und blieben nidit ohne wichtige soziologische Folgen. Die Astronauten wurden zu Symbolen und zu einem neuen Ideal menschlicher Existenz. Das Bild des Menschen, der auf die Erde herabsehen kann, wenn nicht vom Himmel, so doch von einer kosmischen Sphäre außerhalb der Erde, wurde für unzählige Menschen zum Vorbild und zum Gegenstand der Begeisterung. Zugleich regte dieses Bild die Phantasie an, die sich Begegnungen in der Sphäre unserer Erde oder im Weltraum mit fremden, weder himmlischen noch höllischen, Wesen ausmalte. Eine umfassende science-fiction-Literatur, zum Teil von Naturwissenschaftlern in ihrer Freizeit verfaßt, ging der Raumforschung voraus und begleitete sie, erreichte ihren Höhepunkt aber erst nach der tatsächlichen Weltraumeroberung. Ihre Bedeutung liegt weniger in der gelegentlichen Antizipation wissenschaftlicher und technischer Entdeckungen als darin, daß sie eine Erfüllung menschlicher Wünsche nach Transzendierung der gewöhnlichen, an unsere Erde gebundenen Erfahrungen beschreibt. Die Schauerromane hatten den gleichen Wunsch zu befriedigen gesucht, indem sie übernatürliche, göttliche oder dämonische Kräfte in den natürlichen Lebensprozeß eingreifen ließen, und die Gespenstergeschichten hatten zu diesem Zweck die Zweideutigkeit psychischer Phänomene ausgenutzt, die weder die Eindeutigkeit natürlicher noch die übernatürlicher Kräfte besaßen. In der science/ictiow-Literatur, besonders wenn sie die Weltraumeroberung zum Thema hat, wird die menschliche Bindung an die Erde dagegen durch Begegnungen mit natürlichen, wenn auch nicht der Erde zugehörigen Wesen transzendiert. Der mythologische wie der psychische Supranaturalismus wird also durch einen außer-irdisdien Naturalismus ersetzt. Die Erde wird nicht durch etwas qualitativ anderes transzendiert, sondern durch etwas qualitativ Gleiches — das natürliche Universum. Hier muß eine Tatsache berücksichtigt werden, die den die Erde 136

transzendierenden Vorstellungen eine gewisse Beschränkung auferlegen sollte, ganz gleich, ob man sie Erfahrungen oder Phantasien nennt. Diese Vorstellungen sind immer aus Elementen zusammengesetzt, die der Erfahrung auf unserer Erde entnommen sind. Die PhantasieWesen sind entweder glorifizierte (Engel und Heilige) oder erniedrigte Exemplare der menschlichen Gestalt (Dämonen und Bewohner der Hölle), oder sie sind eine Verbindung von Elementen, durch die die menschliche Gestalt entstellt wird wie in der science-fictionLiteratur. Darin zeigt sich eine bestimmte Grenze der menschlichen Fähigkeit, der Bindung an die Erde selbst in der Phantasie zu entgehen. Die Phantasie-Welt setzt sich immer aus Teilen unserer Erfahrung auf dieser Erde zusammen, ganz gleich, ob einer religiösen oder einer künstlerischen Erfahrung. Diese Einsicht führt zu einer anderen, im Grunde negativen, gefühlsmäßigen Reaktion auf die Weltraumeroberung. Sie hat den Menschen auf die Größe des Universums und auf die riesigen Entfernungen zwischen den Himmelskörpern aufmerksam gemacht. Gerade die Tatsache, daß wir gewisse von diesen Entfernungen überwinden können und uns folglich eine weitere Überwindung anderer vorstellen können, hat uns die tatsächliche Entfernung selbst des nächsten Sonnensystems zu Bewußtsein gebracht. Das Schwindelgefühl, das zu Pascais Zeit die Menschen bei dem Gedanken an den leeren Raum zwischen den Gestirnen ergriffen hatte, hat sich in unserer Zeit verstärkt, in der es dem Menschen gelungen ist, nicht nur theoretisch, sondern auch physisch in diesen Raum vorzustoßen. Die Angst angesidits der menschlichen Verlassenheit im Weltall, der seit der Zeit des achten Psalms der menschliche Stolz auf seine Herrschaftsstellung in der Welt das Gleichgewicht gehalten hat, ist mit dem Anwachsen seiner Machtstellung ebenfalls gestiegen. Einer der Gründe für diese Angst ist der Verlust eines letztgültigen Sinns, der Größe wie Nichtigkeit des Menschen transzendiert und eine Antwort auf das Problem der menschlichen Not gibt, das der Psalmist ebenso wie Pascal aufgeworfen haben. Ein weiterer, dem Psalmisten wie Pascal noch nicht bekannter Grund ist die Tatsache, daß der Mensch seine Macht zur Selbstzerstörung, nicht nur zur Zerstörung eines Teils der Menschheit, sondern der gesamten Menschheit, gebraudien kann. Die enge Verbindung der Raumforschung mit ihrer Ausnutzung zu militärischen Zwecken hat einen tiefen Sdiatten auf die positive Einstellung zur Raumforschung geworfen, und dieser Schatten wird sich nicht aufhellen, solange die Raumforschung und ihre militärische Nutzbarmachung zusammengehen. 137

I I I . D I E GEISTIGEN F O L G E N DER RAUMFORSCHUNG

Als wir die gefühlsmäßige Reaktion auf die Raumforschung und auf ihre wissenschaftlichen Vorstufen beschrieben, vermieden wir alle, außer impliziter Werturteile. Diese müssen wir nun explizit machen und einige moralische Probleme besprechen, die sich aus unserem Thema ergeben. Eine Wirkung der Raumfahrt und der Möglichkeit des Menschen, von außen auf die Erde herabzublicken, ist eine gewisse Entfremdung zwischen Mensch und Erde, eine Objektivierung, Verdinglichung der Erde, eine Beraubung ihres mütterlichen Charakters, ihrer Kraft als Gebärerin und Ernährerin, ihrer Fähigkeit, den Menschen zu schützen, ihn an sich zu ziehen und zu sich zurückzurufen. Die Erde ist für den Menschen ein Stüde gänzlich berechenbarer Materie geworden. Die Entmythologisierung der Erde, die bei den alten Philosophen begonnen hatte und seitdem in der westlichen Welt immer weiter fortgeschritten war, wurde jetzt radikaler vollzogen denn je, und ihre Folgen sind noch nicht abzusehen. Das gleiche gilt von einer anderen radikalen Entwicklung. Der Raumflug erweist sich als der größte Triumph der horizontalen über die vertikale Richtung; und in dieser Riditung bewegt sich der Mensch praktisch grenzenlos vorwärts. Dieser Sieg der horizontalen Richtung führt jedoch zu ernsten geistigen Problemen, die sich alle auf die eine Frage: wozu? zurückführen lassen. Diese Frage war schon lange vor dem Vorstoß in den Weltraum mit wachsender Ernsthaftigkeit und Sorge gestellt worden. Sie war in Zusammenhang mit der endlosen Herstellung von Mitteln, Maschinen und Werkzeugen, aufgekommen und stand in Verbindung mit der Frage nach dem Sinn des Lebens; sie war jedesmal laut geworden, wenn die moderne technische Zivilisation und Wirtschaft prophetischer Kritik unterzogen wurden, ganz gleich, ob diese religiöser oder säkularer Art war. Wenn wir die Frage jetzt im Zusammenhang mit der Raumforschung stellen, wird sie abstrakter und dringlicher denn je; denn hier wird die horizontale Linie fast vollkommen verabsolutiert: Die endlose Vorwärtsbewegung wird zum Selbstzweck ohne konkretes Ziel. Man könnte zwar die Erforschung des Weltraums und der astronomischen Körper in ihm ein konkretes Ziel nennen, aber sie sind nur eine zufällige Begleiterscheinung. Die eigentliche Triebfeder ist der Drang nach vorwärts, was auch immer das Ergebnis sein mag. Aber wie die ausschließliche Hingabe an die vertikale Richtung in der Mystik alles konkrete Denken und wirkliche Handeln unmöglich macht, so führt die ausschließliche 138

