Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe / Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit: Erster Band 3787314024, 9783787314027

Ernst Cassirer vierbändiges Werk "Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit",

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Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe / Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit: Erster Band
 3787314024, 9783787314027

Table of contents :
INHALT
EINLEITUNG
ERSTES BUCH. DIE RENAISSANCE DES ERKENNTNISPROBLEMS
ERSTES KAPITEL. Nicolaus Cusanus
I
II
III
IV
ZWEITES KAPITEL. Der Humanismus und der Kampf der Platonischen und Aristotelischen Philosophie
I. Die Erneuerung der Platonischen Philosophie
II. Die Reform der Aristotelischen Psychologie
III. Die Auflösung der scholastischen Logik
IV. Die Erneuerung der Natur- und Geschichtsansicht
DRITTES KAPITEL. Der Skeptizismus
I
[II.]
ZWEITES BUCH. DIE ENTDECKUNG DES NATURBEGRIFFS
ERSTES KAPITEL. Die Naturphilosophie
A) Der Begriffdes Weltorganismus
B) Die Psychologie des Erkennens
I.
II.
III.
C) Die Begriffe des Raumes und der Zeit.Die Mathematik
D) Das kopernikanische Weltsystem und die Metaphysik.Giordano Bruno
I.
II.
III.
ZWEITES KAPITEL. Die Entstehung der exakten Wissenschaft
1. Leonardo da Vinci
2. Kepler
a) Der Begriff der Harmonie
b) Der Begriff der Kraft
3. Galilei
4. Die Mathematik
DRITTES BUCH. DIE GRUNDLEGUNG DES IDEALISMUS
ERSTES KAPITEL. Descartes
ZWEITES KAPITEL. Die Fortbildung der Cartesischen Philosophie
II.
II.
II.
ANHANG
EDITORISCHER BERICHT
ABKÜRZUNGEN
SCHRIFTENREGISTER

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Ernst Cassirer

Gesammelte Werke Hamburger Ausgabe

Band 2 Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit

Meiner

Erster Band

Ernst Cassirer, geboren am 28. 7. 1874 in Breslau, studierte nach einem glanzvollen Abitur zunächst Jurisprudenz in Berlin, dann Philosophie und Literatur in Leipzig, Heidelberg und wieder Berlin. 1896 wech­ selte er nach Marburg zu dem Neukan­ tianer Hermann Cohen, bei dem er 1899 promovierte; 1902 erschien sein erstes Buch, Leibniz System, 1906 der erste, 1908 der zweite Band seiner vierbändigen Dar­ stellung zum Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. 1910 folgte mit Substanzbegriff und Funk­ tionsbegriff seine erste große systematische Arbeit. Von 1919 bis 1933 lehrte Cassirer an der neugegründeten Universität Hamburg Philosophie und schrieb - angeregt durch seine Forschungsprojekte an der »Biblio­ thek Warburg« - von 1923 bis 1929 die drei Bände der Philosophie der symbolischen Formen. 1930 wurde er Rektor der Uni­ versität. 1933 emigrierte er über England zunächst nach Schweden, später in die USA. Dort erschien 1944 An Essay on Man und posthum The Myth of the State, seine große Auseinandersetzung mit der Idee des Staates und den Ursprüngen des Totalita­ rismus. Cassirer starb am 13. 4.1945 in New York.

ca. 1930

ERNST CASSIRER

DAS ERKENNTNISPROBLEM IN DER PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT

DER NEUEREN ZEIT ERSTER BAND

ERNST CASSIRER GESAMMELTE WERKE HAMBURGER AUSGABE Herausgegeben von Birgit Recki Band 2

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

ERNST CASSIRER DAS ERKENNTNISPROBLEM IN DER PHILOSOPHIE UND WISSENSCHAFT

DER NEUEREN ZEIT

ERSTER BAND

Text und Anmerkungen bearbeitet von Tobias Berben

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Diese Ausgabe ist das Ergebnis einer engen Zusammenarbeit des Felix Meiner Verlags mit der Universität Hamburg, der Aby-Warburg-Stiftung, der Wissen­ schaftlichen Buchgesellschaft, Darmstadt, sowie mit der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius. Sie erscheint komplementär zu der Ausgabe »Ernst Cassirer, Nachgelassene Manuskripte und Texte« (Hamburg 1995 ff.).

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Cassirer, Ernst: Gesammelte Werke / Ernst Cassirer. Hrsg, von Birgit Recki. - Hamburger Ausg. - Hamburg : Meiner Bd. 2. Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit. - Bd. 1. / Text und Anm. bearb. von Tobias Berben -1999 ISBN 3-7873-1402-4

Zitiervorschlag: ECW 2

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1999. Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfälti­ gung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Transparente, Filme, Bänder, Platte und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. - Satz: KCS GmbH, Buchholz. Druck und Bin­ dung: Clausen & Bosse, Leck. Werkdruckpapier: alterungsbeständig nach ANSI-Norm resp. DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany. @

INHALT

Vorrede zur ersten Auflage....................................................................

IX

Zur zweiten Auflage...............................................................................

XII

Einleitung....................................................................................................

1

ERSTES BUCH. DIE RENAISSANCE DES ERKENNTNISPROBLEMS erstes

Kapitel. Nicolaus Cusanus

1 II III IV

17 17 25 37 45

Der Humanismus und der Kampf der Platonischen und Aristotelischen Philosophie

zweites kapitel.

I. II. III. IV.

60

Die Erneuerung der Platonischen Philosophie................. 66 Die Reform der Aristotelischen Psychologie................... 81 Die Auflösung der scholastischen Logik........................... 100 Die Erneuerung der Natur- und Geschichtsansicht...... 127

drittes kapitel.

Der Skeptizismus

1............................................................................................................. [II.] .........................................................................................................

143 144 163

ZWEITES BUCH.

DIE ENTDECKUNG DES NATURBEGRIFFS erstes kapitel.

Die Naturphilosophie

169

A) Der Begriff des Weltorganismus.......................................... 171 B) Die Psychologie des Erkennens............................................ 188 1 II

189 193

Inhalt

VI

III 200 C) Die Begriffe des Raumes und der Zeit. Die Mathematik................................................................... 213 D) Das kopernikanische Weltsystem und die Metaphysik. Giordano Bruno................................................................. 225

1 II III

225 245 250

zweites kapitel.

Die Entstehung der exakten Wissenschaft

262

1. 2.

Leonardo da Vinci..................................................................... 265 Kepler............................................................................................ 274

3. 4.

a) Der Begriff der Harmonie................................................ b) Der Begriff der Kraft........................................................ c) Der Begriff des Gesetzes.................................................. Galilei............................................................................................ Die Mathematik..........................................................................

274 294 306 314 350

DRITTES BUCH.

DIE GRUNDLEGUNG DES IDEALISMUS erstes kapitel.

I. II.

Descartes

365

Die Einheit der Erkenntnis.................................................... 368 Die Metaphysik......................................................................... 402

Die Fortbildung der Cartesischen Philosophie

zweites kapitel.

422

[A) Pascal]............................................................................................ 425 1 II B) Logik und Kategorienlehre.................................................... C) Die Ideenlehre - Malebranche.............................................

D)

425 431 442 463

1 463 II 474 Der Ausgang der Cartesischen Philosophie. Bayle........ 490 1 II

Anhang........................................................................................................ II.............................................................................................................

490 495 504 504

Inhalt

VII

Editorischer Bericht.................................................................................. 535 Abkürzungen.............................................................................................. 539

Schriftenregister........................................................................................ 541

Die Hamburger Ausgabe......................................................................... 565

[V]-VI

IX

VORREDE ZUR ERSTEN AUFLAGE

Die Schrift, deren ersten Band ich hier veröffentliche, stellt sich das Ziel, die geschichtliche Entstehung des Grundproblems der neueren Philosophie zu beleuchten und durchsichtig zu machen. Alle gedank­ lichen Bestrebungen der neueren Zeit fassen sich zuletzt zu einer gemeinsamen höchsten Aufgabe zusammen: Es ist ein neuer Begriff der Erkenntnis, der in ihnen in stetigem Fortgänge erarbeitet wird. So einseitig es wäre, den Ertrag der modernen philosophischen Arbeit lediglich im logischen Gebiete aufsuchen zu wollen: so deutlich läßt sich doch erkennen, daß die verschiedenen geistigen Kulturmächte, die zu dem endgültigen Ergebnis Zusammenwirken, erst kraft des theoretischen Selbstbewußtseins, das sie erringen, ihre volle Wirkung entfalten können und daß sie damit mittelbar zugleich die allgemeine Aufgabe und das Ideal des Wissens fortschreitend umge­ stalten. Jede Epoche besitzt ein Grundsystem letzter allgemeiner Begriffe und Voraussetzungen, kraft deren sie die Mannigfaltigkeit des Stoffes, den ihr Erfahrung und Beobachtung bieten, meistert und zur Einheit zusammenfügt. Der naiven Auffassung aber und selbst der wissen­ schaftlichen Betrachtung, soweit sie nicht durch kritische Selbstbesin­ nung geleitet ist, erscheinen diese Erzeugnisse des Geistes selbst als starre und ein für allemal fertige Gebilde. Die Instrumente des Den­ kens werden zu bestehenden Objekten umgewandelt; die freien Set­ zungen des Verstandes werden in der Art von Dingen angeschaut, die uns umgeben und die wir passiv hinzunehmen haben. So wird die Kraft und Unab | hängigkeit des Geistes, die sich in der Formung des unmittelbaren Wahrnehmungsinhalts bekundet, von neuem durch ein System fester Begriffe beschränkt, das ihm wie eine zweite unabhän­ gige und unabänderliche Wirklichkeit gegenübertritt. Die Illusion, auf Grund deren wir die subjektiven Empfindungen der Sinne den Gegenständen selbst anheften, wird von der Wissenschaft Schritt für Schritt beseitigt: Aber an ihrer Stelle erhebt sich die nicht min­ der gefährliche Illusion des Begriffs. Wenn die »Materie« oder das »Atom« ihrem reinen Sinne nach nichts anderes bedeuten wollen als die Mittel, kraft deren der Gedanke seine Herrschaft über die Er­ scheinungen gewinnt und sichert, so werden sie hier zu selbständigen Mächten, denen er sich zu unterwerfen hat. Erst die kritische Analyse, die den inneren gesetzlichen Aufbau der

X

Vorrede

VI-VII

Wissenschaft aus ihren Prinzipien aufhellt, vermag diesen Dogma­ tismus der gewöhnlichen Ansicht zu entwurzeln. Was dieser als ein selbstgenügsamer und fest umschränkter Inhalt gilt, das erweist sich jetzt als eine intellektuelle Teilbedingung des Seins, als ein einzelnes begriffliches Moment, das erst im Gesamtsystem unserer Grunder­ kenntnisse zu wahrer Wirksamkeit gelangt. So notwendig und unum­ gänglich indes diese rein logische Auflösung ist: so schwierig ist sie zugleich. Gerade an dieser Stelle darf daher die systematische Zerglie­ derung der Erkenntnis die Hilfsmittel nicht verschmähen, die die geschichtliche Betrachtung ihr allenthalben darbietet. Ein Haupt­ ziel, dem die inhaltliche Kritik der Prinzipien zustrebt, läßt sich in ihr fast mühelos und in voller Klarheit gewinnen: Das Trugbild des »Ab­ soluten« verschwindet hier von den ersten Schritten an von selbst. Indem wir die Voraussetzungen der Wissenschaft als geworden betrachten, erkennen wir sie ebendamit wiederum als Schöpfungen des Denkens an; indem wir ihre historische Relativität und Be­ dingtheit durchschauen, eröffnen wir uns damit den Ausblick in ihren unaufhaltsamen Fortgang und ihre immer erneute Produktivität. Die beiden Richtungen der Betrachtung fügen sich hier zwanglos und ungesucht ineinander ein. Die systematische Gliederung der Grund­ erkenntnisse und das Verhältnis ihrer inneren | Abhängigkeit tritt uns in dem Bilde ihrer geschichtlichen Entstehung noch einmal deutlich und faßlich entgegen. Sowenig diese Entwicklung verstanden und dar gestellt werden kann, ohne daß man sich das Ganze, dem sie zustrebt, beständig in einem idealen Entwurf vor Augen hält: sowenig gelangt die fertige Gestalt selbst zur vollen anschaulichen Bestimmt­ heit, ehe wir sie nicht in ihren einzelnen Teilen vor uns entstehen las­ sen. In dieser Grundansicht habe ich versucht, in der folgenden Dar­ stellung das systematische und das geschichtliche Interesse zu verei­ nen. Von Anfang an galt es mir als das notwendige und selbst­ verständliche Erfordernis, die Herausbildung der fundamentalen Begriffe an den geschichtlichen Quellen selbst zu studieren und jeden Einzelschritt der Darstellung und Schlußfolgerung unmittelbar aus ihnen zu rechtfertigen. Die einzelnen Gedanken sollten nicht nur ihrem allgemeinen Sinne nach in historischer Treue wiedergegeben sie sollten zugleich innerhalb des bestimmten intellektuellen Ge­ sichtskreises, dem sie angehören, betrachtet und aus ihm heraus be­ griffen werden. Hier erwarte und erhoffe ich die eingehende Nach­ prüfung von Seiten der Kritik; je genauer und strenger sie ist, um so erwünschter wird sie mir sein. Ich selbst habe bei der Herbeischaffung und Sichtung des historischen Materials die Lücken unseres heutigen

VII-VIII

Vorrede

XI

Wissens im Gebiet der Geschichte der Philosophie zu lebhaft emp­ funden, als daß ich nicht jede Förderung durch erneute, eindringende Spezialforschung willkommen heißen sollte. Und je bestimmter und schärfer die Kenntnis des Einzelnen sich gestalten wird, um so deut­ licher werden sich auch die großen intellektuellen Zusammenhänge vor uns enthüllen. Die immanente Logik der Geschichte gelangt um so klarer zum Bewußtsein, je weniger sie unmittelbar gesucht und mittels eines fertigen Schemas in die Erscheinung hineinverlegt wird. Daß die innere Einheit, die die einzelnen Tatsachen verknüpft, nicht direkt mit diesen selber mitgegeben, sondern immer erst durch gedankliche Synthesen zu erschaffen ist: dies muß freilich von Anfang an erkannt werden. Das Recht derartiger Synthesen wird heute - da auch die | erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Geschichte klarer begriffen und formuliert sind - keines besonderen Erweises mehr bedürfen; nicht das allgemeine Verfahren, sondern nur seine besondere Anwendung kann kritisch bestritten werden. Die Geschichte der Philosophie kann, so wahr sie Wissenschaft ist, keine Sammlung bedeuten, durch die wir die Tatsachen in bunter Folge ken­ nenlernen; sie will eine Methode sein, durch die wir sie verstehen lernen. Daß die Prinzipien, auf die sie sich hierbei stützt, zuletzt »subjektiv« sind, ist freilich wahr; aber es besagt nichts anderes, als daß unsere Einsicht hier wie überall durch die Regel und das Gesetz unserer Erkenntnis bedingt ist. Die Schranke, die hierin zu liegen scheint, ist überwunden, sobald sie durchschaut ist, sobald die unmit­ telbar gegebenen Phänomene und die begrifflichen Mittel für ihre theoretische Deutung nicht mehr unterschiedslos in eins verschwim­ men, sondern beide Momente sowohl in ihrer Durchdringung wie in ihrer relativen Selbständigkeit erfaßt werden. Die Abgrenzung des Stoffgebiets und die leitenden Gesichtspunkte für seine Behandlung habe ich in der Einleitung zu begründen ge­ sucht. Die allgemeine Fassung der Aufgabe verlangte, daß die Betrach­ tung nicht auf die Abfolge der einzelnen philosophischen Systeme beschränkt, sondern stets zugleich auf die Strömungen und Kräfte der allgemeinen geistigen Kultur, vor allem auf die Entstehung und Fort­ bildung der exakten Wissenschaft, bezogen wurde. Diese Er­ weiterung hat es verschuldet, daß der erste Band, der hier erscheint, über die Anfänge der neueren Philosophie nicht hinausreicht. Der Reichtum der philosophischen und wissenschaftlichen Renais­ sance, der heute noch kaum erschlossen, geschweige bewältigt ist, forderte überall ein längeres Verweilen; wird doch hier der originale und sichere Grund für alles Folgende gelegt. Der zweite Band wird mit der englischen Erfahrungsphilosophie beginnen, um sodann, in

Vorrede

XII

VIII-X

einer doppelten Richtung, die Entwicklung des Idealismus von Leibniz an und den Fortgang der Naturwissenschaft von Newton an zu verfolgen; beide Ströme vereinigen sich | in der kritischen Philosophie, mit deren Darstellung das Werk seinen Abschluß errei­ chen soll. Die Vorarbeiten zu diesem Bande sind so weit fortgeschrit­ ten, daß er, wie ich hoffe, in kurzem erscheinen wird. Berlin, im Januar 1906

Ernst Cassirer

ZUR ZWEITEN AUFLAGE

Zwischen dem ersten Abschluß dieser Schrift und ihrer zweiten Auf­ lage liegen drei Jahre, während deren ich hauptsächlich mit systema­ tischen Studien über die Grundfragen der Erkenntniskritik beschäf­ tigt war. Auch diese Studien, die jetzt in der Schrift »Substanzbegriff und Funktionsbegriff« (Berlin 1910) zusammengefaßt sind, stehen jedoch mit dem Thema des vorliegenden Buches in engem Zusam­ menhang: Sie versuchen, die Grundauffassung der Erkenntnis, die innerhalb der rein geschichtlichen Betrachtung nur in allgemeinen Umrissen dargestellt werden konnte, schärfer zu bestimmen und ein­ gehender zu begründen. Was somit den systematischen Teil der Auf­ gabe betrifft, so konnte ich mich in dieser Neubearbeitung darauf beschränken, auf diese ausführlicheren Darlegungen zurückzuweisen. Dagegen erforderten die geschichtlichen Entwicklungen, bei dem Umfang und der Mannigfaltigkeit des Materials, überall eine erneute kritische Nachprüfung. Hier mußte, um die Darstellung genauer und prägnanter zu gestalten, wiederum durchweg auf die Quellen selbst zurückgegangen werden. Insbesondere ist es der erste Band, der hier­ bei vielfach ergänzt und berichtigt wurde; doch haben auch im zwei­ ten Bande einzelne Abschnitte, wie z.B. der Abschnitt über Gas­ sen di, eine durchgreifende Umgestaltung erfahren. Die einleitenden Betrachtungen über das Erkenntnisproblem in der griechischen Phi­ losophie sind diesmal fortgefallen, da sie mir in ihrer bisherigen Fas­ sung nicht mehr genügten, eine eingehendere Darlegung aber über den Rahmen dieses Buches hinausgegangen wäre.1 Die Belegstellen und Anmerkungen, die in der ersten Auflage am Schluß | jedes Ban­ des vereinigt waren, sind jetzt unmittelbar unter den Text gestellt wor­ den, um auch auf diese Weise den Zusammenhang zwischen der Dar1 [Dieser Text findet sich im Anhang, S. 504-533.}

X

Nikolaus Cusanus

XIII

Stellung und dem geschichtlichen Quellenmaterial fester zu knüpfen und deutlicher hervortreten zu lassen. Ein ausführliches Namen- und Sachregister, das dem zweiten Bande beigegeben werden wird, soll schließlich versuchen, die Entwicklung der einzelnen Begriffe und Probleme nochmals zusammenzufassen und übersichtlich zu glie­ dern.2 Es bleibt mir nur übrig, allen denen, die mich durch ihre Ratschläge und ihre Kritik gefördert haben, meinen herzlichen Dank auszuspre­ chen; ich werde auch weiterhin für jeden Rat und jede Anregung dankbar sein.

Berlin, im November 1910

Ernst Cassirer

2 [Ein Sach- und ein Personenregister findet sich am Ende von ECW 5. Über den Umgang mit dem von Cassirer erwähnten Register vgl. den editorischen Bericht zu ECW 3]

1

[l]-2

EINLEITUNG

Der naiven Auffassung stellt sich das Erkennen als ein Prozeß dar, in dem wir uns eine an sich vorhandene, geordnete und gegliederte Wirklichkeit nachbildend zum Bewußtsein bringen. Die Tätigkeit, die der Geist hierin entfaltet, bleibt auf einen Akt der Wiederholung beschränkt: Nur darum handelt es sich, einen Inhalt, der uns in ferti­ ger Fügung gegenübersteht, in seinen einzelnen Zügen nachzuzeich­ nen und uns zu eigen zu machen. Zwischen dem »Sein« des Gegen­ standes und der Art, in der er sich in der Erkenntnis widerspiegelt, besteht auf dieser Stufe der Betrachtung keine Spannung und kein Gegensatz: Nicht der Beschaffenheit, sondern lediglich dem Grade nach lassen sich beide Momente auseinanderhalten. Das Wissen, das sich die Aufgabe stellt, den Umfang der Dinge zu erfassen und zu erschöpfen, vermag dieser Forderung nur allmählich zu genügen. Seine Entwicklung vollzieht sich in den sukzessiven Einzelschritten, in denen es nach und nach die ganze Mannigfaltigkeit der ihm entge­ genstehenden Objekte ergreift und zur Vorstellung erhebt. Immer wird dabei die Wirklichkeit als ein in sich selbst ruhender fester Bestand gedacht, den das Erkennen nur seinem gesamten Umkreis nach zu umschreiten hat, um ihn sich in allen seinen Teilen deutlich und vorstellig zu machen. Schon die ersten Anfänge der theoretischen Weltbetrachtung aber erschüttern den Glauben an die Erreichbarkeit, ja an die innere Mög­ lichkeit des Zieles, das diese populäre Ansicht dem Erkennen setzt. Mit ihnen wird sogleich deutlich, daß wir es in allem begrifflichen Wissen nicht mit einer einfachen Wiedergabe, sondern mit einer Ge­ staltung und inneren Umformung des Stoffes zu tun haben, der sich uns von außen darbietet. Die Erkenntnis gewinnt eigentümliche und | spezifische Züge und gelangt zu qualitativer Unterscheidung und Entgegensetzung gegen die Welt der Objekte. Mag die naive Grundanschauung tatsächlich bis weit in die abstrakte Theorie hinein weiterwirken und ihre Vorherrschaft behaupten: mit dem Beginn der Wissenschaft ist sie mittelbar bereits entwurzelt. Die Aufgabe wandelt sich nunmehr: Sie besteht nicht in der nachahmenden Beschreibung, sonderninder Auswahl und der kritischen Gliederung, die an der Mannigfaltigkeit der Wahrnehmungsdinge zu vollziehen ist. Die auseinanderstrebenden Anzeigen der Empfindung werden nicht gleichmäßig hingenommen, sondern sie werden derart gedeutet und

2

Einleitung

2-3

umgebildet, daß sie sich zu einer in sich einstimmigen, systematischen Gesamtverfassung fügen. Nicht mehr schlechthin das Einzelding, sondern die Forderung inneren Zusammenhangs und innerer Widerspruchslosigkeit, die der Gedanke stellt, bildet nunmehr das letzte Urbild, an dem wir die »Wahrheit« unserer Vorstellungen messen. Kraft dieser Forderung zerlegt sich das unterschiedslose und gleich­ förmige »Sein« der naiven Auffassung in getrennte Gebiete, grenzt sich ein Bereich der echten, wesentlichen Erkenntnis von dem Umkreis des »Scheinens« und der wandelbaren Meinung ab. Der wis­ senschaftliche Verstand ist es, der nunmehr die Bedingungen und Ansprüche seiner eigenen Natur zugleich zum Maße des Seienden macht. Nach dem Grund und der Rechtfertigung dieser Ansprüche selbst wird hier zunächst nicht gefragt; in voller unbefangener Sicher­ heit schaltet das Denken mit den empirischen Inhalten, bestimmt es aus sich heraus die Kriterien und Gesetze, nach denen sie zu formen sind. Dennoch vermag der Gedanke in dieser ersten naiven Selbstge­ wißheit, so bedeutsam und fruchtbar sie sich ihm erweist, nicht zu verharren. Die Kritik, die er an dem Weltbild der unmittelbaren An­ schauung vollzogen hat, enthält, tiefer gefaßt und durchgeführt, für ihn selbst ein dringliches und schwieriges Problem. Wenn das Erken­ nen nicht mehr schlechthin das Abbild der konkreten sinnlichen Wirklichkeit, wenn es eine eigene ursprüngliche Form ist, die es all­ mählich gegenüber dem Widerspruch und dem Widerstand der Ein­ zel | tatsachen der Empfindung durchzusetzen und auszuprägen gilt, so ist damit die frühere Grundlage für die Gewißheit unserer Vorstel­ lungen hinfällig geworden. Wir können sie nicht mehr unmittelbar mit ihren äußeren dinglichen »Originalen« vergleichen, sondern müssen in ihnen selbst das Merkmal und die Regel entdecken, die ihnen Halt und Notwendigkeit gibt. Bestand der erste Schritt darin, die schein­ bare Sicherheit und Festigkeit der Wahrnehmungsobjekte aufzuheben und die Wahrheit und Beständigkeit des Seins in einem System wis­ senschaftlicher Begriffe zu gründen, so muß nunmehr erkannt wer­ den, daß uns auch in diesen Begriffen kein letzter, unangreifbarer und fragloser Besitz gegeben ist. Erst in dieser Einsicht vollendet sich die philosophische Selbstbesinnung des Geistes. Wenn es der Wissen­ schaft genug ist, die vielgestaltige Welt der Farben und Töne in die Welt der Atome und Atombewegungen aufzulösen und ihr damit in letzten konstanten Einheiten und Gesetzen Gewißheit und Dauer zu verleihen, so entsteht das eigentlich philosophische Problem erst dort, wo diese Urelemente des Seins selbst als gedankliche Schöpfun­ gen verstanden und gedeutet werden. Die Begriffe der Wissenschaft

3-4

Das Erkennen und sein Gegenstand

3

erscheinen jetzt nicht mehr als Nachahmungen dinglicher Existenzen, sondern als Symbole für die Ordnungen und funktionalen Verknüp­ fungen innerhalb des Wirklichen. Diese Ordnungen aber lassen sich nicht fassen, solange wir bei dem passiven Eindruck der Dinge ste­ henbleiben, sondern sie werden erst in der intellektuellen Arbeit, in dem tätigen Fortgang von bestimmten Grundelementen zu immer komplexeren Schlußfolgerungen und Bedingungszusammenhängen ergriffen. Diese Gesamtbewegung des Denkens erst ist es, in der nun­ mehr der Begriff des Seins selbst sich fortschreitend bestimmt. Aber freilich: dem Bereich grenzenloser Relativität, dem wir noch eben entronnen zu sein meinten, scheinen wir jetzt von neuem und für immer überantwortet. Die Wirklichkeit der Objekte hat sich uns in eine Welt idealer, insbesondere mathematischer Beziehungen aufgelöst; an Stelle der dinglichen Welt ist eine geistige Welt reiner Begriffe und »Hypothesen« er | standen. Die Geltung reiner Ideen aber steht mit der Starrheit und Festigkeit, die die gewöhnliche Ansicht den sinnlichen Dingen zuspricht, nicht auf derselben Stufe. Die Bedeutung der Ideen tritt vollständig erst in der allmählichen Gestaltung der wissenschaftlichen Erfahrung hervor: Und diese Gestaltung kann nicht anders erfolgen als dadurch, daß die Idee selbst sich hierbei in verschiedenen logischen Gestalten darstellt. Erst in die­ ser Mannigfaltigkeit tritt ihr einheitlicher Sinn und ihre einheitliche Leistung heraus. So fordert das eigene Wesen jener logischen Grund­ begriffe, die die Wissenschaft aus sich heraus entwickelt, daß wir sie nicht als gesonderte und voneinander losgelöste Wesenheiten betrach­ ten, sondern sie in ihrer geschichtlichen Abfolge und Abhängig­ keit erfassen. Damit aber droht uns zugleich der feste systematische Haltpunkt zu entschwinden. Die gedanklichen Einheiten, vermittels deren wir das Gewirr der Erscheinungen zu gliedern suchen, halten selbst, wie es scheint, nirgends stand; in buntem Wechselspiel ver­ drängen sie sich und lösen unablässig einander ab. Wir versuchen ver­ gebens, bestimmte beharrliche Grundgestalten des Bewußtseins, ge­ gebene und konstante Elemente des Geistes auszusondern und festzuhalten. Jedes »Apriori«, das auf diesem Wege als eine unverlier­ bare Mitgift des Denkens, als ein notwendiges Ergebnis seiner psy­ chologischen oder physiologischen »Anlage« behauptet wird, erweist sich als ein Hemmnis, über das der Fortschritt der Wissenschaft früher oder später hinwegschreitet. Wenn wir daher hier, in den gedanklichen Synthesen und Setzungen, das »Absolute« wiederzufinden hofften, das sich der unmittelbaren Wahrnehmung entzog, so sehen wir uns nunmehr enttäuscht; was uns zuteil wird, sind nur immer erneute hypothetische Ansätze und Versuche, den Inhalt der Erfahrung,

4

Einleitung

4-6

soweit er sich uns auf der jeweiligen Stufe unserer Erkenntnis er­ schlossen hat, auszusprechen und zusammenzufassen. Ist es nicht Willkür, irgendeines dieser mannigfachen Systeme fixieren und der künftigen Forschung als Muster und Regel aufdrängen zu wollen? Sind unsere Begriffe etwas anderes und können sie mehr zu sein ver­ langen als Rechenmarken: als vorläufige Abkürzungen, in denen wir | den augenblicklichen Stand unseres empirischen Wissens über­ schauen und zur Darstellung bringen? Die unbedingte Einheit und Gleichförmigkeit der Erfahrung erscheint selbst als eines jener Begriffspostulate, deren bloß relative Geltung nunmehr durchschaut ist. Nichts versichert uns mehr, daß nicht der gesamte begriffliche Inhalt, den das Denken erbaut und notwendig erbauen muß, im näch­ sten Augenblick durch eine neue Tatsache gestürzt und vernichtet werde. Für die eine und unwandelbare »Natur«, die uns anfangs als zweifelloser Besitz galt, haben wir somit, wie es scheint, nur das Spiel unserer »Vorstellungen« eingetauscht, das durch keine innere Regel mehr gebunden ist. So hebt diese letzte Folgerung, in die die ge­ schichtliche Betrachtung des Ganges der Wissenschaft einmündet, den Sinn und die Aufgabe der Philosophie auf. Wir dürfen uns dieser Konsequenz nicht verschließen, sondern müssen sie aufnehmen und weiterführen. In der Tat wäre es ungenü­ gend, wenn man ihr etwa mit dem Hinweis begegnen wollte, daß die vorangehenden Leistungen des Denkens und der Forschung in den folgenden als notwendige Momente enthalten und »aufgehoben« seien. In so einfacher und geradliniger Folge wie diese Konstruktion es voraussetzt und verlangt, gehen die verschiedenen Begriffssysteme nicht auseinander hervor. Der empirische Gang der Erkenntnis voll­ zieht sich keineswegs immer in der Art, daß die einzelnen Momente sich friedlich aneinanderreihen, um sich mehr und mehr zu einer ein­ heitlichen Totalansicht zu ergänzen. Nicht in solchem stetigen quan­ titativen Wachstum, sondern im schärfsten dialektischen Widerspruch treten in den eigentlich kritischen Epochen der Erkenntnis die man­ nigfachen Grundanschauungen einander gegenüber. So sehen wir, daß ein Begriff, der der einen Epoche als in sich widerspruchsvoll er­ scheint, der folgenden zum Instrument und zur notwendigen Bedin­ gung aller Erkenntnis wird; so folgt selbst in der empirischen Wissen­ schaft auf eine Periode, in der alle Erscheinungen auf ein einziges Grundprinzip zurückgeführt und aus ihm »erklärt« werden, eine andere, in der dieses Prinzip selbst als »absurd« und unausdenkbar verworfen wird. Der | eleatische Begriff des Nicht-Seins in der anti­ ken, die Begriffe des leeren Raumes und der Fernkraft in der moder­ nen Spekulation sind bekannte und lehrreiche Beispiele eines derarti­

G-7

Das System der Grundbegriffe und seine Wandlungen

5

gen Prozesses. Und man begreift gegenüber solchen Wendungen die skeptische Frage, ob nicht aller Fortschritt der Wissenschaft nur die Resultate, nicht aber die Voraussetzungen und Grundlagen be­ trifft, die vielmehr gleich unbeweisbar und gleich unvermittelt einan­ der ablösen. Oder sollte es dennoch möglich sein, in dieser ständigen Umwandlung wenn nicht bleibende und unverrückbare Inhalte, so doch ein einheitliches Ziel zu entdecken, dem die gedankliche Ent­ wicklung zustrebt? Gibt es in diesem Werden zwar keine beharrlichen Elemente des Wissens, aber doch ein universelles Gesetz, das der Veränderung ihren Sinn und ihre Richtung vorschreibt? Wir haben an dieser Stelle noch keine endgültige Antwort auf diese Fragen. Wie die Geschichte das Problem gestellt hat, so kann nur sie selbst die Mittel zu seiner Bewältigung darbieten. Mitten in den geschichtlichen Erscheinungen und Erfahrungen müssen wir unse­ ren Standort wählen, um von hier aus die Gesamtentwicklung zu überblicken und zu beurteilen. Wenn wir allgemein von dem Gedan­ ken ausgegangen sind, daß die Anschauung, die jede Zeit von der Natur und der Wirklichkeit der Dinge besitzt, nur der Ausdruck und das Widerspiel ihres Erkenntnisideals ist: so versuchen wir nunmehr im einzelnen, uns die Bedingungen zu verdeutlichen, kraft deren der moderne Begriff und das moderne System der Erkenntnis sich gestaltet hat. Den komplexen Inbegriff von Voraussetzungen, mit denen unsere Wissenschaft an die Deutung der Erscheinungen heran­ tritt, suchen wir aufzulösen und die wichtigsten Fäden gesondert in ihrer historischen Entstehung und Herausbildung zu verfolgen. Auf diesem Wege dürfen wir hoffen, zugleich einen sachlichen Einblick in dieses vielverschlungene begriffliche Gewebe zu gewinnen und die inneren Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen seinen einzelnen Gliedern verstehen zu lernen. Die Geschichte wird zur Ergänzung und zum Prüfstein der Ergebnisse, die die inhaltliche Analyse und | Reduktion der Wissenschaften uns darbietet. In einem doppelten Sinne kann versucht werden, diese Analyse der gegebenen Wissen­ schaft, die die eigentliche Hauptaufgabe für jede Kritik der Erkennt­ nis bleiben muß, zu vervollständigen und mittelbar zu bewahrheiten. Wir können das eine Mal nach den psychologischen Bedingungen fragen, die in der Entwicklung des individuellen Bewußtseins den Aufbau der Wahrnehmungswelt beherrschen und leiten; wir können versuchen, die gedanklichen Kategorien und Gesichtspunkte, die hier zu dem Stoff der Empfindungen hinzutreten müssen, aufzu­ decken und in ihrer Leistung zu beschreiben. Aber so wertvoll diese Betrachtung ist, solange sie in den Grenzen, die ihr gesteckt sind, ver­ weilt und nicht versucht, sich selbst an die Stelle der kritischen Zer­

6

Einleitung

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gliederung des Gehalts der wissenschaftlichen Prinzipien zu setzen: sie bliebe für sich allein unzureichend. Die Psychologie des einzelnen »Subjekts« empfängt volles Licht erst durch die Beziehung, in die wir sie zur Gesamtentwicklung der Gattung setzen; sie spiegelt uns nur die Tendenzen wider, die den Aufbau der geistigen Kultur der Menschheit beherrschen. Hier treten, auf breiterem Raum, die be­ stimmenden Faktoren schärfer und klarer auseinander; hier scheiden sich, wie von selber, die unfertigen und verfehlten Ansätze von den notwendigen und dauernd wirksamen Motiven. Nur zum Teil freilich handelt es sich in dieser allmählichen Herausarbeitung der Grundmo­ mente um einen völlig bewußten Prozeß, der auf jeder Einzelstufe zu deutlicher Bezeichnung und Aussprache gelangte. Was in die be­ wußte philosophische Reflexion einer Epoche eingeht, ist zwar ein wesentlicher und triebkräftiger Bestand ihrer Gedankenarbeit; aber es erschöpft dennoch nur auf den wenigen geschichtlichen Ausnahmeund Höhepunkten deren vollen Gehalt. Lange bevor bestimmte Grundanschauungen sich in strenger begrifflicher Deduktion heraus­ sondern und abgrenzen, sind in der wissenschaftlichen Kultur die gei­ stigen Kräfte wirksam, die zu ihnen hinleiten. Auch in diesem gleich­ sam latenten Zustand gilt es, sie zu erfassen und wiederzuerkennen, wenn wir uns der Stetigkeit der geschichtlichen Arbeit versichern wollen. Die | Geschichte der Erkenntnistheorien gibt uns kein volles und zureichendes Bild der inneren Fortbildung des Erkennt­ nisbegriffs. In der empirischen Forschung einer Periode, in den Wandlungen ihrer konkreten Welt- und Lebensauffassung müssen wir die Umformung ihrer logischen Grundansicht verfolgen. Die Theo­ rien über die Entstehung und den Ursprung der Erkenntnis fassen das Ergebnis zusammen, aber sie enthüllen uns nicht die letzten Quel­ len und Antriebe. So werden wir sehen, wie die eigentliche Renais­ sance des Erkenntnisproblems von den verschiedensten Seiten her von der Naturwissenschaft wie von der humanistischen Geschichts­ ansicht, von der Kritik des Aristotelismus wie von der inneren imma­ nenten Umbildung der peripatetischen Lehren in der neueren Zeit vorbereitet wird, ehe sie in der Philosophie Descartes’ zur Reife und zum vorläufigen Abschluß gelangt. Und es sind keineswegs immer die geringeren und minder fruchtbaren logischen Leistungen, denen eine explizite Heraushebung und ein gesonderter, abstrakter Ausdruck versagt bleibt. Die Geschichte des modernen Denkens kennt kaum eine gleich wichtige und gleich entscheidende logische Tat wie Gali­ leis Grundlegung der exakten Naturwissenschaft: Die einzelnen Ge­ sichtspunkte aber, die hierbei leitend waren und die dem Urheber selbst in voller begrifflicher Deutlichkeit vor Augen standen, sind

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Psychologische und geschichtliche Analyse des Erkenntnisprozesses

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dennoch nirgends zu theoretischer Zusammenfassung und zur ab­ gelösten systematischen Darstellung gelangt. Wollten wir daher unse­ ren Maßstab einzig von der Betrachtung der geschichtlichen Abfolge der »Erkenntnistheorien« entnehmen, so müßte Galilei uns hinter einem Zeitgenossen wie Campanella zurückstehen, dem er doch nicht nur als wissenschaftlicher Denker, sondern an echter philoso­ phischer Produktivität und Tiefe unvergleichbar überlegen ist. Allgemein müssen wir uns deutlich machen, daß die Begriffe des »Subjekts« und »Objekts« selbst kein gegebener und selbstverständ­ licher Besitz des Denkens sind, sondern daß jede wahrhaft schöpfe­ rische Epoche sie erst erwerben und ihnen ihren Sinn selbsttätig auf­ prägen muß. Nicht derart schreitet der Prozeß des Wissens fort, daß der Geist, als ein | fertiges Sein, die äußere, ihm entgegenstehende und gleichfalls in sich abgeschlossene Wirklichkeit nur in Besitz zu neh­ men hätte; daß er sie Stück für Stück sich aneignete und zu sich hin­ überzöge. Vielmehr gestaltet sich der Begriff des »Ich« sowohl wie der des Gegenstandes erst an dem Fortschritt der wissenschaftlichen Er­ fahrung und unterliegt mit ihm den gleichen inneren Wandlungen. Nicht nur die Inhalte wechseln ihre Stelle, so daß, was zuvor der objektiven Sphäre angehörte, in die subjektive hinüberrückt, sondern zugleich verschiebt sich die Bedeutung und Funktion der beiden Grundelemente. Die großen wissenschaftlichen Epochen überneh­ men nicht das fertige Schema der Entgegensetzung, um es nur mit mannigfachem und wechselndem Gehalt zu erfüllen, sondern sie er­ schaffen selbst erst begrifflich die beiden Gegenglieder. Die Aristote­ lische Auffassung der Erkenntnis unterscheidet sich von der moder­ nen nicht nur in der Art der Abhängigkeit, die sie zwischen »Natur« und »Geist« annimmt, sondern in dem Kern und Grundsinn dieser Begriffe selbst. Dies also ist eine der ersten und charakteristischsten philosophischen Leistungen jeder Epoche, daß sie sich das Problem des Wechselverhältnisses von Sein und Denken aufs neue formuliert und damit der Erkenntnis erst ihren Rang und ihre spezifische Stel­ lung anweist. In dieser Abgrenzung der Aufgabe besteht, mehr noch als in den besonderen Ergebnissen, die Originalität jedes pro­ duktiven Zeitalters. Wiederum aber erweitert sich mit dieser Er­ wägung das Material, auf das die geschichtliche Betrachtung und Untersuchung sich zu richten hat. Es sind keineswegs allein die ab­ geschlossenen philosophischen Systeme, es sind die mannigfachen Versuche und Ansätze der Forschung wie der gesamten geistigen Kul­ tur, in denen diese allmähliche Umgestaltung des Ichbegriffs wie des Objektbegriffs sich vollzieht. Alle Tendenzen, die darauf ge­ richtet sind, eine neue Methodik der Erfahrungswissenschaften zu

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Einleitung

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schaffen oder aber in einem vertieften Begriff des Selbstbewußtseins einen neuen Grund der Geisteswissenschaften zu legen, gehören nun­ mehr mittelbar zu unserem Problem. So dürfen wir große geistige Bewegungen - wie etwa den italie | nischen Humanismus oder die französische Skepsis des 16. Jahrhunderts - auch dann in unsere For­ schung einbeziehen, wenn ihr direkter Ertrag für die systematische Philosophie gering ist. Es muß der Versuch gewagt werden, aus der intellektuellen Gesamtbewegung eines Zeitalters sein herrschen­ des und treibendes Erkenntnisideal zu rekonstruieren. Zu dieser Fas­ sung der Aufgabe nötigt noch ein anderes Moment. Es besagt wenig, wenn wir hören, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt auf eine »empi­ ristische« Periode der Philosophie eine »rationalistische« gefolgt sei und daß beide etwa ihren Ausgleich in einer dritten, »kritischen« Richtung gefunden hätten. Als »Empiristen« treten uns sogleich in den Anfängen der neueren Philosophie Bacon wie Leonardo da Vinci, Galilei wie Paracelsus und Campanella entgegen. Und doch ist der Begriff der »Erfahrung«, für den alle diese Denker eintreten, nur eine Scheineinheit, hinter der sich die schwersten prinzipiellen Gegen­ sätze, die die Entwicklung des Erkenntnisproblems kennt, verbergen. Was einem jeden von ihnen die »Erfahrung« in Wahrheit bedeutet, das kann nur die sachliche Analyse ihrer wissenschaftlichen und philoso­ phischen Gesamtleistung herausstellen: Nicht lediglich in seiner Aussprache, sondern in seiner Betätigung durch die verschiedenen Problemgebiete hindurch enthüllt sich uns der Sinn des Begriffs. Das Verhältnis zwischen Philosophie und Wissenschaft ist nur äußerlich erfaßt und beschrieben, solange man nur von einem wechselseitigen »Einfluß« spricht, den beide aufeinander ausüben. Eine derartige Wirksamkeit ist nicht das Vorrecht eines einzelnen Gebiets, sondern gilt in gleichem Sinne für alle Inhalte und Richtungen der Kultur. Die Fassung unserer Aufgabe dagegen setzt ein engeres, spezifisches Verhältnis zwischen beiden Gedankenkreisen voraus: Sie sind uns gleich selbständige und gleich unentbehrliche Symptome ein und des­ selben intellektuellen Fortschritts. Was der moderne Begriff der Erkenntnis besagt, dafür sind Galilei und Kepler, Newton und Euler ebenso wichtige und vollgültige Zeugen wie Descartes oder Leibniz. Die Gesamtentwicklung müßte sprunghaft und lückenhaft erschei­ nen, wenn wir uns der Betrachtung dieses wichtigsten Mittelgliedes begeben | wollten. Denn erst in ihm und kraft des Zusammenhanges mit ihm erhält der philosophische Gedanke selbst seine wahrhafte innere Kontinuität. Daß es Erkenntnis als strengen und eindeuti­ gen logischen Begriff gibt: dies wird erst hier vollständig bewiesen. Auch die übrigen Gebiete der geistigen Tätigkeit, auch das Recht und

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Erkenntnisbegriff und Erkenntnistheorie

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die Sprache, auch Kunst und Religion, enthalten einen bestimmten Beitrag zum allgemeinen Problem der Erkenntnis. Aber wie sie sich diesem Problem von sehr verschiedenen Seiten her nähern, so bleibt es zunächst dahingestellt, ob und wie weit sie mit ihm einen wahrhaft einheitlichen Sinn verbinden. Eine Reihe charakteristischer Stellung­ nahmen zum »Ich« und zur »Wirklichkeit« tritt uns auch hier entge­ gen, aber ob in dieser Fülle der Motive eine gemeinsame Grundten­ denz sich aussondern und festhalten läßt, bleibt häufig fraglich. In der exakten Wissenschaft erst, in ihrem trotz aller Schwankungen stetigen Gange, erhält die Einheit des Erkenntnisbegriffs, die überall sonst eine bloße Forderung blieb, ihre wahrhafte Erfüllung und Bewährung. Der Wechsel der Meinungen gestaltet sich erst hier zu einem klaren und sinnvollen Zusammenhang um, in welchem sich nunmehr auch die Philosophie ihres eigenen Begriffs und ihrer theoretischen Aufgaben erst vollständig bewußt wird. Wenn indes der Beitrag, den Mathematik und Naturwissenschaft für den Fortschritt des Erkenntnisproblems leisten, offen zutage liegt, so ist es schwieriger, den allgemeinen Einfluß, der von den Geistes­ wissenschaften her geübt wird, zu bestimmen und deutlich abzugren­ zen. Denn die Geisteswissenschaften treten uns zu Anfang der neue­ ren Zeit noch nicht als ein unabhängiges Ganze entgegen, das in sich bereits seinen festen Halt gefunden hätte. Ihr Gehalt ist gleichsam ein­ geschmolzen in das herrschende System der Metaphysik, das gleich­ mäßig durch die aristotelische Tradition wie durch die Kirchenlehre bestimmt wird. Langsam nur treten die einzelnen gedanklichen Mo­ mente, die in diesem System wie unter einem dogmatischen Zwange zusammengehalten sind, in selbständigen, freieren Regungen hervor. Es bedarf der tiefen intellektuellen Kämpfe der Renaissance, um die mannig | fachen und verschiedenartigen Probleme, die in dem Weltbild des Mittelalters noch unterschiedslos verschmolzen sind, Schritt für Schritt in ihrer Eigenart zurückgewinnen. An die Stelle der bewunde­ rungswürdigen Folgerichtigkeit, mit der in der antiken Philosophie jede neue Phase aus der vorhergehenden nach inneren logischen Gesetzen erwächst, tritt hier eine vielfältig komplizierte und durch mannigfache Rücksichten bedingte Bewegung, die sich erst allmählich um einen festen Mittelpunkt zusammenschließt. Wollen wir daher auf dieser Stufe das Problem der Erkenntnis in seiner konkreten ge­ schichtlichen Gestalt ergreifen, so dürfen wir es aus den Beziehungen und Zusammenhängen, die es mit andersartigen Interessen eingeht, nicht herauslösen. Die strenge Abgrenzung seiner Bedeutung, die Einsicht in seine Sonderstellung und seinen fundamentalen Wert, die das letzte Ergebnis der gedanklichen Arbeit der Neuzeit ist, dürfen

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Einleitung

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wir nicht vorwegnehmen und an die Spitze stellen. Wie eng insbeson­ dere die Verknüpfung mit den ethischen und religiösen Ideen ist, kann man sich alsbald verdeutlichen, wenn man sich die Rolle ver­ gegenwärtigt, die beide in der Entwicklung des modernen Begriffs des Selbstbewußtseins spielen. Hier müssen vor allem Denker wie Pascal, in denen zwei verschiedene innere Stellungnahmen zum Er­ kenntnisproblem, in denen die neue wissenschaftliche Methodik mit der religiösen Grundstimmung des Mittelalters sich begegnen und widerstreiten, das geschichtliche Interesse fesseln. Der individuelle Kampf, der sich in ihnen vollzieht, ist zugleich der Ausdruck einer tie­ feren allgemeinen Wandlung der Denkart. Allgemein müssen wir überall dort, wo im Bewußtsein einer Epoche die metaphysischen Interessen noch von entscheidender und zentraler Bedeutung sind, auch innerhalb dieser Interessen selbst unseren ersten Standort und Ausgangspunkt nehmen; und diese Rücksicht gilt, wie für das Ge­ samtgebiet, so auch für seine einzelnen Teile und Glieder. Die Grund­ begriffe der wissenschaftlichen Erkenntnis, die Begriffe der Kraft und der Ursache, der Substanz und der Materie, haben sämtlich eine lange und vielverzweigte metaphysische Vorgeschichte, die weit über die Anfänge der neueren Zeit hinausreicht. Die | Genese dieser Begriffe läßt sich freilich nicht darstellen, wenn man nicht beständig auf ihre Funktion innerhalb der mathematischen Physik hinblickt; ebensowe­ nig aber lassen sich hieraus allein alle Einzelphasen ihres Werdens ver­ ständlich machen. So sehen wir insbesondere bei den Begriffen des Raumes und der Zeit, wie sie bei ihrem ersten Auftreten in der neue­ ren Philosophie noch völlig in metaphysische Voraussetzungen ver­ strickt sind. Und dieser Zusammenhang beider mit der Gottes lehre, der uns zuerst in der italienischen Naturphilosophie begegnet, bleibt weiterhin, bis zu Newton, herrschend. Noch Kant hat - wie sich uns zeigen wird - bei seiner transzendentalen Kritik des Raumes und der Zeit eine bestimmte geschichtliche Fassung und Ausprägung dieser Begriffe vor Augen, die gleichsehr durch das Interesse an der wissenschaftlichen Grundlegung der Mechanik wie durch allgemeine metaphysische Fragestellungen bedingt ist. Können wir somit den Gegenstand unserer Untersuchung nicht von seinem metaphysischen Hintergrund ablösen, so dürfen wir doch bei den metaphysischen Problemen nur insoweit verweilen, als wir in ihnen die Hülle und das Symptom von Fragen sehen, die das Verhältnis der Erkenntnis zu ihrem »Gegenstand« betreffen. Es ist der charakteristische Grundzug der neueren Metaphysik, daß sie kraft ihres eigenen immanenten Fort­ gangs immer deutlicher zu diesen Fragen hinstrebt. Allgemein soll uns die Geschichte des Erkenntnisproblems nicht sowohl einen Teil der

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Verhältnis zur Metaphysik

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Geschichte der Philosophie bedeuten - denn bei der inneren sachli­ chen Wechselbedingtheit aller Glieder des philosophischen Systems bliebe jede solche Abtrennung eine willkürliche Schranke als sie vielmehr das Gesamtgebiet unter einem bestimmten Gesichts­ punkt und einer bestimmten Beleuchtung darstellen und damit gleich­ sam in einem Querschnitt den Inhalt der neueren Philosophie zur Anschauung bringen soll. Die analytische Aufgabe, die dem modernen Denken gestellt war, findet ihren logischen Abschluß im System Kants. Hier erst wird der letzte endgültige Schritt getan, indem das Erkennen völlig auf sich selbst gestellt und nichts mehr, im Gebiete des Seins wie des Bewußt­ seins, seiner | eigenen Gesetzlichkeit vorangesetzt wird. Aber in­ dem Kant diese Wendung vollzieht, bringt er damit nicht sowohl die früheren Gedankenreihen zur Vollendung, als er vielmehr zum Schöpfer neuer Probleme wird, die bis unmittelbar in unsere philoso­ phische Gegenwart hineinreichen und daher nicht mehr in geschicht­ licher, sondern nur in systematischer Untersuchung behandelt und beurteilt werden können.1 Das System Kants ist uns nicht sowohl das Ende als ein dauernd neuer und fruchtbarer Anfang der Kritik der Erkenntnis. Aber indem wir unsere historische Betrachtung bis zu ihm hinführen, suchen wir damit zugleich ein Mittel zu seinem sach­ lichen Verständnis zu gewinnen. Weit enger, als die bisherigen Dar­ stellungen der Entwicklung der kritischen Philosophie es erkennen lassen, ist diese in ihrer Entstehung mit der Wissenschaft des acht­ zehnten Jahrhunderts verflochten und verschwistert. Überall blickt die allgemeine Theorie hier auf die bestimmte konkrete Problemlage hin, die durch die methodischen Kämpfe zwischen Leibniz und Newton und ihren Nachklang in den bedeutendsten Forschern der Zeit, wie Euler und d’Alembert, geschaffen war. Wenn in diesem Zusammenhang das kritische System die Wurzel seiner Kraft besitzt, so enthüllt sich in ihm doch zugleich auch seine notwendige innere Bindung. Je deutlicher wir zu unterscheiden vermögen, in welchen be­ grifflichen Formulierungen der Vernunftkritik die wissenschaftliche Kultur der Zeit zum Ausdruck und zum Bewußtsein ihrer selbst gelangt, um so klarer werden sich uns die allgemeingültigen Züge der Methodik Kants aus den Besonderheiten der Ausführung heraus­ heben. Eben indem wir an dem Grundgedanken der Methode fest­ halten, suchen wir damit für die spezielle Ableitung und Begründung der Prinzipien freies Feld zu erhalten. Die »transzendentale Kritik« 1 Vgl. jetzt hierzu meine Schrift: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Unter­ suchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910.

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Einleitung

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bliebe zur Unfruchtbarkeit verurteilt, wenn es ihr versagt wäre, dem Fortschritt der wissenschaftlichen Grundbegriffe selbsttätig zu folgen und ihn in ihren speziellen Ergebnissen und Defini | tionen zum Aus­ druck zu bringen. Je vielseitiger und beweglicher sie sich in dieser Hinsicht erhält, um so reiner wird sich die Universalität und die syste­ matische Einheit ihrer Fragestellung erweisen. Hier freilich stehen wir an einem Punkt, an dem noch heute die Absicht Kants wie die der modernen Vertreter der kritischen Methode am häufigsten und beharrlichsten mißverstanden wird. Immer wieder erhebt sich der Vorwurf, daß die transzendentale Kritik, indem sie von dem Faktum der Newtonischen Wissenschaft ausgeht, damit den geschichtlichen Prozeß gleichsam zum Stehen bringe und eine ein­ zelne Phase der »Erfahrung« zum allgemeinen Maßstab ihres Gehalts und inneren Wertes mache. Die »Festlegung der Forschung an einen geschichtlichen Zustand bestimmter Einzeldisziplinen« übt zugleichwie man einwendet - eine hemmende Tendenz aus: Eine Festigung der Vernunft durch ihre Arbeit kann nicht erfolgen, ohne daß sie zu­ gleich »eine Befestigung an ihrer Arbeit und damit ein Hindernis des Fortschritts zu neuer Arbeit wäre«.2 Wäre indes diese Folgerung rich­ tig, so würden wir uns damit zugleich jedes sicheren Halts philoso­ phischer Beurteilung beraubt sehen. Denn es ist vergeblich, uns, nach­ dem man uns die Orientierung an dem Inhalt der rationalen Wissenschaft versagt hat, an die Geschichte der geistigen Kul­ tur als die eigentliche Realität zu verweisen. Solange die Vernunft in sich selbst noch nicht ihre Festigkeit und ihre Selbstgewißheit gefun­ den hat, bleibt ihr auch die Geschichte nur ein wirres und wider­ spruchsvolles Chaos. Es bedarf bestimmter sachlicher Prinzipien der Beurteilung, es bedarf fester Gesichtspunkte der Auswahl und For­ mung, damit die historischen Erscheinungen, die für sich allein stumm sind, zu einer lebendigen und sinnvollen Einheit werden. Wenn irgendwo, so wird es in der Geistesgeschichte deutlich, daß ihr Inhalt und Zusammenhang nicht gegeben, sondern von uns auf Grund der Einzeltatsachen erst zu erschaffen ist: Sie ist nur das, was wir kraft gedanklicher Synthesen aus ihr machen. Worin | aber sollten wir den inhaltlichen Grund dieser Synthesen selbst suchen, wenn wir uns des Halts an der Wissenschaft und an ihrem gegenwärtigen Bestand begeben müßten? Daß wir in ihr immer nur einen relativen Stützpunkt finden, daß wir somit die Kategorien, unter denen wir den geschichtlichen Prozeß betrachten, selbst veränderlich und wand­ 2 Max Scheier, Die transszendentale und die psychologische Methode. Eine grundsätzliche Erörterung zur philosophischen Methodik, Leipzig 1900, S. 67.

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Das Apriori und seine Geschichte

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lungsfähig erhalten müssen, ist freilich richtig: Aber diese Art der Relativität bezeichnet nicht die Schranke, sondern das eigentliche Leben der Erkenntnis. Die inhaltliche Analyse des Tatbestands der rationalen Wissenschaften und die Verfolgung ihres allmählichen Werdens erhellen und bedingen sich nunmehr wechselseitig. Man wird in der geschichtlichen »Arbeitswelt« der Kultur nicht heimisch, wenn man sich nicht zuvor mit dem sachlichen Interesse an den Prin­ zipien und Problemen der gegenwärtigen Forschung erfüllt hat. Die Aufgabe, die der Philosophie in jeder einzelnen Phase ihrer Entwicklung gestellt ist, besteht daher immer von neuem darin, an einem konkret geschichtlichen Inbegriff bestimmter wissenschaftli­ cher Begriffe und Grundsätze die allgemeinen logischen Funktionen der Erkenntnis überhaupt herauszuheben. Dieser Inbegriff mag sich wandeln und hat sich seit Newton gewandelt: Es bleibt dennoch die Frage zurück, ob nicht auch in dem neuen Gehalt, der jetzt heraustritt, jene allgemeinsten Beziehungen, auf die allein die kritische Analyse ihren Blick gerichtet hielt, nur unter einer anderen Gestalt und Hülle sich darstellen. Der Begriff der Wissenschaftsgeschichte selbst birgt in sich bereits jenen Gedanken der Erhaltung einer allge­ meinen logischen Struktur in aller Aufeinanderfolge besonderer Begriffssysteme. In der Tat: Wäre der frühere Inhalt des Denkens mit dem vorangehenden nicht durch irgendeine Identität verknüpft, so gäbe es nichts, was uns berechtigte, die verstreuten logischen Bruch­ stücke, die wir alsdann vor uns hätten, zu einer Reihe des Gesche­ hens zusammenzufassen. Jede historische Entwicklungsreihe bedarf eines »Subjekts«, das ihr zugrunde liegt und sich in ihr darstellt und äußert. Der Fehler der metaphysischen Geschichts | philosophie liegt nicht darin, daß sie überhaupt ein solches Subjekt fordert, sondern darin, daß sie es verdinglicht, indem sie von einer Selbstentwick­ lung der »Idee«, einem Fortschritt des »Weltgeistes« und dergleichen spricht. Auf jeden derartigen sachlichen Träger, der hinter der geschichtlichen Bewegung stände, müssen wir verzichten; die meta­ physische Formel muß sich uns in eine methodische wandeln. Statt eines gemeinsamen Substrats suchen und fordern wir nur die gedankliche Kontinuität in den Einzelphasen des Geschehens; sie allein ist es, die wir brauchen, um von der Einheit des Prozesses zu sprechen. Freilich bleibt auch dieser Gedanke einer inneren Stetigkeit zu­ nächst nichts anderes als eine Hypothese, die aber - wie alle echten wissenschaftlichen Voraussetzungen - zugleich schlechthin die Bedin­ gung des Anfangs der historischen Erkenntnis ist. An dieser Ein­ sicht in das echte »Apriori« der Geschichte gilt es festzuhalten, wenn

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Einleitung

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die falsche apriorische Konstruktion der Einzeltatsachen wahrhaft abgewehrt werden soll. »Der regelmässige Gang und die organische Gliederung der Geschichte«, so bemerkt Zeller gegen Hegel, »ist, mit Einem Wort, kein apriorisches Postulat, sondern die Natur der geschichtlichen Verhältnisse und die Einrichtung des menschlichen Geistes bringt es mit sich, dass seine Entwicklung, bei aller Zufällig­ keit des Einzelnen, doch im grossen und ganzen einem festen Gesetz folgt, und wir brauchen den Boden der Thatsachen nicht zu verlassen, sondern wir dürfen den Thatsachen nur auf den Grund gehen, wir dürfen nur die Schlüsse ziehen, zu denen sie die Prämissen enthalten, um diese Gesetzmässigkeit in einem gegebenen Fall zu erkennen.«3 Diese Kritik indes wird dem tieferen idealistischen Motiv, das bei Hegel trotz aller metaphysischen Irrungen zugrunde liegt, nicht gerecht. Denn - so dürfen wir entgegnen - ist denn jene »Natur« der Geschichte und jene gleichförmige »Einrichtung« des Menschengei­ stes ein gegebenes und selbstverständliches Faktum, das wir dog­ matisch an die Spitze stellen | dürften? Oder bedeutet sie nicht gleich­ falls eine Setzung und eine Annahme, die die Erkenntnis macht, um in dem Getriebe einzelner »Tatsachen« sich zurechtzufinden, um sich für ihre eigenen Zwecke eines Ausgangspunkts und eines Leit­ fadens zu versichern? Auch hier ist uns somit kein anderer Weg gelassen, als das Problem der Einheit der Geschichte - nach einem Goetheschen Wort - »in ein Postulat zu verwandeln«.4 Je mehr sich dieses Postulat in der Erschließung und Sichtung der besonderen Erscheinungen bewährt, um so mehr hat es sein Recht und seine »Wahrheit« erwiesen. Denn das »Faktum« der Wissenschaft ist und bleibt freilich seiner Natur nach ein geschichtlich sich entwickelndes Faktum. Wenn bei Kant diese Einsicht noch nicht unzweideutig zutage tritt, wenn die Kategorien bei ihm noch als der Zahl und dem Inhalte nach fertige »Stammbegriffe des Verstandes« erscheinen können, so hat die moderne Fortbildung der kritischen und idealisti­ schen Logik über diesen Punkt volle Klarheit geschaffen. Die Ur­ teilsformen bedeuten ihr nur einheitliche und lebendige Motive des Denkens, die durch alle Mannigfaltigkeit seiner besonderen Gestaltungen hindurchgehen und sich in der Erschaffung und For­ 3 Eduard Zeller, Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Ent­ wicklung, Bd.I/1: Allgemeine Einleitung. Vorsokratische Philosophie, Leipzig 51892, S.16. 4 [Johann Wolfgang von Goethe, Brief an Karl Friedrich Zelter vom 9. August 1828, in: Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sach­ sen (Weimarer Ausg.), 4. Abt., Bd.XLIV: Goethes Briefe. März-September 1828, Weimar 1909, S. 259-262: S.261.]

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Das Apriori und seine Geschichte

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mulierung immer neuer Kategorien betätigen. Je reicher und bildsa­ mer sich diese Variationen beweisen, um so mehr zeugen sie damit für die Eigenart und Ursprünglichkeit der logischen Funktion, aus der sie hervorgehen.5 In diesem Zusammenhang wurzelt zugleich die syste­ matische Aufgabe, die der Geschichte der Philosophie gestellt ist und die ihr, bei aller Versenkung in die Einzeltatsachen und bei allem Streben nach genauester Erschließung und Wiedergabe der Quellen, dauernd lebendig bleiben muß. |

5 S. Hermann Cohen, Logik der reinen Erkenntniss (System der Philosophie, Bd. I), Berlin 1902, S. 41 ff. u. s.

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ERSTES BUCH. DIE RENAISSANCE DES ERKENNTNISPROBLEMS |

ERSTES KAPITEL.

Nicolaus Cusanus I. Wenn man in Nicolaus Cusanus den Begründer und Vorkämpfer der neueren Philosophie sieht, so kann sich dieses Urteil nicht auf die Eigenart und den objektiven Gehalt der Probleme berufen, die in sei­ ner Lehre zur Darstellung und Entfaltung kommen. Die gleichen Fra­ gen, die das gesamte Mittelalter bewegt haben, treten uns hier noch einmal entgegen: Noch wird das Verhältnis Gottes zur Welt unter den speziellen Gesichtspunkten der christlichen Erlösungslehre betrach­ tet und zum Mittelpunkt der Untersuchung gemacht. Wenn das Dog­ ma nicht mehr unbedingt den Weg und Gang der Forschung be­ stimmt, so weist es ihr doch ihre letzten Ziele. An den Problemen der Christologie, an den Fragen der Dreieinigkeit und der Menschwer­ dung Gottes erwächst und entwickelt sich die Philosophie des Cusa­ nus. Das ist das Charakteristische für die geschichtliche Stellung des Systems: daß es sich nicht unmittelbar dem neuen Inhalt zuwen­ det, sondern an dem überlieferten Stoff selbst eine Wandlung und Fortbildung vollzieht, die ihn den Forderungen einer neuen Denkart und Fragestellung zugänglich macht. In allen Phasen des Systems bildet daher die Gotteslehre den einheitlichen Mittelpunkt. In ihr konzentrieren sich die allgemeinen Grundgedanken; in ihrer Entwicklung spiegelt sich jegliche Anre­ gung, die von Seiten der wissenschaftlichen Forschung ausgeht. In den frühesten Schriften sind Gottesbegriff und Erkenntnisbegriff zu­ nächst negativ aufeinander bezogen und miteinander verknüpft. In­ dem wir alle Bestimmtheit, die dem Wissen und seinem endlichen Objekt eignet, fortschreitend verneinen und aufheben, gelangen wir damit zum Sein und zur Inhaltsbestimmung des Absoluten. Da alles Erkennen in einem Messen besteht, in einer | Gleichung, die zwi­ schen dem gesuchten Inhalt und bestimmten bekannten Elementen hergestellt wird, so bleibt das Unendliche, da es über alle Propor­ tion hinausliegt, der Funktion des Begriffs unzugänglich. Alles Den­ ken und Benennen geht in einem Trennen und Unterscheiden auf, erreicht daher die höchste Einheit nicht, die allen Gegensätzen ent­

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Nicolaus Cusanus

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rückt sein muß, um jedweden Inhalt zu umfassen und an ihm teil­ haben zu können. Sprache und Begriff bleiben gleichmäßig an das abhängige und eingeschränkte Sein gebunden; sie vermögen das Wesen ihres Objekts nicht an und für sich, sondern nur in der Dif­ ferenz und Entgegensetzung gegen andere Inhalte zu bestimmen. Über diese gesamte Sphäre der »Andersheit« gilt es sich zu erheben, um das höchste Sein zu erreichen. Je mehr wir das Moment der Man­ nigfaltigkeit zurückdrängen, je weiter wir alle Mehrheit und Ver­ schiedenheit entfernen, desto reiner erfassen wir den Sinn und Gehalt der ersten und absoluten Einheit. Gott selbst ist weder das Leben noch die Wahrheit, sondern liegt über diese wie über alle anderen intelligiblen Bestimmungen hinaus: Der »Himmel des Intellekts« vermag ihn nicht zu fassen und in sich zu schließen. Nur durch ein Hinweg­ schreiten über alle Proportion, über alle Vergleichung und allen Begriff (per transscensum omnium proportionum, comparatio­ num et ratiocinationum) vermögen wir uns seiner Anschauung zu nähern.1 Die Fülle und das gegensätzliche Leben | der Erscheinungs­ welt bildet das Hemmnis, das uns von der echten Gotteserkenntnis ausschließt. Damit aber ist nicht nur die Begreiflichkeit des göttlichen Urwe­ sens aufgehoben, sondern zugleich das Sein und die innere Möglich­ keit des Einzelwesens zu einem unlösbaren Problem geworden. Das Geschöpf kann nicht als Folge aus dem göttlichen Grunde des Seins, der alle Vielheit und alle Zerfällung von sich abweist, begriffen und hergeleitet werden. Keine innere gedankliche Notwendigkeit ist es, die sein Dasein erklärt und rechtfertigt. Das Einzelwesen bleibt das schlechthin »Zufällige«, der Gegensatz und das Widerspiel zu aller 1 S. die Schriften »De docta ignorantia« (1440) und »De coniecturis« (1441 ff.) (Ich zitiere nach der Pariser Ausgabe der Werke des Nicolaus Cusanus, die im Jahre 1514 von Jacobus Faber Stapulensis herausgegeben worden ist [Haec accu­ rata recognitio trium voluminum operum. Cuius universalem indicem proxime sequens pagina monstrat, 3 Bde., hrsg. v. Jacobus Faber Stapulensis, Paris 1514].). Vgl. bes. Nicolaus Cusanus, De coniecturis duo (Buch 1, Kap. 7), in: Opera, Bd. I, fol. 42 a-65 a: fol. 43 b f.: »Si cuncta alia separasti et ipsam solam [absolutam unita­ tem] inspicis, si aliud nunquam aut fuisse aut esse aut fieri posse intelligis, si pluralitatem omnem abiicis atque respectum, et ipsam simplicissimam tantum unitatem subintras [...] arcana omnia penetrasti.« S.fer­ ner ders., De filiatione Dei (1445), in: Opera, Bd.I, fol.65b-69b: fol. 67a: »[..,.] deus [...] nec est intelligibilis aut scibilis, nec est veritas nec vita, nec est, sed omne intelligibile antecedit, ut unum simplicissimum principium. Unde cum om­ nem intellectum sic ex[s]uperet: non reperitur sic in regione seu coelo intellectus, nec potest per intellectum attingi extra ipsum coelum esse.«

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Gott und Welt

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logischen und metaphysischen Begründung und Ableitung.2 Dem Individuum ist der Anteil am Sein im letzten und höchsten Sinne versagt; wir müssen es als irrationales Faktum hinnehmen, ohne ihm seinen Bestand und seine Geltung in einem eigenen Prinzip sichern zu können. Diese Folgerung aber, zu der Cusas Gotteslehre in ihrer ursprünglichen Gestalt hindrängt, enthält zugleich die Aufforderung und das innere Motiv der Umkehr in sich. Je weiter die Entwicklung von Cusas Philosophie fortschreitet, um so deutlicher tritt neben dem Bestreben, das göttliche Sein in seiner unvermischten Reinheit festzu­ halten, die Tendenz hervor, das Einzelwesen in seinem Eigenwerte zu begreifen und in seiner endlichen Besonderheit zu behaupten. Mit diesem Zuge erst wird seine Lehre zum Ursprung und Vorbild der Philosophie der Renaissance. Jedes Geschöpf ist, innerhalb der Schranken, die ihm durch seine Sondernatur gesetzt sind, in sich selbst vollendet; all sein Streben kann nicht darauf gerichtet sein, die ihm eigentümliche Wesenheit zu überschreiten, sondern nur, sie vollstän­ dig zu erfüllen und zu verkörpern. Auch die Erhebung zum Absolu­ ten kann daher nun nicht mehr schlechthin in der Verneinung des eige­ nen, spezifischen Seins der »Kreatur« gesucht werden. Die einzelne Erscheinung ist nicht mehr der unversöhnliche Gegensatz zum Sein des Unendlichen; sie ist der notwendige Ausgangspunkt und das Sym­ bol, das uns allein zu seiner Erfassung hinzuleiten vermag. Die zweite, reife Epoche von | Cusas Philosophie hat diesen Gedanken zu voller Klarheit fortentwickelt. Er selbst spricht es aus, daß er das Absolute, das er zuvor jenseits aller Kraft unserer Erkenntnis, jenseits aller Man­ nigfaltigkeit und Entgegensetzung gesucht habe, nunmehr in der geschaffenen Welt selbst zu ergreifen und festzuhalten trachte.3 Um ins Unendliche zu schreiten, brauchen wir nur im Endlichen nach allen Seiten zu gehen: Das Geschöpf ist nichts anderes als die Selbst­ darstellung und Selbstoffenbarung des Schöpfers.4 Damit aber ist ein neuer Weg gewiesen und eine neue Aufgabe gestellt. Die wissen­

2 S. ders., De docta ignorantia libri tres (Buch 2, Kap. 2), in: Opera, Bd.I, £ol. lb-34b: fol. 14a u. ö. 3 S. ders., De apice theoriae dialogus (1463f.), in: Opera, Bd.I, fol.219b-222a: fol.219b f.: »Cum igitur annis multis viderim ipsam ultra omnem poten­ tiam cognitivam, ante omnem varietatem et oppositionem quaeri oportere: non attendi quidditatem in se subsistentem esse omnium substanti­ arum invariabilem subsistentiam [...] Veritas: quanto clarior, tanto facilior. Putabam ego aliquando: ipsam in obscuro melius reperiri. Magnae potentiae veritas est [...] Clamitat enim in plateis sicut in libello de idiota legisti.« 4 Ders., Tetralogus de non aliud (1462), S. 195: »Creatura igitur est ipsius crea­ toris sese definientis seu lucis, quae deus est, se ipsam manifestantis ostensio [...]«

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schaftliche Vertiefung in die empirische Besonderung der Dinge ist zugleich der Weg zur rechten Erkenntnis des Göttlichen. Mit der deutschen Mystik berührt sich Cusa in dem Gedanken, daß Endli­ ches und Unendliches gleich notwendige Momente sind, daß sie sich wechselseitig bedingen und fordern. Aber wenn die Mystik den Pro­ zeß der Offenbarung Gottes in das Innere des Individuums verlegt, so ist Cusas Blick auf die äußere Natur und ihre Gesetzlichkeit gerich­ tet: Die Begriffe und Probleme der Statik werden ihm - in der Schrift »De staticis experimentis« - zum Anknüpfungspunkt und Vorbild seiner Metaphysik. »[...] aus der engen, düsteren Zelle des mystischen Dunkels, der mystischen Finsternis«, so faßt Uebinger das Ergebnis seiner Untersuchung über den Cusanischen Gottesbe­ griff treffend zusammen, »führt die exakte Denkrichtung die Got­ teslehre wiederum in die | weiten, lichten Räume der Welt zurück. Jetzt gilt es [...] den unsichtbaren Schöpfer aus der sichtbaren Welt zu erkennen. Nicht der Unsichtbare selbst wird hier geschaut, aber sein Bild, die Wirkung der höchsten Ursache [...] die Offenbarung des unsichtbaren Gottes. Nach dem Bilde gilt es jetzt das Urbild, nach der Wirkung ihre Ursache, nach dem Geschöpfe den Schöpfer, nach der sichtbaren Offenbarung den unsichtbaren Gott zu bestimmen.«5 Wir verfolgen diese Wandlung der Gotteslehre nur insoweit, als sie sich im Grundbegriff von Cusas Erkenntnislehre, im Begriff der »docta ignorantia«, darstellt und widerspiegelt. Die Wissen­ schaft des Nichtwissens bedeutet zunächst in der Tat nichts anderes als die Aufhebung des absoluten Anspruchs der Erkenntnis, als eine Schranke, die der menschlichen Erfahrung und dem menschlichen Begriff gesetzt ist. Das Wissen, wie es auf die Welt der Veränderung und der Mannigfaltigkeit bezogen ist, vermag auch in sich selber nir­ gends zu einem sicheren Halt und Stillstand zu gelangen. Wie der Stoff, der ihm von außen zufließt, so bewegt sich auch der Charakter seiner Gewißheit in einem beständigen Mehr und Weniger; wie jede höhere Stufe nur durch einen quantitativen Fortschritt und Zuwachs des Erkennens erreicht wird, so kann sie, durch einen analogen Pro­ zeß, in ihrem Werte herabgesetzt und vernichtet werden. Die eine, unbedingte Wahrheit ist nur ganz und unteilbar zu erfassen - wo die Möglichkeit der Gradabstufung gegeben ist, da kommt auch jeder

Die Schrift »De non aliud«, die in den Gesamtausgaben der Werke fehlt, ist nach der Ausgabe zitiert, die Johann Uebinger - im Anhang seiner Schrift: Die Got­ teslehre des Nicolaus Cusanus, Münster/Paderborn 1888 (S. 138-198) - veran­ staltet hat. 5 Uebinger, Die Gotteslehre des Cusanus, S. 134.

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Der Fortschritt zur Immanenz

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einzelnen Stufe nur eine relative und jederzeit aufhebbare Sicherheit zu.6 Der ideelle Maßstab der höchsten Gewißheit, den wir in uns tragen, verwandelt somit alles wirklich erreichte Wissen in eine bloße »An­ nahme«, die durch andere und genauere Hypothesen wiederum ver­ drängt werden kann: »Die Einheit der unerreichbaren Wahrheit wird von uns in der Andersheit der Annahme erkannt.«7 Der be­ herrschende | Gegensatz von Cusas Metaphysik ist damit auf die Me­ thodenlehre übertragen. Aber auch in ihr beginnt nunmehr die innere Wandlung, die das Wertverhältnis der beiden gegensätzlichen Mo­ mente umgestaltet. Wenn die Schrift »De docta ignorantia« die Bezie­ hung zwischen dem Absoluten und den Begriffen unserer Erkenntnis mit dem Verhältnis vergleicht, das zwischen Kreis und Polygon besteht, so soll damit freilich zunächst der qualitative Wesensunter­ schied beider zum Ausdruck gebracht werden. Dennoch trägt eben­ dieses Bild bereits den Keim der gedanklichen Vermittlung in sich: Denn wie der Fortschritt der Philosophie der Mathematik lehrt, sind die unendlichen Polygone nicht sowohl der Gegensatz wie das not­ wendige und unentbehrliche Erkenntnismittel, um die Größe des Kreises zu bestimmen. Nicolaus Cusanus wagt zuerst den Satz, der auch der antiken Exhaustionsmethode fernlag: daß der Kreis seinem begrifflichen Gehalt und Sein nach nichts anderes als ein Vieleck von unendlich vielen Seiten ist. Der Begriff der »Grenze« ist hier zu posi­ tiver Bedeutung erhoben: Der Grenzwert selbst kann nicht anders als vermöge des unbeschränkten Prozesses der Annäherung erfaßt und in seiner Bestimmtheit ergriffen werden. Die Unabschließbarkeit dieses Prozesses gilt jetzt nicht mehr als Beweis eines inneren, begriff­ lichen Mangels, sondern als Zeugnis seiner Kraft und Eigenart: Die Vernunft kann nur in einem unendlichen Objekt, einem schrankenlo­ sen Fortgang zum Bewußtsein ihres eigenen Vermögens gelangen. Gerade die fortschreitende Bewegung des Geistes, die von dem blo­ ßen Faktum zur Entdeckung der Gründe, vom »quia est« zum »quid est« vordringt, enthält zugleich das Prinzip seiner Gewißheit und sei­ ner Ruhe in sich: In ihr erst ist der Geist seines eigenen unerschöpfli­ chen Seins und Lebens versichert.8 Das Bewußtsein des Nichtwissens 6 S. Cusanus, De docta ignorantia (Buch 1, Kap. 3), fol. 2 b. 7 Ders., De coniecturis (Buch 1, Kap. 2), fol. 42 a: »Cognoscitur igitur inattin­ gibilis veritatis unitas, alteritate coniecturali [...]« 8 Ders., Complementum theologicum (1453) (Kap. 2), in: Opera, Bd. II/2, fol.93a-101 a: fol. 93 b: »Et est speculatio: motus mentis de quia est, versus quid est. Sed quoniam quid est distat a quia est per infinitum: hinc motus ille nunquam cessabit. Et est motus summe delectabilis: quia est ad vitam mentis. Et hinc in se

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birgt daher einen tieferen und fruchtbareren Gehalt der Erkenntnis | als jede scheinbar noch so gewisse positive Einzelbehauptung: Denn wenn in dieser der weitere Fortschritt gleichsam gehemmt und zum Stehen gebracht ist, so ist in ihm der Ausblick ins Unbegrenzte erhal­ ten und Ziel und Richtung des Weges erleuchtet.9 Jetzt ist die Unend­ lichkeit nicht mehr die Schranke, sondern die Selbstbejahung der Ver­ nunft. »Von größerer Freude wird erfüllt, wer einen unermeßlichen und unzählbaren Schatz, als wer einen zählbaren und endlichen fin­ det: So ist auch das heilige Nichtwissen die erwünschteste Nahrung meines Geistes, zumal ich diesen Schatz in meinem eigenen Acker finde und er mir somit als Eigentum zugehört.«10 Immer von neuem und in mannigfachen Formen wiederholt Cusa­ nus diesen Gedanken, der in der Tat eine innere geschichtliche Wand­ lung bezeichnet.11 Dem Mittelalter gilt das Objekt des höchsten Wis­ sens als transzendent: Nur eine unmittelbare äußere Gnadenwirkung vermag den Geist zu seiner Anschauung zu erheben, zu der er aus eigenen Mitteln unzureichend bleibt. Auf der anderen Seite indes ist das System der göttlichen Wahrheit ein festes, in sich abgeschlossenes Ganze, das uns, unabhängig von aller Arbeit der Vernunft und der Forschung, fertig und gestaltet dargereicht und gegeben wird. Das ist der Widerspruch, in dem die scholastische Philosophie besteht: daß sie einen unendlichen und transzendenten Gegenstand durch einen fest begrenzten und fixierten Inbegriff dogmatischer Einzelsätze zu erfas­ sen und zu erschöpfen trachtet. Die neuere Zeit beginnt nach beiden Richtungen, nach der subjektiven wie der objektiven Seite hin, mit einer Umkehr der bisherigen Anschauung. Der | Gegenstand, auf den

habet hic motus quietem. Movendo enim non fatigatur: sed admodum inflamma­ tur.« 9 »Et hoc posse videre mentis supra omnem compraehensibilem virtutem et potentiam: est posse supremum mentis. [...] Nam est posse videre, ad posse ipsum tantum ac ordinatum: ut mens praevidere possit quorsum tendit. Sicut viator praevidet terminum motus: ut ad desideratum terminum, gressus dirigere possit.« Ders., De apice theoriae, fol. 220 b. 10 Ders., De visione Dei (1453f.) (Kap. 16), in: Opera, Bd.I, fol.99b-114b: fol. 108 a [»Multo enim maiori gaudio perfunditur ille, qui reperit thesaurum talem quem scit penitus innumerabilem et infinitum: quam qui reperit numerabi­ lem et finitum. Hinc haec sacratissima ignorantia magnitudinis tuae: est pascentia intellectus mei desiderabilissima. Maxime quando talem reperio thesaurum in meo agro: itaque thesaurus sit meus.«]. 11 S. z.B. ders., Idiotae libri quatuor (1450) (Buchl: De sapientia), in: Opera, Bd.I, fol.75b-99a: fol.76b; De beryllo (1454) (Kap.30), in: Opera, Bd.I, fol. 184b-193a: fol. 190b; De venatione sapientiae (1463) (Kap. 12), in: Opera, Bd.I, fol.201b-219a: fol. 205 b u. s.

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Die »docta ignorantia« als Erkenntnismittel

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sie hinblickt, ist dem Geiste immanent: Das Bewußtsein selbst und seine Gesetzlichkeit bedingt und umgrenzt das Objekt der Erkennt­ nis. Und dennoch muß der Prozeß, in dem wir dieses neue Sein zur wissenschaftlichen Bestimmung zu bringen suchen, prinzipiell als unabschließbar gedacht werden. Die endliche empirische Existenz ist niemals völlig erkannt, sondern liegt als Aufgabe der Forschung be­ ständig vor uns. Der Charakter der Unendlichkeit ist von dem Ge­ genstand der Erkenntnis auf die Funktion der Erkenntnis über­ gegangen. Das Objekt des Wissens, obwohl es von demselben Stoffe wie der Geist ist, obwohl es diesem also völlig durchsichtig und inner­ lich begreiflich ist, bleibt doch auf jeder einzelnen Stufe des Wis­ sens unbegriffen. In dieser skeptischen Einsicht stellt sich der neue Glaube der Vernunft an sich selber dar. Beide Grundmomente des neuen Verhältnisses sind in Cusas Philosophie im Keime enthalten: Denn wie er auf der einen Seite die Grenzenlosigkeit des Erkenntnis­ ganges betont, so steht ihm andererseits fest, daß alle empirische Erkenntnis nur eine Auseinanderfaltung und Entwicklung des eige­ nen Besitzes ist, der dem Geiste in seinen Prinzipien implizit bereits gegeben ist. So beleuchtet der Begriff der »docta ignorantia« einen Zusammen­ hang, der uns bis zu Descartes und Galilei hin in immer neuen Wen­ dungen entgegentreten wird. Nicolaus Cusanus hat diesen Begriff nicht erfunden, sondern ihn, in fertiger terminologischer Bestimmt­ heit, von Augustin und den christlichen Mystikern übernommen. Das Charakteristische und Neue aber besteht in der Umprägung seiner Bedeutung und seines inneren Gehalts, die hier vollzogen wird. Das Prinzip bezog sich bisher auf das Gebiet des übersinnlichen Seins und blieb - in der Negation wie in seinen positiven fruchtbaren Kon­ sequenzen - völlig innerhalb dieser Sphäre beschlossen.12 Der »nie­ dere« Bezirk der | empirischen Forschung war von Anfang an dem Blick und dem Interesse der metaphysischen Erkenntnislehre ent­ rückt. Jetzt ist es ebendieser polemische Begriff des Nichtwissens, der jenes verachtete Gebiet dem Erkennen neu erobern soll. Die Wirk­ samkeit, die er in dieser Richtung entfaltet, tritt uns alsbald in einem Fundamentalproblem der neuen Wissenschaft und Philosophie ent­ gegen: Der Gedanke der »docta ignorantia« ist es, der Cusanus zuerst über die Relativität aller Ortsbestimmung aufklärt und der ihn damit zum Vorläufer des kopernikanischen Weltsystems 12 Vgl. hierzu Johann Uebinger, Der Begriff docta ignorantia in seiner geschichtlichen Entwicklung, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 8 (1895), S. 1-32.

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macht.13 Die doppelte Richtung des Prinzips wird an dieser Frage besonders deutlich: Indem es, kraft seines skeptischen Gehalts, die Existenz des absoluten Raumes und eines absoluten Weltmittel­ punkts aufhebt, erschließt es zugleich die Mittel, die Mannigfaltigkeit der Relationen, in denen der Kosmos fortan besteht, zur gedank­ lichen Einheit zusammenzuschließen. Auch der Begriff der »conjectura« gewinnt hier eine neue und posi­ tive Bedeutung. Wie die reale Welt aus der unendlichen göttlichen Vernunft, so gehen alle unsere Annahmen aus unserem Geiste, als ihrem Grunde, hervor. Die Einheit des menschlichen Geistes ist die Wesenheit seiner Konjekturen: »[...] mentis humanae unitas est coniecturarum suarum entitas.«14 So wird alles einzelne Wissen be­ dingt und getragen von der Einheit des Geistes und seiner Grundsätze und erhält erst in ihr festen Bestand. Die »conjectura« bedeutet nicht lediglich die Aufhebung des absoluten Wissens, sondern eben darin den Gehalt und die relative Wahrheit der veränderlichen Erschei­ nungswelt.15 »Das höchste Wissen ist nicht in dem Sinne als uner­ reichbar anzusehen, als wäre uns jeder Zuweg zu ihm versperrt, noch dürfen wir es jemals erreicht und wirklich erfaßt wähnen, vielmehr ist es derart zu denken, daß wir uns ihm beständig annähern | kön­ nen, während es dennoch in seiner absoluten Wesenheit dauernd un­ zugänglich bleibt.«16 Ein Symbol des göttlichen Seins darf uns der Geist nicht in dem Sinne heißen, als wäre er ein toter Abdruck, eine noch so vollkommene Kopie des Unbedingten: Einzig in seinem Wer­ den, in seiner Selbstentfaltung und Selbstgestaltung bewährt sich die Kraft seines Ursprungs. Der Erwerb, nicht der Besitz des Wissens gibt der menschlichen Vernunft den Charakter der Göttlichkeit.17 Die empirischen Einzelerkenntnisse selbst gilt es nach dem Maße, in dem sich der reine Begriff in ihnen darstellt und ausprägt, zu unterscheiden und in ihrem Werte zu ordnen: Innerhalb des Sinnlichen selbst müs­ sen wir ein Moment entdecken, das es dem Mathematischen und damit dem Inbegriff der »Präzision« verwandt und zugänglich macht. Bevor wir uns diese Entwicklung im einzelnen vergegenwärtigen, müssen wir indes auf die Folgerungen hinblicken, zu denen der 13 Vgl. Cusanus, De docta ignorantia (Buch 2, Kap. 11), fol. 21 aff. 14 Ders., De coniecturis (Buch 1, Kap. 3), fol. 42 a. 15 A. a. O. (Kap. 13), fol. 48 b: »Coniectura igitur est positiva assertio, in alteri­ tate veritatem uti est participans.« 16 Ebd. [»Nec est inaccessibilis illa summitas ita aggredienda: quasi in ipsam accedi non possit. Nec aggressa: credi debet actu appraehensa. Sed potius ut accedi possit semper quidem propinquius: ipsa semper uti est inattingibili remanente.«]. 17 S. Cusanus, Idiota (Buch 3: De mente, Kap. 13), fol. 93 a.

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Verstand und Sinnlichkeit

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Begriff der »docta ignorantia« im ethischen und religiösen Gebiet fortgeführt wird. Hier erst zeigt sich das Prinzip in seiner vollendeten Gestalt und Bedeutung. Der Dialog »De pace seu concordantia fidei« spricht es aus, wie die mannigfachen Formen und Bräuche, in denen die Völker das Göttliche verehren, nur verschiedene Versuche sind, das Unbegreifliche dogmatisch zu begreifen, das Unnennbare in feste Namen zu fassen. Jeder Name bleibt gleich unzureichend gegenüber der Wesenheit des einen absoluten Seins. Der Grenzgedanke des Unendlichen bildet den einheitlichen und wesentlichen Kern aller Religionen, gleichviel wie sie ihn im einzelnen bestimmen und ein­ schränken mögen: »Una est [...] religio et cultus omnium intellectu vigentium: quae in omni diversitate rituum praesupponitur.«18 Die Wissenschaft des Nichtwissens ist hier zum Prinzip der religiösen Duldung und Aufklärung geworden. So sehr Cusanus selbst die christlichen Grunddogmen festzuhalten und dem Ideal jener Ein­ heitsreligion, der Religion des λόγος, anzunähern strebt, so ist | doch in dieser symbolischen Umdeutung das Dogma nicht mehr der unbe­ dingte Maßstab, sondern das Objekt, das gemessen wird.

II.

Die Einigung, die sich im Gebiete der Metaphysik zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen, zwischen Gott und Welt vollzog, reflektiert sich innerhalb der Erkenntnislehre in einem neuen Verhält­ nis, das sich jetzt zwischen Sinnlichkeit und Denken herausbil­ det. Zwar ihrem eigentümlichen Gehalt und Ursprung nach bleiben beide Vermögen streng voneinander getrennt: Es ist das Charakteri­ stikum des reinen Verstandes, daß er aus eigener Kraft all seine Inhalte entwickelt und begründet, daß er zu ihrer logischen Recht­ fertigung nicht über die Grenzen seines eigenen Machtbereichs hin­ auszugehen braucht. Die ganze Fülle der Erkenntnis ist sachlich in den ersten, rein intellektuellen Prinzipien bereits enthalten und vor­ gezeichnet. Nicht als der materiale Urgrund und Beweisgrund des Wissens ist somit die Sinnlichkeit anzusehen, wohl aber bildet sie den psychologischen Anstoß und Antrieb, der die »schlummernden« Ver­ standeskräfte zuerst erweckt und zur Selbstentfaltung und Selbst­ rechtfertigung auffordert. Erst in ihrer Hinwendung zum Sinnlichen gelangen die reinen »Potenzen« des Geistes zu ihrer aktuellen Wirk­ 18 Ders., De pace seu concordantia fidei (1453) (Kap. 6), in: Opera, Bd. I, fol. 114b-123b: fol. 116 b.

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samkeit.19 Schon in den frühesten Schriften wird dieser »Zug« und Trieb des Intellekts zum Gebiet der körperlichen Erscheinung ge­ schildert, wiewohl zugleich betont wird, daß es sich hierin nicht dar­ um handelt, dem Stofflichen selbst Wesenheit und Bestand zu ver­ leihen, sondern sich von ihm, vermöge des Staunens über seine Mannigfaltigkeit, zur Erkenntnis der eigenen Einheit | anregen zu las­ sen. Die höheren Kräfte steigen in die niederen herab: nicht um sich an sie zu verlieren, sondern um an dem Gegenhalt, den sie in ihnen fin­ den, zum Bewußtsein ihres Eigenwertes und ihrer Selbständigkeit zu gelangen. Aufstieg und Abstieg gilt es in einem einzigen geistigen Blick zu umfassen und zu begreifen. »Der Intellekt will nicht zum Sinn werden, sondern zum vollkommenen und vollständig wirksa­ men Intellekt; da er aber auf keine andere Weise zu dieser Selbstver­ wirklichung zu gelangen vermag, so wird er zum Sinn, um durch die­ ses Medium hindurch aus der leeren Möglichkeit zum Akt und zur Energie zu gelangen. So kehrt der Geist, nachdem sein Kreislauf voll­ endet, in sich selber zurück; sein Herabsteigen zu den sinnlichen Bil­ dern bedeutet in Wahrheit ein Hinaufheben des Mannigfaltigen selbst zur Einheit und Einfachheit des Gedankens.«20 In diesem tiefen Worte hat Cusanus eine Forderung vorweggenommen, die erst in der moder­ nen Wissenschaft und ihrem Erkenntnisideal zur Ausbildung und Erfüllung gelangt ist. Nur in der Hingebung an den Stoff der Wahr­ nehmung kann wahres Wissen erreicht und gegründet werden; aber je tiefer wir uns in diese Aufgabe versenken, um so deutlicher hebt sich 19 »[...] sic vis mentis quae est vis compraehensiva rerum, et notionalis, non potest in suas operationes nisi excitetur a sensibilibus. Et non potest excitari nisi mediantibus phantasmatibus sensibilibus. Opus ergo habet corpore organico: tali scilicet sine quo excitatio fieri non posset. [...] Unde mens: est viva descriptio aeternae et infinitae sapientiae. Sed in nostris mentibus, ab initio vita illa similis est dormienti: quousque admiratione quae ex sensibilibus oritur excitetur, ut moveatur.« Ders., Idiota (Buch 3, Kap. 4 u. 5), fol. 84 b f. 20 Ders., De coniecturis (Buch 2, Kap. 11 u. 16); vgl. bes. fol. 62 b: »Complica [...] ascensum cum descensu intellectualiter: ut apprehendas. Non enim est inten­ tio intellectus ut fiat sensus, sed ut fiat intellectus perfectus et in actu: sed quoniam in actu aliter constitui nequit fit sensus, ut sic hoc medio de potentia in actum per­ gere queat. Ita quidem supra seipsum intellectus redit circulari completa reditione [...] Nam intellectum in species sensibiles descendere: est ascen­ dere eas de conditionibus contrahentibus ad absolutiores simplici­ tates. Quanto igitur profundius in ipsis se immittit, tanto ipsae species magis absorbentur in eius luce: ut finaliter ipsa alteritas intelligibilis resoluta in unitatem intellectus in fine quiescat. [...] Non igitur attingitur unitas nisi mediante alteritate.« - Zu vergleichen ist hiermit die metaphysische Wendung desselben Gedankens: ders., Dialogus de genesi (1447), in: Opera, Bd. I, fol. 70 a-75 a: fol. 71 a.