Hingabe an die horizontale Linie in der reinen Vorwärtsbewegung zum Verlust jedes konkreten Sinns und zu völliger Leere. Die Symptome dieser Leere zeigen sich bereits in allgemeiner Gleichgültigkeit, in Zynismus und Verzweiflung. Und die Raumforschung ist nicht dazu angetan, diese Schäden zu heilen, sondern eher dazu, sie zu verschlimmern, wenn sich die anfängliche Begeisterung und der Stolz auf die fast gottähnliche Macht des Menschen verflüchtigt haben. Diese geistigen Gefahren sollten jedoch nicht von der weiteren Herstellung technischer Werkzeuge und der Eroberung des Weltraums abhalten, ebensowenig wie die Gefahren einer radikalen Mystik von der Anerkennung der mystischen Elemente in allen religiösen Erfahrungen abhalten dürfen, denn drohende Gefahr ist kein Grund, das Leben an der Verwirklichung seiner Möglichkeiten zu hindern. Diese Überlegungen führen zu einem weiteren Problem, das indirekt mit unserem Thema zusammenhängt: es ist das Problem, wie weit der Naturwissenschaftler für die Gefahren verantwortlich gemacht werden kann, die sich aus seinen Entdeckungen ergeben. Dieses Problem ist so alt wie die Wissenschaft und war für Jahrhunderte eine Quelle des Konflikts zwischen den priesterlichen Hütern des Heiligtums und den prophetischen oder philosophischen Kritikern des traditionellen Glaubens. Selbst wenn man die soziologischen, politischen und wirtschaftlichen Hintergründe dieses Konflikts in Betracht zieht, bleibt ein wahrhaft tragisches Element bestehen: Der Priester weiß von der verhängnisvollen Wirkung, die eine Kritik an der heiligen Tradition auf die geistige Verfassung der Menschen ausüben kann, und versucht, sie abzuwehren. Aber weder Prophet noch Philosoph können ihre Sendung, für Gerechtigkeit und Wahrheit zu kämpfen, verleugnen, selbst auf die Gefahr hin, daß ein überlieferter Glaube zerstört wird. Das ist wohl das älteste Beispiel eines Konflikts zwischen der Sicherheit des Bestehenden und dem Wagnis des Neuen. Die Gefahren, die mit den gegenwärtigen wissenschaftlichen Entdekkungen verbunden sind, haben nun nichts mit der „Errettung von Seelen" zu tun, aber mit dem Weiterbestehen der Menschheit. Die tragischen Folgen jeder möglichen Lösung sind jedoch die gleichen, und deshalb muß auch die Antwort die gleiche sein: Tragische Folgen einer Entdeckung oder der Auffindung einer Wahrheit sind kein Grund, diese Entdeckung oder das Aussprechen einer Wahrheit zu unterlassen. Die Gefahr für die Seele des Gläubigen darf den Propheten oder den Reformator nicht davon abhalten, die Wahrheit in der vertikalen Dimension zu verfolgen; und die Gefahr zerstörerischer Folgen von wissenschaftlichen Entdeckungen (denen in der Soziologie 139

und Psychologie eingeschlossen) darf den Gelehrten nicht daran hindern, die Wahrheit in der horizontalen Dimension zu verfolgen. Tragik darf nidit auf Kosten der Wahrheit vermieden werden. Deshalb sollte die Raumforschung, selbst wenn sie durch ihre Nutzbarmachung für militärische Zwecke die Möglichkeit eines tragischen Endes verstärkt, nicht aufgegeben werden. Aber die in ihr liegenden Gefahren sollten uns dazu antreiben, die horizontale und die vertikale Richtung ins Gleichgewicht zu bringen und auf diese Art einen tragischen Ausgang abzuwehren. Die Antwort auf die Gefahr, die in der Verfolgung der horizontalen Linie liegt, besteht nicht darin, daß wir die wissenschaftlichen Versuche einstellen, sondern daß wir sie fortsetzen unter Kriterien, die wir in der Vertikalen finden. Aber die Frage ist, ob das noch möglich ist oder ob die Dynamik der horizontalen Bewegung, besonders in der Naturwissenschaft und Technik, nicht alle Beziehung zu dem, was das Universum und seine wissenschaftliche Erforschung transzendiert, abgeschnitten hat. Ist das menschliche Selbstverständnis, das sich in allen abendländischen Religionen findet, nicht durch die horizontale Dynamik der letzten 500 Jahre veraltet? Und ist die Raumforschung nicht nur die letzte Stufe in dieser Entwicklung? Zweifellos hat die Naturwissenschaft den kosmischen Rahmen gesprengt, innerhalb dessen die Bibel und die kirchlichen Lehren den Menschen als Träger der Heilsgeschichte im Universum gezeichnet hat, als das einzige Geschöpf, in dem Gott vollkommen offenbar werden konnte, und als ein Wesen, für das sein eigenes geschichtliches Ende das Ende des Universums bedeutet. Heute hält die Astronomie andere religiös sinnvolle geschichtliche Entwicklungen in anderen Teilen des Universums mit anderen Wesen für möglich, in denen Gott vollkommen manifest werden könnte, wenn auch eine Geschichte mit anderem Beginn und anderem Ende, unzählige Billionen von Jahren von dem Beginn und Ende unseres Universums entfernt (wenn solche Kategorien hier überhaupt angewandt werden können). Wenn die Raumforschung in diesem Zusammenhang als der vorläufig letzte Schritt in einer langen Entwicklung betrachtet wird, muß man einsehen, daß sie den kosmischen Rahmen des menschlichen religiösen Selbstverständnisses ungeheuer verändert hat. Aber man muß hinzufügen, daß sie die göttlich-menschliche Beziehung, die in diesem Rahmen erfahren und symbolisch zum Ausdruck gebracht ist, nicht verändert hat. Deshalb darf man die Frage, ob die Dynamik der Horizontalen die Vertikale abgeschnitten hat, mit einem entschiedenen Nein beantworten. Es ist dem Menschen noch möglich, sich aus der 140

horizontalen Bewegung in die Vertikale zu wenden und mit ihrer Macht die tragische Gefahr zu dämmen und zu transzendieren. Diese Größe und diese Möglichkeit des Mensdien haben sich nicht verändert, obwohl der Weg ihrer Verwirklichung ein anderer sein muß als in der Zeit, in der die horizontale Bewegung ihre Dynamik noch nicht gezeigt hatte.

IV.

D I E SOZIOLOGISCHEN FOLGEN DER RAUMFORSCHUNG

Nachdem wir die Frage nach dem Recht der Wissenschaft, ihre Forschungen ohne Rücksicht auf ihre etwaigen gefährlichen Folgen zu betreiben, positiv beantwortet haben, erhebt sich eine weitere Frage, auf die wir eine Antwort suchen müssen. Es ist die ökonomische Frage, wieviel des Nationaleinkommens (oder des Einkommens aller Nationen) für die Raumforschung aufgewandt werden soll. Ein Haupteinwand gegen die Raumforschung sind die ungeheuren Gelder, die sie verschlingt und die nadi Meinung ihrer Kritiker auf andere, wichtigere Unternehmen wie Krebsforschung oder Geburtenbeschränkung verwandt werden sollen. Daß man der Bekämpfung körperlicher Übel wie Krankheit und Hunger den Vorzug geben will, scheint vom Standpunkt der Gerechtigkeit und der agape nur natürlich. Tatsächlich ist es jedoch weder natürlich, noch hat man je nach diesem Prinzip gehandelt. Die agape verlangt, daß man den Kranken und Armen beisteht, sowohl im persönlichen Umgang wie in sozialer Planung. Und Gerechtigkeit verlangt von der Gesellschaft und ihren politischen Vertretern den ununterbrochenen Kampf gegen die Strukturen des Bösen in allen seinen Formen. Aber weder Gerechtigkeit noch agape verbieten den Gebrauch finanzieller Mittel zu kulturellen Zwecken. Andernfalls hätten die Möglichkeiten des Mensdien, auf wissenschaftlichem wie technischem Gebiet, im Bereich der Kunst wie des Ritus, in der Erziehung wie im Sozialen, nicht verwirklicht werden können. Aber sie sind verwirklicht worden, und zwar mit ungeheuren Kosten, und haben im Lauf ihrer Entwicklung machtvolle Waffen gegen die Strukturen des Bösen geliefert, wenn auch meist als zufällige Begleiterscheinungen. „Priorität von Bedürfnissen" bedeutet nicht, daß für die Kultur nichts getan werden darf, bevor die unmittelbaren Bedürfnisse befriedigt, der Hunger gestillt und die Krankheit geheilt sind. „Priorität" hat, was unser Problem betrifft, nur in besonderen Fällen Berechtigung. Man muß fragen: Welcher Anspruch an die ökonomischen Reserven 141

einer bestimmten Gruppe hat in einem bestimmten Augenblick Berechtigung? Und wenn diese Frage beantwortet ist, ist die nächste Frage: In welchem Verhältnis soll die Hilfe für das bevorzugte Unternehmen zu der Hilfe für andere, wichtige Unternehmen stehen? Und schließlich muß man sich fragen, ob die Verwerfung des einen Projekts, z. B. der nächsten Stufe der Raumforschung, die Gewißheit oder auch nur die Wahrscheinlichkeit garantiert, daß eines der anderen wichtigen Projekte von den verantwortlichen Stellen verwirklicht wird. Es ist z. B. sehr unwahrscheinlich, daß das Geld, das durch Einstellung der Raumforschung gespart wird, zur Krebsforschung oder zur Geburtenkontrolle verwandt wird. Überdies werden alle diese Überlegungen in dem Augenblick hinfällig, in dem sich herausstellt, daß die Raumforschung militärisch ausgenutzt werden kann und den Wettbewerb mit einer potentiell feindlidien Macht beeinflußt. Dann gewinnt sie Priorität gegenüber allen anderen Aufgaben, ohne von direkter militärischer Bedeutung zu sein. Die Entscheidung über Prioritäten liegt bei Männern, die mit den nötigen Tatsachen vertraut sind und in der Lage sind, die verschiedenen Ansprüche aufgrund der jeweiligen Lage gegeneinander abzuwägen; sie können sich nicht an eine statische Hierarchie von Prioritäten binden. Ihr einziges Kriterium muß das menschliche Ziel aller politischen Entscheidungen sein, das sowohl nationale Größe wie wissenschaftlichen Erfolg transzendiert. Die Entscheidungen, die diese Männer fällen, hängen von der Stimme ihres Gewissens ab und sind der Kritik der Zeitgenossen und schließlich dem Urteil der Geschichte unterworfen. Ein weiteres Problem ergibt sich aus den soziologischen Folgen der Raumforschung: sie verstärkt einen allgemeinen Zug unserer Zeit, nämlich das Anwachsen esoterischer Gruppen, deren Wissen und Erfindergabe alles überbietet, was selbst von hochgelehrten und schöpferischen Menschen erreicht werden kann, ganz zu schweigen von der Mehrheit der Menschen. Diese Elite ist esoterisch und exklusiv, teils aufgrund ihrer Begabung, teils durch das öffentliche Prestige, das sie genießt, teils durch den geschickten Gebrauch ihrer Macht. Sowohl im demokratischen Westen wie im totalitären Osten hat sich diese neue Aristokratie entwickelt und hat den Gegensatz der beiden sozialen und politischen Systeme ausgeglichen. Durch die Raumforschung sind in der demokratischen Welt die antidemokratischen Elemente gestärkt worden, die in jeder demokratischen Struktur vorhanden sind. Der Durchschnittsmensch, selbst wenn er eine wichtige Stellung in seinem Beruf einnimmt, neigt dazu, Entscheidungen, die das Leben der Gesellschaft, der er angehört, betreifen, als eine Frage des Schicksals zu 142

betrachten, gegen das er machtlos ist. Das erzeugt eine Stimmung, die das Aufleben der Religion begünstigt, aber nicht die Erhaltung der Demokratie. Die Frage nach der Wirkung der Raumforschung auf das Ideal der Erziehung mag seltsam erscheinen, aber sie ist nichtsdestoweniger wichtig in der gegenwärtigen Lage. Wenn nur Menschen mit außergewöhnlicher mathematischer und technischer Intelligenz die Spitze der Hierarchie von Raumforschern erreichen können und wenn nur Menschen mit außergewöhnlichen körperlichen und psychischen Kräften die Spitze der Hierarchie von Astronauten erreichen können, ist es selbstverständlich, daß diese beiden Menschentypen zu Idealtypen erhoben werden, nach deren Vorbild, wenn auch mit graduellen Unterschieden, alle Individuen gebildet werden sollen. Nach dem Erfolg des ersten russischen Sputnik wurde in Amerika das Streben nach diesem Ideal allgemein. Allerdings setzte bald eine Reaktion ein von Seiten der humanistisch orientierten Erzieher wie vieler Studenten, die sich nicht den strengen Anforderungen einer Ausbildung unterziehen wollten oder konnten, die sie an die Spitze der neuen Hierarchie bringen würde. Dieses Problem kann weder durch einen vorübergehenden Ausgleich zwischen naturwissenschaftlicher und humanistischer Bildung gelöst werden, noch durch den ernsten Versuch einer Verbindung von beiden. Das Übergewicht der nicht-humanistischen Bildung wird durch die bestehende Gesellschaftsstruktur und den Einfluß, den sie auf das Leben aller Menschen ausübt, bestärkt. Die begabtesten und strebsamsten Menschen der jungen Generation werden, ohne daß sie es wollen, einem Erziehungssystem ausgeliefert, das ihnen Zugehörigkeit zu den höheren Regionen der gesellschaftlichen Pyramide garantiert, denn die Schulen und Universitäten können der Struktur eines Gesellschaftssystems und seinen Anforderungen an den Einzelnen nicht widerstehen. Aber auch das ist kein Grund für einen Abbrudi der Raumforschung oder der Entwicklung, die zu ihr geführt hat; denn die menschliche Natur findet die Verwirklichung ihrer vollen Potentialitäten nicht in der horizontalen Dimension. Früher oder später wird sie gegen deren Vorherrschaft protestieren, und dann wird die Raumforschung im Lichte dessen bewertet werden, was dem Leben in allen Dimensionen seinen Sinn verleiht.

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DIE B E D E U T U N G DER R E L I G I O N S G E S C H I C H T E F Ü R DEN SYSTEMATISCHEN T H E O L O G E N

I. In diesem Vortrag mödite ich drei Punkte von grundsätzlicher Bedeutung erörtern. Der erste betrifft zwei grundsätzliche Entscheidungen. Ein Theologe, der das Thema „Die Bedeutung der Religionsgesdiichte für den systematischen Theologen" wählt und sein Thema ernst nimmt, hat bereits, implizit oder explizit, zwei grundsätzliche Entscheidungen getroffen: Einerseits hat er sidi von einer Theologie getrennt, die alle Religionen mit Ausnahme der eigenen verwirft. Andererseits hat er, wenn er sein Thema positiv auffaßt, das Paradox einer „Religion der Nicht-Religion" verworfen oder die Theologie ohne theos, die man auch „säkularisierte Theologie" nennen kann. Beide Richtungen haben eine lange Geschichte. Die erstere ist in unserem Jahrhundert von Karl Barth erneuert worden; die letztere wird heute am deutlichsten von der Gott-ist-tot-Theologie vertreten. In der ersten Haltung gilt die eigene Religion entweder als vera religio, als die wahre Religion, der gegenüber alle anderen Religionen religiones falsae, falsche Religionen, sind, oder die eigene Religion ist, wie man heute sagt, Offenbarung, während die anderen Religionen nur vergebliche Versuche sind, Gott zu erreichen. Ein vergeblicher Versuch, Gott zu erreichen — das wird zur Definition aller Religionen. Von diesem Standpunkt aus ist es sinnlos, die konkreten Unterschiede der Religionen zu untersuchen. Ich denke an die Ängstlichkeit, mit der z. B. Emil Brunner solche Untersuchungen unternahm, und an die theologische Isolierung von Religionshistorikern wie Rudolf Otto und an die ähnliche Lage, in der sich heute ein Mann wie Friedrich Heiler befindet. Ich denke ferner an die bitteren Angriffe auf Schleiermacher, weil er den Begriff Religion auf das Christentum anwandte, und ich erinnere mich an die Angriffe, die man gegen midi richtete, als ich vor 40 Jahren in Marburg zum ersten Mal ein Seminar über Schleiermadier hielt. Das wurde zu jener Zeit für ein Verbrechen gehalten. Die Ablehnung der Orthodoxie, der alten wie der neuen, gründet sich auf folgende systematische Voraussetzungen: erstens muß man anneh144