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Verhältnis zur Platonischen Ideenlehre

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uns auf dem Hintergründe der Erfahrung das Bild des eigenen Geistes und seiner gedanklichen Schöpfungen heraus. Cusanus bezeichnet hier die geschichtliche Wendung des Platonismus, die zu Kepler und Galilei hinüberführt. Es | wäre irrig, die philoso­ phische Renaissance des Quattrocento schlechthin als eine Ent­ deckung der Platonischen Philosophie zu bezeichnen: war doch die Beziehung zu dieser auch im christlichen Mittelalter nirgends abge­ brochen. Insbesondere blieben in der Lehre Augustins, wenngleich sie rein aus den Bedürfnissen und Forderungen des Glaubens er­ wuchs, die Grundmotive der Platonischen Erkenntnislehre nichtsde­ stoweniger klar und durchsichtig erhalten. Bezeichnend aber ist der veränderte Gesichtspunkt, unter dem die Ideenlehre jetzt er­ scheint. Sofern die Ideen als absolutes Sein jenseits der Erscheinungs­ welt gedacht und gedeutet werden, werden sie von Cusanus aus­ drücklich zurückgewiesen; hier tritt er der Aristotelischen Kritik in ihrem ganzen Umfang und in allen ihren Folgerungen bei. Und nicht minder bestreitet er den falschen Apriorismus der »angeborenen Begriffe«: Nicht einzelne Erkenntnisinhalte, sondern nur die Kraft, sie zu erwerben, ist der Seele eingeboren.21 So knüpft er nicht an die metaphysische Weiterbildung der »Idee« an, sondern geht unmittel­ bar auf die tiefen methodischen Erörterungen der »Republik« über das Verhältnis von Sinnlichkeit und Denken zurück. Die Wahrneh­ mung ist nicht der unbedingte Widerstreit, sondern sie ist der Wecker und »Paraklet« des reinen Begriffs, den sie herbeiruft, um die in ihr liegende Unbestimmtheit zu überwinden und zu schlichten.22 Das ist der tiefere Grund und Zweck jener | Gegensätzlichkeit, die uns über­ all in der Sinnenwelt entgegentritt: daß sie die Fähigkeit der Unter­ scheidung in uns anregt und unterstützt und damit das Denken zum Bewußtsein seiner eigentümlichen Grundkraft erhebt.23 Denn dem 21 »In hoc igitur Aristoteles videtur bene opinatus: animae non esse notiones ab initio concreatas, quas incorporando perdiderit. Verum quoniam non potest proficere si omni caret iudicio, sicut surdus nunquam proficeret ut fieret citha­ roedus, postquam nullum de harmonia apud se iudicium haberet per quod indi­ care posset an profecerit: eapropter mens nostra habet sibi concreatum iudicium, sine quo proficere nequiret. Haec vis iudiciaria est menti naturaliter concreata [...] Quam vim, si Plato notionem nominavit concreatam: non penitus erravit.« Ders., Idiota (Buch 3, Kap.4), fol.84b. 22 Ebd.: »Orator. Aiebat Plato tunc ab intellectu iudicium requiri: quando sen­ sus contraria simul ministrat. Idiota. Subtiliter dixit. Nam cum tactus simul durum et molle, seu grave et leve confuse offendat contrarium in contrario: recur­ ritur ad intellectum, ut de quidditate utriusque sic confuse sentitum, quod plura discreta sint iudicet.« 23 »Puta cur in sensibili mundo est tanta contrarietas: dices ideo quia opposita

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Sinn als solchem wohnt keine Kraft der Bestimmung und Unterschei­ dung bei; vielmehr ist es die Vernunft selbst, die in dem sinnlichen Material erst die festen Abgrenzungen und Sonderungen vollzieht: »Ratio [...] sensu ut instrumento ad discernendum sensibilia utitur: sed ipsa est quae in sensu sensibile discernit.«24 So sehen wir, daß das empirische Weltbild, in dem uns die Gegenstände bereits als einzelne gesondert entgegentreten, schon ein Produkt aus dem Zusammenwirken von Wahrnehmung und Begriff ist. Die Lei­ stung der Idee wird innerhalb des Gebiets der Erfahrung selbst aufgesucht und hervorgehoben. Durch diesen Gegensatz gegen den mittelalterlichen Realismus aber, dem die Idee an und für sich etwas Existierendes und Absolutes ist, werden wir zu Folgerungen hingeführt, die den Erkenntnis wert des Denkens zunächst herabzusetzen scheinen. Wenn unser diskursi­ ves Denken die Sichtung und Deutung der sinnlichen Eindrücke zur Aufgabe hat, so ist es klar, daß es nicht auf die Wesenheit der Dinge, sondern nur auf deren »Abbilder« sich richtet und über diese an kei­ nem Punkte hinauszugelängen vermag. Das System der Erkenntnis löst sich in einen Inbegriff und eine Ordnung von Zeichen auf; die absolute Welt der Objekte bleibt ihm unzugänglich. Wenn die Gegen­ stände im göttlichen Geiste nach ihrer präzisen und eigentümli­ chen Wahrheit enthalten sind, so faßt der unsrige nicht ihr Sein, son­ dern nur mittelbar ihre »Ähnlichkeit«;25 wenn das Denken Gottes | zugleich ein Erschaffen ist, so geschieht unsere Begriffsbildung dadurch, daß wir uns selber den vorhandenen Objekten anpassen und uns nach ihnen umgestalten. Der Begriff der Seele selbst wird unter diesem Gesichtspunkt bestimmt: Sie ist die Kraft, die sich allen Din­ gen anzugliedern vermag (»quae se omnibus rebus potest confor­ mare«).26 Wie dem göttlichen Geiste die »vis entificativa«, so kommt unserem Intellekt die »vis assimilativa« als Merkmal und Grundzug iuxta se posita magis elucescunt, et una est utriusque scientia. [...] Quare omnis sensus vult obiecta contraria: ut melius discernat. [...] Sic enim [...] reperies omnia obiecta in mundo sensibili, et ad servitium cognoscitivae ordinata.« Cusanus, De beryllo (Kap. 36), fol. 192 b. 24 Ders., De coniecturis (Buch 1, Kap. 10), fol. 45b; vgl. ders., Idiota (Buch 3, Kap. 5), fol. 84 b ff. 25 »Si omnia sunt in mente divina ut in sua praecisa et propria veritate: omnia sunt in mente nostra, ut in imagine seu similitudine | propriae veritatis, hoc est notionaliter. Similitudine enim fit cognitio. Omnia in deo sunt: sed ibi rerum exemplaria. Omnia in nostra mente: sed hic rerum similitudines.« A. a. O. (Kap. 3), fol. 83 b f. 26 Ders., De ludo globi libri duo (1464) (Buch 1), in: Opera, Bd. I, fol. 152 b-169 a: fol. 156 a.

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Die »Ähnlichkeit« des Geistes und der Dinge

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zu;27 wie jenem die ursprüngliche seinsspendende Kraft innewohnt, so besitzt dieser die lichtspendende Kraft, die uns das Ganze der Sin­ nenbilder erst erhellt. Dennoch ist es ein bloßer Abglanz des Wirkli­ chen, der uns durch alle menschliche Forschung zuletzt gegeben wer­ den kann. Durch die Erschaffung der gedanklichen Zeichensprache, in die wir das Sein zu fassen versuchen, hüllt sich das Wesen der Dinge für uns nur in immer dichtere Schleier. Wenn also die Wahrheit des Denkens in nichts anderem besteht als darin, die Verhältnisse des Wirklichen passiv widerzuspiegeln, so sehen wir uns, je weiter die Arbeit des Begriffs fortschreitet, um so mehr von diesem letzten Ziel entfernt und in unsere eigene Vorstellungswelt eingeschlossen. An diesem Punkte indes, an dem die Gegensätze zu voller Schärfe gelangen, erweist sich nunmehr von neuem Cusas dialektische Kraft. Die Norm der Wahrheit selbst erfährt nunmehr eine innere Umbil­ dung. Der Begriff der Ähnlichkeit, den Cusanus als Rüstzeug aus der scholastischen Erkenntnislehre herübernimmt, wird ihm, in schrittweiser Umdeutung und Vertiefung, zur gedanklichen Hand­ habe und zum Vehikel für die eigene Grundauffassung. Von der »simi­ litudo« schreitet er zur »assi | milatio« fort: Von der Behauptung einer in den Dingen vorhandenen Ähnlichkeit, die die Grundlage ihrer Zusammenfassung und gattungsmäßigen Bezeichnung abgibt, geht er zur Darlegung des Prozesses über, vermöge dessen der Geist einen harmonischen Zusammenhang zwischen den Objekten und sich sel­ ber erst herstellen und erschaffen muß. Jetzt erkennt das Ich die Gegenstände nicht mehr, indem es sich ihnen anpaßt und sie nachbil­ det, sondern indem es sie umgekehrt nach der Ähnlichkeit des eigenen Wesens auffaßt und begreift. Wir verstehen die Außendinge nur inso­ weit, als wir in ihnen die Kategorien des eigenen Denkens wiederzu­ entdecken vermögen. Alles »Messen« der Objekte entspringt im Grunde nur dem einen Triebe des Geistes, zum Maße seiner selbst und seiner Kräfte zu gelangen.28 Weil er den Punkt, die Einheit, das Jetzt in sich trägt, weil er somit das wahre Fundament besitzt, aus dem die Linie, die Zahl, die Zeit sich aufbauen, kann der Intellekt sich all diesen Inhalten assimilieren und sie in dieser Verähnlichung erken­ 27 »Inter [...] divinam mentem et nostram id interest: quod inter facere et videre. Divina mens concipiendo creat: nostra concipiendo assimilat, notiones seu intellectuales faciendo visiones. Divina mens est vis entificativa: nostra mens est vis assimilativa.« Ders., Idiota (Buch 3, Kap. 7), fol. 87 a. 28 A. a. O. (Kap. 9), fol. 90a: »Philosophus. Admiror cum mens ut ais Idiota a mensura dicatur: cur ad rerum mensuram tam avide feraturf?] Idiota. Ut suiipsius mensuram attingat. Nam mens est viva mensura: quae mensurando alia, sui capacitatem attingit.«

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nen.29 Ein Bild und Analogon der Welt heißt er somit in dem Sinne, daß in ihm als konzentrierter Einheit der Gehalt von alledem liegt, was uns in sinnlicher Erscheinung in der Welt der Dinge entgegentritt. Wenn die erste Epoche von Cusas Philosophie vor allem auf das Grundproblem des Verhältnisses zwischen Gott und Welt gerich­ tet war, so ergibt sich jetzt eine veränderte Fassung der Frage: An die Stelle der Welt tritt, um sie für die spekulative Betrachtung zu erset­ zen und zu repräsentieren, der Begriff des Geistes. Die Seele ist, | wie in engem Anschluß an Augustin dargetan wird, im prägnanten und höchsten Sinne das Symbol des Schöpfers: Alle anderen Dinge haben an Gottes Wesenheit nur insoweit teil, als sie sich in ihr dar­ stellen und reflektieren. So ist der menschliche Intellekt zwar ein Abbild des absoluten, aber ein Modell und Musterbild alles empiri­ schen Seins: »[...] mens [...] per se [est] dei imago. Et omnia post men­ tem: non nisi per mentem.«30 Zwei verschiedene Motive und Weisen der Behandlung sind es somit, die sich im Begriff der »assimilatio« durchdringen. Den Anfang bildet eine Analyse und Deutung des Prozesses der Wahrnehmung, in welchem der Geist, nach Cusa, zwar ursprünglich passiv bestimmt wird, in dem er aber nichtsdestoweniger alsbald spezifische Energien und Kräfte entwickelt. Die Seele selbst entsendet durch Vermittlung der peripherischen Organe bestimmt unterschiedene »Spezies«, die sich gemäß den Einwirkungen von den Objekten mannigfach umbil­ den und damit die wechselnde Vielheit der Eindrücke zustande brin­ gen. Überall ist hierbei nicht nur die Natur des äußeren Gegenstan­ des, sondern zugleich die Beschaffenheit des aufnehmenden Mediums für die Art der Sinnesempfindung bestimmend: Wie denn der feine »Arteriengeist«, der sich im Auge befindet, nur für die Eindrücke der Gestalten und Farben, nicht für die des Tones empfänglich ist. Daher müssen wir weitergehend einen »Geist« (spiritus) annehmen, der, an die Unterschiede der Einzelsinne nicht mehr gebunden, sich gleich­ mäßig allen Inhalten der verschiedenen Gebiete anzupassen vermag 29 A. a. O. (Kap. 4), fol. 84 a: »Ex hoc elice admirandam mentis nostrae virtu­ tem. Nam in vi eius complicatur vis assimilativa complicationis puncti: per quam in se reperit potentiam, in qua se omni magnitudini assimilat. Sic etiam ob vim assimilativam complicationis unitatis: habet potentiam qua se potest omni multi­ tudini assimilare. Et ita per vim assimilativam complicationis nunc, seu praesen­ tiae: omni tempori. Et quietis: omni motui. Et simplicitatis: omni compositioni. Et identitatis: omni diversitati. Et aequalitatis: omni inaequalitati. Et nexus: omni disiunctioni.« 30 A.a. O. (Kap.3), fol. 84 a - vgl. bes. über den Menschen als »parvus mun­ dus«: Cusanus, De ludo globi (Buch 1), fol. 157 b.

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Das Musterbild der Mathematik

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und der sie damit untereinander vergleichbar und aufeinander bezieh­ bar macht. Diese Beziehung, die im Organ der »Einbildungskraft« noch unbestimmt und verworren ist, wird schließlich im Organ der »Vernunft« zu distinkter Bestimmtheit erhoben.31 Dennoch bleibt in diesem gesamten fortschreitenden Prozeß die Abhängigkeit von dem ersten Material, das uns die Sinne darbieten, durchgehend erhalten und bewahrt: Die Begriffe der | Vernunft stellen denselben Inhalt wie die unmittelbare Wahrnehmung, nur in klarerer und deutlicherer Scheidung und Abgrenzung dar. Sie bleiben daher mit allem Mangel des anfänglichen Sinneneindruckes behaftet. Dem diskursiven Den­ ken, das im Grunde nichts anderes als ein Ordnen und Klassifizieren der Empfindungsdaten ist, ist die echte »Präzision« versagt: Was es zu erreichen vermag, bleibt immer nur relative und angenäherte Ge­ wißheit. In allem Wissen um einen empirischen Inhalt treten uns daher die »reinen Formen«, auf die unser Erkennen im letzten Sinne abzielt, nur schattenhaft entgegen: Die Kraft der fremden, von außen gegebenen Materie beschränkt und verdunkelt die Selbstsicherheit des geistigen Schauens und Erfassens.32 Eine andere Richtlinie und ein neuer Orientierungspunkt muß daher gefunden werden, wenn das Wissen über den Bereich der »Mut­ maßung« erhoben werden soll. Der Geist darf sein Ziel nicht mehr jenseits seiner eigenen Grenzen suchen, sondern er muß in sich selbst den Mittelpunkt der Gewißheit finden. Die echten Vernunftbegriffe dürfen nicht das Produkt und das Ende des Erkenntnisprozesses, son­ dern sie müssen seinen Anfang und seine Voraussetzung bilden. Es ist die entscheidende logische Bedeutung der Mathematik, daß in ihr diese Umkehr vollzogen und beglaubigt ist. Wenn der Geist den Begriff des Zirkels entwirft, wenn er eine Linie erdenkt, deren Punkte von einem gemeinsamen Mittelpunkte aus gleich weite Entfernungen haben, so hat die Gestalt, die damit entsteht, nirgends ein gesondertes, stoffliches Sein außerhalb des Denkens. Denn in der Materie ist eine exakte Gleichheit zwischen zwei Strecken, geschweige zwischen einer unendlichen Mannigfaltigkeit von Linien, unauffindbar und unmöglich. Der »Zirkel im Geiste« ist das | alleinige Musterbild und Maß des Zirkels, den wir im Sande hinzeichnen. Analog können wir

31 Ders., Idiota (Buch 3, Kap. 7), fol. 87 a. 32 A. a. O., fol. 87 b: »Unde cum per has assimilationes non attingat nisi sensi­ bilium notiones, ubi formae rerum non sunt verae sed obumbratae variabilitate materiae: tunc omnes notiones tales sunt potius coniecturae quam veritates. Sic itaque dico, quod notiones quae per rationales assimilationes attinguntur sunt incertae: quia sunt secundum imagines potius formarum quam veritates.«

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bei jedem Inhalt, der uns entgegentritt, eine doppelte Weise des Seins unterscheiden: sofern wir ihn das eine Mal in aller Zufälligkeit seines konkreten Daseins, das andere Mal in der Reinheit und Not­ wendigkeit seines exakten Begriffs betrachten.33 Die Wahrheit der Dinge ergibt sich erst in dieser zweiten Art der Auffassung. Auch auf sie wendet Cusanus den Gesichtspunkt der Assimilation an: Aber jetzt handelt es sich nicht mehr darum, daß der Geist sich den sinn­ lichen Einzeldingen, sondern daß er sich ihrer reinen mathematischen Definition, die all ihren wissenschaftlichen Gehalt darstellt, zu­ wendet und anpaßt. Indem das Denken sich den »abstrakten For­ men«, die es in sich selber findet, fortschreitend verähnlicht, ent­ wickelt und erschafft es damit die sicheren mathematischen Wissenschaften.34 Und während zuvor nur ein beschränktes, jederzeit aufhebbares Wissen zustande kam, wird auf diesem zweiten Wege absolute Gewißheit erreicht. Das Denken, das mit den Gegenständen beginnt, um sie, sei es in sinnlichen Eindrücken, sei es in allgemeinen, von ihnen abstrahierten Gattungsbegriffen abzubilden, erreicht nirgends das wahre Sein: Notwendige Erkenntnis entsteht nur dort, wo der Geist von seiner eigenen | Einheit und »Einfachheit« ausgeht, um sie zu einer Mannigfaltigkeit von Definitionen und Grundsätzen auszubilden.35

33 Ebd. - vgl. Cusanus, Complementum theologicum (Kap. 2), fol. 93 a: »Non enim curat geometer de lineis aut figuris aeneis, aut aureis, aut ligneis: sed de ipsis ut in se sunt, licet extra materiam non reperiantur. Intuetur igitur sensibili oculo, sensibiles figuras: ut mentali, possit intueri mentales. Neque minus vere mens mentales conspicit: quam oculus sensibiles. Sed tanto verius: quanto mens ipsa figuras in se intuetur, a materiali alteritate absolutas.« Vgl. bes. Aurelius Augustinus, De vera religione liber unus (Kap. 32), in: Opera omnia, post lovaniensium theologorum recensionem castigata denuo ad manuscriptos codices gallicos, vaticanos, belgicos, etc., necnon ad editiones antiquiores et casti­ gatiores, hrsg. v. Jacques-Paul Migne, 12 Bde. (Patrologiae cursus completus, series latina, Bde. XXXII-XLVII), Paris 1841 ff., Bd. III/1, Sp. 121-172: Sp. 149 u. Confessiones libri XIII (Buch 10, Kap. 12), in: Opera omnia, Bd.I, Sp.657-868: Sp.787. 34 »[...] anima rationalis: est vis complicativa omnium notionalium complica­ tionum. [...] Sic se puncto assimilat qui complicat magnitudinem: ut de se notionales lineas, superficies, et corpora explicet. Et ex complicatione illorum [...] sci­ licet unitate et puncto: mathematicales explicat figuras, circulares, et polygonias [...] Sic se assimilat quieti: ut motum discernat. Et praesentiae seu ipsi nunc: ut tempus discernat. [...] Et invenit disciplinas, scilicet arithmeticam, geometricam, musicam, et astronomicam: et illas in sua virtute complicari experitur.« Cusanus, De ludo globi (Buch 2), fol. 165 a. 35 »Et quia mens ut in se et a materia abstracta, has facit assimilationes: tunc se assimilat formis abstractis. Et secundum hanc vim exerit scientias certas mathe-

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Quantität und Qualität

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Die Ansicht, daß alle unsere Erkenntnis sich in einen Inbegriff und eine Ordnung von »Zeichen« auflösen lasse, bildet somit bei Cusanus nicht einen Widerspruch, sondern eine Bestätigung der idealistischen Grundlegung. Sein »Nominalismus« ist nicht - wie Falckenberg annimmt36 - ein fremder Bestandteil des Systems, sondern wird zu einer wichtigen Bestimmung und Ergänzung des Hauptgedankens. Das unbedingte einfache Sein ist uns nicht direkt zugänglich, sondern verbirgt und verhüllt sich uns unter den mannigfachen Namen und Symbolen, deren wir uns notwendig zu seiner Erfassung bedienen: Aber ebendiese »Namen« selber sind nicht willkürlich und gesetzlos, sondern entstammen dem Grunde und Gesetz unseres eigenen Gei­ stes. Dasselbe Medium, das uns von der Existenz des Absoluten trennt, erschließt uns somit die Erkenntnis des eigenen Wesens und der idealen Objekte der Wissenschaft. Für den positiven Wert, den Cusanus dem Begriffe des Zeichens beimißt, ist es besonders charak­ teristisch, daß er das allgemeine Verhältnis zwischen dem Zeichen und dem bezeichneten Inhalt durch das Beispiel der Beziehung zwischen Punkt und Linie verdeutlicht. Der Punkt kann als Symbol der Linie betrachtet werden, sofern er die Grundlage und die Voraussetzung ist, aus der die Linie durch stetige Wiederholung sich aufbaut - sofern er also zugleich ihren ganzen begrifflichen Gehalt in sich faßt und zur Darstellung bringt.371 Damit nähern wir uns einer neuen Bezeichnung und Formel für das metaphysische Grundverhältnis des Einen und Vielen. Wir sahen, wie zuletzt die Forderung gestellt war, die »Einfachheit« des denkenden Geistes in die Vielheit der Begriffe und Dinge aufgehen zu lassen, nicht, um sie in sie zu zerteilen und aufzulösen, sondern vielmehr, um sie auf eine höhere Stufe der Selbsterkenntnis und des Selbstbewußt­ seins zu erheben. Wenn somit die Reihe der Zahlen als Symbol des maticales: et comperit virtutem suam esse, se rebus prout in necessitate comple­ xionis sunt, assimilandi et notiones faciendi. [...] unde mens respiciendo ad suam simplicitatem [...] hac simplicitate utitur instrumento, ut non solum abstracte extra materiam, sed in simplicitate, materiae incommunicabili se omnibus assimilet.« Ders., Idiota (Buch 3, Kap.l), fol. 87b. 36 Richard Falckenberg, Grundzüge der Philosophie des Nicolaus Cusanus mit besonderer Berücksichtigung der Lehre vom Erkennen, Breslau 1880, vgl. bes. S. 134 f. 37 »Sic mens ante compositam lineam incompositum punctum contemplatur. Punctus enim signum est, linea vero signatum. | Quid autem videtur in signato nisi signum, quippe signum est signati signum? Ideo principium, medium et finis signati est signum seu lineae est punctus seu motus est quies sive temporis est momentum et universaliter divisibilis indivisibile.« Cusa­ nus, De non aliud, S. 192.

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sinnlichen, die Einheit als Symbol des reinen intellektuellen Seins gedacht werden kann, so handelt es sich jetzt darum, das Eine nicht in abstrakter Isolierung, sondern in seiner Entfaltung, also innerhalb der Welt der Mehrheit selbst, aufzusuchen und festzuhalten. Wo immer sich uns also in einer Gruppe bestimmt abgestufter Inhalte ein Größer und Kleiner, ein Mehr oder Weniger darstellt, da gilt es zunächst, in ihr begrifflich ein Moment herauszusondern, das an dieser Wandlung keinen Anteil hat, ihr vorausgeht und sie ermöglicht. Die Eigenart der Linie und des Winkels: dasjenige, was sie von allen anderen geometri­ schen Gebilden unterscheidet und sie erst zur Linie und zum Winkel macht, ist offenbar in jedem Exemplar der Gattung, wie groß oder wie klein es immer sei, vollständig und gleichmäßig enthalten. Die ein­ zelne begrenzte Strecke faßt daher nicht das »Wesen« der Linie, das vielmehr als unendlich, genauer als außerendlich - weil der Be­ trachtungsweise und den Gegensätzen der bloßen Quantität ent­ rückt - gedacht werden muß.38 Der | Fortgang ins Unendliche, bei dem die bloß zufälligen Differenzen der Größe verschwinden, ent­ hüllt uns erst den rationalen Grund der endlichen Gebilde.39 Hier erblicken wir das »Was« des Kreises oder Dreiecks, das der sinnlichen Anschauung, die an dem Einzelbeispiel und seinen willkürlich ange­ nommenen Dimensionen haftet, unzugänglich bleibt. Die extensive Ausdehnung und Begrenzung, die eine Bedingung der sinnlichen Vor­ stellbarkeit einer bestimmten geometrischen Gestalt ist, muß aufge­ hoben werden, um zu ihrer ursprünglichen rationalen Erkenntnis und Definition zu gelangen; die jeweilig wechselnden Maße einer Figur 38 »[...] omnis dabilis angulus: de se ipso dicit quod non sit veri­ tas angularis. Veritas enim non capit nec maius nec minus. Si enim posset esse major aut minor veritas: non esset veritas. [...] Omnis igitur angulus, dicit se non esse veritatem angularem: quia potest esse aliter quam est. Sed dicit angulum maxi­ mum pariter et minimum cum non posset esse aliter quam est: esse ipsam simpli­ cissimam et necessariam veritatem angularem.« Ders., De beryllo (Kap. 13), fol. 186 a - vgl. bes. ders., Complementum theologicum (Kap. 5), fol. 95 b: »Vide admi­ rabile: dum mathematicus figurat poly | goniam, quomodo respicit in exemplar infinitum. Nam dum trigonum depingit quantum: non ad trigonum respicit quan­ tum, sed ad trigonum simpliciter absolutum ab omni quantitate et qua­ litate, magnitudine, et multitudine. Unde quod quantum depingit: non recipit ab exemplari, nec intendit quantum efficere. Sed quia depingere eum nequit, ut sen­ sibilis fiat triangulus quem mente concipit: ideo accidit ei quanti­ tas, sine qua sensibilis fieri nequit.« 39 »Manifestum autem est in infinita linea non esse aliam bipedalem et tripe­ dalem: et illa est ratio finitae. Unde ratio est una ambarum linearum. Et diversitas rerum sive linearum non est ex diversitate rationis quae est una: sed ex accidenti, quia non aeque rationem participant. Unde non est nisi una omnium ratio quae diversimode participatur.« Ders., De docta ignorantia (Buch 1, Kap. 17), fol. 7b f.

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Das Problem des »Unendlich-Kleinen-

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gehen in ihren Begriff nicht ein. Mit dieser allgemeinen Weisung hat Cusanus, sosehr er noch mit dem Gedanken und dem Ausdruck ringt, die erste logische Grundlage für den Begriff des »Unendlich-Kleinen« geschaffen. Wir dürfen nicht bei der endlichen und teilbaren Form der Größe stehenbleiben, sondern müssen sie, um ihren reinen Begriff zu erfassen und ihre gesetzlichen Zusammenhänge zu verstehen, aus einem unteilbaren Moment zur Entstehung und Ableitung bringen. So ist der Punkt die »Totalität und Vollendung« der Linie, so ruht die extensive zeitliche Dauer auf dem »Jetzt« und müßte mit seiner Auf­ hebung in sich selber zusammenfallen.40 Und wie der Augen | blick die »Substanz« der Zeit, so ist die Ruhe die Substanz der Bewegung. Die räumliche Ortsveränderung eines Punktes ist nichts anderes als die gesetzliche Folge und Ordnung seiner unendlich mannigfaltigen Ruhelagen: »Motus [...] est [...] ordinata quies, sive quietes seriatim ordinatae.«41 In diesen Sätzen hat Cusanus nicht nur den Gedanken, sondern selbst die Sprache der neuen Mathematik, wie sie sich künftig bei Descartes und Leibniz entfaltet, vorweggenom­ men. Die Bezeichnung der Koordinaten, der lineae ordinatim appli­ catae, bereitet sich vor, während andererseits bereits die allgemeine Auffassung herrschend ist, die zur Grundlegung der Integralrech­ nung hinführt. Und in dem neuen Begriff der Größe, der jetzt entsteht, spricht sich zugleich eine veränderte Ansicht und eine neue logische Defini­ tion des Seins aus. Jetzt wird es deutlich, daß die Wahrnehmung, die im Bereiche des Ausgedehnten und Zusammengesetzten verharrt, das Sein nicht zu umspannen und auszumessen vermag. Die wahre Realität jedes Inhalts erschließt sich erst dem Auge des Intellekts, indem er das sinnlich ausgebreitete Dasein auf eine unteilbare Ein­ 40 »Linea [...] est puncti evolutio, et superficies lineae, et soliditas superficiei. Unde si tollis punctum: deficit omnis magnitudo. Si tollis unitatem: deficit omnis multitudo [Cassirer: magnitudo statt multitudo].« Ders., Idiota (Buch 3, Kap. 9), fol. 89 b. - »Momentum est temporis substantia. Nam eo sublato nihil temporis manet. [...] Clare iam video, quoniam praesentia est cognoscendi principium et | essendi omnes temporum differentias atque varietates; per praesentiam enim praeterita cognosco et futura, et quicquid sunt per ipsam sunt, quippe praesentia in praeterito est praeterita, in futuro autem est futura, in mense mensis, in die dies et ita de omnibus.« Ders., De non aliud, S. 179f. 41 »Cum movere sit de uno statu in alium cadere [...] sic nihil reperitur in motu nisi quies. Motus enim est discessio ab uno. Unde moveri est ab uno: et hoc est ad aliud unum. Sic de quiete in quietem transire: est moveri. Ut non sit aliud moveri: nisi ordinata quies, sive quietes seriatim ordina­ tae.« Ders., Idiota (Buch 3, Kap. 9), fol. 89 b; vgl. bes. ders., De docta ignorantia (Buch 2, Kap. 3), fol. 15 a.

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heit zurückführt. Wir können das »Wesen« eines jeglichen Seins ohne extensive Größe, die »quidditas« ohne »quantitas«, nicht aber umgekehrt diese ohne jene denken.42 Wie die Kraft des Karfunkel­ steins, vermöge deren | er das Licht zurückstrahlt, in dem kleinen Stein ebenso wie in dem großen enthalten ist, wie sie sich somit von der Ausdehnung unabhängig erweist, so geht allgemein die Substanz des Körpers nicht in seiner Masse auf. Sie wurzelt allein in der bestimm­ ten eigentümlichen Wirksamkeit des Körpers, die sich bald unter dieser, bald unter jener Gestalt und Form darstellt, sich mit diesem oder jenem »Akzidens« bekleidet, um der sinnlichen Anschauung sichtbar zu werden. Wenn die Wahrnehmung die Dinge in ihrer ferti­ gen räumlichen Ausbreitung betrachtet, so ergreift der Intellekt das Prinzip und den Urgrund ihrer Tätigkeit.43 Der Grund zur Leibnizischen Kritik des Substanzbegriffs ist hier gelegt. Es muß frei­ lich zunächst auffallend erscheinen, daß das gesamte Gebiet der Aus­ dehnung schlechthin der »Imagination« zugewiesen wird: Denn unterliegt damit nicht die gesamte bisherige Mathematik der end­ lichen Größen demselben logischen Werturteil? Indes auch diese Wendung läßt sich verstehen: Die reinen intellektuellen »Einheiten« werden nicht unmittelbar dem sinnlich Mannigfaltigen selbst, son­ dern dem Begriff, auf den sich jene Mannigfaltigkeiten reduzieren, verglichen und gegenübergestellt. Die | Sinnendinge werden nicht an sich selbst, in ihrer konkreten Einzelheit, zum Gegenstand der Be­ trachtung gemacht, sondern sie werden zusammengefaßt und vertre­ ten durch die Kategorie der Quantität, ohne die sie für den Begriff 42 »Quidditas, quam mente ante quantitatem video, cum sine quanto imaginari non possit, in imaginatione varias recipit imagines, quae sine varia quantitate esse non queunt; et licet de quidditatis essentia quantitas non sit, quam | mens quidem supra imaginationem contemplatur [...] quantitas tamen sic est consequenter ad imaginis quidditatem, quod sine ipsa esse nequit imago.« Ders., De non aliud, S. 161. 43 »Non ergo molis quantitatem de carbunculi essentia video, quia et parvus lapillus carbunculus est, sicut et magnus. Ante magnum igitur corpus et parvum carbunculi substantiam cerno; ita de colore, figura et ceteris eius accidentiis. Unde omnia, quae visu, tactu, imaginatione de carbunculo attingo, carbunculi non sunt essentia, sed quae ei accidunt cetera, in quibus, ut sensibilis sit, ipsa enitescit, quia sine illis nequit esse sensibilis. [...] Lux igitur substantialis, quae praecedit colorem et omne accidens, quod quidem sensu et imaginatione potest apprehendi, intimior et penitior carbunculo est et sensui ipsi invisibilis, per intellectum autem, qui ipsum anterioriter separat, cernitur. Ipse sane illam car­ bunculi substantiam [...] ab omni substantia non carbunculi aliam videt; et hoc in aliis atque aliis operationibus experitur, quae substantiae carbunculi virtutem sequuntur et non alterius rei cuiuscunque.« A. a. O., S. 166f.

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Der Begriff der Substanz

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nicht faßbar sind: »Magnitudine [...] et multitudine sublata: nulla res cognoscitur.«44 Vergegenwärtigen wir uns von diesem Punkte aus noch einmal den Gang der Gesamtuntersuchung, so drängt sich eine allgemeine Be­ merkung auf. Der Begriffsgegensatz des »einfachen« Seins und seiner »Entfaltung«, der complicatio und explicatio, war geschaffen, um das Verhältnis und den Widerstreit zwischen Gott und Welt zumAusdruck zu bringen. In dieser metaphysischen Aufgabe wurzelt sein Ursprung und seine prinzipielle Bedeutung. Im Fortgang der Unter­ suchung aber sehen wir, wie dieser anfängliche Sinn sich stetig weitet, wie immer neue Problemgruppen ergriffen und der systematischen Grundunterscheidung unterworfen werden. Nacheinander werden nunmehr das Verhältnis Gottes zum menschlichen Geiste wie die Beziehung, die innerhalb des Geistes zwischen seinen Grundprin­ zipien und dem entwickelten Gehalt seiner Begriffe besteht, unter dem gegensätzlichen Gesichtspunkt des »Einen« und »Vielen« be­ trachtet. Die Größe selbst, die ein Grundinhalt unseres Denkens ist, gibt dieser doppelten Betrachtung und Beurteilung Raum. So gelangt ein Gedanke, der dazu bestimmt schien, die endgültige Trennung des Diesseits und Jenseits, des konkreten und absoluten Seins zu be­ zeichnen, innerhalb des endlichen Seins selbst zur Bestimmung und zu fruchtbarer Anwendung. Und diese Entwicklung, die sich hier an einem einzelnen Hauptproblem darstellt, findet ihre Bestätigung und Ergänzung in der allgemeinen Umwandlung, die sich in dem Verhält­ nis der Transzendenz zur Immanenz, des Seins zum Denken vollzieht.

III.

An diesem Punkte, an dem sich die mathematischen und theologi­ schen Gedanken aufs engste zusammenschließen, aber | tritt freilich noch einmal die ganze Paradoxie, die in dieser Vereinigung liegt, aufs schärfste hervor. Es ist ein schwieriges und befremdliches Verhältnis, das sich nunmehr ergibt. Die Verflechtung mathematischer und meta­ physischer Spekulationen ist freilich als solche keineswegs neu: Ist sie es doch, die die gesamte neuplatonische Lehre beherrscht und die ins­ besondere bei Pro kl os ihren charakteristischen Ausdruck gefunden hat. Dem mittelalterlichen Denken wird diese Tendenz sodann insbe­ sondere durch Augustin vermittelt. Mathematische Gleichnisse 44 Nicolaus Cusanus, Compendium (Kap. 5), in: Opera, Bd. I, fol. 169b-174b: fol. 170 b.

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und Bilder sind es, in welche nunmehr der Gehalt der Seelenlehre wie der Gotteslehre zu fassen gesucht wird. Weil sie den Begriff des Punk­ tes, also einer schlechthin unteilbaren Einheit, weil sie die rein geo­ metrischen Gedanken der Linie ohne Breite, der Fläche ohne körper­ liche Dimensionen in sich trägt, darum ist die Seele selbst ein unkörperliches Sein und dem geistigen Ursprung aller Wesenheiten verwandt.45 Immer weiter spinnen sich diese Vergleiche fort; immer mehr wird hinter der unmittelbaren wissenschaftlichen Bedeutung der Zahl- und Formbegriffe ein tieferer symbolischer Gehalt gesucht, der erst als der eigentliche Kern ihrer Wahrheit erscheint. Die Mathe­ matik fügt sich als dienendes Glied dem Umkreis der magischen Wissenschaften ein. In dieser Funktion fesselt sie zunächst, bei Pico von Mirandola wie bei Agrippa von Nettesheim, das philosophische Interesse der Renaissance. Aber eine derartig äußerliche Übertragung mathematischer Gedankenreihen auf ein Gebiet, das ihnen innerlich fremd ist und fremd bleiben muß, ist es nicht, was für die Philosophie des Cusanus bezeichnend ist. Hier begibt sich vielmehr in der Tat das Unerwartete und Merkwürdige, daß eine Denkrichtung, die vom Gottesbegriff ihren Ausgang nimmt und zu ihm immer von neuem zurückstrebt, sich unmittelbar für die Entdeckung und Gestaltung mathematischer Einzelerkenntnisse fruchtbar erweist. Welche be­ griffliche Vermittlung ist es, die diesen Fortgang ermöglicht - welche eigenartige logische Kategorie, die die zwei getrennten Enden des Wissens miteinander | verknüpft und die damit im methodischen Sinne eine wahrhafte »Koinzidenz der Gegensätze« schafft? Schärfer noch und dringender gestaltet sich diese Frage, wenn man bemerkt, daß die Vereinigung von Mathematik und Philosophie, die hier vorliegt, keineswegs von den ersten Anfängen der literarischen Wirksamkeit Cusas her feststeht, sondern erst allmählich gewonnen und befestigt werden muß. Die ersten Schriften, insbesondere die Schrift »De docta ignorantia«, bewegen sich noch durchaus in dem herkömmlichen Schema der Vergleichung. Die Sicherheit, die der mathematischen Erkenntnis zukommt, wird zu keinem anderen Zwecke benutzt, als um mit ihrer Hilfe treffendere Sinnbilder für das Verhältnis des absolut Einen zur Mannigfaltigkeit der Welt zu erdenken. Heilige und weise Männer - so erklärt Cusanus selbst seien ihm hierin vorangegangen, so daß er ihren Spuren nur zu folgen habe.46 In der Richtung derartiger Betrachtungen, die dem Mittelalter 45 Vgl. Aurelius Augustinus, De quantitate animae liber unus (Kap. 12 u. 13), in: Opera omnia, Bd.I, Sp. 1035-1080: Sp. 1046ff. 46 »Consensere omnes sapientissimi nostri et divinissimi, sanctissimique doc-

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Die symbolische Verwendung der Mathematik

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keineswegs fremd geblieben waren, liegen die weitaus meisten Bei­ spiele, in denen das Denken Cusas sich hier bewegt. Wenn er ausführt, daß die unendliche Linie in derselben Weise alle Einzelgestalten in sich schließe, wie Gott alle Geschöpfe in sich enthält - wenn er das Myste­ rium der Trinität durch das Bild eines Dreiecks von drei gleichen rech­ ten Winkeln darstellt, so liegt in derartigen Gedankenspielen ersicht­ lich keinerlei mathematischer Gehalt. Hier sind wir mit dem ersten Schritt bereits über die Grenzen der Geometrie und über alle wissen­ schaftlichen Möglichkeiten, mit denen sie rechnen kann, hinausge­ langt. In dem Maße indessen, als die eigene Spekulation Cusas sich rei­ cher und selbständiger entfaltet, gewinnt sein Denken auch der Mathematik gegenüber eine neue Stellung. Schon äußerlich bekundet sich die veränderte Richtung des Interesses darin, daß es nicht sowohl | die Verhältnisse des Unendlich-Großen als vielmehr die des Unend­ lich-Kleinen sind, denen er sich nunmehr zuwendet. Nicht dadurch, daß die Grenzen der Dinge sich ins Unbestimmte erweitern, um schließlich ineinanderzufließen, wird ihre Einheit hergestellt, sondern dadurch, daß wir auf die Elemente zurückgehen, aus welchen sie sich in ihrer charakteristischen Eigenart aufbauen. Der Zusammenhang, der dort nur als unerreichbares Ziel vor uns stand, rückt jetzt ins Gebiet des Endlichen selbst, das in der Besonderheit seiner konkreten Verhältnisse aus einem neuen Gesichtspunkte beurteilt und über­ schaut wird.47 Was dem Menschen nur immer im Bereich der Mathe­ matik zu wissen vergönnt ist, das erreicht er auf diese Weise.48 Wenn zuvor versucht wurde, auf dem Wege der Mathematik die Vollendung der Theologie zu erreichen, so soll jetzt umgekehrt, vermöge des Durchgangs durch die Gotteslehre, die Mathematik selbst erst zur höchsten Stufe ihrer Vollkommenheit emporgehoben werden. Die »mathematica perfectio« wird zum Selbstzweck der Betrachtung. Dieses Ziel aber wird nur dadurch erreichbar, daß die Gesamtheit des mathematischen Wissens nunmehr einer neuen Erkenntnis­

tores visibilia veraciter invisibilium imagines esse: atque creatorem nostrum ita cognoscibiliter a creaturis videri posse, quasi in speculo et in enigmate. [...] Hac veterum via incedentes: cum ipsis concurrentes dicimus, cum ad divina non nisi per symbola accedendi nobis via pateat, quod tunc mathematicalibus signis prop­ ter ipsorum incorruptibilem certitudinem, convenientius uti poterimus.« Cusa­ nus, De docta ignorantia (Buch 1, Kap. 11), fol. 5 a f. 47 S. oben, S.20f.; vgl. Johann Uebinger, Die mathematischen Schriften des Nicolaus Cusanus, in: Philosophisches Jahrbuch 8 (1895), S. 301-317 u. 403-422, 9 (1896), S. 54-66 u. 391-410, 10 (1897), S. 144-159. 48 Nicolaus Cusanus, De mathematica perfectione, in: Opera, Bd. II/2, fol. 101b-115a.

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kraft zugewiesen und unterstellt wird. In der ersten Phase des Sy­ stems ist es der Verstand, die »ratio«, die gemäß ihrem Grundprinzip vom ausgeschlossenen Dritten den Aufbau der mathematischen Er­ kenntnisse vollzieht und beherrscht.49 Aber dieser Zusammenhang kann nicht dauernd aufrechterhalten bleiben: Denn der »Verstand« bedeutet im System des Cusanus das abstraktive Vermögen der Dingerkenntnis. Die Vergleichung der gegebenen Wahrnehmungen und ihre Zusammenordnung nach verschie | denen Ähnlichkeitsklas­ sen bildet seine eigentümliche Leistung. Damit entgeht ihm aber eben dasjenige Moment, das, wie sich immer bestimmter zeigt, den wesent­ lichen logischen Vorzug des mathematischen Denkens ausmacht. Hier handelt es sich nicht lediglich darum, das vorhandene Wahrneh­ mungsmaterial zu sichten und gemäß den Übereinstimmungen zwi­ schen seinen einzelnen Gliedern in Gruppen zusammenzufassen, son­ dern in eigenen und freien Schöpfungen geht nunmehr der Gedanke über alle Grenzen des Wahrnehmbaren zu exakten und »präzisen« Gebilden hinaus.50 Diese Grundfunktion weist auf ein eigenes Prin­ zip hin, das durch den bloßen Satz des Widerspruchs nicht befaßt und erschöpft wird. Und so geht allmählich die Mathematik von der Seite des »Verstandes« auf die Seite der »Vernunft« über - so ist es nicht wie bisher die »ratio«, sondern der »Intellekt« in spezifischer Bedeutung, der für sie einzustehen hat. Nicht der Verstand, sondern das »intel­ lektuelle Schauen« (visus intellectualis) ist es, was uns jenen Zu­ sammenhang des Krummen und Geraden kennen lehrt, auf welchem alle Quadratur, alle Maßbestimmung von Kurven beruht.51 Nur in ihm versichern wir uns der Identität der kleinsten Sehne mit dem 49 »[...] haec est radix omnium rationalium assertionum: scilicet non esse oppositorum coincidentiam attingibilem. [...] Et ut brevissime multa dicam: nihil in mathematicis sciri poterit alia radice. Omne quod demonstratur verum esse, ex eo est: quia nisi ita esset, oppositorum coincidentia subinferretur. Et hoc esset rationem exire.« Ders., De coniecturis (Buch 2, Kap. 1), fol. 51 b. 50 S. oben, S. 31 ff. 51 »Intentio est ex oppositorum coincidentia: mathematicam venari perfectio­ nem. Et quia perfectio illa plaerumque consistit in rectae curvaeque quantitatis adaequatione: propono habitudinem duarum rectarum linearum se ut chordam ad suum arcum habentium investigare. [...] Sed quomodo est possibile me cujusque datae chordae ad arcum habitudinem scire: cum inter illas quantitates adeo con­ trarias forte non cadat numerabilis habitudof?] Necesse erit igitur me recurrere ad visum intellectualem: qui videt minimam sed non assignabilem chordam, cum minimo arcu cpincidere. [...] Hoc probe videt intellectus necessarium: licet sciat, nec arcum nec chordam (cum sint quantitates) esse simpliciter minimas in actu et posse. Cum continuum: sit semper divisibile. Ad hauriendam autem scientiam habitudines respicio ad intellectualem visionem: et dico me videre ubi est chordae et arcus aequalitas.« Cusanus, De mathematica perfectione, fol. 101 b f.

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Abstraktions- und Konstruktionsbegriffe

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kleinsten Bogen, die dem gewöhnlichen »diskursiven« Denken dau­ ernd verborgen bleibt. In dieser Entscheidung aber droht wiederum die bloße Symbolik den eigentlichen Gehalt der mathematischen Begriffe zu überwuchern. Von neuem entsteht die Gefahr, daß die mathematischen Kon | zeptionen, die der Kritik durch den Satz des Widerspruchs nun nicht mehr unterstehen, in mystische Visionen des Übersinnlichen übergehen und mit ihnen unterschiedslos verschmel­ zen. An diesem Punkte gilt es indessen, vor allem das Motiv des Ver­ gleichs in aller Schärfe zu fassen. Das »tertium comparationis« zwi­ schen den verschiedenen Gebieten, die gleichmäßig der intellektuellen Erkenntnis zugerechnet werden, muß sich bestimmt aufzeigen las­ sen - wenn anders wir hier eine wahrhaft philosophische Einteilung, nicht ein bloßes Spiel mit Gedanken sehen sollen. In der Tat tritt, wenn man den mannigfachen Beispielen nachgeht, durch die Cusa­ nus seine neue Grundansicht zu verdeutlichen strebt, der eigentliche Vergleichspunkt immer klarer hervor. Das Grundgesetz alles abstraktiven Denkens ist-wie sich nunmehr zeigt-die strenge Son­ derung der Elemente, auf die es gerichtet ist. Erkennen heißt hier Vereinzeln: Die Erfassung des Besonderen als eines Besonderen ver­ langt vor allem, daß seine Unterscheidung von allen sonstigen mögli­ chen Inhalten gesichert ist, denen es gegenübersteht. Die Gegensätze, zu denen das Denken in dieser seiner ersten Leistung hingeführt wird, sind somit von seinem eigenen Standpunkt aus unausgleichbar, weil die Form des Erkennens selbst in einem Akt der Entgegenset­ zung besteht.52 Ist aber diese erste Phase einmal erreicht, so erhebt sich notwendig bereits im Gebiete der Wissenschaft selbst eine andere For­ derung. Der Abschluß des Wissens ist erst vollzogen, wenn es ihm gelingt, ein Prinzip zu finden, aus welchem in lückenloser Folge der Inbegriff der möglichen Einzelsetzungen sich vollständig ent­ wickeln und in der Notwendigkeit seiner Verknüpfung durch­ schauen läßt. Dieses Prinzip liegt allen besonderen Gegensätzen voran, da diese sich, durch bestimmte hinzutretende Bedingungen, erst aus ihm entfalten sollen. Hier treten uns die Abgrenzungen des Einzelnen nicht als ursprünglich gegebene Schranken starr und unver­ änderlich gegenüber, sondern wir versuchen, sie vor uns ent | stehen zu sehen. Wir verfolgen die allgemeine Regel, nach welcher jede neue Ge­ staltung aus einer früheren hervorgeht, und erst in diesem Überblick über die Allheit der Glieder und ihre wechselseitige Abhängigkeit begreifen wir nunmehr, von einer anderen Seite her, die Individualität 52 Vgl. bes. ders., De coniecturis (Buch 2, Kap. 1), fol. 51 aff.

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des Einzelnen. So haben wir etwa - wie Cusanus ausführt was den Winkel zum Winkel macht, was ihn von allen übrigen geometrischen Formen unterscheidet, noch nicht verstanden, solange wir bei irgend­ einem spitzen oder stumpfen Winkel von bestimmter Größe stehen­ bleiben. Wir erfassen den vollen Sinn dieses Begriffs erst, wenn wir in einer einheitlichen Konstruktion eine gegebene Gerade in der Ebene aus ihrer Anfangslage herausbewegen, um sie, nachdem sie alle ver­ schiedenen Richtungen angenommen, wiederum in diese zurückkeh­ ren zu lassen. Die Gerade selbst bezeichnet hierbei, je nach dem Gesichtspunkt, unter dem sie betrachtet wird, sowohl den Anfang wie das Ende des Prozesses: Sie ist die Grenze im doppelten Sinne des »terminus a quo« und des »terminus ad quem«. Daß in ihr der größte und der kleinste Winkel »zusammenfallen«, bedeutet demnach nicht, daß hier zwei besondere, fest umgrenzte Einzelformen des Winkels in eine einzige verschmelzen, sondern vielmehr, daß sie durch eine ste­ tige Folge von Setzungen, deren jede ihre Eigenart bewahrt, verknüpft und ineinander übergeführt werden. »Der« Winkel in seiner eigentli­ chen Bedeutung besagt jetzt nicht mehr dieses oder jenes konstante Gebilde, sondern umfaßt alle nur denkbaren Gestaltungen, die gemäß der angegebenen Regel aus der Variation der anfänglichen Form hervorgehen können.53 Die Totalität dieser Gestaltungen entzieht sich, als unendlich, jeder direkten Anschauung; sie ist somit auch nicht durch den abstraktiven Begriff zu fassen, der ja lediglich anschaulich | gegebene Unterschiede aufnimmt und festhält. Der Intellekt erst umschließt in einem einzigen Blick die Einheit des Prinzips wie die unbegrenzte Mannigfaltigkeit der Folgerungen, die in ihm einge­ schlossen liegen: Denn sein auszeichnendes Merkmal ist es, nicht schrittweise von Glied zu Glied in einfacher Aufzählung fortzugehen, sondern ihre Gesamtheit von Anfang an im Bewußtsein ihres erzeu­ genden Grundes zu besitzen und zu beherrschen. Und hier schließt sich endlich der Ring, der für Cusanus metaphy­ sische und mathematische Spekulation aneinanderkettet. Was in der Mathematik gemäß ihrer neuen Grundform bereits erreicht ist, das kann für die Gotteslehre nicht schlechthin unerreichbar heißen. Wie hier die scheinbar unaufheblichen Trennungen zwischen dem Endli­ chen und dem Unendlichen, dem Geraden und Krummen durch ste­ 53 S.oben, S.33f. Vgl. bes. Cusanus, De beryllo (Kap.8), fol. 185a: »Quando igitur tu vides per Beryllum, maximum pariter et minimum formabilem angulum: visus non terminabitur in angulo aliquo, sed in simplici linea quae est princi­ pium angulorum, quae est indivisibile principium superficialium angulorum, omni modo divisionis quo anguli sunt divisibiles. Sicuti igitur hoc vides: ita per speculum in aenigmate videas absolutum primum principium.«

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Mathematische und metaphysische Deduktion

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tige Vermittlungen ausgeglichen wurden, so gilt es nunmehr, kraft einer analogen gedanklichen Bewegung, die Kluft zwischen dem Not­ wendigen und Zufälligen, zwischen Gott und Mensch zu schließen. Das war die Aufgabe, an der die gesamte religiöse Mystik des Mittel­ alters sich gemüht hatte: zu zeigen, wie im menschlichen Geiste selbst die Erhebung von der Endlichkeit zur Unendlichkeit sich vollzieht. Das Ich selbst wird zur Wiege und zum »Kindbett der Gottheit«: Der Prozeß der »Erlösung« bezeichnet keinen einmaligen historischen Akt außerhalb des Individuums mehr, sondern wird rein in sein eige­ nes Innere zurückverlegt.54 Was für die rationale Betrachtung, die in den Differenzen der endlichen Einzeldinge verharrt, schlechthin als Gegensatz erscheint, das wird hier zur Stufenfolge in ein und derselben geistigen Entwicklung. Nun erst verstehen wir das absolute Eine, nicht als ein Einzelnes und somit Totes, sondern als den ewig lebendigen Keim, der sich in eine Fülle von Gestalten auseinanderzu­ legen strebt.55 Die vermittelnde Kategorie, die die | beiden Gebiete von Cusas philosophischer Betrachtung eint, tritt jetzt deutlich hervor. Im Gedanken der Emanation, der seit den Zeiten des Neuplatonismus die gesamte Metaphysik beherrscht hatte, entdeckt er wiederum das methodische Grundprinzip der reinen Deduktion. Denn die »Emanation« bedeutet, wenngleich in dinglicher Wendung, die allge­ meine Forderung, sich über die Isolierung des Besondern zu erhe­ ben, indem man es aus einem gedanklichen Urgrund entstehen läßt. Indem Cusanus auf diese ursprüngliche Bedeutung des Begriffs zurückgeht, wandeln sich ihm unvermerkt wieder Bestimmungen, die bisher einzig und allein der Theologie anzugehören schienen, in Aus­ drücke für logische Beziehungen. Die allgemeine Anschauung des dynamischen Pantheismus, daß ein Verständnis der Welt nur zu erreichen ist, wenn man vom Ganzen zu den Teilen, nicht von den Tei­ len zum Ganzen geht, setzt sich jetzt unmittelbar in eine wichtige und fruchtbare Charakteristik des mathematischen Kontinuums um.56 In dieser Umbildung kündigt sich in der Tat eine neue Zeit an. Die Mathematik sollte der Theologie dienstbar gemacht werden, um ihr passende und treffende Sinnbilder zu liefern; aber ihr eige54 Vgl. hierzu Francesco Fiorentino, 11 risorgimento filosofico nel Quattro­ cento. Opera posthuma (Kap. 2), Neapel 1885, S. 58 ff. 55 »Non enim unitas quae de deo dicitur est mathematica: sed est vera et viva omnia complicans. Nec trinitas est mathematica: sed vivaciter correlativa. [...] Unde de essentia perfectissimae vitae est: quod | sit perfectissime unitrina. Ut posse vivere sit adeo omnipotens: quod de se sui ipsius generet vitam [...]« Nico­ laus Cusanus, Dialogus de possest, in: Opera, Bd.I, fol. 175a-184a: fol. 181 a. 56 Vgl. z. B. ders., Idiota (Buch 3, Kap. 10), fol. 90 a f.

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ner Ideengehalt ist nunmehr lebendig geworden, und er ist es, der jetzt vielmehr der Lehre vom Sein ein neues Gepräge gibt. An die griechische Philosophie, an ihre Entwicklung des Gegensat­ zes des »Einen und Vielen« knüpft Cusanus an. Den Gehalt der anti­ ken Spekulation über dieses Problem hat Platon im »Philebos« in klassischer Weise zusammengefaßt. Das ist ihm die Grundfrage, ob man solche Einheiten wie den Menschen selbst, das Rind selbst, das Schöne selbst, das Gute selbst als wahrhaft seiend anzunehmen hat: sodann aber, wie es möglich ist, daß sie, während sie doch stets mit sich selbst identisch bleiben und weder Entstehen noch Vergehen zulassen, sich dennoch in das Werdende und Unendliche auflösen und gleich­ sam zerteilen. »Denn das ist doch wohl das Unmöglichste, daß sie, als ein und dasselbe, zugleich in dem | Einen und in dem Vielen sind. Diese Einheit und Vielheit, nicht jene in den Sinnendingen, ist es, die zum Grund aller Schwierigkeiten wird, wenn man sie nicht zutreffend erklärt, dagegen zur Lösung jedes Zweifels, wenn sie richtig bestimmt wird.« Das Auseinandergehen in den Gegensatz und die Rückkehr zur Einheit also ist kein willkürlich aufgegriffenes Problem, sondern es stellt sich in ihm die grundlegende Eigentümlichkeit des logi­ schen Prozesses selbst dar: »Es wird niemals aufhören, noch stammt es etwa erst von heute, sondern es ist das unsterbliche, nie alternde Begegnis der Begriffe selbst in uns.« (»[...] των λόγων αυτών άΰ'άνατόν tl καί άγήρων πάΰος έν ήμιν.«)57 Wirklich ist auch innerhalb der scholastischen Philosophie das Interesse an die­ ser dialektischen Grundfrage nirgends erstorben, wenngleich ihr eigentlicher logischer Kern unter mannigfachen dogmatischen Hüllen sich verbirgt. Auch Cusanus erfaßt das Problem in dieser Begrenzung; die Schwierigkeit im Begriffe der Trinität, die Einheit der drei gött­ lichen Personen ist es, auf der sein Blick zunächst verweilt. Hier liegt sein innerer Zusammenhang mit dem Mittelalter; insbesondere mit Anselm und Scotus Eriugena. Aber je tiefer er sich in das Dog­ ma der Dreieinigkeit versenkt, um so mehr sieht er sich, zu seinem Verständnis und seiner Deutung, auf das Verhältnis hingewiesen, das 57 [Platon, Philebos 15bf. u. 15d (15bf.: »[...] δ όή πάντων άόυνατώτατον φαίνοιΤ αν, ταΰτδν καί εν άμα έν ένί τε καί πολλοίς γίγνεσΰαί. ταΰτ’ έστι. τα περί τα τοιαΰτα έν καί πολλά, άλλ’ ούκ εκείνα [...] άπάσης άπορίας αίτια,μη καλώς όμολογηΰέντα, καί ευπορίας αν αύ, καλώς.« 15 d: »Καί τούτο ούτε μή παύσηταίποτε ούτε ηρξατο νΰν, άλλ’ έστι το τοιοΰτον, ώς έμοί φαίνεται, τών λόγων αυτών άΰ'άνατόν τί καί άγήρων πάΰος έν ήμϊν.«') Cassirer zitiert Platon unter Angabe der Stephanus-Paginierung. Die Verifizierung sowie die Beifügung des orginalsprachlichen Textes erfolgt nach: Opera omnia uno volumine compre­ hensa, hrsg. v. Gottfried Stallbaum, Leipzig/London 1899.]

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Objekt und Funktion des Denkens

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in unserem Bewußtsein zwischen dem Intellekt, dem intelligiblen Gegenstand und ihrer Einheit im Akte der Erkenntnis besteht. So wird der Gehalt, der von der griechischen Philosophie her in die Glaubenslehre übergegangen war, wieder selbständig und flüssig gemacht. Aus der Begrenzung durch die theologischen Fragen ringt sich Cusanus wiederum zu dem allgemeingültigen Problem des »Logos in uns selbst« und zur Betrachtung seiner eigentümlichen und »ewigen Beschaffenheit« hindurch.

IV

Es ist ein weiter Weg von der »negativen Theologie«, wie sie sich in Cusanus’ ersten Schriften ausspricht, zu der Erkenntnislehre der spä­ teren Periode. Wenn dort das Absolute nur in der Verneinung unseres endlichen Wissens erreicht | werden konnte, so ist hier die Erkenntnis das vollendete Abbild und die prägnante Wiederholung des Göttli­ chen; wenn dort alle Kategorien des Denkens ausgelöscht und über­ schritten werden mußten, so finden wir jetzt in ihnen den festen Halt, der es uns ermöglicht, die höchste Wesenheit analogisch zu verstehen und uns deutlich zu machen. Die »Subjektivität« bedeutet nicht mehr den Gegenpol des absoluten Seins, sondern die Grundkraft, die uns zu seiner Betrachtung und Deutung befähigt. Das Gebiet des Denkens und das des Seins bleiben zwar ihrem Umfange nach verschieden, so daß sie niemals zu vollkommener Deckung zu bringen sind; den­ noch besteht zwischen ihnen inhaltlich eine durchgängige Harmo­ nie, der zufolge alle Verhältnisse des Seins sich im menschlichen Gei­ ste nach dessen eigenem Maßstabe projizieren und darstellen. Dennoch besteht auch zwischen diesen gegensätzlichen Aspekten des Gesamtsystems ein innerer Zusammenhang. Denn die Entspre­ chung des Geistes und der Wirklichkeit wird auch jetzt nicht in dem Sinne genommen, daß es sich hier um ein Abbilden, um eine Kopie des transzendenten Seins in irgendeinem Objekt des Bewußtseins handelt. Kein einzelner Begriff, kein festes Datum der Vorstellung oder des Denkens, sondern lediglich die Operationen und Tätig­ keiten des Intellekts, aus denen jene Einzelgebilde sich entwickeln, bilden den zutreffenden Vergleichspunkt. Von jedem bestimmten Inhalt des Bewußtseins streng gesondert und geschieden, spiegelt sich die höchste, schöpferische Ursache dennoch in der allgemeinen Funktion des Bewußtseins wider: Durch keine Bestimmtheit des Denkens zu erfassen, erweist sie dennoch ihren Zusammenhang mit der aktiven Einheit des Bestimmens. Wieder tritt hier als Bei­

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spiel das Mathematisch-Unendliche ein, das nur darum durch keine gegebene Einheit meßbar ist, weil es selbst das Prinzip alles Messens in sich darstellt.58 So dürfen wir denn auch, wenn wir nach einem Bilde für das göttliche | Sein verlangen, dieses nicht im Bereich des Sichtbaren, sondern lediglich im Akt des Sehens selbst suchen.59 Gott ist die reine, unumschränkte Tätigkeit des Sehens, die sich in keinem Einzelobjekt bindet; die Grundkraft des Erkennens, die sich in keinem ihrer Erzeugnisse begrenzt. In ihm ist der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem Prozeß des Erkennens und seinem Gegenstand aufgehoben: »Purissimus [...] intellectus, omne intelligibile intellectum esse facit: cum omne intelligibile in ipso intellectu sit intellectus ipse.«60 So verhält er sich zur Welt, wie das eine Licht zu den mannigfaltigen Farben, in deren jeder es als Voraussetzung enthalten ist, ohne doch jemals in irgendei­ ner von ihnen rein und ungebrochen aufzugehen.61 Unter den vielfa­ chen und wechselnden Namen, die Cusanus in immer erneuter Fortund Umbildung für das absolute Sein prägt, ist die Bezeichnung des »Nicht-Anderen«, die er in einer eigenen Schrift »De non aliud« ent­ wickelt und begründet, besonders charakteristisch. Der sprachliche Doppelsinn dient hier dazu, die zwiefache metaphysische Tendenz des Gottesbegriffs in einer einzigen Formel festzuhalten und auszu­ sprechen. »Non aliud«: das bedeutet einmal, daß das Absolute von den empirischen Inhalten nicht geschieden und getrennt, sondern eben dasjenige ist, was ihr inneres, immanentes Sein ausmacht; auf der anderen Seite aber soll darin zum Ausdruck kommen, daß die höch­ ste Einheit nicht als »Dieses« oder »Jenes«, nicht in der Art eines Ein­ zeldinges zu verstehen und zu bestimmen ist. »Gott ist in allem alles und doch nichts von allem« - in dieser Antinomie endet Cusanus’ Metaphysik.62 Aber der Widerstreit dieser beiden Thesen läßt sich lö­ sen und verstehen, wenn wir - wozu Cusanus selber den Weg weist63 den Satz wiederum | ins Gebiet des Bewußtseins wenden. Jeder Inhalt

58 Cusanus, Complementum theologicum (Kap. 11), fol. 98 b. 59 S. ders., De quaerendo deum (1445), in: Opera, Bd. I, fol. 197b-201 a: fol. 198 a. 60 Ders., De filiatione Dei, fol. 67 b. 61 S. ders., De apice theoriae, fol. 220 a. 62 Ders., De non aliud, S. 156ff.; vgl. bes. S. 159 [»[...] deumin omnibus omnia, licet omnium nihil.«]. 63 »Sicut [...] intellectus per intellectuale frigus omnia sensibiliter frigida intelligit sine mutatione sui sive frigefactione, ita ipsum non aliud per se ipsum sive non aliud omnia intellectualiter existentia | facit non alia quam id esse, quod sunt, sine sui vel mutatione vel alteritate.« A. a. O., S. 171.

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Der Begriff des Wertes

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des Bewußtseins setzt die ursprüngliche Form und Einheit des Bewußtseins voraus und kann ohne sie nicht entstehen oder gedacht werden; dennoch stellt sich diese Form niemals vollständig und erschöpfend in irgendeinem Inhalt dar, und alle Bilder und Begriffe, die wir von der Welt der Dinge her auf sie übertragen, bedeuten ihr gegenüber eine falsche und unzulässige Objektivierung. Nur weil er selbst der bestimmten, gegenständlichen Prägung, der besonderen »forma notionalis« entbehrt, hat der Intellekt die Kraft, sich allen ver­ schiedenen Gestalten zu assimilieren.64 Der »absolute Begriff« (con­ ceptus absolutus) ist die ideale Form alles dessen, was überhaupt zum Begriff gelangen kann:65 Aber es wäre in der Metaphysik wie in der Logik ein Grundfehler, diese ideelle Einheit in eine empirisch-dingli­ che zu verwandeln. Auch an diesem Punkt hat somit eine Scheidung, die in der Rich­ tung und ausgesprochenen Tendenz auf das Absolute durchgeführt wurde, mittelbar auf die Charakteristik des Geistes zurückgewirkt. Die vielseitige Berührung der beiden verschiedenen Problemstellun­ gen, die dennoch niemals zu einer vollständigen Ausgleichung zwi­ schen ihnen führt, zeigt sich am deutlichsten an der tiefen und origi­ nalen Untersuchung, die Cusanus über den Begriff und Ursprung des Wertes anstellt. Es ist eine Grundfrage der neueren Zeit, die er hier herausarbeitet und in den Mittelpunkt stellt. Wenn jedes Ding, sofern es ist, eben damit in sich selber ruht und vollendet ist, wenn sein Da­ sein somit zugleich einen bestimmten Grad der Vollkommenheit be­ zeichnet, welchen Wert hat alsdann das Auge des Geistes, das vermöge seiner Kraft den Wert aller Gegenstände erkennt und abgrenzt? Der Intellekt ist es, der den Wert alles Seins, des unendlichen und des end­ lichen, kraft seines Begriffs- und Unterscheidungsvermögens | be­ stimmt und festsetzt, der daher, nächst Gott, selber den höchsten Wert darstellt. Wenn wir von ihm absehen, wenn wir die messende Kraft der Vernunft aufgehoben denken, so ist jeder Schätzung und damit jedem Bestand des Wertes die Grundlage entzogen. Das ist der Vor­ zug und der Adel des Geistes, daß an ihm zugleich alle Schönheit und Vollendung des Universums hängt. Nur indem er die geistige Natur erschuf, vermochte Gott selber seinem Werke Wert zu verleihen.66 64 Cusanus, Idiota (Buch 3, Kap. 4), fol. 84 b. 65 »[...] absolutus conceptus aliud esse nequit quam idealis forma omnium quae concipi possunt: quae est omnium formabilium aequalitas.« A. a. O. (Buch 2), fol. 79 b. 66 Ders., De ludo globi (Buch 2), fol. 167 b, 168. - »Dum profunde consideras: intellectualis naturae valor, post valorem dei supremus est. Nam in eius vir­ tute: est dei et omnium valor notionaliter et discretive. Et quamvis

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Wenn indes der Intellekt der Quell und Ursprung jedes Urteils über die Dinge und ihre Vollkommenheit ist, so ist er dennoch - und hier wendet sich die Tendenz der Untersuchung - nicht der Grund ihrer Wesenheit. Er erschafft nicht das Material und den Grundstoff, aus dem die Werte sich bilden, sondern setzt es bei all seiner vergleichen­ den Schätzung als gegeben voraus. Wenn Gott der »Münzmeister« ist, der das Gold prägt und ihm das Zeichen seiner Geltung aufdrückt, so ist der menschliche Verstand nur der Wechsler, der die verschiedenen Geldsorten betrachtet, gegeneinander umsetzt und abwägt.67 Nicht die Kraft der Erzeugung, sondern lediglich die der Unterscheidung ist es, die er hierin betätigt. So ist es zuletzt dennoch nur geprägte Münze, die die menschliche Vernunft empfängt, die sie aber allerdings selb­ ständig auf ihre Echtheit zu prüfen und zu beglaubigen hat. Dieses Doppelverhältnis erhält eine neue Beleuchtung von einem andersartigen Problemzusammenhang. Die höchste | unbedingte Ein­ heit bildet, wie Cusanus ausführt, die Grundlage jeder Frage, die unsere Erkenntnis stellen kann. Wir können bestimmte Verhält­ nisse des Seins bestreiten, wir können zweifeln, ob ihm diese oder jene Beschaffenheit zukomme: Das Dasein als solches aber bildet die schlechthin notwendige Voraussetzung, von der alle Forschung ausgehen muß. Der Prozeß des Zweifelns und Untersuchens, das »posse quaerere«, ist ohne die absolute Existenz, das »posse ipsum«, nicht möglich, jede Frage über Gott trägt somit die Gewißheit der Existenz Gottes und damit den Keim ihrer Lösung in sich selbst.68 Als Beispiel für diesen grundlegenden Zusammenhang aber weist Cusa­ nus auf die Wissenschaft und ihr Verfahren zurück. Wer die Quadra­ tur des Zirkels sucht, der muß notwendig, noch ehe er sie durch die intellectus non det esse valori: tamen sine intellectu valor discerni etiam quia est, non potest. Semoto enim intellectu: non potest sciri an sit valor. Non existente virtute rationali et proportionativa: cessat aestimatio. Qua non existente: utique valor cessaret. In hoc apparet preciositas mentis: quoniam sine ipsa, omnia creata valore caruissent. Si igitur deus voluit opus suum debere aestimari aliquid valere: oportebat inter illa intellectualem creare naturam.« (fol. 168 a) 67 A. a. O., fol. 168. -Vgl. bes. fol. 168 b: »Est igitur intellectus ille nummus: qui et nummularius. Sicut deus illa moneta: quae et monetarius.« 68 Cusanus, De apice theoriae, fol. 220 b f.: »Nam cum posse ipsum omnis quaestio de potest praesupponat: nulla dubitatio moveri de ipso potest. Nulla enim ad ipsum pertingit. Qui enim quaereret an posse ipsum sit: statim dum advertit, videt quaestionem impertinentem, quando sine posse de ipso posse quaeri non posset. [...] Nihil igitur certius eo: quando dubium non potest nisi praesupponere ipsum.« - Vgl. bes. ders., De coniecturis (Buch 1, Kap. 7), fol. 44 a; Idiota (Buch 2), fol. 79 a.

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Die Frage als Prinzip der Gewißheit

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Tat und das Ergebnis der Forschung belegen kann, eine Gleichheit zwischen geradlinigen und krummlinigen Figuren als möglich vor­ aussetzen: der muß somit einen reinen allgemeinen Begriff der Größe und der Gleichheit in sich tragen, die er, entgegen allen widerstreiten­ den Indizien der Sinnlichkeit, festhält und zugrunde legt. »Und hier eröffnet sich uns die Lösung des Geheimnisses, daß nämlich der For­ schende das, was er sucht, voraussetzt und zugleich, sofern er es sucht, nicht voraussetzt. Denn wer immer zu wissen begehrt, setzt voraus, daß es eine Wissenschaft gibt, vermöge deren der Wissende zum Wis­ senden wird. Wer zweifelt, der wird dazu bestimmt und angestachelt von dem Gedanken einer unendlichen Erkenntnis, die alle mögliche Wahrheit enthält und in sich faßt.«69 Von neuem bewährt sich der Be­ griff der »docta ignorantia«: Im Bewußtsein des Nichtwissens enthüllt sich uns der unbedingte Maßstab und das positive Ideal des Wissens. »Was in jeder Frage vorausgesetzt wird, | das ist zugleich das Licht, das uns zu dem Gefragten hinleitet.«70 Aber dieses Licht strahlt jetzt nicht mehr schlechthin von dem unendlichen Sein, sondern von dem Begriff der unendlichen Erkenntnis, von der »scientia infi­ nita« als der supponierten Einheit alles Wissens aus. Und wir können bei Cusanus selbst die genaue Vermittlung aufzeigen, durch die sich dieser gedankliche Übergang vollzieht. Das Sein Gottes - so argu­ mentieren die »Predigten« - läßt sich niemals leugnen noch durch ir­ gendein Schlußverfahren erschüttern. Denn wer behauptet, daß Gott nicht existiert, der stellt doch ebendiese Behauptung als einen wahren Satz hin; er gibt somit jedenfalls zu, daß es eine Wahrheit gibt, daß es also auch eine unbedingte Notwendigkeit des Seins geben muß, die nichts weiter als ebenjene Wahrheit selbst ist und von der alles, was existiert, sein Dasein hat.71 Es ist leicht zu sehen, daß diese Form des Gottesbeweises, die in ihren Grundzügen bereits auf Augustin zurückgeht,72 nicht zwingend ist; aber es enthüllt sich in 69 Ders., Complementum theologicum (Kap. 4), fol. 95 a [»Et in hoc panditur secretum: quomodo inquirens praesupponit id quod inquirit, et non praesupponit quia inquirit. Supponit enim omnis scire quaerens, scientiam esse, per quam omnis sciens est sciens. Atque quod nihil est scibile: quin actu sciatur per scien­ tiam infinitam. Et quod scientia infinita: est veritas, aequalitas, et mensura omnis scientiae. Et quod solum per illam scitur: omne quod scitur.«]. 70 »[...] id quod in omni inquisitione praesupponitur, est ipsum lumen, quod etiam ducit ad inquisitum.« Ebd. 71 Nicolaus Cusanus, Excitationum libri decem (Buch 7), in: Opera, Bd. II/l, fol. 7 b-189 b: fol. 121 a. 72 »Omnis qui se dubitantem intelligit, verum intelligit, et de hac re quam in­ telligit certus est: de vero igitur certus est. Omnis igitur qui utrum sit veritas dubitat, in seipso habet verum unde non dubitet; nec ullum verum nisi veritate

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ihr ein charakteristisches Motiv der inneren Entwicklungsgeschichte des Systems. Cusanus glaubt, die Existenz Gottes erwiesen zu haben, und hat doch nur den Begriff der Wahrheit erhärtet; er glaubt, eine unerschütterliche absolute Existenz gegründet zu haben, und hat in Wirklichkeit bewiesen, daß jede Frage der Erkenntnis eine innere Gewißheit in sich birgt. In der Schrift »De visione Dei«, in der Cusanus die Grundan­ schauung seiner »mystischen Theologie« entwickelt, wird wieder­ um das göttliche Sein als der absolute Akt des | Sehens bestimmt und beschrieben. Die Art aber, in der diese unbedingte Tätigkeit sich in konkreter Form offenbart, hängt von dem Blick ab, den das einzelne endliche Subjekt auf sie richtet. Das Auge sieht, indem es sich dem Göttlichen zuwendet, in ihm nichts anderes als sich selbst und seine eigene Wahrheit. So stellt sich dem Zornigen Gottes Bild zornig, dem Frohen freudig dar; so blickt Gott den Jüngling mit der Art und Miene des Jünglings, den Greis mit dem Antlitz des Greises an.73 Das unbedingte Sein strahlt uns das eigene Wesen, das wir in den endlichen Objekten nur geteilt und beschränkt wiedererblicken, rein und vollständig zurück: Das Absolute ist in der Art, wie es sich uns dar­ stellt, zugleich das Subjektivste. Kein Wesen kann über die Schranken seiner Gattung hinausgehen, aller geschichtliche Fortschritt der Menschheit ist nur die immer bestimmtere und klarere Entfaltung dessen, was im menschlichen Geiste implizit enthalten und vorge­ zeichnet ist.74 Wenn das Mittelalter das Ziel alles Wissens in ein jen­ seitiges Sein verlegte, so reift hier die Erkenntnis, daß es nur der imma­ nente Gehalt des Bewußtseins der Menschheit ist, der im Fortgang der Geistesgeschichte zur Klarheit aufstrebt. Die neuere Philosophie beginnt damit, daß sie diesen allgemeinen Gedanken, der für die Spe­ kulation des Nicolaus Cusanus einen Grenzpunkt bildet, an die Spitze stellt und ihn in mannigfachen Richtungen und Tendenzen zur Aus­ führung bringt.

verum est. Non itaque oportet eum de veritate dubitare, qui potuit undecumque dubitare.« Augustinus, De vera religione (Kap.39), Sp. 154 f. Zur Gleichsetzung des Wahrheitsbegriffs mit dem Gottesbegriff bei Augustin s. De libero arbi­ trio libri III (Buch 2, Kap. 12ff.), in: Opera omnia, Bd.I, Sp. 1221-1310: Sp. 1259 ff. 73 Cusanus, De visione Dei (Kap. 6), fol. 101b. 74 Über den Geschichtsbegriff des Cusanus s. Falckenberg, Philosophie des Nicolaus Cusanus, S. 59 ff.

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Dialektik und Naturphilosophie

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Die nächste geschichtliche Wirkung, die die Erkenntnislehre des Nico­ laus Cusanus ausübte, und die Art, in der sie sich im Bewußtsein der Zeitgenossen spiegelte, stellt sich uns am deutlichsten in den Schriften eines Mannes dar, der nach den ersten Voraussetzungen seiner Philo­ sophie noch völlig in der Scholastik wurzelt, der aber zugleich als Mathematiker und Physiker eine Erneuerung des empirischen Welt­ bildes anstrebt und damit die Naturanschauung der Renais­ sance in wichtigen Hauptzügen vorbereitet. | Carolus Bovillus hat die erste Anregung zu seinem logischen und naturphilosophischen System durch die persönliche Lehre des Faber Stapulensis erhal­ ten, der ein eifriger Anhänger des Aristoteles, zugleich aber einer der ersten Schüler Cusas und der Herausgeber seiner Schriften war. Die Doppelrichtung, die seinem Denken damit gegeben war, ist hierdurch bereits bezeichnet; denn während er auf der einen Seite an der Aristo­ telischen Auffassung des Intellekts festhält und sie seiner Erkenntnis­ lehre zugrunde legt, sucht er andrerseits die herkömmliche Logik durch das tiefere Prinzip der »Koinzidenz der Gegensätze« zu er­ gänzen und zu befruchten. Als das Ziel der wahren Denklehre gilt ihm eine »ars oppositorum«, die die Beziehung der gegensätzlichen Momente, ihr Verhältnis und ihr schließliches Zusammenfallen zur Darstellung bringen soll. Alle Widersprüche, die die Natur der Dinge uns darzubieten scheint, müssen zuletzt aus einem ursprünglichen und einheitlichen Akt der Entgegensetzung abgeleitet werden, den es in unserem Geiste zu entdecken und festzustellen gilt. Nicht die an sich bestehenden Gegenstände, sondern die Bilder in unserem Verstände sind es, bei denen von wahrhafter Gegensätzlichkeit gespro­ chen werden kann. Hier aber erweist sich der Widerstreit alsbald als ein nicht lediglich verneinendes und aufhebendes Prinzip, sondern als ein selbständiger Keim und unentbehrlicher Anfang. Der Begriff des Nichts, der seinem Seinsgehalt nach das Unfruchtbarste ist, wird zum fruchtbarsten Ursprung, wenn man ihn seinem Erkenntnis gehalt nach betrachtet. Denn da das Denken bei ihm als einem schlechthin Ein­ zelnen nicht stehenzubleiben vermag, da es das »Nichts« stets nur in der Absonderung und Unterscheidung von »Etwas« aufzufassen ver­ mag, so wird es von hier aus zu immer neuen Setzungen gedrängt und in eine fortdauernde Bewegung hineingezogen, die erst im Gedanken des allumfassenden, absoluten Seins ihr Ziel und ihren Ruhepunkt findet.75 So sehen wir, | wie das neue Motiv, das wir im 75 S. die Schriften: »Ars oppositorum« und »De nichilo«: Carolus Bovillus, Ars oppositorum (Kap. 12) u. De nichilo (Kap. 8 u. 10), in: Que hoc volumine continentur: Liber de intellectu. Liber de sensu. Liber de nichilo. Ars opposi-

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Carolus Bovillus

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Begriff der »docta ignorantia« erkannten, hier weiterwirkt: Das Sein des echten Begriffes wird in seinem Werden, in den intellektuellen Betätigungen und Operationen, die er voraussetzt, gegründet. Und wie hier Merkmale und Verhältnisse, die wir der äußeren Wirklichkeit zuzusprechen gewohnt sind, auf Bestimmungen des Denkens zurück­ geleitet werden, so ruht allgemein die Naturauffassung und -erklärung auf der durchgehenden Übereinstimmung, die zwischen Ich und Welt angenommen wird. Der Satz der Identität von Mikrokosmos und Makrokosmos, der von Cusanus nur gestreift wird, erhält hier zuerst die bestimmtere Gestalt und Prägung, in der er uns später vor allem bei Paracelsus begegnen wird. Das Ich ist der »Spiegel des Alls«, der alle Strahlen, die von diesem ausgehen, in sich versammelt. Alle Kräfte, die sich im Universum zerstreut finden, durchdringen sich in ihm zur lebendigen Einheit und finden in ihm ihren gemeinsamen Mit­ telpunkt. Die harmonische Entsprechung zwischen den Fähigkeiten und Vermögen der Seele und denen der äußeren Natur wird bis ins einzelne durchgeführt: In den psychologischen Grundkräften des Lebens, der Sinnesempfindung, der Einbildungskraft und der Ver­ nunft, findet Bovillus die Nachahmung der verschiedenen Teile des Kosmos und ihrer gesetzlichen Struktur wieder. Die Stellung des Men­ schen im Zentrum der Welt, die für Bovillus noch als zweifellose Grundtatsache feststeht, wird damit begründet, daß er das Herz und die Seele des Alls ist, in der das allgemeine Lebensprinzip zu deut­ lichster Zusammenfassung und Erscheinung gelangt. In phantasti­ schen Analogien wird der Vergleich des Universums mit einem Lebe­ wesen entwickelt und ausgedeutet. Was im Tiere die äußere Substanz, das ist in der Welt die Sonne; die Bilder der Einbildungskraft entspre­ chen den Gestirnen, wie der innere Sinn dem Firmament entspricht. In dem periodischen Wechsel von Tag und Nacht stellt sich uns der Schlaf und das Wachen des Alls dar.76 Wir berühren diese seltsamen | Gedankenspiele nur wegen des geschichtlichen Interesses, das sie dar­ bieten: Es ist die Grundanschauung der Naturphilosophie der Renaissance, die sich hier ankündigt und vorbereitet. torum. Liber de generatione. Liber de sapiente. Liber de duodecim numeris. Epi­ stole complures. Insuper mathematicum opus quadripartium. De numeris per­ fectis. De mathematicis rosis. De geometricis corporibus. De geometricis supplementis, Paris 1510, fol. 77b-96b: fol. 89 a ff.; fol. 63b-77a: fol. 70bff. u. fol. 67a-74b. 76 Näheres hierüber bei Joseph Dippel, Versuch einer systematischen Darstel­ lung der Philosophie des Carolus Bovillus nebst einem kurzen Lebensabrisse. Ein Beitrag zur Geschichte der Philosophie des 16. Jahrhunderts, Diss., Würzburg 1865, S. 172 ff., 177 ff.

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Der Formbegriff und die Theorie der »Spezies

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Die Erkenntnislehre des Bovillus ruht auf den Voraussetzun­ gen der Aristotelischen Psychologie, die für das gesamte Denken des Mittelalters, in so mannigfachen Richtungen es sich entwickelt hatte, maßgebend und herrschend geblieben waren. Die Dinge besitzen ein äußeres selbstgenügsames Dasein: Für die Erkenntnis kann es sich nur noch darum handeln, sich diese Existenz in allen ihren Teilen nachbil­ dend anzueignen. Alle denkende Tätigkeit bedeutet nur eine Auf­ nahme und eine Wiedergabe von Bestimmungen, die an und für sich in ursprünglicherer Weise in der Welt der Wirklichkeit vorhanden sind. Gestalt und Bewegung, Farbe und Ton, die räumliche Ordnung des Beisammen wie die zeitliche des Nacheinander: all dies sind feste und fertige Eigentümlichkeiten der Objekte selbst, die Aufgabe besteht lediglich darin, den Weg zu weisen, auf dem die Verwand­ lung dieser dinglichen Beschaffenheiten in geistige vor sich geht. Ein Problem, das freilich zunächst unlösbar scheint; denn von der Materie zum Denken, von der absoluten Existenz zum Bewußtsein scheint es keinen begrifflichen Übergang zu geben. An diesem Punkte tritt indes die metaphysische Grundunterscheidung, die das Aristotelische System beherrscht, die Entgegensetzung von Potenz und Akt, von neuem in Kraft. Wie die Gegenstände in den Geist hinübergeschafft werden, das begreifen wir, indem wir erwägen, daß es nicht ihre volle Wirklichkeit, sondern lediglich ihre »Form« ist, die die Seele in sich aufnimmt. Die Dinge selbst vereinen in sich, sofern sie aus Materie und Form zusammengesetzt sind, einen stoffli­ chen und einen intelligiblen Faktor: Dem Denken bleibt keine andere Leistung und keine andere Schwierigkeit, als diese Zusammensetzung aufzulösen und den einen Bestandteil aus ihr rein zurückzugewinnen. »Dies muß also von jeder Sinneswahrnehmung gesagt werden, daß sie die sinnlichen Formen (είδη) ohne den Stoff aufnimmt, wie das Wachs das Zeichen | des Siegelringes ohne das Gold oder Eisen in sich auf­ nimmt. Denn es empfängt es als goldenes oder eisernes Zeichen, nicht aber, sofern es Gold oder Eisen ist. Auf ähnliche Weise leidet auch die Wahrnehmung durch den Eindruck alles dessen, was Farbe oder Ton oder Geschmack besitzt, aber sie erfaßt all dies nicht in seiner konkreten unmittelbaren Beschaffenheit, sondern sofern es eine bestimmte, allgemeine Gestalt in sich verkörpert (άλλ’ ονχ η έκαστον εκείνων λέγεται, άλλ’ η τοιονδί, και κατά τον λόγον).«77

77 [Aristoteles, De anima (Buch 2, Abschn. 12) 424 a, Z. 17 ff.: »Καΰόλου δέ περί πάσης αίσΰήσεως δεϊ λαβεϊν δτι ή μεν αϊσϋησίς έστι τό δεκτικόν των αισϋητών είδών άνευ τής ύλης, οίον ό κηρός τον δακτυλίου άνευ τοΰ σιδήρου και τοΰ χρυσού δέχεται τό σημεϊον, λαμβάνει δέ τό χρυσοΰν ή τό χαλκοΰν

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Carolus Bovillus

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Somit sind es, wie die Scholastik diesen Aristotelischen Gedanken ausspricht, nicht die Dinge, sondern ihre stofflosen »Spezies«, die in das Denken aufgenommen werden. Der Begriff der Spezies selbst aber wird hierbei in einer doppelten Bedeutung gefaßt - und ebendies ist es, was ihn befähigt, der Mittler zwischen der äußeren und inneren Welt zu werden: Denn er bezeichnet ebensowohl den formellen Sach­ gehalt des Dinges wie das sinnliche oder gedankliche Bild, das wir von ihm gewinnen und an das alle weitere logische Bearbeitung anknüp­ fen muß. Näher bestimmt wird diese allgemeine Grundanschauung bei Bovillus dadurch, daß er sie vom Standpunkt des scholastischen Realismus aus betrachtet und weiterführt. Seine Lehre vollzieht von Anfang an eine strenge Trennung zwischen dem Sein, das dem Begriff »an sich« zukommt, und zwischen der besonderen Fassung, die die­ ses Sein in unserem begrenzten und abhängigen Verstände besitzt. Wenn es dem »Intellekt der Engel« gegeben ist, die Begriffe und Wesenheiten in ihrem reinen unbeweglichen Sein zu erfassen, so ist der menschliche dazu verurteilt, sie durch ein fremdes Medium und vermöge eines stetigen Werdens zu erblicken. Wie er seiner Natur nach mit der Materie verbunden ist, so vermag auch sein Denken nur von sinnlichen Empfindungen seinen Ausgang zu nehmen und bleibt bis in seine höchsten Leistungen von dieser Vermittlung abhängig. Diese Bedingtheit ist der Ausdruck seiner angeborenen Unwissenheit und der natürlichen Untätigkeit, in der er ohne fremde Beihilfe ver­ harren müßte. Daß der menschliche Verstand die Erkenntnis aus sich selbst und seinem eigenen Gehalt schöpfen könnte, ist unmöglich; er ist nichts anderes als eine bloße Potenz, die erst durch | einen von außen kommenden Akt vollendet und erfüllt werden kann.78 Wenn für den »intellectus angelicus« Sein und Wissen zusammenfal­ len und eine unmittelbare Einheit bilden, so bleiben sie für den σημείον, άλλ’ ούχ η χρυσός η χαλκός, ομοίως δε και ή αϊσϋησις έκάστου υπό του έχοντος χρώμα η χυμόν: ψόφον πάσχει, άλλ’ ούχ η έκαστον εκείνων λέγεται, άλλ’ ητοιονδί, και κατά τον λόγον.« Vgl. auch unten, S. 529. Cassirer zitiert Aristoteles unter Angabe der Bekker-Paginierung. Die Verifizierung sowie die Beifügung des originalsprachlichen Textes erfolgt nach: Aristoteles, Opera, durchges. v. Immanuel Bekker, hrsg. v. der Preußischen Akademie der Wissen­ schaften, 5 Bde., Berlin 1831-1870.] 78 Carolus Bovillus, De intellectu (Kap. 2, Abschn. 3), in: Liber de intellectu et al., fol. 3 b-20 b: fol. 5 a: »Humanus intellectus ut coniunctus est materiei: ita et per speciem intelligit. [...] Impossibile enim est humanum intellectum: e continenti et ex semet ipso, nosse universa. Sed per omnium species, omnia fit. Est enim omnium potentia. Potentia autem perfici et impleri nequit, nisi ab adventante actu.« (Die Schrift: »De intellectu« ist zuerst gemeinsam mit anderen Werken des Bovillus in Paris im Jahre 1510 erschienen [vgl. oben, S. 51, Anm. 75].)

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Intellekt und Gedächtnis

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»intellectus humanus« dauernd getrennt, wenn jener die Begriffe als die ewigen Urbilder erfaßt, die vor dem Sein der Dinge vorausgehen, so vermag dieser nur ein Nachbild des gegebenen Seins zu gewinnen. Die Stufenfolge der Schöpfung geht daher vom »englischen Ver­ stände« zu den konkreten Naturdingen und von diesen zum mensch­ lichen Geiste fort: »[...] in angelico intellectu sunt omnia ante esse: in seipsis, in esse, in humano post esse.« Und zwar besitzen die Gegen­ stände im Verstände der Engel ein reines intellektuelles Sein, in ihrer eigenen Existenz ein sinnliches und natürliches Sein, während sie im menschlichen Denken ein abgeleitetes, rationales Sein gewinnen.79 »Jedes Objekt ist der Zeit nach früher als die Erkenntniskraft, die ihm entspricht: Die Welt aber, die der Ort aller Dinge ist, ist das natürliche Objekt des menschlichen Verstandes. So wird die Gesamtheit aller Dinge, die sich in ihr befinden, dem Verstand von Natur durch die Sinne bekanntgemacht, dargestellt und entgegengebracht, damit er von ihnen lerne und selbst zu ihnen werde.«80 Der Satz, daß nichts im Verstände ist, was nicht zuvor in den Sinnen ge | wesen wäre, gilt somit zweifellos und unbeschränkt unter den Bedingungen unserer Er­ kenntnis, wenngleich er sich, wie wir sahen, in sein Gegenteil ver­ kehrt, wenn man die absolute Erkenntnisweise der höheren geistigen Substanzen zugrunde legt.81 Die Aufgabe der Erkenntnislehre ist es, den Wandel, den das unmittelbare Sein des Gegenstandes durch seine Aufnahme in den Intellekt erfährt, in seinen Einzelphasen zu verfol­ gen, die Umformung der sinnlichen in die »intelligiblen Spezies« zu beschreiben. »Die Bilder der Dinge, wie sie in der Welt von den Ge­ genständen entstehen, sind noch nicht intellektuell, sondern sinnlich und werden zunächst nur in die Sinne aufgenommen. Denn alles, was in der Welt existiert, ist eine sinnliche Substanz; wie aber die Substanz, so ist auch ihre Spezies und ihr natürliches Bild beschaffen. Von den sinnlichen Substanzen der Welt gehen somit keine anderen als sinn­ liche Spezies aus und bewegen sich zu uns hin. Hier werden sie 79 A.a.O. (Abschn. 9), fol.6a-vgl. bes. a. a. O. (Kap.6, Abschn. 7), fol. 10b: »Deus antequam fierent omnia: ea concepit in angelico intellectu. Deinde omnia protulit et fecit. Postremo ea in humano intellectu descripsit.« 80 A.a.O. (Kap.7, Abschn.4), fol. lia [»Obiectum omne, tempore prius est: cognitiva sui potestate. Est enim obiectum actus, et in actu subsistens: quod potentia fieri potest et futura est. Mundus autem qui locus est omnium: est humani intellectus naturale obiectum. Et universa que sunt in mundo humano intellectui per sensus natura innotescunt, presentantur, obiiciuntur: ut ab eis ediscat et fiat omnia.«]. 81 A. a. O. (Kap.9, Abschn. 3), fol. 13 a: »Nichil est in sensu: quin prius fuerit in intellectu. Et nichil est in intellectu: quin prius fuerit in sensu. Prima vera est propter angelicum intellectum: secunda propter humanum.«

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zunächst in die Sinne aufgenommen, bis der Verstand, der sich hinter den menschlichen Eindrücken versteckt, sie zu intellektuellen Spezies umbildet, die er durch Läuterung der Wahrnehmung oder durch rationale Vermutungen hervorlockt, gewinnt und abstrahiert.«82 Die »Formen« der Dinge verändern also ihre Natur, wenn sie aus der »großen Welt« in die kleine eintreten. Das tatsächliche stoffliche Dasein, das ihnen dort eignet, müssen sie aufgeben, um in den Bereich des Verstandes Einlaß zu gewinnen; die sinnliche Bestimmtheit und Konkretion, durch die sie ausgezeichnet sind, vermögen sie nur »bis an die Tore des Geistes« zu bewahren. Haben sie den Eingang der Seele einmal überschritten, so werden sie vom Intellekt alsbald dem Gedächtnis überliefert, das sie, als einen festen Besitz, jedoch in einer neuen Daseinsweise, bewahrt.83 Diese Um|bildung geht indes strenggenommen weder im Sinn noch im Intellekt als solchem vor sich, sondern ist ein Werk der Einbildungskraft, die, als ein Mitt­ leres zwischen beiden Vermögen, an ihrer beiderseitigen Natur Anteil hat.84 Die weitere Untersuchung ist vor allem darauf gerichtet, diese verschiedenen seelischen Grundkräfte zu unterscheiden und ihre Wirksamkeit gegeneinander abzugrenzen. Der »Verstand« erscheint hierbei immer mehr als ein bloßer Durchgangspunkt, als eine lediglich vermittelnde Potenz, vermöge deren die äußere Wirklichkeit in den »inneren Sinn« übergeführt wird: »Intellectuales species, per quas homo omnia fit: ortum habent in mundo, transitum per humanum intellectum, finem et statum in memoria.«85 Das Gedächtnis ist in Wahrheit der echte Mikrokosmos, der das gesamte Sein der Außendinge in sich aufnimmt und widerspiegelt: eine Auffassung, für die sich Bovillus auf - Platons άνάμνησι,ζ beru­ fen zu dürfen glaubt. Jede Spezies wird, sobald sie einmal vom Intel­ lekt erfaßt worden ist, alsbald dieser allgemeinen Vorratskammer zugeführt und muß, um wiederum zu Bewußtsein zu gelangen, aus

82 A. a. O. (Kap. 8, Abschn. 8), fol. 12 b: »Mutat [...] ipsa species suam originem primamque naturam exuit: cum ex maiore mundo minorem mundum subit. In utroque enim mundo eiusdem | nature esse nequit. In maiore quippe mundo: ipsa species, sensibilem sortita est naturam. In minore autem mundo, in naturam se intelligibilem convertit. Toto etenim spacio quo ab suo ipsius fonte et minore [Cassirer: maiore statt minore] mundo fertur adusque: hominis sensum: naturam servat sensibilem. Toto vero reliquo intervallo, quo lares subiens animi, ab intellectu fertur ad memoriam et stat manetque in memo­ ria: intelligibilis vocatur.« 83 A. a. O. (Abschn. 6), fol. 12 a. 84 A. a. O. (Abschn. 9), fol. 12 b. 85 A. a. O. (Abschn. 4), fol. 12 a.