men, daß Offenbarungserfahrungen universell menschlich sind. Die Religionen beruhen auf etwas, was dem Menschen zu allen Zeiten und überall gegeben ist, nämlich auf Offenbarungen, die immer erlösende Macht haben. In allen Religionen gibt es offenbarende und erlösende Mächte. „Gott hat uns nicht ohne Zeugnis von sich gelassen." Die zweite Voraussetzung ist die Annahme, daß der Mensch Offenbarungen empfängt, indem er sie der menschlichen Situation, seinen biologischen, psychologischen und soziologischen Grenzen anpaßt. Indem er Offenbarungen annimmt, entstellt er sie; er kehrt das Verhältnis von Gott und Mensch so um, daß er Gott zum Mittel und den Menschen zum Zweck macht.1 Die dritte Voraussetzung ist die Annahme, daß es im Laufe der menschlichen Geschichte nicht nur partikulare Offenbarungserlebnisse gibt, sondern auch einen Offenbarungsprozeß, in dem die Ergebnisse der Aneignung und die Entstellungen der Offenbarung einer Kritik unterworfen werden. Diese Kritik erscheint in drei Formen, als mystische, als prophetische und als profane Kritik. Die vierte Voraussetzung ist die Annahme, daß es ein zentrales Ereignis in der Geschichte der Religionen geben kann — und ich betone das kann —, das die positiven Elemente der verschiedenen Entwicklungen in der Religionsgeschichte in sich vereinigt und eine konkrete Theologie mit universalistischem Anspruch möglich macht. Es gibt noch eine fünfte Voraussetzung: die Geschichte der Religionen läuft ihrem Wesen nach nicht neben der Geschichte der Kultur einher. Das Heilige liegt nicht außerhalb des Profanen, sondern in seiner Tiefe; es ist der schöpferische Grund des Profanen und zugleich die Kritik an ihm. Aber es kann dies nur sein, wenn es zugleich eine Kritik an sich selbst enthält, eine Kritik, die sich des Profanen als eines Mittels der SelbstKritik bedient. Nur wenn der Theologe diese fünf Voraussetzungen annimmt, kann er ernsthaft und rückhaltlos die Bedeutung der Religionsgeschichte für die Theologie gegen diejenigen verteidigen, die sie im Namen eines neuen oder eines alten orthodoxen Absolutismus verwerfen. Andererseits muß sich der Theologe, der die Bedeutung der Religionsgeschichte anerkennt, gegen die Theologie ohne Gott wenden. Auch die ausschließliche Geltung des Profanen muß er verwerfen oder die Idee, daß das Heilige sozusagen vollständig im Profanen aufgegangen sei. Durch die letzte der fünf Voraussetzungen, die sich auf das Verhältnis von Heiligem und Profanem bezieht, ist die Bedrohung durch die Verkündigung, „daß Gott tot ist", bereits verringert. Die Religion 1

Hier folgt die Übersetzung dem Manuskript. 145

muß das Profane als Mittel der Selbstkritik gebrauchen. Aber die entscheidende Frage ist: Warum überhaupt Religion, Religion im Sinne eines Bereichs von Symbolen, Riten und Institutionen? Sind diese für einen Theologen, der die Idee von Gott ablehnt, nicht ebenso bedeutungslos wie die Geschichte der Magie oder der Astrologie? Um die Theologie gegen den Angriff von dieser Seite zu verteidigen, muß der Theologe eine grundsätzliche Voraussetzung machen: er muß annehmen, daß die Religion als Struktur von Symbolen der Erkenntnis und des Handelns, d. h. als Mythen und Riten innerhalb einer Gesellschaftsgruppe eine dauernde Notwendigkeit selbst für eine äußerst säkularisierte Kultur und eine weitgehend entmythologisierte Theologie ist. Ich leite diese Notwendigkeit von der Tatsache ab, daß der göttliche Geist der Verkörperung bedarf, um wirklich und wirksam zu werden. Man kann zwar sagen, daß das Heilige, das Unbedingte oder das Wort Gottes dem Bereiche des Profanen immanent sei — idi selbst habe das unzählige Male gesagt —, aber um im Profanen immanent sein zu können, muß das Heilige zumindest die Möglichkeit haben, audi außerhalb des Profanen zu sein. Das heißt, es muß ein Unterschied bestehen zwisdien dem, was in etwas immanent ist, und dem, worin es immanent ist. Die Manifestationen der beiden müssen irgendwie untersdieidbar sein. Unsere Frage ist also: Wodurch unterscheidet sich das bloß Profane von demjenigen Projanen, das Gegenstand einer säkularisierten Theologie wäre? Um ein konkretes Beispiel zu geben: Die Reformatoren waren im Recht, wenn sie behaupteten, daß jeder Tag ein Tag des Herrn sei. Aber um diese Behauptung machen zu können, mußte es erst einen Tag des Herrn geben, und zwar nicht nur einmal in der Vergangenheit, sondern es muß ihn immer wieder geben als Gegengewicht gegen das Übergewicht des Profanen. Aus diesem Grund ist es notwendig, von Gott zu sprechen, wenn auch nicht notwendigerweise auf die traditionelle Art. Damit ist eine positive Bewertung der Religionsgesdiidite ermöglicht. Wir müssen als Theologen also zwei Widerstände gegen eine unvoreingenommene Beurteilung der Religionsgesdiidite überwinden: die orthodox-exklusive und die säkular-ablehnende Haltung. Der bloße Begriff „Religion" stellt den systematischen Theologen vor eine Unzahl von Problemen, und diese werden nodi dadurch vermehrt, daß die beiden Gegner, obwohl sie von entgegengesetzten Seiten kommen, ein Bündnis eingehen können. Das ist in der Vergangenheit geschehen und geschieht heute wieder. Beide Seiten neigen dazu, das Christentum auf die Person Jesu von Nazareth zu reduzieren. Die Neuorthodoxen tun dies, indem sie ihn zu dem aussdiließlidien Ort madien, an 146

dem sich das Wort Gottes offenbart. Die Theologen des Säkularismus tun das Gleiche, indem sie ihn zu dem einzigen Vertreter eines theologisch relevanten Säkularismus machen. Dies Letztere ist aber nur möglich, wenn Jesu Gestalt und Botschaft selbst radikal an Bedeutung einbüßen und von ihnen nichts übrig bleibt als eine ethische, besonders eine sozial-ethische, Lehre. In diesem Fall wird die Geschichte der Religion, selbst der jüdischen und der christlichen, überflüssig. Deshalb müssen wir, wenn wir Wert und Sinn der Religionsgeschichte verstehen wollen, das Bündnis der auf die Gestalt Jesu konzentrierten, sonst aber gegensätzlichen Richtungen der Orthodoxie und der säkularisierten Theologie zerbrechen. II. Jetzt komme ich zu meinem zweiten Punkt, einer Theologie der Religionsgeschichte. Traditionell beschränkt sich die Religionsgeschichte auf die Geschichte der Offenbarung, wie sie im Alten und Neuen Testament erzählt wird, und dehnt sich auf die Geschichte der Kirchen aus, die die geistige Lenkung der Menschheit fortsetzen. Die übrigen Religionen unterscheiden sich nach dieser Auffassung nicht wesensmäßig voneinander. Sie sind alle Pervertierungen einer Art von ursprünglicher Offenbarung ohne besondere Offenbarungserfahrungen, die für die christliche Theologie bedeutsam wären. Es sind heidnische Religionen, Nationalreligionen, aber keine Vermittler von Offenbarung und Erlösung. Praktisch hat sich dieses Prinzip jedoch niemals völlig durchgesetzt. Juden wie Christen wurden von den Religionen der Völker, die sie unterwarfen oder von denen sie unterworfen wurden, beeinflußt. Diese Religionen haben zuweilen das Judentum oder das Christentum fast völlig zu ersticken gedroht, was zu heftigen Reaktionen innerhalb dieser beiden Religionen geführt hat. Deshalb brauchen wir eine „Theologie der Religionsgeschichte'', in der die positive Bewertung der universalen Offenbarung der kritischen das Gleichgewicht hält, denn beide sind nötig. Eine solche „Theologie der Religionsgeschichte" kann dem systematischen Theologen dazu verhelfen, die Gegenwart und unseren eigenen Platz in der Geschichte zu verstehen, sowohl im Hinblick auf das Einmalige des Christentums wie auf seinen universalen Anspruch. Wenn ich heute auf meine eigene Studienzeit und die folgenden Jahre zurückblicke, bin idi noch immer dankbar für das, was ich aus der sogenannten religionsgeschichtlichen Schule in biblischen und kirchengeschichtlichen Studien gewonnen habe. Sie machte mir klar, in welchem 147