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Der Widerspruch im Aristotelischen Substanzbegriff

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ihm hervorgeholt und dem Verstände dargeboten werden.86 Alle »Kontemplation« und alle Selbstbetätigung des Geistes muß aus dem Schatze schöpfen, der hier ein für allemal aufgespeichert ist. Die Pas­ sivität des menschlichen Verstandes stammt nicht sowohl aus seiner eigenen Natur als von diesem seinem notwendigen Zusammenhänge mit dem Gedächtnis her. Wie das Auge das Bild, das es erblickt, nicht in sich selbst, sondern im Spiegel sieht, so bedarf der Intellekt, in allen Erwägungen und Schlußfol | gerungen, gleichsam ein von ihm selbst verschiedenes, wenngleich ebenfalls seelisches Substrat, in dem die intelligiblen Formen der Dinge aufbehalten und dargereicht werden.87 Was an dieser Lehre zunächst auffällt, das ist das eigentümliche und friedliche Nebeneinander eines strengen logischen Realismus und einer rein sensualistischen Psychologie des Erkennens. In beiden Punkten steht Bovillus in einem lehrreichen Gegensatz zu Nicolaus Cusanus: Während dieser vom reinen Intellekt und seiner Eigenart ausgeht, die selbständige Existenz des Allgemeinen aber bestreitet, muß er, dem die Wahrnehmung der letzte und einzige Ursprung alles Wissens ist, den Begriff zu einer losgelösten Wesenheit umdeuten. Die Paradoxie, die hierin liegt, löst sich, wenn man tiefer in die geschichtlichen Vorbedingungen seiner Lehre eindringt. Die beiden Momente, die zunächst als gegensätzlich erscheinen, erweisen sich sodann als korrelative und zusammengehörige Teilausdrücke dersel­ ben philosophischen Grundansicht. Es ist der Widerspruch im Ari­ stotelischen Substanzbegriff, der hier in besonders deutlicher Weise zutage tritt. Wenn auf der einen Seite das Einzelding die wahre Substanz bedeutet, wenn somit der Sinn, der das Wirkliche in seiner durchgängigen Bestimmtheit erfaßt, uns zugleich sein vollstän­ diges letztes Sein zu enthüllen scheint, so wird auf der anderen Seite der Erkenntnis die Aufgabe gestellt, von den mannigfachen zufälligen Bestimmungen und Akzidenzien, mit denen die Wahrnehmung be­ haftet bleibt, abzusehen, um zu den »reinen allgemeinen Formen« als der inneren substantiellen Wesenheit der Dinge vorzudringen. Der Speziesbegriff, der aus dem Aristotelischen Formbegriff fließt, ist daher von Anfang an mit einer inneren Zweideutigkeit behaftet, die die endlosen und verwickelten logischen Kämpfe der Scholastik erklärt. Die Ontologie kann den Begriff des Allgemeinen nicht ent­ behren, während die Psychologie des Erkennens ihm keine vollkom­ mene Rechtfertigung zu bieten vermag, die daher zuletzt, wie | im System des Bovillus, im - »Verstände der Engel« gesucht werden muß. 86 A. a. O. (Kap. 7, Abschn. 9 u. 10), fol. 11b. 87 A. a. O. (Kap. 6, Abschn. 4), fol. 10 a.

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Wenn indes die allgemeine Grundlegung der Erkenntnis hier noch überall auf mittelalterliche Vorbilder zurückgeht, so zeigt doch die Durchführung an einzelnen Stellen charakteristische neue Züge, die das herkömmliche Schema durchbrechen und die Nachwir­ kung der Cusanischen Gedanken bekunden. Während es zunächst als der ursprüngliche innere Mangel des menschlichen Intellekts er­ scheint, daß er sich den Wesenheiten, die den höheren geistigen Natu­ ren als fertiger und unbeweglicher Besitz gegeben sind, nur allmählich und vermöge einer fortschreitenden Bewegung des Denkens anzunähern vermag, so wandelt sich allmählich die Schätzung und Wertbetrachtung. Das Werden des Geistes, die Tätigkeit, durch wel­ che er die »Formen«, die er potentiell in sich trägt, in die Wirklichkeit des Gedankens überführt, gilt jetzt als die auszeichnende Eigentüm­ lichkeit, die ihn - über alle anderen Mittel- und Zwischenstufen hin­ weg - unmittelbar der göttlichen Natur nähert. Wie der göttliche Geist der Schöpfer aller substantiellen Formen, so ist der mensch­ liche der Bildner und Werkmeister aller seiner Begriffe und Gedanken.88 So gewinnt er, der sich zunächst dem äußeren Eindruck gegenüber rein aufnehmend verhalten sollte, das Bewußtsein und die Kraft der Selbsttätigkeit zurück. Nicht seine eigene Natur, son­ dern die Bedingtheit, in die ihn das Gedächtnis verstrickt, ist, wie wir sahen, der Grund seines passiven Verhaltens im menschli­ chen Erkenntnisprozeß. An sich dagegen bleibt er von dieser Ein­ schränkung unberührt: »Omnis intellectus, ut huiusmodi: apathes idest impassibilis | est.«89 Dieser allgemeine Grundsatz wird auch hier, wie bei Cusanus, allmählich für die Erkenntnis innerhalb der Erfahrung und der Sinnenwelt fruchtbar gemacht. Wie der »äußere Sinn« den inneren bewegt und anreizt, so muß andererseits, damit Erkenntnis zustande kommt, eine Bewegung in entgegengesetzter Richtung dem Eindruck der Objekte entgegenkommen. Der Intellekt selbst ist es, der, um zu seiner Vollendung und Reife zu gelangen, die Sinne herbeiruft, erregt und antreibt und der sie damit zu­ erst befähigt, das Bild des äußeren Seins in sich aufzunehmen. So beweist er sich zugleich als Triebkraft und als Endziel alles Erken­ 88 A. a. O. (Kap. 5, Abschn. 7), fol. 9 b: »Unde iterum manifestum est humane menti nullam a natura inesse speciem: sed eam ad divine mentis similitu­ dinem, universarum suarum notionum esse opificem. Sicut enim divina illa substantialis mens: cunctarum opifex est substantialium notionum et conceptionum universe nature, quos angelos nuncupamus: ita et humana mens, opifex est universarum que ipsi insunt notionum. Et antea subsistit: quam sit ulla ipsius notio et conceptio.« Vgl. Nicolaus Cusanus: oben, S. 29, Anm. 27. 89 Bovillus, De intellectu (Kap. 6, Abschn. 4), fol. 10 a.

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Makrokosmos und Mikrokosmos

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nens.90 »Da die große Welt in ihrer Gesamtheit nur um der kleinen wil­ len besteht, so ist sie ihr beständig gegenwärtig, geht in sie ein und schließt sich mit ihr, wie das Mittel mit dem Zweck, zusammen. Denn alles Streben der großen Welt zielt darauf ab, geraden Weges in die kleine einzuströmen und sie kraft der Bilder, die sie in ihr erzeugt, mit ihrer ganzen Substanz zu erfüllen. Denn der großen Welt wohnt keine Kraft inne, vermöge deren sie sich zurückwenden, in sich selber umkehren, sich gegenwärtig sein und sich anschauen könnte, da sie nicht als Selbstzweck, sondern um eines anderen willen besteht, dem sie sich ganz hingibt und einpflanzt. Die kleinere Welt dagegen ist vermöge einer Art von äußerem Sinn der größeren stets gegenwärtig und vermag sie, indem sie aus sich selbst heraustritt, zu erhellen und zu durchleuchten. Indem sie sodann aber kraft des inneren Sinnes wieder auf sich zurückgeht, ist sie, unbeküm­ mert um die Welt draußen, sich selbst gegenwärtig und spiegelt das Universum, vermöge der Bilder, die sie von ihm bewahrt hat, in ihrem eigenen Sein zurück.«91 Die beiden Wege, die Cusanus scharf unter­ schieden hatte: der Weg von den Dingen zu den Vernunftbegriffen, die indes bloße »Konjekturen« bleiben müssen, und der andere von den ursprünglichen und notwendigen Prinzipien der Erkenntnis zu den komplexen | Folgerungen, treten uns somit auch hier entgegen; während indes bei Cusanus zwischen ihnen ein festes logisches Ver­ hältnis und eine feste Wertordnung stattfand, bleibt es jetzt bei einem bloßen Nebeneinander. Die beiden Zweige und Richtungen des Den­ kens, die damit entstehen, lassen sich fortan auch geschichtlich geson­ dert verfolgen: Während der erste Ansatz vor allem in der Erkennt­ nislehre des Tel es io und der italienischen Naturphilosophie weitergeführt wird, hat erst die moderne Mathematik und Na­ turwissenschaft die zweite, tiefere Grundtendenz begriffen und wiedergewonnen. |

90 S. ders., Liber de sensu (Kap. 2, Abschn. 5), in: Liber de intellectu et al., fol. 22b-60b: fol 24 a. S.oben, S. 25 ff. 91 A. a. O. (Kap.l, Abschn. 5), fol. 22 b f. [»Maior mundus adest soli minori non sibiipsi: minor vero et maiori adest et sibiipsi. Id alicui adest: quod ei iungitur atque inferitur. Maior autem mundus, cum totus propter minorem esse dictus sit: adest totus minori, transfertur, transitque in minorem: et ut principium in finem, illi iungitur, inferiturque. Omnis enim maioris mundi intentio est: ut sese recta in illum infundat, eumque omni sua substantia specierum virtute impleat. Porro nulla maiori mundo inest virtus: qua reciprocari reverti in seipsum, sibiipsi adesse, seque intueri possit. Ut qui haudquaquam propter se, sed propter alium factus, illi se totum insinuet. Minor vero mundus exteriore quidem sensu maiori

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60 ZWEITES KAPITEL.

Der Humanismus und der Kampf der Platonischen

und Aristotelischen Philosophie Der unvergleichliche Reiz, den die kulturgeschichtliche Betrachtung der italienischen Renaissance immer von neuem darbietet, be­ ruht auf der Einheit und durchgehenden Übereinstimmung, die hier zwischen der innerlichen gedanklichen Entwicklung und zwischen den mannigfachen Formen und Gestaltungen des äußeren Lebens besteht. Der neue Inhalt erschafft sich alsbald die eigene, ihm ange­ messene Form und stellt sich in sichtbaren, festen Umrissen nach außen hin dar. Die geistigen Bewegungen bleiben nicht abstrakt und losgelöst, sie greifen überall unmittelbar in die Wirklichkeit über und durch­ dringen sie bis in ihre letzten und scheinbar entlegensten Betätigun­ gen. Im Mittelalter sind die verschiedenen Richtungen des geistigen Schaffens, sind Wissenschaft und Kunst, Metaphysik und Geschichte zwar geeint, zugleich aber durch die gemeinsame und ausschließliche Beziehung auf das religiöse Interesse gebunden. Jetzt treten sie geson­ dert und selbständig hervor und gewinnen ihr eigenes Fundament und ihren eigenen Mittelpunkt. Das Eigentümliche aber besteht darin, daß all diese Gebilde, so unabhängig sie ihrem Ursprung nach sind, sich dennoch von neuem zur Einheit eines gemeinsamen Zieles zusam­ menschließen. Die Ergebnisse der Gedankenentwicklung gehen nicht in eine allgemeine theoretische Formel, wohl aber in eine einheitliche konkrete Lebensordnung ein. Die Überwindung des alten Lehr­ systems bezeugt sich unmittelbar in einem neuen Ideal individueller und gemeinschaftlicher Lebensführung. Der Humanismus bleibt keine vereinzelte Erscheinung, keine bloße Phase in der Geschichte der Gelehrsamkeit: Die Behauptung der Selbst | genügsamkeit der welt­ lichen Bildung erschafft zugleich einen neuen Stand und hebt damit die gesamte soziale Gliederung des Mittelalters auf. Bis in die Gestal­ tung des politischen Lebens, bis in die äußeren Formen der Gesellig­ keit hinein wirken nunmehr die neuen Tendenzen der Zeit. Es gibt keine andere Kulturepoche, in der die theoretische Bildung die gleiche unumschränkte Herrschaft ausübte, in der sie alle anderen Faktoren und Mächte im gleichen Sinne bestimmte wie hier. In dieser geistigen Gesamtbewegung scheint indes die Philoso­ phie nur eine untergeordnete und beschränkte Wirksamkeit zu entastat mundo: factusque extra seipsum, eum totum perlustrat. Interiore vero sensu in seipsum reciprocus: relicto mundo sibiipsi adest. Atque intra seipsum, asserva­ tis omnium rerum spectris et imaginibus: universa speculatur.«].

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Verhältnis zur Philosophie

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falten. Die ersten Jahrhunderte der Renaissance gehen fast völlig in der Aneignung der antiken Systeme auf, die nicht einmal sogleich nach ihrem vollen Gehalt ergriffen und verstanden werden. Bis in das sieb­ zehnte Jahrhundert, bis zu den Zeiten Descartes’ hin, fehlt es hier an einer selbständigen Grundlegung. In Jacob Burckhardts Darstel­ lung, die das Gesamtbild der Renaissance in seinen einzelnen Zügen erst wieder lebendig gemacht hat, treten daher in der Tat die philoso­ phischen Bestrebungen und Leistungen gänzlich in den Hintergrund. Während sie überall sonst die Zusammenfassung und den eigentlichen Maßstab des gedanklichen Fortschritts einer Epoche darstellen, ste­ hen sie hier wie außerhalb des gemeinsamen Zusammenhangs. Nir­ gends erscheint auf den ersten Blick eine erkennbare Einheit, nirgends ein fester Mittelpunkt, um den sich die verschiedenen Bewegungen ordnen. Die gewöhnlichen Merkmale und Formeln, mit denen man den Charakter der Renaissance zu bezeichnen pflegt, versagen, wenn man sich unbefangen der Betrachtung der einzelnen philosophischen Strömungen und ihrer Mannigfaltigkeit überläßt. Wenn überall sonst das Streben der Zeit auf eine reine und unabhängige Erfassung der immanenten Wirklichkeit geht, wenn sie die Politik wie die Moral, die Geschichte wie die Wissenschaft der äußeren Welt auf »natürliche« Prinzipien zu gründen und jede Berufung auf transzendente Kräfte und Autoritäten fernzuhalten sucht, so gelangt dieser Zug in ihrer Philosophie keineswegs sogleich zum eindeutigen Ausdruck. Die Vorherrschaft | des Neuplatonismus allein genügt, um zu zeigen, wie sehr das Denken hier zugleich dahin drängt, alles empirische und bedingte Sein zu verlassen und zu überfliegen: Und bis weit in das Cinquecento, bis in die Lehre Giordano Brunos hinein, wirkt die­ ser Widerstreit der gedanklichen Motive nach. Wenn auf der einen Sei­ te der Anspruch der Erfahrung immer deutlicher empfunden und befriedigt wird, wenn Reisen und Entdeckungen den Blick immer mehr auf das neue empirische Material lenken, das der Sichtung und Bearbeitung harrt, so regt sich anderseits der losgelöste ästhetisch­ spekulative Grundtrieb niemals kräftiger als jetzt. Das Bild der Wirk­ lichkeit, das die italienische Naturphilosophie entwirft, die in ihrer Erkenntnislehre von der Wahrnehmung als dem einzig gültigen Zeugen ausgeht, ist noch ganz durchsetzt mit den Gestalten der Phan­ tasie und des Aberglaubens. Und die philosophische Grundlegung der Geisteswissenschaften vollzieht sich unter demselben Gegensatz: Während man einerseits gelernt hat, die Geschichte als Methode zur Entdeckung der geistigen Wirklichkeit zu brauchen, während man die historische Kritik auf die Berichte der römischen Geschichts­ schreiber wie auf die Entstehung des kirchlichen Dogmas anwendet,

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Die Kritik der substantiellen Formen

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findet sich auf der anderen Seite eine historische Naivität, die in einem untergeschobenen Schriftwerk das Zeugnis uralter Weisheit sieht und die alle Religion und alle Sittlichkeit aus einer fortgesetzten und lückenlosen Tradition offenbarter Wahrheiten abzuleiten sucht. Wie die eindringende und exakte Beobachtung der Naturerschei­ nungen für die Magie, so wird die philologische Forschung für die Kabbalistik dienstbar gemacht. Man ist vor dieser bunten und widersprechenden Fülle der Mei­ nungen an der philosophischen Grundbedeutung der Renaissance selbst irre geworden: Renan z. B. hat ausgesprochen, daß sie eine le­ diglich literarische, nicht eine philosophische Bewegung bil­ de.92 Der philo | sophische Charakter einer Epoche läßt sich indessen nicht lediglich daran messen, was sie an festen Lehrsätzen erreicht; sondern er bekundet sich nicht minder in der Energie, mit der ein neues gedankliches Ziel aufgefaßt und festgehalten wird. Die Einheit der verschiedenen Richtungen, die im Denken der Renaissance einan­ der gegenüberstehen, liegt in der neuen Stellung, die sie gegenüber dem Problem der Erkenntnis allmählich gewinnen. Alle Gegensätze der Zeit - mag man sie nun unter dem Widerstreit von Erfahrung und Denken, von Immanenz und Transzendenz, von Platonismus und Aristotelismus begreifen - streben an diesem einen Punkte einem gemeinschaftlichen Ergebnis zu. Dieser Satz erscheint freilich para­ dox: Denn von einer systematischen Zergliederung und Kritik der Erkenntnis kann auf dieser Stufe noch nirgends die Rede sein. Wo immer die Forschung sich auf die Natur und die Bedingungen des Erkennens richtet, da geschieht es noch durchweg im Zusammenhang und in der Verquickung mit metaphysisch-psychologischen Fragen. Der Begriff der Seele und das Problem ihrer individuellen Fortdauer bildet überall die Voraussetzung der Fragestellung. Wenn indes die Reflexion über die Prinzipien der Erkenntnis hier noch nicht, wie in den selbständigen Anfängen der neueren Philosophie, zum eigentli­ chen und bewußten Motiv geworden ist, so spiegelt sich doch jede ein­ zelne Phase des Fortschritts mittelbar in dieser Grundfrage wider. Sie bildet noch nicht die reale Triebkraft, die die verschiedenen sy­ stematischen Bildungen erzeugt, wohl aber den gedanklichen Orien­ tierungspunkt, von dem aus wir ihr Verhältnis und ihre Zusammen­ gehörigkeit überschauen können. Versuchen wir, diesen Zusammenhang, bevor wir ihm im einzelnen nachgehen, in vorläufigen und allgemeinen Umrissen festzuhalten, so 92 Ernest Renan, Averroes et l’Averroi’sme. Essai historique, 3., durchges. u. erw. Aufl., Paris 1867, S. 322 f.

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Das Problem des Individuums

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tritt uns zunächst ein negatives Moment entgegen. Es ist der Kampf gegen die »substantielle Form«, der für die Renais­ sance vor allem charakteristisch ist. Der Humanismus wie die neue Naturwissenschaft, die Rhetorik und Grammatik wie die Logik und Psychologie vereinigen sich in diesem Grundbestreben. | Nicht auf allen Gebieten vermag die neue Anschauung, die jetzt entsteht, sich gleichmäßig durchzusetzen; nicht überall hält der Fortgang gleichen Schritt. Es ist die moderne Physik, die zuerst den Schritt vom Sein zur Tätigkeit, vom Substanzbegriff zum Funktionsbegriff vollzieht, während der entsprechende Übergang in der Behandlung der Phänomene des Seelenlebens weit langsamer vor sich geht. Trotz der mannigfachen Schranken und Hemmnisse indes, die dieser Ent­ wicklung gesetzt sind, ist es zuletzt dennoch ein neuer Begriff des Bewußtseins, der sich als positiver Ertrag der verschiedenartigen kritischen Bestrebungen ergibt und befestigt. Freilich verlangt dieser Begriff selbst, um in seiner unterscheidenden Leistung und Bedeutung verstanden zu werden, eine nähere Bestimmung. Man pflegt in der Auffassung des Individuums und in der neuen Stellung und Wert­ schätzung, die es gewinnt, die eigentliche Grenzscheide zu sehen, die die Renaissance vom Mittelalter trennt. »Nichts durchdringt und bezeichnet das christliche Mittelalter«, so urteilt ein hervorragender Historiker des Humanismus, »so entschieden als der corporative Zug. Nach dem Chaos der Völkerwanderung krystallisirte sich gleichsam die erneuerte Menschheit in Gruppen, Ordnungen, Systeme. Hierar­ chie und Feudalismus waren nur die größten Formationen. Selbst das wissenschaftliche [...] Leben [...] fügte sich [...] dem allgemeinen Hange: es schoß wie gefrierendes Wasser nach gewissen Mittelpunk­ ten zusammen und von diesen gingen dann die Strahlen wieder nach allen Seiten aus. Zu keiner Zeit haben solche Massen [...] so gleich gelebt und gehandelt, ja gedacht und empfunden. Wenn großartige Menschen hervorragen, so erscheinen sie nur als Repräsentanten des Systems, in dessen Mitte sie stehen, nur als die ersten unter ihresglei­ chen, ganz so wie die Häupter des Lehnsstaates und der Kirche. Ihre Größe und Macht hängt nicht von den Zufälligkeiten und Eigenhei­ ten ihrer Person, sondern davon ab, daß sie mit Energie den ideellen Kern ihres Systems vertreten und sich selber dabei aufopfernd ver­ leugnen. [...] Die Vorkämpfer der Menschheit sind nicht Individuen, welche die Masse geistig beherrschen, sondern Stände | und Körper­ schaften, die dem Individuum nur wie einer Standarte folgen.«93 So 93 Georg Voigt, Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, Bd. I, 2., umgearb. Aufl., Berlin 1880, S. 131.

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Ichbegriff und Naturbegriff

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zutreffend hier der allgemeine Durchschnittscharakter mittelalterli­ chen Lebens bezeichnet wird, so werden doch damit die tieferen gei­ stigen Strömungen, die in ihm wirksam bleiben und die insbesondere in der Mystik zum Ausdruck drängen, nicht getroffen. Die Kon­ zentration auf das religiöse Problem erzeugt hier eine Innerlichkeit und eine Vertiefung in individuelle psychische Zustände und Stim­ mungen, die der Renaissance kaum nachsteht. Es sind vor allem die »Bekenntnisse« Augustins, die nach dieser Richtung hin auch für die neuere Zeit das Vorbild bilden und an die Petrarca in seiner lebendigsten und wirksamsten Schrift, in dem Dialog »Von dem geheimen Kampf seiner Herzenssorgen«, mit bewußter Nachbildung anknüpft. Ja auch der Platonismus der neueren Zeit, wie er in der Florentinischen Akademie hervortritt, bleibt in seinen Anfängen noch durchweg an den Augustinismus geknüpft und in ihn gleichsam ein­ geschmolzen. Im Vertrauen auf die Autorität des Augustin - so be­ kennt Fi ein selbst - habe er zuerst die Verschmelzung von Chri­ stentum und Platonismus gewagt.94 So ist es denn auch nicht die Entdeckung des »Ich«, die für die Renaissance kennzeichnend ist, sondern vielmehr der Umstand, daß sie einen Tatbestand und Gehalt, der dem Mittelalter nur innerhalb seiner religiösen Psychologie gege­ ben war, von diesem Zusammenhang ablöst und selbständig heraus­ stellt.95 In einer solchen Übertragung und Übersetzung eines fertigen Inhalts in eine andere Sphäre aber würde freilich für sich allein keine entscheidende und | schöpferische Leistung liegen. Zu positiver Erfül­ lung und Gestaltung gelangt dies neue Selbstbewußtsein erst an dem empirischen Naturbewußtsein. Wenn Augustin den Begriff des Ich als einziges und sicheres Fundament alles Wissens entdeckt, wenn ihm das Objekt zur »Erscheinung« des Bewußtseins wird, so wird in die­ sem Gedanken bei ihm nur der Vorrang der Willens- und Ge­ fühlssphäre über alle Daten der Wahrnehmung und alle Tatsachen der gegenständlichen Erkenntnis festgehalten. Die räumliche und

94 Marsilio Ficino, Theologia Platonica. De immortalitate videlicet animorum, ac aeterna felicetate libri XVIII (1482) (Einl.), in: Opera, 2 Bde., Paris 1641, Bd.I, fol.74-414: fol.74: »Ego vero cum iampridem Aureliana authoritate fretus [...] Platonis ipsius simulachrum quoddam Christianae veritati simillimum expri­ mere statuissem [...]« etc. Vgl. bes. ders., Epistolarum libri XII (Buch 7), in: Opera, Bd. I, fol. 592-947: fol. 824: »[...] Augustini primum authoritate adductus [...] operae pretium fore censui quandoquidem mihi philosophandum esset, ut in Academia praecipue philosopharer.« 95 Vgl. hierzu Wilhelm Dilthey, Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert. Erste Hälfte, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 4 (1891), S. 604-651:S. 627.

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Die Harmonie der »Welt« und der »Seele-

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zeitliche Ordnung der Dinge muß dahinschwinden, damit wir die Eigenart und den Eigenwert der Seele verstehen und fassen lernen. In der neueren Zeit dagegen sind es vielmehr die objektiven Phä­ nomene, die zuerst den Blick auf sich ziehen und die die Betrach­ tung an sich fesseln. Die Natur mußte erst als fester, unabhängiger Bestand, als selbständige Ordnung und Gesetzlichkeit begriffen und aller Abhängigkeit vom seelischen Innenleben entrückt sein, ehe der Gedanke des Ich in seiner neuen Bedeutung sich durchsetzen konnte. Der Platonismus enthält in seiner echten und legitimen Gestalt, die der Renaissance allmählich zugänglich wird, bereits beide Momente in untrennbarer Wechselbeziehung: Bei Kepler vor allem läßt sich verfolgen, wie sich ihm erst in der reinen Anschauung der Harmonie des Kosmos die Harmonie der »Seele« erschließt. Auch die ästhetische Auffassung und Erhöhung der Wirklichkeit führt zum selben Ziel: Die Beseelung der Natur durch die Kunst bleibt doch von allen sentimentalen und romantischen Zügen, von aller direkten Hineindeutung individueller Stimmungen und Empfin­ dungen in das unmittelbare Weltbild frei. Es ist im Gegenteil die reine objektive Erfassung und Betrachtung der Wirklichkeit, die dadurch ermöglicht und gefördert wird. Leonardo da Vinci ist das Vorbild und der Meister dieses reinen gegenständlichen Denkens und An­ schauens, das alle Gebiete des Geistes gleichmäßig umfaßt und durch­ dringt. Daß aus dieser Hinwendung auf das Objektive, aus diesem Aufgehen im Naturgegenstand, auch philosophische Fragen und Schwierigkeiten entstehen, läßt sich begreifen. In der Naturphi­ los o | phie der Renaissance gelangt der Begriff des Bewußtseins noch nicht zu reiner Entdeckung und Heraushebung. Das Ich und seine Funktion kann auf dieser Stufe nur wie ein besonderer Gegen­ stand gedacht und beschrieben werden: Es ist in das objektive Dasein aufgelöst und in ihm gleichsam erloschen. Dennoch bezeichnet eben­ diese vorläufige Schranke die Richtung, die der Gedanke von nun ab einzuhalten hat. Was Cusanus systematisch gefordert hatte: die Zu­ rückziehung und Rückgewinnung des »reinen Intellekts« aus dem Stoffe der sinnlichen Eindrücke selbst - das bildet nunmehr auch die historische Aufgabe. Aus diesem Zusammenhang mit den Zielen der empirischen Forschung gewinnt der neue Ichbegriff seinen Halt und das Korrelat, das ihn vom Mittelalter und von der Mystik scheidet.

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Die Erneuerung der Platonischen Philosophie

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I. Die Erneuerung der Platonischen Philosophie

Den Kampf zwischen Platon und Aristoteles nach seinem ganzen Umfang und nach der ganzen Tiefe der begrifflichen Gegensätze schildern heißt die Geschichte des modernen Denkens schreiben. Bis weit in die originalsten Leistungen der neueren Philosophie hinein bleibt dieser Widerstreit bestimmend und herrschend. Und nicht nur die großen philosophischen Systeme werden unter diesem Gesichts­ punkt erschaffen; auch die exakte wissenschaftliche Forschung kann sich nicht herausbilden und konstituieren, ohne mit jedem einzelnen Schritte mittelbar zugleich in die Fragen, die hier verborgen liegen, einzugreifen. Der Aufbau von Galileis und Keplers Wissenschaft wird im einzelnen erst verständlich, wenn man ihn innerhalb dieser ge­ schichtlichen Gesamtbewegung betrachtet. Blickt man auf diese großen Zusammenhänge voraus, so muß die erste Einführung der Platonischen Philosophie im Abendlande, so muß ihr Beginn dürftig und kümmerlich erscheinen. Die eigentliche Grundfrage des Plato­ nismus ist hier noch nicht lebendig geworden: Die Betrachtung ver­ weilt bei dem Außenwerk und bei den schimmern | den Hüllen, mit denen Neuplatonismus und Mittelalter den Kern und Gehalt der Ideenlehre umwoben hatten. Selbst im Streit gegen das mittelalterli­ che System bleibt somit die Abhängigkeit von ihm noch deutlich erkennbar. In der Tat handelt es sich jetzt noch nicht darum, sich Pla­ ton in seiner ursprünglichen und wahrhaften Gestalt anzueignen: Bevor dies geschehen konnte, mußten erst ein vorbereitender Schritt getan und diejenigen Elemente des Platonismus, die in die christliche Lehre eingegangen und mit ihr verschmolzen waren, herausgelöst und in ihrem Eigenwert begriffen werden. Unter diesem Gesichtspunkte lassen sich die philosophischen Ziele und Bewegungen des Quattro­ cento einheitlich verstehen und zusammenfassen. Wenn Μ ar silius Ficinus, in voller subjektiver Aufrichtigkeit, seine Aufgabe darin sieht, die Lehre Platons mit der geoffenbarten Religion zu einigen und zu versöhnen, so geschieht es, weil er die Religion selbst nur noch im Lichte des Platonismus zu erblicken, weil er in ihr nichts anderes als die Logos-Lehre zu sehen vermag. Das Christentum vermochte sich, in den ersten Jahrhunderten seiner Entwicklung, nur dadurch zum theoretischen System zu gestalten und zu verdichten, daß es diese Grundlehre der griechischen Spekulation in sich aufnahm. Damit aber waren die antike Philosophie und Wissenschaft in ihm selbst mittelbar anerkannt, wenngleich sie nur als Mittel zur Deu­ tung der Offenbarungslehre gebraucht und geduldet wurden. Der erste Schritt der neueren Zeit besteht darin, diese Schranke aufzuhe­

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Die Logos-Lehre

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ben; die Lehre vom »Logos« nicht nur als Instrument der Theolo­ gie zu verwenden, sondern sie ihrem vollen Sinn und Gehalt nach wie­ derherzustellen. Bei Nicolaus Cusanus bereits haben wir dieses Streben und diese Wendung verfolgen können.96 In diesem Zusam­ menhänge erklärt sich uns die Stellung der Denker dieser Epoche zur Kirche, die sonst so zweideutig und schillernd erscheint. Während man sich äußerlich noch in voller inhaltlicher Übereinstimmung mit der Glaubenslehre zu befinden scheint, ergreift man in ihr in Wahrheit doch nur dasjenige Moment, das aus der Philosophie und aus dem Hellenentum stammt. Der Begriff des Logos | bildet nunmehr sowohl die Verknüpfung wie die Grenzscheide der Zeitalter. Bei Georgios Gemistos Plethon, dem ersten entschiedenen Verkünder der Platonischen Lehre, ist es dies letztere Moment, ist es der Gegensatz gegen das überlieferte theologische System, der deutlich in den Vordergrund tritt. Wenn er Aristoteles bekämpft, so nimmt er seine Naturlehre ausdrücklich aus. Nur seine Metaphysik und Theologie ist es, die er treffen will - in der er vielmehr die kirch­ liche Scholastik seiner Zeit zu treffen gedenkt. Nicht um einen Kampf abstrakter philosophischer Lehren handelt es sich hier, sondern um den Kulturgegensatz zwischen Hellenismus und christlichem Mittelalter. Wie Aristoteles die griechische Sprache nicht mehr in ihrer ganzen Reinheit und Fülle widerspiegelt, so erscheint bei ihm - wie ihm von Plethon vorgeworfen wird - auch das antike Lebensideal bereits verkümmert und gebrochen. Die sittliche Erneuerung, die Plethon für den Staat und die Kirche seiner Zeit verlangt und die im Mittelpunkt all seiner philosophischen Bestrebungen steht, muß sich von der Aristotelischen Autorität befreien, um zu den echten Quellen der selbständigen und humanen Ethik zurückzukehren. Den aske­ tisch-mönchischen Geboten tritt jetzt eine weltliche »Tugendlehre«, dem Dualismus des Jenseitsglaubens tritt der antike Glaube an eine fortdauernde Wanderung und Umgestaltung der Seele entgegen. Es sind die Götter Griechenlands, die zum Kampf gegen das mittelalter­ liche Ideal aufgerufen werden und die vor allem der politischen Regeneration, für die Plethon in seiner Schrift über die Gesetze ein­ tritt, dienen sollen. Eine neue Religion, die weder christlich noch mohammedanisch sein, sondern alle bisherigen geschichtlichen For­ men in einer höheren Einheit aufheben will, soll jetzt entstehen. Die Ideenlehre wandelt sich in eine polytheistische Götterlehre. Die man­ nigfachen Kräfte, die Plethon zum Aufbau seiner Naturansicht braucht, werden zu persönlichen Einzelwesen hypostasiert und mit 96 S. oben, S. 43 ff.

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Georgios Gemistos Plethon

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besonderen Götternamen belegt.97 In | der Spekulation über die hier­ archische Stellung und Rangordnung dieser Kräfte, die vor allem auf Proklos zurückgeht, werden sodann Philosophie und Mythos so unlöslich miteinander verknüpft und vermischt, daß jede Trennung zwischen beiden, jede Heraushebung eines gesonderten, abstrakten Gedankengehalts vergeblich wäre. So interessant daher Plethons Lehre vom Standpunkt der allgemeinen Kulturgeschichte ist, so wenig bedeutet sie für das innerliche, logische Verständnis des Pla­ tonismus. Die Frage des Fatums; das Problem, ob die Natur nach bewußter Absicht handle, wird zwischen Plethon und seinem näch­ sten Schüler Bessarion eingehend in Briefen und Schriften behan­ delt; der eigentliche Gehalt der Ideenlehre aber tritt hinter Untersu­ chungen dieser Art alsbald zurück.98 Nur gelegentlich noch wird dieses »höchst dunkle und schwierige Problem« berührt, nicht um sei­ ner dialektischen Begründung, sondern um seinen metaphysischen Folgerungen nachzugehen.99 Auch die herkömmliche Vergleichung zwischen Platon und Aristoteles bleibt unter diesen Umständen ohne prinzipiellen Ertrag: Sie lenkt insbesondere bei Humanisten, wie Georg von Trapezunt, völlig in das Gebiet persönlicher Anschuldi­ gungen ab. Und selbst dort, wo eine genauere Kenntnis der beiden Systeme besteht, wird sie nicht dazu verwandt, sie ihrem eigenen sach­ lichen Gehalt nach zu prüfen: Vielmehr bleibt die Übereinstimmung beider Lehren mit der kirchlichen Doktrin, die je nach der Parteistel­ lung des Beurteilers bald behauptet, bald bestritten wird, das eigent­ lich maßgebende Kriterium. Auch die tiefere und eindringende Kenntnis der Platonischen Schriften, die innerhalb der Florentinischen Akademie gewon­ nen wird, führt hier nicht sogleich zu | einer entscheidenden inneren Umgestaltung. Zwar besteht zwischen Plethon und Μ ar silius Ficinus, der Persönlichkeit wie der Grundabsicht ihrer Lehre nach, ein durchgreifender und charakteristischer Unterschied. Wenn bei

97 Uber Plethons Lehre s. Wilhelm Gass, Gennadius und Pletho, Aristotelismus und Platonismus in der griechischen Kirche, nebst einer Abhandlung über die Bestreitung des Islam im Mittelalter, Breslau 1844 u. | Fritz Schultze, Geor­ gios Gemistos Plethon und seine reformatorischen Bestrebungen (Geschichte der Philosophie der Renaissance, Bd.I), Jena 1874. 98 Vgl. Johannes Bessarions Schrift: In calumniatorem Platonis libri quatuor (Buch 6), Venedig 1516, fol. 108 ff. sowie seinen Briefwechsel mit Plethon; vgl. Rudolf Rocholl, Bessarion. Studie zur Geschichte der Renaissance, Leipzig 1904, S.31 u. 161. 99 »[...] difficilis illa, et perobscura quaestio de ideis [...]« Bessarion, In ca­ lumniatorem Platonis (Buch 6, Kap. 2), fol. 110.

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Philosophie und Religion

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Ficin der Blick weiter und freier geworden ist, wenn die geschichtli­ chen Quellen nunmehr ihrem ganzen Umfang nach übersehen und durchforscht werden, so hat sich doch auch die reformatorische Schärfe, die den Anfängen des Platonismus eignete, hier bereits merk­ lich abgestumpft. Die Platonische Lehre soll zum Mittel- und Ein­ heitspunkt werden, in dem alle widerstreitenden Tendenzen der Zeit sich zusammenfinden. Religion und Philosophie, Metaphysik und Wissenschaft, die überall sonst ein einseitiges und losgelöstes Sonder­ dasein führen, sind in ihr unmittelbar verschmolzen und versöhnt. Die christliche Lehre ist hier ihrem allgemeinen Gehalt und Sinne nach vorgebildet und zum reinen Ausdruck gebracht; der Inhalt der vorangegangenen großen Systeme des Altertums ist bewahrt und zu begrifflicher Klarheit erhöht. Die Verschiedenheit der Lehrmeinun­ gen entstammt nur der mannigfachen Auslegung der einen göttlichen Grundoffenbarung, die aller Geschichte der Philosophie und Religion vorausgeht und zugrunde liegt. So werden denn auch die Wandlungen und inneren Umbildungen, die die Platonische Lehre selbst erfahren hat, gleichmäßig hingenommen und als Stufen einer stetigen und gleichartigen Gedankenentwicklung ausgedeutet. In der Werkstatt des Plotin, des Porphyrius, Jamblichus und Proklos erst wurde das Gold der Platonischen Philosophie - wie Ficin in einem Briefe an Bessarion ausspricht - im Feuer der schärfsten Kritik geläutert und von allen Schlacken befreit, so daß sein Glanz nunmehr den Erdkreis erfüllte.100 In einem für die Schreibweise Ficins bezeichnenden Aus­ druck wird das Verhältnis Platons zu Plotin demjenigen Gottva­ ters zu Christus verglichen.101 Mit dieser | Auffassung wird für all die verschiedenen mystischen Neben- und Unterströmungen des Plato­ nismus freier Raum geschaffen. Die Platonische Dialektik wird nun­ mehr nur wie durch ein fremdes Medium hindurch erblickt und ver­ standen. Leibniz hat den innersten Mangel der Lehre Ficins bezeichnet, wenn er ihr vorwirft, daß sie sich vor allem auf die »hyper­ bolischen« und transzendenten Fragen geworfen habe, statt die ech­ ten methodischen Fundamente: die exakten Definitionen, die Platon von den Grundbegriffen gibt, weiterzuverfolgen.102 Wir sahen 100 Ficino, Brief an Bessarion, in: Epistolae (Buch 1), fol. 602. 101 Ders., In Plotinum philosophum, ex Platonici familia nati, de rebus philo­ sophicis, liber 54. In Enneados sex distributos argumenta doctissima: quibus tota eius philosophia quam brevissime complectitur, in: Opera, Bd. II, fol. 493-798: fol. 503: »Et vos Platonem ipsum exclamare sic erga Plotinum existimetis. Hic est Filius meus dilectus, in quo mihi undique placeo: ipsum audite.« 102 Gottfried Wilhelm Leibniz, Briefwechsel zwischen Leibniz und Foucher. 1676(?)-1695, in: Philosophische Schriften, hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt,

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bereits bei Plethon, daß die Reform der Metaphysik, auf die er aus­ ging, die Aristotelischen Grundlagen der Wissenschaft und der empirischen Forschung unberührt ließ. Diese Schranke ist auch hier noch nicht gefallen: Als der charakteristische Vorzug Platons gilt es, daß er sich von Anfang an lediglich der Erforschung des Göttlichen hingegeben habe, während alle übrigen Philosophen sich an die Be­ trachtung der Natur verloren hätten, von der nur eine unvollkom­ mene und »träumende« Erkenntnis möglich sei.103 In dieser Zuord­ nung der Körperwelt zu einer niederen Sphäre des Seins und des Wissens unterscheidet sich Ficin scharf von der eigentlich moder­ nen Form des Platonismus, die auf dem Boden der exakten Natur­ wissenschaft erwachsen ist. Allgemein vollzieht sich die Gliederung des Alls in fünf verschie­ denen Graden und Stufen, die gegenseitig aufeinander hinweisen, um zuletzt in ihrer stetigen Folge zum einen, unbedingten Sein wieder zurückzuführen. Je nach der Teilhabe an den beiden entgegengerich­ teten Prinzipien der Mannigfaltigkeit und der Einheit gestaltet und gliedert sich die Ordnung der empirischenWirklichkeit. Von dem Körper und den körperlichen Qualitäten führt der Weg zur menschlichen Seele, von dieser wiederum zu den reinen himm­ lischen »Intelligenzen« und zum göttlichen Sein empor. Wäh­ rend der Körper als solcher, vermöge der | Teilbarkeit ins Unendliche, schlechthin in eine Vielheit von Elementen auseinanderfällt, ohne in sich ein Prinzip der Begrenzung und Bestimmung zu besitzen, stehen bereits die Qualitäten, wie Licht und Farbe, um eine Stufe höher. Denn wenngleich auch sie verhaftet am Stoffe zu kleben scheinen und nur an den ausgedehnten Massen in die Erscheinung treten, so ist doch der eigentliche Ursprung ihrer Wirksamkeit nicht in dem Gebiet des bloß extensiven Mehr und Weniger zu suchen. Sie bedürfen nicht der Erstreckung in Länge, Breite und Tiefe, sondern sind ganz und ungeteilt bereits in jedem kleinsten Bezirk des Körpers, in jedem Massenpunkte enthalten. So sind sie in Wahrheit individuelle Naturen und Bestimmtheiten, die durch die Teilung des körperlichen »Subjektes«, an dem sie sich uns zunächst darstellen, nicht berührt werden. Die Weiße, die in irgendeinem Teil eines weißen Körpers ent­ halten ist, läßt sich im strengen Sinne nicht als ein Teil der Qua­ lität, sondern nur als die Qualität eines Teiles denken: Die Zerfällung geht lediglich das stoffliche Substrat an, nicht die Farbe selbst, 7 Bde., Berlin 1875ff., Bd.I, S.363-427: S.380; vgl. bes. ders., Scientia Generalis. Characteristica, in: Philosophische Schriften, Bd. VII, S. 1-247: S. 147 ff. 103 Ficino, Brief an Giovanni Cavalcanti, in: Epistolae (Buch 1), fol. 613.

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Philosophie und Religion

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die überall die gleiche »indivisible« Natur und Beschaffenheit auf­ weist. Die »ratio albedinis« ist dieselbe im ganzen Körper und in jedem seiner einzelnen Bestandstücke.104 So ergibt sich hier bereits ein neues Verhältnis von Einheit und Vielheit: Die unterschei­ dende Eigentümlichkeit der Qualität wird nicht durch Zusammen­ setzung gewonnen, sondern als eine wesentliche Einheit erfaßt, die erst mittelbar, indem sie sich gleichsam sukzessiv über die verschiede­ nen Teile eines Körpers ausbreitet, an den Bestimmungen der Quan­ tität teilhat. In den Qualitäten der Körper aber wurzeln alle ihre Kräfte und Wirkungsfähigkeiten, da die bloße ununterschiedene Masse als solche völlig passiv und träge ist; so zeigt es sich, daß jedes Vermögen und jede Tätigkeit, die wir einem Körper beilegen, nicht in dem materiellen Stoffe, sondern in einer »unkörperlichen Natur« ihren Ursprung hat und ihre | letzte Begründung suchen muß.105 So­ sehr diese ganze Erörterung Ficins auf metaphysische Folgerun­ gen abzweckt, so enthält sie doch in der durchgeführten begrifflichen Scheidung zwischen Quantität und Qualität zugleich einen reinen logischen Kern: einen Gehalt, der uns deutlich und durchsichtig wird, wenn wir sie nach rückwärts mit der Lehre des Nicolaus Cusa­ nus, nach vorwärts mit der von Leibniz vergleichen.106 Uber der zweiten Stufe, die durch die Qualität bezeichnet wird, erheben sich nun die weiteren geistigen Kräfte des Universums. Während der Körper - nach Pythagoreischer Bestimmung - die Viel­ heit schlechthin, die Qualität die Vielheit darstellt, sofern sie sich mit der Einheit verbindet und an ihr Anteil gewinnt, ist die Seele ur­ sprüngliche Einheit, die sich indes der Mannigfaltigkeit gegenüber­ stellen muß, um an ihr zum Bewußtsein ihrer selbst zu gelangen. Während die weiße Farbe von dem Körper, dem sie eignet, zwar be­ grifflich unterschieden ist, ihrer empirischen Wirklichkeit nach aber gleichsam in ihn gebannt und verstrickt bleibt, bewahrt die Seele in der Gemeinschaft, die sie mit dem Leibe eingeht, ihr eigenes selbständiges Sein und die Unabhängigkeit ihrer Natur. Sie ist in ihm weder wie ein Teil im Ganzen noch auch wie der Punkt in der Linie enthalten. Denn der Punkt bezeichnet, wenngleich er eine in sich vollendete und un­ teilbare Einheit darstellt, dennoch eine vereinzelte Lage im Raume und drückt insofern eine beschränkte örtliche Bestimmtheit aus. 104 Vgl. hierzu Cusanus, Complementum theologicum (Kap. 11), fol. 98 b: »[...] albedo non est mensurabilis per quodcunque album, sed illa omne album mensurat: cum omne album ab albedine habet quod est album.« 105 Ficino, Theologia Platonica (Buchl, Kap.2), fol. 77f. - Vgl. bes. a. a. O, (Buch 3, Kap. 1), fol. 112. 106 Vgl. oben, S. 35 f.

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Die Seele dagegen ist als diejenige Einheit zu fassen, die eine unend­ liche Allheit von Bestimmungen in sich birgt und aus sich hervor­ gehen läßt, sie ist insofern nicht jedem beliebigen Punkte, sondern etwa dem Zentrum eines Kreises zu vergleichen, das gleichmäßig auf alle Punkte der Peripherie bezogen werden muß, damit der Begriff des Kreises sich erfülle. So ist sie gleichsam »ein in sich selbst leben­ diger Punkt«, der durch keinerlei Quantität und keine bestimmte Lage gebunden ist, sondern sich von innen | heraus frei und unum­ schränkt in die Mannigfaltigkeit zu entwickeln vermag, ohne sich an sie zu verlieren. Sie ist zugleich teilbar und unteilbar, der höchsten absoluten Einheit wesensgleich wie der Vielheit und Veränderung der Körperwelt beständig zugewandt. Sie ist das eigentliche und tiefste Wunder, sofern alle andern Dinge, wie vollkommen wir sie uns den­ ken mögen, immer ein besonderes Sein besitzen und verkörpern, während sie das All in seiner Gesamtheit darstellt und enthält. »Sie trägt in sich die Bilder der göttlichen Wesenheiten, von denen sie abhängt, wie die Gründe und Musterbilder der niederen Dinge, die sie auf gewisse Weise selbsttätig erschafft. Sie ist die Mitte von allem und besitzt die Kräfte von allem. Sie geht in alles ein, ohne doch, da sie die wahre Verknüpfung der Dinge ist, den einen Teil zu verlassen, wenn sie sich einem andern zuwendet. So darf sie mit Recht das Zentrum der Natur, die Mitte des Universums, die Kette der Welt, das Ant­ litz des Alls und das Band und die Fessel aller Dinge heißen.«107 Wenn jedes sinnliche Ding kraft seiner Natur zu seinem höheren geistigen Ursprung zurückstrebt, so kann sich diese innere Umkehr nicht in den Dingen selbst, noch in den geistigen Substanzen über oder unter uns, sondern nur in der Seele des Menschen vollziehen. Denn sie allein vermag sich völlig mit der Betrachtung des Einzelnen und Stofflichen zu durchdringen, ohne sich ihm gefangen zu geben; sie allein vermag die Sinneswahrnehmung selbst zum Allgemeinen und Geistigen zu erheben. »So kehrt der göttliche Strahl, der zu der nie­ deren Welt herabgeflossen war, durch sie wieder in die höheren Regio­ nen zurück [...] Der Menschengeist ist es, der das erschütterte Uni­ versum wiederherstellt, da dank seiner Tätigkeit die Körperwelt 107 Ficino, Theologia Platonica (Buch 3, Kap.2), fol. 117 f. [»[...] est instar puncti alicuius in seipso viventis [...] Imagines in se possidet divinorum, a quibus ipsa dependet. Inferiorum rationes et exemplaria, quae quodammodo et ipsa pro­ ducit. Et cum media omnium sit, vires possidet omnium. Quod si ita est, transit in omnia. Et quia ipsa vera est universorum connexio, dum in alia migrat, non deserit alia, sed migrat in singula, ac semper cuncta conversat, ut merito dici pos­ sit centrum naturae, universorum medium, mundi series, vultus omnium, nodus­ que et copula mundi.«].

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Seelenbegriff und Erkenntnisbegriff

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beständig geläutert und der geistigen Welt, von der sie ehemals aus­ gegangen, täglich nähergeführt wird.«108 | In dieser Behauptung der einzigartigen, kosmischen Stellung und Bedeutung der menschli­ chen Seele liegt der tiefste Grund der Wirkung, die die Platonische Akademie auf die allgemeine philosophische und künstlerische Kul­ tur der Zeit geübt hat; die Gedanken, die Ficin hier ausspricht, klin­ gen in Pico della Mirandolas Rede »Über die Würde des Menschen« und, in höchster Kraft und Eindringlichkeit, in Michelangelos Sonetten nach. Sosehr wir uns indes hier noch im Bannkreis Plot ins und seiner ästhetischen Grundlehren befinden, so leuchtet doch schon an die­ ser Stelle ein neues Interesse hindurch, das auf eine veränderte Fra­ gestellung hinausweist. Der Neuplatonismus bezeichnet den allge­ meinen Charakter der Lehre Ficins, aber er erschöpft nicht ihren gesamten Gehalt und ihre geschichtliche Bedeutung. Wenn man bis­ her in der Darstellung von Ficins Platonismus einzig bei diesem Zuge verweilte, so hat man darüber gerade die kräftigsten und fruchtbarsten Keime, die er für die Philosophie und Wissenschaft der Zukunft ent­ hielt, übersehen. Ficins Hauptwerk: die »Theologia Platonica de immortalitate animorum« ist, äußerlich betrachtet, freilich nichts anderes als ein Kompendium der metaphysischen Unsterblich­ keitsbeweise, die hier so ausführlich und vollständig wie an keiner anderen Stelle der Geschichte der Philosophie dargestellt und erörtert werden. Schon die geschichtlichen Anfänge des Unsterblichkeitspro­ blems aber müssen uns darüber belehren, daß die Wege und Schick­ sale dieser Frage mit den Grundfragen der Theorie des Erkennens aufs engste verknüpft und verschwistert sind. Der »Phaidon« enthält zugleich die eingehendste und umfassendste logische Grundlegung der Ideenlehre, die Platon gegeben hat. Hier zuerst wird das »reine Denken« in seiner Selbständigkeit und Kraft erkannt und von allen anderen psychologischen Instanzen geschieden. Der Gedanke der Unsterblichkeit wird zum Vehikel für die Entdeckung der Ursprüng­ lichkeit der Denkfunktion und für | ihre scharfe Abgrenzung gegen die unmittelbare sinnliche Empfindung und Wahrnehmung. Die mo­ derne Auffassung ist, wie wir sehen werden, schon von den Zeiten der

108 »Ita radius ille coelestis qui ad ima defluxerat, refluit ad sublimia, dum simi­ litudines idearum quae fuerant in materia dissipatae, colliguntur in phantasia, et impurae purgantur in ratione, et singulares tandem in mente evadunt universales. Sic hominis anima iam labefactatum restituit mundum, quoniam eius munere spi­ ritalis olim | mundus, qui iam corporalis est factus, purgatur assidue, atque evadit quotidie spiritalis.« A. a. O. (Buch 16, Kap. 3), fol. 364.

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Renaissance an darauf gerichtet, diesen geschichtlichen Zusammen­ hang zwischen metaphysischer und erkenntnistheoretischer Fra­ gestellung zu lockern. Dennoch behauptet er sich bis weit über die Anfänge der neueren Philosophie hinaus, und noch bei Descartes läßt sich seine Kraft und Wirksamkeit beobachten. Es begreift sich hier­ aus, daß Ficins Lehre auch dort, wo sie einzig ihr metaphysisches Hauptziel zu verfolgen scheint, indirekt dennoch in die Geschichte des Erkenntnisproblems eingreift. Vor allem bleibt es ihr Verdienst, daß sie zuerst die Platonische Lehre von der »Wiedererinnerung« der Folgezeit rein und vollständig überliefert und daß sie damit der modernen Entwicklung des Bewußtseinsbegriffs einen festen historischen Mittelpunkt geschaffen hat. Um die Unsterblichkeit des Geistes zu erweisen, nimmt Ficin seinen Ausgang vor allem von der Unendlichkeit seiner Funktion. Jeder echte Begriff, den wir bilden, enthält eine unbegrenzte Anzahl einzelner Exemplare unter sich; jeder Akt des Denkens besitzt und betätigt die Wunderkraft, eine unendli­ che Mannigfaltigkeit in eins zu fassen und eine einfachste Einheit wie­ derum in die Unendlichkeit aufgehen zu lassen. Und wie sollte der Geist nicht seiner Kraft und Wesenheit nach unumschränkt sein, da er es ist, der die Unendlichkeit selbst entdeckt und sie nach ihrer Art und Beschaffenheit definiert? Alle Erkenntnis bedeutet eine Ausglei­ chung und Anpassung des erkennenden Subjekts an die Objekte, die sich ihm gegenüberstellen (»cognitio per quandam mentis cum rebus aequationem perficiatur«); das Unendliche könnte somit von uns nicht als Inhalt gedacht und erfaßt werden, wenn es nicht in der eigenen Natur des Geistes enthalten und angelegt wäre. Das Maß darf, sofern es adäquat und erschöpfend sein soll, an Kraft und Umfang nir­ gends hinter dem Gemessenen Zurückbleiben: So muß der Geist selbst schrankenlos sein, um den stetigen Wandel der Zeit und der Bewegung seinen unwandelbaren Begriffen zu unterwerfen und die Unendlich­ keit umfassen und messen zu | können.109 Allgemein wird jetzt die For­ derung der durchgängigen Entsprechung und »Proportion«, die zwi-

109 A. a. O. (Buch 8, Kap. 16), fol. 196 f. [Zitat fol. 197]. Vgl. hierzu bes. Cusa­ nus, Idiota (Buch 3, Kap. 15), fol. 94 a f.: »Neque aliquis numerus: potest mentis numerandi virtutem evacuare. Unde cum motus caeli per mentem numeretur, et tempus sit mensura motus: tempus, mentis virtutem non evacuabit, sed manebit ut omnium mensurabilium terminus mensura et determinatio. Ostendunt instru­ menta motuum caelestium, quae a mente humana procedunt: motum non tam mensurare mentem, quam mens mensurat motum.« - Die Darstellung Ficins weist an diesem Punkte, außer auf Augustin, unverkennbar auf Nicolaus Cusanus zurück: ein Beweis für die geschichtliche Wirkung, die Cusas Schriften geübt, selbst bevor sie zu einer Gesamtausgabe vereinigt waren. Vgl. auch oben, S. 70 f.

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Die Selbsttätigkeit des Denkens

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sehendem Gegenstand und der Funktion der Erkenntnis herr­ schen muß, der Leitgedanke von Ficins Lehre. Der Intellekt und das »intelligible« Objekt stehen sich nicht fremd und äußerlich gegenü­ ber; sie sind von gleichem Ursprung und fallen in ihrer höchsten Voll­ endung in eins zusammen. »Ipsum intelligibile propria est intellectus perfectio, unde intellectus in actu et intelligibile in actu sunt unum.«110 Es ist somit keine Erklärung des Erkenntnisprozesses, wenn man ein äußeres jenseitiges Sein in den Geist hinüberwandern läßt: Denn das Denken begreift in Wahrheit nur das, was mit ihm von derselben Natur ist und was es aus seinem eigenen Grunde hervorbringt. Dies gilt nicht nur von den höheren geistigen Tätigkeiten, sondern bereits von der einfachen Sinneswahrnehmung: Schon in ihr wird das Bewußt­ sein nicht einzig von den Körpern draußen bestimmt, sondern gibt sich selbst seine Form. »Wie ein lebendiger Körper durch in ihm selbst gelegene Samen sich wandelt, sich fortpflanzt, sich ernährt und auf­ wächst, so urteilt der Geist und der innere Sinn kraft eingeborener For­ men, die von außen zur Tätigkeit angeregt werden, über alle Dinge.« Der Inhalt des Bewußtseins ist daher nicht sowohl ein Abbild des äuße­ ren Objekts wie eine Ausprägung unseres eigenen geistigen Vermö­ gens: wie denn ein und dasselbe Objekt uns verschieden erscheint, je nachdem diese oder jene seelische Kraft, je nach | dem der Sinn, die Phantasie oder die Vernunft es betrachtet und gestaltet. »Das Urteil folgt der Form und Natur des Urteilenden, nicht des beurteilten Gegenstandes.« Schon die »Bilder« der Einzeldinge, die die Phan­ tasie entwirft, sind nicht unmittelbar von diesen selbst dem Geiste auf­ gedrückt und »eingebrannt«: So müssen wir um so mehr in den rei­ nen, intellektuellen Begriffen nicht die Kopien einer äußeren Wirklichkeit, sondern die Erzeugnisse der Kraft des Verstandes erken­ nen. Es ist vergeblich, den Gehalt dieser Begriffe von den sinnlichen Wahrnehmungen und Bildern ableiten zu wollen: Denn wie könnte das sinnliche »Phantasma« etwas hervorbringen, das freier und umfas­ sender wäre als es selbst? Die Körperwelt bildet eine beziehungslose Mehrheit besonderer und eingeschränkter Einzelobjekte: Diese aber können für sich betrachtet niemals einen reinen geistigen Inhalt erschaffen, der die ihnen allen gemeinsame Natur wiedergäbe und repräsentierte. Und was den Elementen in ihrer Besonderung ver­ sagt ist, das vermag auch ihre Summe niemals zu leisten. Denn auch die Zusammenfassung zu einem Aggregat ergibt uns immer nur wie­ der verstreute Glieder ohne bestimmte gesetzliche Ordnung und Ver­ 110 Ficino, Theologia Platonica (Buch 11, Kap. 1), fol. 234. Vgl. oben, S. 31 u. 46 f.

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knüpfung. »Wie aus einer Ansammlung von Steinen nichts wahrhaft Einfaches, sondern ein bloßer Haufen entsteht, so kann die Menge der Einzeldinge wohl ein verworrenes Beisammen von Bildern, nicht aber den einen und einfachen Begriff erzeugen.« Mit Klarheit und Ent­ schiedenheit wird die sensualistische Theorie der »Abstraktion« von Ficin widerlegt. Wären wir darauf angewiesen, das Allgemeine aus dem Durchlaufen der Einzelfälle zu gewinnen, so müßten wir in ihm von Anfang an eine falsche und illusorische Forderung erkennen. Denn die Gesamtheit des Einzelnen ist schlechthin unerschöpflich; wollten wir aber aus einem begrenzten Kreis die Regel abstrahieren, die wir alsdann auf die Allheit der Fälle anwenden und übertragen, so wären wir niemals sicher, gerade die wesentlichen und allgemeingültigen Bestimmungen, die nicht in der zufälligen Natur des Einzelnen wur­ zeln, ergriffen zu haben. Die Bildung der allgemeinen Begriffe und Gesetze ist also nur zu verstehen, wenn wir sie nicht als eine | bloße Wiederholung des gegebenen Stoffes, sondern als eine spontane Schöp­ fung des Intellekts erkennen. Diese Schöpfung bedarf keiner fremden Vermittlung; der Geist gibt sich selbst den Stoff, aus dem er sich bil­ det und formt. Ein Prozeß, der freilich unverständlich bliebe, wenn er in sich selbst von Anfang an völlig passiv und bestimmungslos wäre: während wir in Wahrheit in seinem »innerlichen« Sein bereits den Gehalt aller derjenigen Formen voraussetzen müssen, die sich äußer­ lich in der Welt der Objekte vorfinden.111 So unterscheidet Ficinus scharf zwischen der üblichen Beschrän­ kung des Denkens auf die »Abstraktion« und zwischen seiner wahrhaften konstruktiven Betätigung: »Veras [...] definitiones essen­ tiarum non potest mens per accidentalia rerum simulachra fabri­ care, sed eas construit per infusas ab origine rerum omnium rationes.« Alles Denken ist ein Aus- und Aufbauen aus jenen ersten eingeborenen Voraussetzungen und Gründen. In ihnen besitzen wir - wie am Beispiel der Mathematik deutlich wird - die idealen Regeln, an denen wir die Wahrnehmung und ihre Exaktheit prüfen, die somit selbst ihre Grenze und ihr Maß nicht an den sinnlichen Empfindungen und Objekten haben können. Die reinen gedank­ lichen »Spezies« werden durch die Berührung mit der Außen­ 111 Zum Ganzen s. Ficino, Theologia Platonica (Buch 11, Kap. 3), fol. 236 ff. [fol. 237: »Sed quemadmodum pars vivifica per insita semina alterat, generat, nutrit et auget, ita interior sensus et mens per formulas innatas quidem, et ab extrinsecis excitatas omnia iudicant.« »[...] ut iudicium ipsum iudicatis formam naturamque sequatur, non iudicati.« »Idcirco sicut lapidum coniunctione unum quiddam simplex non fit, sed cumulus, ita per singularium turbam fiet forte qua­ edam simulachrorum confusio potius, quam una species atque simplex.«].

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Die Funktion des Begriffs

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weit nicht erzeugt, sondern nur ans Licht gefördert und zur Blüte gebracht; was Aristoteles ihre Erschaffung nennt, das ist mit Plato vielmehr als ihr »Aufleuchten« zu deuten.112 Die Tatsache allein, daß wir nach irgendeinem Inhalt forschen und fragen, beweist bereits, daß er nicht völlig außerhalb unserer Sphäre liegt: Denn das schlechthin und in jedem Sinne Unbekannte vermöch­ ten wir nicht zu begehren. Es ist der Grundgedanke des Platonischen »Menon«, an den Ficinus, wie vor ihm Cusa, hier anknüpft und der uns fortan in mannigfachen geschichtlichen Abwandlungen begleiten wird.113 Kein Wissen kann dem Individuum von außen aufgedrängt und eingesetzt werden; es muß aus seiner eigenen | Natur erweckt und erworben werden: »[...] qui docet, minister est potius quam magister.«114 Da die menschliche Gattung in allen ein und dieselbe und das Wesen des Geistes überall gleich ist, so ist die Zustimmung zu bestimmten Wahrheiten notwendig und allgemein. Die Prüfung und die Annahme jeglicher wissenschaftlicher Einsicht aber kann nur erfolgen, wenn die Regel der Wahrheit von innen her vor­ ausleuchtet und den Weg weist. Für den Gedankenkreis und die Stimmung, aus der die Florentinische Akademie erwachsen ist, ist es hierbei bezeichnend, daß Ficinus die Bürgschaft für den universalen und objektiven Wert der »Ideen« vor allem im Gebiete der Kunst findet. Hier offenbart sich am reinsten die unverbrüchliche geistige Einheit der Menschennatur. »Jeglicher Geist lobt die runde Gestalt, sobald er sie zum ersten Male erblickt und ohne den Grund dieses Urteils zu kennen. [...] Jeder schätzt eine bestimmte Angemessenheit und Proportion im Bau des menschlichen Leibes oder den Einklang in den Zahlen und Tönen. Er nennt eine bestimmte Gebärde und Haltung schön und würdig, er preist das Licht der Weisheit und die Anschauung der Wahrheit. Wenn nun jeder Geist dies alles immer und überall sogleich annimmt und gutheißt, ohne zu wissen, war­ um - so bleibt nur übrig, daß er hierin kraft eines notwendigen und durchaus natürlichen Instinktes handelt.«115 Diese Sätze Ficins 112 A. a. O. (Kap. 3 u. 4), fol. 241 [Zitat] u. 248. 113 Vgl. oben, S. 48 ff. 114 [Ficino, Theologia Platonica (Buch 11, Kap. 5), fol. 251.] 115 A.a.O., fol.249ff. [fol. 250: »Omnis mens figuram laudat rotundam in rebus statim consideratam, et cur laudet, ignorat. [...] Laudat insuper [...] mem­ brorum humanorum proportionem, sive numerorum vocumque concordiam. Commendat mortales gestus, et habitus tanquam decoros. Commendat sapientiae lucem, et veritatis intuitum. Si quaelibet mens haec omnia semper et ubique absciscit illico, et quam ob causam adsciscat ignorat, neque potest non adsciscere, instinctu adsciscit necessario prorsus et naturali.«].

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enthalten den Keim für eine Form des Platonismus, die uns in reife­ rer und tieferer Begründung bei Kepler entgegentreten wird. Werden indes bis hierher die Grundgedanken der Ideenlehre zwar vorzugsweise unter psychologischen Gesichtspunkten entwickelt, aber doch rein und unvermischt wiedergegeben, so vermag Ficin diese Scheidung nicht bis zu Ende durchzuführen. Wieder sind es neupla­ tonische Motive - in der Fassung, die sie durch Augustins Erkennt­ nislehre und Metaphysik erhalten haben -, die zuletzt die Vorherr­ schaft erlangen. Der Geist wurde nur deshalb auf sich selbst gestellt und aus der Abhängigkeit vom sinnlichen Stoffe gelöst, um ihn völlig und rein in das jenseitige, göttliche Ur | wesen ein- und aufgehen zu lassen. Jede wahrhafte Erkenntnis bedeutet eine Berührung und eine Gemeinschaft, die wir mit der unendlichen und vollkommenen geisti­ gen Substanz eingehen. Die eingeborenen »Formen« des Denkens wären kraft- und haltlos, wenn sie lediglich in unserem Bewußtsein Bestand hätten und nicht in einem Reiche für sich bestehender geisti­ ger Wesenheiten ihre genaue Entsprechung fänden. So ist das gesamte zwölfte Buch der »Platonischen Theologie« dem Nachweis gewid­ met, daß die menschliche Seele in ihrer reinen intellektuellen Erkennt­ nis vom göttlichen Bewußtsein bestimmt und geformt wird: »[...] nihil revera disci posse, nisi docente Deo.«116 Nicht wir sind es mehr, die das Unendliche begreifen und in feste gedankliche Schran­ ken bannen; wir müssen uns von ihm ergreifen lassen und uns darein auflösen, damit Erkenntnis möglich wird.117 Ausdrücklich wird für diese Anschauung auf die Logos-Lehre des Johannesevangeliums ver­ wiesen. Vom geschichtlichen Standpunkt ist auch dieser Teil von Ficins Werk bedeutsam und wichtig, da hier die Augustinische Auffassung der Ideenlehre von neuem in helles Licht gerückt und damit die Wirkung ermöglicht und vorbereitet wurde, die sie später­ hin in der modernen Philosophie noch üben sollte. Insbesondere be­ steht an diesem Punkte zwischen Ficinus und Malebranche ein innerer gedanklicher Zusammenhang: Die Beweisgründe des Satzes, »daß wir alle Dinge in Gott schauen«, finden sich fast vollständig bereits in der »Theologia Platonica« vereint.118 Bei allem Zusammen­ hang mit Augustin aber erweist sich auch hier der originale Charakter 116 A. a. O. (Buch 12, Überschrift), fol.259: »Rationes multae et signa, quod mens humana intelligendo mente divina formatur.« - Die angeführten Worte: a. a. O. (Kap. 1), fol. 261. 117 Ficino, Epistolae (Buch 2), fol. 673. 118 S. bes. ders., Theologia Platonica (Buch 12, Kap.7), fol.274ff. - Zu Malebranches Lehre und ihrem Verhältnis zu Augustin s. a. a. O. (Buch 3, Kap. 2), fol. 116ff.

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Ichbegriff und Gottesbegriff

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der Renaissance, indem wiederum diejenigen Züge herausgehoben und betont werden, die der ästhetischen Grundanschauung ver­ wandt sind. Wir könnten uns - so hatte schon Augustin argumen­ tiert - an | der sinnlichen Schönheit, wir könnten uns an der Konso­ nanz und der rhythmischen Folge der Töne nicht erfreuen, wenn nicht unsere Seele in sich selbst ein Mittel besäße, die reinen Zahlenver­ hältnisse durch alle konkreten Hüllen und Umkleidungen hindurch zu erkennen und herauszuschälen. Die »numeri iudiciales«, die auf dem Grunde unseres Bewußtseins ruhen, ermöglichen es erst, die Harmonie innerhalb der Sinnendinge zu erfassen und zu beurteilen. Die Gleichheit der Töne und Intervalle, die uns durch die Empfin­ dung nirgends exakt und beständig gegeben ist, sondern in ihr nur schattenhaft und flüchtig auftritt, vermöchten wir nicht zu erkennen und seelisch zu ergänzen, wäre sie uns nicht von andersher bekannt. Wahrhafte Gleichheit findet sich nicht in den Abständen des Raumes oder der Zeit, noch in den Formen der empirischen Körper; sie ist eine gedankliche Norm, die wir an den Stoff der Wahrnehmung heran­ bringen. Da aber diese Norm unveränderlich und ewig ist, so kann ihr Ursprung nirgends anders als in dem ewigen und unvergänglichen Wesen der Gottheit gesucht werden; die begriffliche Reflexion und Selbstbesinnung, die der Lösung jedes Problems vorangehen muß, ist daher eine innerliche Hinwendung zu Gott, in dem wir das eine, wan­ dellose Wahre erschauen und begreifen.119 Zwei Grundmotive sind es somit, die in Ficins Lehre einander ent­ gegenwirken. Der Ausblick auf das Intelligible bedeutet ihm, wie der gesamten Renaissance, zugleich die Erhöhung und Wertschätzung des empirischen Seins. Die Stimmung des Florentiner platonischen Kreises, wie sie sich in den Hymnen des Lorenzo Magnifico aus­ spricht, ist auch ihm nicht fremd. »Während die Menschen des Mit­ telalters die Welt ansehen als ein Jammertal, welches Papst und Kaiser hüten müssen bis zum Auftreten des Antichrist, während die Fatali­ sten der Renaissance abwechseln zwischen Zeiten der Energie und Zeiten der dumpfen Resignation oder des Aberglaubens, erhebt sich hier, im Kreise auserwählter Geister, die Idee, daß die sichtbare Welt von Gott aus Liebe geschaffen, daß sie ein Abbild des in ihm | präexistierenden Vorbildes sei, und daß er ihr dauernder Beweger und Fort­ schöpfer bleiben werde. Die Seele des einzelnen kann zunächst durch 119 A. a. O. (Buch 12, Kap. 6), fol. 273 f. Vgl. bes. Aurelius Augustinus, De civi­ tate Dei libri XXII (Buch 8, Kap. 6), in: Opera omnia, Bd.VII, Sp. 13-804: Sp. 231 f.; De libero arbitrio (Buch 2, Kap. 16), Sp. 1263 ff.; De vera religione (Buch 1, Kap. 30), Sp. 145 ff.

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das Erkennen Gottes ihn in ihre engen Schranken zusammenziehen, aber auch durch Liebe zu ihm sich ins Unendliche ausdehnen, und dies ist dann die Seligkeit auf Erden.«120 So bedeutet denn auch für Ficin die Verbindung der Seele mit dem Körper und der Sinnenwelt nicht schlechthin einen Abfall von ihrer ursprünglichen und höheren Natur, sondern er sucht sie in ihrem Wert und in ihrer Notwendigkeit zu begreifen. Verharrte der Geist in seiner eigenen unberührbaren Wesenheit, so wäre ihm damit die Anschauung und die Erkenntnis des Einzelnen versagt. Der abstrakte Allgemeinbegriff allein würde ihn ausfüllen, während die Schönheit und Mannigfaltigkeit der beson­ deren Gestalten und Formen sich ihm für immer entzöge. Hier aber liegt für den Menschen der Sinn und die Bedeutung seines empiri­ schen Daseins: »Am farbigen Abglanz haben wir das Leben.«120a Ein modernes Grundgefühl spricht sich hier in Begriffen und Formen der überlieferten astronomischen Weltansicht aus. Die Erde ist kein nie­ derer und verächtlicher Wohnsitz; sie ist der mittlere Chor des göttli­ chen Tempels und das feste Fundament, um das alle himmlischen Sphären wie um ihren Angelpunkt kreisen. Die Bewegtheit und Wan­ delbarkeit des irdischen Seins ist kein innerer Mangel, sondern wir besitzen in ihr das notwendige Gegenbild, an dem wir die Ruhe und den Frieden in Gott erst empfinden und genießen lernen. »Vielleicht hat Gott selbst bestimmt, daß die göttlichen Freuden den Geistern von höherem Range von selbst zufallen, während die niederen sie mit Mühe zu erringen haben; daß die einen von Geburt an der Seligkeit teilhaft werden, während die anderen sie erst im Leben erwerben müs­ sen. So hat er verhütet, daß die höheren Geister sich überheben und daß die niederen sich verachten, da jene die Glückseligkeit von außen empfangen, diese dagegen die Schöpfer ihrer Glückseligkeit sind.«121 Die | Unvollkommenheit des Individuums selbst wird somit zum Zeugnis seiner ewigen Bestimmung. Trotz allen diesen charakteristi­ schen und wichtigen Ansätzen aber ist es Ficin nicht gelungen, den

120 [Jacob Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Basel 1860, S.561.] i2°a [Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Zweiter Theil (Werke [Weimarer Ausg.], 1. Abt., Bd.XV/1), Weimar 1899, S. 7] 121 Ficino, Theologia Platonica (Buch 16, Kap. 4), fol. 365 [»Forsitan et ipse Deus instituit divina gaudia superioribus quidem mentium gradibus natura obtin­ gere, ordini vero inferiori laboribus comparari, ut essent et qui nascendo beati fie­ rent, et qui se vivendo beatos efficerent, ne aut sublimes spiritus pluris quam sint aestimentur, cum aliunde beatitudinem nanciscantur, aut inferiores spiritus con­ temnantur, cum ipsimet sibi sint beatitudinis authores.«]; a. a. O. (Kap. 6), fol. 368. Vgl. wiederum Cusanus, Idiota (Buch 3, Kap. 13), fol. 93 a (oben, S. 24 f.).

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Die kritische Erneuerung der Aristotelischen Lehre

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Gedanken der Transzendenz zu bewältigen und auizulösen. Im Ganzen des Systems bleibt dieser Gedanke zuletzt dennoch das vor­ herrschende Ideal. Dionysius Areopagita wird der Verkünder und Gewährsmann der echten Platonischen Philosophie, weil er uns gelehrt hat, das göttliche Licht nicht durch verstandesmäßige Tätig­ keit, sondern kraft des Affekts und Willens, als über jegliches Sein und Wissen erhaben, zu suchen. »Überfliege nicht nur die Sinnendinge, sondern auch die intelligiblen Objekte, verlasse das Gebiet des Ver­ standes und erhebe dich - vermöge der Liebe zu dem einzigen und höchsten Gut - zum Guten selbst [...] das über alles Sein, über alles Leben und allen Verstand hinausliegt.«122 Die Relativität, die noch eben als eine Notwendigkeit des menschlichen Erkennens begrif­ fen schien, erscheint somit hier wiederum als seine Schranke. In die­ sem Zwiespalt offenbart sich ein tieferer gedanklicher Widerstreit, der die gesamte Philosophie der Renaissance durchzieht und der uns noch in mancherlei Formen begegnen wird.

II. Die Reform der Aristotelischen Psychologie Es wäre geschichtlich einseitig und ungerecht, wenn man das ent­ scheidende und positive Ergebnis der Renaissancephilosophie ledig­ lich in der Bekämpfung des Aristotelismus erblickte. Das neue Ver­ ständnis der antiken Kultur, das jetzt gewonnen wird, kommt auch der Erfassung der echten peripatetischen Lehre zugute. Der Scho­ lastik werden nun die Grundgedanken ihres eigenen Meisters in der genaueren und reineren Fassung, in der die philologische Kritik sie wiederhergestellt hat, entgegengehalten: Auf den | originalen Denker Aristoteles beruft man sich, um Aristoteles als Schulhaupt zu stürzen. Leonardo Bruni, der erste Übersetzer der wichtigsten Platoni­ schen Dialoge, überträgt auch die Aristotelische »Politik« und die »Nikomachische Ethik«, und in dem Maße, als er sich in diese Werke vertieft, glaubt er mehr und mehr zu erkennen, daß die Form, in welcher man sie bisher allein kannte, die Schuld trägt, wenn sie nicht ihre volle geschichtliche Wirkung auszuüben vermochten. Könnte Aristoteles wieder unter uns erscheinen: er würde erzürnt seine eige­

122 Marsilio Ficino, Dionysii Areopagitae translatio una cum suis argumentis (Orationem Dionysii de Trinitate, Argumentum), in: Opera, Bd. II, fol. 1-103: fol. 2ff. [fol. 3: »Transcende non solum sensibilia, sed etiam intelligibilia, et quasi intelligentiam negligens sola solius primi boni amore, te confer ad ipsum.«', fol. 4: »[...] quod bonum sit super essentiam, vitam, intelligentiam.«].

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Die Reform der Aristotelischen Psychologie

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nen Schriften in der barbarischen Gestalt, die ihnen das scholastische Latein gegeben, verleugnen und von sich weisen. Und doch schließen diese Schriften in ihrer ursprünglichen Fassung alle Vorbedingungen für die wahrhafte humanistische Erziehung und für die Bildung zum Redner in sich.123 Auch Bessarion - nach dem Worte Ficins einer der ersten in der großen »platonischen Familie« - fertigt nichtsdesto­ weniger mit Eifer und Sorgfalt eine neue Übersetzung der Aristoteli­ schen »Metaphysik« an, deren Manuskript er Nicolaus Cusanus zum Geschenk überläßt.124 In den Kreisen der Florentinischen Akademie ist es sodann Giovanni Pico della Mirandola, der die Versöh­ nung von Platon und Aristoteles als das eigentliche Endziel der Phi­ losophie betrachtet und verkündet.125 Nicht die Befangenheit in der geschichtlichen Überlieferung spricht sich in solchen Versuchen aus, sondern die freiere, dogmatisch nicht beengte Auffassung, die man von der peripatetischen Lehre selbst, ihrem Gehalt und ihren Entste­ hungsbedingungen gewonnen hat. Von den Einzelsätzen des Systems, die zuvor als unveräußerlicher und unverrückbarer Bestand galten, wird auf die gedanklichen Motive zurückgegangen; der feste geschlos­ sene Bau des Ganzen beginnt sich zu lockern, und an seine Stelle | tritt die dialektische Bewegung und die Wiederherstellung des Denkprozesses, in dem die einzelnen Grundsätze erreicht wurden. Schon der Gegensatz der Auslegungen, der Streit zwischen »Alexandristen« und »Averroisten«, dient dieser selbständigen und freieren Form der Aneignung. Für die neue Richtung, die damit eingeschlagen wird, aber ist es vor allem bezeichnend, daß die Grundfragen der Aristotelischen Psychologie und Erkenntnislehre es sind, die jetzt in den Mit­ telpunkt der Betrachtung rücken. Das Mittelalter wird, abgesehen von den logischen Streitigkeiten, vor allem durch die Aristotelische Meta­ physik und Physik beherrscht und bestimmt: Der Aufbau des Kos­ mos und sein Zusammenhang mit dem »unbewegten Beweger« ist es,

123 S. Leonardo Brunis Vorrede zur Übersetzung der »Nikomachischen Ethik« [in: Aristoteles, Ethica ad Nicomachum, übers, v. Leonardo Bruni, Straß­ burg 1469, o. SJ; vgl. Arnaldo DellaTorre (Kap. 3), Storia dell’Accademia Plato­ nica di Firenze, Florenz 1902, S. 447 ff. 124 Vgl. Rocholl, Bessarion, S. 113 u. 163. 125 Giovanni Pico della Mirandola, Apologia adversus eos, qui aliquot propo­ sitiones theologicas carpebant, in: Giovanni Pico della Mirandola / Giovanni Franceso Pico della Mirandola, Opera quae extant omnia: non tamen literatis viri­ bus utilia, quam necessaria in unum corpus redacta, 2 Bde., Basel 1601, Bd.I, fol. 76-158: fol. 83: »Nullum est quaesitum naturale aut divinum, in quo Aristoteles et Plato sensu et re non conveniant, quamvis verbis dissentire videantur.« [Zz/r Ausgabe vgl. unten, S. 121, Anm. 193.]

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Der Übergang zum modernen Begriff des Bewußtseins

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der sein Interesse fesselt. Alle diese Fragen treten jetzt völlig zurück: Einzig und allein der Begriff und das Problem der Seele entschei­ det nun über die Parteistellung innerhalb der peripatetischen Philo­ sophie. Eine Erzählung aus dieser Zeit berichtet, wie Portius, als er seine Lehrtätigkeit in Pisa mit einer Vorlesung über die »Meteorologica« des Aristoteles zu beginnen gedachte, durch stürmische Zurufe seiner Zuhörer: »Sprich uns von der Seele!« unterbrochen wurde.126 In diesem allgemeinen Interesse aber bekundet sich, wenn­ gleich zunächst noch nicht bewußt und bestimmt, zugleich die gedankliche Richtung auf ein neues Ziel: Die dialektische Zer­ gliederung des Aristotelischen Seelenbegriffs wird zu einem Faktor in der Entstehung des modernen Bewußt­ seinsbegriffs. Die Psychologie des Aristoteles wird ihren wesentlichen Hauptzü­ gen nach durch die Voraussetzungen seiner Metaphysik und Erkennt­ nislehre bestimmt. Wie das wahrhafte Sein im Einzeldinge gesucht wird, so gilt die Wahrnehmung, die dieses konkrete Dasein unmittel­ bar erschließt, als der ursprüngliche Zeuge jeglicher Gewißheit. Die Entwicklung zu den höheren Formen des Denkens vollzieht sich | nur in der fortschreitenden Umbildung des Stoffes, der hier gegeben ist. Auch die höchsten Betätigungen und Leistungen des Denkens bleiben an diesen Anfang, der in der Empfindung und »Vorstellung« liegt, gebunden und auf ihn eingeschränkt. Von der αϊα&ησι,ζ zur δόξα, von ihr zur φαντασία und zum νους führt ein stetiger, nirgends unter­ brochener Stufengang, in dem jedes höhere Element nur erfüllt und vollendet, was im niederen bereits der Möglichkeit nach enthalten und angelegt war. Was der Begriff an selbständigem Inhalt und an selb­ ständiger logischer Bedeutung in sich birgt, das kann sich daher nicht anders als in der ständigen Berührung mit dem Wahrnehmungsinhalt entfalten. In diesem Verhältnis stellt sich das allgemeine Prinzip, das alles organische Werden beherrscht, nur von einer neuen Seite dar: Die reine »Form« bleibt notwendig auf die »Materie« bezogen und erhält nur in ihr ihren Halt und ihre Ergänzung. Die Seele ist demnach nichts anderes als die Einheit, in der alle Lebensvorgänge des Körpers sich zusammenschließen: eine Einheit, die gemäß den Grundvoraus­ setzungen des Systems zugleich als der allgemeine Zweck gedacht wird, dem alle einzelnen Bewegungen zustreben, wie als die wirken­ de Ursache, die sie aus sich hervorgehen läßt. Die Erklärung, nach 126 Vgl. Leopold Mabilleau, Etüde historique sur la philosophie de la renaissance en Italie (Cesare Cremonini), Paris 1881, S. 275, Anm. 1 [hier: »Parlez-nous de l’äme!«].

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Die Reform der Aristotelischen Psychologie

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der sie »die erste Entelechie eines natürlichen Körpers ist, dem dank seiner Organisation die Fähigkeit zu leben zukommt (εντελέχεια ή πρώτη σώματος φυσικόν δυνάμει ζωήν έχοντος)«127, bringt dieses Wechselverhältnis zum scharfen und eindeutigen Ausdruck. Die Seele bedeutet nur das Prinzip, das die mannigfachen biologischen Pro­ zesse reguliert und sie einer gemeinsamen individuellen Bestim­ mung zuführt und einordnet. Ohne den physischen Körper würde sie daher des notwendigen Materials ermangeln, an dem allein sie ihre Funktion betätigen kann. Eine losgelöste Wirkung wie ein abgeson­ dertes Sein des Seelischen bleibt innerhalb dieses Zusammenhangs unverständlich. Mit diesem Gesichtspunkt aber, der aus der Aristotelischen Ent­ wicklungslehre stammt, tritt das schließliche Ergebnis seiner Er­ kenntnistheorie in einen eigentümlichen Widerstreit. Dem »wahr­ haften Sein« der pla | tonischen Idee hatte Aristoteles das Dasein und die individuelle Bestimmtheit der besonderen Objekte entgegen­ gesetzt. In seiner Definition des Wissens aber, im Begriff der επιστήμη, bleibt er vom Grundgedanken der Ideenlehre, den er frei­ lich nicht in reiner, unvermischter Gestalt festhält, dennoch mittelbar abhängig. Die Prinzipien des Wissens, sein Gegenstand und seine Auf­ gabe liegen lediglich in allgemeinen Begriffen und Sätzen. So ent­ steht der Grundwiderspruch, der das System in zwei Hälften spaltet und der in allen seinen Phasen und Teilen in irgendeiner Form zum Ausdruck kommt: Die volle Wirklichkeit, wie sie die Metaphysik definiert, das besondere, aus Form und Materie zusammengesetzte Einzelding widerstreitet den Bedingungen, die die Erkenntnis für ihr Objekt aufstellen muß. Innerhalb der Aristotelischen Psychologie spiegelt sich der Gegensatz in der Doppelstellung, die der »Verstand«, dem die Erkenntnis der allgemeinen Prinzipien zugewiesen wird, gegenüber den übrigen seelischen Vermögen behält. Während er als »leidender Verstand«, als νους παθητικός, nur den Stoff, den Sinne und Einbildungskraft ihm bieten, aufzunehmen und zusammenzufas­ sen hat, soll er als tätiger Verstand von dieser Bedingtheit frei sein: Während nach der stetigen Stufenfolge der psychologischen Kräfte das Denken nur am »Phantasma«, am Vorstellungsbild, geübt werden kann, tritt jetzt eine »andere Art« seelischer Betätigung auf, die die intelligiblen und allgemeinen Objekte rein und unvermischt erfaßt. Vom Sinnlichen unabhängig soll die aktive Denkkraft ein eigenes und selbstgenügsames Sein besitzen. Die Naturbedingungen, die die Ent­ stehung und den Verlauf des organischen Lebens regeln, verlieren die­ 127 [Aristoteles, De anima (Buch 2, Abschn. 1), 412 a, Z. 27 f.]

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Die Lehre vom »tätigen Verstände-

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sem Teil der Seele gegenüber ihre Kraft. Wie der Geist »von außen her« (ϋνρα&εν) in fertiger und abgeschlossener Gestalt in den individuel­ len Körper eintritt: so soll er auch die Existenz des Körpers überdau­ ern und außerhalb seiner Grenzen fortbestehen können. Er ist das ewige und »göttliche« Prinzip, das sich mit der Materie zwar zu gemeinschaftlichem Dasein verbindet, das aber durch sie in seiner Wesenheit nicht berührt und bestimmt wird. Wir erkennen hier | die tieferen, sachlichen Motive, aus denen die peripatetische Lehre vom tätigen Verstände hervorgegangen ist. Die metaphysische Psychologie soll dem Denken wiederum jene spontane Wirksamkeit zurückge­ ben und sichern, die ihm kraft des genetischen Gesichtspunkts der Erkenntnislehre versagt scheint. Jetzt aber vermag die Verhältnisbe­ stimmung von Sinnlichkeit und Verstand nicht mehr im methodi­ schen Sinne zu erfolgen: Sie fordert, innerhalb der Seele selbst, eine substantielle Sonderung. Die »Abtrennung« der Idee von den Einzel­ dingen, wie er sie bei Platon annimmt, hat Aristoteles verspottet und bekämpft: Aber an Stelle des logischen Unterschiedes, der hier doch immer bestimmend blieb, tritt bei ihm die Behauptung des aktiven Intellekts als eines gesonderten und losgelösten Organs der Seele (χωριστός καί άπαΰής καί αμιγής'). Und während insbesondere die späteren Platonischen Dialoge sich bemühen, Idee und Erscheinung, Intellekt und Sinnlichkeit in durchgängiger Korrelation zueinan­ der zu fassen, endet das System der Entwicklung mit einem duali­ stischen Gegensatz: mit einem Sein, das durch die vorangehenden Stu­ fen nicht stetig vermittelt und bedingt ist, sondern sie prinzipiell überragt und ihnen abgeschlossen und unabhängig vorangeht. Zu weiterer Bestimmung gelangt dieser Gegensatz bei den arabi­ schen Kommentatoren des Aristoteles, deren Lehre Averroes im 12. Jahrhundert zusammenfaßt und endgültig fixiert.128 Passiver und aktiver Intellekt verhalten sich wie Materie und Form, wie Potenz und Akt; während der erstere die Fähigkeit besitzt, alles zu werden und alle Formen der Dinge nacheinander in sich aufzunehmen, kommt dem letzteren das Vermögen eigener und schöpferischer Wirksamkeit, damit aber zugleich die Möglichkeit einer selbständigen Existenz­ weise zu. Indem indes der tätige Geist allen Bedingungen des sinnli­ chen Daseins entrückt wird, fällt damit auch seine individuelle Begrenzung hinweg. Er ist eine ursprüngliche identische Einheit, an der die ver | schiedenen Individuen in mannigfacher Weise teilha­ 128 Zum Folgenden vgl. Renan, Averroes et l’Averroi’sme; Francesco Fioren­ tino, Pietro Pomponazzi studi storici su la scuola Bolognese e Padovana del secolo XVI con molti documenti inediti, Florenz 1868.

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Die Reform der Aristotelischen Psychologie

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ben, die aber selbst über jede Vielheit und Verschiedenheit erhaben ist und getrennt von ihr existiert. Ein und dieselbe Denkkraft ist es, die sich bald auf dieses, bald auf jenes Individuum herabsenkt und die sich in ihm, je nach den besonderen Bedingungen seiner Organisation, betätigt.129 Sie selbst bleibt hierbei als reine Form von allen Ein­ schränkungen der materiellen Einzelwesen frei. Sie vermag diese Ein­ schränkungen, die ihr eigenes höheres Sein nicht berühren, eine Zeitlang zu dulden, ohne sich jemals gänzlich an sie zu verlieren. Nur ein loser Zusammenhang ist es somit, der gemäß dieser Grundanschau­ ung den Prozeß des Erkennens mit der Gesamtheit der übrigen phy­ sischen und psychischen Vorgänge verknüpft. Gerade dies ist der charakteristische Wert und Vorzug des Erkennens, daß in ihm das ein­ zelne Subjekt über sich selbst hinauswächst, um rein in die eine unper­ sönliche Denkkraft aufzugehen. Sie ist es, die in uns denkt und will; die allein an der Anschauung der obersten Prinzipien teilnimmt, weil sie mit ihnen den Grundzug der Allgemeinheit und Unveränderlich­ keit gemein hat. Man hat diese Lehre, um sie verständlich zu machen, mit modernen idealistischen Systemen, vor allem mit Malebranches Gedanken der einen göttlichen Vernunft, die alle Men­ schen gleichmäßig erleuchtet, verglichen.130 Die eigentümliche ge­ schichtliche Gestalt des Averroismus aber wird durch derartige Analogien nicht getroffen. Malebranches Lehre entsteht im vollen Lichte der neueren Philosophie und ruht auf ihrer Grundüberzeu­ gung, daß der echte Anfang der Forschung nicht im Sein, sondern im Wissen zu suchen ist. Die Schwierigkeit der averroistischen An­ schauung dagegen liegt für jeden modernen Beurteiler in der völligen Umkehrung dieses Grund | Verhältnisses. Von einem fertigen und bestimmten Bilde der Welt wird ausgegangen, um von ihm aus dem Intellekt seine Sonderstellung zuzuweisen. Die kosmologische An­ schauung der verschiedenen himmlischen Sphären, deren jede durch einen stofflosen und ewigen Beweger im Kreise herumgeführt wird, liegt überall zugrunde. Noch ehe irgendeine Untersuchung über die Erkenntnis, ihre Eigenart und ihre Bedingungen vorangegan­ gen ist, ist bereits diese physische Leistung der »reinen Intelligenzen«, ihre Fähigkeit, den Lauf der Gestirne zu regeln, ohne selbst durch die 129 Zur averroistischen Lehre vom »intellectus agens« vgl. bes. Augustinus Niphus, De immortalitate animae (Kap. 18 ff.), Venedig 1518, fol. 18 ff. S. auch ders., In librum de anima Aristotelis et Averroys commentatio (Buch 3, Kom­ mentar 20-22), in: Super tres libros de anima,Venedig 1503, o.S.- S. ferner die Diskussion des averroistischen Standpunkts bei Alexander Achillini, De intelligentiis, in: Opera omnia in unum collecta, Venedig 1545, fol. 1 a-22a: fol. 10 ff. 130 Renan, Averroes et l’Averroi’sme, S. 125.

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Der Averroismus

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Gemeinschaft mit ihnen einen Einfluß und eine Rückwirkung zu erfahren, festgestellt. Der aktive Intellekt, die eine Denkkraft, die in allen Individuen gleichmäßig wirkt, ist nur die letzte und niedrigste dieser seelischen Kräfte, die den Umschwung des Himmels beherr­ schen. Der menschliche Verstand wird zur vereinzelten kosmi­ schen Potenz, die sich der hierarchischen Gliederung des Alls und seiner Kräfte einfügt. So wird hier der Intellekt, um ihn über die empi­ rische Bedingtheit hinauszuheben, zu einer überpersönlichen Wesen­ heit jenseits alles besonderen Bewußtseins gemacht; auf der anderen Seite aber ist er dennoch mit der Gesamtnatur verschmolzen und in sie als Bestandteil ein- und untergegangen. Aus diesem Hauptmangel der averroistischen Ansicht erklärt sich die Bedeutung, die die gegnerische Auffassung, die an den Kommen­ tar des Alexander von Aphrodisias anknüpft, mit Beginn der neueren Zeit überall gewinnt.131 Während der Streit, von außen gese­ hen, sich auf das Problem der Unsterblichkeit beschränkt, die von den Alexandristen geleugnet, von den Averroisten nicht den Indivi­ duen, wohl aber dem allumfassenden tätigen Verstand zugestanden wird, liegt das tiefere Motiv des Gegensatzes in der verschiedenen Grundauffassung der Erkenntnis. Es ist das Verdienst von Pietro Pomponazzis Werk über die Unsterblichkeit, daß es das Problem wiederum auf | dieses ihm eigene Gebiet zurückversetzt. Zwar beginnt auch Pomponazzis Schrift zunächst mit rein metaphysischen Erörte­ rungen, in welchen die Stellung des Menschen im Ganzen der Wirk­ lichkeit bestimmt werden soll. Mit den ersten Anfängen der Selbst­ erkenntnis fühlen wir zugleich den Zwiespalt unserer Natur und unseres Ursprungs. Wie unser seelisches Leben sich als ein Ganzes ve­ getativer, sensitiver und intellektueller Funktionen darstellt, deren keine auf die andere zurückzuführen ist, so scheinen es auch drei ver­ schiedene Subjekte zu sein, an die wir diese mannigfachen Betäti­ gungsweisen verteilen müssen. Die Frage nach der Unsterblichkeit läßt somit keine feste und eindeutige Antwort mehr zu, sondern hängt von der sachlichen Verknüpfung ab, die wir zwischen diesen begriff­ lich getrennten Grundnaturen in uns annehmen. Sollen wir, mit Averroes, die sinnlichen Kräfte in den einzelnen Individuen als verschie­ den, die denkende Kraft in ihnen dagegen als numerisch eine setzen und somit die Seele in zwei heterogene Hälften spalten, deren einer jede Besonderung, deren anderer jede Allgemeinheit fremd ist? Aber 131 Daß eine scharfe und bewußte Trennung der »Alexandristen« und »Aver­ roisten« bestand, wird, gegen Heinrich Ritter und Renan, von Fiorentino erwie­ sen (Pietro Pomponazzi, S. 302 u. S. 306).

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das eigentliche Problem der Individualität wäre mit einer derartigen Auskunft nicht gelöst; denn es wird hier von Anfang an an eine falsche Stelle verlegt. Was den Menschen zu diesem besonderen Einzelwesen macht, was Sokrates von Platon der eigentlichen Wesenheit nach un­ terscheidet: das ist kein äußerer, sinnlich faßbarer und greifbarer Unterschied, sondern die Differenz im Intellektuellen selbst. Nicht als ein allgemeines, verschwimmendes Gattungswesen, sondern umge­ kehrt als das Grundprinzip der Spezifikation tritt uns somit der »Verstand« entgegen.132 Die numerische Trennung der »Intelligen­ zen« steht als ein Datum der Erfahrung fest: Sie leugnen hieße | eine metaphysische Phantasie, wie sie willkürlicher und absonderlicher kein Künstler jemals ersonnen hat, an die Stelle der Vernunft und der unbefangenen Beobachtung setzen.133 Die Anerkennung der Beson­ derheit der Denkkraft aber schließt zugleich in sich, daß auch ihr Ver­ hältnis zu dem Körper, dem sie zugehört, nicht mehr als eine rein äußerliche Verbundenheit aufgefaßt werden kann. Jede Einzelseele ist zugleich die Seele ihres Leibes und drückt ihn in aller Bestimmtheit seiner organischen Natur und seiner organischen Veränderungen aus. Sie ist an ihn nicht nur durch ein äußeres Band wie das Ochsengespann an die Pflugschar gekettet, sondern in all ihren wesentlichen Betäti­ gungen dauernd und notwendig auf ihn bezogen. »Beseelt« heißt uns ein Körper nur insofern, als alle Vorgänge, die sich in ihm abspielen, sich wechselweise bedingen, indem sie sich dem einen Ziel der Selbst­ erhaltung und Selbstvervollkommnung des Lebewesens unterordnen: Dieses Ziel aber kann nirgend anders als im Körper und durch ihn erreicht werden. So steht schon der bloße Gedanke einer möglichen Abtrennung der Seele im Widerspruch zu ihrem ursprünglichen Begriff und zu der Leistung, die ihr nach der Grundanschauung des Aristotelischen Systems zufällt. Die Tatsache einer solchen Abtren­ nung zwar soll - wie Pomponazzi versichert - nicht bestritten wer­ den: Denn sie steht durch die Autorität der Schrift und der gesamten

132 »[...] Socrates enim distinguitur a Platone ut hic homo ab illo homine, non est autem hic homo nisi per intellectum, ut etiam ipse Averroes fatetur [...] Quare alter est intellectus Socratis ab intellectu Platonis: Etenim si unus amborum esset intellectus, amborum esset idem esse et operari, sed quid stultius excogitari potest?« Pietro Pomponazzi, Tractatus de immortalitate animae (1516) (Kap.5), o. O. 1534, S.27. 133 A.a. O. (Kap. 9), S.65 f.: »Quod si quis dicat neutram opinionem esse veram, sed illam Averrois, profecto apud me quicunque eam opinionem imagina­ tur ipse est fortissimae imaginationis, credoque pictores nunquam pulchrius mon­ strum hoc monstro finxisse [...]«

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Die Korrelation von Seele und Körper

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Kirchenlehre unzweideutig fest.134 Die reinen Vernunftgründe aber führen, sobald wir uns ihnen überlassen, überall zwingend auf das entgegengesetzte Ergebnis. Die Lehre, daß die Seele sich vom Körper lösen und in eine völlig neue Daseinsform übergehen könne, daß sie in der Zeit zwar entstanden sei, aber nicht in ihr vergehen werde, daß sie den Leib wie ein bloßes Gewand ausziehen und abstreifen könne, steht, vom Standpunkt der rein natürlichen Erkenntniskräfte beur­ teilt, auf einer Stufe mit den Gespenstererzählungen, an | die die Men­ ge glaubt.135 Jeder Beweis, der für sie versucht wird, verkennt den eigentümlichen Charakter ihrer »Wahrheit«: Er sucht dem Begriff nahe zu bringen, was sich dem Wesen und der Aufgabe des Begriffs selbst widersetzt. So bedeutsam diese Folgerung und die Schrift, in der sie ausgeführt wird, vom Standpunkt der allgemeinen Kulturgeschichte ist: ihr eigentlich philosophisches Interesse erhält sie erst dadurch, daß es eine eingreifende Analyse der Erkenntnis ist, auf die sie sich stützt und die sie allenthalben voraussetzt. Die Einheit des Be­ wußtseins wird als die Grundtatsache festgestellt, hinter die keine Theorie zurückzugehen vermag. Es ist ein und dasselbe Ich, das jetzt diesen oder jenen Sinneseindruck empfängt und das ein anderes Mal über ihn reflektiert und sich damit zu den reinen und abstrakten Begriffen erhebt. Nichts berechtigt uns, diesen Unterschied zweier Leistungen zu einem realen Gegensatz zweier Substanzen umzu­ deuten, die im denkenden Individuum nur wie in einer zufälligen Verbindung zusammenträfen. Das Vermögen der Wahrnehmung ist in der reinen Intelligenz wie das Dreieck im Viereck enthalten: Nicht um getrennte Dinge, sondern um die Zerlegung in begriffliche Mo­ mente und Gesichtspunkte handelt es sich.136 Die Erfahrung zeigt uns überall, daß der Gedanke nur auf dem Grunde des »Phantasma« entstehen kann und daß er, wie abstrakt auch sein Inhalt sein mag, als 134 A.a. O. (Kap. 8),S.35. 135 A.a.O. (Kap. 9), S. 59 ff. 136 »primo quidem hoc videtur experimento contradicere: ego enim qui haec scribo multis cruciatibus corporis angustior, quod opus est sensitivae: idemque ego qui crucior discurro per causas medicinales ut refellam hos cruciatus, quod nisi per intellectum fieri non potest: si igitur altera esset essentia qua sentio, et qua intelligo, quo igitur modo fieri posset ut idem qui sentio sim ille qui intelligo: sic etenim dicere possemus quod duo homines simul coniuncti sic mutuas habent cognitiones, quod ridiculum est: Quod autem hujusmodi opinio sit ab Aristotele remota non difficile est videre: etenim 2. de anima ponit vegetativum in sensitivo veluti trigonum in tretragono, sed manifestum est trigonum in tetragono non esse tanquam rem realiter ab eo distinctam, scilicet quod est trigonum in potentia est actu tetragonum [...]« A.a.O. (Kap.6), S.29.

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psychologischer Akt doch niemals der sinnlichen Unter|läge zu entraten vermag. Jede andere Tätigkeitsweise, die wir uns etwa aus­ denken mögen, bleibt das Gebilde müßiger Spekulation. Wer eine doppelte Wirksamkeit des Intellekts, wer neben seiner empirisch be­ kannten Funktion eine andere annimmt, die losgelöst von den Schranken unserer sinnlichen Erfahrung ausgeübt wird, der hat, da das Sein durch die Tätigkeit bestimmt wird, in Wahrheit ein doppeltes Sein gesetzt und neben den natürlichen Menschen, der uns allein gegeben ist, einen zweiten, jenseitigen Menschen gestellt.137 In diesem Gedanken, auf den Pomponazzi immer von neuem zurückkommt, spricht sich eine Auffassung aus, die der Renaissance gemeinsam ist. Dante wie Petrarca wenden sich beide energisch vom Averroismus ab, den sie als herrschende Lehre an den italieni­ schen Universitäten vorfinden.138 Auch sie mögen hierbei von einem Motiv mitbestimmt sein, das gelegentlich in der philosophischen Literatur der Epoche zum klaren Ausdruck kommt: Der Seele die Einheit absprechen hieße ihren Wert verleugnen und herab­ setzen.139 Es ist vergeblich, das Ich aus heterogenen Bestandteilen und Wesenheiten zusammensetzen zu wollen, da in ihm vielmehr jener erste Quell- und Ursprungspunkt liegt, aus dem alle Verschie­ denheit erst nachträglich | sich entfaltet. Zwar hat sich auch Pompo­ nazzi dem allgemeinen Glauben der Zeit an die Existenz gesonderter und reiner Intelligenzen, wie sie den himmlischen Sphären als Bewe­ ger beigesellt sind, nicht entziehen können; ja er hat, unter dieser Voraussetzung, den gesamten astrologischen Aberglauben seiner Zeit 137 »[...] modus humanus intelligendi non videtur posse transmutari in modum intelligentiae [separatae], quod esset si intelligeret absque indigentia cor­ poris [...] hoc etiam firmatur, quia sic natura transmutaretur in alteram [Cassirer: aliam statt alteram] naturam, cum operationes essentiales transmutarentur. Amplius per nullum naturale signum cognosci potest intellectum humanum habere alium modum intelligendi ut experimento comprehendimus, quoniam semper indigemus phantasmate [...]« A.a. O. (Kap. 9), S.56. 138 S. Dante Alighieri, La divina commedia (Purgatorio, 25. Gesang), hrsg. v. Carl Witte, Berlin 1862, S. 407ff.; vgl. Francesco Petrarca, De sui ipsius et mul­ torum ignorantia, Genf 1609. 139 »Quocirca non sunt ponendae tres animae in homine, una vegetativa, altera sensitiva re ipsa a prima differens, et tertia intellectiva, diversis temporibus (ut plerique arbitrantur) homini adventantes. Esset enim homo rerum naturalium dignissimum et consummatissimum, minus unus terra, quam concedunt unam tantum formam habere. Sed una tantum homini et cuique viventi est anima, quae ab operationum quas efficit diversitatem, diversa sibi nomina vendicat.« Jacobus Faber Stapulensis, Introductio in Aristotelis libros de anima, in: Franciscus Vatablus, Totius philosophiae naturalis paraphrasis, Paris 1533, fol. 184a-187b: fol. 185b.

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Stoff und Form der Erkenntnis

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noch einmal zu einem vollständigen System zusammengefaßt.140 Für die Begriffsbestimmung der menschlichen Seele aber bleiben ihm alle diese Spekulationen außer Betracht - hier spricht er es vielmehr in aller Entschiedenheit aus, daß es lediglich die sicheren Daten des Bewußtseins sind, von denen wir ausgehen und auf die wir uns stützen können.141 Ist somit der Satz des Aristoteles, daß unsere Erkenntnis sich in sinnlichen Vorstellungen bewegt oder doch nicht ohne sie zu bestehen vermag, seinem ganzen Umfange nach gültig, so muß, um die Grenz­ scheide zwischen Stoff und Form, zwischen dem »Materiellen« und »Intelligiblen« zu wahren, ein anderer Gesichtspunkt eintreten. Die sinnliche Wahrnehmung vollzieht sich mit Hilfe eines materiellen Organs, das von den Objekten eine stoffliche Einwirkung erfährt. Die Gegenstände werden hier gleichsam in das physische Sein des Ich auf­ genommen; der Wandel ihrer Bestimmungen wird in körperliche Ver­ änderungen umgesetzt. Von dieser unmittelbaren Entsprechung und Bindung ist die Leistung des reinen Verstandes frei. Der Intellekt ist auf die Materie bezogen, aber er besitzt selbst kein stoffliches Sein, kein Organ, in dem sich die Dinge abdrücken und abbilden könnten. Er bedarf des Körpers - wie Pomponazzi dies Verhältnis in der Sprache der Schule ausdrückt - als Objekt, nicht als Subjekt: Er fordert die sinnliche Vorstellung als den Gegenstand, auf den seine Tätigkeit sich richtet, als den Vorwurf, der ihm zur Bestimmung und Auflösung gegeben ist, aber er braucht kein sinnlich-dingliches Sub­ strat, das seine Wirksamkeit erst ermöglichte. So hat | der menschliche Verstand seinen Platz zwischen den »abstrakten« Intelligenzen und den Tieren, deren Erkenntnis in den sinnlichen Fähigkeiten aufgeht. Die bloß sensitive Seele ist an sich nichts anderes als die Form des phy­ sischen und organischen Körpers, da sie ihre Funktion nur in einem körperlichen Organ auszuüben vermag und somit den Körper sowohl als Subjekt, als substantielle Grundlage, wie als Objekt braucht: Die reinen Formen dagegen, wie wir sie als Beweger der Sternenwelt denken, sind jeglicher Abhängigkeit von der Materie entrückt, da sie zwar ihrerseits auf die Körper einwirken, von diesen aber keinerlei Einfluß und keine Einschränkung ihrer Tätigkeit erfahren. Erst der menschliche Intellekt, als der Mittler zwischen diesen beiden Arten und Reichen der Wirklichkeit, gestaltet das All zu einem kontinuier­ lichen, in sich einhelligen Ganzen. Er bildet den Übergang vom 140 S. Pietro Pomponazzi, De naturalium effectuum causis sive de incantatio­ nibus, Basel 1567. 141 Vgl. ders., De immortalitate animae (Kap. 4, 9 u. 10), S. 14, 52 ff. u. 82 ff.

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abstrakten zum sinnlichen Sein, sofern er dauernd dem Stoff der Wahrnehmungen zugewendet bleibt, ohne doch in ihm unterzu­ tauchen und sich völlig in ihm zu verlieren.142 Die Materie bildet für ihn zwar die negative Bedingung, ohne welche er seine Wirksam­ keit nicht entfalten könnte, aber sie ist nicht der eigentliche, positive und reale Grund, aus dem seine Leistung stammt.143 Besäße der Intellekt kein Vermögen, das aus ihm selbst und seiner unabhängigen Wesenheit hervorginge, so müßten sich alle Akte des Verstandes rein auf quantitative und körperliche Weise (modo quantitative et corpo­ rali) vollziehen, d.h., | es müßte alsdann jegliches Sein in seiner be­ stimmten, konkreten Natur, in seiner stofflichen, extensiven Größe in die Seele übergehen und in ihr einen gleichartigen, propor­ tionalen Eindruck hinterlassen. Damit aber wäre die Erkenntnis auf die Aufnahme und registrierende Wiedergabe der besonderen Ge­ genstände und der besonderen Fälle eingeschränkt, ohne sich je­ mals zu echten allgemeinen Begriffen und zum reflexiven Bewußt­ sein ihrer selbst erheben zu können.144 Somit dürfen wir den menschlichen Verstand zugleich als stofflich und unstofflich bezeichnen: als stofflich, sofern wir nur seine Existenz ins Auge fas­ sen, die immer nur in Verbindung mit dem Körper möglich ist, als unstofflich dagegen, sofern wir damit den Wert und die Eigenart sei­ 142 A. a. O. (Kap. 9), S. 53 ff. [Zitat S. 54]: »Anima autem sensitiva simpliciter est actus corporis physici organici, quia et indiget corpore tanquem subiecto, cum non fungatur suo officio nisi in organo, et indiget corpore tanquam obiecto: media vero quae est intellectus humanus in nullo suo opere totaliter absolvitur a corpore, neque totaliter immergitur, quare non indigebit corpore tanquam subiecto, sed tanquam obiecto et sic medio modo inter abstracta et non abstracta erit actus cor­ poris organici [...]« 143 »[...] revera intellectus humanus non potest intelligere nisi in materia sint quale et quantum sensibile, cum non possit operari nisi ipse sit, ipseque esse non potest nisi cum dispositione convenienti, non tamen sequitur quod per tales dis­ positiones intelligat [...] [Intellectus enim] etsi est in quantitate, tamen quantitas non est principium illius operationis, neque in eo opere ea per se utitur [...]« A.a.O. (Kap. 10), S.77 f. 144 »Indigere itaque organo ut subiecto, est in corpore recipi, et modo quanti­ tativ© et corporali, sic quod cum extensione recipiatur, quo modo dicimus omnes virtutes organicas recipere, et suis officiis fungi, sicut oculus videndo et auris audi­ endo [...] unde dicimus intellectum non indigere corpore ut subiecto in sui intellectione, non quia intellectio nullo modo fit in corpore, cum fieri nequit si intellectus est in corpore ut sua immanens operatio quoquo modo non sit in eo, ubi enim subiectum est et accidens subiecti necesse est esse: sed pro tanto intellec­ tio dicitur non esse in organo et in corpore, quoniam modo quantitativ© et cor­ porali non est in eo; quapropter potest intellectus reflectere supra seipsum, dis­ currere, et universaliter comprehendere, quod virtutes organicae et extensae minime facere queunt [...]« A. a. O. (Kap. 9), S. 58 f.

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Das Allgemeine und das Besondere

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ner Funktion gegenüber der Sinnlichkeit zum Ausdruck bringen wollen. Wir können den ganzen philosophischen Sinn der Behaup­ tung der »Immaterialität« der Seele festhalten, ohne daß wir darum ein jenseitiges Dasein, eine reale Ablösung der Seele vom Körper set­ zen und zugeben müßten. Das korrelative Verhältnis von Seele und Körper, das damit fest­ gestellt ist, spiegelt sich innerhalb der Logik vor allem in der Be­ ziehung zwischen Begriff und Empfindung, zwischen dem »All­ gemeinen« und »Besonderen« wider. Es entspricht der Doppelnatur und der Mittelstellung des Menschen, daß er das Allgemeine weder schlechthin und rein zu erfassen imstande ist, noch auch von seiner Erkenntnis | gänzlich ausgeschlossen ist. Wir müssen es, um uns sei­ ner zu versichern, im Einzelnen selbst aufsuchen und betrachten; wir können das echte unvermischte Wesen des Begriffs nur in den begrenzten und besonderen Erscheinungen erschauen. Selbst der abstrakteste Gedanke muß an irgendein bestimmtes, körperliches Bild anknüpfen. So existiert der Intellekt weder einzig im »Hier« und »Jetzt«, noch ist er vom Hier und Jetzt völlig gelöst; so ist seine Wirk­ samkeit weder gänzlich allgemein, noch geht sie im Besonderen auf. Sie ist dem Zeitverlauf eingeordnet und dennoch zugleich über ihn erhaben, sofern das einzelne Denkgeschehen zwar nur im Zusam­ menhang des psychischen Vorstellungsablaufs vonstatten gehen kann, andererseits aber der Denkinhalt seiner Geltung nach als zeitlos und unveränderlich erfaßt wird.145 Diese Ewigkeit des Gedankens, nicht die des Denkenden aber ist es, die allein zu suchen ist und die den berechtigten Kern in der Forderung der »Unsterblichkeit« aus­ macht. Der Geist hat an der Unsterblichkeit teil, sofern es ihm gege­ ben ist, das Allgemeine, wenngleich nur im Abbild der sinnlichen Erscheinung, zu erkennen und sich zu eigen zu machen.146 Denn wenngleich er vom Individuum ausgehen muß, so ist es doch nicht dieses oder jenes bestimmte Individuum, durch das er bedingt und eingeschränkt wäre; vielmehr vermag er in jedem beliebigen Ein­ zelnen, das er als Beispiel zugrunde legt, sich den universalen Gehalt 145 »[...] ipse igitur intellectus sic medius existens inter immaterialia et mate­ rialia, neque ex toto est hic et nunc, neque ex toto ab hic et nunc absolvitur, quapropter neque sua operatio ex toto est universalis, neque ex toto est particula­ ris, neque ex toto subiicitur tempori, neque ex toto a tempore removetur [...]« A.a.O., S.60. 146 »[...] animus humanus etsi improprie dicatur immortalis, quia vere morta­ lis est, participat tamen de proprietatibus immortalitatis, cum universale cognos­ cat, tametsi eiusmodi cognitio valde tenuis et obscura sit [...]« A.a.O. (Kap. 12), S. 89 f.

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des Begriffs zum Bewußtsein zu bringen. Das Allgemeine ist daher zwar der Zeit nach mit dem Einzelnen unlöslich verknüpft, geht ihm jedoch der »Natur«, d.h. dem logischen Abhängigkeitsverhältnis nach, | voran.147 Der Weg der Erkenntnis vollzieht sich nicht in einfa­ chem, geradlinigem Fortschritt, sondern besteht in einer Rückkehr und Umwendung. Wir müssen, nachdem wir vom besonderen Fall zum Begriff aufgestiegen sind, den Begriff selbst wiederum im Ein­ zelfall anschauen.148 In dieser Auffassung der Universalien liegt der Keim zu einem wichtigen Fortschritt der logischen Methodenlehre, der sich bei Pomponazzis Nachfolger, bei Giacomo Zabarella, vollzogen hat.149 Zu voller Schärfe und Deutlichkeit aber gelangt der Grundgedanke von Pomponazzis Werk erst in den ethischen Schlußfolgerungen, zu denen es hinleitet. Die sittliche Vernunft erst bildet das eigentli­ che Vorrecht und die auszeichnende Eigentümlichkeit des Men­ schen, während der spekulative Verstand wie der Trieb zu technisch­ praktischer Tätigkeit einen Zug ausmachen, den wir mit den anderen Intelligenzen höherer oder niederer Art teilen. Mit der Aufhebung der Unsterblichkeit nun scheint das sittliche Leben selbst seinen Halt und Mittelpunkt zu verlieren; mit der Beseitigung des jenseitigen Zie­ les scheint alle Zweckbestimmung überhaupt entwurzelt zu sein. Noch die philosophische Renaissance des Platonismus stand in der Tat unter dem Banne dieses Gedankens. Wäre die Seele sterblich - so hatte die »Platonische Theologie« Ficins | gleich von Anfang an argu­

147 A. a. O., S. 94. Zu Pomponazzis Stellung im Universalienstreit vgl. bes. die eingehenden Darlegungen in seinem Aristoteles-Kommentar: Pietro Pompo­ nazzi, In libros de anima, in: Luigi Ferri, La psicologia di Pietro Pomponazzi secondo un manoscritto inedito dell’angelica di Roma, Rom 1876, S. 89-216: S. 99 ff. Für die Darstellung der Psychologie Pomponazzis ist dieser Kommentar hier nicht benutzt, da er - wie Ragnisco gezeigt hat - nicht in allen seinen Tei­ len authentisch ist: Er scheint die Nachschrift einer Vorlesung Pomponazzis zu sein, in die der Hörer jedoch hie und da eigene abweichende Meinungen einge­ fügt hat (vgl. Pietro Ragnisco, Giacomo Zabarella il filosofo. Pietro Pomponazzi e Giacomo Zabarella nella questione dell’anima, in: Atti del reale Istituto Veneto di Science, lettere ed arti dal novembre 1886 all’ottobre 1887, Serie 6, Bd. V, Vene­ dig 1886 f., S. 949-996: S. 952 ff.). 148 »[...] verum cum anima humana per cogitativam comprehendit singulare primo, deinde eadem per intellectum universale comprehendat quod tamen in eodem singulari speculatur quod per phantasiam cognitum est, vere reditum facit, et per consequens conversionem, quoniam ex singulari per phantasiam cognito, eadem anima per intellectum ad idem redit [...]« Pomponazzi, De immortalitate animae (Kap. 12), S.95. 149 S. unten, Abschn. III, S. lOOff. [insb. S. 113-120].

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Die Grundlegung der Ethik

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mentiert so gäbe es kein unglücklicheres Geschöpf als den Men­ schen, so wäre der Wert unseres empirischen Daseins vernichtet. Für Pomponazzis sittliche Grundanschauung dagegen steht es fest, daß sich die echte Ethik darin bewähren muß, daß sie den Zweck des Lebens in diesem selbst zu finden lehrt. Die Idee der unbegrenzten Fortdauer des Individuums wird durch die Idee des stetigen Fort­ schritts und der Höherbildung der Menschheit abgelöst. In diesem Sinne ist Pomponazzis Lehre die echte Frucht der humanistischen Welt- und Geschichtsansicht. Das gesamte Menschengeschlecht ist einem einzigen Individuum zu vergleichen, in dem alle Bestandteile und Organe sich dem einen Zwecke der Erhaltung und des Fort­ schritts des Ganzen unterordnen. Wie hier das gemeinsame Ziel dem Wachstum der einzelnen Glieder bestimmte festumschriebene Gren­ zen setzt, so ist es die sittliche Bestimmung der Menschheit, die das Streben und die Forderungen der Individuen bemessen und begren­ zen muß.150 In dieser Bescheidung auf die empirischen Schranken un­ seres Daseins gewinnen wir eine höhere Idealität und einen neuen Ausblick auf die Unendlichkeit, die uns im wirklichen Leben der Geschichte selbst gegeben ist. Die moralischen Gesetze finden erst jetzt ihren festen Halt, indem sie nicht als fremde und äußere Gebote, die durch Hoffnung und Furcht erzwungen werden müssen, sondern als selbständige Satzungen und Forderungen, die aus unserem eigenen Wesen stammen, erkannt werden. Zum ersten Male in der modernen Ethik | tritt hier in voller Bestimmtheit der Gedanke der Autono­ mie des Sittlichen hervor. Nur auf der niedrigsten Stufe sind Lohn und Strafe als Triebfedern des Handelns unentbehrlich, während für die gereifte sittliche Einsicht jegliche Handlung rein aus sich selbst ihren Wert zugewiesen erhält und somit ihren Lohn und ihre Strafe mit sich führt: »[...] poena namque accidentalis est poena damni, essentialis vero poena culpae, at poena culpae longe deterior est poena

150 »Secundo accipiendum est et maxime memoriae mandandum, quod totum genus humanum uni singulari homini comparari potest, in uno autem individuo humano sunt multiplicia et diversa membra, quae et ad diversa officia sive diver­ sos fines proximos sunt ordinata, cum hoc tamen quod omnia ad unum finem deputata sunt [...] universum namque humanum genus est sicut unum corpus ex diversis membris constitutum quae et diversa habent officia, in communem tamen utilitatem generis humani ordinata [...] ita non quilibet habet ultimum finem qui convenit parti nisi ut pars generis humani, sufficit autem habere communem finem humanem, quapropter ad rationem dicitur quod si homo mortalis est, quilibet homo potest habere finem qui universaliter convenit [Cassirer: competit statt con­ venit] homini [...]« Pomponazzi, De immortalitate animae (Kap. 14), S. 104ff. [Zitat S.105, 107 u. 113].

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damni [,..]«151 So zeigt sich die negative Auflösung eines metaphy­ sischen Satzes in Wahrheit überall als eine neue Schöpfung und als Begründung einer veränderten Wertschätzung des empiri­ schen Seins. Bezeichnend in dieser Rücksicht ist das Wort des C a r d a η o, daß diej enigen, die die Sterblichkeit der Seelen verfechten, das Sein des Menschen erhöhen und vergöttlichen, indem sie es zum Selbstzweck machen.152 Von hier aus fällt daher auch auf die logi­ sche Grundabsicht von Pomponazzis Lehre neues Licht. Wie das Christentum, so verlegt auch der Platonismus Ficins das echte Leben des Geistes zuletzt in eine jenseitige Wirklichkeit, die von den Bedingungen der Körperwelt befreit ist.153 Die »Reinheit« des Begriffs bedeutet hier seine Abwendung und Loslösung von der Erfahrung. Die nächste Aufgabe, die der modernen Erkenntnislehre gesetzt war, bestand darin, die Selbständigkeit und Universalität des Denkens fest­ zuhalten, sie aber in der Beziehung auf den empirischen Stoff selbst zu begründen. Pomponazzis Werk über die Unsterblichkeit ist ein Schritt auf diesem Wege; die notwendige Zusammengehörigkeit von Seele und Leib, die er verteidigt, beruht auf der tieferen Einsicht der wechselseitigen Beziehung zwischen der Sphäre des Intelligiblen und des Sinnlichen. Nunmehr bewährt sich uns der Satz, daß die verschie­ denen philosophischen Richtungen der Renaissance sich am Erkennt­ nisproblem zu einem einheitlichen Ziele zusammenfinden.154 In der neueren Philosophie finden sich die Gesichtspunkte Ficins und Pompo | nazzis vereint: Leibniz, der in der Charakteristik der rei­ nen Denkfunktion und in ihrer Unterscheidung von der Wahrneh­ mung an die Platonische Lehre anknüpft, stimmt auf der anderen Seite mit Pomponazzis psychologischem Hauptsatz, daß auch der abstrakteste Gedanke von sinnlichen Vorstellungen und Bildern begleitet sein muß, überein. Die beiden Ansichten, die sich in der Phi­ losophie der Renaissance noch wie zwei feindliche Pole gegenüberzu­ stehen scheinen, konnten ihre logische Ausgleichung erst finden, nachdem die moderne mathematische Physik ein neues Verhält­ nis und eine neue Korrelation von Erfahrung und Denken geschaffen hatte. A.a.O., S. 122. 152 Geronimo Cardano, De immortalitate animorum liber unus, in: Opera omnia: tam hactenus excusa; hic tamen aucta et emendat; quam nunquam alias visa, ac primum ex auctoris ipsius autographis eruta: cura Caroli Sponii, 10 Bde., Lyon 1663, Bd.II, fol. 456-536: fol. 500. - S. Fiorentino, Pietro Pomponazzi, S.188. 153 Vgl. oben, S. 80 f. 154 Vgl. oben, S. 62 f.

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Forma informans« und »forma assistens

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Innerhalb der Schule von Padua, die im ganzen gleichfalls an die ari­ stotelische Überlieferung gebunden bleibt, läßt sich eine analoge Wen­ dung vor allem bei Giacomo Zabarella verfolgen. Sie tritt, wie wir sehen werden, besonders in seinen logischen Schriften hervor, aber auch die Grundlegung der Psychologie, die er in seinem Kommentar zu Aristoteles’ Schrift »Über die Seele« vollzieht, zeigt den gleichen charakteristischen Kampf der verschiedenen Denkmotive. Wieder beginnt Zabarella mit der Frage, die im Mittelpunkt des Streites zwi­ schen Averroisten und Alexandristen steht. Ist die Seele des Menschen als »forma informans« oder als »forma assistens« zu denken, d.h., ist sie es, die das Dasein und Leben des Körpers erst erschafft und kon­ stituiert, oder aber bedeutet sie eine losgelöste und selbständige Natur, die zu dem fertigen Stoffe von außen her hinzutritt? Ist sie, wenn wir den Leib einem Schiffe vergleichen, ihm derart beigegeben und verknüpft wie die Gestalt des Schiffes, ohne welche wir seine Exi­ stenz nicht zu denken vermögen, oder herrscht sie in ihm nur wie der Steuermann, der das Fahrzeug, das seiner Beschaffenheit und sei­ nem Dasein nach von ihm ebenso unabhängig ist wie er von ihm, nach seinem Willen lenkt und bewegt?1551 Besteht, mit anderen Worten, der Mensch aus einer Zusammensetzung für sich bestehender, ungleich­ artiger Naturen, oder handelt es sich, wenn wir in ihm zwei Wesen­ heiten unterscheiden, nur um verschiedene Gesichtspunkte, unter denen unser Gedanke die einheitliche Grundtatsache des Bewußtseins erfaßt? In der Auflösung dieser Fragen hält Zabarella in allen wesent­ lichen Punkten die Richtung ein, die Pomponazzi gewiesen hatte. Schärfer und strenger noch als dieser sucht er die Selbständigkeit und Freiheit des Denkens so zu bestimmen, daß darüber die Einheit des Ich und des Menschen nicht verlorengeht: Deutlicher noch spricht er aus, daß der Intellekt hinsichtlich seiner begrifflichen Leistung, nicht hinsichtlich seines konkreten Seins als »rein und unvermischt« zu bezeichnen ist.156 Dem Dasein nach läßt sich die Seele auch in ihrer

155 »Forma duplex est, una materiam informans, et dans esse specificum, et rem constituens tanquam differentia adiecta generi [...] Altera est forma, quae non dat esse, sed ipsi rei iam constitutae, et habentis esse specificum, supervenit tanquam praestantius quoddam [...] Figura | igitur navis, dicitur actus informans: nauta vero dicitur actus assistens, sed non materiam informans nec dans esse specificum: adve­ nit enim navi jam habendi esse completum.« Giacomo Zabarella, Commentarii in III. Aristot. libros de anima (Buch 2, Kap. 2), Frankfurt a. Μ. 1619, Sp. 178 ff. 156 »Neque etiam ex eo quod intellectus in recipiendo non utitur organo, inferre aliquis potest, ipsum esse formam a corpore abiunctam, nec dantem esse corpori: quoniam aliud est considerare intellectum secundum suum esse, aliud secundum operationem: nam secundum suum esse est forma corporis, et vere

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Die Reform der Aristotelischen Psychologie - Zabarella

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reinsten und höchsten Gestaltung vom Körper nicht loslösen: Denn sie bedeutet nichts anderes als die Vollendung des Körpers selbst. Im Stoff selbst ist der Anlage nach bereits all das enthalten, was in der Form nur zur vollendeten Ausprägung gelangt. Er besitzt in sich die Fähigkeiten des Empfindens, des Lebens und Erkennens, die also nicht erst durch äußere Kräfte, die seinem eigentlichen Wesen fremd sind, auf ihn übertragen zu werden brauchen.157 Und wie hier Stoff und Form nicht | mehr als Glieder eines metaphysischen Gegensatzes, sondern als streng korrelative Momente gefaßt werden, so lösen sich auch alle Differenzen innerhalb des Seelischen selbst in eine bloße Unterschiedenheit von Entwicklungsstufen auf, deren jede die andere bedingt und fordert. Die Ausnahmestellung der aktiven Denkkraft und ihr Anspruch auf eine überempirische Herkunft wird nunmehr endgültig beseitigt. Denn alle Gründe, die für den rein »geistigen« Ursprung des Intellekts angeführt zu werden pflegen, gelten in Wahr­ heit bereits für die Sinnlichkeit selbst und ihre Betätigung. Wenn der Sinn der Materie darin verwandt scheint, daß er in dem Maße, als er von den äußeren Objekten berührt wird, entsprechende Eindrücke von ihnen erzeugt, kraft deren er die Verhältnisse der Dinge nachbil­ det: so liegt doch andererseits in jedem Sinneseindruck als solchem bereits ein Urteil eingeschlossen, das selbst nur als rein geistiger Akt zu verstehen ist. So werden hier in derselben Tendenz wie bei Nico­ laus Cusanus Sinnlichkeit und Denken wiederum einander genähert und aufeinander bezogen.158 Beide schließen einen aktiven Zug, eine eigentümliche Richtung der Tätigkeit in sich. Diese Tätigkeit findet freilich erst in den höheren Verstandesleistungen ihren deutlichsten Ausdruck, aber sie kann prinzipiell auf keiner Stufe seelischen Lebens gänzlich fehlen, weil sie es ist, die das Seelische als solches konstituiert und kennzeichnet.159 materiam informat, secundum operationem vero est elevatior a materia, quam caeterae partes animae, et in specierum receptione non utitur aliqua corporis parte recipiente [...]« A.a.O. (Kap. 13), Sp.236. 157 »f...] corpus non esse actum animae, sed animam esse actus corporis, unde sequitur, quod non sit corpus, sed aliquid corporis, nempe actus, et perfectio, quo fit ut anima non possit esse sine corpore, quia perfectio non potest esse sine illo, cuius est perfectio [...] [Itaque] qui non videt Aristotelem aperte dicere, omnem animam esse formam informantem, caecus | est, dixit enim animam esse formam, qua et vivens, et sentiens, et intelligens est eiusmodi, et esse actum propriae ma­ teriae habentis potentiam ad eam, tanquam potentiam ad esse [...]« A.a.O. (Buch 2, Kommentar zu Text 26), Sp. 342 ff. 158 Vgl. oben, S. 25 ff. 159 »Ideo est in hac parte notandum, quod id, quod hic de intellectu Aristote­ lis dixit, verum est aliquo modo etiam de sensu [...] modo quodam etiam visus in

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Wahrnehmung und Urteilsfunktion

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Und dennoch ist, trotz aller dieser wichtigen Ansätze, der Ge­ danke der Transzendenz nicht endgültig ausgeschaltet: Denn auch bei Zabarella ist es zuletzt der absolute »göttliche Geist«, der die »Phan­ tasmen«, der unsere sinnlichen Vor | Stellungsbilder durchleuchten und erhellen muß, damit sie sich zu den reinen wahrhaften Begriffen entwickeln. Die Vorstellung würde, sich selbst und ihrer eigenen Natur überlassen, stets beim Einzelnen verharren: Es bedarf einer äußeren jenseitigen Mitwirkung, um den Geist zur Erfassung des All­ gemeinen zu befähigen und zu erheben. Nur soll das »Absolute« nicht mehr, wie bisher, als unmittelbare Triebkraft in den Mechanis­ mus des seelischen Geschehens eingreifen, sondern als ein ideeller Zielpunkt gedacht werden, den sich das Denken vorhält und der der Entwicklung seiner eigenen Kräfte die Richtung gibt. Nicht als tatsächliche bewegende Ursache, sondern als vorgestecktes und vor­ gesetztes Ziel, nicht durch sein »substantielles«, sondern durch sein »vorgestelltes« Sein wirkt der reine aktive Intellekt auf die Entfaltung und Klärung des Bewußtseins ein: »Intellectus activus est agens ut intelligibilis et agit ad modum objecti.«160 Es ist der »passive«, der menschliche Intellekt, der, indem er die sinnlichen Eindrücke und Spezies beurteilt, den Akt der Erkenntnis hervorbringt; aber er vermöchte diese Leistung nicht zu vollziehen, wenn er in ihr nicht über seine eigenen Grenzen hinausblickte.161 So zeigt sich auch hier das charakteristische Doppelmotiv, das der gesamten gedanklichen Bewegung, die wir verfolgt haben, zugrunde liegt: Das »Absolute« kann nicht völlig entbehrt werden, aber es wird als eine Forderung verstanden, die der Geist selbst sich vorhält, so daß es nunmehr gleichsam in die Substanz des Bewußtseins verschmolzen und umge­ wandelt wird.

actu est sine materia, multo tamen minus, et aliter, quam intellectus [...] Nam potentia sensitiva est organica, ideo in sua operatione est materialis quodam modo, quia in recipiendo utitur corpore; est tamen alioquo modo immate­ rialis ratione judicii, quia sola ipsa anima iudicat [...]« Zabarella, Commentarii (Buch 3, Kommentar zu Text 16), Sp. 870. 160 [A.a.O.,Sp.871.] 161 Vgl. hierzu Baldassare Labanca, Sopra Giacoma Zabarella, Neapel 1874, S. 38 f. u. Fiorentino, Pietro Pomponazzi, S. 316ff.

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Die Auflösung der scholastischen Logik

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III. Die Auflösung der scholastischen Logik Wenn man die Fülle der mittelalterlichen logischen Literatur über­ blickt, wenn man sieht, wie noch im 15. und 16. Jahrhundert - nach der Darstellung und dem Urteil | Prantls - eine erschreckend aus­ gedehnte und umfangreiche Nachblüte der scholastischen Logik sich entwickelte, so könnte, was die neue Gedankenrichtung, was ins­ besondere der Humanismus an logischen Leistungen hervorgebracht hat, dagegen als kümmerlich und geringfügig erscheinen. In der Tat handelt es sich in dem Kampfe gegen das Mittelalter, wie er hier zunächst geführt wird, nicht sowohl um eine tiefere sachliche Neuge­ staltung der Prinzipienlehre als um eine Kritik des Schulbetriebes, die von äußerlichen Umständen ausgeht und sich insbesondere gegen die herrschende sprachliche Verwilderung kehrt. Nachdem Petrarca auch in diesem Punkte vorangegangen war und die Waffen geschmie­ det hatte, wird der Kampf des modernen Grammatikers gegen die Barbareien der schulmäßigen Dialektik zu einer beständigen und inte­ grierenden Aufgabe der humanistischen Erneuerung der Wissen­ schaft. In besonders eindringlicher Weise tritt das neue Interesse, das damit entstand, in einem Dialog Leonardo Brunis hervor. Die Möglichkeit des Philosophierens selbst wird hier von dem Stand der literarischen Bildung und der literarischen Überlieferung abhängig gemacht; die Tatsache, daß unsere Kenntnis der Ciceronischen Schrif­ ten lückenhaft ist, dient unmittelbar als Beweisgrund dafür, daß die philosophische Kultur der neueren Zeit niemals zu wahrhafter Voll­ endung zu gelangen vermag.162 So gilt denn auch der Stil, in dem eine Lehre sich verkündet, jetzt nicht mehr als äußeres Beiwerk, sondern wird zum entscheidenden Kriterium für ihren sachlichen Gehalt. Ihn verleugnen heißt den ästhetischen und sittlichen Wert der Individua­ lität, heißt den Wert des Lebens selbst herabsetzen. Weil sie den Reiz der klassischen Latinität nicht gekannt hätten - so urteilt Ermolao Barbaro in einem Brief an Pico della Mirandola - , hätten die Scho­ lastiker schon während ihres Lebens nicht eigentlich gelebt, oder wenn sie noch lebten, so trügen sie ihr Dasein nur zur Schmach und zur Strafe. Der Versuch, den Pico in seinem | Antwortschreiben unter­ nimmt, gegenüber dieser Art der Rhetorik für die Sache der reinen Philosophie einzutreten, scheint zunächst in den Kreisen des Huma­

162 Leonardo Bruni, Ad Petrum Paulum Istrum dialogus, in: Thomas Klette, Beiträge zur Geschichte und Literatur der Italienischen Gelehrtenrenaissance, Heft 2, Greifswald 1889, S. 37-83, bes. S.49.

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Lorenzo Valla

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nismus selbst wirkungslos geblieben zu sein.163 Immerhin ist es kein bloß literarisches Interesse, das sich in all diesen Kämpfen betätigt. Die Sprache und die Terminologie des Mittelalters ist in der Tat keine bloß zufällige und äußere Hülle des Gedankens, sondern sie birgt in ihrer Entwicklung dieselben Motive in sich, durch die auch die Aus­ bildung der logischen Lehren beherrscht wurde. Die Scholastik be­ währte, trotz aller Barbarismen, doch darin echte sprachbildende Kraft, daß bei ihr, in allen wesentlichen Hauptzügen, Ausdruck und Gedanke in Einklang gesetzt und erhalten sind. Wortbildungen wie entitas, quidditas, haecceitas, über die die humanistische Gelehrsam­ keit so witzig und treffend zu spotten weiß, bezeichnen dennoch deutlich die Denkart, aus der sie hervorgegangen sind; die Vorherr­ schaft der abstrakten Substantiva ist charakteristisch für eine Auffassung der Natur und des Geistes, der alle Eigenschaften und Tätigkeiten sich in dingliche Substanzen verwandeln. Aus die­ sem Wechselverhältnis zwischen Begriff und Wort, auf das schon Leibniz in der Abhandlung über den philosophischen Stil des Nizolius hingedeutet hat, erklärt es sich, daß die Kritik des Stils in der Renaissance zu einer philosophischen Aufgabe erhoben werden kann und daß ihre Ergebnisse wenigstens mittelbar zur Kritik der Er­ kenntnis mitwirken. Das Werk, bei dem dieser Zusammenhang sich zuerst darstellt, sind Lorenzo Vallas »Dialektische Disputationen«. Um dieser Schrift gerecht zu werden, muß man sie nicht nach den Neuerungen beurtei­ len, die sie am Inhalt der Logik vollzieht. Was an dem Werke wahr­ haft original ist, ist vielmehr die Stimmung, aus der es entsprungen ist, und das persönliche Pathos, das in ihm zum Ausdruck kommt. Vallas Angriff auf die Logik seiner Zeit ist nur aus dem Ganzen seiner Lei­ stungen und seiner Persönlichkeit zu begreifen. | Ihm ist die Philologie nicht Selbstzweck, nicht in sich abgeschlossene und selbstgenügsame Gelehrtenkultur, sondern sie bedeutet ihm überall das Grundmittel zur Entdeckung der lebendigen, geistigen Wirklichkeit. Sie wird ihm zum Fundament und Instrument der Kritik, die er nach allen Rich­ tungen und auf allen Gebieten betätigt. Ob er die Fehler der Vulgata oder die Widersprüche der geschichtlichen Überlieferung in Livius’ »Römischer Geschichte« aufdeckt, ob er der Entstehung der Konstantinischen Schenkungsurkunde oder des kirchlichen Symbols nachgeht: stets ist es nicht sowohl die Sache selbst als die Freude an

163 Vgl. Giovanni Pico della Mirandola, Epistolarum liber (Brief an Ermolao Barbaro), in: Opera quae extant omnia, Bd. I, fol. 231-277: fol. 238 ff.

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Die Auflösung der scholastischen Logik - Vives

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der kritischen Betätigung und Befreiung, die er genießt und die ihm das treibende Motiv ist. Hierin ist Valla der echte und typische Ver­ treter des humanistischen Lebens- und Selbstgefühls, das sich in glei­ cher Intensität wie bei ihm nur noch bei Erasmus findet, bei dem es zwar im Ausdruck reifer und gemäßigter geworden ist, bei dem es indes auch weniger naiv und ungebunden hervortritt. So liegt auch dem Kampf gegen die Dialektik zunächst ein subjektiver Affekt zugrunde, den man in der Behandlungsweise des Stoffes noch überall deutlich hindurchfühlt. Es ist die Überlegenheit des neuen persön­ lichen Bildungsideals über die abstrakte Schulgelehrsamkeit, die hier zum Ausdruck drängt. Die Rhetorik, die den Einsatz der gesamten Persönlichkeit des Redners fordert, die stets auf den konkreten Men­ schen wirken will und daher die genaue psychologische Kenntnis der Totalität aller seiner Lebensäußerungen voraussetzt, steht höher als die trockene, schematische Zergliederung des Wissensstoffes, die die Dialektik vollzieht. Diese begriffliche Zerlegung kann immer nur als Vorbereitung und als Hilfsmittel der echten »Überzeugungskunst« gelten, die allein der Redner entfaltet. Daher denn auch die Logik so einfach ist, daß man sie in ebensoviel Monaten erlernen kann, als man zur Sprachwissenschaft und Beredsamkeit Jahre braucht.164 Wenn Valla Quintilian über Cicero stellt | und aus ihm fast seine gesamte Lehre von der Beweisführung entlehnt, so geschieht dies mit der paradoxen Begründung, daß Cicero den Wert der Rhetorik gegenüber der Philosophie - unterschätzt habe. Die Philosophie ist der gemeine Soldat oder Tribun, der unter der Herrschaft und dem Oberbefehl der Rede steht. »Ich wünschte daher, daß Μ. Tullius sich nicht als Philosophen, sondern als Redner gegeben hätte; er hätte als­ dann alles rhetorische Handwerkszeug kühn zurückgefordert - denn alles, was die Philosophie sich in dieser Hinsicht anmaßt, gehört in Wahrheit uns - und hätte, wäre es ihm verweigert worden, das Schwert, das er als Befehlshaber von der Königin Rede erhalten, gegen die philosophischen Freibeuter gezückt, um sie nach Gebühr zu züch­ tigen. Denn wieviel klarer, gewichtiger und erhabener werden doch alle Gegenstände von den Rednern als von verworrenen, blutlosen und trockenen Dialektikern behandelt!«165 Diese Worte, die Antonio 164 Lorenzo Valla, Dialecticarum disputationum lib. III (Buch 2, Einl.), in: Opera, nunc primo non mediocribus vigiliis et iudicio quorundam eruditiss. vivorum in unum voumen collecta, et exemplaribus variis collatis, emendata, Basel 1543, fol. 645-761: fol. 693 f. 165 Ders., De voluptate et vero bono libri III (Buch 1, Kap. 10), in: Opera, fol. 896-999: fol.907 [»Μ. Tullius quaecunque in philosophia sentiret [...] Sed tamen mallem, ut non tanquam philosophum se illa tractare praedicasset, sed tanquam

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Die Schrift »Gegen die Pseudodialektiker

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Panormita in Vallas Dialogen »Über die Lust« spricht, decken die innerste Gesinnung der humanistischen Kritiker auf und legen den Grund dafür bloß, daß von hier aus eine positive wissenschaftliche Erneuerung der Prinzipienlehre der Erkenntnis nicht zu leisten war. Immerhin wird auch hier im Fortschritt der Entwicklung die ein­ seitige Schätzung des sprachlichen Moments allmählich zurückge­ drängt: Und von den Worten strebt man wieder zu den »Sachen« zurück. Betrachtet man die Gestaltung, die der Humanismus, ein Jahrhundert nach Valla, bei Lodovico Vives erhalten hat, so tritt diese Wandlung deutlich hervor. Das polyhistorische Wissen ist jetzt bereits von einer echten philosophischen Grundabsicht, von der Ten­ denz auf eine durchgehende Reform des Erziehungswesens, belebt und zusammengehalten. In Vives’ Schrift »Gegen die Pseu­ dodialektiker« wird daher nicht mehr einzig vom Standpunkt der Grammatik, sondern zugleich von dem der Pädagogik das Gericht am scholastischen Ideal des Erkennens vollzogen. Die Ausbildung in der Dialektik spiegelt dem Geiste einen scheinbaren Besitz vor, durch den er von der | Erwerbung gründlicher Kenntnisse zurückgehalten und gegen die Kriterien und Forderungen der Gewißheit und Not­ wendigkeit abgestumpft wird. In dem Bilde, das Vives von dem Zustand des gelehrten Unterrichtes seiner Zeit entwirft, spürt man, durch allen rhetorischen Schmuck hindurch, die Kraft und Wahrheit eines persönlichen Bekenntnisses. »Du selbst und meine Mitschüler«, so schreibt er an Johannes Fortis, »bist Zeuge, daß ich diesen Wahn­ witz nicht nur oberflächlich gekostet, sondern bis in sein Innerstes eingedrungen bin [...] Nicht um mich zu rühmen sage ich es, denn wahrlich, ich erblicke darin keinen Grund zum Ruhme. Hätte ich es doch in diesen Dingen weniger weit gebracht; denn was ich so mit noch unberührtem und empfänglichem Geiste in mich aufgenommen habe, haftet nun so fest in mir, daß ich mich durch keine Kunst davon zu lösen vermag und daß es mir wider Willen immer wieder entge­ gentritt und mich in meiner gegenwärtigen Betrachtung hemmt. [...] So habe ich nur den Wunsch, das zu verlernen, was andere eifrig zu lernen sich mühen - so möchte ich nur, daß man dieses Wissen wie ein Kleid vertauschen oder wie Geld und Waren verschenken könnte. oratorem, et in hoc vel magis eandem licentiam aut potius libertatem ex ercuisset. Ut quicquid oratoriae supellectilis apud illos invenisset, omnia autem quae philo­ sophia sibi vendicat, nostra sunt, id omne ab illis fortiter repoposcisset, et si qui repugnassent gladium illum quem a regina rerum tanquam Imperator acceperat, in latrunculos philosophos strinxisset, et male meritos male mulctasset. Quanto enim evidentius, gravius, magnificentius ob oratoribus illa differuntur: quam a diaiecticis obscuris quibusdam squallidis, et exanguibus disputantur.«].

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Die Auflösung der scholastischen Logik - Vives

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Wenn es so manchen gibt, der diese Kostbarkeiten um hohen Preis zu kaufen wünscht, so gäbe ich viel darum, mich dieser unwissenden Gelehrsamkeit entledigen zu können.« In der weiteren Ausführung, aus der man ein anschauliches Bild des allgemeinen Schulbetriebs der Zeit gewinnt, ist es zunächst wiederum die Reinheit der Sprache, die als Prüfstein hingestellt wird. Schon aus dem Namen der Dialek­ tik geht hervor, daß sie »Wissenschaft der Rede« (scientia de sermone) sein will. Von welcher Art der Rede aber handelt die schulmäßige Logik und Disputierkunst? Bezieht sie sich auf die französische oder spanische, auf die gotische oder vandalische Sprache? »In der Tat eine wunderbare Dialektik, deren Sprache, die sich selbst für Latein aus­ gibt, Cicero, wenn er jetzt auferstehen könnte, nicht verstehen wür­ de.« Die Erfindung willkürlicher Worte und Wendungen, die im Ge­ gensatz zum herrschenden Gebrauch stehen, ist ein nicht geringerer Fehler in der Logik als in der Grammatik und Rhetorik. Denn alle diese drei Wissenschaften der Rede | haben ihre Schranken und ihren gültigen Maßstab an der lebendigen Sprache, die sie nicht selbständig erfinden und nach ihrem Belieben meistern können. »Denn zuerst bestand die lateinische oder griechische Sprache; dann erst wurden in ihr grammatische, rhetorische, dialektische Formen beobachtet, nach denen indes die Sprache nicht willkürlich umgemodelt wurde, son­ dern die vielmehr der Sprache folgen und sich ihr anpassen mußten.« So sucht Vives das Korrektiv gegen die unfruchtbaren Subtilitäten der Scholastik in dem Rückgang auf das natürliche psychologische Denken des Menschen. Die Dialektik, als eine Wissenschaft der Zei­ chen, darf nicht zum Selbstzweck entarten; sie kann ihren Wert und ihr relatives Recht nur zurückgewinnen, wenn sie sich bescheidet, als Mittel und Vorbereitung der Gegenstandserkenntnis zu dienen. Töricht aber wäre es, seine Zeit mit der Bereitung und Verbesserung des Instruments zu vergeuden, statt alsbald an das Werk selbst heran­ zutreten, zu dessen Gebrauch es geschaffen ist. »Was würde man wohl zu einem Maler sagen, der sein Leben damit hinbrächte, den Pinsel zurechtzumachen und die Farben zu reiben; was zu einem Schuster, der nichts anderes täte, als die Nägel und Pfriemen und sein sonstiges Handwerkszeug zu schärfen.«166 166 Juan Luis Vives, In pseudodialecticos, in: Opera in duos distincta tomos, 2Bde., Basel 1555, Bd. I, fol. 272-286 [fol. 273: »Verum tu es ipse testis, sunt et alii condiscipuli mei, me non degustasse solum has insanias, sed etiam intima pene illarum penetrasse [...] Non haec glorandi gratia dico, neque enim gloriae mate­ riam ullam video: Utinam non tam in illis promovissem, quae quoniam tenero adhuc animo accepti, summoque cum studio, ideo tam tenaciter haeren, ut elui nulla a me arte queant et mihi vel invito occurant, obversenturque praesenti in

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Die Kritik der Ontologie

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Somit gilt es unmittelbar an die Erfahrung heranzutreten, um von ihr das echte Bild der Natur zurückzugewinnen. Wer in das wahre Sein der Einzeldinge einzudringen strebt, der tut besser, den Bauern oder Handwerker zu befragen als alle jene scharfsinnigen Systeme, in denen an die Stelle der konkreten Wirklichkeit ein gedankliches Gespinst von »Formalitäten« und »Haecceitäten« getreten ist.1671 Die Begriffsfunktion als solche soll freilich damit keineswegs in ihrer Eigentümlichkeit verleugnet werden: Aber sie kann nur dort ihren wahren Wert entfalten, wo sie als Mittel zur Gewinnung und Siche­ rung der empirischen Kenntnisse selbst gebraucht wird. Die Theorie wird als unentbehrliches Moment in der Feststellung und Sichtung der Beobachtungen anerkannt,168 aber sie besitzt, losgelöst von ihnen, keine selbständige Bedeutung. In Vives’ systematischem Hauptwerk »De disciplinis« wird daher jede allgemeine Theorie, die den beson­ deren positiven Lehren vorausginge, ausdrücklich abgewiesen. Als der Grundfehler des Aristoteles gilt es hier, daß er in der Dialektik das sachliche Fundament, den Maßstab der Wahrheit oder Falschheit aller wissenschaftlichen Urteile sieht: ein Irrtum, der allerdings ver­ zeihlich gefunden wird, weil er durch keinen Geringeren als durch Platon verschuldet sei. Die Aufgabe, die von beiden der Logik cogitatione. [...] ita et sunt mihi nonnulla quae tanti facerem dediscere, quanti alia addiscere permulta. Utinam ut pecuniam, vestes, libros, merces, et alia huiusmodi, ita et haec commutare doareve liceret. Sunt qui magno emunt haec scire, ego magno emerem, ut his me illi exonerarent, ut sibi acciperent.«; fol. 274: »Mira pro­ fecto istorum dialectica, cuius sermonem, quem ipsi Latinum esse volunt, Cicero, si nunc refurgeret, non intelligeret [...]«; ebd.: »[...] quoniam loquendum sive Latine sive Graece consensus approbat, quapropter praecepta dialectices non minus, quam grammatices atque rhetorices ad usum loquendi communem aptanda sunt.«; fol. 282: »Quis ferat pictorem in componendo penicillo, in teren­ dis coloribus: sutorem in acubus, in subulis, in smiliis, caeterisque cultris acuen­ dis [...]«]. 167 »Sunt enim [dialectici] earum rerum inexperti prorsus, et huius naturae, quam melius agricolae et fabri norunt quam ipsi tanti philosophi: qui naturae huic quam ignorarent, irati, aliam sibi continxerunt, nempe [...] formalitates, ecceitates, realitates, relationes, Platonis ideas, et monstra, quae nec illi quidem capiant ipsi, qui pepererunt, quae quando aliud non possunt certe dignitate conhonestant nominis, metaphysicam appellantes, et si quis ingenium habeat naturae huius imperitum, aut | ab eo abhorrens, ad commenta, ad somnia quaedam insanissima propensum, hunc dicunt ingenium habere metaphysicum [...]« Jüan Luis Vives, De causis corruptarum artium (Buch 5), in: Opera, Bd. I, fol. 325-435: fol. 410. 168 »[...] fieri enim convenit quod in Gorgia dicit Plato, ut experientia artem pariat, ars experientiam regat. Et quemadmodum vis quaedam indita est terrae ad producendas herbas omnis generis: ita animae nostrae velut potestate quadam omnium artium ac disciplinarum sunt indita semina [...]« Ders., De tradendis dis­ ciplinis (Buch 1), in: Opera, Bd.I, fol. 436-527: fol. 439.

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Die Auflösung der scholastischen Logik - Vives

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gestellt wird, aber vermag in Wahrheit nur die Gesamtheit der Einzelwissenschaften zu erfüllen und zu lösen. Die Wissenschaf­ ten müssen sich ihre Grundlagen selbst geben; denn welche andere Disziplin z. B. versichert mich der Wahrheit des Gesetzes, daß sich aus zwei spitzen Winkeln ein rechter bilden läßt, als die Geome­ trie? Aristoteles selbst hat die Hauptkategorien, die er an die Spitze stellt, in Wahrheit nicht der Logik als solcher, sondern seiner Meta­ physik und ersten Philosophie entlehnt. Die Einteilung in die zehn Klassen ist bei ihm völlig willkürlich und erklärt sich nur aus einer Nachwirkung, die die Philosophie der Pythagoreer und Megariker auf ihn geübt. So beruht überall der scheinbar allgemeine und formale Gehalt, den die Dialektik entwickelt, in Wahrheit auf versteckten sachlichen Voraussetzungen, die | sie den realen Wissenschaften ent­ nimmt. Weil er diesen Zusammenhang verkannte, mußte Aristoteles das wahre Einteilungsprinzip der Logik verfehlen; die Kategorien sind bei ihm nicht nach der Ordnung der sinnlichen Erfah­ rung und der Erkenntnis, sondern nach der angeblichen Ord­ nung der absoluten Dinge gegliedert. Wie aber kann diese Wesen­ heit der Dinge den Maßstab bilden, wie läßt sich behaupten, daß die Begriffe unseres Verstandes ihr entsprechen müssen, da sie uns doch niemals an und für sich bekannt und gegeben ist? Hätte Aristoteles die Rangordnung des Wissens streng eingehalten, so hätte er nicht mit der Substanz, sondern mit den »Inhärenzen«, mit den Beschaffen­ heiten und Eigenschaften beginnen müssen;169 denn nicht das unbe­ dingte Sein des Gegenstandes, sondern nur die verschiedenen empiri­ schen Bestimmungen, die uns in der Erscheinung gegeben sind, bilden den eigentlichen Anfang der Erkenntnis. Ein zweiter fundamentaler Einwand betrifft die Begründung, die Aristoteles von den »letzten Prinzipien«, die aller Beweisführung zugrunde liegen sollen, gegeben hatte. Die Behauptung solcher unbe­ dingten und unmittelbaren Begriffe und Urteile wird bei ihm rein dogmatisch und ohne den Versuch einer näheren Rechtfertigung ein­ geführt: Weil es ein Ende des Beweises geben muß, darum müssen bestimmte axiomatische Grundlagen (άμεσα) angenommen und geglaubt werden. Was aber versichert uns, daß der psychologische Schein der »Evidenz« uns auch über die sachlich letzten und 169 Ders., De causis corruptarum (Buch 3: De dialectica corrupta), fol. 373 ff. Vgl. bes. fol. 375: »Neque enim ordinem essentiae ipsarum rerum [secutus est], quem nemo percipere, et tenere potest, quum sint rerum essentiae, vel ipso Ari­ stotele teste, obscurissimae, et procul a cognitione mentis humanae remotae. [...] Sensuum vero, et cognitionis nostrae ordinem, non est secutus: alioqui primas obtinuissent partes inhaerentia [...]«

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Die Rechtfertigung der Prinzipien der Erkenntnis

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ursprünglichsten Beziehungen aufklärt; was verschafft diesem indi­ viduellen Kennzeichen der Gewißheit allgemeine und notwendige Geltung für alle Subjekte? Will man sich hier auf die Übereinstim­ mung aller Denkenden, auf den »gesunden Menschenverstand« als | Richtschnur berufen, so kann die tägliche Erfahrung uns über die Ver­ änderlichkeit und Relativität dieses Maßes belehren: Denn jedes Indi­ viduum und jedes Zeitalter besitzt andere Grundsätze, die ihm die ersten und unableitbaren heißen. So wird alle Beweisführung, wenn sie sich auf diesem Boden erheben soll, zur variablen Norm, die sich dem Gebäude, das mit ihrer Hilfe errichtet werden soll, anbequemen muß, statt daß sie dieses der eigenen Regel unterwürfe und anpaßte.170 Wenn Aristoteles ferner, um die Art zu erklären, in der wir zu den letzten Prinzipien gelangen, auf die Induktion verwiesen hat, so liegt auch hier der Zirkelschluß deutlich zutage: Denn welche Induk­ tion vermöchte uns der Allheit der Fälle und damit der Notwen­ digkeit des Schlußsatzes zu vergewissern? In der empirischen Be­ trachtung des Einzelnen, das als eine unendliche Mannigfaltigkeit vor uns ausgebreitet ist, gibt es nirgends einen festen endgültigen Ab­ schluß, gibt es somit keine unaufhebliche Gewißheit, wie die wahrhaft unbedingten Grundsätze sie fordern. Scheinbare und relative All­ gemeinheiten aber vermögen hier nicht zu genügen: Hat doch die Ent­ wicklung der neueren Wissenschaft so manche unserer Anschauungen vom Kosmos und den Elementen, die durch die Erfahrung der Jahr­ hunderte gesichert schien, als irrig erwiesen und dadurch gezeigt, daß eine Ansammlung besonderer räumlicher und zeitlicher Wahr­ nehmungen uns niemals zu wahrhaft universellen Urteilen führen kann.171 In diesen Sätzen bereitet Vives bereits deutlich die Kritik vor, die von den Klassikern der exakten Naturwissen | schäft, vor allem von Galilei, an Aristoteles geübt werden sollte. Im Ganzen seiner Polemik aber liegen fruchtbare und positive Anregungen und ungeklärte Ein­ wände und Forderungen noch ungesondert nebeneinander. Was er mit 170 A.a.O., fol.377: »Qui scio ego quae sint prima, quae sine medio, quae tu vocas αμεσα, quae necessaria naturaef?] Quae sint mihi talia vix scio, nedum ut illa norim naturae intima, ad cujus manifestissima, ut tu ipse fateris, caligamus [...] Sed nec omnino videris oculos in naturam coniecisse, nam immediatas pro­ positiones ad nos refers, in quibus nihil sit opus quenquam edoceri. Quod si homines doces, non erit tibi una, et perpetua demonstratio: aliis enim alia sunt immediata, et prima [...] Erit ergo [Cassirer: igitur statt ergo] demonstratio quasi Lesbia norma, quae se aedificio accomodat, non sibi aedificium.« 171 A. a. O., fol. 377 f.

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Die Auflösung der scholastischen Logik - Petrus Ramus

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Recht bekämpft, ist die Vermischung der Logik mit der Ontologie, die die Signatur des mittelalterlichen Philosophierens ausmacht. Das »absolute Sein« der Dinge, wie sie unabhängig vom Bewußtsein bestehen, kann nicht unmittelbar durch unsere Begriffe verbürgt und abgeleitet werden; was uns allein gegönnt ist, ist, auf Grund der empirischen Beobachtung zu einer Kenntnis und Voraus­ sage der Erscheinungen zu gelangen. In diesem Sinne hat Vives - in seiner Schrift »De anima et vita« - auch die Umgestaltung der Psy­ chologie vollzogen, deren Aufgabe er darein setzt, nicht das uner­ kennbare »Wesen« der Seele zu erschließen und definitorisch zu bestimmen, sondern die psychischen Phänomene und ihre Zusam­ menhänge kennen zu lehren.172 Überall bildet somit die Loslösung der ErfahrungsWissenschaften von der Metaphysik sein eigentli­ ches Ziel. Aber er vermag diese Befreiung nur dadurch zu vollziehen, daß er den besonderen Disziplinen die Aufgabe zuweist, sich selbst ihren Grund zu legen, und daß er den Gedanken einer einheitlichen philosophischen Begründung der Voraussetzungen und Bedin­ gungen der Erkenntnis verwirft. Mit der Logik der »substantiellen Formen« wird auch die Logik der Erfahrung und ihrer immanenten Inhalte abgewiesen. Hier blieb eine ungelöste Aufgabe zurück, die um so schärfer und dringender hervortreten mußte, je klarer das Ideal der empirischen Erkenntnis sich allmählich herausarbeitete.

In den Werken von Petrus Ramus, der Vives’Grundgedanken auf­ nimmt und weiterführt, ist freilich dieses Ergebnis noch nicht erreicht. Was er der herrschenden Lehre an neuen logischen Leistungen ent­ gegensetzt, bleibt dürftig und fragwürdig. Nicht auf den eigenen, ori­ ginalen Gedanken, | sondern auf der Lebhaftigkeit, mit der er be­ stimmte, allgemein verbreitete Tendenzen der Zeit aufgreift und zu Worte kommen läßt, beruht seine geschichtliche Wirkung. Dennoch löst sich aus all dem deklamatorischen Beiwerk, von dem seine logi­ sche »Reform« umgeben und überwuchert ist, wenigstens ein wich­ tiger sachlicher Gesichtspunkt heraus, indem nunmehr die Mathe­ matik als das Vorbild und Muster bezeichnet wird, nach dem der Aufbau der Dialektik sich vollziehen muß. Ramus selbst berichtet, wie die tiefere Kenntnis der Platonischen Dialoge es war, die ihm zuerst über die Unfruchtbarkeit des scholastischen Wissens die Augen geöffnet und ihm den Weg zu den wahren Zielen der Erkenntnis gewiesen habe. Diese Einwirkung läßt sich in seinen Werken überall deutlich verfolgen, wenngleich sie nicht so rein und ungetrübt wie bei 172 Juan Luis Vives, De anima et vita libri tres, Leiden 1555, S. 39 ff.

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Logik und Mathematik

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den eigentlichen Schöpfern der neueren Wissenschaft hervortritt. Das Ideal der Dialektik, das er zeichnet, ist fast völlig dem sechsten Buche der Platonischen »Republik« entlehnt: Wie hier, so bilden bei ihm Grammatik und Rhetorik, Arithmetik und Geometrie, Musik und Astronomie die verschiedenen Stufen und Staffeln, vermöge deren die »Rückwendung« von den Schattenbildern der Sinnlichkeit zur An­ schauung des wahrhaft Seienden sich vollzieht.173 So ist ihm denn auch - im Gegensatz zu Vives - die echte Dialektik wieder die »Köni­ gin und Göttin«, die über alle einzelnen Wissenschaften und Fertig­ keiten herrscht. Aber diese ihre Bedeutung und dieser ihr eigentümli­ che Wert kann nur dann hervortreten, wenn wir sie nicht in dem entstellten Bilde betrachten, das uns Aristoteles von ihr überliefert hat, sondern sie bis zu ihren echten Quellen im menschlichen Geiste selbst zurückverfolgen. Das Ziel der Neuerung ist in Wahrheit die Wiederherstellung der ursprünglichsten und »ältesten« Prinzi­ pien des Denkens: Es gilt zu der edlen Selbständigkeit und Unabhän­ gigkeit der | Alten zurückzukehren, um mit ihnen gegen die Widersa­ cher und Feinde des eigensten Besitzes der Menschheit zu streiten.174 So bildet auch hier die psychologische Erkenntnis des menschli­ chen Geistes und die Beobachtung des natürlichen Denkverlaufs den Ausgangspunkt. Jede Wissenschaft muß, bevor sie beginnen kann, ein ideales Vorbild vor sich aufstellen, muß ein Muster bezeichnen und bestimmen, dem sie nachstrebt und das sie zu erreichen trachtet. So besitzt die Physik einen derartigen Maßstab und eine derartige Begrenzung in der Beschaffenheit der Naturobjekte; so muß der Mathematiker alle seine Sätze zuletzt auf reine anschauliche Grund­ formen und Gestalten zurückbeziehen, wie der Sprachgelehrte und Redner den natürlichen Sprachgebrauch befragen muß. Alle Kunst findet somit ihre Stütze und ihre feste Regel in irgendeiner dauernden und unveränderlichen Natur: »[...] artium veritas prius in natura viguit, quam ulla praecepta cogitarentur [.. .]«175 Nur die Dialektik hat sich bisher, in einem falschen Unabhängigkeitsbestreben, diesem gemeinsamen Gesetz und dieser gemeinsamen Kontrolle entzogen; damit aber hat sie sich zugleich jeder willkürlichen Erdichtung wehr­ 173 Petrus Ramus, Dialecticae institutiones, in: Dialecticae institutiones, ad celeberrimam, et illustrißimam Lutetiae Parisiorum academiam. Item Aristotelicae animadversiones: a prima aeditione nuspiam hac methodo visae: omnibus stu­ diosis inprimis scitu dignissimae, ac utilissimae (1543), hrsg. v. Johann Thomas Freigius, Basel 1575, S. 1-102: S. 61 ff. 174 Petrus Ramus, Aristotelicae animadversiones, in: Dialecticae Institutiones/ Aristotelicae animadversiones, S. 103-233: S. 107. 175 [A.a.O., S. 109.]

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los überliefert. Wie ein Maler die menschliche Gestalt und die Züge des menschlichen Gesichtes im einzelnen nachzubilden strebt, so muß es das höchste Ziel der logischen Wissenschaft werden, die »natürli­ che Dialektik« wiederzugeben und sie in ihren eigenen und echten Farben zum Ausdruck zu bringen.176 Erst wenn die Kunst diesen ihren wahren Ursprung begreift und anerkennt, | vermag sie, in ihrer höchsten Entwicklung, rückgewandt wiederum zur Führerin und Meisterin der Natur zu werden. »Denn keine Natur ist so fest und beständig, daß sie nicht durch die Erkenntnis ihrer selbst und durch die Beschreibung ihrer Kräfte an Festigkeit und Sicherheit gewänne: Keine ist so kraftlos und gebrechlich, daß sie nicht durch Hilfe der Kunst zu größerer Energie und Klarheit zu gelangen vermöchte. Die Natur enthält die lebendigen Kräfte, die dank dem Rat und der Lei­ tung der Kunst zu reiner und unverdorbener Entfaltung kommen.«177 Die Aristotelische Logik und Syllogistik ist es, die bisher den Geist in spanische Stiefel eingeschnürt hat: Sollen wir dulden, daß die Natur vergewaltigt und der Fuß zerbrochen wird, statt diese willkürliche Fessel abzustreifen?178 In der »natürlichen« Entwicklung des Geistes nun steht auch für Ramus die Sprache an erster Stelle. Sobald in uns das Bewußtsein der Notwendigkeit erwacht ist, von der fließenden Erscheinung zum einheitlichen und dauernden Sein zurückzugehen, finden wir in ihr die erste und sichere Leitung. Hier zuerst tritt uns ein Beispiel dafür entgegen, wie die unendliche Mannigfaltigkeit der Dinge sich im Denken genau und harmonisch abbilden und wiedergeben läßt; hier zuerst erfassen wir daher auch das Wesen des eigenen Geistes und die unverbrüchlichen Gesetze des Urteilens. Erst nachdem dieser Schritt getan, werden wir auch in den physischen Objekten die 176 »[···] ita ars dialectica diligenter exposita [ad] naturalis dialecticae (cuius observatio est) similitudinem se referre: et propriis germanisque coloribus expri­ mere: vim universam amplecti: membra, partesque legitimis locis partiri: habitum denique totum imitari praedicabit: hoc fundamentum est nostrae contentionis, hoc firmamentum quaestionis, haec summae, et totam disputationem complec­ tentis ratiocinationis intentio est: ars dialectica est imago naturalis dialecticae: in commentariis autem Aristotelis nihil est ad naturae monitionem propositum: nihil (si naturae veritatem spectes) non confusum, non perturbatum, non contaminatum, non foedatum [...]« A. a. O., S. 109 f. 177 Ramus, Dialecticae institutiones, S.6 [»Nulla enim natura est tam firma, constansque, quin sui cognitione et virium suarum descriptione firmior, atque constantior: nulla tam languida, et abiecta est quin adiumento artis acrior, et alacrior effici possit. Sed iam de hac discipula, magistraque dicamus, naturae monita, consiliaque praeceptis artis includamus.«]. 178 Ders., Aristotelicae animadversiones, S. 116 f.

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Die »natürliche Dialektik-

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Spuren einer höheren und geistigen Wahrheit zu entdecken und ihren inneren Zweckzusammenhang zu verstehen vermögen. Psychologie und Physik bereiten uns sodann, in ihrer Gesamtheit, zum tieferen Verständnis des Mathematischen vor, durch das wir die Prinzi­ pien der Naturdinge erst im helleren Lichte erblicken und von den Schattenbildern selbst zu ihren Ursachen fortschreiten. So dient insbesondere die Arithmetik nicht nur, die Fülle der Gegenstände zu gliedern und zu beherrschen, sondern ist vor allem das Werk | zeug, den Geist zu schärfen und ihn der Erkenntnis seiner göttlichen Wesenheit näher zu bringen. »Auf welchem anderen Wege gelangen wir mitten in der Illusion des sterblichen Daseins, die uns umfängt, zu tieferer Einsicht in die Beschaffenheit und Lage unserer unsterblichen Natur? Beklagen wir es, daß der Blick des Menschen durch das Dun­ kel, mit dem ihn der Körper umschließt, getrübt ist: Die Mathematik schafft ihm Klarheit und Licht, so daß er die unabsehbare Vielheit der Dinge nach Zahl und Beschaffenheit zu unterscheiden vermag. Jam­ mern wir darüber, daß der Mensch in die engen Schranken des Kör­ pers wie in ein Gefängnis gebannt sei: Die Mathematik befreit ihn und macht den Menschen größer als das ganze Weltall, so daß er, der nicht den millionsten Teil eines Punktes von ihm ausmacht, es in seiner Gesamtheit mit Augen, die weiter reichen als es selbst, anschaut. [...] Sie ist es, die ihn in sein ursprüngliches, väterliches Erbe einsetzt und die ihm die Urkunden dieses köstlichen Besitzes [...] nicht nur deu­ tet, sondern die sie beglaubigt und auf ihren göttlichen Ursprung zurückleitet. Beklagen wir den Menschen, daß er durch die Gewalt und den Sturm der Leidenschaften ziellos hin- und hergeworfen werde: Die Mathematik schafft ihm die Ruhe des Gemüts, sie löst die widerstrebenden Bewegungen der Seele harmonisch auf und führt sie, unter der Herrschaft der Vernunft, zur Eintracht und zum Zusam­ menklang.« 179 - »Quam coeleste, quamque deorum proprium est, cum in tenebris caecus erres, in amplissimo lumine omnia numerare?

179 Ders., Dialecticae institutiones, S. 67ff. [S.68 f.: »Qua via proprius in hac mortalitatis illusione, ad immortalis naturae conditionem accedimus? Hominem insolitis, perturbatisque corporis tenebris obcaecatum dolemus? Mathesis in eo lumine constituit, ut innumerabilem rerum multitudinem modis numerisque distinguat. Hominem corporis exigui, velut carceris angusti custodia constrictum querimur? Mathesis liberat, seu potius hominem hac mundi universitate maiorem reddit: ut eam cuius vix millies millesimum punctum dici potuit, totam oculis ipsa multo grandioribus, aspiciat. [...] Mathesis in avitam, patriamque coeli heredita­ tem restituit: tabulasque tam preciosae possessionis [...] non solum interpretatur, sed diis ipsis authoribus addicit. Hominem maximis, et turbulentis cupiditatum motibus misere iactatum lamentamur? Mathesis transquillitatem parit, et discor-

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Cum in uno loco vinctus tenearis, omnes regiones celerrime liberrimeque peragrare? Cum exules, in media patriae luce versari? Cum agi­ teris, statum tenere?«180 So viel auch in dieser Darstellung auf Rechnung rhetorischen Schmuckes zu setzen ist: es ruht auf ihr dennoch ein Glanz Platoni­ schen Stils und Platonischer Denkart. Ramus selbst ist kein produkti­ ver Mathematiker, aber er hat durch die Klarheit und Faßlichkeit sei­ ner Lehrbücher den didaktischen Bedürfnissen der Zeit und der allgemeinen Ausbreitung mathematischer Bildung gedient. Hier wie im Kampf gegen | Aristoteles ist er nicht der Schöpfer, wohl aber der Wortführer der modernen Gedanken. Die mannigfachen Strömun­ gen, die auf eine Erneuerung der Wissenschaft hindrängen, finden bei ihm ihren Ausdruck und ihren pathetischen Widerhall. Die Schriften von Valla, Vives und Ramus stellen drei verschiedene Stufen dar, in denen die allmähliche Rezeption des Humanismus durch drei große Kulturvölker sich vollzieht: Zugleich aber gehören sie ein und derselben inneren und sachlichen Entwicklung an. Selbst hier, im Mittelpunkte der humanistischen Denkweise, mehren sich die Anzei­ chen für den Übergang von der philologischen zur mathe­ matisch-naturwissenschaftlichen Renaissance. So soll bei Ramus die alte Logik, die ihre Orientierung und ihr Rüstzeug der Grammatik entlehnt,181 durch eine neue Denklehre ersetzt werden, die ihr Vorbild im Inhalt der Geometrie sucht. Die Geometrie allein ist es, die im Sinne des Aristoteles selbst Wissenschaft genannt werden kann, weil nur in ihr ein strenger und notwendiger Fortschritt des Beweises sich findet: Aber keine Lehre entspricht weniger als sie dem herkömmlichen Schema und dem herkömmli­ chen Ideal, das der Dialektiker entwirft. Nicht in der Syllogistik, sondern in den Definitionen und Postulaten, die sie selbst an die Spitze stellt, in ihren eigenen inhaltlichen Grundlegungen ist der Quell ihrer Wahrheit zu suchen. Wenn Ramus jetzt, wie Vives, aus­ spricht, daß die Prinzipien, von denen die Aristoteliker träumen, nir­ gend anderswo als in den Wissenschaften selbst zu finden sind: so hat dieser Satz bei ihm, der den Platonischen Begriff der Dialektik anerkennt, eine veränderte Bedeutung gewonnen; er berei­ tet den Gedanken einer philosophischen Einheitswissenschaft vor,

des anmiae motus harmoniae suavitate temperat. Et ad concordiam rationis im­ perio consonantem redigit.«]. 180 A.a. O., S. 69. 181 Uber die Entlehnung der logischen Kategorien aus der Grammatik s. Ramus, Aristotelicae animadversiones, S. 112 f.

135-137 Übergang zur mathematisch-naturwissenschaftl. Renaissance

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die an den »realen« Einzelwissenschaften selbst ihren Halt und ihren Grundstoff besitzt.182 | Wie gebieterisch diese neue Forderung sich allenthalben durch­ setzt, das beweist, deutlicher als alle Angriffe auf die Scholastik, die Richtung, die nunmehr die Aristotelische Logik bei ihren eigenen getreuen Anhängern nimmt. Hier erst vollzieht sich die wahrhafte, immanente Kritik. In den logischen Schriften Zabarellas, die im 16. Jahrhundert als anerkannte und maßgebende Lehrbücher weit ver­ breitet waren, begegnen und mischen sich die überlieferten und die modernen Elemente. An dem Syllogismus, als einzigem und grundlegendem methodischen Mittel, wird hier noch in aller Strenge festgehalten: »definitio methodi a definitione syllogismi non differt« Wenngleich er indes als Gattungsbegriff für alle gedanklichen Verfahrungsweisen (»commune genus omnium methodorum, et instrumen­ torum logicorum«) als das logische Instrument schlechthin anerkannt bleibt,183 so wird doch in die Beschreibung und Darstellung des syllogistischen Verfahrens selbst ein Gesichtspunkt eingeführt, der der mittelalterlichen Logik fremd geblieben war. Zwei verschie­ dene Arten des Schlusses, zwei Richtungen des Fortgangs vom Bekannten zum Unbekannten werden von Anfang an auseinander­ gehalten. Neben die »kompositive« Methode des Beweises, die die einzelnen gegebenen Prämissen und Bausteine synthetisch anein­ anderreiht und zu einem bestimmten Ergebnis und Schlußsatz zusam­ menfügt, steht die Zerlegung eines Begriffsinhalts in die Mannig­ faltigkeit seiner Momente und Bedingungen. Die Aufgabe der Logik wird erst durch die Vereinigung und Durchdringung dieser bei­ den Methoden erschöpft. Die Natur der Erkenntnis ob j ekte wie die Zergliederung des Erkenntnisprozesses führt mit Notwendigkeit auf diese Unterscheidung und Gliederung: Denn immer handelt es sich darum, die Wirkung aus der Ursache zu erschließen und kennen­ zulernen oder aber die bekannte Wirkung resolutiv in ihre Ursachen und Teilbedingungen aufzulösen. Eine andere Beziehung zwischen Begriffen kann es nicht geben: | Denn wo zwei Elemente a und b nicht, wenigstens mittelbar, im Verhältnis von Ursache und Wirkung stehen, da besteht zwischen ihnen kein »notwendiger und wesentlicher Zusammenhang«, wie er allein den Gegenstand logischer Untersu­ chung ausmachen kann.184 182 Vgl. a. a. O., S. 196 f. 183 Giacomo Zabarella, De methodis libri quattuor (Buch 3, Kap. 3), in: Opera logica, Basel 1594, Sp. 133-334: Sp.226 u. 229. 184 A.a.O. (Buch 2, Kap.6), Sp.180 f.; a. a. O. (Buch 3, Kap. 17), Sp. 265 f.:

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Der Beweis ist somit erst dann in sich vollendet und abgeschlossen, wenn er einen Kreislauf beschrieben hat und zu seinem Ausgangs­ punkt zurückgekehrt ist, der ihm indes jetzt in neuem begrifflichen Lichte erscheint. Nachdem das analytische Verfahren uns zu den Bedingungen hingeleitet hat, die notwendig und hinreichend sind, die gegebene Erscheinung zu erklären, müssen wir umgekehrt streben, aus der Setzung und Herstellung dieser Bedingungen das Phänomen, um das es sich handelt, wiederum hervorgehen und entstehen zu las­ sen. Erst in dieser Umwendung liegt die Probe und Rechtfertigung für die vorangegangene begriffliche Zerlegung. Was vom Standpunkt der Analysis als letztes Ziel und Ende erscheint, das darf daher in Wahr­ heit nur als der erste fruchtbare Anfang der theoretischen Betrach­ tung und Beweisführung gelten. Die Bedeutung dieser Ausführungen Zabarellas ergibt sich uns sofort, sobald wir sie in moderne Sprache übersetzen. In der Unterscheidung von kompositiver und resolutiver Methode handelt es sich um den Gegensatz von Deduktion und Induktion. Es ist das Verdienst von Zabarellas Logik, diese beiden Grundmethoden bestimmt gegeneinander abgegrenzt, zugleich aber sie in ihrer notwendigen Wechselbedingtheit erfaßt und dargestellt zu haben. Es genügt nicht, die Induktion als eine zufällige und planlose Anhäufung beliebiger Einzelfälle zu denken: Wir müssen ihr | inner­ halb der Logik selbst ihren Ort anweisen und ihre Rechtferti­ gung geben. Diese Begründung vollzieht sich in dem gedanklichen Verfahren der Analysis, das der Induktion als ihr Korrelat und ihr logischer Ausdruck zur Seite zu stellen ist.185 Ausdrücklich wird daher die »resolutive« Methode den empirischen Wissenschaften vorbehalten und von dem »analytischen« Verfahren, das in der Ma­ thematik zur Anwendung gelangt, unterschieden. Denn innerhalb der Mathematik besitzen die ursprünglichen und die abgeleiteten Erkenntnisse, besitzen Prinzip und Folgerung denselben Grad und dieselbe Stufe der Gewißheit. Die Elemente sind hier, was ihren logi­ schen Charakter und Wert betrifft, einander völlig koordiniert und bedingen sich wechselseitig, so daß es im Grunde nur ein techni»Idem ex ipso methodi progressu ostenditur [...] omnis enim a noto ad ignotum scientificus progressus vel a causa est ad effectum, vel ab effectu ad causam; illa quidem est methodus demonstrativa, haec autem resolutiva; alius processus, qui certam rei notitiam pariat, non datur: nam si ab aliquo ad aliquod progrediamur, quorum neutrum alterius causa sit, non potest inter illa esse connexus essentialis, ac necessarius. Quare nulla certa cognitio illum progressum consequi potest; patet igitur, nullam dari scientificam methodum praeter demonstrativam, et resolutivam.« 185 S. bes. a. a. O. (Kap.3 u. 19), Sp.226ff. u. 268 ff.

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Kompositive und resolutive Methode

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scher Unterschied ist, ob wir synthetisch von den Voraussetzungen zu den Folgerungen fortschreiten oder umgekehrt auf analytischem Wege zu Prinzipien gelangen, die uns schon anderweit bekannt und gesichert waren. Bei der echten resolutiven Methode dagegen, die im besonderen und auszeichnenden Sinne das Verfahren der Natur­ wissenschaft ist, handelt es sich nicht um eine derartige Auflösung in gegebene Prinzipien, sondern hier muß der Fortschritt der Zer­ legung selbst die verborgenen Ursachen erst ans Licht fördern. »Da uns nämlich infolge der Schwäche unseres Geistes die Prinzipien, aus denen der Beweis zu führen wäre, unbekannt sind, wir aber vom Unbekannten nicht unseren Ausgang nehmen können, so müssen wir notgedrungen einen anderen Weg einschlagen, auf welchem wir kraft der resolutiven Methode zur Entdeckung der Prinzipien ge­ führt werden, um sodann, nachdem sie einmal gefunden, die natürli­ chen Phänomene und Wirkungen aus ihnen beweisen zu können.« Die resolutive Methode ist daher vom logischen Standpunkt se­ kundär und die Dienerin des demonstrativen Verfahrens: Ihr Ziel ist die »inventio«, nicht die »scientia«.186 Zu wahrer theoretischer Ein | sicht und zu vollendetem Wissen gelangen wir erst, wenn wir, nachdem wir von den Tatsachen zu den Gründen zurückgegangen, aus diesen die Tatsachen wiederum deduktiv ableiten und zurück­ gewinnen können: wenn wir sie somit aus ihrer empirischen Isolie­ rung befreien und einem allgemeinen gedanklichen Zusammen­ hang einordnen. In diesem Fortschritt vom »Was« des Phänomens zu seinem »Warum« besteht die Aufgabe und die Entwicklung alles Wis­ sens. Mit dieser Begriffsbestimmung der Erkenntnis aber weist Zabarella bereits deutlich auf Galilei voraus. Auf ihn deutet nicht nur die Scheidung von »kompositiver« und »resolutiver« Methode, sondern vor allem die tiefere und reinere Abgrenzung von populärer Beob­ achtung und wissenschaftlicher Erfahrung. Neben die bloße Sammlung einzelner Tatsachen, die niemals wirkliche Gewißheit ver­ schafft, tritt die »beweisende Induktion«, die an einer »notwendigen Materie« und an Inhalten, die eine wesentliche Verknüpfung untereinander aufweisen, geübt wird. Während die bloß empirische Betrachtung, um überhaupt zu irgendeinem Schlüsse zu berechtigen, das Durchlaufen aller Fälle verlangen würde, ist das Verfahren der 186 A.a. O. (Kap. 18), Sp.266f. [Sp. 67: »[...] quum enim propter ingenii nostri, viriumque nostrarum imbecillitatem ignota nobis occurrant principia, ex quibus demonstrandum est, ab ignotis autem progredi non possimus: ideo necessitate coacti ad secundariam quandam viam confugimus, quae est methodus resolutiva ad principiorum inventionem ducens, ut ex eis inventis postea esse actus natura­ les demonstremus.«].

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Wissenschaft dadurch ausgezeichnet, daß in ihm unser Geist an ein­ zelnen besonderen Beispielen sogleich das allgemeine Gesetz ihres Wesenszusammenhangs entdeckt und durchschaut: ein Gesetz, das er alsdann wieder auf die besonderen Tatsachen anwendet und an ihnen bewährt.187 Alle diese Ausführungen sind von Galileis Methoden­ lehre, in der wir sie völlig gleichlautend wiederfinden werden, nur durch einen einzigen Zug getrennt, der allerdings entscheidend ist. Die Rolle, die der Mathematik in der »beweisenden Induktion« zukommt, wird von Zabarella nirgends begriffen: Die Beispiele, auf die er sich für seine neue Grundanschauung beruft, sind | nicht der exakten Wissenschaft, die erst in vereinzelten Ansätzen vorlag, son­ dern der Metaphysik und Naturlehre des Aristoteles entnommen.188 Gerade in dieser Beschränkung liegt die wesentliche geschichtli­ che Eigentümlichkeit seiner Leistung, die man als eine Umbildung und Umdeutung des Aristotelischen Erfahrungsbegriffs in den mo­ dernen Begriff der analytischen Induktion bezeichnen kann. Besonders deutlich tritt dieser Grundzug in der Monographie her­ vor, die Zabarella seinem neuen methodischen Hauptgedanken ge­ widmet hat. In der Schrift »De regressu« ist die positive Darstellung und Entwicklung der resolutiven Methode überall durch die Rück­ sicht auf den Aristotelischen Text und auf die logische Schulüberliefe­ rung beengt. Vor allem ist Zabarella hier bemüht, den analytischen Gang der Entdeckung und Begründung von dem Zirkelbeweis zu scheiden, mit dem er nach seiner äußerlichen schematischen Form zusammenzufallen droht. Die charakteristische Eigentümlichkeit des logischen Zirkels liegt darin, daß bei ihm Anfangspunkt und End­ punkt zusammenfallen, daß zuvor B aus A und sodann wiederum A aus B bewiesen wird. Hierin aber scheint er dem logischen Doppel­ verfahren, das wir bisher betrachtet, unmittelbar verwandt: Denn auch bei diesem findet die Untersuchung ihre Grenze und ihren Abschluß bei demselben Objekt und bei derselben Tatsache, von der sie ausgegangen war. Wir bleiben nicht bei dem abstrakten Inbegriff von Bedingungen stehen, den wir durch Zerlegung einer bestimmten Naturerscheinung gewinnen, sondern suchen die Erscheinung selbst 187 Giacomo Zabarella, Liber de regressu (Kap. 4), in: Opera logica, Sp.479-498: Sp. 485 f. [Zitat Sp. 485]: »[...] inductio autem demonstrativa fit in materia necessaria, et in rebus, quae essentialem inter se connexionem habent. Ideo in ea non omnia sumuntur particularia, quoniam mens nostra quibusdam inspectis statim essentialem connexum animadvertit, ideoque spretis reliquis par­ ticularibus statim colligit universale [...]« 188 Vgl. a. a. O. (Kap. 6), Sp. 489 ff.; ders., De methodis (Buch 1, Kap. 6), Sp. 142 u.ö.