Maße die biblische Tradition mit der vorderasiatischen und der Mittelmeer-Tradition verbunden war. Ich erinnere midi daran, wie befreiend es war, die universal menschlichen Motive, die uns in der Schöpfungsgeschichte, dem hellenistischen Existentialismus und der persischen Esdiatologie begegnen, in den späteren Teilen des Alten Testaments und im Neuen Testament wiederzufinden. Jene Religionen hatten Symbole für die Erlösergestalten und das Drama der Erlösung geschaffen, die später das Bild von Jesu Person und Werk im Neuen Testament bestimmten. Diese Dinge waren nicht vom Himmel gefallen, sondern waren durch eine lange Offenbarungsgeschichte vorbereitet worden, bis sie schließlich in dem kairos, der rechten, der erfüllten Zeit, das Erscheinen Jesu als des Christus möglich machten. Diese Einflüsse beeinträchtigten weder die Einzigartigkeit der prophetischen Angriffe auf die Religion im Alten Testament, noch die einmalige Macht der Erscheinung Jesu im Neuen Testament. Zu diesen Erkenntnissen kam später bei mir wie bei vielen Theologen eine weitere: wir lernten die Bedeutung auch der Religionen kennen, die der biblisdien Tradition ferner stehen. Das erste Problem, dem eine theologische Betrachtung der Geschichte Israels und der christlichen Kirche begegnet, ist das Problem der Heilsgesdiidite. Die Heilsgesdiichte vollzieht sich innerhalb der Weltgeschichte und tritt in großen Augenblicken, in kairoi, zutage wie den verschiedenen Reformationsversuchen innerhalb der Kirdiengeschichte. Religionsgeschichte darf jedoch nicht mit Heils- oder Offenbarungsgeschichte verwechselt werden; vielmehr müssen wir, wenn wir Religionsgeschichte ernst nehmen, fragen, ob es innerhalb der allgemeinen Religionsgeschichte kairoi gibt. Man hat versucht, solche kairoi zu finden. In der Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert hat man alle Entwicklungen als Vorbereitung für den großen kairos verstanden, für den Augenblick, in welchem die menschliche Vernunft ihre Reife erreicht. Diese reife Vernunft hat noch religiöse Elemente in sich: Gott, Freiheit, Unsterblichkeit. Kant hat diese Ideen in seinem berühmten Werk „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" entwickelt. Ein ähnlicher Versuch war die romantische Geschichtsdeutung, die zu Hegels bekanntem System führte. Nach seiner Auffassung schreitet die Religionsgeschichte, gemäß philosophischer Kategorien, die aller Wirklichkeit ihre Struktur verleihen, fort. Das Christentum ist die höchste und letzte Stufe, „die geoffenbarte Religion". Aber dieses Christentum ist philosophisch entmythologisiert. Es ist eine Verbindung der Kantischen Philosophie mit der Botschaft des Neuen Testaments. 148

Alle früheren Religionen sind nach Hegels Auffassung der Religionsgeschichte „aufgehoben". Das bedeutet, daß das Vergangene als solches in der Religionsgeschichte seinen Sinn verloren hat; es besteht nur noch als ein Element in der späteren Entwicklung. Das heißt beispielsweise, daß für Hegel die indischen Religionen längst abgestorben sind und keine Bedeutung mehr für die Gegenwart haben; sie gehören einer älteren Stufe der Entwicklung an. Hegels Versuch einer Theologie der Religionsgeschichte führte zu einer Erfahrungstheologie, wie sie vor dreißig Jahren in Amerika weit verbreitet war. Sie beruhte auf dem Gedanken, daß man sidi neuen religiösen Erfahrungen in der Zukunft offen halten müsse. Heutzutage vertreten Männer wie Toynbee diese Richtung; vielleicht suchen sie nach etwas in der religiösen Erfahrung, das zu einer Vereinigung der großen Religionen führen kann. Auf jeden Fall ist es eine nach-christliche Ära, auf die ihre religionsgeschichtlichen Spekulationen vorbereiten. In diesem Zusammenhang muß ich Teilhard de Chardin erwähnen, der von der Entwicklung eines universalen, auf das Göttliche gerichteten Bewußtseins spricht, das im Grunde christlich ist. Das Christentum enthält nach ihm alle geistigen Elemente der Zukunft in sich. Diese Auffassung der Religionsgeschichte finde ich nicht befriedigend. Auch mit meiner eigenen bin ich nicht zufrieden, aber ich will sie trotzdem darlegen in der Hoffnung, Sie dadurch anzuregen, selbst über die Religionsgeschichte nachzudenken. Meine eigene Methode ist dynamisch-typologisch: Es gibt keine endlos fortschreitende Entwicklung, sondern es gibt Elemente, die in jeder Erfahrung des Heiligen vorhanden sind. Diejenigen Elemente, die in einer Religion vorherrschen, bestimmen den besonderen T y p dieser Religion. Dieses Problem müßte man tiefer ergründen; hier kann ich nur das Schema einer Typologie entwerfen. Die universale Grundlage der Religion ist die Erfahrung des Heiligen innerhalb des Endlichen. Das Heilige erscheint universell in allem Endlichen und Partikularen, und es erscheint jeweils auf besondere Art. Dies kann man die sakramentale Grundlage aller Religionen nennen — das Heilige, das im Hier und Jetzt gesehen, gehört, erfaßt werden kann trotz seines ekstatisch-mystischen Charakters. Reste dieses Elementes sind in den Sakramenten der Hochreligionen erhalten, und ohne sie würde eine religiöse Gemeinschaft zu einem Verein mit rein moralischem Anliegen werden, wozu tatsächlich ein großer Teil des Protestantismus geworden ist, weil er seine sakramentale Grundlage verloren hat. Ein zweites Element der Religion ist der kritische Widerstand gegen die Dämonisierung des Sakramentalen, die das Heilige in ein Objekt 149

verwandelt, über das man verfügen kann. Dieses Element ist in verschiedenen kritischen Bewegungen verkörpert. Die erste von ihnen ist die mystische Bewegung, in der die Unzufriedenheit mit den konkreten Erscheinungsformen des Heiligen, des Unbedingten, zum Ausdrude kommt. Man sucht, diese Formen zu transzendieren auf das Eine hin, das jenseits des Vielfältigen liegt: das Heilige als das Unbedingte liegt jenseits aller seiner Verkörperungen. Diese haben zwar ihre Berechtigung, sie werden nicht verneint, aber es wird ihnen nur sekundäre Bedeutung zuerkannt. Um das Höchste, das Unbedingt-Eine zu erreichen, muß man über sie hinausgehen. Das Partikulare wird in dieser Haltung um des Unbedingten-Einen willen negiert und das Konkrete wird entwertet. Das dritte Element in der religiösen Erfahrung ist das Element des Sollens, das moralische oder prophetische Element. Auch in ihm wird das Sakramentale wegen seiner dämonischen Konsequenzen kritisiert, die sich z. B. in der Leugnung der Gerechtigkeit im Namen der Heiligkeit zeigen. Hierum geht der gesamte Kampf der jüdischen Propheten gegen die sakramentale Religion. Bei Arnos und Hosea führt dieser Kampf gelegentlich so weit, daß sie den ganzen Kult ablehnen. Diese Kritik an der sakramentalen Grundlage ist entscheidend für die jüdische Religion und bildet ein Element innerhalb der christlichen Religion. Aber auch bei diesem Element würde ich sagen, daß es ohne Verbindung mit dem sakramentalen und dem mystischen Element moralistisch und schließlich profan wird. Ich möchte die Einheit dieser drei Elemente in einer Religion die Religion des konkreten Geistes nennen, allerdings mit Vorbehalt, aber ich weiß keine bessere Bezeichnung. Dann könnte man vielleicht sagen, daß das telos, — d. h. das innere Ziel eines Wesens (so wie das telos der Eichel ist, ein Eichbaum zu werden) — daß das telos der Religionsgeschichte eine Religion des konkreten Geistes ist. Wir können diese Religion des konkreten Geistes mit keiner der wirklichen Religionen identifizieren, auch nicht mit dem Christentum als Religion. Aber als protestantischer Theologe wage ich zu behaupten, daß es keinen höheren Ausdrudk für das gibt, was ich die Synthese dieser drei Elemente nenne, als Paulus' Lehre vom Geist. In ihr sind die beiden fundamentalen Elemente der Religion, das ekstatische und das rationale, vereinigt.2 Hier ist Ekstase, aber die höchste Schöpfung der Ekstase ist 2 Diese Stelle ist nicht ohne weiteres verständlich. Die Elemente des Ekstatischen und Rationalen haben nichts mit den vorher genannten Elementen zu tun, die die Religionstypen bestimmen. Ekstase ist nach Tillich die Ergriffenheit durch den göttlichen Geist und als solche Teil der religiösen Erfahrung.