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Die regressive Methode und der Zirkelschluß

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aus ihm wiederum zu rekonstruieren und aufzubauen. Das Faktum, mit dem wir beginnen, wird also zugleich als bekannt und als unbekannt angesehen: als bekannt, sofern es der Mittelpunkt ist, auf den die gesamte gedankliche Bewegung sich zurückbezieht; als unbe­ kannt, sofern seine Erläuterung und Aufhellung den eigentlichen Vor­ wurf und die eigentliche Frage bildet. Um der Schwierigkeit, die hierin liegt, zu entgehen, genügt es nicht, sich auf die übliche Aristo­ telische Unterscheidung des πρότερον | vrj φύσει vom πρότερον προς ημάς zu berufen: also etwa zu erwidern, daß die Ursache zwar »an sich« früher als die Wirkung sei, »für uns« und unsere begriffliche Einsicht dagegen das Unbekannte und Abzuleitende bedeute. Denn mit dieser Antwort würde ein metaphysischer Gesichtspunkt in eine Frage eingeführt, die, wenn irgendeine, mit den Hilfsmitteln und den Bedingungen der reinen Logik zu lösen und zu entscheiden ist. In dieser aber haben wir es niemals mit der »Natur« als solcher, mit der absoluten Wesenheit der Dinge, sondern nur mit unserer Art, die Dinge zu begreifen, zu tun. Jedes Beweis verfahr en geht somit von »uns selbst« aus und zielt wiederum auf »uns selbst«, nicht auf die »Natur« ab - »utraque demonstratio a nobis, et propter nos ipsos fit, non propter naturam«.189 Die Betrachtung und Gliederung der Wis­ senschaften darf sich - wie Zabarella in seiner Schrift über die Methode ausgeführt hatte - niemals auf die Ordnung der Objekte, sondern lediglich auf die der Erkenntnisse stützen. Die Frage ist nicht, wie die Gegenstände sich im Universum verbinden und zusam­ menfügen, sondern wie die Begriffe unseres Geistes sich, im stetigen Stufengang vom Leichteren zum Schwereren, aneinanderreihen und aufbauen.190 In der Tat könnte es, wenn wir nur den Gang der Natur wiederzugeben und auszudrücken hätten, nur eine einzige synthe­ tische Art des Beweises geben: Denn die Natur schreitet überall vom Einfachen zum Zusammengesetzten, von den Elementen zu den Ver­ bindungen fort. Die Gedankenwelt indes ist an die bloße Verfolgung und Nachahmung dieser realen Zusammenhänge nicht gebunden, sondern stiftet sich selbst, nach eigenem Gesetze, ihre Verbindungen und Rangordnungen. So ist es | denn auch für das methodische Ver­ fahren, das hier in Frage steht, relativ gleichgültig, daß der ob j ektive 189 Ders., De regressu (Kap. 2), Sp.481. 190 Ders., De methodis (Buch 1, Kap. 6), Sp. 142: »[...] revera enim non ex ipsa rerum considerandarum natura sumitur ratio ordinandi scientias, et disciplinas omnes, sed ex meliore, ac faciliore nostra cognitione; non enim scientiam aliquam hoc potius, quam illo modo disponimus, quod hic sit rerum consideran­ darum naturalis ordo prout extra animum sunt: sed quia ita melius, et facilius ab omnibus ea scientia discetur.«

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Die Auflösung der scholastischen Logik - Zabarella

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Inhalt, bei dem es endet, derselbe ist, mit dem es begonnen: da doch die Erkenntnisart mannigfache Wandlungen erfahren und streng voneinander abgegrenzte Stufen durchlaufen hat. Noch einmal stellt Zabarella alle diese Einzelphasen in genauer Abgrenzung einander gegenüber. Was uns zunächst gegeben ist, ist nur die Kenntnis des ein­ zelnen Effekts, die nackte Tatsachenwahrheit, die uns nichts über den Zusammenhang und den Ursprung des besonderen Faktums verrät. Der nächste Schritt besteht darin, das komplexe Faktum in seine ein­ zelnen Bestandteile und Merkmale zu zerlegen und die einzelnen Begleitumstände festzustellen, unter denen es auftritt. Wenn wir indes auf diese Weise die »Bedingungen« einer bestimmten Erscheinung erfahrungsmäßig festgestellt haben, so wäre es dennoch irrig zu glau­ ben, daß wir in ihnen schon die wahrhafte »Ursache« erfaßt und bestimmt haben. Was uns bis hierher bekannt ist, ist das empirische Beisammen und die zeitliche Abfolge der Elemente, nicht die Art und die begriffliche Notwendigkeit ihres Zusammenhangs. Um hierein Einsicht zu erhalten, müssen wir vorerst und noch ehe wir den Rück­ weg zur Ableitung der Wirkung antreten, bei der hypothetisch angenommenen Ursache verweilen, um sie einer gedanklichen Zerle­ gung und Prüfung zu unterziehen. Erst in solcher reflexiven Besin­ nung (mentale ipsius causae examen) wird die Ursache, die uns zuvor nur als ungegliedertes »verworrenes« Ganze gegeben war, zu einem distinkten begrifflichen Inhalt.191 Haben wir etwa zuvor das Feuer als eine Bedingung erkannt, die dem Rauch beständig vorangeht, so suchen wir jetzt, gleichsam vermöge eines gedank | liehen Experi­ ments, seine einzelnen Merkmale zu isolieren und uns den Zusam­ menhang, den sie etwa mit der Erscheinung des Rauches haben kön­ nen, begrifflich vorzustellen. Nachdem wir auf diese Weise die wesentlichen Merkmale von den unwesentlichen getrennt und den Ursachenkomplex A in eine Reihe von Teilbedingungen cz, /3, y,... auf­ gelöst haben, können wir darangehen, die einzelnen Komponenten gedanklich zusammenzufügen, um den Erfolg deduktiv aus ihnen hervorgehen zu lassen. Drei verschiedene Schritte treten also deutlich auseinander: Während der erste uns von der Wirkung, die wir unbe­ 191 Ders., De regressu (Kap. 5), Sp. 486 f.: »Facto itaque primo processu, qui est ab effectu ad causam, antequam ab ea ad effectum retrocedamus, tertium quendam medium laborem intercedere necesse est, quo ducamur in cognitionem distinctam illius causae, quae confuse tantum cognita est, hunc [...] mentale ipsius causae examen appellare possumus, seu mentalem considerationem: postquam enim causam illam invenimus, considerare eam incipimus, ut etiam quid ea sit cognoscamus: qualis autem sit haec mentalis consideratio, et quomodo fiat, a nemine vidi esse declaratum.«

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Begriffliche Analyse und kausale Erkenntnis

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stimmt und verworren erfassen, zu einer vagen und verworrenen Vor­ stellung der Ursache führt, besteht der zweite in einer »geistigen Betrachtung«, durch die wir zu ihrer distinkten Erkenntnis gelan­ gen, die uns endlich zu einer vertieften, distinkten Einsicht in die Wir­ kung selbst befähigt.192 Jetzt aber ist jeder Verdacht eines Zirkelbe­ weises geschwunden; denn da, vom Standpunkt der Logik, das Objekt durch die Erkenntnisweise bestimmt und charakterisiert wird, so ist es in Wahrheit ein neuer Inhalt und ein neuer Gegenstand, den wir bei dieser Rückkehr zum ursprünglichen Anfang vorfinden. Und noch ein zweiter begrifflicher Gesichtspunkt ist es, unter dem dieses Endergebnis zu betrachten ist. Bei dem Beweisgang der Syllogistik, der synthetisch, also stets in ein und derselben Richtung fort­ schreitet, bleibt die Frage nach der Beweisbarkeit der obersten Prin­ zipien selbst ein schwieriges und drohendes Problem. Wir sahen bereits, daß die Aristotelische Antwort, die in der Setzung erster »unmittelbarer« Grundbegriffe bestand, der modernen Kritik nir­ gends mehr standzuhalten vermochte. Jetzt ist die Aufgabe der Be­ gründung selbst eine andere geworden. Die Forderung | unbedingt­ letzter Voraussetzungen, die keiner Rechtfertigung mehr fähig oder bedürftig wären, ist verlassen: Die »einfachen« Grundbedingungen, bei denen die Analyse endet, sind so wenig unmittelbar gewiß, daß ihre mittelbare Bewährung in der Leistung, die sie am empiri­ schen Stoffe vollziehen, zur eigentlichen logischen Aufgabe wird. Die ersten »Gründe« sind somit hypothetische Setzungen, die ihren Halt und ihren »Beweis« an den Phänomenen und Tatsachen finden, deren begriffliches Verständnis und deren Erforschung sie selbst erst möglich machen. So wird hier der Rückgang ins Unendliche, zugleich aber die Annahme absoluter Elemente vermieden: Das Prinzip der Gewißheit liegt in einer reinen Relation zwischen Grund und Folge, Voraussetzung und Ergebnis. Der Wechselbeweis und der »Zirkel«, der hierin liegt, wird, so anstößig er der formalen Logik scheinen mag, von der Logik der empirischen Forschung gefordert. Und damit erhellt sich uns nochmals der Weg und die Richtung, in der die Untersuchungen Zabarellas liegen. Innerhalb der Schule von Padua selbst, die sich als die Hüterin der echten aristotelischen Über­ lieferung betrachtet, gelangt die gleiche Tendenz wie bei den humani­ 192 A.a.O., Sp.489: »Ex tribus igitur partibus necessario constat regressus; prima quidem est demonstratio quod, qua ex effectus cognitione confusa ducimur in confusam cognitionem causae: secunda est consideratio illa mentalis, qua ex confusa notitia causae distinctam ejusdem cognitionem acquirimus: tertia vero est demonstratio potissima, qua ex causa distincte cognita ad distinctam effectus cognitionem tandem perducimur [...]«

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Die Auflösung der scholastischen Logik - Francesco Pico

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stischen Gegnern zum Durchbruch: Hier wie dort tritt immer mehr das Bemühen hervor, die Logik von den ontologischen Beimischun­ gen zu befreien und in eine Methodenlehre des Denkens und der Wissenschaft überzuführen. Die metaphysischen Elemente, die in die Erkenntnislehre des Ari­ stoteles eingegangen und mit ihr verschmolzen waren, sind uns bereits früher entgegengetreten. Wie dem Denken die Aufgabe gestellt war, ein vollendetes Abbild des Seins zu liefern, so blieb die Beschrei­ bung seiner Funktion und Tätigkeit in die Schwierigkeiten des Sub­ stanzbegriffs verstrickt. Was an den Objekten erkennbar ist, ist lediglich ihre »Form«, die von der Beimischung mit der Materie befreit werden muß, damit das betrachtete Objekt seiner reinen gei­ stigen Wesenheit nach in | das Denken aufgenommen werden kann. Die Materie, die als die notwendige Bedingung der konkreten Exi­ stenz des Dinges gilt, bedeutet für die Erkenntnis eine negative und unübersteigliche Schranke. Schon die sinnliche Wahrnehmung muß die stoffliche Bestimmtheit, die dem Einzeldinge anhaftet, abstreifen, um ihm den Eingang ins Bewußtsein zu verstatten. Aber sie ent­ hält die Wesenheit des Objekts, die sie auf diese Weise herauslöst, noch in mannigfacher Vermischung mit zufälligen und äußerlichen Beschaffenheiten, und erst der Tätigkeit des Verstandes gelingt es, die Substanz nach ihrer wahrhaft allgemeinen Natur und frei von allen »Akzidenzien« zu erfassen. So blieb die Deutung des Erkenntnispro­ zesses abhängig von der realistischen Voraussetzung, die dem System zugrunde lag: Die allgemeinen Begriffe, die die letzten und höchsten Ergebnisse des Wissens sind, haben Geltung, weil sie ihre Entspre­ chung in den allgemeinen Formen und Zwecken finden, die die empi­ rische Wirklichkeit gestalten und beherrschen. Es ist ein neuer, wichtiger Schritt in der Entwicklung der Renais­ sancephilosophie, daß sie - über die gelegentliche Opposition ge­ gen Einzellehren des peripatetischen Systems hinaus - zu einer Kritik dieser fundamentalen logischen Grundannahme weiterschreitet. Jetzt erst zeigt es sich, daß wir es in ihr nicht mit verstreuten und bezie­ hungslosen Reaktionen gegen die Scholastik zu tun haben, sondern mit einer philosophischen Gesamtbewegung, die allmählich immer sicherer zur Klarheit über ihre letzten gemeinsamen Ziele durch­ dringt. Zum ersten Male tritt dieser Fortschritt in der philosophischen Hauptschrift des jüngeren Pico della Mirandola deutlich hervor. Diese Schrift ist zu Unrecht vergessen: Denn wenngleich sie an Wirk­ samkeit hinter den Werken des älteren und berühmteren Giovanni Pico zurücksteht, so ist sie doch eine der frühesten kritischen Zerglie­

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Form und Materie der Erkenntnis

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derungen der Aristotelischen Lehre, die auf vollständiger und einge­ hender Kenntnis des Gesamtsystems ruht und die diesem selbst die Mittel zu seiner Bestreitung zu entnehmen sucht. In der Gegen­ überstellung der einzelnen peripatetischen Lehren bekundet sich hier eine | dialektische Schärfe und Sicherheit, wie sie innerhalb des Huma­ nismus und seines rhetorischen Kampfes gegen die Scholastik nir­ gends erreicht wurde. Der Gesamttendenz nach lenkt freilich Fran­ cesco Pico wieder zum Mittelalter zurück; bei ihm, der unter dem entscheidenden Eindruck der Persönlichkeit Savonarolas steht, bildet das religiöse Interesse den letzten Maßstab, dem alle Vernunft­ betätigung sich unterwerfen muß. Auch die Kritik des Aristoteles wird diesem Ziel und Gedanken eingeordnet: Sie soll zum Mittel wer­ den, um die Offenbarung gegenüber der »heidnischen Philosophie« triumphieren zu lassen. So behält hier freilich die Skepsis gegen die unabhängige Kraft des Wissens das letzte Wort: eine Skepsis indes, die sich mit dem gesamten Bildungsstoff und mit den Bildungsinteressen der Zeit durchdrungen hat und die sich mit Vorliebe auf Nicolaus Cusanus beruft.193 Die Kritik an Aristoteles beginnt bei Pico mit der Bestreitung sei­ ner sensualistischen Psychologie. Die Wahrnehmung bildet, wie er ausführt, den Grund und Halt des logischen Gebäudes, das hier errichtet wird: Denn auch die allgemeinen Prinzipien, die in jede syllogistische Beweisführung als Prämissen eingehen, sollen aus der Induktion, aus der Betrachtung und Zusammenlesung des Einzel­ nen gewonnen werden. Dieser Satz steht bei Aristoteles so klar und unverbrüchlich fest, daß keine Deutung ihn abzuschwächen oder umzubiegen vermag. So bleibt das »Phantasma« nicht nur als unum­ gänglich notwendige Begleitung, sondern als der eigentliche Urgrund des abstrakten Denkens anerkannt. Die Einwände, die Pico gegen diese Voraussetzung selbst erhebt, bieten zunächst keine neuen sach­ lichen Gesichtspunkte dar. Sie beschränken sich darauf, auf die allge­ meine Unsicherheit | der Sinnesempfindung hinzuweisen, die durch kein Kriterium bewährt und unterschieden werden kann. Die Aus­ kunft, daß die Daten der verschiedenen Sinne sich gegenseitig 193 S. Giovanni Franceso Pico della Mirandola, Examen vanitatis doctrinae gentium: et veritatis Christianae disciplinae, distinctum in libros sex (Buch 1, Kap. 4), in: Opera quae extant omnia, Bd. II, fol. 467-814: fol. 488 ff.; a. a. O. (Buch 2, Kap. 24), fol. 567 f.; a. a. O. (Buch 4, Kap. 2 u. 10), fol. 664 ff. u. 683 ff.; a. a. O. (Buch 5, Kap. 10), fol. 735 ff. u. s. Die Werke Giovanni Francesco Picos sind, ver­ eint mit denen seines Oheims, Giovanni Pico, in zwei starken Foliobänden zu Basel 1573 und 1601 erschienen; sie sind im folgenden nach der letzteren Ausgabe zitiert [s. oben, S. 82, Anm. 725].

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erhellen oder korrigieren, ist hinfällig, denn welche Regel lehrt uns, unter entgegengesetzten Aussagen der Empfindung eine Wahl und eine Entscheidung zu treffen? Die Wahrnehmung vermag an keiner Stelle den Gegenstand nach seiner vollen und wahrhaften Natur zu erfassen, da sich in ihr nicht sowohl die Sache wie die wandelbare Bestimmtheit des Subjekts ausdrückt und widerspiegelt: »[...] varia sit sensus ipsa natura, non ex rei solum quae obiicitur varietate, sed ex varietate humani temperamenti, qui etiam suapte natura muta­ tur [,..]«194 Damit aber entdeckt sich uns alsbald der Widerstreit, der im Aristotelischen System zwischen dem Ziele besteht, das der Erkenntnis zuletzt gewiesen wird, und dem Grundmittel, mit dem es erreicht werden soll. Jegliche Einsicht in die »substantiellen For­ men« der Dinge erweist sich nach den eigenen Voraussetzungen der Lehre zuletzt als unmöglich. In der Tat hatten sich an diesem schwie­ rigen Punkte die verschiedenen aristotelischen Schulen immer wieder getrennt: Und noch in der Renaissance wird lebhafter Streit darum geführt, ob die Substanzen der Dinge uns unmittelbar in der sinnli­ chen Wahrnehmung mitgegeben seien oder aber erst durch einen diskursiven Akt des Verstandes erfaßbar seien. Der AristotelesKommentar des Pomponazzi lehrt uns alle Einzelphasen dieser Dis­ kussion kennen: Während Averroes und seine Anhänger dem Sinn selbst die Fähigkeit zusprachen, uns nicht nur die einzelnen Qualitä­ ten der Dinge, sondern ihren substantiellen Kern zu vermitteln, wird von anderen ein besonderer Akt der intuitiven Erkenntnis gefor­ dert, der diese Leistung vollziehen soll. Eine dritte Ansicht, die einen Ausgleich zwischen diesen beiden Extremen anstrebt, nimmt an, daß die »Spezies« der Substanz zwar im einzelnen Empfindungsinhalt bereits enthalten ist, aber erst kraft der | Tätigkeit der »Phantasie«, die sich über die bloße Sinnlichkeit erhebt, zu gesondertem Bewußt­ sein gelangt.195 Keine dieser mannigfachen Lösungen aber kann, wie Pico nunmehr zu zeigen unternimmt, dem Problem wahrhaft genü­ gen. Wenn das Bild der Substanz in uns auf irgendein Zusammen­ wirken intellektueller und sinnlicher Faktoren zurückgeführt wird: so ist damit bereits die feste und eindeutige Ordnung der Erkenntnis verlassen, die Aristoteles durch den Grundsatz festgestellt hat, daß nichts im Intellekt sich findet, was nicht zuvor in den Sinnen gewesen

194 A.a.O. (Buch 5, Kap.2), fol.695ff. [Zitat fol.700]; a. a. O. (Buch 4, Kap. 12), fol.687ff. 195 Näheres hierüber bei Pomponazzi, In libros de anima, S. 180 ff. (vgl. oben, S. 94, Anm. 147).

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Das Problem der Repräsentation

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wäre. Gestehen wir aber der Empfindung wiederum die leitende und entscheidende Rolle zu, so bleiben wir damit - abermals nach dem eigenen Zeugnis und Zugeständnis des Aristoteles - dauernd in das Reich der veränderlichen und zufälligen »Akzidenzien« gebannt. Denn die Umwandlung von der sinnlichen zur »intelligiblen« Spezies, die »Auswicklung« des allgemeinen geistigen Gehalts aus den Besonderheiten der Wahrnehmung, bleibt selbst ein Rätsel. Die Wirk­ samkeit des »tätigen Intellekts«, auf die man sich hier zu berufen pflegt, kann nur von den Daten der Wahrnehmung selbst ausgehen und sich an ihnen vollziehen; wie vermöchte aber eine solche for­ mende Tätigkeit den Gehalt des Grundstoffs selbst zu ändern und die Erscheinung in ein absolutes Sein zu verwandeln? So zeigt sich von den feststehenden Voraussetzungen der Aristotelischen Psycho­ logie aus kein Weg, auf dem auch nur der Gedanke und das Scheinbild der absoluten Substanz in die Seele hineingelangen könnte. »Ja selbst wenn man zugibt, daß der Sinn uns eine Vorstellung der Substanz zu liefern vermag, die der Verstand alsdann seiner spekulativen Betrach­ tung zugrunde legt, so bleibt hier noch ein Problem, verwickelter als der Gordische Knoten, zurück. Denn die unmittelbare Vorstellung selbst und das, was der Intellekt unter ihr begreift, fallen alsdann völlig auseinander und sind nicht nur subjektiv, nach der Art und Auf­ fassung der Erkenntnis, sondern | innerlich und sachlich verschieden. Sagt man hingegen, daß die sinnliche Vorstellung des Akzidens, wenn sie vom Licht der tätigen Vernunft erleuchtet werde, dem Geist die intelligible Substanz symbolisch darstelle, wie die Wirkung ihre Ursa­ che repräsentiert: so folgt hieraus der Widersinn, daß eine man­ gelhafte und inadäquate Wirkung das volle und eigentliche Sein der Ursache zum Ausdruck bringen und vertreten soll. Denn weder ein einzelnes sinnliches Akzidens noch eine Mehrheit solcher Akziden­ zien können doch, selbst wenn wir sie unter einem einzigen Begriffe zusammendenken, mit der Substanz gleichbedeutend und gleich­ wertig sein und für ihr spezifisches Sein und ihre ursprüngliche, eigentümliche Beschaffenheit einstehen.«196 So scheiden sich scharf und unzweideutig das sensualistische und das realistische Motiv des 196 Giovanni Franceso Pico della Mirandola, Examen vanitatis doctrinae gen­ tium (Buch 5, Kap. 10), vgl. bes. fol. 738 f.: »Unde igitur in intellectu sub­ stantiae ipsius imago, spectrum, simulachrum, species inciderit? Inquient fortasse repraesentari id animo ex lumine intellectus agentis. Quaeram an una cum phantasmate? Si negaverint, dabitur ad Aristotelem provocatio, qui nihil habet in libris de Anima firmius, atque constantius, quam ut anima intelligens phantasmata speculetur, nec aliter fieri posse decernit. [...] Verum si etiam concederetur substantiae speciem posse sensui cognitam esse adeo, ut inde queat

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Die Auflösung der scholastischen Logik - Nizolius

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Aristotelischen Systems, die in der Erkenntnislehre der Scholastik unbefangen nebeneinander geduldet und miteinander verschmolzen waren.197 Fortan muß alle Vernunftbetätigung, die an dem Stoff der Empfindung geübt wird, sich bescheiden, die Erscheinung selbst zu immer reinerem geistigen Ausdruck und Verständnis zu bringen. So bereitet Francesco Pico die empiristische Kritik des Aristotelismus vor, die sich kurz nachher bei Marius Nizolius vollzieht. Wiederum ist hier die Grundabsicht darauf gerichtet, die Vorausset­ zungen und Notwendigkeiten des Wissens rein und unabhängig von den | ontologischen Nebengedanken über das unbedingte Sein zu gewinnen und zu begründen. Die Realität der Gattungsbe­ griffe bedeutet eine für die Erkenntnis selbst völlig willkürliche und unfruchtbare Annahme. Sie bildet ein Hemmnis für den Aufbau und die Behandlung der Tatsachenwissenschaft wie für die Begrün­ dung der syllogistischen Regeln und Vorschriften. Was hier wahrhaft erfordert wird, ist nicht eine abgelöste allgemeine Wirklichkeit, son­ dern nur die allgemeine Bedeutung, die wir bestimmten Gebilden des Denkens im Unterschiede von anderen zusprechen. Den Quell und Ursprung dieses eigentümlichen Wertes bloßzulegen, ist die wesentliche Aufgabe, die Nizolius der Logik stellt.198 Die herkömm­ liche Theorie der »Abstraktion«, die aus der Voraussetzung einer sachlichen Uber- und Unterordnung der Gattungsbegriffe und »Formen« geflossen ist, ist unvermögend, die echte methodische Funktion des Begriffs zu erschließen. An ihre Stelle tritt ein neues gedankliches Verfahren, das als »Komprehension« bezeichnet wird. Der Gattungsbegriff »Mensch« kommt nicht derart zustande, daß wir an allen Einzelexemplaren die besonderen Bestimmtheiten weglassen, um auf diese Weise eine letzte gemeinsame »Natur«, die über und ipsam sibi intellectus assumere ad speculandum, restat adhuc nodus Gordiano illo forte perplexior, et hoc astrictus loco, quod si ita sit, necesse etiam sit, ut diver­ sum quiddam capiat intellectus, ab eo quod sibi praesentavit, non inquam diver­ sum quoad pertinet ad modum capiendi recipiendive, sed quantum pertinet ad rem obiectam [...]« etc. [S.739: »Quod si dixerint accidentis illustratam lumine intellectus agentis repraesentare in intellectu potestatis sive possibilis, intellectibi­ lem substantiae speciem, tanquam effectus causam: sequitur illud absurdum, effectum non aequatum causae, illam ipsam aequae, et propriae imaginis vice referre: neque enim accidens unum, nec multa simul accidentia sensibus hausta, etiam si multa simul possent uno conceptu percipi, aequare valerent substantiam, aut eius essentiae differentiam, aut primam, et propriam affectionem.«]. 197 Vgl. oben, S. 57 ff. 198 Marius Nizolius, De veris principiis et vera ratione philosophandi contra pseudophilosophos libri IV, hrsg. v. Gottfried Wilhelm Leibniz, Frankfurt a. Μ. 1670 (zuerst erschienen: 1553) - vgl. bes. a. a. O. (Buch 1, Kap. 7), S. 47ff.

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Die Kritik der Universalien

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außer den individuellen Merkmalen stände, zurückzubehalten; er ergibt sich, wenn wir alle Erfahrungen, die sich an den Individuen bewahrheitet haben, mit einem einzigen Blicke überschauen und in einen abgekürzten sprachlichen Ausdruck zusammenziehen. Alle Urteile, in welche ein Allgemeinbegriff als Subjekt eingeht, sind daher nichts anderes als eine Summierung von Aussagen über Ein­ zeldinge: In diesen allein liegt ihre Gewähr und ihr letztes Funda­ ment. Gehen wir umgekehrt vom Allgemeinen zum Besonderen fort, so handelt es sich niemals darum, das Prädikat mit logischer Notwen­ digkeit aus dem Inhalt des Subjektbegriffs abzuleiten, sondern nur darum, | von einem größeren Umfang auf einen kleineren zu schließen, von einem Komplex von Aussagen einen Teil, der in ihm enthalten ist, herauszugreifen und abzusondern. Nicht ein sach­ licher, deduktiver Übergang vom Allgemeinen zum Einzelnen, sondern nur eine übersichtliche Auseinanderlegung und Einteilung des Einzelnen selbst (multorum singularium in partes diductio) findet hier statt.199 Die Vorzüge wie die Mängel dieser Begriffstheorie hat Leibniz, in der Vorrede zu seiner Ausgabe des Nizolius, scharf und eindringlich bezeichnet. Was er an Nizolius schätzt und hervorhebt, das ist die Klarheit, mit der er jeden Versuch, die »allgemeinen« Gegenstände des Denkens unmittelbar in eine Form der Existenz zu übersetzen, beseitigt hat. Aber dieses Ergebnis vermag hier nur auf Grund einer Voraussetzung gewonnen zu werden, die das Denken selbst in seiner Reinheit verdächtigt und in seiner echten Universalität bedroht. Wenn der Begriff sich in ein Aggregat, in ein »totum discretum« einzelner Erfahrungsurteile auflöst, wenn somit dem Ge­ danken keine andere Leistung übrigbleibt, als Resultate, die auf ande­ rer Grundlage gewonnen worden, zusammenzustellen und durch die Einheit eines Namens äußerlich zu verbinden: so verliert damit ge­ rade die Einzelbeobachtung, die man sichern wollte, ihren festen Halt und ihre Bedeutung. Denn was sich aus ihr ergibt, bleibt nun­ mehr ein in sich beziehungsloses Ganze, das durch jede neue Tatsache aufgehoben und entwertet werden kann. Auch die echte Induktion, aus der die relative Allgemeinheit der Erfahrungsbegriffe gewonnen wird, beschränkt sich nicht auf die Sammlung und das Nebeneinander sinnlicher Eindrücke, sondern muß ihre letzten Stützpunkte und Maximen in der Vernunft selbst suchen. Diese »adminicula ra­ tionis« - wie Leibniz sie nennt - sind es, die in der Theorie des Nizo199 Vgl. bes. a. a. O. (Buch 3, Kap. 7: »De comprehensione universorum singu­ larium vere philosophica et oratoria, et simul de abstractione universalium pseudophilosophica et barbara [...]«), S.255ff.

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Die Auflösung der scholastischen Logik - Nizolius

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lius übersehen und ausgeschaltet werden: Das Verständnis und die Anerkennung des immanenten Vernunftgebrauchs wird auch bei ihm durch den Kampf gegen | die Hypostasierungen des Begriffs gehemmt.200 Daß er indes bis zu diesem Punkte fortschreiten muß, erklärt sich wiederum aus der inneren sachlichen Struktur der Lehre, die er bekämpft. So rückhaltlos die Kritik des Aristotelismus sich hier zu vollziehen scheint: in Wahrheit haben wir es dennoch mit einer Krisis innerhalb des Systems selbst zu tun. Der Begriff der Er­ kenntnis soll mit dem peripatetischen Begriffe des Seins in Einklang gesetzt und ihm gemäß gestaltet werden. Deshalb muß alles Wissen auf die Einzeldinge, als die echten und ursprünglichen Realitäten, gerichtet und eingeschränkt werden. Sinn und Intellekt haben kein verschiedenes Objekt: Es ist ein und derselbe Gegenstand, der sich ihnen beiden, wenngleich in verschiedener Beleuchtung und Klarheit, darstellt. Der dualistische Gegensatz, den die Scholastik zwischen der »intelligiblen« und der »sinnlichen« Materie aufrichtet, muß schwin­ den: Derselbe, mit allen wahrnehmbaren Bestimmtheiten bekleidete Stoff, der in die Sinne fällt, bildet auch das alleinige Objekt des »rei­ nen« Denkens. Der Vorrang, den wir dem Intellekt zuzusprechen pflegen, findet somit in den Dingen keine Entsprechung. Der Un­ terschied besteht nur darin, daß der Verstand außer den vereinzelten Daten, die uns die unmittelbare Empfindung übermittelt, auch die Beziehungen des Gegenstandes zu anderen Objekten und seine mannigfachen - Namen erfaßt.201 Statt die Natur, wie die Scholastik es tut, künstlich in eine intelligible Materie und eine intelligible Form zu zerlegen, um sie aus beiden nachträglich wieder aufzubauen und zurückzugewinnen, muß alle unsere Forschung das konkrete Sein des Stoffes und die empirischen Gegensätze seiner Qualitäten zugrunde legen. Mit dieser Forderung bereitet Nizolius die Wendung der Physik und Erkenntnislehre vor, die sich - ein Jahrzehnt nach dem Erscheinen seines Werkes - in den Anfängen der italienischen Na­ turphilosophie bei Telesio vollzieht. |

2θθ Vgl. oben, S. 107 f. 201 S. Nizolius, De veris principiis et vera ratione (Buch 3, Kap. 7), S. 258 f.

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Die Erneuerung der Natur- und Geschichtsansicht

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IV. Die Erneuerung der Natur- und Geschichtsansicht Bevor wir indes diese innere Umformung des Naturbegriffs betrachten, die sich unmittelbar aus der Beobachtung und dem wis­ senschaftlichen Experiment entwickelt, müssen wir uns dem mittel­ baren Einfluß zuwenden, den die neue Auffassung der geistigen Wirklichkeit auf die Anschauung der objektiven Welt geübt hat. Es ist einer der bezeichnendsten Züge der Renaissance, daß diese beiden Momente sich wechselseitig durchdringen und fördern. Dieselbe gedankliche Entwicklung, in der die Menschheit zu einem neuen geschichtlichen Bewußtsein ihrer selbst gelangt, führt auch das neue Bild der Natur herauf. Auch in den persönlichen Beziehungen und Verhältnissen spiegelt sich dieser allgemeine Zusammenhang wider: Und hier ist es insbesondere der deutsche Humanismus, in dem sich das Interesse an der Wiedererweckung der gelehrten Kultur mit den selbständigen Anfängen exakter Forschung und Beobachtung aufs engste verbindet. Georg Peurbach, der bedeutendste deut­ sche Astronom des 15. Jahrhunderts, ist der erste, der, an der Univer­ sität Wien, Vorlesungen über Virgils »Aeneis« sowie über Juvenal und Horaz hält. Sein Schüler Regiomontan geht auf Veranlassung Bessarions nach Rom und empfängt hier die entscheidende Anregung, das Grundwerk der antiken Astronomie, den Ptolemäischen »Almagest«, aus dem Original wiederherzustellen und kritisch zu erneuern. Nach seiner Rückkehr ist er der wissenschaftliche Führer des Nürnberger Humanistenkreises, in dessen Mittelpunkt Willibald Pirkheimer steht und aus dem später die ersten Herausgeber des Grundwerks des Kopernikus hervorgehen. Diese Gemeinschaft und Verschwisterung der beiden verschiede­ nen großen Gedankenkreise ist freilich nicht von Anfang an gegeben, sondern muß sich erst allmählich im Kampf der beiden Richtungen herstellen und durchsetzen. In der Tat bieten die ersten Anfänge des Humanismus mit ihrem | ausschließlichen Interesse für die Echtheit der philologischen Überlieferung nicht sowohl die Ergänzung wie das Widerspiel zum Geiste der empirischen Forschung dar. Nichtsdesto­ weniger läßt sich beobachten, wie die neue Betrachtungsweise all­ mählich auch dort Eingang gewinnt, wo man ihr zunächst fremd und feindlich gegenüberzustehen scheint. Ein besonders markantes Bei­ spiel hierfür bietet die Streitschrift Giovanni Picos gegen die Astrologie dar, die im Ganzen seiner Werke eine merkwürdige Anomalie bildet.202 Denn in diesen Werken ist es der symbolische 202 Vgl. hierzu Arthur Liebert, Picos Leben und Philosophie, in: Giovanni

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Die Erneuerung der Natur- und Geschichtsansicht

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Zusammenhang zwischen den Gliedern des Alls, ist es die mystische Verknüpfung zwischen allen seinen Teilen, die in immer neuen Wen­ dungen darzustellen gesucht wird. Wie die Worte der Offenbarung im »Heptaplus« einer siebenfachen Deutung und Auslegung unterwor­ fen werden, die uns erst allmählich in ihren verborgenen Sinn ein­ dringen lassen soll, so stehen auch die einzelnen Dinge und Erschei­ nungen der Wirklichkeit für Pico nicht für sich selbst, sondern bilden nur den Ausdruck geheimnisvoller Beziehungen. So weist jedes Ele­ ment des irdischen Seins auf sein Urbild im himmlischen Sein und die­ ses wiederum auf die überhimmlische Welt zurück. Alles, was oben ist, hat sein verzerrtes und verdorbenes Analogon auf Erden. »Bei uns auf Erden ist das Feuer ein Element. Ihm entspricht im Himmel die Sonne und in der überweltlichen Region das seraphische Feuer des Intellekts. [...] Auf der Erde ist das Wasser ein Element, im Himmel aber die Kraft der Bewegung für das irdisch-elementare Wasser, und als solches heißt es der Mond. Das Wasser über dem Himmel dagegen ist die Menge der cherubinischen Geister. So ist in allen drei Welten Wasser vorhanden. Wie groß aber ist der Unterschied seines Wesens in ihnen! Die irdische Feuchtigkeit erstickt die Wärme des Lebens, die himmlische nährt diese, und die überhimmlische übt die Funktion rei­ ner Erkenntnis.«203 Wenn in die Gedankenwelt, die sich durch diese Sätze kennzeichnet, | nunmehr Motive eindringen, die auf rein empi­ rische Auffassung und Beurteilungsweise des Naturgeschehens hin­ zielen, so liegt gerade in diesem eigentümlichen Gegensatz ein überzeugender Beweis für die Kraft, die diese Motive allmählich mehr und mehr im Denken der Renaissance gewinnen. Wiederholt und eingehend ist von den Geschichtsschreibern der Renaissance die allgemeine Kulturbedeutung geschildert worden, die Picos Schrift gegen die Astrologie für eine Zeit besaß, in der der Glaube an die Einwirkung der Sterne noch allenthalben das theoreti­ sche Bewußtsein wie das menschliche Tun beherrschte. Wenn die Geschichte der Philosophie nicht lediglich bei den großen und deutPico della Mirandula, Ausgewählte Schriften, übers, u. eingel. v. Arthur Liebert, Jena/Leipzig 1905, S. 5-92: S. 88. 203 Giovanni Pico della Mirandola, Heptaplus, id est, de Dei creatoris sex dierum opere geneseos libri VII (Vorrede), in: Opera quae extant omnia, Bd. I, fol. 3-41: fol. 4 f. [»Est apud nos ignis quod est elementum, Sol ignis in coelo est, est in regione ultramundana ignis seraphicus intellectus. [...] Est aqua apud nos, est aqua in coelis, huius motrix et domina, vestibulum, scilicet, coelorum Luna: Sunt aquae et super coelum, mentes cherubicae. Sed vide quae in eadem natura disparilitas conditionis: humor elementalis vitae calorem obruit, coelestis eundem pascit, supercoelestis intelligit.«]; vgl. die angeführte Übersetzung oben, S. 121 ff.

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Giovanni Picos Schrift »Gegen die Astrologie«

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lieh kenntlichen Wendepunkten des Gedankens verweilen darf, wenn sie, darüber hinaus, die ersten Keime und Symptome einer neuen Denkweise im allgemeinen Bewußtsein aufsuchen muß, so bildet die­ ses Werk für sie ein wichtiges und reizvolles Objekt. Wir müssen uns, um die Umbildung, die sich in Picos Schrift darstellt, zu begreifen, die Rolle gegenwärtig halten, die die Astrologie im geistigen Haushalt des Mittelalters gespielt hatte und die ihr bis weit in die neue Zeit hinein verblieb. Die Natur ist für das mittelalterliche Denken kein losgelö­ stes und selbständiges Problemgebiet, das auf eigenen Gesetzen und Grundlagen ruht. Sie empfängt ihre Bedeutung erst von dem Zusam­ menhang mit den letzten geistigen Zielen, auf die alles Geschehen angelegt ist; sie kommt nur als Hemmnis oder als Instrument des »Reiches der Gnade« in Betracht. Alles Licht, das auf sie fällt, wie aller Schatten stammt aus dem jenseitigen Sein, das sich uns in der Subjek­ tivität des religiösen Erlebnisses erschließt. Man begreift gegenüber dieser Vorherrschaft des Subjekts die Bedeutung, die der Astrologie zukam. Sie bildet gleichsam einen Rückschlag gegen die allgemeine Grundanschauung, aus der sie sich abhebt, und bezeichnet deren not­ wendige Grenze. Die Natur wird in ihr wieder als ein für sich beste­ hendes und festgefügtes Ganze begriffen, das das Individuum umfaßt und zwingt. Die unverrückbare Notwendigkeit des Gesche­ hens, die durch keinen äußeren Eingriff beeinflußt oder abgelenkt | werden kann, kommt in einem geschlossenen, sinnlichen Bilde zum sichtbaren Ausdruck. Daß damit ein neues und gegensätzliches Motiv sich ankündet, wird am deutlichsten, wenn die Astrologie es zuletzt unternimmt, die Religion selbst, ihre Entstehung und ihre Schick­ sale, aus Gründen und Gesetzen der Natur verstehen und ableiten zu wollen. Die geschichtlichen Ereignisse, auf die der Glaube sich stützt und denen er einen schlechthin einzigartigen und absoluten Wert verleihen muß, erscheinen nunmehr dem Strome des Ge­ samtgeschehens eingeordnet und durch ihn bedingt. Der Fortschritt und die Entwicklung des »Geistes« ordnet sich den physischen Ursachen und Konstellationen unter. In der Renaissance gelangt diese Form des astrologischen Glaubens zur allseitigen Verbreitung und Herrschaft: Der Gedanke einer stetigen Entwicklung der einzel­ nen Glaubensformen stellt sich hier noch überall in der Verhüllung dar, daß man ihre Blüte und ihren Verfall vom wechselnden Stand der Gestirne abhängig macht.204 204 Vgl. z.B. Pomponazzi, De naturalium effectuum, S. 280 ff. S. ferner Petrus Abanus, Conciliator controversiarum, quae inter philosophos et medicos versan­ tur, Venedig 1565, fol. 15a: »Secund[um] [...] locum conjunctionis eorum [plane-

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Erneuerung der Natur- und Geschichtsansicht - Giov. Pico

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Aber freilich: Dem Kreise der Subjektivität, über den sie hin­ ausstrebt, ist die Astrologie damit nicht entronnen. Die Notwen­ digkeit, die sie verkündet, ist nicht die des kausalen Gesetzes. Es ist ein innerer, allgemeiner Zweckzusammenhang, der ihr vor­ schwebt und der ihr die Richtung weist. Das Universum erscheint als ein lebendiger Organismus, in dem jedes Glied dem gemeinsamen Zwecke dient, in dem daher jeder Teil das Ganze in sich enthält und erkennbar macht. Ohne dem verwickelten Gange der Mittelursachen zu folgen, vermögen wir somit zwei Punkte des Alls unmittelbar mit­ einander zu ver | knüpfen und in Beziehung zu setzen. Jedes besondere Geschehen ist ein Zeichen und eine Repräsentation des Gesamt­ gesetzes; alle Glieder des Alls stehen somit in ursprünglichem harmo­ nischen Einklang und deuten aufeinander hin. Die volle Entfaltung dieser Grundanschauung ist in der Magie gegeben, mit der die Astrologie überall eng verschwistert ist. Hier gilt das Symbol, gilt vor allem das Wort als der Quell einer natürlichen Wirkung, die unmit­ telbar in die Dinge eingreift und sie nach sich bestimmt. Die Na­ men sind nichts Willkürliches und Äußerliches, sondern sie sindwie insbesondere Agrippa von Nettesheim ausspricht - von allem Anfang an mit der Wesenheit der Dinge verwoben. Der »Logos«, der die »Samen« aller Dinge in sich birgt und aus sich entfaltet, wird wie­ derum völlig im Sinne des »wundertätigen Wortes« gedacht, das wir uns nur anzueignen haben, um die Natur zu verstehen und zu beherr­ schen. Nicht minder sind die Zahlen und die geometrischen Figuren, in denen sich die Maße und Harmonien des Weltalls abspiegeln, zu­ gleich mit inneren Kräften begabt, dank denen wir die Objekte nicht nur zu erkennen, sondern sie zugleich unserem Willen zu unterwer­ fen vermögen. In dieser Verschmelzung und Indifferenz der Ursa­ chen und Symbole liegt der eigentliche Charakter der magischen wie der astrologischen Grundanschanung. Und hier vor allem greift nunmehr die Schrift Picos entscheidend ein. Der Himmel kann - wie sie ausspricht - nur dasjenige bezeichnen und vorausdeuten, was er selbsttätig hervorbringt. Scharf und klar wird zwischen den »Zeichen« geschieden, die die Natur selbst uns darbietet, und denen, die nur der menschlichen Willkür entstammen. Die echten, natürli­ chen Zeichen gehören der Körperwelt an und unterliegen ihren tarum] ex domibus, aut secundum fortunas, vel infortunas locum ascendentis, et coniunctionis aspicientes variatur non solum natura humana fortitudine, aut debi­ litate, longaevitate aut econtrario: immo et totus mundus inferior commutatur: ita quod non solum regna, sed et leges, et prophetae consurgunt in mundo [...] sicut apparuit in adventu Nabuchodnosor, Moysi, Alexandri Magni, Nazarei, Machometi.«

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Ursachen und Zeichen

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Gesetzen: Sie sind entweder selbst die Ursachen des Ereignisses, auf das sie hinweisen, oder seine Wirkungen. Und überall, wo dieser unmittelbare Zusammenhang ausgeschlossen ist, besteht doch wenig­ stens eine mittelbare kausale Verknüpfung, sofern alsdann das Zei­ chen wie das Bezeichnete von ein und derselben gemeinschaftlichen Ursache herrühren und durch die Rückbeziehung auf diese | wechsel­ seitig in ihrem Verhältnis bestimmt werden. Glaubt jemand hier den Fall hinzufügen zu müssen, daß der betreffende Erfolg zwar nicht von dem Ereignis, das wir betrachten, hervorgebracht ist, aber doch mit ihm notwendig und unlöslich verbunden ist, so ist dies eine schwere Täuschung: Denn diese Verknüpfung und Übereinstimmung kann auf keine andere Weise hergestellt werden als dadurch, daß der eine Vorgang auf den anderen einwirkt oder von ihm eine Einwirkung erfährt, oder endlich dadurch, daß beide in einer gemeinsamen Ursa­ che wurzeln, die sie gleichzeitig und miteinander ins Dasein ruft.205 An Stelle des willkürlichen Analogieschlusses, der ein Verhältnis, das er in irgendeinem Teile der Wirklichkeit vorfindet, unvermittelt auf andere, entlegene Elemente des Seins überträgt, tritt somit jetzt die strenge Forderung, die Folge des Geschehens nach ihrem eindeuti­ gen und stetigen kausalen Zusammenhang zu begreifen. Mit die­ sem Gedanken aber wächst Pico weit über die Naturanschauung des Quattrocento, die sich in allen seinen übrigen Schriften ausspricht, hinaus. Hier wird er wahrhaft zum Führer und Lehrer der Folgezeit, wie denn kein Geringerer als Kepler sich in seiner Kritik der Astro­ logie auf ihn als Vorgänger beruft.206 Die Himmelskörper besitzen keine »dunklen Qualitäten«, vermöge deren sie geheime Wirkungen in der Welt des Irdischen hervorzubringen imstande wären: Vielmehr fließen alle diese Gaben und Fähigkeiten aus den inneren Prinzipien und Formen der Körper selbst. Nicht in übersinnlichen Einwirkun­ gen, sondern in den natürlichen Kräften des Lichtes und der Wärme äußert sich aller Einfluß, den die oberen Sphären auf uns ausüben.207 Die Astrologie hingegen bemißt die Wirksamkeit der Planeten nicht nach den realen Verhältnissen ihrer räumlichen Entfernung, sondern 205 Giovanni Pico della Mirandola, De Astrologia disputationum lib. XII (Buch 4, Kap. 12), in: Opera quae extant omnia, Bd. I, fol. 278-494: fol. 366 f. [Zitat fol.366]: »Nonposse coelum eius rei signum esse, cujus causa non sit.« 206 Zum Verhältnis Picos und Keplers s. Johannes Kepler, De stella nova in pede serpentarii (1606), in: Opera omnia, hrsg. v. Christian Frisch, 8 Bde., Frank­ furt a. Μ./Erlangen 1858 ff., Bd. II, S. 575-750: S. 578 f., 635 u. Literae Kepleri aliorumque mutuae de Commentariis de motu stellae Martis, in: Opera omnia, Bd.III, S. 23-133: S. 29. 207 Giovanni Pico della Mirandola, De Astrologia (Buch 3, Kap. 24), fol. 344 f.

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Erneuerung der Natur- und Geschichtsansicht - Giov. Pico

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nach ihrer Stellung in den ver | schiedenen »Zeichen« und »Häusern« des Himmels; sie macht damit eine willkürliche Fiktion, die nur zum Zweck übersichtlicher Einteilung geschaffen ist, zur Bedingung und zum Maßstab des tatsächlichen Naturgeschehens. Die Begriffe, die von den Mathematikern als notwendige Mittel und Methoden der Messung eingeführt sind, werden zur Voraussage des Künftigen mißbraucht, als wären sie selber Objekte der Natur und mit wirk­ lichen Kräften begabt.208 Auch die Auffassung der sittlichen Natur des Menschen ge­ winnt jetzt eine neue Freiheit. Nicht ein jenseitiges Sein und eine jen­ seitige Vorherbestimmung, sondern der empirische Charakter des Menschen und die sittlichen Einflüsse, die auf ihn einwirken, sind es, die sein Wollen und sein Tun bedingen. Nicht am Himmel, sondern in sich selbst muß der einzelne den Grund seines Geschickes lesen: Die Seele ist des Menschen Dämon. So verdankt ein großer Denker, wie Aristoteles, seine Leistungen und sein Talent nicht dem Stern, unter dem er geboren, sondern dem eigenen Genius, den er unmit­ telbar von Gott empfangen: »Sortitus erat non astrum melius, sed ingenium melius: Nec ingenium ab astro, si quidem incorporale, sed a Deo sicut corpus a patre, non a coelo.« Je strenger indes der Gedanke an einen Zwang durch fremde und äußere Mächte abgewiesen wird, um so helleres Licht fällt nunmehr auf die psychologischen, ja auf die körperlichen Ursachen, die unser Handeln einschränken.209 Der Freiheitsgedanke, wie er hier verstanden wird, ist daher nicht der Gegensatz, sondern das Korrelat zum Gedanken der empirischen Verursachung. Bestimmter tritt sein Sinn und seine Tendenz in Picos Rede »Über die Würde des Menschen« hervor. Hier | besitzen wir die positive Ergänzung und Erfüllung der Gedanken, die uns bisher in polemischer Gestalt und Wendung entgegengetreten sind. Um den eigentlichen Vorrang des Menschen zu bezeichnen, ist es, wie hier aus­ gesprochen wird, nicht genug, in ihm das Verbindungsglied zu sehen, das Hohes und Niederes, das die sinnliche und die intelligible Welt verknüpft und sich somit zum Mittler und Dolmetsch des Alls macht. Denn welche ausgezeichnete und zentrale Bedeutung ihm hier auch zugesprochen zu werden scheint: sie bleibt hinter seinem eigentlichen Werte zurück, solange man sie nur als von außen gegeben, nicht als 208 A. a. O. (Buch 4, Kap. 4 u. 11), fol. 398 ff. u. 407 f. 209 »At ingeniorum morumque varietas et a corporis habitu pendet, et ab edu­ catione assuetudinis fundamento, quae naturae viribus proximat: Accedunt leges, quibus in ea re plurimum est momenti [...] unde arbitrii libertas contra omnem naturae necessitatem evidentissime declaratur.« A. a. O. (Buch 3, Kap. 13), fol. 327; vgl. bes. a. a. O. (Kap.27), fol. 349 f. [Zitat im Text fol. 350].

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Naturbewußtsein und Selbstbewußtsein

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durch ihn selbst erwählt und erworben ansieht. Der einzigartige Wert des Individuums wurzelt darin, daß es nicht, wie die anderen Dinge, an einen einzelnen festen Platz im All gebunden ist, sondern sich selbst seine Stellung im Universum bestimmt und den Standort seiner Betrachtung anweist. In seine eigene Hand ist es gegeben, wel­ cher Art des Daseins und des Lebens es angehören will. »Mitten in die Welt«, so spricht der Schöpfer zu Adam, »habe ich Dich gestellt, damit Du um so leichter um Dich schauest und siehest alles, was darinnen ist. Ich schuf Dich als ein Wesen, weder himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich, damit Du selbst als Dein eigener freier Bildner und Überwinder Dir Deine Form gebest und aufprägst. Du kannst zum Tier entarten oder in selbsttätiger Entschließung zum Göttlichen Dich wiedergebären. [...] Die Tiere bringen [...] aus dem Mutterleibe mit, was sie haben sollen; die höheren Geister sind von Anfang an oder doch bald danach, was sie in Ewigkeit bleiben wer­ den. Du allein hast eine Entwicklung, ein Wachsen nach freiem Wil­ len, Du hast Keime eines allartigen Lebens in Dir.«210 So sehen wir, wie die strengere Auffassung der Naturkausalität sich zugleich mit dem Bewußtsein des eigentümlichen Wertes der sittli­ chen Persönlichkeit verbindet. Und diese Verschmelzung tritt uns von nun an in den Werken der Renaissance immer deutlicher entgegen: Die | tiefere Erforschung der objektiven Natur führt den Menschen zur Einsicht in das wahre Wesen seines Ich zurück, wie andererseits die tiefere Erkenntnis des Ich ihm neue Gebiete der objektiven Wirk­ lichkeit erschließt. In typischer Weise sind die beiden Phasen und Richtungen dieses gedanklichen Prozesses in dem Werke des Caro­ lus Bovillus »Über die Weisheit« beschrieben und zusammenge­ faßt. Die wahre Weisheit ist, wie hier ausgesprochen wird, ihrer ech­ ten und allumfassenden Bedeutung nach, nichts anderes als die Ausprägung des Modells und des Ideals der Menschheit, das wir in uns tragen. Unser eigenes, unverfälschtes Wesen ist es, das wir in

210 Giovanni Pico della Mirandola, De hominis dignitate, fol. 207-219: fol. 208 [»Medium te mundi posui, ut circumspiceres inde commodius quicquid est in mundo: Nec te coelestem, neque terrenum, neque mortalem, neque immortalem fecimus, ut tuiipsius quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor, in quam malveris, tute formam effingas. Poteris in inferiora quae sunt bruta degenerare: Poteris in superiora quae sunt divina, ex tui animi sententia regenerari. [...] Bruta simul atque nascuntur id secum afferunt [...] e bulga matris, quod possessura sunt. Supremi spiritus aut ab initio, aut paulo mox id fuerunt, quod sunt futuri in per­ petuas aeternitates. Nascenti homini omnifaria semina, et omnigenae vitae ger­ mina indidit Pater.«] (Die Übersetzung der Stelle zumeist nach Burckhardt, Renaissance in Italien, S. 354.)

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ihrem Bilde festhalten. Die ganze Aufgabe der Erkenntnis ist darin beschlossen, von der ersten und unfertigen Empfindung der Mensch­ heit, die in jedem von uns angelegt ist, zum bewußten Verständnis ihres Begriffs durchzudringen: den »primus homo« zum »secundus homo« umzugestalten. An die Naturobjekte geben wir uns nur des­ halb hin, um an ihnen alle die Züge zu entdecken und herauszu­ schälen, die unserem eigenen Sein wesensverwandt sind; die Erfor­ schung der »großen Welt« soll nur dazu dienen, uns das Bild des Mikrokosmos immer reiner zurückzustrahlen. So ist der Mensch Anfang und Ende alles Wissens und gleichsam die »Palinodie« der Welt. Die ursprüngliche, natürliche Einheit seines Seins muß ver­ lassen und durchbrochen werden, sie muß durch freie Betätigung des Denkens in eine Doppelheit verwandelt werden, damit aus dieser wiederum die bewußte Erkenntnis der Einheit seines Wesens er­ wachsen kann. Diese Erhebung unserer eigenen Natur zur reflexi­ ven Selbsterkenntnis bildet das höchste und endgültige Ziel aller begrifflichen Arbeit. »So besteht denn alle Weisheit in einer Mehrung und Unterscheidung, einer Fruchtbarkeit und Ausstrahlung des Ich: in einer Zweiheit des Menschen, die aus einer ursprünglichen Einheit geboren wird. Denn der erste, sinnliche Mensch, der alles, was er besitzt, von der Natur zu Lehen trägt, ist eine Einheit, zugleich aber aller menschlichen Fruchtbarkeit Quell und Anfang.« Mit bewußter Kunst muß er sich zur Zweiheit umbilden und formen, muß er das Bild der menschlichen Gattung, das | die Frucht und das Ende aller Weisheit ist, aus sich herausarbeiten. »So gewinnt er die Gaben, die er von der Natur empfangen, durch den überreichen Ertrag der Kunst und der Arbeit an sich selbst zwiefach zurück und wird zum Doppel­ menschen«: »[...] qui a natura homo tantum erat: artis fenore et uberrimo proventu, reduplicatus, homo vocatur: et homohomo.«211 211 Bovillus, De sapiente (Kap. 22), in: Liber de intellectu et al., fol.ll9b148 b: fol. 131b f.: »Unde manifestum est: sapientiam esse quandam huma­ nitatem. Et primi nostri, indefecati naturalisve hominis imaginem, veramque speciem. Seu artis hominem: ex primo naturali homine et ipso mundo (felici congressu) progenitum. Est enim hic secun­ dus homo velut proprium humane contemplationis [Cassirer: cogni­ tionis statt contemplationis] objectum. Velut item mundi exordium, exitusve, ac palinodia [...] Est et hic homo quedam progenita primi hominis minerva primi intra se receptio, revocatio, mansio ac sedes. Manifestum item est: sapi­ entiam esse quendam hominis numerum, discrimen, fecunditatem, emanationem: eamque consistere in hominis dyade, genita ex priore monade. Pri­ mus enim nativus noster, et sensibilis homo, ipsiusque naturae mutuum: monas est: et totius humane fecundiratis fons atque initium. Artis vero homo, humanave species arte progenita: dyas est et primi quaedam hominis emanatio, sapientia,

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Geschichte und Offenbarung

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Diese Worte, die man als Motto wählen könnte, um den Gesamtcha­ rakter der Epoche zu bezeichnen, enthalten, gleichsam verdichtet, den Grundgedanken des Humanismus in sich: Geschichte und Naturbetrachtung sind diesem nur Mittel, um durch selbstbewußte geistige Energie zur Potenzierung des Menschenwesens und Men­ schenwertes fortzuschreiten.

Die Geschichtsphilosophie der Renaissance stellt sich uns zu­ nächst in fast mythischem Gewände, unter dem Bilde einer Ur Of­ fenbarung dar, die dem Menschengeschlecht von Anfang an mitge­ geben ist und die ihm fortan als dauernder Besitz im Wechsel aller Lebens- und | Lehrformen verbleibt. Schon Georgios Gemistos Ple­ thon beruft sich auf jene stetige Kette der Überlieferung, deren ein­ zelne Glieder durch die Namen des Zoroaster und des Merkurios Trismegistos, durch Pythagoras und Platon bezeichnet werden. Die echten Grundlagen der Philosophie sind von allem Anfang an vor­ handen gewesen; sie können nur vorübergehend verdunkelt, niemals aber aus der Geschichte der Menschheit ausgetilgt werden. In naiver Form spricht sich der gleiche Gedanke bei Plethons Schüler Bessarion aus, bei dem er mit christlich-theologischen Vorstellungsweisen ver­ schmilzt. Hier wird geradezu ein innerlicher, sachlicher Zusammen­ hang zwischen der Mosaischen Schöpfungsgeschichte und der Theo­ logie Homers angenommen, der durch direkten Einfluß oder durch natürliche Eingebung zu erklären sei.212 Festere Fügung nimmt die Grundidee sodann, nachdem sie innerhalb der Platonischen Akade­ mie, bei Ficin und Pico, in mannigfacher Weise abgewandelt worden, bei Reuchlin an, bei dem sie zum höchsten Leitgedanken aller Phi­ losophie überhaupt erhoben wird. Alle Forschung kann nunmehr nur noch das eine Ziel haben, in den gemeinsamen Strom der einheitlichen Überlieferung, die durch den Namen der Kabbala bezeichnet wird, einzumünden. Der historische Gesichtskreis weitet sich, indem neben der antiken Literatur die hebräischen Quellen herbeigezogen und mit ihr zu einem universalgeschichtlichen Gesamtbild vereint werden. Bei all ihrem Scharfsinn und ihrer allumfassenden geistigen Begabung hät­ ten die Griechen nicht das Höchste zu erreichen vermocht, wenn nicht Pythagoras die ersten Keime der wahren Philosophie vom

fructus et finis. Cujus habitu qui a natura homo tantum erat: artis fenore et uber­ rimo proventu, reduplicatus, homo vocatur: et homohomo.« (S. die angeführte Ausgabe der Werke des Bovillus, oben, S. 51, Anm. 75.) - Vgl. zum Ganzen bes. a. a. O. (Kap. 24), fol. 132 a f. und oben, S. 58 f. 212 Bessarion, In calumniatorem Platonis (Buch 3, Kap. 7), fol. 36 a f.

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Orient empfangen hätte. »So darf auch er, der diese Keime zuerst auf­ nahm, mit vollem Rechte ein Kabbalist heißen, wenngleich [...] er zuerst den unbekannten Namen der Kabbala mit dem griechischen Namen der >Philosophie< vertauscht hat.«213214 Alle Geistesgeschich­ te wird demnach wie eine einzige fortlaufende | Tradition, wie die Erklärung und Ausdeutung eines stehenden und gegebenen Grund­ textes gedacht. In diesem Grundtext soll zugleich das Christentum seine eigentliche festeste Stütze besitzen: »Nulla est scientia, quae nos magis certificet de divinitate Christi, quam Magia et Cabala.«1^ Gegenüber dieser Auffassung aber erhebt sich alsbald eine andere Betrachtungsweise, die anfangs noch ohne feste Sonderung neben ihr einhergeht, die aber allmählich immer deutlicher zu selbständigem Bewußtsein erwacht. Der Inhalt und das Thema der Menschenge­ schichte besteht danach nicht in einer fest umschränkten, von außen stammenden Offenbarung, sondern in der einheitlichen menschli­ chen Vernunft, die sich sukzessiv in mannigfachen Formen und Stufen entfaltet. Bei Plethon bereits wird ausgesprochen, daß das Kriterium, das darüber entscheidet, welche Lehren wir dem Gan­ zen der echten Überlieferung angehörig zu denken haben, allein in uns selbst zu suchen sei. Und immer mehr kommt nun die Doppelbedeutung zur Geltung, die die Geschichte im Ganzen der Renais­ sance gewinnt, indem sie nicht lediglich als die Schilderung eines ein­ maligen Tatbestandes, sondern zugleich als die Hülle und Darstellung eines dauernden Gehalts gedacht wird. Schon die po­ litische Geschichtsschreibung läßt diesen Grundzug deutlich her­ vortreten: Für die Größten, wie Machiavell, sind die mannigfachen historischen Schicksale der Nationen nur gleichsam eine wandelbare und flüchtige Einkleidung, hinter der, klar erkennbar, das immer glei­ che, empirische Grundwesen des Menschen hindurchleuchtet. »Geschichte« in ihrem eigentlichen wissenschaftlichen Wortsinne, nach welchem sie auf das kausale Verständnis des Geschehens ausgeht, ist daher nichts anderes als angewandte Psychologie. Der gleiche 213 Johannes Reuchlin, De arte cabalistica libri tres, Leoni X. dictati (Buch 2), in: Petrus Galatinus, Opus de arcanis catholicae veritatis: hoc est, in omnia diffi­ cilia loca veteris testamenti, ex talmud, aliisque hebraicis libris, quum ante natum Christum, tum postscriptis, contra obstinatam iudaeorum perfidiam, absolutissi­ mus commentarius, Basel 1561, S. 433-551: S.464 [»Itaque receptor optimo iure ipse quoque, id est Cabalista nominandus erat: quamvis [...] ipse nomen illud Cabalae suis incognitum primus in nomen philosophiae Graecum mutaverit.«] vgl. ders., De verbo mirifico libri tres (Buch 1, Kap. 4), in: Galatinus, Opus de arcanis, S. 552-651: S.562. 214 Giovanni Pico della Mirandola, Apologia, fol. 110.

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Verhältnis der Geschichte zur Psychologie

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Gedanke spricht sich sodann, innerhalb der pädagogischen Lite­ ratur, in der Schätzung des Bildungswertes aus, der nunmehr den historischen Disziplinen zugemessen wird. Es gibt - so heißt es bei Vives - manche, die alles Wissen des Vergangenen für nutzlos er | klären, weil seither die ganze Art der Lebensführung, der Kultur, der politischen und sozialen Ordnung sich geändert habe. Eine Mei­ nung, die höchst widervernünftig ist - denn wie sehr sich all das, was auf unserer willkürlichen Tätigkeit und Satzung beruht, auch wandeln mag: die Naturbedingungen des Geschehens, die Ursachen und Äuße­ rungen der menschlichen Affekte und Leidenschaften bleiben unver­ rückbar bestehen. Auf diesen festen und konstanten Untergrund, nicht aber auf das Äußere der Lebensformen einer vergangenen Zeit ist alle geschichtliche Betrachtung im letzten Grunde zu beziehen und zu richten.215 Am deutlichsten tritt der Sinn und das Recht dieser For­ derung an der inneren Entwicklung der Wissenschaft und der rein theoretischen Weltbetrachtung hervor. Die Renaissance zuerst erfaßt die Aufgabe einer universellen Geschichte der Philosophie, die die einzelne geistige Erscheinung nach ihrem objektiven Gehalt ergreift, sie jedoch zugleich dem Gedanken der »perennis philoso­ phia« einordnet und unterstellt. Der erste Versuch einer Darstellung der Philosophiegeschichte, der von dem Humanisten Johannes Bapti­ sta Buonosegnius herrührt, trägt zunächst noch durchaus den Charakter eines Eklektizismus, der nach einer feststehenden, autori­ tativ bestimmten Norm die Leistungen der Vergangenheit einschätzt. Die religiöse Wahrheit bildet überall den höchsten Maßstab; der wahre Christ schreitet durch die Gefilde der heidnischen Philosophie, indem er das Gift, das in ihren Blüten allenthalben verborgen ist, sorg­ sam ausscheidet, um nur den Gehalt, der der echten Lehre gemäß ist, sich anzueignen.216 Mit der fortschreitenden Kenntnis der antiken Welt aber setzt sich auch hier die freiere Auffassung | und Beurteilung durch. Wenn das Mittelalter die großen antiken Systeme ausschließ­ lich unter dem Gesichtspunkt der Aristotelischen Lehre betrach­ tet und nach deren Kategorien beurteilt hatte, so strebt man nun mit

215 »Sed illa tamen nunquem mutantur, quae natura continentur, nempe cau­ sae affectuum animi, eorumque actiones et effecta, quod est longe conducibilius cognoscere, quam quomodo olim vel aedificabant, vel vestiebant homines antiqui.« Vives, De tradendis disciplinis (Buch 5), fol. 505 f. 216 Johannes Baptista Buonosegnius, Epistola de nobilioribus philosophorum sectis et de eorum inter se differentia ad ... (Marsilium Ficinum?) (1458), abge­ druckt in: Ludwig Stein, Handschriftenfunde zur Philosophie der Renaissance, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 1 (1888), S. 534-553: S. 540-551.

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vollem kritischen Bewußtsein danach, zu ihrem selbständigen und eigentümlichen Gehalt vorzudringen. In seiner polemischen Haupt­ schrift wendet sich Francesco Pico, abgesehen von der Metaphy­ sik, vor allem den historischen Urteilen zu, die Aristoteles über seine Vorgänger gefällt, und sucht sie in eindringender Analyse zu widerle­ gen. Der Gewinn dieses Verfahrens fällt vor allem Demokrit zu, dessen Philosophie hier zum ersten Male nach ihrem wahren ratio­ nalen Grundcharakter erkannt und geschätzt wird. Unwahr, ja ver­ leumderisch wird das Aristotelische Urteil über Demokrit genannt, daß er Sinn und Vernunft nicht gehörig geschieden habe: da doch seine Entgegensetzung der γνησίη und σκοτίη γνώμη, welch letzterer er das gesamte Gebiet der Sinnestätigkeit zurechnet, das Gegenteil klar beweise. Nicht minder verwunderlich sei es, wenn ihm wegen der Kritik, die er an der Wahrnehmung geübt, skeptische Ansichten untergeschoben werden, während er in Wahrheit die Verstandes­ erkenntnis stets als echt und rechtmäßig anerkannt und auch den Sinnen, die er als Zeugen für das unbedingte Sein verwarf, ihre rela­ tive Gewißheit nicht bestritten habe. »Wem aber, der die Schriften der Alten nicht selbst gelesen, sollte die Autorität des Aristoteles nicht Schweigen gebieten? Ich selbst habe, bevor ich eifriger an die Erfor­ schung der geschichtlichen Wahrheit heranging und bevor ich mich entschlossen, den Durst des Wissens an der Quelle selbst zu löschen [...] über alle alten Philosophen in seinem Sinne geurteilt.«217 In sol­ cher Erweiterung des geschichtlichen Horizontes gewinnt das Den­ ken für sich selbst und seine systematischen Aufgaben neue Beweg­ lichkeit und Sicherheit. Je mannigfaltiger sich alle Gebiete geistiger Betätigung dem Bewußtsein der neueren Zeit erschließen, um so mehr kräftigt | sich ihr die Grundüberzeugung von der Einheit der menschlichen Vernunft. Wenn man zum Lobe und zur Verteidigung des Mittelalters gesagt hat, daß es zwar keine historische Bildung, wohl aber historische Gesinnung besessen habe,218 so müßte man, um die Renaissance zu charakterisieren, diesen Satz umkehren. Je reicher ihr die geschichtlichen Quellen fließen, um so mehr entfernt sie sich damit vom Historismus, von der unbedingten Hingabe an die 217 Giovanni Franceso Pico della Mirandola, Examen vanitatis doctrinae gen­ tium (Buch 6, Kap. 14), fol. 792 ff. [fol. 794: »Cui autem non imponat Aristotelis authoritas ex iis, qui veteres non legerunt? Mihi certe priusquam rimandi verita­ tem diligentius curam susciperem, et ex fonte ipso non defluentis, ipsam noscendi vellem restinguere sitim [...] et de veteribus omnibus ex sententia Aristotelis arbitrabar.«]. 218 Otto Willmann, Geschichte des Idealismus, 3 Bde., Braunschweig 1894 ff., Bd. III: Der Idealismus der Neuzeit, S. 13.

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Die Anfänge der Geschichte der Philosophie

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Tradition. Nur in ihren ersten Phasen erscheint ihr die Antike noch wie ein geistiger Urstand, den es einfach zu wiederholen und in seinen einzelnen Zügen nachzuahmen gilt, während sie ihr später zur Träge­ rin und Hüterin der allgemeinen geistigen Werte wird, die wir in uns selbst zu ergreifen und wiederherzustellen haben. Diese Universalität der Anschauung bewährt sich vor allem gegen­ über dem religiösen Problem, in dessen Gestaltung die verschiede­ nen gedanklichen Motive, die uns bisher gesondert entgegentraten, sich noch einmal zusammenfassen. Die Unabhängigkeit des geistigen Grundgehalts der Religion von den relativen und wechselnden For­ men des Glaubens bildet auch hier von Anfang an den Leitgedanken. Selbst in solchen Werken, deren ausgesprochene Absicht die Verteidi­ gung der kirchlichen Wahrheit ist, tritt dieser Gedanke nunmehr an die Spitze. Nicolaus Cusanus’ Werk »De pace seu concordantia fidei« geht hier voran und gibt der gesamten literarischen Gattung, die sich ihm anschließt, ihr eigentümliches Gepräge. Die Abgesandten aller Religionsparteien, die auf Erden einander bekämpfen, erscheinen hier vor der Versammlung der Himmlischen, um Klage über die Zwie­ spältigkeit der Glaubenslehren zu führen. »Laß geschehen«, so spricht der Älteste zu Gott, »daß, wie Du einer bist, auch nur eine Religion und nur ein Gottesdienst auf Erden sei. Jeder strebt in allem, was er begehrt, nach dem höchsten Gut, jeder zielt in all seinem Forschen und Fragen auf eine höchste und allumfassende Wahrheit hin. Was verlangt der Lebende, als zu leben, was will der Seiende anders | als sein? Du aber bist der Spender alles Lebens und Seins: So bist Du es auch, der von allen wenngleich in verschiedener Weise gesucht und mit verschiedenen Namen genannt wird, während Du Deinem reinen Sein nach unbekannt bleibst und kein Name Dich faßt und ausspricht. Verbirg Dich also nicht länger: Denn niemand wendet sich von Dir, außer wer Dich nicht kennt. Würdige uns, Dich vor uns zu offenba­ ren, damit endlich das Schwert, damit Haß und Neid ruhen und alle bekennen, daß es nur eine Religion in aller Mannigfaltigkeit der Gebräuche gebe.«219 Es ist vor allem Ficin, der wie in seiner theore­ tischen Philosophie so auch hier die Grundgedanken Cusas aufnimmt 219 Cusanus, De pace fidei (Kap. 1), fol. 114 b, 115 a [fol. 115 a: »Succurre igitur tu qui solus potes. [...] Nam nemo appetit in omni eo quod appetere videtur: nisi bonum, quod tu es. Neque quisquid aliud omni intellectuali discursu quaerit: quid verum quod tu es. Quid quaerit vivens: nisi vivere! Quid existens: nisi esse! Tu ergo qui es dator vitae et esse: es ille qui in diversis ritibus differenter quaeri vide­ ris, et in diversis nominibus nominaris, quoniam uti es, manes omnibus incogni­ tus et inessabilis. [...] Noli igitur amplius te occultare. [...] Nam nemo a te rece­ dit: nisi qua te ignorat. Si sic facere dignaberis: cessabit gladius et odii livor, et

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und iortführt. Die Vielgestaltigkeit der religiösen Lehren und Kulte ist - wie er darlegt - selbst eine gottgegebene und gottgewollte Tatsa­ che, da eben in dieser Mannigfaltigkeit geistiger und sittlicher Über­ zeugungen das Universum neuen Glanz und neue Schönheit gewinnt. Das höchste Wesen nimmt jegliche Art der Verehrung entgegen, in welchen Gebärden und Gesten sie ihm auch dargebracht werde. Der Anspruch eines schlechthin allgemeinen Dogmas ist damit aufgege­ ben, und eine neue Art der »Katholizität«, die lediglich auf die Allge­ meinheit der Gottesidee gegründet ist, kündigt sich an. In jeder Form des Glaubens wird, wenn nicht eine transzendente Wahrheit, so doch eine Betätigung und Ausprägung des Menschentums aner­ kannt: »Re[x] maximfus] [...] coli mavult quoquo modo, vel inepte, modo humane, quam per superbiam nulle modo coli.«220 Die Viel­ heit der Götternamen darf uns die Einheit des religiösen Be­ wußtseins nicht verschleiern. Denn diese Einheit quillt unmittelbar aus der Natur des Menschen selbst: Sie bildet, nach dem Worte Cam­ panellas, jene »religio indita«, die in jedem Wesen von Anfang an lebendig ist und die zwar durch fremde Züge entstellt, aber niemals völlig ausgelöscht werden kann.221 Und wie sie am Anfang der reli­ giösen Ent | wicklung steht, so weist sie zugleich das letzte Ziel, dem diese zustrebt. Die Geschichte der Religion ist vollendet, wenn sie sich, durch alle Verschiedenheit der besonderen Kulte hindurch, wie­ derum zur Idee des einen Gottes zurückgefunden hat: Und dieser Idee nähert sich die Menschheit in dem Maße, als sie die Forderungen der sozialen Einheit in sich verwirklicht und herstellt. Dann erst ist die wahrhafte »Theokratie« erreicht, durch die jeder Einzelwille zugleich gebunden wie in sich selbst über das Ziel seines Strebens geklärt wird. Wenn daher bei Ficin Platon, mit einem Worte des Numenius, der »attische Moses« genannt, wenn Christus und Sokraquaeque mala. Et cognoscent omnes: quomodo non est nisi una religio in rituum varietate. [...] saltem ut sicut tu unus es, una sit religio, et unus latriae cultus.«]. 220 Marsilio Ficino, De religione christiana, et fidei pietate liber (Kap. 4), in: Opera, Bd. I, fol. 1-73: fol. 4. 221 »Non quidem homo errat circa notitiam inditam. Omnes enim intelligunt Deum esse potentissimum, sapientissimum, et optimum Ens, | quo maius [Cassi­ rer: magis statt maius] non potest cogitari, aut inveniri [...] errat vero circa additam, quae sopit inditam.« [Tommaso Campanella, Universalis philosophiae seu metaphysicarum rerum, iuxta propria dogmata, partes tres, libri 18 (Teii 3, Buch 16, Kap. 4, Art. 1), Paris 1638, S. 206. Jeder der drei Teile von Campanellas »Metaphysik« ist separat paginiert.} Zur Religionsphilosophie Campanellas vgl. bes. Giovanni Sante Felici, Le dottrine filosofico di Tommaso Campanella, Lanciano 1895 [autopsiert wurde die dt. Ausg.: Die religionsphilosophischen Grund­ anschauungen des Thomas Campanella, Diss., Halle a. d. S. 1887].

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Die Idee der Universalreligion

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tes zusammengestellt werden,222 so werden Vergleichungen dieser Art bei den Späteren bereits zu einer stehenden Formel. Es ist - wie Mutianus Rufus schreibt - nur ein Gott und eine Göttin; aber es sind viele Gestalten und viele Namen: Jupiter, Sol, Apollo, Moses, Chri­ stus, Luna, Ceres, Proserpina, Tellus, Maria - ein Zusammenhang, den man freilich, wie er hinzufügt, wie die Eleusinischen Mysterien in Schweigen hüllen und hinter Fabeln und Rätseln verstecken muß.223 Wie dieser reine und universelle Theismus224 aus seiner Beschränkung auf das Gebiet der Spekulation heraustritt und unmittelbar in die sittlichen Grundfragen eingreift, das wird besonders am | Beispiel des Erasmus deutlich. Der Augustinische Begriff des Gottesstaates, der die großen Heiden ausdrücklich ausschloß, wird nun gesprengt: Auch sie gehören der echten und wahrhaften »Gemeinschaft der Heiligen« an, wenngleich sie in unseren »Verzeichnissen« fehlen mögen. Der Größe der antiken Denkart und Gesinnung wird die Lebensführung der Christen gegenübergestellt, die bei den meisten in Zeremonien, in Beschwörungen und Zauberformeln, in dem Halten der Fasten und in äußeren kirchlichen Werken aufgeht.225 In dieser Vergleichung, die dem »convivium religiosum« angehört, geht die humanistische Ten­ denz direkt in die Grundgedanken der Reformation über. Diese bilden den Abschluß, freilich aber auch die Begrenzung der religiösen Bewegung der Renaissancezeit. Innerhalb des Protestantismus selbst ist es namentlich die Lehre Sebastian Francks, in der die religi­ onsphilosophische Gesamtanschauung der Epoche noch einmal zur Aussprache gelangt. Die Gleichsetzung des göttlichen »Wortes« mit dem »natürlichen Licht« ist bei ihm vollendet: »Was [...] Plato,

222 Ficino, Epistolae (Buch 7), fol. 866. 223 »Est unus deus et una dea, sed sunt multa uti numina ita et nomina. Exem­ pli gratia: Juppiter, Sol, Apollo, Moses, Christus, Luna, Ceres, Proserpina, Tellus, Maria. Sed haec cave enunties. Sunt enim occultanda silentio tanquam Eleu­ sinarum dearum mysteria. Utendum est fabulis atque aenigmatum integumentis in re sacra. Tu Jove h. e. optimo maximo deo propitio contemne tacitus deos minu­ tos; quum Jovem nomino, Christum intelligo et verum deum.« Conradus Mutianus Rufus, Brief an Urbanus vom Herbst 1505, in: Carl Krause, Der Briefwech­ sel des Mutianus Rufus (Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, 9. Supplement), Kassel 1885, S. 27-30: S.28. 224 Vgl. hierzu die umfassende und eindringende Darstellung bei Wilhelm Dilthey, Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 4 (1891), S. 604-651 u. 5 (1892), S. 337-400. 225 Desiderius Erasmus von Rotterdam, Convivium religiosum, in: Opera omnia emendatiora et auctiora, ad optimas editiones praecipve quas ipse Erasmus postremo curavit summa fide exacta, doctorumque virorum notis illustrata, lOBde., Leiden 1703, Bd.I, Sp. 672-847: Sp. 681 ff.

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Die Erneuerung der Natur- und Geschichtsansicht

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Seneca, Cicero und alle erleuchteten Heiden das Licht der Natur und die Vernunft genannt haben, das bezeichnet die Theologie als das Wort, als den Sohn Gottes und als den unsichtbaren Christus. Dieser ist so gut in Seneca und Cicero gewesen als in Paulus. Hiernach ver­ steht er unter Christus (Logos) die Immanenz der sittlich religiösen Ideen in Gott und deren Wirken und sich Mittheilen an die Men­ schen.«226 So mündet die religiöse Gesamtentwicklung der Zeit, die wir hier nur in vereinzelten Andeutungen skizzieren konnten, wiederum in den Gedanken des Logos ein. In diesem vielgestaltigen und frucht­ baren Begriff läßt sich nunmehr das ganze Ergebnis der Gedanken­ arbeit der Renaissance zusammenfassen. Die Dialektik wie die Psychologie, die Naturbetrachtung wie die Geisteswissen­ schaft haben uns sämtlich zu ein und derselben zentralen Frage zurückgeführt, die in der Sprache der Theo | logie und des Neuplato­ nismus durch den Begriff des Logos, in der Sprache der modernen Philosophie durch den Begriff des Bewußtseins bezeichnet wird. Burckhardt hat allseitig dargetan und erwiesen, wie innerhalb der italienischen Renaissance zuerst »die Menschen und die Menschheit in ihrem tiefem Wesen vollständig erkannt« wurden. »Schon dieses eine Resultat der Renaissance darf uns mit ewigem Dankgefühl erfül­ len. Den logischen Begriff der Menschheit hatte man von jeher gehabt, aber sie kannte die Sache.«227 Für die Geschichte des Erkenntnispro­ blems ist es von höchstem Interesse zu beobachten, wie die neuen sachlichen Kulturelemente, die hier von allen Seiten einströmen, wie vor allem die Umbildung der ästhetischen und sittlichen Grund­ anschauung ihrerseits wieder zu einer Neuschöpfung des logischen und theoretischen Begriffs des Selbstbewußtseins hinführen. Lange bevor dieses Problem in selbständiger, abstrakter Formulierung heraustritt, wirkt es als latente Triebkraft in den einzelnen geistigen Bewegungen - in neuer Gestalt und Wendung wird es uns alsbald in der französischen Renaissance des 16. Jahrhunderts begegnen. |

226 Dilthey, Auffassung und Analyse. Zweite Hälfte (1892), S. 393. 227 [Burckhardt, Renaissance in Italien, S. 354.]

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143 DRITTES KAPITEL.

Der Skeptizismus Der Sokratische Begriff des Nichtwissens, mit dem die Philosophie des Nicolaus Cusanus begann, bildet den dauernden Grund für ihre Fortentwicklung und bleibt bezeichnend für die methodische Eigen­ tümlichkeit, durch die sie sich vom Mittelalter scheidet. Die »docta ignorantia« weist den Weg, auf dem wir in beständiger Annäherung zur Erkenntnis der reinen unbedingten Wahrheit fortschreiten. In die­ sem Gedanken spricht sich ein Zusammenhang aus, der für die gesamte neuere Zeit typisch bleibt. Das Prinzip des Zweifels erhält sich in all ihren positiven Resultaten und Leistungen; die Skepsis bedeutet kein Außenwerk und kein zufälliges Nebenergebnis der Gesamtentwicklung, sondern wirkt in ihr als innerer gedanklicher Antrieb. So vermag sie sich mit den mannigfachsten, einander entge­ gengesetzten Richtungen des neuen Geistes zu verschwistern. Wir begegnen ihr bei Agrippa von Nettesheim, wenn er sich von der scholastischen Wortwissenschaft zur unmittelbaren Erfassung der Natur zurückwendet; wir treffen sie bei Campanella wieder, wenn er, über die Grenzen der Naturphilosophie hinaus, nach einem neuen Prinzip des Selbstbewußtseins fragt. Wir sehen, wie die Mystik sie in ihren Kreis zieht und als Werkzeug benutzt, während sie andererseits für Descartes der Anfang zur reinen rationalen Grundlegung der Wissenschaft wird. So tritt sie uns, ihrem Begriffe getreu, nicht als festes, einheitliches System entgegen, son­ dern bildet nur den wechselnden Reflex des lebendigen und allseitigen Fortschritts der modernen Gedanken. Goethe hat den Konflikt des Glaubens und Unglaubens als das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Men­ schengeschichte bezeichnet, dem | alle übrigen untergeordnet sind. »Alle Epochen, in welchen der Glaube herrscht, unter welcher Gestalt er auch wolle, sind glänzend, herzerhebend und fruchtbar für Mitwelt und Nachwelt. Alle Epochen dagegen, in welchen der Unglaube, in welcher Form es sei, einen kümmerlichen Sieg behauptet, und wenn sie auch einen Augenblick mit einem Scheinglanze prahlen sollten, verschwinden vor der Nachwelt, weil sich Niemand gern mit Erkenntnis des Unfruchtbaren abquälen mag.«228 Wenn es eine Epo­ che gibt, die als fruchtbar und gläubig im Goetheschen Sinne zu 228 [Johann Wolfgang von Goethe, West-östlicher Divan (Werke. Nach den vorzüglichsten Quellen revidirte Ausgabe [Ausgabe Hempel], Bd. IV), hrsg. u. mit Anm. vers. v. Gustav von Loeper, Berlin 1868, S. 313.]

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bezeichnen ist, so ist es das Zeitalter der Renaissance. Ihr Zweifel wird zum Vehikel der Selbsterkenntnis, ihr Unglaube selbst wird ihr zum Mittel, durch das die Vernunft ihre Unabhängigkeit und schöpferische Ursprünglichkeit entdeckt. Es ist, als erhielten alle Einzelzüge der neueren Zeit ihre Ergänzung und ihre volle Schärfe erst in dem nega­ tiven Gegenbilde des Skeptizismus. Diese Leistung und diesen mittel­ baren Ertrag gilt es zu erkennen und festzuhalten, wenn man die Skep­ sis als notwendiges Moment der Gesamtentwicklung verstehen will. Der Vergleich mit der Antike ist hier besonders lehrreich. Der eigent­ liche objektive Gehalt und die doktrinale Begründung der allgemei­ nen Zweifellehre ist bei Montaigne derselbe wie bei Sextus Empi­ ricus; selbst die Fassung und Anordnung der einzelnen Argumente hat sich unverändert erhalten. Aber was sich uns im Altertum als das Endergebnis einer inneren dialektischen Auflösung darstellt, das trägt hier deutlich das Gepräge eines neuen Ansatzes. Die skeptischen Sätze, sosehr sie inhaltlich auf frühere Formen und Formeln zurück­ gehen, haben gleichsam ein entgegengesetztes Vorzeichen erhalten. Von neuem und in einem veränderten Sinne ist die griechische Philo­ sophie zur Lehrmeisterin geworden: Nicht zu ihren reifsten und höchsten Leistungen, sondern zu den letzten Problemen und Zwei­ feln, mit denen sie abschloß, wendet sich die neuere Zeit zurück, um sie sich innerlich anzueignen und damit die Grundbedingung ihrer künftigen Lösung zu schaffen. |

I.

Die skeptische Lehre in der neuen Gestalt, in der sie nunmehr auftritt, findet ihre erste vollständige Verkörperung in Montaignes »Apo­ logie de Raimond de Sabonde«. Dieses Kapitel - das ausführlichste der »Essais« - gibt zwar nicht, wie man gemeint hat, den Kern und Gehalt der gesamten Philosophie und Lebensanschauung Montaignes wieder, aber es verzeichnet den äußeren Umriß und vollzieht die formale Gliederung des Ganzen. Die logischen Einzelmotive treten hier der Reihe nach deutlich hervor; zugleich aber weisen sie, gegenüber der Antike, eine charakteristisch neue Beziehung auf, indem sie alle sich der gemeinsamen Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Glauben ein- und unterordnen. So ist auch hier die Gesamtheit der theoretischen Hauptfragen noch gleichsam eingebettet in die Syste­ matik der Theologie und Religionsphilosophie; um sie selbständig zu begreifen, gilt es vor allem, diese Systematik selbst und ihren begriff­ lichen Untergrund zum Problem zu machen.

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Zweckbegriff und Naturbegriff

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Schon die Form und literarische Einkleidung des Gedankens weist die Richtung auf diese Fragestellung. Die »Theologia naturalis« des Raymond de Sabonde, an die Montaigne anknüpft, gibt bei aller Eigenart der Begründung und Einzelausführung dennoch noch das Grundsystem der mittelalterlichen Lebensanschauung wieder. Ver­ nunft und Offenbarung sind ihr eine unmittelbare und widerspruchs­ lose Einheit: Zwischen der Natur und der heiligen Schrift muß, da beide in gleicher Weise Symbole und Darstellungen der göttlichen Wesenheit enthalten, an jedem Punkt völlige Übereinstimmung herr­ schen. Die Aufgabe der Spekulation erschöpft sich darin, diese Har­ monie, die uns im Buche der Natur vielfach getrübt und gebrochen erscheint, zur Klarheit und Eindeutigkeit des Begriffs und der Erkenntnis zu bringen. So endet das Ziel aller Forschung in der gött­ lichen Wahrheit: Wir erkennen den Wert und die Würde des Men­ schen, sofern wir ihn als ein notwendiges Glied der stetigen Stufen­ folge begreifen, die sich von den untersten Formen der natürlichen Welt zum höchsten unbedingten Sein erstreckt. Wie er, dem Reich | der Freiheit angehörend, den Gehalt alles geistigen Seins in sich faßt, so gelangt andererseits das Reich der Natur in ihm zu seiner wahrhaf­ ten Bestimmung. Der Sinn jedes Teils der Wirklichkeit eröffnet sich erst in dieser teleologischen Deutung und Beziehung; das Sein des Kosmos, der Umschwung der Gestirne wie das Werden der Organis­ men erschließt sich unserem Verständnis erst, wenn wir es aus dieser lebendigen und ursprünglichen Zweckeinheit begreifen. Von diesem Punkte aus ergibt sich sogleich die Grundabsicht und die ironische Nebenbedeutung von Montaignes »Apologie«. Indem sie die einzelnen Beweise scheinbar zu stützen und zu verteidigen unternimmt, zerschneidet sie in Wahrheit den Lebensnerv, der alle Argumente des Werkes in sich zusammenhält. Sie löst die naive Ein­ heit, die hier zwischen dem Naturbegriff des Menschen und seinem Offenbarungsbegriff besteht. »Wer hat ihn gelehrt, daß der bewunde­ rungswürdige Umschwung des Himmelsgewölbes, daß das ewige Licht der Leuchten, die über seinem Haupte kreisen, für seine Bequemlichkeit und zu seinem Dienste eingesetzt ist und sich für ihn durch die Jahrhunderte erhält? Gibt es etwas Lächerlicheres, als daß dieses elende und ärmliche Geschöpf, das nicht einmal Herr seiner selbst ist, sich zum Herrn über das Universum berufen glaubt, von dem es nicht den winzigsten Teil zu erkennen, geschweige zu beherr­ schen vermag!«229 Durch alles Pathos des Zweifels klingt selbst hier 229 [Michel de Montaigne, Essais, avec les notes de tous les commentateurs (Buch 2, Kap. 12), hrsg.v. Joseph-Victor Le Clerc, 2 Bde., Paris 1836, Bd.I,

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Der Skeptizismus - Montaigne

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eine neue positive Grundanschauung hindurch. Der Ausschluß der materialen Zweckmäßigkeit erschafft einen neuen Begriff des Gesetzes und damit der objektiven Natur. Deutlicher als in der »Apologie« tritt diese Wendung in der dialektischen Auflösung des Begriffs der »Zweckursachen« zutage, die die »Essais« in ihrer Ge­ samtheit vollziehen. »Wenn die Weinstöcke in meinem Dorfe er­ frieren, so beweist mein Pfarrer daraus den Zorn Gottes über das menschliche Geschlecht [...] Wer ruft nicht beim Anblick unserer Bürgerkriege, die Maschine der Welt gehe aus den Fugen und der jüngste Gerichtstag fasse uns am Schopf, ohne zu bedenken, daß schlimmere Dinge geschehen sind und daß die tausend übrigen Teile der Welt bei alledem munter fortbestehen [...] Wer sich | das große Bild unserer Mutter Natur in seiner ganzen Erhabenheit vergegen­ wärtigt, wer in ihrem Antlitz eine allgemeine und beständige Mannig­ faltigkeit sieht und in ihm nicht nur sich selber, sondern ein ganzes Reich nur wie einen winzig feinen Punkt erblickt, der allein bemißt die Dinge nach ihrer wahren Größe.«230 Wie hier der subjektive Anspruch des Individuums vor einer neuen Anschauung des Kosmos verschwindet, so wird auf der andern Seite das vermeintliche Privileg des Menschen in der Folge und Stufenreihe der Lebewesen beseitigt: In immer erneuten Beispielen verficht die »Apologie« die biologische und geistige Wesensgleichheit zwischen Mensch und Tier. Und dieser theoretischen Ansicht entspricht ein neues Einheitsgefühl: An die Stelle der Vereinzelung des Menschen in der theologischen Betrach­ tung tritt hier das Bewußtsein einer Gemeinschaft, die alles LeS. 542 f.: »Qui luy a persuade que ce bransle admirable de la voulte celeste, la lumiere eternelle de ces flambeaux roulants si fierement sur sa teste, les mouvements espoventables de cette mer infinie, soyent establis, et se continuent tant de siecles, pour sa commodite et pour son Service? Est il possible de rien imaginer si ridicule, que cette miserable et chestifve creature, qui n’est pas seulement maistresse de soy, exposee aux offenses de toutes choses, se die maistresse et emperiere de l’univers, duquel il n’est pas en sa puissance de cognoistre la moindre partie, tant s’en fault de la commander?« Cassirer zitiert die »Essais« von Montaigne nur mit Nennung von Buch- und Kapitelangaben.} 230 A.a. O. (Buch 1, Kap. 25) [S. 161 f.: »Quand les vignes gelent en mon village, mon presbtre en argumente l’ire de Dieu sur la race humaine [...] A veoir nos guerres civiles, qui ne crie que cette machine se bouleverse, et que le iour du iugement nous prend au collet? sans s’adviser que plusieurs pires choses se sont veues, et que les dix mille parts du monde ne laissent pas de galler le bon temps ce pen­ dant Mais qui se presente comme dans un tableau cette grande image de nostre mere nature en son entiere maieste; qui lit en son visage une si generale et con­ stante variete; qui se remarque lä dedans, et non soy, mais tout un royaume, comme un traict d’une poincte tresdelicate, celuy lä seul estime les choses selon leur iuste grandeur.«].

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Die skeptische Kritik des Pantheismus

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bendige, die Pflanze und Tier gleichmäßig umfaßt und wechselseitig verknüpft.231 Spricht sich hierin nur die allgemeine Grundstimmung aus, die wir überall in der Renaissance mit der neuen Ansicht der Natur verbun­ den finden, so nimmt dennoch von diesem Punkte aus der Gedanke eine andere Wendung. Der Naturphilosophie der Renaissance bedeu­ tet die Einheit zwischen Mensch und Natur vor allem das Bewußtsein ihrer inneren, metaphysischen Wesensgemeinschaft: Das Individuum ist zur Erkenntnis des Universums berufen und befähigt, weil es mit ihm von gleichem Stoffe, weil es das Erzeugnis derselben schöpfe­ rischen Grundkraft ist, die die äußere Welt hervorbringt und be­ herrscht. Und dennoch ist mit dieser Antwort das Problem erst in sei­ nem ganzen Umfang und in seiner vollen Schärfe bezeichnet. Sofern das Subjekt dem Ganzen der Naturkausalität untergeordnet wird, sofern erscheint die Erkenntnis an die bestimmten und besonderen Naturbedingungen ihrer Entstehung geknüpft und bleibt in ihrer Ausdehnung und Geltung an sie gebunden. Das Erkennen wird zum Teilprozeß innerhalb des gesetzlichen Ablaufs des Gesamtgesche­ hens: Wie aber ließe sich aus diesem Bruchstück, selbst wenn wir es in sich selber vollständig übersehen und bestimmen könnten, die Regel des Ganzen her | leiten? So ergibt sich eine eigentümliche Umkehrung: Was der ästhetischen Phantasie des Pantheismus als die eigentliche Lösung gilt, das bedeutet für den logischen Analytiker erst den präg­ nanten Ausdruck des Rätsels. Die Kraft und Eigenart von Montaignes Skepsis bekundet sich darin, daß sie gerade die positiven Ergebnisse und Rechtstitel der neuen Forschung dialektisch in Waffen gegen den Wert und die Allgemeingültigkeit menschlichen Wissens umschmie­ det. Der Gedanke der Unendlichkeit der Welten, der etwa für Giordano Bruno die sicherste Bürgschaft für die Selbstgewißheit des rei­ nen Denkens bedeutet: hier dient er nur dazu, das Individuum zu vereinzeln und die Geltung seiner Erkenntnisgesetze zu relativieren. Die Prinzipien und Regeln, die wir innerhalb des engen Umkreises unserer Erfahrungswelt bestätigt finden, sind für die Gesamtverfas­ sung des Alls unverbindlich: »[...] c’est une loy municipale que tu allegues, tu ne sgais pas quelle est l’universelle.«232 Die Skepsis berührt hier eine innere Schwierigkeit, die in der Tat mit der Grundanschau­ ung, die uns bisher entgegentrat, eng verknüpft ist und die ihr not­ wendig anhaftet. Die Harmonie zwischen Denken und Sein her­ zustellen, den menschlichen Geist als Abbild und Symbol der 23i 232

A.a.O. (Buch 2, Kap. 11) [S. 508 ff.]. [A.a.O. (Kap. 12), S.642.]

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Der Skeptizismus - Montaigne

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höchsten absoluten Wirklichkeit zu erkennen: das ist die Aufgabe, an der die neuere Zeit überall in ihren Anfängen arbeitet. Nicolaus Cusa­ nus knüpft hier an Raymond von Sabonde an, und trotz aller wichti­ gen und fruchtbaren Ansätze zu einer Neuschöpfung des Problems wächst auch bei ihm die Begriffsbestimmung der Erkenntnis nicht endgültig über diese Fragestellung hinaus. Diese Ansicht aber enthält in sich ein unbewiesenes und unbeweisbares Postulat. Denken und Sein können nicht zu wahrer innerer Übereinstimmung und Deckung gebracht werden, solange sie gleichsam verschiedenen logischen Dimensionen angehören, solange das absolute Sein als allgemeiner Oberbegriff dem Denken vorausgeht und es wie einen Sonderfall umfaßt. Diese Einsicht zu voller Deutlichkeit entwickelt zu haben, ist das mittelbare logische Verdienst der Skepsis. Hier liegt die einheitli­ che Tendenz, an der ihre verschiedenen modernen Ausprägungen gleichmäßig teilhaben: Wie Montaigne, so stellt | Sanchez, dessen Werk gleichzeitig mit den »Essais« erscheint, die Zweideutigkeit bloß, die in dem Wort von der Identität des Mikrokosmos und Makrokos­ mos sich verbirgt. Wenn sonst aus der durchgängigen Verknüpfung und Wechselwirkung zwischen dem Individuum und allen Teilen des Universums die Möglichkeit der Erkenntnis des Alls gefolgert wird, so kehrt er diesen Schluß um: Das Einzelne selbst kann, sofern es durch das All bedingt ist, nur aus diesem, also nur unter Vorausset­ zung einer unendlichen Erkenntnis, die uns Menschen verschlos­ sen ist, begriffen werden.233 In der Tat: Wenn der Gegenstand als ein Außeres und Transzen­ dentes gesucht wird, so kann das Bewußtsein nicht mehr den Weg zu seiner Erkenntnis weisen; es bezeichnet alsdann nur noch die trü­ gerische Hülle, mit der wir alle Inhalte bekleiden und die uns ihre echte Wesenheit verbirgt. Unser Wissen vermittelt uns nicht die Form und Beschaffenheit der Dinge, sondern lediglich die Eigentümlichkeit des Organs, das von ihnen eine Einwirkung erfährt. Wie ein und derselbe stetige Luftstrom durch verschiedene Instrumente zu einer Mannigfaltigkeit von Tönen gebrochen und abgewandelt wird, so übertragen unsere Sinne die Qualität, die ihnen selbst eigen ist, auf das ursprünglich einheitliche Objekt. Den Umkreis des Seins vermögen wir somit nicht zu ziehen: Denn töricht wäre die Annahme, daß die Schranken unserer Empfindungsfähigkeit zugleich die Grenzen der physischen Wirklichkeit sind. Wie der Verlust eines bestimmten Sin­ nes die Änderung unseres gesamten Weltbildes nach sich ziehen

233 S. Francisco Sanchez, Quod nihil scitur, Lyon 1581, S. 16ff., 23 ff. u. 28.

178-180

Die subjektive Bedingtheit der Erkenntnis

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müßte, so müßte der Gewinn einer neuen sinnlichen Erkenntnisquelle uns Gebiete des Daseins eröffnen, die uns unter den gegebenen Bedin­ gungen unserer Organisation dauernd verschlossen bleiben. Das Den­ ken der Wissenschaft und der logischen Schlußfolgerung vermag diesen Mangel nicht zu ersetzen, da ihm nur die Verknüpfung ge­ gebener Wahrnehmungen, nicht die Entdeckung und Erschaffung neuer Tatsachenkreise zukommt; da es somit gleichfalls die irrationale Zufälligkeit unserer empirisch-physiolo | gischen Bildung nirgends zu überwinden vermag. Und mit dem äußeren Gegenstand schwindet auch der Begriff des »Subjekts« als einer einheitlichen festen Norm dahin. Was wir als die Einheit eines Individuums betrachten, ist in Wahrheit nur eine Abfolge verschiedener, einander widerstreitender Zustände, zwischen denen keine Rangordnung und keine Wertunter­ scheidung zu vollziehen ist; kein Kriterium vermag zwischen den Wahrnehmungen, die wir als »gesunde« und »kranke«, als Erfahrun­ gen des Wachens und des Traumes einander gegenüberzustellen pfle­ gen, eine wahrhaft gegründete Entscheidung zu treffen. Das Ich, wie es einerseits die Voraussetzung für die Wahrnehmung der Dinge bil­ det, wird auf der anderen Seite selbst wieder von ihnen und ihrer ste­ tigen Veränderung bestimmt. Wenn wir es als Naturursache der Erkenntnis ansehen konnten, so ist es eben damit auch Naturpro­ dukt und daher dem gleichen Wandel und der gleichen Unbestimmt­ heit wie die äußere Welt unterworfen. Die beiden Gegenglieder, die durch den Prozeß der Erkenntnis miteinander verknüpft werden soll­ ten, sind nunmehr in sich selber aufgelöst. Jede »Wahrheit« bean­ sprucht, eine feste, unaufhebliche Beziehung zwischen dem »Innern« und »Äußeren« zu setzen: Wie aber ließe sich eine derartige Setzung noch behaupten und rechtfertigen, da die beiden Elemente dieses Ver­ hältnisses in beständiger Umbildung begriffen sind und niemals zu einem eindeutigen »Sein« gelangen? Wir verfolgen nicht die weitere Argumentation und die Mannigfal­ tigkeit der Instanzen, die Montaigne zum Beweise seines Hauptsatzes häuft. Sie alle gehen auf antike Vorbilder, vor allem auf das allgemeine Schema zurück, das Sextus in der Aufstellung seiner zehn Tropen geschaffen hatte. Aber es ist, als gewönnen alle diese bekannten Beweisgründe erst in der Energie und in der subjektiven Lebendigkeit von Montaignes Stil ihre Schärfe und die eindringliche Bedeutung, mit der sie auf die Folgezeit wirken. Im Mittelpunkt steht auch hier das Problem des unendlichen Regresses im Beweisverfahren: Um zwischen den Erscheinungen eine Entscheidung zu treffen, bedürfen wir eines Instrumentes des Urteils; um dieses zu prüfen, der logischen Schlußfolgerung, | die indes selber erst durch dieses Instru­

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Der Skeptizismus - Montaigne

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ment wieder beglaubigt und gesichert werden könnte.234 Oder wäre es möglich, den Syllogismus und vor allem den Induktionsschluß aus diesem Zirkel zu befreien; ließe sich ein Weg finden, allgemeine Ober­ sätze der Induktion zu gewinnen, die, wenngleich sie nur in der Beziehung auf die Erfahrung Sinn und Geltung haben, dennoch nicht als Aggregate von Einzelbeobachtungen zu denken sind? In dieser Frage grenzt sich die moderne Erfahrungstheorie, die mit Galilei beginnt, ihr Gebiet und ihre Aufgabe ab. Montaigne hat kei­ nen positiven Anteil an ihr; aber auch hier bleibt ihm das Verdienst, daß er dort, wo die gleichzeitige Philosophie, wo insbesondere Telesio und seine Schule die eigentliche Lösung sah, das Problem auf­ zurichten wußte. Dieser Sinn und diese Kraft der Skepsis tritt schließlich, deutlicher als im Gebiet der theoretischen Erkenntnis, an den Prinzipien der Sittlichkeit hervor. Zunächst zwar scheint hier mit dem Schwinden des unbedingten Maßstabes die ethische Grundfrage selbst entwurzelt und zunichte gemacht. Wie die Empfindung uns nicht das Sein des äußeren Gegenstandes, sondern nur die Natur des eigenen Ich im äußeren Widerschein enthüllt, so ist der Wert, der an den Dingen zu haften scheint, in Wahrheit keine objektive Beschaffenheit ihrer selbst, sondern der Reflex des urteilenden Subjekts. An sich ist nichts weder gut noch böse - erst unsere »Vorstellung« verleiht ihm diese Beschaf­ fenheit: »[...] nous [...] appellons valeur en [les choses], non ce qu’elles apportent, mais ce que nous y appor­ to ns.«235 Damit aber ist der Begriff des Guten der grenzenlosen Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit preisgegeben: Denn nirgends tritt der Widerspruch und die Unvereinbarkeit der einzelnen und der Völ­ kerindividuen schärfer zutage als hier. Kein noch so extremer und phantastischer Brauch, der nicht durch das Gesetz irgendeiner Nation geheiligt wäre, kein anerkannter sittlicher Inhalt, der sich nicht im Wechsel der Zeiten oder Räume in sein Gegenteil verwandelte. Örtli­ che und politische Schranken werden zu Grenzen für den Begriff der Moral: »Was für eine Art Güte ist es, die, | gestern in Ansehen und Geltung, es morgen nicht mehr ist und die beim Überschreiten eines Flusses zum Verbrechen wird? Was für eine Art Wahrheit, die durch diese Berge begrenzt und jenseits ihrer zur Lüge wird?«236 »Die ersten 234 Montaigne, Essais (Buch 2, Kap. 12) [Bd. I, S. 527 ff.]. 235 A.a.O. (Buehl, Kap. 40) [S. 306]. 236 A. a. O. (Buch 2, Kap. 12) [S. 720 f.: »Quelle honte est ce, que ie veoyois hier en credit, et demain ne l’estre plus; et que le traiect d’une riviere faict crime? Quelle verite est ce que ces montaignes bornent, mensonge au monde qui se tient au delä?«].

181-182

Die ethische Bedeutung der Skepsis

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und allgemeinen Gründe der sittlichen Vorschriften sind schwer zu fassen und gehen unsern Lehrmeistern unter den Händen in Schaum auf; oder aber sie wagen nicht einmal, an sie zu rühren, sondern wer­ fen sich von Anfang an in die Freistätte der Gewohnheit; hier blähen sie sich auf und feiern einen billigen Triumph.«237 So sehen wir uns der äußeren Meinung und der jeweiligen Konvention als einzigen Führern überwiesen: »Das Ansehen der Gesetze kommt nicht daher, daß sie gerecht, sondern daß sie Gesetze sind; dies allein ist der mystische Grund ihrer Autorität; sie haben keinen andern.«238 Und dennoch liegt in dieser Konsequenz, in der sich Montaignes skeptischer Lehrbegriff vollendet, zugleich die Peripetie seiner philo­ sophischen Gesamtanschauung. Das Problem der Sittlichkeit ist es, an dem eine innere Umkehr des Gedankens sich vollzieht. Zunächst näm­ lich trägt die Skepsis - hier wie im Altertum - von Anfang an einen bestimmten und positiven ethischen Leitgedanken in sich. Ihr End­ zweck ist die »Ataraxie«: Durch die Abwendung von allen absoluten Zielen soll der Geist in sich selbst zu einem festen Gleichgewichts- und Ruhepunkt gelangen, der durch den Wandel der äußeren Dinge nicht mehr berührt wird. Was alles Streben nach Erkenntnis nicht ver­ mochte, das leistet der selbstbewußte und freiwillige Verzicht. Indem der Zweifel alle besonderen, autoritativen Normen ihres mystischen Ursprungs entkleidet, schützt er den einzelnen, der sich ihnen prak­ tisch immerhin unterwerfen mag, davor, sich ihnen innerlich bedin­ gungslos hinzugeben. Die Skepsis ist es, die das Individuum davor bewahrt, sich den sittlichen Maßstab von außen aufdrängen zu lassen, die es, allen willkürlichen moralischen Konventionen gegenüber, der gedanklichen Freiheit seines Urteils versichert. Die Kritik Mon­ taignes ist somit, wie sich immer deutlicher zeigt, nicht so sehr auf das »Gute« wie auf die relativen und wan | delbaren »Güter« gerichtet. So treten von Anfang an und unmittelbar neben den skeptischen Leitund Hauptsätzen die Grundmotive der stoischen Ethik in den »Essais« bestimmend hervor. Unter den klassischen Autoren, deren Zitate sich in bunter Fülle durch das Werk verstreut finden, steht Seneca an erster Stelle. Wie Montaigne sein Wesen und seinen Stil in einem charakteristischen literarischen Portrait darstellt, so bilden seine 237 A. a. O. (Buch 1, Kap. 22) [S. 111: »Les premieres et universelles raisons sont de difficile perscrutation; et les passent nos maistres en escumant; ou, en ne les osant pas seulement taster, se iectent d’abordee dans la franchise de la coustume; lä ils s’enflent, et triumphent ä bon compte.«]. 238 [A.a.O. (Buch 3, Kap. 13), Bd.II, S.574: »[...] les loix se maintiennent en credit, non parce qu’elles sont iustes, mais parce qu’elles sont loix: c’est le fonde­ ment mystique de leur auctorite, elles n’en ont point d’aultre [...]«]

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Der Skeptizismus - Montaigne

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Schriften, zugleich mit denen des Plutarch, den unerschöpflichen Quell, aus dem er nach seinem eigenen Wort »wie die Danaiden un­ ablässig schöpft.«239 Hegels allgemeine Bemerkung, daß Skeptizis­ mus und Stoizismus sich notwendig aufeinander beziehen und sich wechselseitig bedingen, findet an Montaigne ihre charakteristische geschichtliche Bestätigung. »Das skeptische Selbstbewußtsein erfährt in dem Wandel alles dessen, was sich für es befestigen will, seine eigene Freiheit als durch es selbst sich gegeben und erhalten; es ist sich diese Ataraxie des sich selbst Denkens, die unwandelbare und wahrhafte Gewißheit seiner s elh s t.« 240 Wenn im Theoretischen die kritische Auflösung des absoluten Gegenstands nicht dazu führte, eine wissen­ schaftliche Theorie der Erscheinungen zu versuchen, wenn hier auch der Begriff des Ich keinen sicheren Halt bot, so enthält im Sittli­ chen die Vernichtung der äußeren Normen unmittelbar die Aufforde­ rung in sich, das Gesetz, das damit zerstört scheint, aus dem eigenen Innern wieder aufzubauen. Daß der Wert nicht an den Dingen haftet, sondern daß wir es sind, die ihn an sie heranbringen: dieser »Sub­ jektivismus« ist nicht die Widerlegung, sondern der Anfang und die positive Voraussetzung der Möglichkeit der Ethik. So treten denn jetzt den willkürlichen Gebräuchen und Satzungen die »Naturgesetze« des Sittlichen als Kriterium gegenüber. Wir haben die Natur, die uns so sicher und glücklich leitete, verlassen und wol­ len, daß sie von uns Lehre annimmt, und doch muß unser Wissen beständig zu ihr und den Spuren ihres Unterrichts zurückkehren, um in ihr das Muster | der Beständigkeit, der Unschuld und Ruhe zu fin­ den. »Wir haben es mit ihr gemacht wie der Parfümeur mit dem Öl; wir haben sie durch Klügeleien und Argumentationen so sehr sophi­ stisch verfälscht, daß sie für jeden eine andere, wandelbare und beson­ dere Gestalt angenommen und die ihr eigentümlichen allgemeinen und unveränderlichen Züge verloren hat.«241 Es gibt somit ein identi­ sches gemeinsames Grundgesetz, das uns nur durch die Sophistikationen unserer Vernunft verdeckt und entstellt wird. Wenn unter dem 239 A. a. O. (Buch 1, Kap. 25; Buch 2, Kap. 10 u. 32) [Bd. I, S. 146: »ou ie puyse comme les Danaides, remplissant et versant sans cesse«, S. 491 ff. u. Bd.II, S. 113 ff.]. 240 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes (Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewigten, Bd. II), Berlin 1832, S.156. 241 Montaigne, Essais (Buch 3, Kap. 12) [Bd. II, S. 544 f.: »[...] et en ont faict les hommes, comme les parfumiers de l’huile; ils l’ont sophistiquee de tant d’argumentations et de discours appellez du dehors, qu’elle en est devenue variable et particuliere ä chascun, et a perdu son propre visage, constant et universel [...]«].

183-184

Die Natur als sittlicher Normbegriff

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Gesichtspunkt der theoretischen Erkenntnis die Natur sich uns in ein Chaos regelloser Eindrücke auflöste, so bezeichnet sie für das sitt­ liche Problem den Quell und die Gewähr des Gesetzes. Die Skep­ sis wird zum Mittel, das zu dieser echten Grundlage zurückleitet. Indem sie die fälschenden Zutaten der »Vernunft« in sich selbst ver­ nichtet und gegeneinander aufhebt, stellt sie damit die Regel der Natur wieder in ihrer Ursprünglichkeit und Reinheit her. Jede äußere und transzendente Begründung der Moral ist daher überflüssig und schäd­ lich: Wahrhaft wertvoll ist nur diejenige Handlung, die nicht durch äußere Vorschriften bestimmt ist, sondern aus der eigenen inneren Norm hervorgeht. So muß die Sittlichkeit vor allem die Stütze der Religion, die ihre Gebote an Furcht und Hoffnung knüpft, entbeh­ ren lernen. »le l’ayme teile que les loix et religions non facent, mais parfacent et auctorisent; qui se sente de quoy se soubstenir sans ayde; nee en nous de ses propres racines, par la semence de la raison universelle, empreinte en tout homme non desna­ tur e.«242 Noch einmal hat sich somit der bisherige Gegensatz umge­ staltet: Was wir Natur nennen, das ist in Wahrheit die Regel der uni­ versellen »Vernunft«, die es gegenüber den kleinlichen und engen Geboten des Herkommens (ces petites regles, feinctes, usuelles, pro­ vinciales) zurückzugewinnen gilt. So wird dieser Begriff für Mon­ taigne vielmehr zum Ausgangspunkt für eine Um- und Neugestaltung der Geistes wissenschaften. Ethik und Ästhetik, Geschichte und Psychologie werden unter einem neuen Gesichtspunkt beurteilt und gestaltet. Und wenngleich die Theorie der Wissenschaft | an dieser Umbildung keinen Anteil nimmt, so wirkt doch das Ergebnis dieser Gesamtentwicklung, in welcher ein neuer Kulturbegriff gewon­ nen wird, mittelbar auf die Fassung und die systematische Stellung des Erkenntnisproblems zurück. Es ist zunächst die Pädagogik, die durch das neue Grundprinzip eine innere Wandlung und Bereicherung ihres Inhalts erfährt. Der Gehalt der ethischen Begriffe bewährt sich hier in einer originalen und schöpferischen Leistung, in der alle Hauptzüge der späteren Ent­ wicklung, vor allem der Erziehungslehre Rousseaus, vorwegge­ nommen sind. Von dem dialektischen Gegensatz zwischen Vernunft und Natur wird die Fragestellung auch hier beherrscht; zugleich aber formuliert sie im Begriff des Selbstbewußtseins einen entschei­ denden Gedanken, der die Lösung vermittelt und vorbereitet. In die­ sem Begriff liegt die Grenzscheide und die Schutzwehr gegen allen scholastischen »Pedantismus«, der den Stoff des Wissens von außen 242 A.a.O. [S.558 f.].

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Der Skeptizismus - Montaigne

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her an das Subjekt heranbringt. Überall dort, wo die Selbständigkeit des Ich ausgeschaltet ist, ist damit auch der echte Inhalt der Erkennt­ nis vernichtet; einzig die leere Worthülle ist es, die zurückbleibt. Wir arbeiten nur daran, unser Gedächtnis zu füllen, und lassen Verstand und Bewußtsein leer. Das ganze Leben entartet zum Geschwätz: Vier bis fünf Jahre bringen wir damit hin, die Worte verstehen zu ler­ nen und sie in Perioden zu drechseln, die doppelte Zeit wenden wir daran, uns im rhetorischen Aufbau und in stilistischen Feinheiten zu üben. »Unsere Erziehung leitet uns nicht auf den Weg der Tugend und Wahrheit: Sie lehrt uns die Etymologie von beiden kennen.«243 Echtes Wissen wird dagegen nur dort erzeugt, wo die unbedingte autoritative Einwirkung ferngehalten und der gesamte Gehalt der Erkenntnis aus der eigenen geistigen Tätigkeit gewonnen wird. »Les abeilles pillotent degä delä les fleurs; mais elles en font aprez le miel, qui est tout leur; ce n’est plus thym, ny mariolaine: ainsi les pieces empruntees d’aultruy, il les transformera et confondra pour en faire un ouvrage tout sien, ä sgavoir son iugement: son Institution, son travail et estude ne vise qu’ä le formen Qu’il cele tout | ce dequoy il a este secouru, et ne produise que ce qu’il en a faict.«244 Die Vernunft und die Wahrheit sind allen gemein: Wer sie zuerst in Worte kleidet, besitzt sie nicht in höherem Maße als ein Späterer, der sie sich innerlich zu eigen gemacht hat. Eine Wahrheit gehört mir im selben Sinne wie dem Platon, wenn er und ich sie übereinstimmend sehen und begreifen. So ist jede echte erzieherische Tätigkeit wiederum von dem Glauben an die Identität der Vernunft bedingt und getragen; von der An­ nahme einer ursprünglichen Gleichartigkeit zwischen dem geistigen Inhalt, der dargeboten wird, und der geistigen Kraft und Wesenheit des Subjekts, das ihn aufnimmt.245 Wir erkennen hier in einem typi­ schen Beispiel die tiefere Art des geschichtlichen Zusammenhangs, der die Renaissance an die Antike knüpft. Die Anlehnung an das klas­ sische Altertum wird von Montaigne verworfen, sofern sie den Sinn hat, dem einzelnen den Stoff des Wissens in fertiger, geschlossener Gliederung zu überliefern. Aber eben in dieser Abweisung fühlt er sich als Erbe des griechischen Geistes. Er beruft sich auf das Plato­ nische Ur- und Anfangswort aller Pädagogik: Sowenig sich blinden 243 [A.a. O. (Buch 2, Kap. 17), S.39: »[...] eile ne nous apas apprins de suyvre et embrasser la vertu et la prudence, mais eile nous en a imprime la derivation et l’etymologie [...]«.] 244 [A.a.O. (Buch 1, Kap.25), Bd.I, S.154.] 245 S. den Essai »Du pedantisme«: a. a. O. (Kap. 24) [S. 131 ff.]; sowie den Brief an die Comtesse de Gurson: »De l’institution des enfants«, a. a. O. (Kap. 25) [S. 145 ff.].

185-186

Die neue Grundlegung der Geisteswissenschaften

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Augen die Sehkraft einsetzen läßt, sowenig vermag die Erziehung der Seele einen geistigen Inhalt zu geben, der nicht latent in ihr enthalten wäre.246 Und Sokrates gilt ihm als der ewige Pädagoge des Men­ schengeschlechts, sofern er zuerst ihm gezeigt hat, wieviel es aus eige­ ner Kraft vermag.247 Hier erhebt sich Montaignes Skepsis in der Er­ gänzung, die sie durch den Gedanken der freien Selbsttätigkeit des Bewußtseins erhält, in der Tat zur echten Bedeutung des Sokratischen Nichtwissens. Das Griechentum bildet das Vorbild, nicht als Hüterin eines festen Wissensschatzes, sondern als Weckerin und als geschicht­ liche Bürgschaft der Produktivität des menschlichen Geistes. Die Antike wird - im Gegensatz zur Scholastik - die Schule der »Naivität« und Natürlichkeit, auch die Überlegenheit des Stils der Alten gilt Montaigne nicht als ein zufälliger und äußerer Vorzug, sondern | als gegründet auf die Klarheit ihres Denkens und auf die Kraft und Rein­ heit der objektiven Anschauung.248 So fällt allgemein von hier aus neues Licht auf die Geschichte, die nicht mehr im Sinne philologischer Altertumskunde gefaßt, son­ dern als die allgemeine Psychologie des Menschen gedacht wird: als die »Anatomie der Philosophie«, in der die dunkelsten Ge­ biete unserer Natur uns durchsichtig werden.249 Montaigne vertritt die doppelte Tendenz, die sich im modernen Begriff der Geschichte vereinigt.250 Indem er auf die Naturbedingungen alles historischen Geschehens, auf die Bestimmtheit der theoretischen und sittlichen Kultur durch das »Milieu«, durch Ort und Klima zurückweist, be­ gründet er die Geschichtsbetrachtung der französischen Auf­ klärungsphilosophie, wie sie sich vor allem in Montesquieu aus­ prägt.251 Und dennoch ist es, trotz aller Mannigfaltigkeit und allem scheinbaren Widerspruch, eine einheitliche »Natur« des Menschen, die sich nach ihm in allem Wandel des Geschehens enthüllt und offen­ bart. Von den wechselnden Formen des gesellschaftlichen Zusam­ menlebens, von aller Betrachtung der äußeren politischen Schicksale, in denen Laune und Zufall vorherrschen, werden wir daher zuletzt auf das Individuum als das eigentliche Objekt der Geschichtswissen­ schaft verwiesen. Plutarch und Tacitus gelten, weil sie zuerst den Blick auf das »Innere« des Menschen gelenkt haben, als die klassischen Vor­

A.a.O. (Buch 1, Kap.24) [S. 131 ff.]. 247 A. a. O. (Buch 3, Kap. 12) [Bd. II, S. 527ff.]. 248 A.a.O. (Kap. 5) [S.267ff.]. 249 A.a.O. (Buch 1, Kap. 25) [Bd. I, S. 145 ff.]. 250 Vgl. oben, S. 136 f. 251 S. bes. Montaigne, Essais (Buch 2, Kap. 12) [Bd. I, S. 527ff.]. 246

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Der Skeptizismus - Montaigne

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bilder.252 In analoger Weise wandelt sich der ästhetische Maßstab, indem auch hier durchweg das Charakteristische vor dem Novellisti­ schen, die Kunst und Feinheit der psychologischen Motivierung vor der Entwicklung der Fabel den Vorrang gewinnt. Das Grundgesetz des künstlerischen Stils - und hier kehren die beiden Lieblingsbegriffe Montaignes wieder - ist seine »Naivität« und »Natürlichkeit«; alles Beiwerk, das nicht unmittelbar und notwendig aus der Natur des dar­ zustellenden Gegenstands fließt, aller rhetorische Zierat verstößt gegen das erste ästhetische Erfordernis der Darstellung. Der »Ciceronianismus« und seine verschiedenen Abarten wird in den »Essais« mit einer Energie und einer treffenden Sicherheit | bekämpft, die im Zeit­ alter des Humanismus überrascht. Man hat von der Einwirkung gesprochen, die Montaigne auf Shakespeare geübt hat: Und in der Tat hört man an manchen Stellen bei Shakespeare den unmittelbaren Nachklang der »Essais« noch deutlich heraus.253 Wichtiger aber als diese Übereinstimmungen im einzelnen, auf die man verwiesen hat, ist der allgemeine Zusammenhang, der hier besteht. Hamlets Worte über das Schauspiel sind der reinste Ausdruck und die Vollendung von Montaignes Auffassung der »Natur« als ästhetischem Normbegriff. Die »Essais« selbst haben diesen Begriff am Beispiel der mimischen Künste erläutert: an dem Gegensatz zwischen der schlichten und ungezwungenen Haltung des Künstlers und der Grimasse und der travestierenden Übertreibung des Nachahmers.254 Unter dem neuen künstlerischen Ideal wendet sich der Blick wiederum auf die Volks­ dichtung zurück, deren naive Anmut Montaigne den vollkommen­ sten Erzeugnissen der Kunstpoesie gleichstellt: Das Kapitel über die Dichtung der Naturvölker bildet den originalen Anfang einer Ent­ wicklung, die über Rousseau zu Herder hinführt. So hat auch hier die Skepsis ihre allgemeine Funktion erfüllt, durch Abstreifung der falschen konventionellen Hülle eine neue und ur­ sprüngliche geistige Wirklichkeit zur Entdeckung zu bringen. Der Zweifel sinkt nicht ins Bodenlose, sondern er findet, im Gebiete der Wertbetrachtung, überall festen Halt und Ankergrund. Das Selbst­ bewußtsein, das sich für den beobachtenden und reflektierenden Psychologen in eine heterogene Mannigfaltigkeit wechselnder Zu­ stände auflöste, wird jetzt als ein Inbegriff geistiger Werte zu­ rückgewonnen. Nicht in objektiven systematischen Formen prägt A.a.O. (Buch 2, Kap.lOu. Buch 3, Kap.8) [Bd. I, S.491 u. Bd.II, S.377ff.]. 253 S. Georg Brandes, William Shakespeare, Paris/Leipzig/München 1896, S. 496 ff. 254 Montaigne, Essais (Buch 2, Kap. 10) [Bd. I, S.491 ff.]. 252

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Psychologie und Ästhetik

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sich diese Umwandlung aus, aber sie stellt sich mittelbar in dem Maße dar, als die Persönlichkeit Montaignes in der Fülle ihrer subjektiven Betätigungen und Interessen sich vor uns entfaltet. In diesem Zusam­ menhang wurzelt die unvergleichliche Eigenart von Montaignes phi­ losophischem Stil. Er selbst spricht es aus, daß die Schilderung | des eigenen Ich in seiner konkreten Wahrheit seine »Physik und Meta­ physik« bilde.255 Alle objektive Beobachtung und Erfahrung ordnet sich diesem einheitlichen Hauptzweck als Material und Mittel unter. Die Welt der Gegenstände bildet, an sich genommen, nur einen gleich­ gültigen und gleichförmigen Hintergrund; erst durch das Ich, das seine eigene Wesenheit auf sie projiziert, gewinnt sie Leben und Gestalt. Werk und Autor bilden daher hier eine untrennbare Einheit: »le n’ay pas plus faict mon livre, que mon livre m’a faict: livre consubstantiel ä son aucteur, d’une occupation propre, membre de ma vie, non d’une occupation et fin tierce et estrangiere, comme touts aultres livres.«256 Dennoch bliebe die neue literarische Kunstform, die damit ins Leben tritt, ohne innere philosophi­ sche Bedeutung, wenn das Ich, das sich in den »Essais« darstellt, nicht zugleich einen allgemeinen und objektiven Gehalt zum Aus­ druck brächte, wie wir ihn in den verschiedenen Phasen von Mon­ taignes Naturbegriff entstehen sahen. Das Individuum, sofern es sich nur rein in sich selber erfaßt, sofern es sich von aller Beschrän­ kung durch den Beruf und die besonderen gesellschaftlichen Ver­ bände, denen es angehört, freimacht, entdeckt in sich die geistige Grundform der Menschheit überhaupt. »Les aucteurs se communi quent au peuple par quelque marque speciale et estrangiere; moy, le premier, par mon estre universel; comme Michel de Montaigne, non comme grammairien, ou poete, ou iurisconsulte.«257 In dem literarischen Bilde der Renaissance bezeichnet die Selbst­ biographie in ihrer neuen Entwicklung einen wesentlichen und notwendigen Zug. Sie tritt uns in zwei Hauptformen entgegen, je nachdem sie, wie bei Cellini, den Menschen in der Bewegtheit des äußeren Lebens darstellt oder sich, wie bei Petrarca, grüblerisch in den »geheimen Kampf seiner Herzenssorgen« vertieft. Montaignes »Essais« stehen außerhalb dieser beiden Grundtypen. Von Petrarca sind sie von Anfang an durch Tendenz und Stimmung geschieden: Der Affekt der Reue, der bei ihm den Grundton bildet, wird von Mon­ taigne bewußt verworfen und als sittliches | Prinzip entwertet. Allge­ 255

256 257

A.a.O. (Buch 3, Kap. 13) [Bd. II, S.564ff.]. A.a.O. (Buch 2, Kap. 18) [S. 45]. A.a.O. (Buch 3, Kap.2) [S.221].

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Der Skeptizismus - Montaigne

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mein ist es nicht der Affekt, der in der Selbstschilderung Mon­ taignes zum Ausdruck drängt. Die »Essais« sind das Tagebuch seiner wechselnden »Phantasien« und Meinungen: Denn im Denken allein liegt die Wesenheit und Wahrheit des Menschen. Noch einmal zeigt sich uns hier die allgemeine theoretische Bedeutung und zugleich die innerliche Grenze der Skepsis. Die neuen Wertbegriffe, die sie erar­ beitet, bleiben auf das denkende Selbstbewußtsein beschränkt: Sie bestimmen und leiten das Urteil des Individuums, ohne seinen Wil­ len zu ergreifen. Jeder Versuch, die Schöpfung des Innern auf die äußere Welt zu übertragen, die äußeren Verhältnisse nach dem neuen Maßstab umzugestalten, wird abgewiesen. Die Bedeutung, die dem Zweifel als Prinzip zukommt, erweist sich hier von negativer Seite: Denn gerade dort, wo die Skepsis sich bescheidet, um sich den gege­ benen politischen und sozialen Mächten unterzuordnen, vermag auch der Begriff des sittlichen Selbstbewußtseins nicht zur Reife und Vollendung zu gelangen. Noch einmal enthüllt sich uns schließlich das Doppelantlitz der Skepsis, wenn wir uns der Kritik des religiösen Problems zuwen­ den. Zwar scheint hier der Weg eindeutig vorgezeichnet: Indem die Apologie des Raymond de Sabonde die rationale Theologie zerstörte, indem sie alle Beweise für das Dasein Gottes und für eine zwecktätige Leitung des Alls in ihrer Nichtigkeit erkennen ließ, hat sie damit zugleich den Offenbarungsglauben als den einzigen und echten Urgrund der Religion erwiesen. Vor ihm muß jede Frage der Vernunft verstummen: Der Zweifel hat seine höchste Aufgabe erfüllt, wenn es ihm gelungen ist, die fundamentalen Glaubenssätze gegen die Anfech­ tungen des kritischen Verstandes zu sichern und zu schützen. Und dennoch bedeutet auch diese letzte und scheinbar endgültige Antwort für Montaigne nur den Beginn einer neuen dialektischen Entwick­ lung. Überall finden wir den Gehalt der Religion an bestimmte menschliche Formen und Formeln gebunden und in ihre Mannigfal­ tigkeit verstrickt. Der Glaube, den wir aus unmittelbarer göttlicher Eingebung empfangen sollten, wird in Wahrheit durch den | Zufall der Geburt, durch die Laune des Parteigeistes und den Vorteil des Augen­ blicks bestimmt. Nur die Ethik wäre imstande, ein Kriterium zu liefern, das zwischen dem echten Gehalt der Offenbarung und unse­ ren willkürlichen Zutaten unterschiede; nur in der sittlichen Rück­ wirkung auf die Gesinnung und das Tun ihrer Bekenner kann die wahrhafte Wertdifferenz der Religionen liegen. »Alle übrigen Merk­ male, Hoffnung und Vertrauen, Zeremonien und Buße, Wunderbe­ richte und Märtyrer, sind allen Religionen gemein: Das besondere Zeugnis unserer Wahrheit müßte unsere Tugend sein, wie es zugleich

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Die anthropologische Kritik der Religion

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das göttlichste und schwerste ist.«268 Diese Forderung indes steht in unmittelbarem Widerstreit zu dem empirischen Bilde der Religion, das Geschichte und Kultur uns allenthalben darbieten. Nicht der Glaube ist es, der den Menschen nach sich gestaltet und bildet, son­ dern umgekehrt nimmt er alle Formen an, die unsere persönlichen Wünsche und Leidenschaften ihm aufdrücken. Die Einheit der ver­ schiedenen Sekten, die im Theoretischen vermißt wird - wir finden sie im praktischen sittlichen Verhalten, in dem gleichen Fanatismus und der gleichen Unduldsamkeit wieder, zu der jede einzelne von ihrer herrschenden Meinung getrieben wird. Überall spiegelt uns daher die Religion, in ihrer empirischen Erscheinung, nur die herrschende Rich­ tung unseres Willens wider: Die Menschennatur in all ihrer an­ thropologischen und ethnographischen Mannigfaltigkeit ist der »Naturgrund«, auf den sie zurückgeht. Und wenn in der Ethik, aller Relativität der äußeren Satzung zum Trotz, ein allgemeiner innerlich gültiger Maßstab zurückgewonnen wurde, so ist uns hier dieser Aus­ weg verschlossen: Denn welches Mittel des Selbstbewußtseins ver­ möchte ein seinem Begriffe nach transzendentes Sein zu sichern und zu verbürgen? So werden bei Montaigne die positiven Dogmen selbst zwar nirgends in den Kreis der Untersuchung hineingezogen; aber eben in dieser Absonderung liegt ihre schärfste, ironische Kritik: Denn jetzt gehören sie dem festen konventionellen Bestand der »Ge­ bräuche« an, dem der einzelne sich zu unterwerfen hat. Diese Abwendung von den theologischen Motiven und der Ge­ winn eines neuen Mittelpunktes der Betrachtung tritt vor | allem am Problem der Unsterblichkeit deutlich hervor. Das begriffliche Gewebe der rationalen Psychologie wird aufgelöst, indem sein Widerspruch zu den ersten Bedingungen unseres Wissens aufgedeckt wird: Von den Grundlagen unseres empirischen Daseins abstrahieren zu wollen, um eine neue Form des Seins zu erdichten, heißt alle siche­ ren Grenz- und Haltpunkte der Erkenntnis verrücken. Unser Den­ ken, das an irgendwelche sinnlichen Daten anknüpfen muß und auf sie verwiesen bleibt, vermag die Aufhebung der sinnlichen Erfahrungs­ welt nicht zu vollziehen, ohne damit sich selber und seine Funktion aufzuheben. Die Identität der Persönlichkeit, die wir als notwen­ digen Bestandteil der Unsterblichkeitslehre fordern müssen, verlangt zu ihrer Feststellung die Beziehung auf ebenjene materiellen Be-258 258 A.a.O. (Buch 2, Kap. 12) [Bd. I, S.532: »Toutes aultres apparences sont communes ä toutes religions; esperance, confiance, evenements, cerimonies, penitence, martyres: la marque peculiere de nostre Verite debvroit estre nostre vertu, comme eile est aussi la plus celeste marque et la plus difficile [...]«].

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Der Skeptizismus - Montaigne

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dingungen, die wir mit der Loslösung der »Seele« vom Körper ver­ nichtet denken. Der tiefere philosophische Gewinn indes liegt hier nicht in der dialektischen Zergliederung des Dogmas, sondern wie­ derum in der neuen Wertbetrachtung, die ihr zugrunde liegt. Das Problem des Todes steht im Mittelpunkt der ethischen Betrachtungen der »Essais«: »Philosophieren« heißt auch ihnen - wie in einem be­ kannten Kapitel ausgeführt wird - »Sterben lernen«.259 Aber nicht um den Ausblick in ein jenseitiges Sein, in dem das empirische Leben erst seinen Sinn und seine Vollendung erhielte, handelt es sich. Unser Da­ sein hat in sich selber sein eigenes Gesetz und seinen eigenen Schwer­ punkt gefunden. Jede Ansicht, die den Wert des Lebens herabsetzt, ist lächerlich: Denn immer bleibt es unser Sein, unser alles. »[...] c’est contre nature que nous nous mesprisons et mettons nous mesmes ä nonchaloir; c’est une maladie particuliere, et qui ne se veoid en aulcune aultre creature, de se ha’ir et desdaigner.«260 Der Moment des Todes ist nicht als ein Übergang zu einer neuen metaphysischen Ordnung der Dinge zu denken, sondern als ein notwendiges Glied der immanenten Naturgesetzlichkeit, die zu verstehen und anzuerkennen die letzte Aufgabe aller Philosophie ist. »>Verlasse diese Weltwie Du in sie eingetreten bist. Denselben Schritt, den Du vom Tode zum | Leben ohne Leiden und Furcht getan, tue ihn vom Leben zum Tode zurück. Dein Tod ist ein Glied des Uni­ versums, ein Glied im Leben des Alls. [...] Soll ich für Dich diese har­ monische Verkettung der Dinge aufheben? Er ist eine Bedingung Dei­ ner Erschaffung, ein Teil Deiner selbst, Du fliehst in ihm nur Dich selber.Sortez, dict eile, de ce monde, comme vous y estes entrez. Le mesme passage que vous feistes de la mort ä la vie, sans passion et sans frayeur, refaictes le de la vie ä la mort. Vostre mort est une des pieces de l’ordre de l’univers; c’est une piece de la vie du monde. [...] Changeray ie pas pour vous cette belle contexture des choses? C’est la condition de vostre creation; c’est une partie de vous, que la mort; vous vous fuyez vous mesmes.Vermögen< und Fähigkeiten ausstatten. Die Existenz jedes Dinges ist dadurch bedingt, daß es die Tendenz besitzt, von dem Einzelpunkte des Daseins, in den es zunächst gesetzt scheint, fortzuwirken, sich auszubreiten und sich zu vervielfältigen.«9 Die Wirklichkeit des Naturkörpers enthält eine Vielheit räumlicher Glie­ derungen sowie ein Nacheinander zeitlicher Entwicklungsphasen in sich: Beides können wir nur verstehen, wenn wir die Mehrheit auf eine Einheit zurückbeziehen, die sich in ihr entfaltet und offenbart. Diese Einheit in der Mannigfaltigkeit, die wir in dem Begriff der unteilbaren qualitativ einfachen Kraft im Gegensatz zu ihren sukzessiven Äuße­ rungen | denken, bezeichnet zugleich den Grundcharakter dessen, was wir Leben nennen: »Vita dicitur a vi [...]«10 Es gibt kein Sein ohne Wirken, kein Wirken ohne ein Analogon des Bewußtseins: Alle Exi­ stenz ist somit ihrer selbst bewußtes Leben.11 Innerhalb dieser Allein­ heitslehre aber geht das Einzelne dennoch nicht restlos im Absoluten 8 Tommaso Campanella, De sensu rerum et magia, libri quatuor. Pars mirabi­ lis occultae philosophiae, ubi demonstratur, mundum esse Dei vivam statuam, beneque cognoscentem; omnesque illius partes, partiumque particulas sensu donatas esse, alias clariori, alias obscuriori, quantus sufficit ipsasum conservationi ac totius, in quo consentiunt; et fere omnium naturae arcanorum rationes ape­ riuntur (Buch 1, Kap. 2), hrsg. v. Tobias Adami, Frankfurt a. Μ. 1620, S. 3. 9 »Ens nullum videtur esse, nisi quia potest esse. [...] Entis quoque fundatio est Potestas. [...] Dicitur enim potens, quod in aliud se se ipsum diffundere, am­ plificare, et multiplicare aptum est.« Ders., Metaphysik (Teil 2, Buch 6, Kap. 5, Art. 1), S. 20. 10 A.a.O. (Teil 3, Buch 18, Kap. 1, Art. 1), S.249: »Vita dicitur a vi, hoc est essendi virtute potestateque: ea igitur ratione, qua sunt Entia cuncta, vivunt [...]« 11 A. a. O. (Teii 2, Buch 6, Kap. 7, Art. 1), S. 39: »Ecce videmus quidem ens esse, quia novit esse: et nullum ens reperiri sui inscium [...]«

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Die Naturphilosophie

211-212

unter, sondern bedeutet ihm gegenüber ein eigenes Problem und einen neuen Anspruch. Es ist ein vergeblicher Versuch, alle Wirksamkeit der Natur auf das göttliche Urwesen zurückzuführen und in ihm erschöpfend begründen zu wollen: Das konkrete Geschehen verlangt zu seiner Erklärung überall eigentümliche und individuelle Prinzi­ pien. Nicht Gott ist es, der - wie eine bestimmte metaphysische Theo­ rie es will - in der Flamme nach oben strebt und in der Sonne leuch­ tet, sondern die eigene spezifische Natur des Feuers und des Lichts. Die Vollkommenheit der Naturdinge beweist sich eben darin, daß sie in sich selbst den Keim und das Vermögen zur Selbsterhaltung besit­ zen. So ist insbesondere die menschliche Seele der Notwendigkeit eines übernatürlichen Beistands enthoben: Sie selber, nicht eine jen­ seitige Macht ist es, die unsere Gedanken denkt und unser Wollen und Tun leitet. Die besonderen Akte des Geschehens verlangen zu ihrem Verständnis überall die Zurückführung auf besondere Kräfte und damit, im letzten Sinne, auf besondere Bewußtseinszentren und Ein­ heiten.12 | In diesen Ausführungen Campanellas ist genau das Problem bezeichnet, das sich später zu dem metaphysischen Gegensatz des Okkasionalismus und der prästabilierten Harmonie verdichtet hat.13

12 »Si enim omnia opera Dei perfecta sunt [...] fateri oportet, eas rebus vires ab eolargitas esse, quae ipsarum conservationi sufficiant. [...] Ergo est negare igni propriam naturam atque formam, cum asserunt Deum ire sursum cum igne et lucere in sole [...] Sequitur etiam non sentire nec intelligere animam humanam, sed Deum in illa; ipsumque adpetere et operari nostras operationes et adpetitiones, tam malas quam bonas. [...] Hae aliaeque alibi positae rationes ostendunt, res a se agere. [...] [et] ad particulares actus particulares causas agentes requiri; ut calor vere calefaciat, et non Deus in illo, sed cum illo. [...] Construxit sane Deus orbem, et creavit res, viresque se | conservandi, ac mutandi se mutuo per tempora dedit, illae autem vires perseverant tanquam Natura, donec tota rerum machina ad suum magnum mutetur finem.« Campanella, De sensu rerum et magia (Buch 1, Kap. 6), S. 17ff. Vgl. Ber­ nardino Telesio, De rerum natura iuxta propria principia libri IX (Buch 4, Kap. 24), in: Tractationum philosophicarum tomus unus. Opus multiplici erudi­ tione refertum ac literarum humanarum sacrarumque studiosis omnibus apprime necessarium, Genf 1588, Sp. 553-964: Sp.728: »At Dei sapientiam bonitatemque in reliquis contemplatus quivis, illud etiam simul intueatur, posse quidem quae­ cunque velit facere Deum, qui mundum universum e nihilo condiderit: sed non eo illum pacto constituisse, ut entia ad proprias edendas operationes nova poten­ tia operandi assidue indigeant, sed singula a Deo ipso propria natura propriasque operandi operationes facultate donata, iuxta pro­ priam singula operari naturam [...]« 13 Vgl. bes. Leibniz’ Abhandlung »De ipsa natura sive de vi insita actionibus­ que creaturarum« [Gottfried Willhelm Leibniz, De ipsa natura sive de vi insita

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Die Kritik des Potenzbegriffs

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Allgemein beginnt hier der Begriff der Kraft jene bestimmtere und schärfere Form anzunehmen, in welcher er später von Leibniz dem »nackten Vermögen« der Scholastiker entgegengesetzt wird. An dem Aristotelischen Begriff der »Potenz« haftet von seiner Entstehung an eine innere Zweideutigkeit. Indem Aristoteles den Begriff der abso­ luten Materie, den Begriff einer Materie ohne jegliche Formbe­ stimmtheit, konzipiert, hat er damit einen reinen Grenzbegriff des Denkens in eine metaphysische Wesensbestimmung verwandelt. Ein Gedanke, der lediglich einer logischen Verneinung entstammt, wird zu einem realen Faktor des Werdens und Naturgeschehens. Die Scholastik versucht vergeblich, in diesem Widerstreit eine Ausglei­ chung zu finden: Sie vermag nur zwischen den beiden Gesichtspunk­ ten, die durch ihn bezeichnet sind, abzuwechseln. Die Potenz erscheint ihr daher bald als das Mögliche im Sinne eines bloß abstrak­ ten Beziehungsbegriffs, bald als ein eigenes selbständiges Etwas, das von sich selbst der Verwirklichung entgegenstrebt. Der Streit der Alexandristen und Averroisten hatte sich wesentlich auf diese Frage bezogen: Ist die Materie bloße »Possibilität«, ist sie lediglich | die pas­ sive Grundlage der Veränderung, die alle Gestaltung von den Formen erwartet, die an sie herantreten, oder besitzt sie eine eigene und selb­ ständige Wirksamkeit ? Jean de Jandun, ein berühmter Aristoteliker des 15. Jahrhunderts, hatte sich in dieser Frage bereits, entge­ gen der averroistischen Grundansicht, die er im allgemeinen vertritt, für das letztere entschieden: Die Potenz bedeutet, wie er ausdrücklich betont, keine bloße Beziehung, die unser Denken in die Materie hin­ einlegt, sondern sie ist als ein reales Etwas in ihr vorhanden und wirk­ sam.14 An diese Entwicklung, die sich innerhalb der aristotelischen Schule selbst vollzogen hatte, knüpft nunmehr die Naturphilosophie der Renaissance überall an. Schon bei Cardano wird hervorgeho­ ben, daß die Materie nicht lediglich als ein Bestimmungsloses, sondern als eine eigene Weise der Bestimmtheit zu fassen sei und daß ihr somit eine durchaus positive »Wirklichkeit« zukomme.15 Teles io und actionibusque creaturarum, pro dynamicis suis confirmandis illustrandisque, in: Philosophische Schriften, Bd. IV, S. 504-516]. 14 »Fuit opinio aliquorum quod potentia passiva esset de genere materiae, ita ut potentia nihil reale diceret, sed rationis tantum. Relatio nihil addit; potentia autem materiae esset relatio. Sed potentia addit aliquid reale super materiam.« Jean de Jandun, Quaestiones singulares super libro De substantia orbis (1486) (zitiert nach: Mabilleau, Philosophie de la Renaissance, S. 152, Anm. 1). 15 Geronimo Cardano, De subtilitate libri 21 (Buch 1), in: Opera omnia, Bd.III, fol. 353-672: fol. 359: »Manifestum est igitur aliquid esse in rerum natura sub forma latitans, quod nec per generationem fit, nec corruptione ipsa interit:

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Die Naturphilosophie

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Patrizi verschärfen diesen Gedanken, indem sie eine neue Darlegung der Beziehung von Form und Materie suchen, die sich außerhalb der traditionellen Begriffsgegensätze hält. Die Art, wie die Dinge in ihrem »Samen« enthalten sind, bildet - wie hier ausgeführt wird - ein fun­ damentales sachliches GrundVerhältnis, das durch die herkömmliche Unterscheidung von Akt und Potenz eher verhüllt als verdeutlicht wird. Denn der gegenwärtige Zustand besitzt, | sofern er als Keim und schöpferische Bedingung künftiger Zustände und Veränderungen gedacht wird, zugleich das höchste »aktuelle« Sein - er ist »wirklich«, weil er ein eigentümlicher und notwendiger Faktor im Prozeß des Wirkens selbst ist. Eine andere Art des Seins aber kann es nicht geben: Die Naturbetrachtung kennt nur solche »Wesenheiten«, die sich in tatsächlichen Kräften und Tätigkeiten äußern. Die Annahme eines Vermögens, das nicht in sich selbst das Streben zu seiner Verwirkli­ chung trägt, sondern als gleichgültiges Substrat alle Bestimmung von außen erwartet, ist ein haltloses logisches Zwitterding. Sie macht eine subjektive gedankliche Vergleichung, die wir zwischen dem gegen­ wärtigen und künftigen Zustand anstellen, zu einem eigenen und selbstständigen Sein. So beruht - wie jetzt im einzelnen gezeigt wird - die Zweiteilung, die die gesamte peripatetische Naturlehre beherrscht, auf einer ontologischen Verwechslung. Die empiri­ sche Betrachtung der Natur bietet zu einer derartigen Verdoppelung der Prinzipien keinerlei Anlaß. Sie sieht in den räumlich und zeitlich ausgebreiteten Dingen nur die extensive Gestalt und Erschei­ nungsform derselben Kräfte, die intensiv bereits im »Samen« ein­ geschlossen sind und seine eigentliche Realität ausmachen.161 atque hoc ipsum ut primum quoddam, et quod multis subiicitur formis, materiam primam vocare solemus ingenitam, et nunquam interituram. Manet autem atque est: quod enim manet est. Materia igitur actu est talis, qualem descripsimus: verum formis comparata, potentia est: illas enim suscipere potest. Ad formam igitur com­ parata materia, potentia est, in seipsa vero actu.« 16 »At quo modo [res] in semine existerunt? Dicam (si liceat ita fari) seminali ter. Eo scilicet modo, quo semini convenit. Quo semen ea capit. Actu ne, an poten­ tia? Peripatus rogabit. Respondebimus actu. Nihil enim e se producit quicquam, quin, et producens sit actu, et productum itidem actu. Agit enim nihil, nisi quod est actu. [...] Valeat ergo Peripati potentia quae nil, nisi respectum futurae rei sig­ nificat. [...] Nihil [...] agit, nisi quod agere potest. Posse hoc, ab actu, et essentia provenit. Essentia autem cuiuscumque est existentia in actu, vires habens, et a viribus, actiones. [...] Et vis, ab essentia quasi stante provenit. Et est in ea, et eius quaedam extensio, et actionis interna quaedam praeparatio. Prout actio est, virium ipsarum ad extra protensio, et proprii operis adimpletio.« Francesco Patrizi, Panarchia. De rerum principiis primis (Buch IV), in: Nova de universis philosophia. In qua Aristotelica methodo non per motum, sed per lucem, et lumina, ad primam causam ascenditur. Deinde propria Patricii methodo;

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Die Definition der Substanz

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Damit aber sind wir zu einer eingreifenden Kritik des Substanzbe­ griffs überhaupt gelangt, die nunmehr von Patrizi im einzelnen durchgeführt wird. »Man eröffne uns endlich jenes Allerheiligste, jenes Geheimnis aller Geheimnisse, von dem beständig die Rede ist, ohne daß es uns jemals vor Augen gestellt wird. Was ist die Substanz? Nach der Sache, nicht nach dem Namen frage ich: um zu erfahren, ob die Form in Wirklichkeit, nicht nur dem Namen nach, die Substanz bildet. Man antwortet mir zunächst, Substanz sei das, was dem Dinge das Sein gibt. Gibt aber - so frage ich weiter - nur die Form dem Dinge das Sein oder auch die Materie? Beides, entgegnet man, nur gibt die Materie lediglich ein potentielles, die Form dagegen das aktuelle Sein.« Aber hier entsteht ein neuer Zweifel: Genügen nicht die bestimmten Qualitäten des Warmen und Kalten, des Feuchten und Trocknen, des Schweren und Leichten, um die besonderen Gestaltungen der Materie zu erklären? Sind es also nicht diese Qualitäten, die den besonderen Körpern ihre spezifische Seinsart geben? »Man zaudert lange: Endlich aber erwidert man, die Form sei das, was das Wesent­ liche in einer Sache bilde und woraus ihre eigentümlichen Betäti­ gungsweisen entsprängen.« Aber ist dasjenige, was z.B. dem Feuer wesentlich ist, nicht gerade die Wärme und die sonstigen mit ihr zusammenhängenden Eigenschaften, da doch alle Tätigkeiten des Feuers, das Wärmen, das Dörren, das Verdünnen usw., lediglich von ihr herstammen? So bildet also die Wärme die »Form« des Feuers, die sich damit in eine Summe von »Akzidenzien« auflöst. »Wenn die Aristoteliker uns alle diese Schwierigkeiten lösen, so wollen wir uns gern vor der Subtilität ihrer Philosophie beugen; lösen sie sie nicht, so mögen sie die Richtigkeit unseres Schlusses zugestehen. [...] Man gebe uns endlich nach so vielen Jahrhunderten eine allgemeingültige Defi­ nition der Substanz [...] oder man höre auf, in der Philosophie jene einförmige alte Weise zu wiederholen: Die Form ist Substanz, weil sie das Wesentliche in der Sache bildet, weil sie Tätigkeiten, die der | Sache

tota in contemplationem venit divinitas: Postremo methodo Platonica, rerum uni­ versitas, a conditore Deo deducitur, Ferrara 1591, Teil 2, fol. 1 b-48 b: fol. 8 a. Vgl. bes. Francesco Patrizi, Discussiones Peripateticae tomi IV. Quibus Aristotelicae philosophiae universa historia atque dogmata cum veterum placitis collata, ele­ ganter et erudite declarantur, Bd. IV, Basel 1581, S.396f.: »Falso ergo dictum [...] materiam omnino sui natura, esse omni forma nudam, potentiam habere ad omnes formas, nihil aliud esse, quam puram potentiam. Actu enim est id quod est. For­ mas primas semper possidet, nunquam deponit. [...] Nihil enim absurdius quam materiam istam, quae | ex Peripati dogmate nihil prope est, non ens est, pura potentia est sui natura informis: omnes omnium rerum formas habere, quae entia sunt, actus sunt pulcherrimae sunt.«

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Die Naturphilosophie

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eigentümlich sind, hervorbringt, weil sie dem Dinge das Sein gibt, weil sie das τδ ü ήν είναι, das >Wasqui intelligit, aut mm aut nihil intelligit.entia cogitationisPerzeptionen< und unseren >Ideen< besteht also derselbe Unterschied wie zwi­ schen uns als erkennenden Subjekten und dem, was von uns erkannt wird.«201 | Noch deutlicher tritt dies hervor, wenn wir erwägen, daß 201 Malebranche, Reponse ä Regis (Kap. 2), S. 165 f. [»Je vois clairement que si du sommet d’un angle d’un quarre, je tire une ligne droite qui coupe par le milieu

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Die Idee des Unendlichen und die Mathematik

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die mathematischen Begriffe jederzeit ein Allgemeines bedeuten, das sich nicht in einer begrenzten Anzahl von Beispielen erschöpft, sondern schlechterdings eine unendliche Mannigfaltigkeit von Fällen in sich schließt: während unsere Perzeption uns stets nur einen ver­ einzelten momentanen Zustand des Bewußtseins erschließt und für ihn einzustehen vermag.202 Die Unterscheidung zwischen dem »In­ halt« und dem »Gegenstand« des Bewußtseins, wie sie die neue Psy­ chologie getroffen hat, ist also hier, in der Entgegensetzung von »Idee« und »Perzeption«, bereits aufs klarste vollzogen. Wären wir auf das Material beschränkt, das die verschiedenen Zuständlichkeiten unseres Bewußtseins uns bieten, so wäre jeder Begriff, den wir fassen können, nichts anderes als eine Anhäufung von Einzelvorstellungen. Die Idee des Kreises würde nichts anderes bedeuten als das verwor­ rene Gesamtbild, das aus den wiederholten Wahrnehmungen wirkli­ cher Kreise in uns entsteht. Damit aber wäre sie ihres eigentlichen Kerns und ihres wissenschaftlichen Gehalts beraubt. Denn gerade dies ist das Vorrecht des mathematischen Begriffs, daß er nicht induktorisch zusammengelesen wird, sondern daß wir in ihm eine ursprüng­ liche Regel besitzen, vermöge deren wir die künftige Erfahrung, ver­ möge deren wir die Allheit der Fälle im voraus umgrenzen. Die Einzelexemplare, die wir durchlaufen, dienen uns nur zum psycholo­ gischen Halt- und Stützpunkt, um uns dieser Allheit zu versichern; die umschließende Gattungseinheit bezeichnet nicht die Summe, son­ dern die Voraussetzung der besonderen Fälle. Wenn irgendwo, so kommt in der modernen Mathematik dieses Verhältnis zu unbe­ schränkter und zwingender Darstellung. Das Grundprinzip des Unendlichen ist der deutlichste und | schärfste Protest gegen die herkömmliche psychologische Theorie der Begriffsbildung; es beun des cötez opposez, le triangle qu’elle retranchera du quarre, en sera le quart [...] Que le quarre de cette diagonale sera double du quarre [...] Mais je connois si peu la modification de mon esprit, ou la perception que j’ai de l’idee du quarre, que je n’y puis rien decouvrir. Je sens bien que c’est moi qui appergois cette idee: mais mon sentiment interrieur ne m’apprend point, comment il faut que mon ame soit modifiee, afin que j’aye la perception intellectuelle ou la perception sensible de blancheur, pour connoitre ou voir une teile figure. [...] Enfin la difference qu’il y a entre nos perceptions et les idees me paroit aussi claire que celle qui est entre nous qui connoissons, et ce que nous connoissons.«]. 202 »Toutes les modalitez d’un etre particulier, tel qu’est notre ame, sont necessairement particulieres. Or quand on pense ä un cercle en general, l’idee ou l’objet immediat de l’ame, n’est rien de particulier. Donc l’idee du cercle en general n’est Point une modalite de l’ame.« A.a.O. (Nr.21), S. 174. Vgl. Nicole Male­ branche, Reponse au livre de Mr. Arnaud, Des vrayes et des faußes Idees (Kap. 6, Abschn. 12), in: Recueil, Bd. I, S. 1-318: S. 90 u. s.

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Die Ideenlehre - Malebranche

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zeichnet die innere Unmöglichkeit jenes Abschlusses, der hier ver­ langt und vorausgesetzt wird.203 Das Verhältnis, das zwischen der Hyperbel und ihrer Asymptote besteht, kann ich mir nicht ver­ deutlichen, indem ich beide Linien in ihren einzelnen Teilen verfolge und die mannigfaltigen »Perzeptionen«, die ich auf diese Weise gewinne, miteinander vergleiche: Einzig die umfassende »Idee«, die einheitliche mathematische Formel der Hyperbel, vermag mich dar­ über zu belehren.204 Allgemein ist es die Beziehung zwischen dem einen und allumfassenden Raume und seinen einzelnen Teilen und Gestaltungen, die für das Problem, das hier vorliegt, das vorbildliche Beispiel gibt. Die Idee der einen Ausdehnung ist nicht das Produkt aus dem Zusammenfließen der besonderen Figuren; sie ist die allgemeine Bedingung, die die Bildung und Abgrenzung des Einzelnen erst ermöglicht.205 So stehen wir hier vor einem | merkwürdigen Ergebnis: Die reine Erkenntnis selbst, wie sie in den Grunddisziplinen der Mathematik, der Geometrie und der Analysis unzweifelhaft vor uns liegt, führt uns zu einer Klasse von Objekten, die über die Einzelin­ halte und Zuständlichkeiten des Bewußtseins deutlich hinaus wei­ sen. Diesen Sachverhalt können wir nicht anders als durch die Vor­ aussetzung erklären, daß der Quell dieser Erkenntnisse nicht in uns selbst liegt, sondern daß es eine jenseitige geistige Wesenheit ist,

203 »L’idee de ce cercle en general, direz-vous, n’est donc que l’assemblage confus des cercles auxquels j’ai pense. Certainement cette consequence est fausse; car l’idee du cercle en general represente des cercles infinis, et leur convient ä tous; et vous n’avez pense qu’ä un nombre fini de cercles. C’est donc plutot que vous avez trouve le secret de former l’idee de cercle en general de cinq ou six que vous avez vus. [...] vous avez, pour ainsi dire, forme l’idee de cercle en general en repan­ dant l’idee de la generalite sur les idees confuses des cercles que vous avez imagines. Mais je vous soutiens que vous ne sauriez former des idees generales que parce que vous trouvez dans l’idee de l’infini assez de realite pour donner de la generalite ä vos idees.« Ders., Entretiens sur la metaphysique (Nr. 2, §9), S. 65. 204 Ders., Reponse au livre de Arnaud (Kap. 8, Abschn. 6), S. 107. 205 Vgl. ders., Recherche de la verite (Buch 3, Teil 2, Kap. 6), Bd I, S.218: »[...] afin que nous concevions un etre fini, il faut necessairement retrancher quelque chose de cette notion generale de l’etre, laquelle par consequent doit preceder. Ainsi l’esprit n’appergoit aucune chose que dans l’idee qu’il a de l’infini: et taut s’en faut que cette idee soit formee de l’as­ semblage confus de toutes les idees des etres particuliers, comme le pensent les Philosophes; qu’au contraire toutes ces idees particulieres ne sont que des participations de l’idee generale de l’infini [...]« Vgl. zu diesen Sätzen jetzt die Aus­ führungen | von Artur Buchenau, Über den Begriff des Unendlichen und der intelligibelen Ausdehnung bei Malebranche und die Beziehung des letzteren zum Kan tischen Raumbegriff, in: Kantstudien 14 (1909), S. 440-467.

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Der Begriff der »intelligiblen Ausdehnung«

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die sich uns in ihnen mitteilt und die ihre eigene Gewißheit und Klar­ heit auf uns überträgt. Wenn ich an die Gestalten der Geometrie denke, so errichte ich in meinem Geiste ein Gebäude, so arbeite ich auf einem Baugrund, der nicht mein eigen ist: »Cela ne vient point de la modalite qui nous est propre et particuliere; c’est un eclat de la sub­ stance lumineuse de notre maitre commun.«206 Damit ist der letzte entscheidende Schritt getan, ist der Übergang von Descartes zu Augustin vollzogen.207 Aber der Grundgedanke Augustins erhält hier, wo er mit den Prinzipien der modernen Er­ kenntnistheorie zusammentrifft und mit ihnen verschmilzt, allum­ fassende Bedeutung und Durchbildung. Was für die ewigen und not­ wendigen Wahrheiten, das gilt damit auch für die besonderen Erkenntnisse, deren Vorbild und Bedingung sie sind. So erstreckt sich der metaphysische Hauptsatz des Systems nunmehr unmittelbar auf alles gegenständliche Wissen überhaupt. Wir begreifen erst jetzt den Wert der vorangehenden Reduktion, vermöge deren die Objekte sich uns in Erscheinungen auflösten.208 Wenn es für uns keine anderen als intelligible Objekte gibt, wenn alles Intelligible aber ein Beharrli­ ches und Dauerndes enthält, das von unserem | wandelbaren Ich nur ergriffen, nicht erschaffen werden kann, so verstehen wir den Satz, »daß wir alle Dinge in Gott schauen«,209 als notwendige Fol­ gerung. In der Tat: Was ist der wirkliche Gegenstand jeder Wahrneh­ mung - wenn wir von den rein »subjektiven« Qualitäten wie der Farbe, der Härte usf. absehen - anders als ein bestimmt umgrenzter und gestal­ teter Teil der Ausdehnung?210 Stammt aber die Idee der Ausdehnung, als ein Unendliches, nicht aus dem Grunde unseres empirischen Selbst, sondern muß sie von außen auf uns übertragen werden, so sehen wir, daß wir die Mitwirkung der intelligiblen Welt der Ideen auch bei dem 206 Malebranche, Entretiens sur la metaphysique (Nr. 5, §12), S. 124f. [Zitat S. 125]. - Vgl. bes. a. a. O. (Nr. 2, § 10), S. 67: »[...] encore un coup, vous ne sauriez tirer de votre fonds cette idee de la generalite. Elle a trop de realite; il faut que l’infini vous la fournisse de son abondance.« S.ferner Malebranche, Recherche de la verite (Buch 2, Teil 2, Kap.6), Bd.I, S.216ff. und a. a.O. (Buch 6, Teil 2, Kap. 3), Bd. II, S. 39, 42 u. ö. 207 S. oben, S. 422 ff. 208 S. oben, S. 466 f. 209 [Vg/. oben, 8.78.} 210 »[...] on voit ou l’on sent tel corps, lorsque son idee, c’est ä dire, lorsque teile figure d’etendue intelligible et generale devient sensible et particuliere par la couleur, ou par quelque’autre perception sensible, dont son idee affecte l’ame, et que l’ame y attache; car l’ame repand presque toüjours sa Sensation sur l’idee qui la frappe vivement« etc. Vgl. die genauere Ausführung: Malebranche, Eclaircissements (Nr. 10), S. 267 ff. [Zitat S.267] u. Reponse ä Regis (Kap. 2), S. 160 ff.

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Die Ideenlehre - Malebranche

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einfachsten empirischen Wahrnehmungsakt nicht entbehren können. Die Summe der einzelnen Empfindungen - diesen Satz übernimmt Malebranche als grundlegende Voraussetzung aus Descartes’ Ana­ lyse des Wahrnehmungsprozesses - gibt uns niemals die Gewißheit eines äußeren Gegenstandes; erst die mathematischen Begriffe und Urteile sind es, die ihn bestimmen und vollenden. Augustin vermochte die volle Bedeutung seines eigenen Gedankens nicht zu ermessen, weil er in bezug auf die Empfindung das gewöhnliche Vorurteil teilt, weil ihm, der in den subjektiven Qualitäten Eigenschaften der Dinge selbst sieht, das konkrete Objekt der Erfahrung unmittelbar durch die Sinne gegeben gilt.211 Damit aber ist ein eigenes Gebiet niederer Erkennt­ nis | abgegrenzt und anerkannt, das dem Reich der ewigen und not­ wendigen Wahrheiten selbständig gegenübertritt. Die moderne Auf­ fassung vermag diese Trennung, die der Einheit ihrer Methode widerstreitet, nicht länger aufrechtzuerhalten. Wie sie seit Nikolaus von Kues die reinen gedanklichen Operationen nicht losgelöst betrach­ tet, sondern ihre Wirkung bis in den sinnlichen Eindruck selbst ver­ folgt, so kennt sie keine unbedingte Scheidewand mehr zwischen der intelligiblen und der Erfahrungswelt: Beide sind ihr nur in- und mit­ einander bekannt und gegeben.

211 Vgl. bes. ders., Premiere lettre, dans laquelle FAuteur justifie son sentiment sur la Nature des Idees, contre l’accusation de Mr. Arnaud, in: Recueil, Bd. I, S.321-477: S.334ff.: »[...] apres y avoir regarde de pres, je m’appergus que ce Pere [St. Augustin] ne parloit que des veritez et des loix eternelles, des objets des Sciences, tels que sont 1’Arithmetique, la Geometrie, la Morale; et qu’il n’assuroit point que Fon vit en Dieu les choses corruptibles ou sujettes au changement, comme sont tous les objets qui nous environnent. [...] Mais [...] la raison pour laquelle il n’a point parle comme j’ai fait, et n’a point assure que Fon vit en Dieu les objets sensibles au sens que je Fentens, | c’est, si je ne me trompe [...] que de son temps on n’avoit point decouvert que les qualitez sensibles n’etoient point repandues dans les objets de nos sens. [...] S.Augustin m’ayant donc ouvert heureusement Fesprit sur le sujet que j’examinois; et ayant appris de Mr. Descartes, que la couleur, la chaleur, la douleur ne sont que des modalitez de l’ame [...] je pouvois assurer qu’on voyoit, ou qu’on connoissoit en Dieu meme les objets materiels et cor­ ruptibles, autant qu’on est capable de les voir et de les connoitre [...] Car enfin, selon S. Augustin, c’est immediatement dans la Sagesse Eternelle qu’on voit l’etendue, j’entends l’etendue intelligible, qui est l’objet de la Science des Geometres [...] AinsijepuisdirequejevoisenDieulescorps: car bien qu’ils soient en eux-memes sujets au changement, je les voi ou connois dans retendu'e intelligible, quoi qu’immuable et eternelle: je les voi, dis-je, comme presens actuellement, ä cause de la couleur et des autres sentiments qui s’excitent en moi ä leur presence.« Vgl. bes. ders., Reponse au livre de Arnaud (Kap. 7 u. 9), S. 93 ff. u. S. 121.

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Das Problem der ewigen Wahrheiten

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In allen diesen Ausführungen erkennt man deutlich die eigentüm­ liche historische Mittelstellung, die Malebranches Lehre einnimmt. Sein System ist der Versuch, auf eine neue Frage, die er in aller Schärfe erkennt und heraushebt, mit gedanklichen Mitteln zu antworten, die der Vergangenheit der Philosophie angehören. Das Problem, das ihn fesselt und auf das selbst alle seine metaphysischen und theologischen Gedanken zurückweisen, ist die Notwendigkeit der wissen­ schaftlichen Grundwahrheiten. Die beharrliche und aus­ schließliche Richtung auf dies zentrale Interesse der Erkenntnis bezeichnet ihn als modernen Denker. Er glaubt sich dem metaphysi­ schen Vorurteil, er | glaubt sich der Scholastik entrückt, wenn er von ihren »Entitäten« und Kräften überall zu den Ideen und Wahrhei­ ten als den ursprünglichen Anfängen zurückgeht. Aber die Ideen selbst bedürfen für ihn schließlich, um ihre universelle Geltung nicht einzubüßen, der Stütze in irgendeiner Existenz, und da die wandelba­ ren und vergänglichen Vorstellungen in unserem Ich ihnen eine der­ artige Stütze nicht zu bieten vermögen, so müssen sie zu Dingen einer jenseitigen geistigen Wirklichkeit, zu Inhalten des göttlichen Verstan­ des werden. So wandelt sich die reine Funktion der Geltung, die Malebranche überall treffend heraushebt und kennzeichnet, zuletzt dennoch in ein besonderes, für sich bestehendes Objekt. Der Ideal­ begriff der »Vernunft« als eines Ganzen allgemeingültiger und unver­ änderlicher Prinzipien der Beurteilung, auf die wir die jeweilige ver­ änderliche Einzelerscheinung beziehen, geht in ihren Realbegriff, in das Sein eines notwendigen und ewigen geistigen Subjekts über. Die Ideen werden zu selbständigen wirksamen Kräften, die von außen auf unser Bewußtsein, das sich ihnen gegenüber rein passiv verhält, ein­ dringen.212 Es ist sachlich lehrreich und aufklärend, von hier aus auf die philo­ sophischen Streitschriften zwischen Malebranche und Arnauld herüberzublicken. Die Vorzüge wie die Mängel der Ideenlehre treten nirgends so deutlich hervor wie in dieser Diskussion, in der Male212 »[...] la meme idee peut, par son efficace, car tout ce qui est en Dieu est efficace, peut, dis-je, affecter l’ame de differentes perceptions [...]« Malebranche, Brief an Mairan vom 12. Juni 1714, S.309f. Vgl. Nicole Malebran­ che, Entretien d’un philosophe chretien avec un philosophe chinois sur l’existance et la nature de Dieu, in: CEuvres, Bd. I, S. 567-597: S. 572: »C’est donc par l’action des idees sur notre esprit que nous voyons les objets; c’est aussi par l’action des idees que nous sentons notre propre corps [...]« Ferner ders., Recherche de la verite (Buch 3, Teil 2, Kap.6), Bd.I, S.218: »Il est certain que les idees sont efficaces, puisqu’elles agissent dans l’esprit, et qu’elles l’eclairent, puis qu’elles le rendent heureux ou malheureux [...]« etc.

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Die Ideenlehre - Malebranche

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branche sich gezwungen sieht, überall auf die Grundmotive zurück­ zugehen und seine Gedanken auf ihre wesentliche Einheit zusam­ menzuziehen. Der Einwand, den Arnauld von Anfang an erhebt, trifft das System in der | Tat an einer verwundbaren Stelle. Jede Vorstel­ lung - so führt er aus - enthält, wenngleich sie an sich ein einheitli­ ches Ganze ist, dennoch eine doppelte Beziehung in sich: auf die Seele, die durch sie modifiziert wird, und auf den Gegenstand, den wir in ihr denken. Wenn Malebranches Scheidung zwischen Perzeption und Idee, zwischen dem erkennenden Ich und dem, was von ihm erkannt wird, keine andere Bedeutung haben will, als diese zweifache Relation und ihre gedankliche Notwendigkeit zum Ausdruck zu bringen, so besteht sie völlig zu Recht. In diesem Falle aber muß daran festgehalten werden, daß es sich hier nicht um zwei gesonderte Wesenheiten, sondern um ein und dieselbe Bestimmung des Be­ wußtseins handelt, die nur von zwei verschiedenen Seiten her beur­ teilt wird. Beide Betrachtungen sind gleich ursprünglich und not­ wendig; wir beziehen den Eindruck ebenso unmittelbar auf einen äußeren Gegenstand, wie wir ihn als eine Zuständlichkeit unseres »Ich« denken.213 Es ist vergeblich, nach dem »Grunde« dieser Eigen­ art unseres Bewußtseins forschen zu wollen; denn jede Erklärung, jede Theorie würde dieses Urphänomen immer bereits enthalten, vermöchte also nur scheinbar, hinter dasselbe zurückzugehen.214 Müßig ist es vor allem zu fragen, wie das außer uns, an einem bestimmten Orte des Raumes befindliche Ding es anfängt, in unser Ich überzugehen, wie es mit ihm zusammenfließt und ihm innerlich »gegenwärtig« wird. In Problemen dieser Art werden Gesichts­ punkte, die nur innerhalb der räumlich-zeitlichen Erfahrung ihren Sinn | und ihre Geltung haben, auf die Ableitung des Bewußtseins und der Erfahrung überhaupt angewendet, wird ein Verhältnis, das nur zwischen den fertigen Dingen statthat, einer Lehre zugrunde gelegt, die das Zustandekommen gegenständlicher Erkenntnis erklären soll. Ebendiese Verwechslung einer ursprünglichen gedanklichen Bezie­ hung mit tatsächlichen empirischen Verhältnissen ist es, die Arnauld 213 »J’ai dit que je prenois pour la meme chose la perception et l’idee. Il faut neanmoins remarquer, que cette chose, quoiqu’unique, a deux rapports: Fun ä Farne, qu’elle modifie: Fautre ä la chose appergue, en tant qu’elle est objectivement dans Farne [...] Cette remarque est tres-importante pour resoudre beaucoup de difficultes, qui ne sont fondees que sur ce qu’on ne comprend pas assez, que ce ne sont point deux entites differentes, mais une meme modification de notre ame, qui enferme essentiellement ces deux rapports [...]« Arnauld, Des vrayes et des fausses idees (Kap. 5), S. 198. 214 A.a.O. (Kap. 2), S. 185.

580-581

Die Vorstellung und ihr Gegenstand

485

Malebranche vor allem Schuld gibt. Auch Malebranches Ideenlehre ist, wie er ausführt, so gut wie die gewöhnliche Wahrnehmungstheo­ rie den Umständen und Tatsachen nachgebildet, die man bei der Gesichts Wahrnehmung beobachtet. Hier findet sich das Objekt, das, um von uns erblickt zu werden, dem Auge gegenwärtig sein oder ihm doch auf irgendeine Weise - etwa durch einen Spiegel - mittelbar dar­ gestellt werden muß; hier scheinen daher nicht die Gegenstände selbst, sondern nur die Abbilder, die sie auf unserer Netzhaut hervorbringen, der eigentliche Inhalt zu sein, auf den der Akt des Sehens sich richtet. Verfolge man diesen Zusammenhang weiter, führe man den Analo­ gieschluß von dem körperlichen auf das geistige »Sehen« zu Ende, so sehe man sich zu der Anschauung geführt, daß die Dinge der Außenwelt sich durch irgendwelche Vermittlungen in die Seele ein­ pflanzen und daß hierdurch erst eine Erkenntnis von ihnen zustande kommt. Dieser Anschauung sei Malebranche sowenig wie die Schola­ stik entgangen; wenn diese die Körper vermittels einzelner Teile, die sich von ihnen ablösen und die von unserem Geiste zu intelligiblen Spezies umgestaltet werden, in unser Bewußtsein hinüberwandern ließ, so muß bei ihm die göttliche Wesenheit als der »Ort der Ideen« unser Ich berühren, um es des Wissens teilhaft zu machen. Somit ist es derselbe logische Grundirrtum, der uns bei ihm, wenn­ gleich in spiritualistischer Wendung und Fassung, entgegentritt. Das Sophisma, das hier begangen wird, wird nach Arnauld deutlich, wenn man den mehrdeutigen Begriff der »Gegenwart« des Erkenntnisob­ jektes kritisch auflöst. Daß der Gegenstand, auf den unsere Urteile und Aussagen sich beziehen, uns irgendwie »gegenwärtig« sein muß, ist freilich wahr; aber es besagt nichts anderes, als daß er uns bekannt, | daß er als Inhalt des Bewußtseins gegeben sein muß. Malebranche und die Scholastik aber deuten diesen Satz, der im Grunde eine leere Tau­ tologie ist, zu einem wirklich bestehenden metaphysischen Faktum um: Sie nehmen die Gegenwart des Objektes im Subjekt als ein sach­ liches Verhältnis, das der Tatsache des Bewußtseins vorausliegt und sie erst ermöglicht.215 Der Wert dieser kritischen Bemerkungen wird nicht dadurch ge­ mindert, daß es Arnauld nicht gelungen ist, von ihnen aus eine eigene, folgerichtige Erkenntnislehre aufzubauen. In dem Kampfe gegen die

215 »Ce n’est pas ainsi qu’ils ont pris ce mot de presence [als presence objective, als Gegebensein im Bewußtsein]; mais ils l’ont entendu d’une presence prealable ä la perception de l’objet, et qu’ils ont jugee necessaire, afin qu’il füt en etat de pouvoir etre appergu; comme ils avoient trouve, ä ce qu’il leur sembloit, que cela etoit necessaire dans la vue.« A. a. O. (Kap. 4), S. 192 f.

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Die Ideenlehre - Malebranche

581-582

Ansicht, daß der Prozeß der Erkenntnis einen »Übergang« zwischen zwei verschiedenen Arten des absoluten Seins bedeutet, übersieht er zugleich den Abstand, der für den immanenten Standpunkt der Erkenntnis selbst zwischen dem ursprünglichen und unge­ formten Sinneseindruck und dem Begriff des Gegenstandes besteht. Die Dinge sind ihm wiederum in den ersten Empfindungen unmittel­ bar gesichert und gegeben. Weil er in der Frage nach dem metaphysi­ schen »Ursprung« der gegenständlichen Wahrnehmung eine täu­ schende Zweideutigkeit entdeckt hat, glaubt er sich auch der anderen Frage nach dem objektiven Wert und Gehalt der verschiedenen Daten des Bewußtseins überhoben.216 An diesem Punkte gewinnt daher Malebranche über Arnauld all die Überlegenheit, die ihm durch seine methodische Fragestellung verbürgt ist. Er stellt sich die Aufgabe, den Weg zu verfolgen und zu beschreiben, der von den ersten Anzeigen der Sinne zum »intelligiblen« Objekt, zum Objekt der strengen und eindeutigen wissenschaftlichen Erkenntnis hinführt. Die Optik ist ihm der eigentliche und endgültige Beweis für den Unterschied zwi­ schen Perzeption und Gegenstand - denn sie ist es, die die gedankli­ chen Schlußfolgerungen und Deutungen aufzeigt, die wir an den Daten des | Gesichtssinnes vollziehen müssen, ehe wir zu den Begrif­ fen der Lage und Entfernung, ehe wir zur bestimmten, räumlichen Anordnung der Gegenstände gelangen.217 Es ist die Weisung Des­ cartes’, die Malebranche hier getreulich befolgt. Der Gegenstand ist ihm das Ergebnis einer stetig weiterschreitenden und immer voll­ kommeneren Objektivierung des anfänglichen »Eindrucks«; eines Verfahrens, das uns zuletzt einzig und allein auf die mathemati­ schen Bestimmungen, die sich in der Idee der Ausdehnung zusam­ menfassen, zurückführt.218 Der unmittelbare Inhalt der Gesichts­ wahrnehmung geht völlig in verschiedenen Helligkeiten und Farben auf, die in mannigfachen Abstufungen einander folgen: Um aus die­ sem Grundstoff die Welt unserer physikalischen Erfahrung, die Welt der Körper aufzubauen, müssen wir vor allem die Unterschiede der direkten Wahrnehmung auf räumliche Unterschiede zurückführen,

216 Vgl. hierzu die treffenden Ausführungen Pillons (Devolution de l’idea­ lisme, S. 155 ff.). 217 »L’optique fait voir la difference extreme qui est entre les idees et les objets qu’elles representent, et qu’il n’y a qu’une intelligence infinie qui puisse en un clin d’oeil faire une infinite de raisonnements instantanes, tous regles par la geometrie et les lois de l’union de l’ame et du corps.« Malebranche, Brief an Mairan vom 12. Juni 1714, S.313f. 218 Vgl. oben, S. 407ff.

582-583

Die Unbedingtheit der ewigen Wahrheiten

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müssen wir bestimmte Empfindungen mit bestimmten Teilen der »idealen Ausdehnung« verknüpfen und auf sie beziehen. Der Ge­ genstand, den wir in den verschiedenen Daten des Gesichtssinnes wahrhaft anschauen, ist somit nichts anderes als ebendiese ideale Aus­ dehnung selbst, die sich uns, je nach den besonderen physiologischen Bedingungen, unter denen wir sie wahrnehmen, mit mannigfachen subjektiven Qualitäten bekleidet darstellt.219 Freilich macht sich auch an diesem Punkt alsbald die Umkehrung bemerkbar, die für Male­ branches Ideenlehre bezeichnend ist. Während in der ersten Betrach­ tungsweise die reinen geometrischen Beziehungen die Regel und den Richtpunkt für alle besonderen Erkenntnisse abgeben, werden sie, nachdem der Weg durchmessen, zur voraufgehenden sachlichen Bedingung hypostasiert. Die Idee des unendlichen Raumes muß nun­ mehr die Seele bestimmen und »affizieren«, damit in ihr das | Bewußt­ sein von einer Mehrheit von Objekten entsteht. Die »Ideen« der Dinge gehen somit vor den mannigfachen Perzeptionen, die wir durch sie erhalten, voraus; »sie sind nicht einfache Bestimmungen des Gei­ stes, sondern die wirklichen Ursachen dieser Bestimmun­ gen.«220 Wieder ist hier ein echtes erkenntniskritisches Problem ge­ stellt, und wieder lenkt die Lösung in die Bahnen der Metaphysik ein. Die logische Notwendigkeit wird auf eine reale Notwendigkeit zurückgedeutet; die allgemeinen Bedingungen des Wissens, die zu­ nächst als rein ideelle Beziehungen gefaßt waren, werden zu wirkli­ chen und wirkenden Ursachen gemacht. Das Verhältnis von Wissen und Sein rückt schließlich noch ein­ mal in helle Beleuchtung, wenn Malebranche sich einer allgemeinen Frage der zeitgenössischen Metaphysik: der Frage nach der Abhän­ gigkeit der »ewigen Wahrheiten« vom Wesen und Willen Gottes, zuwendet. An diesem Punkte löst er sich endgültig von der Tradition der Schule und eröffnet neue Wege. Das Rang- und Wertverhältnis, bei dem die Cartesische Metaphysik zuletzt geendet hatte, erfährt eine entscheidende Umkehrung.221 »Wenn die ewigen Gesetze und Wahr­ heiten von Gott abhängig, wenn sie durch einen freien Willensent­ schluß des Schöpfers festgestellt und begründet wären, kurz, wenn die Vernunft, die wir befragen, nicht notwendig und unabhängig wäre, so gäbe es ersichtlich keine wirkliche Wissenschaft

219 S.oben, S. 481, Anm. 210; vgl. bes. Malebranche, Entretiens sur la metaphysique (Nr. 1, § 8), S. 51 ff. 220 Ders., Reponse ä Regis (Nr. 12), S. 165 [»Ce ne sont donc point de simples modifications de l’esprit; mais les causes veritables de ces modifications.«]. 221 Vgl. oben, S. 412 ff.

488

Die Ideenlehre - Malebranche

583-584

mehr und man könnte sich täuschen, wenn man behauptete, die Arithmetik oder die Geometrie der Chinesen sei dieselbe wie die unsrige. Denn wenn es nicht unbedingt notwendig ist, daß 2 x 4 = 8 ist oder daß die Winkelsumme eines Dreiecks zwei rechte beträgt - wel­ chen Beweis haben wir alsdann, daß diese Wahrheiten nicht von der­ selben Art sind wie solche Sätze, die nur von einzelnen Schulen aner­ kannt sind und nur für eine bestimmte Zeitdauer gelten?« Die Geltung der Wahrheit an eine Verfügung, welcher Art und Her­ kunft sie immer sei, zu knüpfen ist ein leeres und grundloses Spiel der Einbildung. Wenn man an die Ordnung der ewigen Wahrheiten und Gesetze denkt, | so fragt man nicht nach ihren Ursachen: Denn sie haben keine, man erkennt, daß ihre Unwandelbarkeit in ihrem Be­ griff und ihrer Natur gegründet ist, nicht in irgendwelcher äuße­ ren Satzung und Bestimmung. Hier nach einem tieferen Ursprung zu verlangen heißt bereits die unbedingte Sicherheit der Denkgesetze antasten, heißt den Skeptizismus verkünden. Man sieht, daß Male­ branche an diesem Punkte von dem Beispiel gelernt hat, das Pascals Philosophie ihm darbot. Die universelle Vernunft ist ihm un­ abhängiger als Gott selbst: Der göttliche Wille ist ihr unterge­ ordnet, sofern er in allen seinen Entscheidungen sie zu Rate ziehen und gemäß ihrer Bestimmung handeln muß.222 Alle besonderen »Of­ fenbarungen« treten jetzt zurück und unterstehen dem Urteil der all­ gemeinen unverbrüchlichen Gesetzlichkeit, die sich jedem Denken­ den gleichmäßig erschließt. Man kann im einzelnen verfolgen, wie Malebranche, sosehr er überall sonst in theologischen Fragen und Wendungen befangen bleibt, an diesem Punkte das Prinzip des Katho­ lizismus durchbricht: wie er z.B. gegenüber dem Institut der Beichte die Autonomie und Selbstgewißheit des sittlichen Urteils des Indivi­ duums betont und verficht. Das Wort von der »raison corrompue« wird von ihm endgültig überwunden.223 Wenn er alle unsere Erkennt­ 222 S. Malebranche, Eclaircissements (Nr. 10), S. 252 ff. [S.254f.: »Certainement si les veritez et les loix eternelles dependoient de Dieu, si elles avoient ete etablies par une volonte libre du Createur; et un mot si la Raison que nous consultons n’etoit pas necessaire et independante: il me paroit evident qu’il n’y auroit plus de Science veritable, et qu’on pourroit bien se tromper si l’on assuroit que l’Arithmetique ou la Geometrie des Chinois est semblable ä la notre. Car enfin, s’il n’etoit pas absolument necessaire que 2 fois 4 fussent 8, ou que les trois angles d’un triangle fussent egaux ä deux droits; quelle preuve auroit-on que ces sortes de veritez ne seroient point semblables ä celles qui ne sont regues que dans quelques Universitez, ou qui ne durent qu’un certain tems?«]. 223 »[...] il ne faut pas s’imaginer que la Raison que l’homme consulte soit cor­ rompue, ni qu’elle le trompe jamais, lorsqu’il la consulte fidellement. [...] Ce n’est point la raison de l’homme qui le seduit, c’est son coeur ce n’est point sa lumiere

584-585

Die Ideen als objektive Vernunftgesetze

489

nis an Gott anknüpft und in ihn aufhebt, so erscheint auch dies nun­ mehr in einem neuen Licht. Die Identität von Gott | und Ver­ nunft, die damit erreicht wird, zielt nicht darauf ab, das Denken einer fremden Autorität zu unterwerfen. Nicht daß der göttliche Wille unbedingt verbindlich und »vernünftig«, sondern daß die Vernunft allgemeingültig und »göttlich« ist, ist es, was er zuletzt beweist. Es versteht sich aus den Zeit- und Lebensbedingungen Malebranches, daß er diesen Gedanken nicht völlig zu Ende zu führen vermochte, daß ihm über der Erforschung und Sicherung der Gesetze die Frage nach dem Gesetzgeber niemals völlig verstummte. »Quel genre d’etre est-ce que cette loi et cette regle? comment subsiste-t-elle dans la matiere? quel en est le legislateur? Elle est eternelle, dites-vous. Concevez donc que le legislateur est eternel. Elle est necessaire et immuable, dites-vous encore; dites donc aussi que le legislateur est necessaire, et qu’il ne lui est pas libre ni de for­ mer ni de suivre ou de ne suivre pas cette loi. Concevez que cette loi n’est immuable et eternelle que parce qu’elle est ecrite pour ainsi dire en caracteres eternels dans l’ordre immuable des attributs ou des perfections du legislateur, de l’etre infiniment parfait.«224 Wenn diese Worte auch noch immer eine innere Unsicherheit über die einzigar­ tige und zentrale Geltung der Erkenntnisprinzipien bekunden, so weisen sie doch zugleich einen neuen Weg: einen Weg, der von ver­ schiedenen Seiten her von Leibniz und von Bayle beschritten wird.

qui l’empeche de voir, ce sont ses tenebres [...] Ainsi, lorsque rentrant en nousmemes, nous entendons dans le silence de nos sens et de nos passions, une parole si claire et si intelligible qu’il nous est impossible d’en douter; il faut nous y soumettre sans nous soucier de ce qu’en pensent les hommes. [...] Il n’est point neces­ saire qu’il consulte [nous consultions] pour cela de Directeur, car lorsque Dieu parle, il faut que les hommes se taisent; et lorsque nous sommes absolument certains que nos sens et nos passions n’ont point de pari aux reponses que nous entendons dans le plus secret de notre raison, nous devons toujours ecouter ces reponses avec respect et nous y soümettre.« A.a.O. (Erl. 13), S.289ff. 224 Malebranche, Entretien sur l’existence et la nature de Dieu, S. 587 f.

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Der Ausgang der Cartesischen Philosophie - Bayle

585-586

D) Der Ausgang der Cartesischen Philosophie. Bayle I.

So gewagt es ist, eine so eigentümliche und paradoxe Erscheinung wie Bayle einem geschichtlichen Gattungsbegriff einzuordnen: seinem Ausgangspunkt und seinen ersten Motiven nach gehört er unver­ kennbar dem Cartesianismus an. Das Bild der gedanklichen Be­ wegung, die von Descartes ausging, bliebe unvollständig, wenn wir von diesem Denker, der | nach Geistesart und Methode einer völlig anderen Richtung anzugehören scheint, absehen wollten. Er, der kei­ nen einzigen neuen Zug in die Gesamtverfassung des Cartesischen Systems eingefügt hat, stellt dennoch die Wirkungen, die die neue Lehre auf die allgemeine Geisteskultur geübt hat, in mannigfaltigen Ausprägungen dar. Er knüpft in seinen theoretischen Grundgedanken an Malebranche an, den er stets mit Auszeichnung nennt und den er unter allen zeitgenössischen Philosophen am höchsten stellt.225 Von ihm übernimmt er vor allem die kritische Umgestaltung des Begriffs der »ewigen Wahrheiten« sowie die entscheidenden Hauptsätze der Begründung des Idealismus: Er selbst spricht es ausdrücklich aus, daß seine eigene Ansicht von der Idealität der Körperwelt nur eine Ergänzung und Fortsetzung der Beweisgründe sein will, die Male­ branche gegen Arnauld gebraucht hatte.226 Aber freilich: Diese Wei­ terbildung wandelt sich alsbald zu einer allgemeinen Kritik, die an dem Grundsatz der klaren und deutlichen Perzeption vollzo­ gen wird. Und wie hier in der Logik, so bereitet sich anderseits von der Ethik und Geschichte her eine neue Fragestellung vor, die über den Umkreis des Cartesianismus hinauszuführen bestimmt ist. Die Rolle, die Bayle in der Geschichte der Skepsis zufällt, wird am deutlichsten, wenn man seine Stellung mit der Montaignes ver­ gleicht. Der formale Grundunterschied, der sich hier besonders aufdrängt: der Gegensatz zwischen der Anmut von Montaignes apho­ ristischem Stil und der breiten und gelehrten Gründlichkeit, mit der Bayle sein Thema angreift und kraft immer neuer »Distinktionen« verfolgt und zerlegt, weist zugleich auf eine tiefere sachliche Unter­ scheidung hin. Für Montaigne bildet alles bloß philologische und 225 Vgl. hierüber Francisque Cyrille Bouillier, Histoire de la Philosophie Cartesienne, 2Bde., Paris 31868, Bd.II. 226 Piere Bayle, Dictionnaire historique et critique. Avec la vie de l’auteur (Art. Zenon, Anm. G), 4Bde., 5., durchges., korr. und erw. Aufl., Amsterdam 1740, Bd. IV, S. 536 ff. [Cassirer nennt selbst nicht die von ihm benutzte Ausgabe des »Dictionnaire historique«.].