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Liebe im Sinne von Agape. Ihre andere Schöpfung ist gnosis, die Erkenntnis Gottes. Gnosis aber ist Erkenntnis und nicht Auflösung oder Chaos. Die positive oder negative Beziehung dieser Elemente 3 zueinander gibt der Religionsgeschichte ihren dynamischen Charakter. Das innere telos, von dem ich sprach, die Religion des konkreten Geistes, ist sozusagen das, worauf sich die Religionsgeschichte zubewegt. Aber wir dürfen die Synthese nicht nur als zukünftige Erwartung begreifen; sie manifestiert sich zu allen Zeiten, sowohl in dem Kampf gegen den dämonischen Anspruch der sakramentalen Grundlage wie in dem Kampf gegen die profanisierende Entstellung der sakramentalen Grundlage durch ihre Kritiker. Sie tritt fragmentarisch immer wieder in den großen Augenblicken der Religionsgeschichte in Erscheinung. Darum müssen wir einerseits die Religionsgeschichte in uns aufnehmen und auf diese Art die vergangenen Religionen aufheben. Andererseits müssen wir erkennen, daß wir in einer echt«n lebendigen Tradition stehen, die aus den Augenblicken besteht, in denen die große Synthese Wirklichkeit geworden ist. In diesem Sinne können wir die gesamte Religionsgeschichte als einen Kampf für die Religion des konkreten Geistes betrachten, als einen Kampf Gottes gegen die Religion innerhalb der Religion. Dieser Ausdruck „der Kampf Gottes gegen die Religion innerhalb der Religion" kann als Schlüssel zum Verständnis der äußerst chaotisch erscheinenden Religionsgeschichte dienen. Als Christen sehen wir in der Erscheinung Jesu als des Christus den entscheidenden Sieg in diesem Kampf. Es gibt ein altes Symbol für den Christus, „Christus Victor", das in dieser Deutung der Religionsgeschichte wieder verwandt werden kann. Schon im Neuen Testament ist es mit dem Sieg über die dämonischen Mächte und die astrologischen Kräfte verbunden. Es deutet auf den Sieg am Kreuz hin als die Überwindung aller dämonischen Ansprüche. Ich glaube, daß wir von hier aus den Weg zu einer Christologie finden können, die uns aus den vielen Sackgassen herausführt, in die das christologische Dogma die christlichen Kirchen von Anfang an verfangen hatte. Jetzt sehen wir, Sie kann jedoch die rationalen Strukturen des menschlichen Geistes und seiner Schöpfungen zerstören und Chaos schaffen. Deshalb muß ihr durch rationale Elemente das Gleichgewicht gehalten werden, wie Tillich ein paar Seiten später zeigt. In agape und gnosis ist das ekstatische Element mit dem rationalen (der ethischen Forderung in der agape, der Erkenntnis in der gnosis) völlig vereint. Vgl. Systematische Theologie III, 137-144. 8

Hier sind wieder die Elemente des Sakramentalen, des Mystischen und des Prophetischen gemeint.

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d a ß die kritischen Momente in der Religionsgeschichte, die kairoi, eine Fortsetzung in anderen kairoi haben können, in denen die Religion des konkreten Geistes sich fragmentarisch hier und jetzt verwirklichen kann. Für uns als Christen ist das Kriterium das Ereignis des Kreuzes: was in ihm symbolisch geschah, geschah und geschieht fragmentarisch auch an anderen Orten und zu anderen Zeiten und wird wieder in der Z u k u n f t geschehen, wenn auch nicht in geschichtlicher oder empirischer Verbindung mit dem Kreuz. N u n komme ich zu einer Frage, die im Mittelpunkt dieser Konferenz stand, nämlich der Frage, wie die Dynamik der Religionsgeschichte sich auf das Verhältnis von Heiligem und Profanem auswirkt. Das Heilige ist nicht nur der Dämonisierung ausgesetzt und dem Kampf Gottes gegen die Religion als dem Kampf gegen die der Religion innewohnende Gefahr der Dämonisierung — das Heilige ist auch in Gefahr der Profanisierung. U n d beide, Dämonisierung und Profanisierung, sind insofern miteinander verknüpft, als Profanisierung oder Säkularisierung die dritte und radikalste Form der Entdämonisierung ist. Sie kennen die Bedeutung des Wortes p r o f a n : „vor den Toren des Heiligtums", und des Begriffs säkular: „zu der Welt gehörig". In der Säkularisierung wird die ekstatisch-mystische Sphäre des Heiligen f ü r die Welt gewöhnlicher rationaler Strukturen aufgegeben. Dagegen anzukämpfen im N a m e n der Heiligkeit des Lebens und die Menschen im Heiligtum zu halten, wäre einfach, wenn das Säkulare nicht eine kritische religiöse Funktion hätte. Das Problem ist so schwierig, weil das Säkulare das Rationale ist und das Rationale die Irrationalität des Heiligen der Kritik unterwerfen und seine Dämonisierung richten muß. Die rationale Struktur, von der ich spreche, enthält die Strukturen der Moralität, des Rechts, der Erkenntnis und der Kunst. Die Weihe, die das Heilige dem Leben gibt, bedeutet zugleich die Beherrschung des Lebens durch ekstatische Formen des Heiligen und die Unterdrückung des dem Menschen innewohnenden Verlangens nach dem Guten, nach Gerechtigkeit, Wahrheit und Schönheit. In dieser Hinsicht ist Säkularisierung eine Befreiung, und sowohl die Propheten wie die Mystiker waren in diesem Sinne Vorläufer der Säkularisierung. Das Heilige wurde allmählich zum moralisch Guten, dem philosophisch und später dem wissenschaftlich Wahren oder dem künstlerisch Ausdrucksvollen. Aber an diesem P u n k t macht sich eine tiefe Dialektik bemerkbar: Das Säkulare, das im Recht ist, wenn es sich gegen die Beherrschung durch das Heilige zur Wehr setzt, wird seines Sinnes entleert und wird zum O p f e r dessen, was ich die Quasi-Religionen genannt habe. U n d diese Quasi-Religionen wirken sich als ebenso begrückend aus wie die dämo-

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nischen Elemente innerhalb der Religion. Sie sind sogar noch schlimmer, wie sich in unserer Zeit gezeigt hat, denn sie sind ohne die Tiefe und den Reichtum echter religiöser Traditionen. Hier tritt ein anderes telos oder inneres Ziel der Religionsgeschichte in Erscheinung. Ich nenne es Theonomie, von theos = Gott und notnos = Gesetz abgeleitet. Wenn die autonomen Kräfte der Erkenntnis, der Kunst, des Rechts und der Moralität auf den letzten Sinn des Lebens hinweisen, dann haben wir Theonomie. Dann werden diese Kräfte nicht von dem Heiligen beherrscht, sondern weisen in ihrem inneren Wesen auf das Heilige, das Unbedingte, hin. In der Wirklichkeit jedoch spielt sich ein Kampf ab zwischen der Heiligung des Lebens, die heteronome Formen annimmt, und der Selbstverwirklichung aller kulturellen Funktionen, die autonom werden und ihren Sinngehalt verlieren. Theonomie erscheint in dem, was ich die Religion des konkreten Geistes genannt habe, fragmentarisch, aber niemals vollkommen. Ihre Erfüllung ist eschatologisch, ihre Erwartung liegt jenseits der Zeit, im Ewigen. Dieses theonome Element in der Beziehung zwischen dem Heiligen und dem Säkularen oder Profanen ist ein Element in der Struktur der Religion des konkreten Geistes. In ihm gibt es Fortschritt wie in jeder Tätigkeit (selbst einen Vortrag halten ist auf Fortschritt in irgendeiner Richtung angelegt), aber es darf nicht im Sinne des Fortschrittsglaubens verstanden werden; 4 es ist nicht auf Erfüllung in der Zeit gerichtet. In diesem Punkt denke ich anders als Teilhard de Chardin, dem ich midi in vielen anderen Punkten nahe fühle. III. Meine dritte und letzte Betrachtung gilt der Interpretation der theologischen Tradition im Lichte religiöser Phänomene. Lassen Sie midi mit einer Behauptung beginnen, die ein großer Theologe von der Universität Berlin, Adolf von Harnack, einmal gemadit hat. Er sagte, daß die Geschichte des Christentums alle Elemente der Religionsgeschichte umfasse. Das war eine richtige Einsicht, aber er selbst zog nicht die nötigen Folgerungen aus ihr. Er sah nicht, daß sie eine weitaus positivere Beziehung zwischen der gesamten Religionsgeschichte und der Geschichte der christlichen Kirchen erfordere, als es seine eigene konstruktive Theologie war, die er auf eine Art bürgerliche, individualistische, moralistische Theologie eingeengt hatte. An diesem Punkt möchte ich den Dank meines Freundes Professor 4

Tillich unterscheidet zwischen Begriff und Idee des Fortschritts; vgl. dazu „Wert und Grenzen der Fortschrittsidee" in diesem Band, S. 119 ff.