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Bayle und Montaigne

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geschichtliche Wissen einen Teil jenes »Pedantismus«, den er als das Grundübel der herkömmlichen Erziehungslehre bekämpft. Die auf­ gedrungene Kenntnis des Fremden ist es, die uns überall die Ent­ deckung des Eigenen | verwehrt; die Bücher sind es, die die unübersteigliche Scheidewand zwischen unserem Geist und den Dingen bilden. Jede neue Erläuterung, die wir an ihnen versuchen, wird uns unter unseren Händen zu einer neuen Dunkelheit: Kommentar häuft sich auf Kommentar, um die eine Wahrheit zu zerstückeln und in sich selbst zweideutig zu machen. »Nous ouvrons la matiere, et l’espandons en la destrempant; d’un subiect nous en faisons mille, et retumbons, en multipliant et subdivisant, ä l’infinite des atomes d’Epicurus. [...] Les homme [...] ne faict que fureter et quester, et va sans cesse tournoyant, bastissant, et s’empestrant en sa besongne, comme nos vers ä soye, et s’y estouffe; mus inpice [...]«227 Es ist, als hätte Mon­ taigne in diesen Worten die schriftstellerische Art von Bayles »Dic­ tionnaire«, mit der Fülle seiner Zitate und Verweisungen, seiner Repli­ ken und Dupliken, vorweg geschildert. Aber man darf in dieser scholastischen Gestalt und Hülle nicht lediglich ein Zeichen des Rückschrittes sehen: Vielmehr birgt sich in ihr zugleich das Bewußt­ sein einer neuen positiven Aufgabe. Das System Descartes’, wie sehr es von dem Gedanken beherrscht war, die Eigentümlichkeit des »Geistigen« gegenüber aller Wirklichkeit der Natur zu behaupten, hatte dennoch mit einem Ergebnis geendet, das, eben an dieser Grundabsicht gemessen, ungenügend und problematisch blieb. Die Natur war dem Denken ein- und untergeordnet und in ein festes System der Erkenntnis verwandelt. Aber ebendie eigensten und näch­ sten Probleme des Selbstbewußtseins waren hier noch nicht selbstän­ dig und aus einem festen Mittelpunkt heraus gestaltet: Es fehlt der Cartesischen Philosophie an einer sicheren Grundlegung der Gei­ steswissenschaften. Wie die Ethik, so blieb die Geschichte ihrem Plane und ihrem Ausbau fremd. Bei Malebranche insbesondere dient alles historische Wissen nur als Folie, um den Wert der echten und zeitlosen Wahrheiten der Mathematik und Logik um so deut­ licher hervortreten zu lassen. Zum Begriff wahrhafter Erkenntnis gehört ihm nur die Gesamtheit derjenigen Sätze, »die auch Adam ver­ stehen und besitzen konnte«.2281 Es ist, als sollte die gesamte zeitliche Entwicklung zurückgetan und alles Wissen wieder aus einem primiti­ 227 Montaigne, Essais (Buch 3, Kap. 13) [Bd. II, S.567f.]. 228 S. die charakteristische Erzählung in Bernard le Bouvier Fontenelles »Eloge du pere Malebranche« (in: Eloges, mit Einl. u. Anm. versehen v. Francisque Cyrille Bouillier, Paris 1883, S. 77-96).

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Bayle

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ven Urstande des Bewußtseins neu entdeckt werden. Dieser Gegen­ satz von Vernunft und Geschichte bildet auch für die Zeitgenossen einen entscheidenden Zug im Bilde des Cartesianismus. Immer von neuem wird bei den Gegnern der neuen Lehre, wie bei Huet, die Klage laut, daß mit ihr alle gelehrte wissenschaftliche Kultur vernich­ tet werde und die alte »Barbarei« wieder hereinbreche. Die eigentli­ che Gefahr aber, die aus dieser Lücke im logischen System erwuchs, lag in Wahrheit in einer anderen Richtung. Solange die Philosophie die Geschichte von ihrem Forum verwies, so lange blieb die Auffas­ sung des historischen Geschehens durch die Offenbarung be­ herrscht und beschränkt. Wir können dies bei Pascal verfolgen, dem die Geschichte der Menschheit, ihr Sinn und ihr Gehalt, in dem Umkreis der biblischen Bücher enthalten und beschlossen ist; wir fin­ den es bei Malebranche bestätigt, der, dem Grundprinzip seines Rationalismus zum Trotz, in allen Fragen der Theologie ausdrücklich die Tradition als die letzte und alleingültige Instanz anerkennt.229 Damit ist die Aufgabe, die Bayle vorfand, klar umschrieben: Die Kri­ tik des Dogmas kann nicht anders als mit der Kritik der geschichtli­ chen Überlieferung, mit der genauen Prüfung und Sichtung ihrer Quellen und Zeugnisse beginnen. Der Doppeltitel des »Dictionnaire historique et critique« bezeichnet in dieser Rücksicht eine innere Einheit; der Kampf gegen das theologische Schulsystem wird nunmehr auf dessen eigenem Gebiete aufgenommen und mit seinen eigenen Mitteln und Waffen durchgeführt.

Wie aber ließe sich eine Kritik von Tatsachen und Tatsachenwahrheiten denken, wenn nicht feste und dauernde Maßstäbe, wenn nicht unverbrüchliche Regeln gefunden werden könnten, die dem zeitli­ chen Werden und Wandel entrückt sind? Die Überlieferung verliert jede Beweiskraft, | wenn es nicht gelingt, einen Prüfstein zu finden, der unter ihrer bunten und widerspruchsvollen Mannigfaltigkeit eine Auswahl vollzieht, der den echten Sinn und Gehalt von dem fremden Stoff, der sich an ihn herandrängt, scheidet. In diesem Grundgedan­ ken ist Bayle Cartesianer geblieben: Der Wahrheitswert, den er dem Geschichtlichen zugesteht, hängt auch ihm von rein rationa­ len Erwägungen und Kennzeichen ab. Schon hieraus ergibt sich seine historische Sonderstellung: Die skeptische Lehrverfassung beginnt bei ihm mit einer Behauptung und Vertiefung der Befugnisse der Ver­ nunft. Das »natürliche Licht« oder die »allgemeinen Prinzipien unserer Erkenntnis« sind die höchste Instanz, vor der jedes Zeug­ 229 S. Malebranche, Recherche de la verite (Buch 2, Teil 2, Kap. 5), Bd. I, S. 136.

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Das Problem der Geisteswissenschaften

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nis der Tradition, vor der insbesondere jede Auslegung der Schrift sich rechtfertigen muß. Die katholische Kirche selbst muß diesen Sachver­ halt, wie sehr er ihrer unbedingten Autorität Abbruch tut, wider Wil­ len anerkennen. In der Tat, was anderes ist die unermeßliche logische Einzelarbeit, die die Scholastik an den Glaubenssätzen vollzogen hat, um sie in sich selbst einstimmig und zusammenhängend zu machen, als ein notwendiger und ungewollter Tribut an die Vernunft? Der innerste Widerspruch der mittelalterlichen Philosophie: daß sie in ihrer Methode anerkennen muß, was sie in ihrem Ergebnis leug­ net, wird hier von Bayle in voller Klarheit erkannt und ausgesprochen. »Man sage nicht mehr, daß die Theologie die Königin und die Philo­ sophie ihre Magd sei: Bezeugen es doch die Theologen selbst durch die Tat, daß sie umgekehrt die Philosophie als die Herrscherin anse­ hen, der sie zu dienen haben. Hieraus allein erklären sich alle Anstren­ gungen und Verrenkungen, die sie ihrem Verstände nur deshalb zu­ muten, um dem Vorwurf zu entgehen, daß sie sich gegen die gesunde Philosophie versündigen. Wenn sie die Prinzipien der Philosophie abzuändern suchen, wenn sie, je nachdem sie ihre Rechnung dabei fin­ den, bald diesen, bald jenen ihrer Grundsätze entwerten, so gestehen sie damit nur mittelbar die Überlegenheit der Philosophie zu, so zei­ gen sie, wie unabweislich die Notwendigkeit ist, ihr den Hof zu machen. Sie würden nicht solche Mühe darauf | wenden, sich bei ihr in Gunst zu setzen und mit ihren Gesetzen in Einklang zu bleiben, wenn sie nicht anerkennten, daß jedes Dogma, sofern es nicht vor dem höchsten Gerichtshof der Vernunft rechtskräftig gemacht, von ihm registriert und beglaubigt ist, schwankende Autorität besitzt und zer­ brechlich wie Glas ist.« Welchen neuen Inhalt uns somit immer die Offenbarung zu er­ schließen vermag: ihr eigentlicher Rechtsgrund darf dennoch kein Mysterium bleiben, sondern muß sich uns in unserem eigenen Selbst enthüllen - »in dem klaren und lebendigen Lichte, das alle Menschen gleichmäßig erleuchtet und unwiderstehlich überzeugt, sobald sie die Augen des Geistes darauf richten«. Hier besitzen wir das Kriterium, an dem vor allem jeder sittliche Anspruch, der an uns herantritt, aufs neue geprüft werden muß, so klar und fest er immer in einer über­ sinnlichen Autorität verbürgt und beglaubigt erscheinen mag. Für die echte Ethik verschwindet gleichsam der Gesichtspunkt der Zeit und der Überlieferung: Was sie nicht unter der Form des Ewigen aus den Gesetzen des Bewußtseins abzuleiten vermag, das besitzt für sie keine bindende Kraft. Wenn die Theologen der Cartesischen Schule, wenn insbesondere Arnauld die »eingeborenen Ideen« des Sittlichen vom Standpunkt der geschichtlichen »Erfahrung« kritisiert und als leere

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Bayle

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und willkürliche Allgemeinbegriife verworfen hatten, so bedeutet für Bayle ebenjene »Abstraktion«, durch die wir die dauernde Regel aus den relativen Satzungen und Gewohnheiten herauslösen, die eigentliche Kraft und Bewährung der Vernunft. Alle Träume und Visionen, alle Wunder und Erscheinungen, auf die man den Glauben stützen will, müssen durch dieses Sieb hindurchgehen: »Wie könnte man sich sonst versichern, ob sie von einem guten oder bösen Prinzip herstammen?« »Erdreistet sich somit jemand zu behaupten, daß Gott uns ein Gebot offenbart hat, das unseren grundlegenden sittlichen Prinzipien widerstreitet, so muß man ihm entgegentreten und ihm bedeuten, daß er einer falschen Auslegung folgt: besser, daß das Zeug­ nis seiner Kritik und Grammatik als daß das der Vernunft ver­ worfen werde.« Es hieße das furchtbarste | Chaos und den verwerf­ lichsten Pyrrhonismus einführen, wenn man diese Regel antasten, wenn man leugnen wollte, daß jeder besondere Glaubenssatz seine eigentliche Sanktion erst in der Prüfung durch das individuelle Gewis­ sen erhält. Die Skepsis erweist sich auch hier wieder mit den Motiven und Grundgedanken der religiösen Reformation verwandt.230 Erst wenn man hier seinen Ausgangspunkt nimmt, wenn man diese Sätze Bayles, die einer früheren Schrift angehören,231 zugrunde legt, versteht

230 Vgl. oben, S. 165 f. 231 Pierre Bayle, Commentaire philosophique sur ces paroles de Jesus-Christ, contrain-les d’entrer (Teil 1: Commentaire philosophique sur ces paroles de l’Evangile, Kap 1), in: CEuvres diverses. Contenant tout ce que cet auteur a publie sur des matieres de Theologie, de Philosophie, de Critique, ÜHistoire, et de Litterature; excepte son Dictionnaire Historique et Critique, 4 Bde., Den Haag 1727, Bd. II, S. 355-560: S. 367f£. [S. 368: »Qu’on ne dise donc plus que la Theologie est une Reine dont la Philosophie n’est que la servante, car les Theologiens euxmemes temoignent par leur conduite, qu’ils regardent la Philosophie comme la Reine et la Theologie comme la servante; et de lä viennent les efforts et les contorsions qu’ils livrent ä leur esprit, pour eviter qu’on ne les accuse d’etre contrai­ res ä la bonne Philosophie. Plütot que s’exposer ä cela ils changent les principes de la Philosophie, degradent celle-ci ou celle-lä, selon qu’ils y trouvent leur conte; mais par toutes ces demarches ils reconnoissent clairement la superiorite de la Phi­ losophie, et le besoin essenciel qu’ils ont de lui faire leur Cour; ils ne feroient pas tant d’efforts pour se la rendre favorable et pour etre d’acord avec ses loix, s’ils ne reconnoissoient que tout dogme qui n’est point homologue, pour ainsi dire, verifie et enregitre au Parlement supreme de la Raison et de la lumiere naturelle, ne peut qu’etre d’une autorite chancelante et fragile comme le verre. [...] c’est qu’y aiänt une lumiere vive et distincte qui eclaire tous les hommes, des aussi tot qu’ils ouvrent les yeux de leur attention [...] on peut trouver comme par une mesure et une regle originale, si elles sont legitimes ou falsifiees.«; S.370: »[...] de sorte que si quelcun s’avise de soutenir que Dieu nous a revele un precepte de Morale directement oppose aux premiers principes, il faut lui nier cela, et lui soutenir qu’il

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Vernunft und Offenbarung

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man die Absicht des Bayleschen Zweifels, die im »Dictionnaire« durch mannigfache Nebenabsichten beschränkt und verdunkelt ist.

II. Der Sinn und der Umfang der Bayleschen Skepsis, soweit sie sich auf die theoretische Naturerkenntnis bezieht, läßt sich in einem Wort begrenzen und festhalten: Es ist nicht die Wahrheit der Begriffe, son­ dern die absolute Existenz der Dinge, die durch sie getroffen werden soll. Bereits die geschichtliche Anknüpfung, die Bayle zum Erweis seiner Lehre wählt, ist für diese Richtung seines Denkens bezeich­ nend: Es ist der Idealismus der Eleaten, der von ihm ergriffen und dem Zeitalter entgegengehalten wird. Die Renaissance der großen antiken Systeme ist im 17. Jahrhundert im allgemeinen vollendet. Der Gegensatz zwischen Platon und Aristoteles ist allseitig dargestellt; die Lehre Demokrits ist durch Gassendi zu allgemeinem populären Ver­ ständnis, durch Galilei zu reinster logischer Durchbildung und Fort­ wirkung gelangt. Selbst Gedanken des Empedokles und Anaxagoras wirken in den naturphilosophischen Spekulationen der Zeit mannig­ fach nach. Nur dasjenige System, in dem alle diese Lehren ihre eigent­ liche Wurzel haben und auf das sie, fortbildend oder polemisch, dau­ ernd Bezug nehmen, scheint bis jetzt kaum in den Gesichtskreis der neueren Zeit gerückt zu sein. Wenn Telesio und seine Schule sich auf Parmenides berufen, | so knüpfen sie hierbei nur an seine Physik, nur an diejenigen Sätze, die er selbst dem Bereich der trügerischen und schwankenden Meinung zugewiesen hatte, an. Die logische Ab­ sicht aber, die dem Gedanken des einen Seins und der Kritik der Viel­ heit und Unendlichkeit zugrunde lag, blieb unverstanden: Sie mußte einer Epoche fremd bleiben, der die Wahrheit und das Sein des Unendlichen in ihrer neuen kosmologischen Gesamtansicht unmittel­ bar verbürgt erschien und die sich anderseits soeben ein neues gedank­ liches Instrument erschuf, um die Probleme des Unendlichen inner­ halb der Wissenschaft exakt zu beherrschen und zu bewältigen. Bei Bayle dagegen tritt das Problem freilich zunächst nur als eine Frage der Metaphysik auf, die aber alsbald ihren Einfluß und ihre Rück­ wirkung auf die allgemeinen Fragen der Erkenntnislehre beweist. Das Originale und Wertvolle seiner Leistung besteht darin, daß er als erster in der neueren Philosophie die Bedeutung der Antinomien donne dans un faux sens, et qu’il est bien plus juste de rejetter le temoignage de sa Critique et de sa Grammaire, que celui de la Raison.«].

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Bayle

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für die Begründung des Idealismus erkennt. Damit hat er ein Motiv geschaffen und einen Zusammenhang gestiftet, der in der Geschichte des Erkenntnisproblems nicht wieder verlorengegangen ist.232 Die Annahme einer absoluten Materie hinter dem bekannten empirischen Sein der Phänomene zeigt sich jetzt nicht nur als eine leere, unbe­ weisbare Behauptung: Sie offenbart sich als ein durchgängiger innerer Widerspruch. Denn wie immer man das »Sein« dieser Materie sich denken mag, ob man es aus ausdehnungslosen Punkten zusammen­ setzt oder ob man es aus Atomen oder aus Elementen von unbe­ grenzter Teilbarkeit bestehen läßt: immer geraten wir mit klaren und unaufheblichen Beweisgründen des Verstandes in Widerstreit. Jede dieser drei Meinungen vermag sich nur mittelbar dadurch zu behaup­ ten, daß sie die beiden anderen entgegenstehenden Sätze als unmög­ lich erweist: Jede ist unbesieglich, solange sie sich angreifend verhält, um sogleich zu | nichte zu werden, falls sie es unternimmt, ihre These mit positiven Gründen zu erhärten.233 Statt indes aus der Aus­ schließung zweier dieser Fälle mit Gewißheit auf die Wahrheit des dritten zu schließen, sollte man aus dem Kampfe und dem schließli­ chen gemeinsamen Schicksal der Parteien vielmehr lernen, daß die Voraussetzung, um die sich der Streit bewegt, in sich selbst unhalt­ bar ist, daß es das Subjekt des Schlußsatzes, nicht die einzelnen Prä­ dikate sind, worin die Schwierigkeit begründet liegt. Wir müssen 232 Der Gedanke ist gleichzeitig, in tieferem und umfassenderem Sinne, von Leibniz konzipiert worden, blieb jedoch wesentlich auf seinen philosophischen Briefwechsel beschränkt und konnte daher keine weitere geschichtliche Fortwir­ kung üben (über die Fortbildung des Gedankens, insbesondere bei Collier, vgl. Bd.II [ECW 3]). 233 »Chacune de ces trois Sectes, quand eile ne fait qu’attaquer, triomphe, rüine, terrasse; mais ä son tour eile est terrassee et abymee, quand eile se tient sur la defensive.« Bayle, Dictionnaire (Art. Zenon, Anm. G), Bd. IV, S. 540. - Man vgl. hiermit die Sätze der Methodenlehre der »Kritik der reinen Vernunft«: Immanuel Kant, Critik der reinen Vernunft (1. Hauptst., 2. u. 3. Abschn.), 2., hin u. wieder verb. Aufl., Riga 1787, S. 778 f. u. 804: »Durch welches Mittel wollen sie aus dem Streite herauskommen, da keiner von beiden seine Sache geradezu begreiflich und gewiß machen, sondern nur die seines Gegners angreifen und widerlegen kann? Denn dieses ist das Schicksal aller Behauptungen der reinen Vernunft: daß [...] sie dem Gegner jederzeit Blößen geben und sich gegenseitig die Blöße ihres Gegners zu nutze machen können. [...] Ob aber gleich bey bloß speculativen Fragen der reinen Vernunft keine Hypothesen stattfinden, um Sätze darauf zu gründen, so sind sie dennoch ganz zulässig, um sie allenfalls nur zu vertheidigen, d.i. zwar nicht im dogmatischen, aber doch im polemischen Gebrauche. Ich verstehe aber unter Vertheidigung nicht die Vermehrung der Beweisgründe seiner Behauptung, sondern die bloße Vereitelung der Scheineinsichten des Gegners, welche unserem behaupteten Satze Abbruch thun sollen.«

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Die Antinomien des Unendlichen

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begreifen, daß der Körper der Physik zu keiner anderen Art des »Seins« gehört wie die Linien und Flächen der Mathematik; wir müs­ sen einsehen, daß, so gut Länge und Breite ideale Gebilde sind, das gleiche auch für die Materie des Physikers gilt.234 Demselben Verdikt wie der Raum verfällt die Bewegung: Auch sie erscheint uns durch­ weg mit inneren Widersprüchen behaftet, sobald wir sie als eine unab­ hängige Wesenheit betrachten und demgemäß ihre innere »Natur« zu ent | rätseln suchen. Die Schwierigkeiten der stetigen Zusammenset­ zung der Materie wie ihres stetigen Überganges von Raum- zu Raum­ punkt schwinden erst, wenn wir mit der Aufhebung jeglicher Tr ans zendenz ernst machen: In unserem Geiste allein vermögen wir den »Zusammenhang« zu stiften und zu begreifen, der uns an den geson­ derten, realen Elementen unfaßbar blieb.235 Diesen Erwägungen fügt Bayle die Gründe hinzu, die sich aus der Betrachtung der physiologi­ schen Bedingtheit unserer sinnlichen Erfahrung ergeben: Denn alle »Mittel der Epoche«, mit denen man die Subjektivität der Empfin­ dungsqualitäten dartut, gelten ihm zugleich als ebensoviele Beweise gegen das unabhängige Sein der Ausdehnung. Hier weist er selbst auf Malebranche zurück, dessen Erörterungen über die Relativität aller räumlichen Setzungen er aufnimmt und breiter entwickelt.236 Das wesentliche Ergebnis aber, das er gewinnt, liegt nicht in diesen psy­ chologischen Ausführungen, sondern es besteht darin, daß er das letzte Band, das die klare und deutliche Perzeption noch mit der absoluten Wirklichkeit verknüpft, zerschneidet. Wie die gesamte Entwicklung der Philosophie des 17. Jahrhunderts auf eine Locke­ rung dieses Zusammenhangs hinausging, konnten wir beständig ver­ folgen; aber erst jetzt ist die Scheidung streng und unwiderruflich vollzogen. Der Satz des Widerspruchs selbst, somit die Bedingung aller unserer Begriffe, bleibt nur so lange in Kraft, als wir innerhalb des Bereichs der Phänomene verharren; er versagt und wird stumpf, sobald wir ihn zur Ordnung an sich bestehender Dinge außerhalb jeg­ licher Beziehung zur Erkenntnis brauchen wollen. 234 »Il faut reconnoitre ä Fegard du corps, ce que les Mathematiciens reconnoissent ä Fegard des lignes et des superficies [...] Ils avouent de bonne foi qu’une longueur et largueur sans profondeur, sont des choses qui ne peuvent exister hors de notre ame. Disons-en autant des trois dimensions. Elles ne sauroient trouver de place que dans notre esprit; elles ne peuvent exister qu ’idealement. « Bayle, Dictionnaire (Art. Zenon, Anm. G), Bd.IV, S.540. 235 A. a. O., S. 541: »Disons donc que le contact des parties de la matiere n’est qu’ideal; c’est dans notre esprit que se peuvent reunir les extremitez de plusieurs corps.« 236 Vgl. oben, S.470f.

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Bayle

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Von diesem allgemeinen, theoretischen Ergebnis aus verstehen wir nunmehr sogleich die Kritik des Offenbarungsglaubens, die der »Dictionnaire« durchführt. Zwischen unseren Vernunftbegriffen und den jenseitigen Mächten und Wirklichkeiten, von denen dieser Glaube spricht, läßt sich kein Zusammenhang herstellen. In der | Sicherung dieses Gedankens liegt die Grundabsicht, die sich durch alle Wendungen und Verschleierungen von Bayles Dialektik hindurch verfolgen läßt. Wenn der »Commentaire philosophique«, von dem wir ausgingen, noch auf eine rationale Prüfung und Berichtigung der Glaubenssätze hinzustreben schien, so wird jetzt ebendiese Fassung des Zieles als in sich selber widerspruchsvoll verworfen. Das einzige eindeutige und konsequente Verhältnis, das sich zwischen Philoso­ phie und Glaubenslehre feststellen läßt, ist die unbedingte Unterwer­ fung des Denkens unter den Inhalt der Offenbarung. Mit immer erneutem Pathos wird diese letzte resignierte Entscheidung als das endgültige Ziel und der echte Ertrag aller Wissenschaft gepriesen. Noch einmal faßt Bayle alle Bemühungen des Menschengeistes, Glau­ ben und Wissen zu versöhnen, zusammen, um ihnen allen gleichmäßig das Urteil zu sprechen. Jede Vermittlung, die hier gesucht wird, er­ weist sich als eine Halbheit des Denkens.237 Die Erkenntnis ist ein lückenloses System: Sie an einem Punkte aufgeben heißt somit, auf sie in ihrer Totalität Verzicht leisten. Wir vertrauen etwa dem Grundsatz, daß zwei Dinge, die sich von einem dritten nicht unterscheiden, unter­ einander nicht verschieden sind: Das Mysterium der Dreieinigkeit wird uns vom Gegenteil überzeugen. Wir nehmen als evidente Wahr­ heit an, daß ein Körper nicht an mehreren Orten zugleich sein kann: Das Dogma der Eucharistie klärt uns über unseren Irrtum auf. »Durch diese Lehre verlieren wir alle Wahrheiten, die wir bisher in den Zahlen gefunden; wissen wir nun doch nicht mehr, was >Zwei< und >DreiWilde< heißen wir jene, wie

242 Pierre Bayle, Ce que c’est que la France toute catholique sous le regne de Louis le Grand, in: CEuvres diverses, Bd.II, S.336-354, vgl. bes. S.347.

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Bayle

599-600

wir die Früchte wild nennen, die die Natur aus sich heraus und ohne fremde Hilfe hervorbringt; während wir im Grunde das Wort für die­ jenigen brauchen sollten, die wir künstlich verändert und durch An­ passung an unseren verdorbenen Geschmack zu Bastarden gemacht haben. [...] Wider alle Vernunft wäre es, daß die Kunst den Vorrang vor unserer großen und mächtigen Mutter Natur gewinnen sollte. Wir haben die Schönheit und den Reichtum ihrer Werke so sehr mit unse­ ren eigenen Erfindungen überladen, daß wir sie darunter völlig erstickt haben: Wo immer noch einmal ihre Reinheit hervorleuchtet, da beschämt sie in erstaunlicher Weise unsere eitlen und frivolen Bemühungen.«243 Von solcher Rousseauschen Grundstimmung ist Bayle weit entfernt. Er erschließt das »Wesen« des Menschen lediglich aus dem Verlauf seiner Geschichte: Hier aber dient ihm jedes neue Blatt dazu, das naive Zutrauen zu der ursprünglichen Güte seiner Natur zu widerlegen. »L’homme est mechant et malheureux: chacun le connoit par ce qui se passe au dedans de lui, et par le commerce qu’il est oblige d’avoir avec son prochain. [...] | [Nous voyons] partout les monumens du malheur et de la mechancete de l’homme; partout des prisons, et des höpitaux; partout des gibets, et des mendians. [...] L’Histoire n’est ä proprement parier qu’un Recueil des crimes et des infortunes du Genre humain [...]«244 Dieser Pessimismus ist der tiefste Grund der Bayleschen Skepsis. Die sittliche Vernunft bleibt ihm ein Danaergeschenk; sie vermag das Ziel des Handelns festzustel­ len und den Weg zu erleuchten, aber die natürliche Kraft, es ins Leben und in die Wirklichkeit zu rufen, bleibt ihr versagt. So rein und selb­ ständig ihr inneres Gesetz auch ist, es kann nach außen nichts bewe­ gen. Den theologischen Gedanken an eine ursprüngliche Verderbnis der Vernunft hat Bayle überwunden: Aber der andere Glaube an das »radikale Böse« in der empirischen Menschennatur ist ihm geblieben. Und diese ethische Beurteilung findet im theoretischen Gebiet ihr Gegenstück. Wo er den Socinianismus und seinen An­ spruch einer rationalen Prüfung der Glaubenswahrheiten bekämpft, 243 Montaigne, Essais (Buch 1, Kap. 30) [Bd. I, S.233: »Ils sont sauvages, de mesme que nous appellons sauvages les fruicts que nature de soy et de son progrez ordinaire a produicts; tandis qu’ä la verite ce sont ceulx que nous avons alterez par nostre artifice, et destournez de l’ordre commun, que nous devrions appel­ ler plustost sauvages [...] Ce n’est pas raison que l’art gaigne le poinct d’honneur sur nostre grande et puissante mere nature. Nous avons tant recharge la beaute et la richesse de ses ouvrages par nos inventions, que nous l’avons du tout estouffee: si est ce que partout ou sa purete reluict, eile faict une merveilleuse honte ä nos vaines et frivoles entreprinses.«]. 244 Bayle, Dictionnaire (Art. Manicheens, Anm. D), Bd. III, S. 305.

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Die Grenzen von Bayles Kritik

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da wirft er ihm bezeichnenderweise vor allem einen psychologi­ schen Grundirrtum vor. Man muß ein Schwärmer sein, um zu mei­ nen, daß der Mensch von einem drückenden Joche befreit wäre, wenn man ihm den Gedanken an abstrakte Unbegreiflichkeiten erließe. Denn ebender innere Widerspruch bildet den Reiz und die beständige Anziehungskraft des Glaubens. »Wer eine philosophische Religion erfinden will, der mag alle schwerverständlichen Lehrsätze aus ihr entfernen, aber er mache sich auch von dem eitlen Wahne frei, daß die Menge ihm jemals folgen werde.«245 Der Mensch bedarf, seinem Wesen nach, des festen positiven Dogmas: Die Indifferenz in diesem Punkte wird ihm immer für verächtlicher und verwerflicher gelten als selbst ein falsches Bekenntnis.246 So ist der Zweifel an der Realität der Vernunft bei Bayle allenthalben nur das Ergebnis und der not­ wendige Ausdruck der Verzweiflung an ihrer empirisch-geschichtli­ chen Verwirklichung. Er ist andernteils bedingt durch die ein|geschränkte Bedeutung, die der Begriff der Vernunft bei ihm noch besitzt. Den Betätigungen der Vernunft in der modernen Wis­ senschaft steht Bayle fern: Seine Erörterungen über das Unendlich­ keitsproblem, so wichtig ihr letztes metaphysisches Ergebnis ist, zeigen dennoch, wie sehr ihm jedes innerliche Verhältnis zur ma­ thematischen Prinzipienlehre fehlt. Daher bleibt das Denken bei ihm trotz allem zuletzt auf seine scholastische Leistung, auf die dialekti­ sche Zergliederung gegebener Sätze beschränkt: Es ist, wie er selbst es bezeichnet, ein auflösendes und zerstörendes, nicht ein aufbauendes Prinzip.247 Die Kritik der positiven Theologie aber konnte nicht ein­ zig mit den Mitteln der logischen und philologischen Analyse zu Ende geführt werden; sie bedurfte der Ergänzung durch die Philosophie der Naturwissenschaft. Voltaire erst, der überall wieder auf Bayles Sätze zurückgeht, vermochte sie zu weiteren und freieren Folgerun­ gen fortzuführen, weil er nicht allein der Kritiker des Dogmas, son­ dern zugleich der Verkünder der neuen Newtonischen Weltansicht ist.

245 A. a. O. (Art. Socin, Fauste, Anm. H), Bd. IV, S. 231 [»Si l’on n’inventoit une Hypothese que pour des Philosophes [...] on se croiroit apparemment oblige d’en ecarter les doctrines difficiles ä comprendre; mais en meme tems il faudroit que l’on renongät ä la vanite de se faire suivre par la multitude.«]. 246 A. a. O. (Art. Acosta, Anm. H), Bd. I, S. 69. 247 A. a. O. (Art. Manicheens), Bd. III, S. 302 ff.

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20

ANHANG Der folgende Text - der zweite Abschnitt der Einleitung zur ersten Auflage - wurde von Cassirer in der zweiten Auflage gestrichen. Er wird hier nach der ersten Auflage von 1906 wiedergegebend

II.

Der schrittweisen Erweiterung unseres Themas nach der Seite der Natur- und Geisteswissenschaften, die wir bisher zu begründen such­ ten, steht indes eine wesentliche Einschränkung gegenüber, sofern wir uns damit begnügen, den Erkenntnisbegriff, den die neuere Phi­ losophie entwickelt hat, darzustellen und zu zergliedern. Wenn bei der inhaltlichen Ausdehnung, die die Aufgabe gewann, diese zeitliche Begrenzung notwendig wurde, so dürfen wir ihre prinzipiellen Be­ denken und Gefahren dennoch nicht übersehen. Verzichten wir nicht auf die echten und wahrhaften philosophischen Quellen und Anfänge, indem wir die antike Spekulation von unserer Betrachtung ausschlies­ sen? Liegt nicht hier die eigentliche Urgeschichte unseres Problems und alle Keime seiner künftigen Entfaltung? Wir müssen diese Frage von Anfang an ohne jeden Rückhalt bejahen. Das moderne Denken würde uns stets nur ein unvollkommenes und fragmentarisches Bild bieten, wenn wir es gänzlich abgelöst von den Grundkräften und Quellender griechischen Philosophie betrachten wollten. In­ dessen ist das Korrektiv, das es gegen jeden derartigen Versuch einer unmethodischen Isolierung schützt, in ihm selbst und seinem eigenen Inhalt bereits gegeben. Sein eigener innerlicher Fortschritt führt es mit Notwendigkeit zu den Prinzipien und Fragen zurück, die die griechi­ sche Spekulation ausgezeichnet und in typischen Gestaltungen ver­ körpert hatte. Das Denken der neueren Zeit beweist seine Eigenart darin, daß es bei allem inhaltlichen Reichtum, den es gewinnt, sich der Verwandtschaft mit diesen logischen Grundformen bewußt bleibt und aus selbständigem Antrieb zu ihnen zurückstrebt. So werden sie uns denn auch, indem wir uns dem einfachen Fortgang der Untersu­ chung überlassen, von selbst entgegentreten und eine Betrachtung ihres Inhalts fordern. Wenn wir nach einer äußeren Rechtfertigung dafür suchten, daß die griechische Philosophie von unserer Aufgabe ausgeschlossen bleiben soll, so brauchten wir um Gründe und Autoritäten nicht verlegen zu

1 Ernst Cassirer, Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. I, Berlin 1906, S. 20-50. S. hierzu auch oben, S. XII.

20-21

Das Erkenntnisproblem in der griechischen Philosophie

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sein. Eine bekannte und weitverbreitete Auffassung des Griechen­ tums sieht die sachliche Grenze, die es von der modernen Zeit schei­ det, eben darin, daß es ihm nicht gelungen sei, das Problem der Erkenntnis in seiner Besonder |heit zu erfassen. Es ist kein Gerin­ gerer als Zeller, der sich zum Anwalt dieser Grundanschauung ge­ macht hat. Indem er den unterscheidenden Charakter des griechi­ schen Wesens in der »ungebrochenen Einheit des Geistigen und des Natürlichen«2 sieht, spricht er der Antike damit zugleich das Be­ wußtsein des Geistigen als eines völlig unvergleichlichen und selb­ ständigen Problemgebietes ab. Nun ließe sich diese Bestimmung, die von Hegel herrührt, in der Tat rechtfertigen und durchführen, wenn sie nur besagen wollte, daß innerhalb des Griechentums Natur und Geist nicht als ausschließende Gegensätze, nicht als zwei völlig ge­ trennte und einander widerstreitende Reiche des Seins gedacht und empfunden werden. Die »Unterscheidung«, so bemerkt Zeller mit Recht, »geht hier noch nicht zu der Annahme eines ursprünglichen Gegensatzes und Widerspruches, zu dem grundsätzlichen Bruch des Geistes mit der Natur fort, der sich in den letzten Jahrhunderten der alten Welt vorbereitet, und in der christlichen sich im grossen voll­ zogen hat. [...] Auch der Grieche erhebt sich über die Welt des äusse­ ren Daseins und die unbedingte Abhängigkeit von den Naturgewal­ ten, aber er hält die Natur deshalb weder für unrein noch für ungöttlich, sondern er sieht in ihr unmittelbar die Erscheinung höhe­ rer Kräfte f...]«3 Diese Wertschätzung der immanenten Wirklich­ keit, dieses Verharren in den Fragen und Aufgaben des diesseitigen Seins bildet in der Tat einen charakteristischen Vorzug des antiken Geistes und der antiken Sittlichkeit. Aber es ist schon nicht mehr zutreffend, wenn man diese seine Eigentümlichkeit als eine natürliche Anlage beschreibt, die ihm von selbst und mühelos zugefallen wäre. »[...] dieser Standpunkt ist hier nicht ein Erzeugnis der Reflexion; er ist nicht erst durch einen Kampf mit der entgegenstehenden Forde­ rung der Naturverleugnung errungen, wie diess bei den Neueren der Fall ist, wenn sie sich zu den gleichen Grundsätzen bekennen [...] son­ dern dem Griechen erscheint beides gleichsehr [...] nothwendig, dass er der Sinnlichkeit ihr Recht lasse, und dass er sie durch den besonne­ nen Willen4 mässige, er weiss es gar nicht anders und er bewegt sich desshalb mit voller Sicherheit, mit dem unbefangensten Gefühl seiner

2 [Zeller, Philosophie der Griechen, S. 126.] 3 [A.a.O., S. 126f.] 4 [Cassirer: den bewussten Weg statt den besonnenen Willen]

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Berechtigung in dieser Richtung.«5 Die modernen Forschungen zur griechischen Religionsgeschichte haben uns dagegen mit den schwe­ ren geistigen Er | schütterungen bekannt gemacht, die auch das Grie­ chentum durch den Gedanken der Transzendenz erfahren hat. Die Weltanschauung der Homerischen Gedichte spiegelt uns in ihrer Frei­ heit von allem Zwange und aller Furcht des Jenseits nur eine kurze Durchgangsphase der Entwicklung wieder, die, kaum erreicht, bereits wieder verlassen war. Eine asketische und lebensfeindliche Stimmung, ein schroffer und düsterer Dualismus, der das Sein der Körperwelt entwertet, dringt in engeren, abgeschlossenen Kreisen, innerhalb der orphischen Sekten zutage, bis er - unter der Einwirkung des thrakischen Dionysoskults - das religiöse Gesamtleben der Nation ergreift. Zu alleiniger und dauernder Herrschaft zwar vermag er auch jetzt nicht zu gelangen: Immer von neuem regen sich die geistigen Grund­ kräfte, die das Maßlose zu gestalten und in feste künstlerische und ver­ standesmäßige Formen einzugrenzen suchen.6 Die »Harmonie« des griechischen Wesens aber erscheint schon hier nicht mehr als eine selbstverständliche Mitgift und Naturgabe des antiken Geistes, son­ dern als eine Errungenschaft, die er gegenüber feindlichen Mächten beständig aufs neue zu erwerben und zu behaupten hat. Von neuem tritt uns dieser Grundzug bei demjenigen Denker entgegen, in dem sich der Inhalt und die Bestimmung der griechischen Kultur am tief­ sten und reinsten ausprägen. Wie sehr Platon von den orphischen Tendenzen beherrscht und bis in Einzellehren hinein bestimmt ist: er hat sie innerlich bereits bewältigt und über sich selbst hinausgeführt. Indem er die Probleme, die hier in der Sprache des Mythos sich verhüllen, zuerst in philosophische Beleuchtung rückt, indem er sie einem System unterordnet, dessen zentrale Frage auf das Wissen und seine Bedingungen gerichtet ist, hat er ihre gefährliche und sinn­ verwirrende Kraft bereits gebrochen. Jetzt müssen sich die Begriffe der Mystik selbst dem Zwange und den Forderungen der Erkenntnis fügen. An dem Grundbegriff der »Psyche« kann man diesen inneren Fortschritt verfolgen: wie er einerseits von Platon ganz unbefangen im Sinne der religiösen Zeitanschauungen oder auch im Sinne der altio­ nischen Naturphilosophie gebraucht wird, während sich auf der andern Seite immer schärfer seine neue Bedeutung herausbildet, nach der er die Einheitsfunktion des Bewußtseins bezeichnet. 5 [Zeller, Philosophie der Griechen, S. 128.] 6 Vgl. Erwin Rohde, Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Grie­ chen, 2 Bde., 2., verb. Ausg., Freiburg i. Brsg./Leipzig/Tübingen 1898, z. B. Bd. II, S. 37, 44, 55, 102, 125 u.ö.

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Die »Harmonie« des griechischen Geistes

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Wenn Platons fundamentale philosophische Tat darin bestand, | das Sein der »reinen Gestalten« zu entdecken und sie der Welt des sinnli­ chen und veränderlichen Scheins entgegenzusetzen, so ist der ganze innere Fortschritt seiner Gedankenarbeit darauf gerichtet, die Bezie­ hung zwischen diesen beiden Gliedern des Seins wiederherzustellen und immer enger zu knüpfen. Nicht indem er über die Erfahrung hinwegsieht, sondern indem er sich immer fester an sie schließt, um mit allen Mitteln des reinen Begriffs die Aufgabe, die sie stellt, zu erfassen und der Lösung entgegenzuführen, vollendet Platon den logischen Aufbau seines Systems. Das Moment des Empirischen wird nicht liegengelassen, sondern in stets erneutem Ringen der Idee zu unterwerfen gesucht. Auch hier spiegelt somit die Einheit der Lehre den Widerstreit wider, aus dem sie sich emporgerungen hat. Wenn unter dieser Betrachtungsweise der Einklang der griechischen Le­ bensanschauung weniger rein und ungebrochen erscheint, so tritt uns darin ihre selbstbewußte Energie und Tiefe nur um so deutlicher ent­ gegen. Das Hegelsche Schema indes birgt eine gefährliche Doppelten­ denz, indem es die Klarheit der antiken Kultur zuletzt auf ihren inneren Mangel an Gehalt zurückdeutet und somit die »klassische« Form im letzten Grunde wiederum unvermerkt zur leeren Hülle her­ absetzt. »Die Gegensätze, zwischen denen sich das menschliche Leben und Denken bewegt, sind noch weniger entwickelt, ihr Verhältniss ist noch harmonischer und gefälliger, ihre Ausgleichung leichter, freilich aber auch oberflächlicher, als in der moder­ nen, aus weit umfassenderen Erfahrungen, härteren Kämpfen und zu­ sammengesetzteren Verhältnissen entsprungenen Weltansicht.«7 Die Art, in der das Problem des Erkennens in der griechischen Phi­ losophie zur Entdeckung gelangt, um sich alsbald in eine gegliederte Mannigfaltigkeit charakteristischer Fragestellungen und Lösungen auseinanderzulegen, würde für sich allein hinreichen, dieses allge­ meine Urteil wesentlich einzuschränken. Man darf in der Tat den Satz wagen - und wir werden versuchen, ihn wenigstens in allgemeinen Umrissen auszuführen -, daß der gesamte Fortgang der griechischen Spekulation durch die stetige und konsequente Entwicklung ihres Wahrheitsbegriffs bestimmt und geleitet ist. In dem gleichen Sin­ ne, wie der formale Maßstab der Wahrheit sich umgestaltet, wan­ delt sich | der Inhalt der verschiedenen Systeme. So bildet der Ge­ sichtspunkt der Erkenntnis und der Wissenschaft hier bereits das latente Regulativ der philosophischen Gesamtbewegung. Zwar darf man zugeben, daß es hier nicht entfernt »zu jener genauen Zerglie­ 7 Zeller, Philosophie der Griechen, S. 141; zum Ganzen s. a. a. O., S. 126 ff.

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derung der Vorstellungstätigkeit« kommt, »wie sie in der neueren Philosophie seit Locke und Hume vorgenommen worden ist«,8 daß - mit anderen Worten - das psychologische Interesse an der Entstehung der Vorstellungen nirgends zum eigentlichen Zentrum und Zielpunkt wird. Die psychologischen Grundeinsichten sondern sich nur als mittelbarer Ertrag aus dem Fortschritt der objektiven Untersuchung heraus. Zu je reinerer Betrachtung und Beherrschung der äußeren Wirklichkeit der Gedanke sich erhebt, zu um so schärfe­ rer Abscheidung gelangen die »subjektiven« Aussagen und Vermögen der Sinne. Heraklit wie die Eleaten, die Atomistik wie die Naturphi­ losophie des Anaxagoras und Empedokles vereinen sich hier zu dem gleichen Ziele. Die psychologische Fundamentalunterscheidung der »primären« und »sekundären« Qualitäten wird rein in der Richtung auf die objektiven Prinzipien der Natur und deren gedankliche Siche­ rung erreicht. Auch bei Platon bildet die Psychologie nirgends den Selbstzweck, sondern nur ein Mittel, das dem Verständnis der syste­ matischen Abhängigkeit der Erkenntnis Inhalte dienen soll: Aber gerade unter diesem Leitgedanken gelangt sie bei ihm zu kräftigster und originalster Entfaltung. Die psychologische Zergliederung der Sinneswahrnehmung, wie sie der »Theaitetos«, die Analyse des Lustund Unlustbegriffs, die der »Philebos« enthält, sind durch die moderne Kritik zwar ergänzt, aber in den wesentlichen Bestimmun­ gen nicht angetastet worden. So hat sich die Hingabe an die objektiv gültigen wissenschaftlichen Prinzipien zugleich für die Fassung und Vertiefung des Bewußtseinsbegriffs fruchtbar erwiesen. Hierin aber zeigt sich Platon der modernen Denkart, wie sie sich allerdings nicht in Locke und Hume, wohl aber in Leibniz und Kant ausspricht, innerlich verwandt. Wenn Zeller die spezifische Eigenart des Platoni­ schen Idealismus darin erblickt, daß er nicht auf die Analyse der sub­ jektiven Erkenntnistätigkeit den wesentlichen Nachdruck lege, daß er nicht, wie die Neueren, zunächst die Entwicklung des Wissens nach ihrem psychologischen Verlauf und ihren Bedin|gungen ins Auge fasse und überhaupt »weit weniger nach der Art, wie die An­ schauungen und Begriffe in uns entstehen, als nach der Geltung, die ihnen an sich zukommt«,9 frage, so zeigen diese Sätze, die eine Sonderstellung Platons und der Antike beweisen sollen, mittelbar den genauen Zusammenhang mit den Grundtendenzen der objektiven Erkenntniskritik. Auch das weitere Kriterium der Unter­ scheidung, das aus der metaphysischen Bedeutung der Ideenlehre 8 [A.a.O., S. 133.] 9 [A.a.O., S. 139.]

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Platons Grundlegung der Erkenntnis

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entnommen wird, reicht hier nicht aus. Denn geben wir selbst einmal zu, daß die Auffassung Zellers unangreifbar wäre und daß somit die Ideen wirklich von Platon zu metaphysischen Substanzen hypostasiert worden wären, so bleibt doch das Faktum zweifellos und uner­ schütterlich bestehen, daß Platon von der Begriffsbestimmung des Wissens seinen Ausgangspunkt genommen. Nicht die nachträgli­ che Deutung, die er etwa später der Ideenlehre gegeben hat, sondern ihr Grund und ihr logischer Ursprung ist hier das Entscheidende. Sobald die schlichte Frage: τί εστι επιστήμη einmal erwacht und in ihrer Bedeutung erkannt ist, ist damit - wie immer auch der Fortgang sich im einzelnen gestalten mag - jenes »kritische Verhalten zu unse­ ren Vorstellungen« gegeben, das Zeller der antiken Wissenschaft ab­ spricht. Nur die eingehendste Zergliederung der einzelnen geschichtlichen Erscheinungen vermöchte die Bedeutung, die dem Erkenntnispro­ blem, wenn nicht der Erkenntnistheorie, im Ganzen der griechi­ schen Spekulation zukommt, ans Licht zu stellen. Hier müssen wir uns damit begnügen, einige typische Hauptphasen der Gesamtent­ wicklung, die sich für die neuere Zeit besonders fruchtbar und wich­ tig erwiesen haben, herauszugreifen. Sehen wir von der ionischen Naturphilosophie ab, in der die Betrachtung in der Tat noch völlig im Objekt und der Entdeckung seiner wesentlichen Beschaffenheit gebunden bleibt, so zeigt uns alsbald die Pythagoreische Lehre, wie mit den ersten Anfängen der exakten Wissenschaft zugleich ein tiefe­ res reflexives Selbstbewußtsein erwacht. Ein antiker Zeuge, dem wir in diesen Fragen folgen dürfen, belehrt uns über diesen Zusammen­ hang. In seinem Kommentar zum Euklid führt Proklos den Ursprung der Geometrie auf Pythagoras zurück, weil dieser, während die Früheren den allgemeinen Lehrsatz häufig nur an einzelnen sinn | liehen Beispielen und durch empirische Proben erwiesen hätten, zuerst diese Lehre in die Form einer freien Wissenschaft gebracht habe: »indem er von oben her die Prinzipien betrachtete und ohne stoffliche Hilfe, rein gedanklich die Theoreme durchforschte« (»ανωύεν τάς άρχάς αυτής έπισκοπονμενος και άύλως και νοερώς τα θεωρήματα όιερεννώμενος«).1® So ringt sich, gegenüber der Geo­ metrie der Ägypter, die noch in den nächsten praktischen Zielen empi­ rischer Messung wurzelte, hier zuerst der Gedanke einer reinen, 10 Proclus Diadochus, In primum Euclidis elementorum librum commentarii. Ex recognitione Godofredi Friedlein (Prolog II), Leipzig 1873, S. 65, Z. 17ff., zitiert nach: Hermann Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1903, S.279 f.: S.280.

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streng deduktiven Wissenschaft ans Licht. Eine neue Art von Wahrheiten wird entdeckt, die rein für sich und ohne daß nach der Existenz der Einzelsubjekte und Einzelbeispiele gefragt zu werden brauchte, Bestand und Gewißheit besitzen. Freilich vermag das Den­ ken diesen »Bestand« noch nicht anders auszudrücken und festzuhal­ ten, als indem es ihm selbst die Form des Seins gibt. Die echte Wesen­ heit der Dinge kann nun nicht länger in den konkreten sinnlichen Substanzen der Physiker gesucht, sondern muß in einem allgemeinen, rein gedanklichen - Urstoff begründet werden. So steht die Pytha­ goreische Lehre durch den Gesichtspunkt und die Kategorie der Betrachtung, die sie zugrunde legt, noch im engen Zusammenhang mit der ionischen Spekulation, die sie andererseits doch mit einem völlig veränderten Inhalt erfüllt. Um der neuen Einsicht, die von der Er­ kenntnis und ihrer Gliederung erreicht ist, zu genügen, wird jetzt eine neue Art der Substanz erdacht. Die Fragmente des Philolaos lassen in ihrer prägnanten Form die Einheit dieser beiden Momente klar her­ austreten. Alles Erkennbare, alles, was ein Gegenstand des Wissens werden soll, muß an der Zahl und ihrer Wesenheit teilhaben: »Denn ohne sie läßt sich nichts begreifen und verstehen.«11 »Denn die Natur der Zahl ist kenntnisspendend, führend und lehrend für jeglichen in jeglichem Dinge, das ihm zweifelhaft oder unbekannt ist. Denn nichts von den Dingen wäre irgendwem klar, weder in ihrem Verhältnisse zu sich noch zu andern, wenn die Zahl nicht wäre und ihr Wesen. So aber macht sie alle Dinge, indem sie sie innerhalb der Seele mit der Sinneswahrnehmung in Einklang setzt, erkennbar und einander entspre­ chend nach der Natur des Gnomons, indem sie ihnen Körperlichkeit verleiht und die Verhältnisse der Dinge, der begrenzenden wie der unbegrenzten, jegliches für sich sondert und | scheidet.« (»[...] σωμάτων καί σχιζών τούς λόγους χωρίς έκάστους των πραγμάτων των τε άπειρων καί των περαινόντων.«)12 So ist es die Zahl, die auf der einen Seite das Chaos der Seele lichtet und klärt und die ver­

11 »και πάντα γα μάν τά γιγνωσκόμενα άριύμόν έχοντν ον γάρ οϊόν τε ονδέν οντε νοηύήμεν οντε γνωσύήμεν άνεν τούτον.« Philolaos, Fragm. 4, zitiert nach: Diels, Fragmente, S. 250. 12 [Philolaos, Fragm. 11, zitiert nach Diels, Fragmente, S.253: »γνωμικά γάρ ά φύσις ά τώ άρινμώ και ηγεμονικά και διδασκαλικά τώ άπορονμένω παντός και άγνοονμένω παντί. ον γάρ ής δηλον ονδενι ονδέν των πραγμάτων οντε αντών πού’ αντά οντε άλλω προς άλλω, εί μή ής άριύμός καί ά τοντω ονσία. ννν δέ οντος καττάν ψνχάν άρμόζων αίσύήσει πάντα γνωστά και ποτάγορα άλλάλοις κατά γνώμονος φύσιν άπεργάζεται σωμάτων καί σχιζών τούς λόγονς χωρίς έκάστονς των πραγμάτων των τε άπειρων καί των περαινόντων.«]

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Die Pythagoreer

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schwimmende Vielheit der Wahrnehmungen nach Maß und Gesetz abgrenzt und die andererseits den Objekten der Erkenntnis ihre feste Gestaltung und Fügung gibt. Weil ihrem Begriffe aller Trug fremd ist, weil sie das erkennende Bewußtsein nicht zu täuschen vermag, darum darf sie uns allein die Bürgschaft des echten unveränderlichen Seins heißen. »Nichts von Lüge nimmt die Natur der Zahl, der die Harmo­ nie eignet, an. Denn diese ist ihrer Natur nicht eigen, vielmehr ist die Wahrheit dem Geschlechte der Zahl ursprünglich verwandt und ein­ geboren.«13 So wird der Inhalt der Wirklichkeit hier freilich dogma­ tisch bestimmt: Aber es ist ein Dogmatismus, der keine anderen Inter­ essen und keine anderen Forderungen über sich anerkennt als den Maßstab der Erkenntnis. Es ist der reine, wissenschaftliche Begriff, der sich hier zum ersten Male absolut setzt. Wenn hierbei Begriff und Sein, wenn die intellektuellen Prinzipien und die Sinnendinge noch unterschiedslos ineinander aufgehen, so hat sich selbst diese Schranke der Pythagoreischen Denkweise - so paradox dies erscheint - als eine schöpferische geschichtliche Macht bewährt. Wären die Pythagoreer bei dem eigentlichen Gehalt ihrer Entdeckung stehengeblieben, so wäre ihnen damit das Gesamtgebiet der reinen Mathematik gewonnen gewesen: Aber erst indem sie hierüber hinausgehen und Stoffliches und Gedankliches unmittelbar in eins setzen, werden sie damit zu­ gleich zu den Begründern der empirischen Forschung. Man sollte niemals vergessen, daß die ersten Anfänge der wissenschaftlichen Astronomie wie der exakten Physik einer derartig kühnen, gedankli­ chen Antizipation ihren Ursprung verdanken. Den Reiz und die fortwirkende Kraft dieser Denkweise kann man sich noch unmittel­ bar an der Schwelle der neueren Zeit in Kepler von neuem zur An­ schauung bringen. Mit diesem Ausgangspunkt der griechischen Spekulation aber ist bereits ihrem ganzen weiteren Verlauf ein eigentümlicher und unver­ änderlicher Charakter aufgedrückt. Wir müssen die griechische Phi­ losophie mit anderen Entwicklungsreihen vergleichen, wir müssen sie etwa der Geschichte des indischen Denkens gegenüberstellen, um uns dieser ihrer auszeichnenden Besonder | heit zu versichern. Wenn hiersoweit über diese Zusammenhänge nach Übersetzungen und Berich­ ten ein Urteil sich fällen läßt - auf der einen Seite eine auffallende Übereinstimmung in dem metaphysischen Inhalt einzelner Lehren hervortritt, so scheiden sie sich alsbald durch die gedankliche Ten­ 13 S. a.a.O., S.253f. [S.254: »ψεύδος δε ούδέν δέχεται ά τώ άρν&μώ φύσις, ον αρμονία' ον γάρ οίκείον αντώ έστι. [...] ά δ’άλήΰεια οίκείον καί σύμφντον τάι τώ άρισμώ γενεάι.«].

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Einleitung

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denz, der sie ihren Ursprung verdanken. So gehört gleich das näch­ ste große Grundmotiv der griechischen Spekulation: der Gedanke vom »Fluß der Dinge«, zu denjenigen typischen und allgemeinen Zügen des metaphysischen Weltbildes, die sich in getrennten und selbständigen Entwicklungen gleichmäßig wiederzufinden pflegen. Er wird fast zur selben Zeit wie von Heraklit in der Buddhistischen Lehre erfaßt und sogleich in aller dialektischen Schärfe und Feinheit bis in seine letzten Folgerungen weitergeführt. Der Gedanke der Substanz wird auch hier, nach dem ganzen Umfang seiner Bedeu­ tung und Leistung, logisch entwurzelt: Wo die Anschauung von blei­ benden »Dingen« spricht, da sieht der Gedanke nur einen ewig sich erneuernden Prozeß, in dem nur die subjektive Willkür feste Haltund Ruhepunkte zu unterscheiden sucht. Und wie im Gebiet der Natur, so versagt die Buddhistische Ansicht - in einer Kritik, die an spekulativer Energie noch über Heraklit hinausgeht - dem Substanz­ begriff auch im Gebiet des Innenlebens jede Anwendung: Wie das Objekt, so löst sie nicht minder das »Ich« in eine Folge von Ereig­ nissen und Vorgängen auf, die durch keinen sachlichen »Träger« miteinander verbunden sind.14 Aber wenn im Buddhismus alle diese Gedanken nur auf das eine ethische und religiöse Grundziel der Erlö­ sung gerichtet sind und außerhalb dieser Bestimmung ihren Halt und ihr eigentliches Wesen verlieren, so bilden sie bei Heraklit nur das Außenwerk für eine fundamentale logische Konzeption. Auf dem Grunde der ästhetischen Gesamtanschauung des rastlosen Werdens liegt der Begriff einer universalen Gesetzmäßigkeit, die diesen Prozeß beherrscht und ihn in sich selbst stetig und gleichförmig macht. Mitten durch die Bildersprache des Mythos hindurch klingt uns dieser neue Gedanke entgegen. »Die Sonne wird ihre Maße nicht überschreiten - täte sie es, so würden die Erinnyen, die Hüterinnen des Rechtes, sie ausfindig zu machen wissen.«15 Alle Erkenntnis, alle Arbeit der Forschung ist darauf gerichtet, dieses allumfassende Ver­ nunftgesetz, das über allem besondern | Geschehen und allen Gedan­ ken der einzelnen waltet, zu entdecken und zur Aussprache zu brin­ gen: »[...] εν τό σοφόν, επίστασΰαι γνώμην, ότέη έκνβέρνησε πάντα διά πάντων.«16 Aber in dieser pantheistischen Wendung ist 14 S. hierzu Hermann Oldenberg, Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Ge­ meinde, 4., durchges. Auf!., Stuttgart/Berlin 1903, S. 289 ff. 15 Heraklit, Fragm. 94, zitiert nach Diels, Fragmente, S.79f. [»ήλιος γάρ ονχ ύπερβήσεται (τά) μέτρα' εί δε μή, Έρινύες μιν Δίκης επίκουροι έξευρήσουσιν.«]. 16 Ders., Fragm. 41, zitiert nach Diels, Fragmente, S. 73; vgl. Heraklit, Fragm. 1 u. 2, Diels, Fragmente, S. 66.

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Der Begriff des Gesetzes - Heraklit

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der Gehalt der Herakliteischen Grundanschauung nicht erschöpft. Auch die Religionen dringen in ihrer höchsten spekulativen Ent­ wicklung bis zu dem Begriff eines obersten Weltgesetzes vor, das in seinem strengen und unverbrüchlichen Walten über alle menschliche und göttliche Willkür erhaben ist. Die Weden drücken diese Anschau­ ung in einem Begriff aus, der zunächst den Lauf und die geordnete Bahn der Gestirne bezeichnet, bis er in immer abstrakterer Durchbil­ dung zu dem allgemeinen Gedanken einer durchgehenden Ordnung des Alls sich erhebt. Das Wort Rita, das für diesen Gedanken gebraucht wird, ist - nach Max Müller - mit den Stammworten, aus denen die Worte »ordo« und »ratio« hervorgegangen sind, etymolo­ gisch nahe verwandt.17 Je mehr man sich indes alle diese Analogien vergegenwärtigt, um so klarer tritt das unterscheidende Moment des griechischen Denkens hervor. Der Gedanke des Gesetzes zeigt in der Gestaltung und Prägung, die er durch Heraklit erhält, deutlich die Einwirkung des neuen mathematischen Wissensideals. Mit vollem Rechte hat man in ihm die Konsequenz und Fortbildung Pythagorei­ scher Grundansichten gesehen.18 »Diesen Kosmos hier, der derselbige für alle Wesen ist, hat nicht einer der Götter oder Menschen geschaf­ fen, sondern er war immerdar und wird sein: ein ewig lebendiges Feuer - nach Maßen sich entzündend und nach Maßen verlö­ schend.«19 In diesem Begriffe des Maßes spricht sich ein Grundmo­ ment der griechischen Kultur aus, das von der Wissenschaft aus alle ihre Teile gleichmäßig durchdringt und beherrscht. Auch in der eleatischen Lehre lassen sich die allgemeinen Motive, durch die sie mit der Gesamtbewegung des metaphysischen Den­ kens zusammenhängt, deutlich genug erkennen. Die Art, in der die Alleinheitslehre bei Xenophanes aus religiösen Antrieben ent­ springt und sich durchsetzt, hat wiederum in der indischen Philoso­ phie ihr genaues Gegenbild.20 Es wäre indes unfruchtbar, bei diesen Analogien verweilen zu wollen, da stärker als sie alle das trennende

17 S. Max Müller, Lectures on the origin and growth of religion as illustrated by the religions of India, Neudruck: London 1898, S. 241 ff. 18 Theodor Gomperz, Griechische Denker. Eine Geschichte der antiken Phi­ losophie, 3Bde., Leipzig 1896ff., Bd.I, S.61 f. 19 Heraklit, Fragm. 30, zitiert nach Diels, Fragmente, S. 71 [»κόσμον (τόνδε), τόν αυτόν άπάντών, οντε τις ΰ'εών οντε άνΰρώπων έπ οίησεν, άλλ’ ήν αεί καί έστιν καί έσται πνρ άείζωον, άπτόμενον μέτρα καί άποσβεννύμενονμέτρα.«]. 20 Man vergleiche, um sich diesen Zusammenhang zu vergegenwärtigen, ins­ besondere Müller, Lectures on religion, S. 241 sowie Paul Deussen, Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen, Bd.I, 2. Abt.: Die Philosophie der Upanishad’s, Leipzig 1899, S.204ff.

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Einleitung

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Moment sich aufdrängt. Das Problem des »Logischen« kommt zum erstenmal zu gesonderter be|wußter Betrachtung. Wenn bisher ein Verhältnis und eine Wechselbedingtheit von Sein und Denken zwar überall stillschweigend angenommen, aber nirgends sicher bestimmt und begründet war, so wird jetzt die bewußte Tätigkeit des Denkens, so wird der »Logos« selbst aufgerufen, um die Frage zu prüfen und kritisch zu schlichten: »[...] κρϊναι δε λόγωι πολύδηρι/ν ελεγχον εξ έμέ&εν ρηϋ'έντα.«21 Unabhängig von jeder anderen Instanz steckt nunmehr der Gedanke den Umkreis des Seins ab und bestimmt es als eine ungewordene und unzerstörbare, in sich selbst überall lückenlose und unteilbare Einheit. Aber wenngleich alle diese Bestimmungen rein in den Höhen abstrakter Dialektik gewonnen werden und jeder Rückblick auf die Welt der sinnlichen Erscheinungen verwehrt ist, so ist doch auch hier der Zusammenhang mit der exakten Wissen­ schaft nur scheinbar abgebrochen. Inden Zenonischen Aporien vor allem ist, trotz des lediglich negativen Ergebnisses, mit dem sie zu enden scheinen, der Urgrund einer künftigen Prinzipienlehre der Mathematik gelegt. Man hat es auch aus speziellen historischen Erwä­ gungen wahrscheinlich gemacht, daß die Probleme der Pythagorei­ schen Zahlenlehre es sind, auf die Zenon in seinen Beweisen hin­ blickt. Seine Kritik richtet sich nicht einzig gegen die unmittelbare sinnliche Anschauung der Dinge, sondern gegen eine wissenschaftli­ che Weltansicht, die - einzig mit dem Denkmittel der diskreten Quan­ tität ausgerüstet - die stetige Vielheit und die Bewegung gedanklich zu bewältigen vermeint.22 Der Grundmangel der Pythagoreischen Leh­ re, daß in ihr Materie und Form ineinanderfließen, daß das »Ab­ strakte« sich an keinem Punkte rein vom Empirischen und Konkreten gelöst hat, wird jetzt erkannt und herausgehoben. Wenn es ein reines Denkprinzip war, das hier das Element des Seins setzte, so wurde doch die Verknüpfung des Seins lediglich auf Grund der sinnlichen Erfahrung behauptet, nicht aber in einem neuen Begriff begründet. Solange dieser Begriff nicht entdeckt ist, solange wir kein reines logisches Mittel gefunden haben, um die kontinuierliche Größe zu denken: so lange bleibt ihr »Sein« problematisch. Wir sahen zuvor, wie in den Fragmenten des Philolaos die Zahl als die notwendige Voraus­ setzung jeglicher Sonderung im Denken und Sein verkündet wurde: Jetzt zeigt sich, daß von der Sonderung, die sie vornimmt und | vertritt, kein Weg zur ursprünglichen Einheit und Totalität zurück­ 21 [Parmenides, Fragm.7, Z.5f., zitiert nach: Diels, Fragmente, S. 121.] 22 Vgl. Paul Tannery, Pour l’histoire de la Science Hellene. De Thales ä Empe­ docle (Kap. 10), Paris 1887, S. 247ff.

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Die Eleaten

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führt, daß sie den Inhalt, den sie in seine Bestandteile zerfällt hat, nicht wieder aus ihnen zurückzugewinnen und aufzubauen vermag. Die Zahl und die diskrete Vielheit - so läßt sich die Zenonische Beweis­ führung zusammenfassen - genügt dem Problem der Größe nicht: Wie vermöchten wir in ihnen die Bedingungen aller Wahrheit und alles Seins anzuerkennen? Denn als Größe, als stetiges, unteilba­ res Ganze wird auch hier das Sein noch gedacht. Was nicht in dieser Form sich darstellt, was nicht als ein abgeschlossener, gleichförmiger und unterschiedsloser Inhalt das Denken ausfüllt, das besitzt keine echte Realität. So zeigt sich uns hier das Doppelantlitz des eleatischen Seins, das auf der einen Seite nichts anderes als der Inbegriff und die Zusammenfassung für die allgemeinen Forderungen ist, die der Gedanke stellt, während es andererseits im Bilde der wohlgerundeten Kugel in einer unmittelbaren Anschauung vor das erkennende Bewußtsein hintritt. Der Begriff des Seins verfließt in den Begriff des »Vollen«: Die Einheit des Alls wird mit der durchgehenden, lücken­ losen Raumerfüllung gleichbedeutend. In diesem zwiefachen und zwiespältigen Ergebnis liegt der eigent­ liche Antrieb für den weiteren Fortschritt. Dieselbe kritische Wen­ dung, die den Übergang von der Pythagoreischen zur eleatischen Phi­ losophie vollzog, genügt, schärfer gefaßt und durchgeführt, um die Entwicklung der Atomistik aus der Grundlage der Parmenideischen Lehre zu erklären. Der bekannte Bericht des Aristoteles über die Entstehungsgründe der atomistischen Theorie setzt diesen Zu­ sammenhang bereits in helles Licht. Wenn ältere Philosophen - so heißt es hier - in der Überzeugung, daß man allein dem Begriffe zu folgen habe, die Wahrnehmung verleugneten und über sie hinwegsa­ hen, und wenn sie demgemäß das Seiende als eins und unbeweglich setzten, so glaubte, im Gegensatz hierzu, Leukipp Vernunftgründe zu besitzen, die, mit der Wahrnehmung im Einklang, weder Entstehen noch Vergehen, weder die Veränderung noch die Vielheit der Dinge aufhöben. Denn indem er auf der einen Seite aus den Phänomenen schloß, daß es ohne einen leeren Raum keine Bewegung geben könne, auf der anderen Seite dagegen den Vorkämpfern der Alleinheitslehre das Zugeständnis machte, daß das Leere ein Nicht-Seiendes | sei - so ergab sich ihm hieraus, daß für den Bestand der Wissenschaft der Erscheinungen dieses Nicht-Sein nicht minder notwendig und nicht minder unentbehrlich sei wie jenes angeblich ausschließliche »Sein«.23 So ist es eben die Zergliederung des Inhalts und der Aufgabe 23 S. Aristoteles, De generatione et corruption, 324 b, Z.35ff. u. 325a, Z. 13 ff. (bei Diels, Fragmente, S. 358 u. 112f.).

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Einleitung

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der Erfahrungswissenschaft, so ist es die begriffliche Kraft dieser Analyse, die uns nötigt, dem Sinnenschein entgegen das Leere zu set­ zen und zuzulassen. Was in dieser Analyse als nicht weiter zerlegba­ res, ursprüngliches Grundmoment beharrt, das hat damit sein Recht erwiesen, gleichviel ob es sich in einer gegenständlichen An­ schauung beglaubigen und vor das Bewußtsein hinstellen läßt oder nicht. »[...] μή μάλλον τό δεν η τδ μηδέν [...]«: Das »Ichts« hat kei­ nen festeren Halt und keinen tiefer gegründeten Anspruch als das Nichts.24 Das war die innere Zweideutigkeit in dem Parmenideischen Satze der Identität von Denken und Sein, daß er auf der einen Seite zwar den Gedanken als obersten, unabhängigen Maßstab pro­ klamierte, auf der andern indes nur solche Begriffsinhalte aner­ kannte, die in einem »Sein«, in einem substantiellen Einzelinhalt, ihre Darstellung und ihre Ausprägung besaßen. Nunmehr verkehrte sich das Verhältnis in sein Gegenteil: Das Sein ward als der Abschluß und als der notwendige Halt des Denkens, das sonst ohne feste Bindung bliebe, gefordert. »Denn nicht ohne das Seiende, in dem es sich ausgesprochen findet, kannst Du das Denken treffen, da es ja nichts außerhalb des Seienden gibt noch geben wird.«25 Dieses unlösliche Haften der reinen »Aussage« an dem Dasein, auf das sie sich bezieht, bildet ebensowohl ihre Bestimmung wie ihre Schranke. Wahrheit denken wir nunmehr nur insoweit, als wir - Dingliches denken. Indem Demokrit die inneren Mängel dieses Wahrheitsbegriffs kritisch aufdeckt, begründet er darin zugleich die sachliche Notwen­ digkeit der Atome und des Leeren als der beiden Grundgestaltungen, aus denen die empirische Wirklichkeit sich aufbaut. Es ist vergeblich, wenn empiristisch gesinnte Geschichtsschreiber sich bemühen, diesen inneren logischen Zusammenhang, der zwischen der Atomistik und der eleatischen Lehre besteht, zu lockern, weil es ihnen anstößig ist, daß ein System, das völlig auf das »reine Denken« gestellt ist, der Aus­ gangspunkt einer Lehre geworden sein soll, die das eigentliche Fun­ dament der exakten Erfahrungswissenschaft bildet.26 Nicht durch ein Nach | lassen, sondern durch eine Verschärfung der strengen Begriffsforderungen der Eleaten, durch ihre genauere Durchführung und ihre konsequentere Anwendung auf die Erscheinungen ist die Lehre Demokrits entstanden. Nicht die unmittelbare Welt der Sinne

24 Demokrit, Fragm. 156, Diels, Fragmente, S.432 f.: S.433. 25 Parmenides, Fragm. 8, Z. 35 ff., Diels, Fragmente, S. 124 [»ον γάρ άνεν τον έόντος, έν an πεφατισμένον έστι,ν, ενρήσενς τό νοείν ονδέν γάρ (ή) έστω η έσταί άλλο πάρεξ τον έόντος [...]«]. 26 Gomperz, Griechische Denker, Bd.I, S.278f.

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Die Atomistik und ihre begrifflichen Grundlagen

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ist es, die er wiederherzustellen unternimmt - sie wird schärfer als je zuvor als ein Produkt der unebenbürtigen Erkenntnis, der σκοτίη γνώμη gekennzeichnet: Was er erkennt und in festen logischen Umrissen zeichnet, ist der allgemeine Begriff der Erfahrung und des empirischen Seins. Um ihn zu sichern, dazu bedarf es nicht minder als des Denkens der Substanz, bei dem die eleatische Lehre verharrte, des Denkens der Relation. Bei Parmenides hatte sich der ursprüngli­ chen Begriffskonzeption zuletzt dennoch eine unmittelbare An­ schauung des Seins untergeschoben, und diese mußte, da es nur ein Sein geben konnte und durfte, das empirische Bild des Werdens ver­ drängen und aufheben. Indem die Atomistik nicht länger versucht, sich ihre Begriffe in diesem konkreten Sinne vorstellig zu machen, indem sie sie als ein μηδέν, als eine bloße Form der Beziehung denkt, gewinnt sie gerade in diesem Verzicht den echten Grundgehalt des phänomenalen Seins zurück. Das Wirkliche erfüllt sich ihr von neuem mit Mannigfaltigkeit und Bewegung, weil sich der Gedanke von der Bindung an ein starres, absolutes Sein befreit hat. Der Man­ gel, den die eleatische Kritik an der Pythagoreischen Lehre aufgewie­ sen hatte, ist erst jetzt wahrhaft und positiv behoben: Nicht nur für die Elemente des Seins, sondern auch für die Relationen und Ver­ knüpfungen, die sie eingehen, ist ein rein gedankliches Schema und Vorbild geschaffen. Was der bloßen mathematischen Zahl versagt blieb, die Vielheit der Erscheinungen zum exakten Verständnis zu bringen, das leisten die Begriffe des Atoms und des leeren Raumes. So bietet uns das gesamte Denken der Vorsokratiker, wenn wir es nur in seinen logischen Höhepunkten verfolgen, überall das Schau­ spiel einer in sich notwendigen und beständig aufsteigenden Ent­ wicklung dar. Immer mehr tritt das naive Bild der Wirklichkeit zu­ rück, um rein gedanklichen und rationalen Entwürfen, die sich stetig einander ergänzen, Platz zu machen. Die mythische Phantasie, die zuvor die Ursprünge des Seins und Werdens zu enträtseln unternahm, ist seit den Tagen der ionischen Naturphilosophie Schritt für Schritt der konstruktiven | Phantasie der Mathematik und der Wissenschaft gewichen. Bei aller Freiheit und Weite des Blickes indessen, die sich damit auftat, sind doch alle bisherigen Phasen durch eine gemeinsame Schranke charakterisiert und gebunden. Sie alle verwandeln die Inhalte des Seins in Inhalte des Gedankens; aber ihr Augenmerk ist dabei ein­ zig auf das Produkt, nicht auf den Prozeß dieser Umbildung gerichtet. Die Funktion des reinen Begriffsdenkens verbirgt sich noch durchweg hinter ihren Ergebnissen und kommt nicht zu geson­ derter, bewußter Bestimmung. Diese Funktion zum eigentlichen und ursprünglichen Objekt gemacht und sie in das Zentrum aller philo­

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Einleitung

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sophischen Betrachtung gestellt zu haben: dies ist es, was den unver­ gleichlichen und ewigen Wert der Platonischen Ideenlehre ausmacht. Man hat gegen die Platonische Philosophie hie und da eingewandt, daß sie kein eigentlich neues wissenschaftliches »Prinzip« in die Be­ trachtung eingeführt, sondern nur den Inhalt der vorangegangenen zusammengefaßt und zur systematischen Einheit verknüpft habe, und hat hieraus den Schluß gezogen, daß schon hier die ursprüngliche spe­ kulative Grundkraft des griechischen Geistes allmählich zu versiegen beginne. In der Tat ist es kein neuer materialer Gehalt, kein einzel­ ner wissenschaftlicher Erklärungsgründ, der in der Ideenlehre zur Auszeichnung käme. Ihr ganzer Sinn und ihre ganze Originalität liegt in der neuen Beleuchtung, in die sie das Gesamtgebiet des Wis­ sens rückt. Ihre geschichtliche Größe erweist sich darin, daß sie die Kräfte, von denen der gesamte bisherige Gedankenprozeß unbewußt getrieben wurde, durchschaut und ans Licht stellt. So führt sie, indem sie den Fortgang des synthetischen Aufbaus scheinbar abbricht, nur um so tiefer in sein eigentliches Fundament zurück. In diesem Zuge erscheint Platon als echter Sokratiker, der, wenn er dem Schatze der Prinzipien keinen neuen Grundsatz hinzufügt, eben in diesem fruchtbaren »Nichtwissen« zum Urheber der philosophischen Selbstbesinnung wird. Und wie Sokrates vom Selbstbewußt­ sein seinen Ausgang nahm, nicht um sich in die Geheimnisse und Tiefen des individuellen Seelenlebens zu vertiefen, sondern um das objektive Gesetz des Sittlichen zu entdecken, so richtet Platon die Frage nur darum auf die Tätigkeit des Erkennens, um den dauernden und sicheren Inhalt, der sich aus | ihr ergibt, zu fixieren. Sein Thema und sein alleiniges Problem ist nicht mehr das Sein, in welcher Gestalt und Umformung es auch ergriffen werden möge, sondern schlechthin das Wissen und seine Grundlagen. Man begreift es daher, wenn ihm selbst, auf den Höhepunkten seiner Spekulation, alle Leistung der Vorgänger, sosehr er beständig auf sie zurückweist, doch fast wie ein - Mythos erscheinen will: sofern sie stets ebendas vorausgesetzt haben, was einzig und allein in Frage steht. Auch der »Vater Par­ menides«, den er vor allen andern »groß und verehrungswürdig« nennt und dessen edle Tiefe er rühmt, wird von diesem Urteil nicht ausgenommen. Er wie alle anderen, die jemals an eine Scheidung (κρίογς) des Seienden sich gewagt hätten, um zu bestimmen, von wel­ cher Art und wie vielerlei es sei, wären »etwas obenhin« verfahren. »Jeder, scheint es, hat uns sein Geschichtchen (μϋ&όν uva) erzählt wie Kindern. Der eine, dreierlei wäre das Seiende, bisweilen einiges davon miteinander in Streit, dann wieder alles Freund, da es dann Hochzeiten gibt und Zeugungen und Auferziehungen des Erzeugten.

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Die Kritik des Seinsbegriffs - Platon

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Ein anderer beschreibt es zweifach, feucht und trocken oder warm und kalt, und bringt beides zusammen und stattet es aus. Unser Geschlecht der Eleaten aber, vom Xenophanes und noch früher ange­ fangen, trägt seine Geschichte so vor, als ob, was wir All nennen, nur eines wäre. Gewisse ionische und sikelische Musen aber haben spä­ terhin gemerkt, es wäre sicherer, beides zu verknüpfen und zu sagen, das Seiende sei zugleich vieles und eines und werde durch Haß und Liebe zusammengehalten. [...] Ob nun an dem allen einer von ihnen etwas Wahres gesagt hat oder nicht, das ist schwer zu entscheiden, und es ist wohl auch frevelhaft, gegen so hochberühmte Männer der Vor­ zeit Vorwürfe zu erheben: Soviel aber kann man doch, ohne sich irgend zu vergehen, behaupten [...] daß sie allzusehr über uns, die große Menge, hinweggesehen und wenig auf uns acht genommen haben. Denn ohne irgend danach zu fragen, ob wir ihnen folgen kön­ nen oder Zurückbleiben, vollenden sie alle ihren Spruch. [...] Ich meine nun, wir müßten die Methode anwenden, sie zu befragen, als ob sie selbst gegenwärtig wären. Ihr, die Ihr vom All sagt, es sei warm und kalt oder irgendein anderes derartiges Gegensatzpaar, was sagt Ihr von diesen beiden Gliedern eigentlich aus, indem Ihr von jedem einzelnen und von ihnen insgesamt behauptet, daß sie sind [?] |Was sollen wir unter diesem Eurem Sein verstehen? [...] Da wir selbst keinen Rat wissen, so macht doch Ihr uns recht deutlich, was Ihr damit ausdrücken wollt, wenn Ihr vom >Seienden< sprecht. Denn offenbar wißt Ihr doch dies schon lange, wir aber glaubten es vorher schon zu wissen, jetzt aber stehen wir ratlos.«27 An diesem Punkte hat 27 Platon, Sophistes 242c-243b u. 243d-244a (übersetzt nach Schleiermacher) [»Μϋΰόν τινα έκαστος φαίνεταιμοι διηγείσαι παισίν ώς ούσιν ήμϊν, ό μεν ώς τρία τα δντα, πολεμεϊ δέ άλλήλοις ενίοτε αυτών άττα πη, τότε δε καί φίλα γιγνόμενα γάμους τε καί τόκους καί τροφάς των έκγόνων παρέχεται/ δύο δέ έτερος είπών, υγρόν καί ξηρόν η θερμόν καί ψυχρόν, συνοικίζει τε αυτά καί έκδίδωσι. τό δέ παρ’ ήμϊν Ελεατικόν έΰνος, άπό Ξενοφάνους τε καί έτι πρόσίϊεν άρξάμενον, ώς ενός όντος των πάντων καλούμενων, ούτω διεξέρχεται τοϊς μύύοις. Ίάδες δέ καί Σικελαί τινες ύστερον Μοΰσαι ξυννενοήκασιν, δτι συμπλέκειν άσφαλέστατον άμφότερα καί λέγειν, ώς τό δν πολλά τε καί εν έστιν, έχΰρα δέ καί φιλία συνέχεται. [...] ταϋτα δέ πάντα εί μέν άληύώς τις η μή τούτων εϊρηκε, χαλεπόν, καί πλημμελές ούτω μεγάλα κλεινοϊς καί παλαιοϊς άνδράσιν έπιτιμάν εκείνο δέ άνεπίφϋονον άποφήναούαι. 'Ότι λίαν των πολλών ημών ύπεριδόντες (ολιγώρησαν ούδέν γάρ φροντίσαντες εϊτ’ έπακολουύοϋμεν αύτοϊς λέγουσιν είτε απολειπόμενα, περαίνουσι τό σφέτερον αυτών έκαστοι. [...] λέγω γάρ δη ταύτη δεΐν ποιείσύαι την μέύοδον ημάς, οίον αύτών παρόντων άναπυν'δαν ομένους ώδε- Φέρε, όπόσοι ύερμόν καί ψυχρόν η τινε δύο τοιούτω τά πάντ’ είναι φάτε, τίποτε άρα τοϋτ’ επ’ άμφοϊν φύέγγεσύε, λέγοντες άμφω καί έκάτερον είναι; τίτό είναι τούτο ύπολάβωμεν υμών [...]«].

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Einleitung

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Platon, wie man sagen darf, den logischen Höhepunkt Sokratischer Methodik erreicht. Indem er auf diese Weise gegen den allgemeinen Begriff des Seins fragen lehrt, muß deutlich werden, daß keine Ant­ wort, die selbst dem Bereich des Seins entnommen wäre, der Tiefe des neuen Problems mehr gerecht werden kann. Der neue Weg, den Platon uns weist, führt durch die Analyse des Urteils hindurch. Was bedeutet es, wenn wir mit einem Subjekt ein bestimmtes Prädikat verknüpfen, wenn wir von einem A aussagen, daß es B ist? Worin liegt der Grund und die Gewähr des Zusam­ menhangs, der hier im Denken schlechthin gesetzt und behauptet wird? Blicken wir auf das Gebiet des sinnlichen Seins hinüber, so muß jede derartige Bindung, die der Gedanke vollzieht, uns rechtlos und willkürlich scheinen. Denn keinem empirischen Gegenstand kommt irgendwelche Bestimmung schlechthin und für immer zu, sondern er ist bald dies, bald jenes, bald groß, bald klein, bald schwer, bald leicht, je nachdem er von verschiedenen Subjekten und zu verschiedenen Zeitpunkten aufgefaßt wird. Das »Ist« der Kopula verleiht den kon­ kreten Zuständen des Seins nur eine scheinbare und trügerische Dauer und Einheit. In meisterhafter Klarheit deckt Platon Schritt für Schritt diese Illusion des »Daseins« auf. In buntem Wechsel lösen sich ver­ schiedenartige und beziehungslose Merkmale und Beschaffenheiten gegenseitig ab: Mit welchem Recht dürften wir versuchen, in diesem rastlosen Geschehen einen beharrenden dinglichen »Träger« festzu­ halten? Hier entschwindet uns jeder Halt und Stützpunkt, und sowe­ nig uns ein Gegenstand zurückbleibt, sowenig können wir, recht betrachtet, von irgendeiner dauernden Eigenschaft oder einem identischen Subjekt sprechen. Nichts ist an sich selbst weder ein Eins noch ein irgendwie Beschaffenes, weder ein »Etwas« noch ein »Derartiges«, weder ein »Ich« noch ein »Du«: »sondern durch Bewe­ gung und Veränderung und wechselseitige Mischung wird alles, wovon wir, mit einem falschen | Ausdruck, sagen, es sei«. Und so dürfen wir fortan weder die Bezeichnung des »So« noch [die] des »Nicht-so« brauchen, weil auch diese bereits den vergeblichen Ver­ such einer Fixierung in sich schließen würden: »[...] sondern die, welche diesen Satz behaupten, müssen eine andere Sprache erdenken, da es für ihre Grundansicht bis jetzt noch keine Worte gibt - es müßte denn etwa sein das: >in gar keiner Weise< (ούό’ δπως). Denn dies möchte noch der richtigste Ausdruck sein, wenn man es das Unbe­ stimmte (άπειρον) nennt.«28 28 Ders., Theaitetos, 152df., 183b [152df.: »[...] εκ όέ δή φοράς τε καί κινήσεως καί κράσεως προς άλληλα γίγνεται πάντα, α δή φαμεν είναι, ονκ

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Die Kritik der sinnlichen Wahrnehmung

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Ist aber diese letzte Folgerung wirklich zutreffend und zwingend? Das Sein, die unveränderliche Dauer der Sinnendinge ist uns für im­ mer und rettungslos entschwunden: Müssen wir damit aber zugleich den Begriff der Wahrheit aufgeben? Oder kennen wir nicht viel­ mehr ein Gebiet von Wahrheit, einen Inbegriff wissenschaftlicher Sätze, die von der Existenz bestimmter empirischer Subjekte gänz­ lich unabhängig sind? Seit der Entdeckung der reinen Geometrie und der reinen Arithmetik hat sich uns eine Klasse von Urteilen erschlos­ sen, die sich nicht auf die Dinge unserer Wahrnehmungswelt, son­ dern auf die rein gedanklichen Setzungen der Zahlen und Figuren beziehen. Wir können die »Fünf« und die »Sieben« selbst betrach­ ten, wir können nach ihrer wechselseitigen Beziehung und ihrer Summe fragen, ohne »fünf und sieben Menschen« im Sinne zu haben. Die Objekte mögen sich stetig verändern, sie mögen aus großen zu kleinen, aus gleichen zu ungleichen werden: Die Bedeutung, die wir mit den Begriffen »Größe« und »Gleichheit« verbinden, bleibt dennoch stets ein und dieselbe. Die scheinbare und ungenaue Gleich­ heit der Hölzer und Steine bringt »das Gleiche selbst« ins Bewußt­ sein, weist uns darauf hin, was dieses Prädikat in all den verschiede­ nen empirischen Urteilen, in denen es auftritt, gleichmäßig besagen will. Die Dinge mögen entstehen und vergehen und sich mit immer neuen Merkmalen und Prädikaten bekleiden: wenn nur der Sinn dieser Prädikate selbst beharrt. Ihn zu befestigen und durch allen Wechsel der empirischen Beispiele hindurch festzuhalten, ist die Aufgabe und die Kraft der Definition, die somit eine höhere, rein gedankliche Konstanz erschafft, als sie im Gebiete der Wahrneh­ mungswelt jemals erreichbar wäre. Sie ist es, die die flüchtigen und ziellosen Gebilde der »Vorstellung« zur festen | Einheit des Begriffs zusammenschließt und die ihnen damit »das Siegel des Seins auf­ drückt«.29 Und das ist das Charakteristische dieses neuen Seins, daß es für uns nicht von Anfang an vorhanden ist, sondern daß wir es erst zu entdecken und zu beglaubigen haben, indem wir »uns selbst befragen und uns Rede stehen«. Von diesem Fundament der dialekti­ schen Methode, das ihren eigentlichen Mutterboden bildet, läßt sich die »Idee« nicht loslösen, ohne ihres tiefsten Sinnes verlustig zu

όρδώς προσαγορεύοντες [...]«; 183 b: »[...] άλλά τιν’ άλλην φωνήν δετέον τοις τον λόγον τούτον λέγουσιν, ως νϋν γε προς την αυτών ύπόδεσιν ονκ εχουσι ρήματα, ει μή άρα το ούδ’ δπως. μάλιστα ό’ ούτως αν αύτοις άρμόττοι, άπειρον λεγόμενον.«]. 29 S. ders., Phaidon 74 aff. u. s. [75 d: »[...] οίς επισφραγιζόμενα τούτο, δ εστι [...]«].

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Einleitung

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gehen.30 Die »Teilhabe« der Erscheinung an den Ideen bedeutet in diesem Zusammenhang nichts anderes und nichts Rätselhafteres, als daß die Urteile über empirische Verknüpfungen, um auch nur die relative Sicherheit zu gewinnen, deren sie fähig sind, anderer rein »abstrakter« Wahrheiten bedürfen, auf die sie sich zurückbeziehen. Wir vermöchten über die Verhältnisse der fließenden sinnlichen Dinge nichts auszusagen, wenn wir nicht dabei auf die dauernden Beziehungen hinblicken könnten, die wir unvermischt und »an sich selbst« {αυτό καϋ*’ αυτό) erfassen. Wenn wir die nirgend standhal­ tenden Wahrnehmungen des Gesichts- und Tastsinnes zu festen Ge­ stalten abgrenzen und gliedern wollen, wenn wir sie zu einer Gera­ den oder Kugel »zusammenschauen« wollen, so muß das Modell einer derartigen geometrischen Figur uns innerlich bereits vor Augen stehen und unsere Betrachtung leiten. Und so entwirft das Denken, aus sich selbst und ohne ein äußeres Organ, eine Welt von geistigen Musterbildern, an denen es die verfließenden Erscheinungen beurteilt und mißt. Die Grundoperation, die das griechische Denken in seinem gesamten Fortschritt betätigt hat, ist nunmehr herausgestellt und begründet. Aber freilich begreifen wir auch, vor welche inneren Schwierigkei­ ten dieser erste entscheidende Schritt uns alsbald stellen muß. Es ist das Bewußtsein und das Selbstgefühl seiner fundamentalen Ent­ deckung, die Platon immer wieder auf den Gedanken der reinen Wissenschaft zurückkommen, die ihn immer von neuem die Tren­ nung hervorheben läßt, die zwischen der Welt der ewigen gedankli­ chen Urbilder und dem veränderlichen Bereich der Einzeltatsachen besteht. In fruchtbarer Einseitigkeit verweilt er bei dem Gedanken der strengen, theoretischen Deduktion; weist er jeden Versuch ab, den Charakter und den logischen Wert einer Wissenschaft nach dem Gebrauch, die sie im Gebiet des Em | pirischen verstattet, zu bemes­ sen. Banausisch erscheint ihm jeder Versuch, die Erkenntnis auf ihre konkreten Anwendungen zu beschränken und einzuengen. So liegt der eigentliche Nutzen der Arithmetik darin, daß sie »die Seele in die Höhe führt und sie nötigt, die Zahlen als solche in Gedanken zu fassen, nimmer zufrieden, wenn einer ihr Zahlen, die sichtbare und greifliche Körper haben, vorhält und an ihnen die Untersuchung durchführt« - so ist es allgemein die auszeichnende Eigentümlichkeit 30 Ich verweise hierfür auf die eingehende und erschöpfende Darstellung Paul Natorps, die diesen fundamentalen Zusammenhang durchgehend verfolgt und allseitig beleuchtet: Platons Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus, Leip­ zig o.J. [1903].

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Die Ideenlehre und das Problem der Erfahrung

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des Mathematischen, daß es das Bewußtsein zwingt, sich rein des Denkens selbst, zum Zwecke der Wahrheit selbst, zu bedienen (»[...] αυτή τή νοήσει χρήσΰαι [...] επ' αυτήν τήν άλή^ειαν [...]«). Nicht minder ist es der eigentliche, zumeist verkannte und »schwer faßliche« Wert der Astronomie und der ihr verwandten Wissenszweige, daß durch jede dieser Disziplinen ein Organ der Seele gereinigt und auf­ geregt wird, das unter anderen Beschäftigungen verkümmert und erblindet, während doch an seiner Erhaltung mehr gelegen ist als an tausend Augen: Denn mit ihm allein wird die Wahrheit gesehen.31 Aus der Tendenz und der gedanklichen Grundstimmung, die uns in diesen Sätzen entgegenklingt, läßt es sich verstehen, wenn neben der Korre­ lation von Erfahrung und Denken zugleich beständig ihre Anti­ these verfochten und eingeschärft wird. Es ist insbesondere der Kampf gegen die Sophistik, die den strengen Unterschied zwischen Wahrnehmung und Begriff nivelliert, durch welchen der Gegensatz dauernd wachgehalten wird. An Versuchen, die Beziehung zwischen den beiden Gebieten des »Seins« immer enger zu knüpfen und die Rolle und die Funktion der Ideen in der Bearbeitung des Problems der Erfahrung selbst zu bewähren, hat es Platon trotzdem nicht fehlen lassen: Ja diese Aufgabe bildet unverkennbar den Leitgedanken und die treibende Kraft, aus der die gesamte zweite Phase seiner Philoso­ phie mit ihrer Selbstkritik der Ideenlehre hervorgegangen ist. So erscheint bereits im »Gastmahl« der dialektische Eros als der Mittler, der die beiden geschiedenen und auseinandergehenden Gebiete des Seins, der Göttliches und Sterbliches, Sinnliches und Unsinnliches wieder zusammenbindet und so das All in sich selbst verknüpft. Die Körperwelt bildet nicht mehr den Widerstreit und den Abfall vom Sein der reinen Idee, sondern wird zur notwendigen Stufe und Staffel, um sich zur Welt der reinen Gestalten emporzuheben. In strengerem lo|gischem Sinne und frei von jeder Metapher ist die Vermittlung sodann im »Sophisten« im Gedanken der Gemeinschaft der Gattun­ gen (κοινωνία των γενών) durchgeführt. Die einzelne »Gattung« bil­ det nun keinen Sonderinhalt mehr, der für sich allein bestände und erkennbar wäre, sondern sie erlangt ihre Kraft und Geltung erst durch die Beziehung und Verknüpfung, die sie mit anderen eingeht. Indem die Ideen sich nunmehr wechselseitig bedingen und in gemeinsamer Operation Zusammenwirken, erschließt sich damit die Aussicht, 31 Platon, Politeia 525dff. [525d: »[...] ως σφόδρα άνω ποι άγει τήν ψυχήν και περί αυτών των άρι&μών αναγκάζει διαλέγεσ&αι, ούδαμή άποδεχόμενον, εάν τις αυτή ορατά ή άπτά σώματα έχοντας άριΰμους προτεινόμενος διαλέγηται.«].

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Einleitung

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daß sie in immer vollkommenerer Durchdringung das Gebiet des Ver­ änderlichen selbst zur Bestimmung zu bringen vermögen. Die »Bewe­ gung« der Idee erscheint selbst als eine fruchtbare und notwendige Bedingung des Wissens.32 Wenn trotzdem, auch in den spätesten Dia­ logen, der alte dualistische Gegensatz zwischen dem Reich des Seins und des Werdens immer von neuem laut wird, wenn noch im »Phile­ bos« die Möglichkeit einer strengen und exakten Wissenschaft von der Entstehung und den Wandlungen dieser unserer empirischen Welt geradezu geleugnet wird: so zeigt sich hierin freilich, daß Platon selbst den Widerstreit in voller prinzipieller Klarheit nicht zu schlichten ver­ mochte. Man mag in der Gestaltung der empirischen Physik, die der »Timaios« bietet, noch soviel auf Rechnung des Mythos setzen - und Platon selbst hat die Grenze, die diese Darlegungen von der strengen Beweisführung trennt, klar und rückhaltlos gezogen -, die Tatsache, daß die letzte Erklärung der besonderen Erfahrungswirklichkeit aus den reinen logischen Grundsätzen der Ideenlehre nicht zu leisten war, bleibt dennoch zurück und fordert ihre sachliche und geschicht­ liche Begründung. Und hier gilt es vor allem zu erkennen, daß die Schranke, die der Ideenlehre in ihrer Entwicklung gesetzt war, mit der philosophischen Größe ihres Urhebers aufs engste zusammenhängt. Überall zeigt sich Platon von dem Gefühl beherrscht und durchdrungen, daß jede wis­ senschaftlich gültige Behandlung und Beurteilung der Einzeltatsachen eine bestimmte, rein theoretische Grundlegung, eine deduktive Vor­ bereitung voraussetzt und fordert. Die Vermischung rationaler und empirischer Gründe, die uns bei Aristoteles so oft begegnet, ist seinem Wesen innerlich fremd. Nirgends beruft er sich auf die Erfahrung als ein bequemes Auskunftsmittel, das die Mängel der logischen Beweisfüh | rung verdecken und ihre Lücken ausfüllen soll. Er weigert sich, an die Einzeldinge heranzugehen, bevor sein Blick für sie durch die Begriffe, durch die λόγoc, geschärft und vollständig gerüstet ist. Und diese durchgängige systematische Fundierung einer Wissenschaft des Veränderlichen ist es, die er zuletzt vermißt und die er bei dem Stande der zeitgenössischen Forschung vermissen mußte. Es ist für immer denkwürdig, wie er in dem systematischen Aufbau der Erkenntnis, den die »Republik« vollzieht, ganze Gebiete von Wissenschaften, die ihm historisch noch nicht gegeben waren, aus der Strenge und Stetigkeit des prinzipiellen Grundgedankens heraus erst eigentlich entdeckt, wie er z.B. zwischen die Geometrie und Astronomie die Stereometrie als notwendiges Mittelglied einschiebt. Im gleichen Sinne hat er auch die 32 Ders., Sophistes 249a-d.