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Eliade erwidern für seine Zusammenarbeit mit mir in zwei Jahren gemeinsamer Seminare, in denen jede einzelne christliche Lehre und jeder einzelne christliche Ritus für mich eine neue, tiefere Bedeutung gewonnen hat. Und als Erklärung, aber auch als Selbst-Anklage, muß ich erwähnen, daß meine Systematische Theologie entstanden war, bevor diese Seminare stattfanden, und einer anderen Absicht diente, nämlich der apologetischen Aussprache gegen das Säkulare und mit dem Säkularen. Ihr Zweck war, Fragen zu beantworten, die sich aus der wissenschaftlichen und philosophischen Kritik am Christentum ergaben. Aber vielleicht ist eine längere und intensivere gegenseitige Durchdringung von systematischer Theologie und Religionsgeschichte nötig. Unter ihrem Einfluß könnte sich die Struktur des religiösen Denkens im Zusammenhang mit einer neuen fragmentarischen Manifestation der Theonomie oder einer Religion des konkreten Geistes entwickeln. Das ist meine Hoffnung für die Zukunft der Theologie. Um diese Möglichkeit zu sehen, muß man auf das Beispiel achten, das die religionsgeschichtliche Methode dem systematischen Theologen dadurch gibt, daß sie die Bedeutung des Partikularen hervorhebt. Das zeigt sich in Form einer doppelten Negation, nämlich der Negation einer übernatürlichen Theologie und der Negation einer natürlichen Theologie. In der übernatürlichen Theologie hat die protestantische Orthodoxie die Idee von Gott systematisch entwickelt. Sie nahm ihren Gottesbegriff aus Dokumenten der Offenbarung, von denen sie annahm, daß sie inspiriert, aber nicht durch die Geschichte vorbereitet waren. Solche Dokumente waren für die protestantische Orthodoxie die Bibel und für den Islam der Koran. Aus diesen heiligen Schriften entwickelte die Kirche dann ihre Lehren, gewöhnlich auf dem Wege über dogmatische Kontroversen, faßte sie in Glaubensartikeln oder offiziellen Lehrbüchern zusammen und erklärte sie theologisch mit Hilfe der Philosophie. Bei alledem blickte sie nicht über den Kreis dessen hinaus, was ihr durch die Offenbarung, d. h. die eigene Religion oder den eigenen Glauben, gegeben war. Neben dieser in allen christlichen Kirchen vorherrschenden Methode steht die der natürlichen Theologie, die ihre religiösen Begriffe aus der philosophischen Analyse der Wirklichkeit, besonders aus der Analyse der Struktur des menschlichen Geistes ableitet. Die so gewonnenen Begriffe, wie der von Gott, können dann zu traditionellen Lehren in Beziehung gesetzt werden, müssen es aber nicht. Der Religionshistoriker verfährt dagegen folgendermaßen: Erstens verwendet auch er das traditionelle Material, und zwar in der Form, in der es diejenigen, die theologisch arbeiten, existentiell verstehen. Da 154

der Religionshistoriker aber theologisch-wissenschaftlich arbeitet, muß er die Objektivität wahren, die zur Beobachtung der Wirklichkeit erforderlich ist. Zweitens übernimmt er von der natürlichen Theologie die Methode der Analyse des menschlichen Geistes und der Wirklichkeit und zeigt, an welcher Stelle — sowohl in uns selbst wie in unserer Welt — die religiöse Frage entsteht, wie z. B. in der Erfahrung der Endlichkeit, in der Suche nach dem Sinn unseres Lebens, in der Erfahrung des Heiligen als Heiliges usw. Als drittes bietet der Religionshistoriker eine Phänomenologie der Religion, indem er die Phänomene, die in der Religionsgeschidite hervortreten, die Symbole, die Riten, die Ideen und die verschiedenen Handlungen beschreibt. Viertens weist er auf die Beziehung dieser Phänomene zu den traditionellen Begriffen hin — ihre Verwandtschaft, ihre Unterschiede und ihre Widersprüche — und auf die Probleme, die sich daraus ergeben. Als fünftes und letztes stellt der Religionshistoriker die neu interpretierten Begriffe in den Rahmen der religionsgeschichtlichen Entwicklung und der profanen Geschichte und setzt sie in Beziehung zu unserer gegenwärtigen religiösen Lage und unserer kulturellen Situation. In diese fünf Stufen der religionsgeschichtlichen Methode sind auch Elemente der älteren traditionellen Theologie aufgenommen, aber sie sind im Zusammenhang mit der Geschichte der Menschheit und mit den menschlichen Erfahrungen gesehen, wie sie in den großen Symbolen der Religionsgeschichte Ausdruck gefunden haben. Das methodische Verfahren, in dem die Religionsgeschidite die religiösen Begriffe in ihrem historisdien Zusammenhang zeigt und in Beziehung zur Gegenwart stellt, hat den Vorteil, daß es uns eine neue Wahrheit der religiösen Symbole enthüllt: Wir sehen sie jetzt in ihrer Beziehung zu dem gesellsdiaftlichen Boden, auf dem sie gewachsen sind und in den wir sie heute wieder einpflanzen müssen. Dies ist von außerordentlicher Bedeutung, denn religiöse Symbole fallen nicht vom Himmel; sie wurzeln in der Totalität menschlicher Erfahrungen, die der umgebenden Welt, der gesellschaftlichen wie der politischen, eingeschlossen. Aber sie wurzeln nicht nur in ihr, sie sind auch Ausdruck des Protestes gegen sie. Beides müssen wir beachten, wenn wir Symbole gebrauchen und wieder einführen wollen. Ein weiteres Ergebnis dieser Methode ist, daß wir uns heute der religiösen Symbolik als Ausdrucksmittel für die Lehre vom Menschen bedienen können, als Sprache der Anthropologie, wenn wir dieses Wort nicht im Sinne einer empirischen Wissenschaft, sondern als Lehre vom Wesen des Menschen verstehen. Die religiösen Symbole sagen etwas über das Selbstverständnis des Menschen, das Verständnis seiner ei155

gentlichen N a t u r , aus. Die Betonung der Sündhaftigkeit des Menschen im Christentum und das Fehlen dieses Begriffs im Islam ist ein gutes Beispiel f ü r das, was ich meine. Es zeigt den fundamentalen U n t e r schied in dem Selbstverständnis des Menschen zwischen zwei großen Religionen u n d Kulturen. Auf diese A r t können wir tiefere Einsicht in die N a t u r des Menschen gewinnen als mit H i l f e irgendeiner empirischen Psychologie. Als letztes müssen wir nun f r a g e n : Was bedeutet dies alles f ü r die Beziehung des Theologen zu seiner Religion? Seine Theologie bleibt in ihren Erfahrungsgrundlagen verwurzelt; ohne sie ist keine Theologie möglich. Aber diese fundamentalen Erfahrungen versucht der Theologe in universal gültige Aussagen zu fassen. Diese Universalität besteht jedoch nicht in einer alles umfassenden Abstraktion — diese w ü r d e die Religion selbst zerstören —, sondern sie liegt in der Tiefe einer jeden konkreten Religion sowie in der geistigen Freiheit, die Freiheit sowohl von der Religion wie audi für die Religion ist. 5

s Tillidi hat in seiner Rede von „Spiritual freedom both from one's foundation and for one's foundation" gesprochen. Und so lautet die Stelle audi in der amerikanischen Ausgabe. Im Manuskript heißt es: „freedom both from itself Vortrag muß Tillich erkannt haben, daß dieser Ausdruck and for itselfBeim zu vage ist und hat ihn mit „one's own foundation" ersetzt. Da mit dem „eigenen Fundament" die eigene Religion gemeint ist, hat die Übersetzung hier das Wort »Religion* eingesetzt und so die Bedeutung des Satzes deutlicher gemacht. Daß die Bekanntschaft mit anderen Religionen befreiend wirkt, hatte Tillich audi bei seinen Gesprächen mit Vertretern des Buddhismus in Japan erfahren. Am Ende der Vorträge, die aus diesen Erfahrungen hervorgegangen sind, heißt es, ähnlich wie in der Chicagoer Rede: „In der Tiefe jeder lebenden Religion gibt es einen Punkt, an dem die Religion als solche ihre Wichtigkeit verliert und das, worauf sie hinweist, durch ihre Partikularität hindurchbricht, geistige Freiheit schafft und mit ihr eine Vision des Göttlichen, das in allen Formen des Lebens und der Kultur gegenwärtig ist." (GW V, 98)

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BIBLIOGRAPHISCHE

ANMERKUNGEN

Die nachstehenden Bibliographie-Nummern beziehen sich auf die Bibliographie in Bd. XIV der Gesammelten Werke Paul Tillichs (Register, Bibliographie und Textgeschichte zu den Gesammelten Werken Paul Tillichs, 1975). Dabei sind hier nur die widitigsten Angaben wiederholt, zumal auch im Vorwort des vorliegenden Bandes erschöpfende bibliographische Hinweise gegeben werden. I. Das Problem der theologischen Methode Bibl. N r . 199 (224). - Übers, von: The Problem of Theological Method. Journal of Religion, Chicago. Vol. 27, No 1.1947. S. 16-26. II. Absolute und relative Faktoren in der Begegnung des Mensdhen mit der Wirklichkeit Bibl. N r . (478) und (490). - Übers, von: My Search for Absolutes. New York, Simon and Schuster, 1967. - In deutscher Übers.: Meine Suche nach dem Absoluten, Wuppertal, Hammer Verlag, 1969. III. Die Relevanz des Pfarramts für die heutige Zeit und seine theologische Grundlage Bibl. N r . (378). - Ubers, von: The Relevanz of the Ministry in our Time and its Theological Foundation. In: Making the Ministry Relevant, New York, Scribner, 1960. S. 19-35. IV. Zur gegenwärtigen theologischen Lage Bibl. N r . 213 (238) - The Present Theological Situation in the Light of the Continental European Development. In: Theology Today, Princeton. Vol. 6, N o 3. 1949. S. 299-310. (Deutsdie Übersetzungen siehe Vorwort). V. Das prophetische Element in der christlichen Botschaft und das Problem der Autorität Bibl. N r . (443) - The Prophetic Element in the Christian Message and the Authoritarian Personality. In: McCormick Quarterly, Chicago. Vol. 17, N o 1.1963. S. 16-26. von VI. Die Funktion von Religion in den beiden Gesellschaftssystemen Rußland und Amerika Bibl. N r . 257 (330). - Religion in Two Societies: America and Russia. In: Metropolitan Museum of Art. 1954. S. 41-48. VII. Wert und Grenzen der Fortschrittsidee Bibl. N r . (476) u. (472). - The Decline and the Validity of the Idea of Progress. In: The Ohio University Review, Athens, Ohio. Vol. 8. 1966. S. 5-22, und in: The Future of Religions, New York, Harper and Row, 1966. 157

VIII. Hat die Eroberung des Weltraums die Würde des Menschen erhöht oder vermindert? Bibl. Nr. (439) u. (472). - Has Man's Conquest of Space Increased or Diminished his Stature? In: The Great Ideas Today, Chicago. (Encyclopaedia Britannica 1963) u. in: The Future of Religions. New York, Harper and Row, 1966. IX. Die Bedeutung der Religionsgeschichte für den systematischen Theologen Bibl. N r . (472) u. (480). - The Significance of the History of Religions for the Systematic Theologian. In: The Future of Religions. New York, Harper and Row, 1966. - Deutsche Übers.: In: Werk und Wirken Paul Tillichs, Stuttgart, 1967.

Das Gesamtwerk Paul Tillichs in deutscher Sprache — erschienen im Evangelischen Verlagswerk

Paul Tillich, Systematische Theologie Band I 1. Teil: Vernunft und Offenbarung 2. Teil: Sein und Gott 3. Auflage, 352 Seiten, engl, brosch. D M 24.50; Leinen D M 27.80 - ISBN 3 7715 0003 6 - 1964 Band II 3. Teil: Die Existenz und der Christus 3. Auflage, 196 Seiten, engl, brosch. D M 13.-; Leinen D M 15.30 - ISBN 3 7715 0006 0 - 1964 Band III 4. Teil: Das Leben und der Geist 5. Teil: Geschichte und Reich Gottes 520 Seiten mit Register für alle 3 Bände; Leinen D M 37 - - ISBN 3 7715 0044 3 - 1966

Die religiösen Reden Paul Tillichs 1. Folge In der Tiefe ist Wahrheit 4. Auflage, 176 Seiten, engl, brosch. D M 9.80 ISBN 3 7715 0002 8 - 1964 2. Folge Das neue Sein 3. Auflage, 164 Seiten, engl, brosch. D M 9.80 ISBN 3 7715 0005 2 - 1965 3. Folge Das Ewige Im Jetzt 2. Auflage, 176 Seiten, engl, brosch. D M 9.80 ISBN 3 7715 0027 3 - 1968 Auf der Grenze Aus dem Lebenswerk Paul Tillichs. Auswahlband zur Friedenspreisverleihung 5. Aufl. (17. Tsd.), 240 Seiten, Leinen D M 12.50 ISBN 3 7715 0134 2 - 1971

Paul Tillich, Gesammelte Werke (Herausgeber: Renate Albrecht) Band I Frühe Hauptwerke 440Seiten, Ln. DM39.50 ISBN 3 7715 0008 7 - 1959 Band II Christentum und soziale Gestaltung Frühe Schriften zum Religiösen Sozialismus 380Seiten, Ln. DM35.50 ISBN 3 7715 0015 X - 1962 Band III Das religiöse Fundament des moralischen Handelns Schriften zur Ethik und zum Menschenbild 240 Seiten, Ln. DM27.50 ISBN 3 7715 0040 0 - 1966

Band IV Philosophie und Schicksal Schriften zur Erkenntnislehre und Existenzphilosophie 212Seiten, Ln. DM26.50 ISBN 3 7715 0013 3 - 1961 Band V Die Frage nach d e m Unbedingten Schriften zur Religionsphilosophie 260 Seiten, Ln. DM29.50 ISBN 3 7715 0028 1 - 1964 Band VI Der Widerstreit von Raum und Zelt Schriften zur Geschichtsphilosophie 230Seiten, Ln. DM26.50 ISBN 3 7715 0023 0 - 1963

Band VII

Band XI

Schriften zur Theologie I 278Seiten, Ln. D M 3 0 ISBN 3 7715 0017 6 - 1962

Zwei Schriften zur Ontotogie und Ethik (Der Mut zum Sein - Liebe, Macht, Gerechtigkeit) 240 Seiten, Ln. DM27.50 ISBN 3 7715 0072 9 - 1969

Der Protestantismus als Kritik und Gestaltung

Sein und Sinn

Band XII

Band VIII

Offenbarung und Glaube Schriften zur Theologie II 368 Seiten, Ln. DM32.50 ISBN 3 7715 0080 X - 1969

Begegnungen Paul Tillich über sich selbst und andere 360 Seiten, Ln. DM 31.50 ISBN 3 7715 0110 5 - 1971 Band XIII

Impressionen und Reflexionen

Band IX

Schriften zur Theologie der Kultur 402Seiten, Ln. DM35.80 ISBN 3 7715 0056 7 - 1968

Ein Lebensbild in Aufsätzen, Reden und Stels lungnahmen 616 Seiten, Leinen D M 45.ISBN 3 7715 0137 7 Paperback-Sonderausgabe D M 3 8 ISBN 3 7715 0145 8 - 1972

Band X

Band XIV

Schriften zur Zeitkritik 382 Seiten, Ln. DM 31.80 ISBN 3 7715 0065 6 - 1968

352 Seiten, DM 49.50 ISBN 3 7715 0159 8

Die religiöse Substanz der Kultur

Die religiöse Deutung der Gegenwart

Bibliographie, Register und Textgeschichte der GW

Paul Tillich, Ergänzungs- und Nachlaßbände zu den Gesammelten Werken Vorgesehen in dieser Reihe, die im Anschluß an die „Gesammelten Werke" erscheint, sind etwa 5-6 Bände. Sie werden Originalarbeiten Paul Tillichs enthalten, die von ihm selbst nicht mehr redigiert werden konnten (im Gegensatz zu denen der „Gesammelten Werke") und nun jeweils verschiedene Bearbeiter bzw. Herausgeber haben. Pro Jahr erscheinen 1-2 Bände. Eine Subskription ist bis zum Erscheinen des letzten Bandes jederzeit möglich. Band I

Band III

Vorlesungen Dber die Geschichte des christlichen Denkens Teil 1: Urchristentum bis Nachreformation

„An meine deutschen Freunde"

Hrsg. und übersetzt von Ingeborg C. Henel 312 Seiten, Ln. D M 35.- (Subskr.-Pr. D M 30.80) ISBN 3 7715 0112 1 - 1971 Band II

Vorlesungen Ober die Geschichte des christlichen Denkens Teil 2: Aspekte des Protestantismus Im 19. und 20. Jahrhundert Hrsg. und übersetzt von Ingeborg C. Henel 208 Seiten, Ln. DM 28.40 (Subskr-Pr. D M 25.-) ISBN 3 7715 0131 8 - 1972 Broschiert D M 23.50 ISBN 3 7715 0140 7 - 1972

Die politischen Reden Paul Tillichs während des 2. Weltkriegs 360 Seiten, Ln. D M 3 8 . - (Subskr.-Pr. DM32.30) ISBN 3 7715 0147 4 - 1973 Band IV

Korrelationen Die Antworten der Religion auf Fragen der Zeit Hrsg., übersetzt und eingeleitet von Ingeborg C. Henel 168 Seiten, Ln. D M 23 - (Subskr.-Pr. DM 19.50) ISBN 3 7715 0168 7 - 1 9 7 5

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