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Die Ideenlehre und das Problem der Erfahrung

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Notwendigkeit einer abstrakten Bewegungslehre durchschaut und ausgesprochen. Wenn er sich der Betrachtung der Gestirne überläßt, wenn er sich dem ästhetischen Zauber dieses »bunten Schmuckes am Himmel« hingibt, so geschieht es mit dem bewußten Ziele, daß sie ihm Beispiele und Belege für diese gedankliche Forderung, die er im Sinn trägt, darbieten sollen. Um sich der Probleme zu bedienen, die sie darbietet, will er an die Astronomie herangehen: »[...] was aber am Himmel ist, das wollen wir lassen, wenn es uns anders darum zu tun ist, wahrhaft der Sternkunde uns befleißigend, das von Natur Vernünftige in unserer Seele aus Unbrauchbarem brauchbar zu machen.«33 Die Konfigurationen des Himmels und ihre Wandlungen sollen wir zwar für das Beste und Vollkommenste an innerer Harmo­ nie und Regelmäßigkeit halten, was sich im Gebiet des Sichtbaren und Körperlichen aufweisen läßt; zugleich aber sollen sie uns nur als Andeu­ tungen und als Unterlage für die Betrachtung völlig exakter und gleich­ förmiger Bewegungen dienen, die »die wahrhafte Geschwindigkeit und die wahrhafte Langsamkeit gemäß der wahren Zahl und den wahr­ haften Figuren ausführen«:34 Hier liegt nicht nur der Gedanke zugrunde, daß wir die verworrenen und vielverschlungenen Bahnen, die die Gestirne nach dem unmittelbaren Augenschein zu beschreiben scheinen, kraft der mathematischen Hypothese auf einfache geome­ trische Gestalten zurückführen müssen - es ist zugleich gefordert, daß wir das Gebiet des Konkreten überhaupt verlassen, um nicht mehr die Geschwindig | keiten empirischer Körper, sondern rein gedachter »materieller Punkte« nachihremwechselseitigenVerhältnis zu erwä­ gen. Die Kreise am Himmel sollen uns nur zum »Schwungbrett« die­ nen, um uns zur Anschauung dieser ideellen Bewegungen, die nur für den Verstand, nicht aber für das Gesicht erfaßbar sind, zu erheben (»[...] λόγω μεν καί διανοία λητττά, δψει δ’ ου.«).35 So besagt die gesamte schwierige Erörterung im Grunde nichts anderes, als daß die kosmischen Erscheinungen für uns nicht insofern zur Triebkraft und zum Ansporn der Erkenntnis dienen sollen, als sie uns dazu anregen sollen, ihre empirische Abfolge und Wiederkehr zu beobachten und beschreibend festzuhalten, sondern daß sie die bedeutungsvollere Funktion haben, den Gedanken eines neuen Zweiges der mathema­ tischen Analysis in uns wachzurufen. In diesem Sinne sollen wir sie 33 Ders., Politeia 530bf. [»[...] τά ό’ έν τω ούρανω έάσομεν, εΐ μέλλομεν όντως αστρονομίας μεταλαμβάνοντες χρήσιμον τό φύσει φρόνιμον έν τή ψυχή εξ άχρηστου ποιήσειν.«]. 34 [A.a.Ο. 529d: »[...] των δέ άληΰινών πολύ ένδεϊν, άς τό όν τάχος και ή ούσα βραδυτής έν τω άληΰτνω άριΰμω και πάσι τοϊς άληϋέσι σχήμασι [...]«] 33 [Ebd.]

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Einleitung

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als »Paradigmata« der reinen Erkenntnis verstehen und brauchen ler­ nen. Daß Platon damit den Gehalt der empirischen Himmelskunde nicht ausschöpft, ist freilich klar - aber es zeigt sich zugleich, daß er ihr nur deshalb nicht gerecht wird, weil die Astronomie seiner Zeit, die er vor Augen hat, dem strengen Ideal des Wissens, das er ihr vor­ hält und das ihre moderne Entwicklung bestätigt und bewährt hat, nicht gewachsen ist. Man muß sich gegenwärtig halten, daß Platon echte Beispiele exakter empirischer Forschung nur in den bedeu­ tungsvollen, aber wenig umfangreichen Beobachtungen und Versu­ chen der Pythagoreer vor sich hatte. Für das System der »Erfahrung«, das hiermit gegeben war, hat er denn auch in der Tat die echte speku­ lative Grundlegung und philosophische Rechtfertigung geschaffen. »Wissenschaft« bedeutet ihm - nach der Definition, die der »Philebos« begründet und ausführt - die gedankliche Begrenzung des an sich gren­ zenlosen und unbestimmten Stoffes der Wahrnehmung durch die Funktion und Vermittlung der Zahl. Wir müssen im Gange unserer Untersuchung vor allem eine Einheit setzen und annehmen, sodann aber, wenn wir uns ihrer einmal bemächtigt haben, uns die Frage stel­ len, ob sie sich nicht wiederum in eine Mehrheit spaltet: »bis man von dem ursprünglichen Einen nicht nur, daß es eins und vieles und unend­ liches ist, sieht, sondern auch, wievieles.« Die Bezeichnung einer Menge als eine »unbestimmte Vielheit« (άπειρον) dürfen wir somit nicht eher auf sie an | wenden, als wir nicht versucht haben, sie nach allen Richtungen hin, in denen eine solche Betrachtung sich durch­ führen läßt, zahlenmäßig zu bestimmen und zu fixieren. Wer sich die­ ses Mittelgliedes der Zahl begibt, wer Einheit und Vielheit nur als logische Widersprüche auffaßt, die er gegeneinander hält und wahl­ los durcheinanderwirft, der tritt damit aus dem echten »dialektischen« Begriff der Wissenschaft heraus, um sich in ein sophistisches Spiel mit Worten zu verlieren. Die qualitativen Unterschiede der Empfindung, das »Mehr und Weniger«, dessen wir uns in der Wahrnehmung bewußt werden, wird durch den Begriff in feste Grenzen eingeschlossen: Erst wenn das unbestimmte Quale zu einem Quantum (ποσόν) geworden ist, hat das Denken sein Ziel erreicht.36 In diesen Sätzen hat Platon die Bedeutung und Aufgabe der mathematischen Empirie mit vor­ greifender Klarheit gezeichnet. Daß er, dem nur in der Akustik wenige faktische Beispiele von ihr gegeben waren, sie dennoch nicht in ihrem ganzen Umfange zu überschauen vermochte, daß er nicht voraussah, bis zu welchem Grade die Auflösung und Beherrschung der Wahr­ 36 S. Platon, Philebos 16, 24, 25 u.s. [16 d: »[...] μέχρι* περ äv το κατ’ άρχάς ενμή δτι εν και πολλά και άπειρά έστιμόνον ϊδγ] τις, άλλα και όπόσα [...]«].

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Erfahrung und Mathematik

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nehmungsdaten durch die reinen mathematischen Gestalten dereinst vordringen könne, kann niemanden, der geschichtlich urteilt, ver­ wundern. Hier liegt der Punkt, an dem sich zugleich die sachliche Fruchtbarkeit seines Grundgedankens wie die individuellen Schran­ ken seiner Durchführung offenbaren. Es wäre der verwegenste-Aprio­ rismus gewesen, wenn Platon, wie seine empiristischen Kritiker von heute es fordern, die Herrschaft der Ideen weiter in den Stoff der Erfah­ rung hinein erstreckt hätte, als er es tatsächlich tat, wenn er, der den Grund der theoretischen Naturbetrachtung festlegte, auch den logischen Aufbau der empirischen Physik vorweggenommen hätte. Erst den Männern der neueren Zeit, erst einem Galilei und Kep­ ler war es vergönnt, zugleich im strengen Sinne Platoniker und echte, wissenschaftliche Empiristen zu sein: Erst ihnen ist die Erfahrung nicht mehr der Widerstand, den es zu bewältigen gilt, sondern die wahrhafte Erfüllung und Vollendung der reinen Theorie.

Wenn man in der geschichtlichen Folge der Systeme von Platon zu Aristoteles gelangt, so scheint sich damit für das Er|kenntnisproblem ein weiterer und freierer Ausblick zu erschließen. Denn sosehr das logische Motiv sich in der Platonischen Spekulation als bestim­ mend erwies, so bildet hier dennoch die Logik keine Sonderdisziplin, die abgetrennt von der »Dialektik« bestände und betrachtet werden könnte. Was an methodischen Einsichten von Platon erarbeitet wird, das gehört für ihn zugleich unmittelbar zum eigentlichen Sachgehalt der Ideenlehre. Bei Aristoteles erst gelangen die einzelnen Formen und Formeln des Denkens und der Beweisführung, abgesehen von der Materie, auf die sie sich beziehen, zu selbständiger Untersuchung und Feststellung. Die Zergliederung des Wissens scheint also hier erst bei dem reinen Ausdruck des Problems angelangt und die gesamte Frage auf eine höhere Stufe der Reflexion erhoben zu sein. Vertieft man sich indes in die Bedingungen und die Struktur der Aristotelischen Lehre, so erweist sich dieser Schein alsbald als trüge­ risch. Man erkennt, daß die Logik ihre größere Freiheit und formale Selbständigkeit damit erkauft hat, daß sie aufgehört hat, ein zentrales Motiv für den Aufbau des Ganzen zu sein. So eingehend und subtil ihre Behandlung ist: für die Gesamtheit des Systems bedeutet sie doch nur noch ein Außen- und Nebenwerk. Denn dieses System ruht ganz auf einer Anschauung und Deutung des Naturgeschehens, die von dem metaphysischen Begriff des Zweckes beherrscht ist. Die Erkenntnislehre des Aristoteles bildet nur einen Teil seiner Psycholo­ gie, die selbst wiederum nur im Zusammenhang mit seiner biologi­ schen Grundansicht zu verstehen ist. Aus dem biologischen Prinzip

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Einleitung

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der Entwicklung sollen wir wie das Sein der Dinge, so auch die Art und die Möglichkeit ihrer Erkenntnis begreifen lernen. Alles Gesche­ hen und alle Umbildung innerhalb der Natur setzt bestimmte ur­ sprünglich vorhandene Formen voraus, die eine ihnen entgegenste­ hende Materie sich zu unterwerfen und nach sich zu gestalten streben. In unlöslicher Wechselbeziehung wirken diese beiden Grundmächte des Seins zusammen, um alle Einzelbestimmungen zu erzeugen und hervorzutreiben. Nicht abgesondert vom Stoffe hat die Form ein selbstgenügsames Dasein, sondern all ihr Sein erfüllt sich in der zielund richtunggebenden Kraft, die sie auf die Materie ausübt. So ist sie, wie der Anstoß und die Ursache der Bewegung, zugleich der Zweck, dem eine bestimmte | Bildung ihrer eigenen Wesenheit nach zustrebt. Alles Werden der Natur wird unter dem Bilde und der Analogie des Wachstums eines Organismus beschrieben: Es wird nur verständ­ lich, wenn wir in ihm die stetige Verwirklichung und die konkrete Selbstdarstellung eines allgemeinen vorbildlichen Prinzips sehen, das von Anfang an zugrunde liegt und sich, dem Widerstande des Stoffes zum Trotz, allmählich immer reiner ausprägt und herausarbeitet. Und wie dieser Gesichtspunkt von Zweck und Mittel die Erklärung des besonderen Geschehens beherrscht, so bestimmt er auch den Aristo­ telischen Gesamtbegriff des Universums. Was wir die Gesetzlichkeit der Natur nennen, das ist nur der Ausdruck für die einheitliche, form­ gebende und lebensspendende Tätigkeit, die durch das All hindurch­ geht und die auf verschiedenen und entlegenen Gebieten stets analo­ gische Gestaltungen hervorruft. Die Natur ist ein System und eine Gradabstufung von immanenten Zwecken, die sich wechselweise bedingen und aufeinander hinweisen. Nicht mit Unrecht hat man gesagt, daß in diesem Aristotelischen Bilde vom Weltganzen »die poetische Lebendigkeit der altgriechischen Naturanschauung« wieder zum Vorschein komme:37 Der ästhetische Reiz aber, den sie dadurch ausübt, darf gegen ihre inneren logischen Schwierigkeiten nicht blind machen. In der Tat scheinen wir hier dem Prinzip und der allgemei­ nen Fragestellung nach wieder mitten in die Anfänge der griechischen Spekulation zurückversetzt: Die Substanz ist wieder das erste und schlechthin gegebene, das wir bei aller Untersuchung der Erkenntnis voraussetzen und an die Spitze stellen müssen. Das »Allgemeine«, das bei Platon wesentlich den Stempel und die Prägung des Denkens trug, indem es das ideelle Vorbild bezeichnete, auf das wir in allen unseren empirischen Aussagen und Urteilen hinblicken müssen: hier

37 Zeller, Philosophie der Griechen, S. 140.

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Aristoteles

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ist es zu einer Realpotenz geworden, die sich auswirken und in immer neuen besonderen Bildungen offenbaren will. Ist auf diese Weise der Begriff des Seins vorweg gesetzt und be­ stimmt, so kann sich die Erkenntnislehre des Aristoteles den Um­ rissen, die hier gegeben sind, leicht und mühelos einfügen. Die Dinge besitzen ein äußeres, selbstgenügsames Dasein: Für die Erkenntnis kann es sich nur noch darum handeln, sich diese Existenz in allen ihren Teilen nachbildend anzueignen. Alle | denkende Tätigkeit bedeutet nur eine Aufnahme und eine Wiedergabe von Bestimmungen, die an und für sich in ursprünglicherer Weise in der Welt der Wirklichkeit vor­ handen sind. Gestalt und Bewegung, Farbe und Ton, die räumliche Ordnung des Beisammen wie die zeitliche des Nacheinander: all dies sind feste und fertige Eigentümlichkeiten der Objekte selbst; die Auf­ gabe besteht lediglich darin, den Weg zu weisen, auf dem die Ver­ wandlung dieser dinglichen Beschaffenheiten in geistige vor sich geht. Ein Problem, das freilich zunächst unlösbar scheint; denn von der Materie zum Denken, von der absoluten Existenz zum Bewußtsein gibt es keinen begrifflichen Übergang. Gerade an diesem Punkte tritt nunmehr eine metaphysische Grundunterscheidung, die das Gesamtsystem beherrscht, die Entgegensetzung von Potenz und Akt, von neuem in Kraft. Wie die fertigen Gegenstände in den Geist hinübergeschafft worden, das begreifen wir, indem wir erwägen, daß es nicht ihre volle Wirklichkeit, sondern lediglich ihre »Form« ist, die die Seele in sich aufnimmt. Die Dinge selbst vereinen in sich, sofern sie aus Materie und Form zusammengesetzt sind, einen stofflichen und einen intelligiblen Faktor: Dem Denken bleibt keine andere Leistung und keine andere Schwierigkeit, als diese Zusammensetzung aufzulö­ sen und den einen Bestandteil aus ihr rein zurückzugewinnen. »Dies muß also von jeder Sinneswahrnehmung gesagt werden, daß sie die sinnlichen Formen (εϊόη) ohne den Stoff aufnimmt, wie das Wachs das Zeichen des Siegelringes ohne das Gold oder Eisen in sich aufnimmt. Denn es empfängt es als goldenes oder eisernes Zeichen, nicht aber, sofern es Gold oder Eisen ist. Auf ähnliche Weise leidet auch die Wahr­ nehmung durch den Eindruck alles dessen, was Farbe oder Ton oder Geschmack besitzt, aber sie erfaßt all dies nicht in seiner konkreten unmittelbaren Beschaffenheit, sondern sofern es eine bestimmte, all­ gemeine Gestalt in sich verkörpert {άλλ’ ούχ y έκαστον εκείνων λέγεται,, άλλ’ η τοιονδί, καί κατά τον λόγον.).«38 Somit sind es, wie die Scholastik diesen Aristotelischen Gedanken ausspricht, nicht die 38 S. Aristoteles, De anima (Buch 2, Abschn. 12 u. Buch 3, Abschn. 8) \zum Zitat s. oben, S. 53].

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Einleitung

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Dinge, sondern ihre stofflosen »Spezies«, die in das Denken aufgenommen werden. Das Erkannte ist im Erkennenden nach der Art und der Weise des Erkennenden: Cognitum est in cognoscente secundum modum cognoscentis. »Durch die species«, so schildert ein | moderner Vorkämpfer der aristotelisch-scholastischen Erkenntnislehre diesen Prozeß, »als ein Daseinselement des Dinges, welches Element aber zugleich der Seele konform ist, wird der Gegenstand in die Seele eingesetzt.«39 Wenn aber derselbe Autor in dieser Lehre die Vollendung und Krönung der »idealistischen Grundanschauung« fin­ det, so beweist er damit aufs schlagendste, wie sehr der mittelalterli­ chen wie der heutigen Scholastik jedes Verständnis der ursprünglichen Platonischen Bedeutung der Idee abgeht. Denn gegen keine Annahme hat Platon so entschieden und so rückhaltlos sich gewandt wie gegen den Glauben, daß man dem Bewußtsein ein Wissen, das nicht in ihm wäre, einsetzen könne: »wie wenn sich blinden Augen das Vermögen des Sehens von außen einfügen ließe«.40 Auf die mannigfachen, verwickelten Wege, in denen die Aristoteli­ sche Auffassung der Erkenntnis sich fort- und umbildete, auf die Schwierigkeiten, die in ihr allmählich immer deutlicher heraustreten, soll hier vorerst nicht eingegangen werden. Diese Selbstauflösung der Aristotelischen Logik gehört bereits der Geschichte des modernen Denkens an und wird uns, ebenso wie die peripatetische Psychologie und Erfahrungstheorie, in der Darstellung ihres Verlaufs immer von neuem beschäftigen müssen. Bevor wir indes an die Anfänge der neue­ ren Zeit herangehen, müssen wir uns noch in allgemeinsten Umrissen die Wandlungen vergegenwärtigen, die das Aristotelische Gedanken­ system in seiner Rezeption durch das Mittelalter erfahren hat. Denn so bedingungslos sich die Scholastik auch der Autorität des »Philoso­ phen« unterwirft: es läßt sich nicht übersehen, daß sie seine Lehre, indem sie nur bemüht scheint, sie zu begreifen und auszulegen, unver­ merkt auf ihren eigenen Boden hinüberzieht und unter einen neuen Gesichtspunkt rückt. Die psychologische Theorie des Erkennens zwar hat sich inhaltlich wenig geändert. Die gesamte scholastische Wahrnehmungstheorie zielt darauf ab, durch den Doppelbegriff der Spezies, der ebensowohl den formalen Sachgehalt des Dinges wie das Vorstellungsbild im Subjekt besagt, den Übergang und die Ver­ wandlung des »Äußeren« in das »Innere« verständlich zu machen ein Ziel, das sie durch Einschiebung immer neuer Mittelglieder und 39 Willmann, Geschichte des Idealismus, Bd. II: Der Idealismus der Kirchen­ väter und der Realismus der Scholastiker, S. 386 f. 40 Platon, Politeia 518c [»[...] olov τυφλοϊς όφΰαλμοίς όψι,ν έντιβέντες.«].

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Der Begriff der »Form« und die Aristotelische Erkenntnislehre

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Zwischenstufen, zwischen dem Reiz und der Empfindung einerseits und der »sinnlichen« | und »intelligiblen Spezies« andrerseits, zu er­ reichen sucht. Die letzte Erklärung dieser Harmonie zwischen dem »Subjektiven« und »Objektiven« aber ruht nunmehr auf einem ande­ ren Fundament. Für Aristoteles sind die Formen gleichbedeutend mit den immanenten Zwecken, denen die einzelnen organischen Gebilde kraft der besonderen Eigenart ihres Baus zustreben und in denen sie sich vollenden und befriedigen. Keine gedankliche Not­ wendigkeit treibt ihn, solange er der eigenen Grundanschauung treu bleibt, über die Natur selbst, als den gegliederten Inbegriff der Zwecke, hinauszugehen. Sein Gottesbegriff selbst macht diese innere Scheidung der Gebiete deutlich: Denn wenngleich er ihn als den ersten Anstoß der Bewegung und des Werdens braucht, so kann er seiner als Schöpfer der Einzelsubstanzen entraten. So ist es auch keine innerli­ che Beziehung, die in seiner Betrachtungsweise Gott und Welt zusam­ menhält: Nur durch äußere »Berührung« wirkt die Gottheit auf das Universum ein, ohne es weder in seiner Wesenheit zu bestimmen noch auch von ihm selbst irgendeine Rückwirkung zu erfahren. Die strenge Sonderung, in der der »unbewegte Beweger« rein für sich als absolute Denktätigkeit (νόησι,ζ νοήσεως) verharrt, gibt auf der anderen Seite auch der Welt des Veränderlichen ihre Freiheit und innere Selbstän­ digkeit wieder und schützt sie vor jedem äußerlichen Eingriff. Für das religiöse Interesse des Mittelalters dagegen muß auch der Grundbe­ griff der »substantiellen Form« allmählich von seiner Stelle rücken. Das besondere Sein hat hier nur insoweit Bestand und Geltung, als es von dem obersten Urgrund gesetzt ist und mit ihm in beständiger, unlöslicher Beziehung verbleibt. Wie die Einzeldinge nur kraft des göttlichen Schöpferwillens existieren, so strebt all ihr Denken und Begehren mit innerer Notwendigkeit zu ihm zurück: Lediglich in die­ sem fundamentalen Triebe, der sie über sich selbst hinausdrängt, liegt die fortdauernde Möglichkeit ihres Seins und ihrer Erhaltung. Die »Formen« der Welt bilden eine stetige Stufenreihe, die erst in einem höchsten jenseitigen Sein ihren Abschluß und ihre Erklärung findet. Es ist das Vorrecht der vernünftigen Seele, daß sie, indem sie in gewis­ ser Weise alle diese intelligiblen Wesenheiten in sich faßt, zugleich ihrer sachlichen Beziehung und Abhängigkeit sich bewußt werden kann und daß sie sich somit von der Welt des Stofflichen, in die sie | die sinnliche Empfindung verstrickt, zu immer reineren Gestaltungen zu erheben vermag, bis sie bei der reinen »Wirklichkeit«, der jede Bei­ mischung des »Leidens« fremd ist, zur Ruhe kommt. Wenn das Erkennen bei Aristoteles die bestehende immanente Ordnung der Natur nachahmte, so bildet es hier die hierarchische Gliederung der

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Einleitung

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Zwecke ab. Das Wissen von der Natur hat nur Wert, sofern es uns zur Erfassung dieser wahrhaften, metaphysischen Ordnung befähigt: Der »habitus scientiae« kann und will nur die Vorbereitung des »habitus sapientiae« sein. So fügen sich alle Zweige und Glieder der Wissen­ schaft dem einen entscheidenden Ziele der Gotteserkenntnis ein: Die »reductio artium ad theologiam«, wie sie unter anderem Bona­ ventura verkündet, ist keine äußerliche Anbequemung, sondern ent­ spricht der wesentlichen Begriffsbestimmung, die das Mittelalter von der Erkenntnis entwickelt hat. Die »Abstraktion«, die die Scho­ lastik als das wesentliche Mittel des Erkennens auszeichnet, besitzt eine völlig andere Bedeutung als im modernen Sprachgebrauch. Sie dient nicht dazu, zu immer reineren gedanklichen Beziehungen und Gesetzen fortzuschreiten, sondern sie sucht, indem sie die besonderen Nebenumstände abstreift, unter denen ein Objekt uns sinnlich gegeben ist, zu einem intelligiblen Daseinsgrunde, zu der Idee im göttlichen Verstände vorzudringen, welche seiner konkreten Existenz vorausliegt. Das erkennende Bewußtsein, die »aktive Denk­ kraft«, schafft somit keinen neuen Inhalt, sondern dient nur dazu, das­ jenige, was im Objekt gegeben ist, in eine neue Beleuchtung zu rücken und den geistigen Kern, der hier untermischt mit zufälligen Bestim­ mungen auftritt, rein herauszuschälen. »Erkenntnis des Seienden ist uns möglich, weil es selbst aus einem schöpferischen [göttlichen] Erkennen stammt, die Dinge sind/är den Geist, weil sie aus dem Gei­ ste sind, sie haben uns etwas zu sagen, weil sie einen Sinn haben, den eine höhere Intelligenz in sie gelegt hat.«41 So mannigfaltig und ver­ schiedenartig die Erkenntnislehre im Mittelalter sich gestaltet hat: von diesem metaphysischen Urgrunde hat sie sich nirgends mit prinzipi­ eller Entschiedenheit losgelöst. Es wäre ungerecht, die Feinheit der begrifflichen Distinktionen zu verkennen, die die Scholastik nicht nur in technischen Einzelproblemen der Logik, sondern auch in der allge­ meinen Diskussion methodischer Grund | fragen bekundet hat. Aber nirgends wird die Frage hier als eine ursprüngliche empfunden und ergriffen, sondern sie ist stets bedingt und getragen durch das Ganze der mittelalterlichen Lebensansicht, die im voraus als unangreifbares Fundament feststeht. Hierin allein aber liegt bereits, selbst wenn der geschichtliche Zusammenhang zwischen Scholastik und neuerer Zeit noch so eng angenommen wird, die charakteristische sachliche Grenzscheide. Wo das Erkenntnisproblem nicht an den Anfang der 41 Willmann, Geschichte des Idealismus, Bd. II, S. 383. - Vgl. a. a. O., S. 321 ff. sowie Karl Werner, Der heilige Thomas von Aquino, 3Bde., Regensburg 1858 f., bes. Bd. II: Die Lehre des heiligen Thomas Aquinas (1859), S. 93 ff.

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Das Erkenntnisproblem in der Scholastik

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Betrachtung tritt, da ist ihm seine wahrhafte Kraft bereits geraubt. Es ist die entscheidende Leistung der modernen Philosophie, daß sie die Erkenntnis nicht mehr als eine Einzelfrage betrachtet, die sich neben­ her aus anderen systematischen Voraussetzungen her behandeln und lösen ließe, sondern sie als die schöpferische Grundkraft im Aufbau der intellektuellen und sittlichen Gesamtkultur begreifen lernt.

EDITORISCHER BERICHT

Die Hamburger Ausgabe der Werke Ernst Cassirers (ECW) enthält alle von Cassirer zu Lebzeiten veröffentlichten oder für eine Veröf­ fentlichung vorbereiteten Texte und Schriften in chronologischer Rei­ henfolge. Vom Prinzip der chronologischen Anordnung wird nur bei mehrbändigen Werken abgewichen, deren einzelne Bände grundsätz­ lich zu einer Bandgruppe zusammengefaßt werden. Textgrundlage für die Bearbeitung der in der Hamburger Ausgabe dargebotenen Schrif­ ten ist jeweils die letzte von Cassirer selbst durchgesehene oder auto­ risierte Auflage bzw. Version. Dem vorliegenden Band liegt die dritte Auflage des ersten Teils des vierbändigen Werkes »Das Erkenntnisproblem in der Philoso­ phie der neueren Zeit« zugrunde. Die Erstauflage dieses Bandes erschien im Verlag Bruno Cassirer, Berlin 1906, gefolgt von einer revidierten Zweitauflage 1911 und der unveränderten dritten Auflage 1922 im gleichen Verlag. Die drei weiteren Bände des »Erkennt­ nisproblems«, die in der ECW die Bände 3 bis 5 bilden, folgten in ihrer Erstauflage in den Jahren 1907, 1920 und 1957. Neben dem Text der zweiten und dritten Auflage finden sich in diesem Band das Vorwort der ersten und zweiten Auflage und die Einleitung aus der zweiten und dritten Auflage. Im Anhang ist zusätzlich der zweite Teil der Einleitung der ersten Auflage über das Erkenntnisproblem in der griechischen Philosophie abgedruckt. Cassirer hatte diese »einleitenden Betrachtungen« mit der zweiten Auflage wegfallen las­ sen, da sie ihm »in ihrer bisherigen Fassung nicht mehr genügten, eine eingehendere Darlegung aber über den Rahmen dieses Buches hinausgegangen wäre« (s.S. XII). Neu hinzugefügt sind dem Band ein Schriftenregister und ein Verzeichnis der benutzen Abkürzun­ gen. Ein Sachregister und ein Personenregister finden sich für die gesamte Bandgruppe im vierten Band des »Erkenntnisproblems« (ECW 5). . Orthographie und Interpunktion sind nach den Regeln des Duden (20. Auflage 1991) modernisiert. Die heute unübliche Vielzahl an Doppelpunkten, die Cassirers Stil eigentümlich ist, bleibt dabei zumeist unangetastet, Doppelinterpunktionen sind hingegen in der Regel aufgehoben, Gedankenstriche am Absatzende getilgt. Abkür­ zungen im fortlaufenden Text sind bis auf wenige Standardabkürzun­ gen wie »d. h.« oder »z. B.« aufgelöst, in den bibliographischen Anga­

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Editorischer Bericht

ben sind sie vereinheitlicht. Vornamen sind, auch wo Cassirer sie abkürzt, ausgeschrieben. Um die Benutzung der Sekundärliteratur zum »Erkenntnispro­ blem« zu erleichtern, wird im Kolumnentitel auf der Innenseite die Paginierung der dritten Auflage mitgeführt. Im fortlaufenden Text und in den Anmerkungen markieren Trennstriche (|) den ursprüng­ lichen Seitenumbruch. In der zugrundeliegenden Ausgabe finden sich eine Reihe von offenkundigen Druckfehlern, die im vorliegenden Band stillschwei­ gend korrigiert sind. In Fällen, in denen ein Druckfehler nicht mit Sicherheit angenommen werden konnte, eine Korrektur jedoch gebo­ ten schien, ist der originale Wortlaut aus einer Bearbeiteranmerkung ersichtlich. Fehlende Wörter sind ergänzt und wie alle Ergänzungen des Bearbeiters in eckige Klammern eingeschlossen. Sämtliche von Cassirer angeführten und belegten Zitate sind an­ hand der von ihm genannten Ausgaben überprüft und gegebenenfalls korrigiert. Bei Zitaten, die Cassirer nicht mit einer Anmerkung über ihren Ursprung versehen hat, wurde durchgängig versucht, die ent­ sprechende Quelle ausfindig zu machen. Die Angaben zu diesen Zita­ ten sind in eckigen Klammern hinzugefügt. Wie viele Autoren seiner Zeit zitiert Cassirer häufig auf der Basis von Exzerpten und nach Zitatkonventionen, die den heutigen nicht mehr genügen, so daß eine Vielzahl von Korrekturen nötig war. In den wenigen Fällen, in denen sich aus diesen Zitatkorrekturen eine Sinnveränderung ergibt, ist der von Cassirer angegebene Wortlaut in eckigen Klammer vermerkt, alle anderen Abweichungen sind stillschweigend korrigiert. Mit Aus­ nahme von Kontraktion, Suspension und Akzenten in lateinischen Zitaten ist dabei stets die originale Schreibung gewahrt; lediglich offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend korrigiert. Hervor­ hebungen im zitierten Text sind durch Kursivierungen kenntlich gemacht, während Hervorhebungen Cassirers durchgängig gesperrt wiedergegeben sind. Bearbeiterrede ist stets kursiv gesetzt und in eckige Klammern eingeschlossen. Vom Bearbeiter hinzugefügte An­ merkungen stehen ebenfalls in eckigen Klammern. Entstammt ein zitierter Text einer Sammlung oder einer Werkaus­ gabe, sind die Anfangs- und die Endseitenzahl ergänzt. Cassirer hat im vorliegenden Werk eine Vielzahl von Zitatstellen - insbesondere bei Briefen - allein mit Bezug auf die betreffende Werkausgabe des jeweiligen Autors belegt. In diesen Fällen sind die spezifizierenden Angaben der Zitatquelle stillschweigend ergänzt. Häufig zitiert Cassirer fremdsprachige Literatur in eigener Über­ setzung. An diesen Stellen ist dem bibliographischen Nachweis der

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Quelle der originale Wortlaut in eckigen Klammern beigegeben. Aus­ lassungen Cassirers in Zitaten bzw. - wenn Cassirer in Übersetzung zitiert - die entsprechend ausgelassenen Stellen in den beigegebenen Originalen werden einheitlich mit [...] wiedergegeben. Wenn sich die Auslassung bereits im Original findet, stehen die Auslassungspunkte ohne Klammern. Einfügungen Cassirers im Zitat stehen durchgehend in eckigen Klammern. Die bibliographischen Angaben sind durchgängig überprüft und vereinheitlicht und, wo nötig, richtiggestellt oder vervollständigt. Geht aus Cassirers Angaben nicht hervor, welche Ausgabe er zur Zitation benutzt hat, z.B., weil er nur Kapitel und Paragraph eines Wer­ kes angibt, oder fehlen die bibliographischen Angaben ganz, wurde zunächst anhand genauerer Angaben in anderen seiner Werke oder anhand des Zitatwortlauts zu ermitteln versucht, welche Ausgabe Cassirer benutzt hat. Eine zusätzliche Hilfe waren dabei die Aus­ künfte von John Michael Krois über den Buchbestand, der sich in Cassirers Nachlaß fand. Erst wo dieser Weg nicht zu einer bestimm­ ten Ausgabe als wahrscheinlicher Quelle führt, ist die Erstausgabe oder eine zu Cassirers Zeit gängige Ausgabe als Zitatquelle zugrunde gelegt. Bei Nachweisen aus dem Werk von Platon und Aristoteles sind die von Cassirer wahrscheinlich benutzten Ausgaben mit Angabe der Stephanus- bzw. Bekkerpaginierung zugrunde gelegt. Abschließend sei Dorothea Frede für ihre Unterstützung gedankt. Dank gebührt auch der Bibliothek des Philosophischen Seminars und der Zentralbibliothek der Mathematischen Institute der Universität Hamburg, der Bibliothek der Universität der Bundeswehr Hamburg, der Biblioteca Universitaria di Bologna, der Bibliothek des HeinrichSuso-Gymnasiums Konstanz, der Herzog-August-Bibliothek Wol­ fenbüttel und den Staats- und Universitätsbibliotheken in Augsburg, Bamberg, Berlin, Dresden, Freiburg, Göttingen, Halle, Hamburg, Heidelberg, Jena, Kiel, Konstanz, Leipzig, München, Osnabrück, Passau, Rostock und Tübingen für die Hilfe bei der Recherche und Beschaffung der von Cassirer verwendeten Literatur. Ohne die enga­ gierte und unbürokratische Unterstützung der genannten Bibliothe­ ken wäre die Überprüfung der Quellenangaben und der Zitate nicht möglich gewesen. Tobias Berben

ABKÜRZUNGEN

a.a.O. Abschn. Abt. Anh. Anm. Art. Aufl. Ausg. Ausw. Bd., Bde. bearb. bes. bzw. ders. d.i. Diss. dt. durchges. eingel. Einl. Einw. Erl. Erw. erw. et al. etc. f, ff. Fol., fol. Fragm. h.e. Hrsg., hrsg. insbes. Kap. korr. Nr. o.J. o.O. Originalausg. Probl. Propos.

am angegebenen Ort Abschnitt Abteilung Anhang Anmerkung/en Artikel Auflage Ausgabe Auswahl Band, Bände bearbeitet besonders beziehungsweise derselbe das ist Dissertation deutsch durchgesehen eingeleitet Einleitung/en Einwand Erläuterung/en Erwiderung erweitert et alii et cetera folgende, fortfolgende Folioblatt Fragment hoc est herausgegeben insbesondere Kapitel korrigiert Nummer ohne Jahr ohne Ort Originalausgabe Problem Proposition

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rev. s. S. Sp. teilw. u. u.a. Übers, übers, umgearb. u.ö. u.s.

usf. usw. V. verb. vers. vgl. z. z.B. zit.

Abkürzungen

revidiert siehe Seite/n, am Satzanfang auch siehe Spalte/n teilweise und und andere Übersetzung übersetzt umgearbeitet und öfter ut supra/und so weiter [Cassirers Verwendungsweise dieser Abkürzung konnte nicht geklärt werdend] und so fort und so weiter von verbessert versehen vergleiche Zeile zum Beispiel zitiert

SCHRIFTENREGISTER

Das Schriftenregister umfaßt alle von Cassirer im vorliegenden Band zitierten oder erwähnten Werke. In Fällen, in denen Cassirer nur den Titel nennt, aber keine Ausgabe angibt, wurden die bibliographischen Anga­ ben der Erstausgabe bzw. einer zu seiner Zeit gängigen Ausgabe oder, wenn sich die Schrift in einer Werkausgabe findet, die Cassirer bei ande­ ren Schriften des Autors benutzt, die Angaben dieser Ausgabe in eckigen Klammern ergänzt.

Abanus, Petrus: Conciliator controversiarum, quae inter philosophos et medicos versantur, Venedig 1565. 129 Achillini, Alexander: Opera omnia in unum collecta, Venedig 1545. 86 - De intelligentiis, in: Opera omnia, fol. 1 a-22 a. 86 Agrippa von Nettesheim, Heinrich Cornelius: Opera quaecumque hac­ tenus vel in lucem prodierunt, vel inveniri potuerunt omnia, in duos tomos concinne degesta, et diligenti studio recognita: quae pagina post praefationem proxima plinißime enumerantur, 2Bde., London o.J. 161 f. - De incertitudine et vanitate scientiarum atque artium declamatio invec­ tiva, in: Opera, Bd. II, S. 1-318. 161, 163 - De occulta philosophia, in: Opera, Bd.I, S. 1-499. 161, 172ff., 182, 187, 233 Apelt, Ernst Friedrich: Die Epochen der Geschichte der Menschheit. Eine historisch-philosophische Skizze, 2 Bde., Jena 1845 f. 276 - Die Reformation der Sternkunde. Ein Beitrag zur deutschen Culturgeschichte, Jena 1852. 276, 285, 311 - Johann Keplers astronomische Weltansicht, Leipzig 1849. 276 Aristoteles: [Opera, durchges. v. Immanuel Bekker, hrsg. v. der Preu­ ßischen Akademie der Wissenschaften, 5 Bde., Berlin 1831 ff.] 54 - De anima [in: Opera, Bd. I, S. 402-435]. 53, 84, 97, 270, 529 - De coelo [in: Opera, Bd.I, S.268-313]. 344 - De generatione et corruptione [in: Opera, Bd.I, S.314-338]. 515 - Ethica ad Nicomachum, übers, v. Leonardo Bruni [Straßburg 1469]. 81 f. - Metaphysica [in: Opera, Bd.II, S. 980-1093]. 82, 372 - Meteorologica [in: Opera, Bd.I, S.338-390]. 83 - Physica [in: Opera, Bd. I, S. 184-267]. 243 - Politica , übers, v. Leonardo Bruni [Straßburg 1469]. 81 Arnauld, Antoine: GEuvres, 43 Bde., Paris 1775 ff. 409 - Des vrayes et des fausses idees. Contre ce qu’enseigne l’autre de la recherche de la verite, in: GEuvres, Bd. XXXVIII, S. 177-365. 409,484 f.

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- [Pierre Nicole: Logica sive ars cogitandi, in qua praeter vulgares regu­ las plura nova habentur ad rationem dirigendam utilia ; editio optima et ultima, Leiden 1682.] 443 Augustinus, Aurelius: Opera omnia, post lovaniensium theologorum recensionem castigata denuo ad manuscriptos codices gallicos, Vatica­ nos, belgicos, etc., necnon ad editiones antiquiores et castigatiores, hrsg. v. Jacques-Paul Migne, 12 Bde. (Patrologiae cursus completus, series latina, Bde. XXXII-XLVII), Paris 1841 ff. 32 - Confessiones libri XIII, in: Opera omnia, Bd. I, Sp. 657-868: Sp. 787. 32,64 - De civitate Dei libri XXII, in: Opera omnia, Bd. VII, Sp. 13-804. 79, 263 - De libero arbitrio libri III, in: Opera omnia, Bd. I, Sp. 1221-1310. 50, 79, 424 - De quantitate animae liber unus, in: Opera omnia, Bd. I, Sp. 10351080. 38 - De vera religione liber unus, in: Opera omnia, Bd.III/1, Sp. 121-172. 32,50,79 - Retractationum libri II, in: Opera omnia, Bd. I, Sp. 583-656. 424 - Soliloquiorum libri II, in: Opera omnia, Bd. I, Sp. 869-904. 424

Bauch, Bruno: Geschichte der Philosophie, Bd.IV: Neuere Philosophie bis Kant, Leipzig 1908. 404 Bayle, Piere: CEuvres diverses. Contenant tout ce que cet auteur a publie sur des matieres de Theologie, de Philosophie, de Critique, A’Histoire, et de Litterature', excepte son Dictionnaire Historique et Critique, 4 Bde., Den Haag 1727. 494 - Ce que c’est que la France toute catholique sous le regne de Louis le Grand, in: CEuvres diverses, Bd. II, S. 336-354. 501 - Commentaire philosophique sur ces paroles de Jesus-Christ, contrainles d’entrer, in: CEuvres diverses, Bd. II, S. 355-560. 494, 498 f. - Dictionnaire historique et critique [Avec la vie de l’auteur, 4 Bde., 5. durchges., korr. und erw. Aufl., Amsterdam 1740.]. 490 ff., 495-500, 502 f. Benedetti, Johannes Baptista: Diversarum speculationum mathemati­ carum, et physicarum liber. Quarum feriem sequens pagina indicabit, Turin 1585. 361 Berkeley, George: [Works, hrsg. v. Alexander Campbell Fraser, Bd.I, Oxford 1901.] 477 - [Commonplace book, mathematical, ethical, physical, and metaphysical, written at Trinity College, Dublin, in 1705-1708, in: Works, Bd.I, S. 1-92.] 477 Berthet, Jean: La Methode de Descartes avant le Discours, in: Revue de Metaphysique et de Morale 4 (1896), S. 399-415. 391 Berti, Domenico: Copernico e le vicende del sistema Copernicano in Ita­ lia nella seconda meta del secolo XVI e nella prima del XVII con docu-

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menti inediti intorno a Giordano Bruno e Galileo Galilei, Rom 1876. 230,343 Bessarion, Johannes: In calumniatorem Platonis libri quatuor, Venedig 1516. 68, 135 Bodin, Jean: Colloquium heptaplomeres de rerum sublimium arcanis abditis [hrsg. v. Ludwig Noack, Schwerin 1857]. 165 - Vom Staate [= Les six livres de la republique. Ensemble une apologie de Rene Herpin, Paris 1583]. 165 Bouillier, Francisque: Histoire de la Philosophie Cartesienne, 2 Bde., Paris 31868. 490 Bovillus, Carolus: Que hoc volumine continentur: Liber de intellectu. Liber de sensu. Liber de nichilo. Ars oppositorum. Liber de genera­ tione. Liber de sapiente. Liber de duodecim numeris. Epistole com­ plures. Insuper mathematicum opus quadripartium. De numeris per­ fectis. De mathematicis rosis. De geometricis corporibus. De geometricis supplementis, Paris 1510. 51 f., 54, 135 - Ars oppositorum, in: Liber de intellectu et ah, fol. 77 b-96b. 51 f. - De intellectu, in: Liber de intellectu et al., fol. 3 b-20 b. 54-58 - De nichilo, in: Liber de intellectu et al., fol. 63 b-77 a. 51 f. - De sapiente, in: Liber de intellectu et al., fol. 119 b-148 b. 133 ff. - Liber de sensu, in: Liber de intellectu et al., fol. 22 b-60 b. 59 Brandes, Georg: William Shakespeare, Paris/Leipzig/München 1896. 56 Bruni, Leonardo: Ad Petrum Paulum Istrum dialogus, in: Klette, Beiträge zur Italienischen Gelehrtenrenaissance, S. 37-83. 100 - Vorrede zur Übersetzung der Nikomachischen Ethik, in: Aristoteles, Ethica ad Nicomachum, o. S. 82 Bruno, Giordano: Le opere italiane, hrsg. v. Paolo de Lagarde, Göttingen 1888. 233 - Opera latine conscripta publicis sumtibus edita, hrsg. v. Francesco Fiorentino, Felice Tocco u.a., 3Bde. in 8 Teilbdn., Neapel/Florenz 1879 ff. 232 - Articuli centum et sexaginta adversus huius tempestatis mathematicos atque philosophos, in: Opera lat., Bd.I/3, S. 1-118. 252, 255, 257, 260 - Camoeracensis acrotismus seu rationes articulorum physicorum adversus Peripateticos Parisiis propositorum, in: Opera latine, Bd.I/1, S.53- 190. 237f., 240, 247-251 - De gl’heroici furori, in: Le opere italiane, S. 607-754. 239ff. - De imaginum, signorum et idearum compositione ad omnia inventio­ num, dispositionum et memoriae genera libri tres, in: Opera latine, Bd. II/3, S. 87-322. 235, 237, 239, 245 - De immenso et innumerabilibus seu de universo et mundis, in: Opera latine, Bd.I/1 (Bücher 1-3), S. 191-398 u. 1/2 (Bücher 4-8), S. 1-318. 233 f., 236, 247, 250, 255 - De la causa, principio et Uno, in: Le opere italiane, S. 199-290. 233, 236, 244-248, 295

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- De l’infinito universo et mondi, in: Le opere italiane, S.291400. 233 f., 302 - De magia et theses de magia, in: Opera latine, Bd. III, S. 396-491. 232 f., 246, 260 f. - De magia mathematica, in: Opera latine, Bd. III, S. 493-506. 233, 260 f. - De triplici minimo et mensura ad trium speculativarum scientiarum et multarum activarum artium principia libri V, in: Opera latine, Bd.I/3, S. 121-361. 220, 234, 241 £., 244, 251, 253-260 - De umbris idearum. Implicantibus artem, quaerendi, inverendi, indi­ candi, ordinandi et applicandi: Ad internam scriptam, et non vulgares per memoriam operationes explicatis, in: Opera latine, Bd.II/1, S. 1-53. 243 - De vinculis in genere, in: Opera latine, Bd. III, S. 635-700. 238 - La cena de le ceneri, in: Le opere italiane, S. 113-197. 233 f., 261, 302 - Lampas triginta statuarum, in: Opera latine, Bd. III, S. 1-258. 243, 246 - Libri physicorum Aristotelis explanati, in: Opera latine, Bd.III, S. 259-393. 243 - Sigillus sigillorum ad omnes animi dispositiones comparandas habi­ tusque perficiendos accommodatus, in: Opera latine, Bd. II/2, S. 161217. 237, 240, 243 f., 248, 260 - Summa terminorum metaphysicorum, in: Opera latine, Bd.I/4, S. 3-128. 232, 238, 243 f. Buchenau, Artur: Über den Begriff des Unendlichen und der intelligibelen Ausdehnung bei Malebranche und die Beziehung des letzteren zum Kantischen Raumbegriff, in: Kantstudien 14 (1909), S. 440-467. 480 Buonosegnius, Johannes Baptista: Epistola de nobilioribus philoso­ phorum sectis et de eorum inter se differentia ad ... (Marsilium Ficinum?), abgedruckt in: Stein, Handschriftenfunde zur Philosophie der Renaissance, S. 540-551. 137 Burckhardt, Jacob: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch, Basel 1860. 80, 133,142 Burthogge, Richard: An Essay upon Reason and the Nature of Spirits, London 1694. 454, 457-460 - Organum vetus et novum or, a discourse of reason and truth. Wherein the natural logick common to mankinde is briefly and plainly described, London 1678. 454, 462

Caesalpinus, Andreas: Quaestiones Peripateticae libri V, in: Tractationum philosophicarum, Sp. 361-552. 214 Campanella, Tommaso: Apologia pro Galileo, mathematico florentino. Ubi disquiritur, utrum ratio philosophandi, quam Galileus celebras, faveat sacris scripturis, an adversetur, Frankfurt a. Μ. 1622. 200, 231 - Über die spanische Monarchie [= De monarchia hispanica discursus, Amsterdam 1640]. 200 - De sensu rerum et magia, libri quatuor. Pars mirabilis occultae philo­

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sophiae, ubi demonstratur, mundum esse Dei vivam statuam, beneque cognoscentem; omnesque illius partes, partiumque particulas sensu donatas esse, alias clariori, alias obscuriori, quantus sufficit ipsasum conservationi ac totius, in quo consentiunt; et fere omnium naturae arcanorum rationes aperiuntur, hrsg. v. Tobias Adami, Frankfurt a. Μ. 1620. 175 f., 201, 203 f., 207 f., 210, 212, 222 ff. - Physiologica, in: Realis philosophiae epilogisticae, fol. 1-217. 201, 204, 209,212,216, 274 - Poesie filosofiche, hrsg. v. Johann Caspar von Orelli, Lugano 1834. 223 - Realis philosophiae epilogisticae partes quattuor, hrsg. v. Tobias Adami, Frankfurt a. Μ. 1623. 201 - Universalis philosophiae seu metaphysicarum rerum, iuxta propria dogmata, partes tres, libri 18, Paris 1638. 140, 175, 201 f., 204-213, 216, 223 f., 235, 273 f., 365 Cantor, Moritz: Vorlesungen über Geschichte der Mathematik, 4 Bde., Leipzig 21894 ff. 353, 357, 363 f. Cardano, Geronimo: Opera omnia: tam hactenus excusa; hic tamen aucta et emendat; quam nunquam alias visa, ac primum ex auctoris ipsius autographis eruta: cura Caroli Sponii, 10 Bde., Lyon 1663. 96 - De immortalitate animorum liber unus, in: Opera omnia, Bd.II, fol. 456-536. 6 - De rerum varietate, in: Opera omnia, Bd. III, fol. 1-351. 181 - De subtilitate libri 21, in: Opera omnia, Bd.III, fol. 353-672. 177, 181,214 Cassirer, Ernst: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissen­ schaft der neueren Zeit, Bd. I, Berlin 1906. 287, 504 - Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Bd. II, Text u. Anm. bearb. v. Dagmar Vogel, Hamburg 1999 [ECW3]. 218,389,496 - Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen, Text und Anm. bearb. v. Marcel Simon, Hamburg 1998 [ECW 1]. 259, 394, 400, 420 - Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik, Berlin 1910. XII, 11, 205, 336, 364 Castelli, Benedetto: Risposta alle opposizioni di Lodovico delle Colombe e di Vincenzo di Grazia contro al trattato di Galileo Galilei delle cose ehe stanno su l’acqua, o ehe in quella si, in: Galilei, Le opere, Bd.XII, S.249-598. 291, 329f., 339f., 342 Cavalieri, Francesco Bonaventura: Exercitationes geometricae sex, Bo­ logna 1647. 358 - Geometria indivisibilibus continuorum nova quadam ratione pro­ mota, Bologna 1635. 57 Charron, Pierre: De la sagesse [durchges. v. Barbara de Negroni, Paris 1986.]. 163 ff.

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- De la sagesse trois livres, Bordeaux 1601 [21604]. 163 ff. - Les trois veritez contre tous Athees, Idolatres, luifs, Mahometans, Heretiques, et Schismatiques, Paris 1594. 164 Cherbury, Edward Herbert of: De veritate, prout distinguitur a revela­ tione, a verisimili, a possibili, et a falso [London 1633]. 429 Clauberg, Johann: Opera omnia philosophica; ante quidem separatim, nunc vero conjunctim edita, multis partibus auctiora et emendatio­ ra, hrsg. v. Johann Theodor Schalbruch, 2 Bde., Amsterdam 1691. 442 - Corporis et animae in homine conjunctio plenius descripta, in: Opera omnia philosophica, Bd. I, S. 209-277. 466 - De cognitione Dei et nostri, quatenus naturali rationis lumine, secun­ dum veram philosophiam, potest comparari, exercitationes centum, in: Opera omnia philosophica, Bd. II, S. 585-764. 466 - Logica vetus et nova, modum inveniendae ac tradendae veritatis, in genesi simul et analysi, facili methodo exhibens, in: Opera omnia phi­ losophica, Bd. II, S. 765-904. 442 f. Cohen, Hermann: Das Prinzip der Infinitesimal-Methode und seine Ge­ schichte. Ein Kapitel zur Grundlegung der Erkenntniskritik, Belin 1883. 355, 359 - Logik der reinen Erkenntniss (System der Philosophie, Bd.I), Berlin 1902. 15 Cousin, Victor: Etudes sur Pascal, Paris 21844. 436 - Fragments de Philosophie Cartesienne, Paris 1845. 476 Cremonini, Caesare: Disputatio de coelo in tres partes divisa, Venedig 1613. 295, 335, 344 Cusanus, Nicolaus: Haec accurata recognitio trium voluminum operum. Cuius universalem indicem proxime sequens pagina monstrat, 3 Bde., hrsg. v. Jacobus Faber Stapulensis, Paris 1514. 18 - Compendium, in: Opera, Bd.I, fol. 169b-174b. 37 - Complementum theologicum, in: Opera, Bd. II/2, fol. 93 a-101 a. 21, 32, 34, 46, 49, 71, 375 - De apice theoriae dialogus, in: Opera, Bd.I, fol.219b-222a. 19, 22, 46, 48 - De beryllo, in: Opera, Bd. I, fol. 184 b-193 a. 22, 28, 34, 42 - De coniecturis duo, in: Opera, Bd.I, fol.42a-65a. 18, 21, 24, 26, 28, 40 f., 48 - De docta ignorantia libri tres, in: Opera, Bd.I, fol. 1 b-34b. 18f., 21, 24, 34 f., 38 f. - De filiatione Dei, in: Opera, Bd. I, fol. 65 b-69 b. 18, 46 - De ludo globi libri duo, in: Opera, Bd.I, fol. 152b-169a. 28, 30, 32, 47 f. - De mathematica perfectione, in: Opera, Bd. II/2, fol. 101 b-115 a. 39 f. - De pace seu concordantia fidei, in: Opera, Bd. I, fol. 114 b-123 b. 25, 139, 165 - De quaerendo deum, in: Opera, Bd. I, fol. 197 b-201 a. 46

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- De staticis experimentis [s. Idotae libri quatuor (Buch 4), in: Opera, Bd.I, fol.95a-99a], 20 - De venatione sapientiae, in: Opera, Bd. I, fol. 201 b-219 a. 22 - De visione Dei, in: Opera, Bd. I, fol. 99 b-114 b. 22, 50 - Dialogus de genesi, in: Opera, Bd. I, fol. 70 a-75 a. 26 - Dialogus de possest, in: Opera, Bd. I, fol. 175 a-184 a. 43 - Excitationum libri decem, in: Opera, Bd. II/l, Teil 1, fol. 7 b-189 b. 49 - Idiotae libri quatuor, in: Opera, Bd. I, fol. 75 b-99 a. 22,24,26-33, 35, 43, 47 f., 74, 80 - Tetralogus de non aliud, in: Uebinger, Die Gotteslehre des Cusanus, S. 138-198. 19f.,33,35f.,46

Dante Alighieri: [La divina commedia, hrsg. v. Carl Witte, Berlin 1862] 90,207,295 DellaPorta, Giovanni Battista: Magia Naturalis libri XX. Ab ipso authore expurgati, et superaucti, in quibus scientiarum naturalium divitiae, et delitiae demonstrantur, Neapel 1589. 174 DellaTorre, Arnaldo: Storia dell’Accademia Platonica di Firenze, Florenz 1902. 82 Demokrit: Fragmente, zitiert nach : Diels, Fragmente. 516 Descartes, Rene: CEuvres, hrsg. v. Charles Adam u. Paul Tannery, 15 Bde., Paris 1897ff. [CEuvres AT]. 369, 389 - CEuvres de Descartes, hrsg. v. Victor Cousin, 11 Bde., Paris 1824 ff. [CEuvres Cousin]. 378 - CEuvres inedites, hrsg. v. Louis Alexandre Foucher de Careil, Paris 1859. 369 - Opuscula posthuma, physica et mathematica, Amsterdam 1701. 387 - Brief an (?) vom August 1641, in: CEuvres AT, Bd. III, S. 421-435. 419 - Brief (an Arnauld) vom 29. Juli 1648, in: CEuvres AT, Bd.V, S.219-224. 408,413,419 - Brief (an Boswell?) (von 1646?), in: CEuvres AT, Bd.IV, S.684693. 393 - Brief an Clerselier über die Einwände Gassendis (Epistola ad C. L. R.: In qua ad epitomen praecipuarum Petri Gassendi instantiarum res­ pondetur), in: Meditationes 1670, S. 142-148. 386 - Brief an Clerselier vom 23. April 1649, in: CEuvres AT, Bd.V, S. 352-357. 415 - Brief (an den Marquis von Newcastle?) (vom März oder April 1648?), in: CEuvres AT, Bd.V, S. 133-139. 409, 424 - Brief an die Pfalzgräfin Elisabeth vom 21. Mai 1643, in: CEuvres AT, Bd. III, S. 663-668. 384, 409, 419 - Brief an Gibieuf vom 19. Januar 1642, in: CEuvres AT, Bd.III, S. 472-480. 386 - Brief an Henry More vom 5. Februar 1649, in: CEuvres AT, Bd.V, S. 267-279. 386,397

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- Brief an Huyghens vom 5. Oktober 1637, in: CEuvres AT, Bd. I, S.431-448. 387 - Brief an Mersenne vom 8. Oktober 1629, in: CEuvres AT, Bd.I, S. 22-32. 391 - Brief an Mersenne vom 13. November 1629, in: CEuvres AT, Bd.I, S. 69-75. 388, 391 - Brief an Mersenne vom 15. April 1630, in: CEuvres AT, Bd.I, S. 135-147. 413,416 - Brief an Mersenne vom 27. Mai 1630, in: CEuvres AT, Bd.I, S. 151-154. 413 - Brief an Mersenne vom 10. Mai 1632, in: CEuvres AT, Bd.I, S. 249-252. 397 - Brief an Mersenne (von Ende Dezember 1637?), in: CEuvres AT, Bd. I, S. 477-481. 376 - Brief an Mersenne vom 15. November 1638, in: CEuvres AT, Bd.II, S.419-451. 388 - Brief an Mersenne vom 16. Oktober 1639, in: CEuvres AT, Bd.II, S. 587-599. 429 - Brief an Mersenne vom 28. Januar 1640, in: CEuvres AT, Bd.III, S. 292-300. 416 - Brief an Mersenne vom 11. März 1640, in: CEuvres AT, Bd.III, S. 33-45. 398 - Brief an Mesland (vom 2. Mai 1644?), in: CEuvres AT, Bd.IV, S. 110-120. 417 - Brief an Morin (vom 13. Juli 1638), in: CEuvres AT, Bd.II, S. 196-221. 398 - Brief an Morin vom 12. September 1638, in: CEuvres AT, Bd.II, S. 362-373. 381 - Brief an Regius (vom Mai 1641), in: CEuvres AT, Bd.III, S.370-375. 417 - Cogitationes privatae, in: CEuvres inedites, S. 1-57. 369, 388, 390 - De mechanica tractatus una cum elucidationibus, in: Opuscula posthuma, S. 1-51. 387 - Discours de la methode. Pour bien conduire sa raison, et chercher la verite dans le Sciences, in: CEuvres AT, Bd.VI, S. 1-78. 370 f., 376, 397 f., 409, 439, 442 - Epistola ad Gisbertum Voetium. In qua examinantur duo libri, nuper pro Voetio ultrajecti simul editi, unus de confraternitate Mariana, alter de philosophia Cartesiana, in: CEuvres AT, Bd. VIII/2, S. 1-198. 375, 427 - Epistola ad Patrem Dinet, in: Meditationes 1670, S. 143-164. 427 - La dioptrique, in: CEuvres AT, Bd.VI, S.79-228. 384, 391, 393f., 406 f. - Le monde, ou traite de la lumiere, in: CEuvres Cousin, Bd.IV, S. 213-332. 378,391,397 - Les Meteores, in: CEuvres AT, Bd.VI, S.229-366. 376, 391, 394f.

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- Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, hrsg., übers, u. unter Zugrundelegung der eigenen Erläuterungen Descartes’ erklärt v. Artur Buchenau, Leipzig 31902. 385 - Meditationes de prima philosophia, in qua Dei existentia, et animae humanae a corpore distinctio, demonstrantur. His adjunctae sunt variae objectiones doctorum virorum in istas de Deo et anima demonstratio­ nes; cum responsionibus auctoris, in: CEuvres AT, Bd.VII, S. 1-561 [Meditationes AT]. 369, 373, 386,401,403 f., 407,409,411,414f., 417 - Meditationes de prima philosophia, in quibus Dei existentia, et animae humanae a corpore distinctio, demonstrantur. His adjunctae sunt variae objectiones doctorum virorum in istas de Deo et anima demon­ strationes; cum responsionibus auctoris, Amsterdam 1670 [Meditatio­ nes 1670]. 386,427 - Meditations metaphysiques, in: CEuvres Cousin, Bd.I, S.213350. 385,406,418 - Notae in programma quoddam, sub finem anni 1647 in Belgio editum, cum hoc titulo: Explicatio mentis humanae, sive animae rationalis, ubi explicatur quid sit, et quid esse possit, in: CEuvres AT, Bd.VIII, S. 335-369. 384,408,416,418 - Principia philosophiae, in: CEuvres AT, Bd. VIII/1, S. 1-329. 97, 399, 414,416 - Recherche de la verite par la lumiere naturelle, in: CEuvres AT, Bd.X, S. 489-532. 373 - Regulae ad directionem ingenii, nach der Originalausg. v. 1701 hrsg. von Artur Buchenau, Leipzig 1907. 366, 369, 371, 373-383, 391-396, 400, 402 f., 406,411,414, 470 - Traite de l’homme [in: CEuvres AT, Bd.XI, S. 119-215]. 463 Deussen, Paul: Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen, Bd.I, 2. Abt.: Die Philosophie der Upanishad’s, Leipzig 1899. 513 Diels, Hermann: Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1903. 509 f., 512-516 Dilthey, Wilhelm: Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16 Jahrhundert, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 4 (1891), S. 604-651 u. 5 (1892), S. 337-400. 4, 141 f. Dippel, Joseph: Versuch einer systematischen Darstellung der Philoso­ phie des Carolus Bovillus nebst einem kurzen Lebensabrisse. Ein Bei­ trag zur Geschichte der Philosophie des 16. Jahrhunderts, Diss., Würz­ burg 1865. 52 Doni, Agostino: De natura hominis libri duo: In quibus, discussa tum medicorum, tum philosophorum antea probatißimorum caligine, tan­ dem quid sit homo, naturali ratione ostenditur, Basel 1581. 208 Duhem, Pierre: Etudes sur Leonard de Vinci ceux qu’il a lus et ceux qui Pont lu, 2 Bde., Paris 1906/1909. 267, 272 - Les sources des theories physiques. Les origines de la statique, 2 Bde., Paris 1905 f. 269

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- ΣΩΖΕΙΝ TA ΦΑΙΝΟΜΕΝΑ. Essai sur la notion de theorie physique de Platon a Galilee, Paris 1908. 287f. Dühring, Eugen: Kritische Geschichte der allgemeinen Principien der Mechanik. Nebst einer Anleitung zum Studium mathematischer Wis­ senschaften, 3., wiederum erw. u. teilw. umgearb. Aufl., Leipzig 1887. 269,356

Erasmus von Rotterdam, Desiderius: Opera omnia emendatiora et auc­ tiora, ad optimas editiones praecipve quas ipse Erasmus postremo curavit summa fide exacta, doctorumque virorum notis illustrata, lOBde., Leiden 1703. 141 - Convivium religiosum, in: Opera omnia, Bd. I, Sp. 672-847. 141 Eucken, Rudolf: Untersuchungen zur Geschichte der älteren deutschen Philosophie I: Johann Kepler, in: Philosophische Monatshefte 14 (1878), S. 30-45. 293 Euklid: Elemente [fünfzehn Bücher, übers, v. Johann Friedrich Lorenz, hrsg. u. mit einem Anh. vers. v. Martin Christian Dippe, 6., verb. Aufl., Halle 1840]. 307,351 Faber Stapulensis, Jacobus: In sex primos Metaphysicos libros Aristote­ lis introductio, adiecto ad literam familiari ludoci Cichthovei Neoportvensis commentario explanata, in: Vatablus, Totius philosophiae, fol. 279 b-280 a. 270 - Introductio in Aristotelis libros de anima, in: Vatablus, Totius philoso­ phiae, fol. 184 a-187 b. 90 Falckenberg, Richard: Grundzüge der Philosophie des Nicolaus Cusanus mit besonderer Berücksichtigung der Lehre vom Erkennen, Breslau 1880. 33, 50 Favaro, Antonio: Galileo Galilei e lo studio di Padova, 2 Bde., Florenz 1883. 317,350 Ferri, Luigi: La psicologia di Pietro Pomponazzi secondo un manoscritto inedito dell’angelica di Roma, Rom 1876. 94 Feuerbach, Ludwig: Pierre Bayle. Ein Beitrag zur Geschichte der Philo­ sophie der Menschheit (Sämtliche Werke, hrsg. v. Wilhelm Bolin u. Friedrich Jodi, Bd.V), Stuttgart 1905. 500 Ficino, Marsilio: Opera, 2 Bde., Paris 1641. 64 - Brief an Bessarion, in: Opera, Bd. I, fol. 602. 69 - Brief an Giovanni Cavalcanti, in: Opera, Bd. I, fol. 613. 70 [140 - De religione christiana, et fidei pietate liber, in: Opera, Bd. I, fol. 1-73 - Dionysii Areopagitae translatio una cum suis argumentis, in: Opera, Bd. II, fol. 1-103. 81 - Epistolarum libri XII, in: Opera, Bd. I, fol. 592-947. 64, 78, 141 - In Plotinum philosophum, ex Platonici familia nati, de rebus philoso­ phicis, liber 54. In Enneados sex distributos argumenta doctissima: quibus tota eius philosophia quam brevissime complectitur, in: Opera, Bd. II, fol. 493-798. 69

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- Theologia Platonica. De immortalitate videlicet animorum, ac aeterna felicetate libri XVIII, in: Opera, Bd. I, fol. 74-414. 64, 71-80, 94 Fiorentino, Francesco: Bernardino Telesio ossia studi storici su 1’idea della natura nel risorgimento italiano, 2 Bde., Florenz 1872/1874. 181,208 - Il risorgimento filosofico nel quattrocento. Opera posthuma, Neapel 1885. 43 - Pietro Pomponazzi studi storici su la scuola Bolognese e Padovana del secolo XVI con molti documenti inediti, Florenz 1868. 85, 87, 96, 99 Fischer, Kuno: Geschichte der neueren Philosophie. Jubiläumsausgabe, Bd.I: Descartes’ Leben, Werke und Wirkung, Heidelberg 41897. 369 f. Fontenelle, Bernard le Bouvier: Eloges, mit Einl. u. Anm. versehen v. Francisque Cyrille Bouillier, Paris 1883. 491 - Eloge du pere Malebranche, in: Eloges, S. 77-96. 491 Fracastoro, Girolamo: Opera omnia, in unum proxime post illus mortem collecta, Venedig 1555. 187 - De sympathia et antipathia liber unus, in: Opera omnia, fol. 79 b-105 a. 314,332, 334, 341 - Turrius sive de intellectione dialogus, in: Opera omnia, fol. 165 b-207 a. 187, 190-193, 270

Galatinus, Petrus: Opus de arcanis catholicae veritatis: hoc est, in om nia difficilia loca veteris testamenti, ex talmud, aliisque hebraicis libris, quum ante natum Christum, tum postscriptis, contra obstina­ tam iudaeorum perfidiam, absolutissimus commentarius, Basel 1561. 136 Galilei, Galileo: Le opere. Prima edizione completa condotta sugli autentici manoscritti Palatini, 15 Bde., hrsg. v. der Societä editrice Fiorentina, Florenz 1842 ff. 226 - Brief an Bellarmin von 1615, zit. nach Berti, Copernico, S. 130. 343 - Brief an Elia Diodati vom 15. Januar 1633, in: Le opere, Bd.VII, S. 16-20.231 - Brief an Federico Cesi vom 12. Mai 1612, in: Le opere, Bd.VI, S. 180-182. 338 - Brief an Fortunio Liceti vom Januar 1641, in: Le opere, Bd.VII, S. 352-355. 351 - Brief an Johannes Kepler vom 19. August 1610, in: Kepler, Opera, Bd.II, S.457f. 316 - Brief an Johannes Kepler vom 1. Januar 1611, in: Kepler, Opera, Bd. II, S.464. 323 - Brief an Leopoldo de Medici vom 16. April 1640, in: Le opere, Bd.VII, S. 261-309. 329 - Brief an Piero Dini vom 21. Mai 1611, in: Le opere, Bd.VI, S. 163-176. 346

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- Brief an Pietro Carcaville vom 5. Juni 1637, in: Le opere, Bd.VII, S.156f. 322 - Della scienza meccanica e delle utilitä ehe si traggono dagl’instrumenti di quella con un frammento sopra la forza della percossa, in: Le opere, Bd. XI, S. 81-125. 339 - Dialogo intorno ai due massimi sistemi del mondo Tolemaico e Copernicano (Le opere, Bd.I). 230, 265, 300, 320f., 324f., 328ff., 333, 339, 342, 344 ff., 349 f., 367 - Discorsi e dimostrazioni matematichi intorno a due nuove scienze attenenti alla meccanica ed ai movimenti locali. Altrimenti dialoghi delle nuove scienze (Le opere, Bd.XIII). 322, 324, 329, 331 f., 341 f., 347, 353-356, 362 - Discorso intorno i galleggianti, in: Le opere, Bd.XII, S. 9-96. 316, 341 - Il Saggiatore, in: Le opere, Bd. IV, S. 145-369. 325, 327, 330, 348, 351 - Lettera a Tolomeo Nozzolini, in: Le opere, Bd. XII, S. 103-116. 330, 342 - Lettere intorno alle macchie solari, in: Le opere, Bd. III, S.371-508. 318, 336ff. - Lettere intorno al sistema Copernicano, in: Le opere, Bd.II, S. 1-115. 226, 231 - Lettere intorno le apparenze della luna, in: Le opere, Bd.III, S. 103-237.229 - Postille alle Esercitazioni di Antonio Rocco, in: Le opere, Bd.II, S. 290-335. 230, 329, 355 f. - Sermones de motu gravium, in: Le opere, Bd.XI, S. 1-80. 333, 341 Gass, Wilhelm: Gennadius und Pletho, Aristotelismus und Platonismus in der griechischen Kirche, nebst einer Abhandlung über die Bestrei­ tung des Islam im Mittelalter, Breslau 1844. 68 Gerhardt, Carl Immanuel: Die Entdeckung der höheren Analysis, Halle a.d.S. 1855. 359 Geulincx, Arnold: Opera philosophica. Sumtibus providerunt sortis spinozanae curatores, hrsg. v. Jan Pieter Nicolaas Land, 3 Bde., Den Haag 1891 ff. 446 - Annotata ad Metaphysicam, in: Opera philosophica, Bd. II, S. 266-310. 446 - Ethica, in: Opera philosophica, Bd. III, S. 1-271. 453 - Metaphysica ad mentem Peripateticam, in: Opera philosophica, Bd. II, S. 199-265. 446 f., 450 ff. - Oratio I, dicta in auspicio quaestionum quodlibeticarum, in: Opera philosophica, Bd. I, S. 9-66. 450 Gibson, Boyce: La »Geometrie« de Descartes au point de vue de sa Methode, in: Revue de Metaphysique et de Morale 4 (1896), S. 386-398. 376 Gilbert, William: De magnete, magneticisque corporibus, et de magno

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magnete tellure. Physiologia nova, plurimis et argumentis, et experi­ mentis demonstrata, London 1600. 229, 300 f., 303 - De mundo nostro sublunari philosophia nova. Opus posthumum, ab authoris fratre collectum pridem et dispositum, nunc ex duobus codi­ cibus editum, Amsterdam 1651. 300 ff., 317 Goethe, Johann Wolfgang von: [Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, Weimar 1887ff. (Werke [Weimarer Ausg.]).] 14 - [Werke. Nach den vorzüglichsten Quellen revidirte Ausgabe, Hem­ pels wohlfeile Classiker-Ausgabe, Berlin 1868 ff. (Werke Hempel).] 143 - [Brief an Karl Friedrich Zelter vom 9. August 1828, in: Werke (Wei­ marer Ausg.), 4. Abt., Bd.XLIV: Goethes Briefe, März-September 1828, Weimar 1909, S. 259-262.] 14 - Farbenlehre [ in: Werke Hempel, Bd. XXXVI, mit Einl. u. Anm. hrsg. v. Salomon Kalischer, Berlin 1879, S. 3-426]. 174, 229 - [Faust, zweiter Theil (Werke [Weimarer Ausg.], 1. Abt., Bd.XV/1), Weimar 1899.] 80 - [West-östlicher Divan (Werke Hempel, Bd. IV, hrsg. u. mit Anm. ver­ sehen v. Gustav von Loeper), Berlin 1868.] 143 Gomperz, Theodor: Griechische Denker. Eine Geschichte der antiken Philosophie, 3 Bde., Leipzig 1896 ff. 513, 516 Grimm, Eduard: Arnold Geulincx’ Erkenntnisstheorie und Occasionalismus, Diss., Jena 1875. 461 Grothe, Hermann: Leonardo da Vinci als Ingenieur und Philosoph. Ein Beitrag zur Geschichte der Technik und der induktiven Wissenschaf­ ten, Berlin 1874. 269 Gualdo, Paolo: Brief an Galilei vom 29. Juli 1611, in: Galilei, Le opere, Supplemento, Florenz 1856, S. 49 f. 317 Grazia, Vincenzo di: Considerazioni, in: Galilei, Le opere, Bd.XII, S. 179-248. 335 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geistes (Werke. Vollständige Ausgabe durch einen Verein von Freunden des Verewig­ ten, Bd. II), Berlin 1832. 152 Heraklit: Fragmente, zitiert nach: Diels, Fragmente. 512 f. Honigswald, Richard: Beitraege zur Erkenntnistheorie und Methoden­ lehre, Leipzig 1906. 340 Homer: Odyssee [übers, v. Johann Heinrich Voß, Leipzig 1871 (Ham­ burg 1781)]. 316f. Huyghens, Christiaan: Abhandlung über das Licht. Worin die Ursachen der Vorgänge bei seiner Zurückwerfung und Brechung und besonders bei der eigenthümlichen Brechung des isländischen Spathes dargelegt sind, hrsg. v. Eugen Lommel, Leipzig 1890. 398 f.

Jandun, Jean de: Quaestiones singulares super libro De substantia orbis.

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zitiert nach: Mabilleau, Philosophie de la Renaissance, S. 152, Anm. 1. 177 Jodi, Friedrich: Geschichte der Ethik in der neueren Philosophie, Bd. I: Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Mit einer Einleitung über die antike und christliche Ethik, Stuttgart 1882. 499f. Kant, Immanuel: [Gesammelte Schriften, hrsg. v. der Königlich Preußi­ schen Akademie der Wissenschaften, Abt. I: Werke, 9 Bde., Berlin/ Leipzig 1902 ff.] - Critik der reinen Vernunft [2., hin u. wieder verb. Aufl., Riga 1787]. 496 - De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis [in: Gesam­ melte Schriften, Bd.II, Berlin 1912 (11905), S.385-419]. 241 - Von dem ersten Grunde des Unterschieds der Gegenden im Raume [in: Gesammelte Schriften, Bd.II, Berlin 1912 (τ1905), S.375-383]. 314 Kastil, Alfred: Studien zur neueren Erkenntnistheorie, Bd. I: Descartes, Halle a.d.S. 1909. 409 Kepler, Johannes: Opera omnia, hrsg. v. Christian Frisch, 8 Bde., Frank­ furt a. Μ./Erlangen 1858 ff. 131 - Ad vitellionem paralipomena, quibus astronomiae pars optica traditur, potissimum de artificiosa observatione et aestimatione diametrorum deliquorumque solis et lunae. Cum exemplis insignium eclipsium, in: Opera omnia, Bd.II, S. 119-446. 280, 310 - Apologia adversus demonstationem analyticam Cl. V. D. Roberti de Fluctibus, in: Opera omnia, Bd. V, S. 413-468. 291 ff. - Apologia Tychonis contra Nicolaum Raymarum Ursum, in: Opera omnia, Bd.I, S.215-287. 284, 288f., 306 - Appendix ad Harmonices Mundi Librum V, in: Opera, Bd.II, S.335412. 347 - Appendix ad librum quintum harmonicorum, in: Opera omnia, Bd. V, S. 328-334. 292 - Astronomia nova άιτίολόγητος seu physica coelestis tradita commen­ tariis de motibus stella martis, in: Opera omnia, Bd.III, S. 135508. 229, 277, 285, 289, 295-300, 303, 305 f., 310, 352 - Brief vom Mai 1605, in: Opera, Bd. III, S. 37. 312 - Brief vom Dezember 1616, in: Opera, Bd.VI, S. 17. 299 - Brief an Fabricius vom 8. Dezember 1602, in: Opera, Bd.III, S.77. 353 - Brief an Fabricius vom 11. Oktober 1605, in: Opera, Bd.III, S. 459. 303, 305 f. - Brief an Joachim Tanck vom 12. Mai 1608, in: Opera omnia, Bd.I, S.378. 290 - Brief an Michael Maestlin vom September 1597, in: Opera omnia, Bd. I, S.34f. 289 - Brief vom 10. Februar 1605, in: Opera, Bd. II, S. 84. 296 - Brief vom 28. März 1605, in: Opera, Bd. II, S. 87f. 299

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- Brief vom 4. Oktober 1607, in: Opera, Bd. III, S. 31. 299 - Brief vom 30. November 1607, in: Opera, Bd.II, S.589f. 303 - Briefwechsel mit Fabricius, in: Apelt, Reformation der Sternkunde, S. 327-434. 311 - Briefwechsel mit Fabricius, in: Opera, Bd.I, S.304-358 u. Bd.III, S.61-133. 311 - Briefwechsel mit Galilei, in: Opera, Bd.II, S.454-469. 315 - Chilias logarithmorum ad totidem numeros rotundos. Praemissa demonstratione legitima ortus logarithmorum eorumque usus, in: Opera, Bd.VII, S. 317-408. 363 - Collectanea ex codicibus Pulkoviensibus, in: Opera omnia, Bd. VIII/1, S. 143-358. 284,348 - De fundamentis astrologiae certioribus nova dissertatiuncula ad cosmotheoriam spectans cum prognosi physica anni ineuntis a nato Christo 1602, in: Opera omnia, Bd.I, S.417-438. 293 - De stella nova in pede serpentarii, in: Opera omnia, Bd.II, S. 575-750. 131,305,312,318 - Dissertatio cum nuncio sidereo nuper ad mortales misso a Galilaeo Galilaeo, in: Opera omnia, Bd.II, S.485-506. 228, 283, 315f. - Epistolae Kepleri aliorumque mutuae de Epitome Astronomiae, in: Opera, Bd.VI,S. 13-78. 311 - Epitome astronomiae Copernicanae, in: Opera, Bd.VI, S. 113611. 296, 298 ff., 305, 311 f. - Harmonices mundi libri V, in: Opera omnia, Bd.V, S. 75-327. 275, 278-283, 293, 307ff., 347, 352 - Literae Kepleri aliorumque mutuae de Commentariis de motu stellae Martis, in: Opera omnia, Bd.III, S.23-133. 131, 300 - Literae Kepleri aliorumque mutuae de Jovis satellitibus etc., in: Opera, Bd.II, S.453-484. 315 - Literae Kepleri aliorumque mutuae de rebus opticis, in: Opera omnia, Bd.II, S.5-118. 283 - Literae Kepleri aliorumque mutuae de Stella Nova, in: Opera, Bd. II, S. 582-610. 300 - Nova stereometria doliorum vinariorum, inprimis austriaci, figurae omnium aptissimae; et usus in eo virgae cubicae compendiosissimus et plane singularis. Accessit stereometriae archimedeae supplementum, in: Opera omnia, Bd. IV, S. 545-665. 353, 357 - Prodomus dissertationum cosmographicarum, continens mysterium cosmographicum de admirabili proportione orbium coelestium, in: Opera omnia, Bd.I, S.95-214. 277, 279, 283, 295, 297, 307f., 313f., 347 - Tychonis Brahei dani hyperaspistes adversus Scipionis Claramontii Caesenatis Itali doctoris et equitis Anti-Tychonem, in: Opera, Bd.VII, S. 161-292. 317 - Vorrede zu Harmonice mundi, in: Opera omnia, Bd.V, S.3-19. 293

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Klette, Thomas: Beiträge zur Geschichte und Literatur der Italienischen Gelehrtenrenaissance, Heft 2, Greifswald 1889. 100 Kopernikus, Nikolaus: De revolutionibus orbium coelestium libri VI, Nürnberg 1543. 227f., 287, 310 Krause, Carl (Hrsg.): Der Briefwechsel des Mutianus Rufus (Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, 9. Supple­ ment), Kassel 1885. 141 LaMothe LeVayer, Frangois de: Cinq dialogues. Faits ä Limitation des anciens, Mons 1671. 167 f. Labanca, Baldassare: Sopra Giacoma Zabarella, Neapel 1874. 99 Land, Jan Pieter Nicolaas: Arnold Geulincx und seine Philosophie, Den Haag 1895. 447 Lasswitz, Kurd: Geschichte der Atomistik vom Mittelalter bis Newton, 2 Bde., Hamburg/Leipzig 1890. 254, 302, 304, 353, 361 Leder, Hermann: Untersuchungen über Augustins Erkenntnistheorie in ihren Beziehungen zur antiken Skepsis, zu Plotin und zu Descartes, Marburg 1901. 423 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Philosophische Schriften, hrsg. v. Carl Immanuel Gerhardt, 7 Bde., Berlin 1875 ff. 69 - Briefwechsel zwischen Leibniz und Foucher. 1676(?)—1695, in: Philo­ sophische Schriften, Bd. I, S. 363-427. 69 - De ipsa natura sive de vi insita actionibusque creaturarum, pro dynamicis suis confirmandis illustrandisque [in: Philosophische Schriften, Bd. IV, S. 504-516]. 176f. - Leibniz gegen Descartes und den Cartesianismus. 1677-1702, in: Phi­ losophische Schriften, Bd. IV, S. 263-406. 344 - Scientia Generalis. Characteristica, in: Philosophische Schriften, Bd.VII,S. 1-247. 70 Leonardo da Vinci: Leonardo da Vinci, der Denker, Forscher und Poet. Nach den veröffentlichten Handschriften, Ausw., Übers, und Einl. v. Marie Herzfeld, Leipzig 1904. 272 - Scritti letterari cavati dagli Autografi, hrsg. v. Jean Paul Richter, 2 Bde., London 1883. 265 f., 268-273 Liard, Louis: Descartes, Paris 1882. 370, 395 f. Liebert, Arthur: Picos Leben und Philosophie, in: Giovanni Pico della Mirandola, Ausgewählte Schriften, S. 5-92. 127 Livius, Titus: Römische Geschichte [4 Bde., übers, v. Konrad Heusinger, neu hrsg. v. Otto Güthling, Leipzig 1884]. 101 Löwenheim, Luis: Der Einfluss Demokrit’s auf Galilei, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 7 (1894), S. 230-268. 324 Logique de Port-Royale [= La Logique ou l’art de penser s. Arnauld, Antoine: Logica sive ars cogitandi]. Lyon, Georges: L’idealisme en angleterre au dix-huitieme siede, Diss., Paris 1888. 454, 456, 461 f., 469, 477

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Mabilleau, Leopold: Etüde historique sur la philosophie de la renaissance en Italie (Cesare Cremonini), Paris 1881. 83, 177, 335 Malebranche, Nicole: CEuvres, zusammengestellt, neu hrsg. und mit einer Einl. vers. v. Jules Simon, 2 Bde., Paris 1846. 473 - Brief an Mairan vom 12. Juni 1714, in: Cousin, Philosophie Cartesienne, S. 306-316. 476, 483, 486 - Brief an Mairan vom 6. September 1714, in: Cousin, Philosophie Cartesienne, S. 341-346. 476 - De la Recherche de la verite, ou l’on traite de la nature de l’esprit de l’homme, et de lusage qu’il en doit faire pour eviter l’erreur dans les Sciences, 2 Bde., 7., durchges. u. um Erl. erw. Aufl., Paris 1721. 443, 464, 467-473, 480 f., 483, 492 - Eclaircissements, in: Recherche de la verite, Bd.II, S. 187-392. 465, 473, 475 f., 481,488 - Entretien d’un philosophe chretien avec un philosophe chinois sur l’existance et la nature de Dieu, in: CEuvres, Bd.I, S.567-597. 483, 489 - Entretiens sur la metaphysique, in: CEuvres, Bd.I, S.39-334. 473-476, 480 f., 487 - Premiere lettre, dans laquelle l’Auteur justifie son sentiment sur la Nature des Idees, contre l’accusation de Mr. Arnaud, in: Recueil, Bd. I, S. 321-477.482 - Recueil de toutes les reponses a Monsieur Arnaud, 4 Bde., Paris 1709. 424,465 - Reponse ä Regis, in: Recherche de la verite, Bd.II, S. 149-184. 466, 478, 481,487 - Reponse au livre de Mr. Arnaud, Des vrayes et des faußes Idees, in: Recueil, Bd.I, S. 1-318. 479f., 482 Montaigne, Michel de: Essais [avec les notes de tous les commentateurs, hrsg. v. Joseph-Victor Le Clerc, 2Bde., Paris 1836]. 144-148, 150-163, 165 f., 440, 491,502 Müller, Max: Lectures on the origin and growth of religion as illustrated by the religions of India, Neudruck: London 1898. 513 Mutianus Rufus, Conradus: Brief an Urbanus vom Herbst 1505, in: Krause, Briefwechsel des Mutianus Rufus, S. 27-30. 141

Natorp, Paul: Descartes’ Erkenntnistheorie. Eine Studie zur Vorge­ schichte des Kriticismus, Marburg 1882. 327, 396 - Galilei als Philosoph. Eine Skizze, in: Philosophische Monatshefte 18 (1882), S. 193-229. 324 - Platons Ideenlehre. Eine Einführung in den Idealismus, Leipzig o.J. [1903] 522 Neper, John: Mirifici logarithmorum canonis descriptio, ejusque usus, in utraque trigonometria; ut etiam in omni logistica mathematica, amplis­ simi, facillimi, et expeditißimi explicatio, Edinburgh 1614. 363 Niphus, Augustinus: De immortalitate animae, Venedig 1518. 86

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- In librum de anima Aristotelis et Averroys commentatio, in: Super tres libros de anima, o. S. 86 - Super tres libros de anima,Venedig 1503. 86 Nizolius, Marius: De veris principiis et vera ratione philosophandi con­ tra pseudophilosophos libri IV, hrsg. v. Gottfried Wilhelm Leibniz, Franfurt a. Μ. 1670. 124 ff. Novaro, Mario: Die Philosophie des Nicolaus Malebranche, Berlin 1893. 469

Oldenberg, Hermann: Buddha. Sein Leben, seine Lehre, seine Gemeinde, 4., durchges. Aufl., Stuttgart/Berlin 1903. 512 Osiander, Andreas: Praefatio ad lectorem, in: Kopernikus, De revolutio­ nibus, fol. I b f. 87 Paracelsus, Theophrastus: Bücher und Schrifften. Jetzt auffs new auß den Originalien, und Theophrasti eigener Handschrifft, soviel derselben zu bekommen gewesen, auffs trewlichst und fleissigst an tag gegeben, hrsg. v. Johannes Huser, 10 Teile, Basel 1589 ff. 182 - Chirurgische Bücher und Schrifften. Jetzt auffs New auß den Origina­ len, und Theophrasti eygenen Handtschrifften, so viel derselben zu bekommen gewesen, auffs trewlichst und vleissigest wider an tag geben, hrsg. v. Johannes Huser, Basel 1618. 186 - Das Buch Paragranum, hrsg. u. eingel. v. Franz Strunz, Leipzig 1903. 182-185 - Labyrinthus medicorum, in: Bücher und Schrifften, Teil 2, fol. 191243. 187 - Liber de imaginibus (ex manuscriptis alterius), in: Bücher und Schriff­ ten, Teil 9, fol. 369-393. 187 - Liber de podagricis, et suis speciebus, et morbis annexis, in: Bücher und Schrifften, Teil 4, fol. 246-285. 185, 187 - Opus Paramirum (2. Fassung), in: Bücher und Schrifften, Teil 1, fol. 67-237. 184f. - Paragrani alterius, in: Bücher und Schrifften, Teil 2, fol. 99-141. 185 - Von den Podagrische Kranckheiten, unnd was ihn anhengig ist (ex impresso exemplari), in: Bücher und Schrifften, Teil 4, fol. 286316. 186 Parmenides: Fragmente, zitiert nach: Diels, Fragmente. 514, 516 Pascal, Blaise: Pensees. Publiees dans leur texte authentique avec un com­ mentaire suivi, hrsg. v. Ernest Havet, Paris 1897. [Pensees 1] 425, 429-441 - Pensees. Publiees dans leur texte authentique avec une introduction, des notes et des remarques, hrsg. v. Ernest Havet, 2 Bde., 5., rev. u. korr. Aufl., Paris 1897. 425 - De l’esprit geometrique. Premier fragment, in: Pensees 1, S.600623. 428

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- De l’esprit geometrique. Second fragment, in: Pensees 1, S. 624-641. 425 f., 429 - Fragment d’un traites du vide, in: Pensees 1, S. 585-597. 426 f. - Les Provinciales ou les lettres ecrites par Louis de Montalte a un provincial de ses amis et aux RR. PP. Jesuites sur le sujet de la morale et de la politique de ces peres, Paris 1887. 436, 439 Patrizi, Francesco: Discussiones Peripateticae tomi IV. Quibus Aristotelicae philosophiae universa historia atque dogmata cum veterum placi­ tis collata, eleganter et erudite declarantur, Bd.IV, Basel 1581. 179 f., 260 - Nova de universis philosophia. In qua Aristotelica methodo non per motum, sed per lucem, et lumina, ad primam causam ascenditur. Deinde propria Patricii methodo; tota in contemplationem venit divi­ nitas: Postremo methodo Platonica, rerum universitas, a conditore Deo deducitur, Ferrara 1591. 178 f., 199, 260 - Panarchia. De rerum principiis primis, in: Nova de universis philoso­ phia, Teii 2, fol. 1 b-48b. 178,199 - Pancosmia, in: Nova de universis philosophia, Teii 2, fol. 61 b—153 a. 216-222 - Panaugia, in: Nova de universis philosophia, Teil 1, fol. 1 b-23 b. 197 Petrarca, Francesco: De sui ipsius et multorum ignorantia, Genf 1609. 90 - De secreto curarum conflictu dialogi tres [Divus Augustinus et Franciscus Petrarca collocutores. Qui nuper in lucem venere, hrsg. v. Franciscus Mazalibus, Reggio Emilia 1501]. 64, 157 Philolaos: Fragmente, zitiert nach: Diels, Fragmente. 510 f. Pico della Mirandola, Giovanni / Giovanni Franceso Pico della Miran­ dola: Opera quae extant omnia: non tarnen literatis viribus utilia, quam necessaria in unum corpus redacta, 2 Bde., Basel 1601. 82, 121 - Giovanni Pico: Apologia adversus eos, qui aliquot propositiones theo­ logicas carpebant, in: Opera quae extant omnia, Bd. I, fol. 76-158. 82, 136 - Ausgewählte Schriften, übers, u. eingel. v. Arthur Liebert, Jena/Leipzig 1905. 127f. - De Astrologia disputationum lib. XII, in: Opera quae extant omnia, Bd.I, fol.278-494. 131 f. - De hominis dignitate, in: Opera quae extant omnia, Bd. I, fol. 207-219. 73, 132 f. - Epistolarum liber, in: Opera quae extant omnia, Bd.I, fol. 231-277. 101 - Heptaplus, id est, de Dei creatoris sex dierum opere geneseos libri VII, in: Opera quae extant omnia, Bd. I, fol. 3-41. 128 - Giovanni Francesco Pico: Examen vanitatis doctrinae gentium: et veri­ tatis Christianae disciplinae, distinctum in libros, in: Opera quae extant omnia, Bd.II, fol. 467-814. 121 ff., 138

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Pillon, Francois: Devolution de l’idealisme au dix-huitieme siede. Male­ branche et ses critiques, in: L’Annee Philosophique 4 (1893), S. 109206. 477,486 Platon: [Opera omnia uno volumine comprehensa, hrsg. v. Gottfried Stallbaum, Leipzig/London 1899.] 44 - Menon [Meno, in: Opera omnia, S. 204-214]. 77 - Phaidon [Phaedo, in: Opera omnia, S.21-43]. 73, 262, 292, 354, 521 - Phaidros [Phaedrus, in: Opera omnia, S. 573-591]. 239 - Philebos [Philebus, in: Opera omnia, S. 184-203]. 44, 311, 508, 526 - Politeia [De republica, in: Opera omnia, S.289-384]. 27, 109, 523 ff., 530 - Sophistes [Sophista, in: Opera omnia, S. 76-94]. 519, 523 f. - Symposion [Symposium, in: Opera omnia, S. 555-573]. 239, 523 - Timaios [Timaeus, in: Opera omnia, S. 505-534]. 524 - Theaitetos [Theaetetus, in: Opera omnia, S. 51-75]. 508, 520 Pomponazzi, Pietro: De naturalium effectuum causis sive de incantatio­ nibus, Basel 1567. 91,129 - In libros de anima, in: Luigi Ferri, La psicologia di Pietro Pomponazzi, S. 89-216. 94, 122,270 - Tractatus de immortalitate animae, o. O. 1534. 88-96 Portu, Enrico de: Galileis Begriff der Wissenschaft, Diss., Marburg 1904. 322,339 Prantl, Karl von: Galilei und Kepler als Logiker, in: Sitzungsberichte der Philosophisch-Philologischen und Historischen Classe der königlich bayerischen Akademie der Wissenschaften zu München 5 (1875), S. 394-408. 340 Proclus, Diadochus: In primum Euclidis elementorum librum commen­ tarii. Ex recognitione Godofredi Friedlein, Leipzig 1873, zitiert nach: Diels, Fragmente. 509 Ptolemäus, Claudius: Almagest [= Syntaxis mathematica (Opera quae exstant omnia, Bd. 1, hrsg. v. Johan Ludvig Heiberg), Leipzig 1898]. 127,312

Ragnisco, Pietro: Giacomo Zabarella il filosofo. Pietro Pomponazzi e Giacomo Zabarella nella questione dell’anima, in: Atti del reale Istituto Veneto di Science, lettere ed arti dal novembre 1886 all’ottobre 1887, Serie 6, Bd. V, Venedig 1886 f., S. 949-996. 94 Ramus, Petrus: Dialecticae institutiones, ad celeberrimam, et illustrißimam Lutetiae Parisiorum academiam. Item Aristotelicae animadver­ siones: a prima aeditione nuspiam hac methodo visae: omnibus studio­ sis inprimis scitu dignissimae, ac utilissimae, hrsg. v. Johann Thomas Freigius, Basel 1575. 109 - Aristotelicae animadversiones, in: Dialecticae institutiones/Aristotelicae animadversiones, S. 103-233. 109f., 112 f. - Dialecticae institutiones, in: Dialecticae institutiones/Aristotelicae ani­ madversiones, S. 1-102. 109-112

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- Scholarum Mathematicarum libri unus et triginta, Frankfurt a. Μ. 1627. 307 Regis, Pierre Silvain: Cours entier de philosophie, ou Systeme general selon les principes de Μ. Descartes, contenant la logique, la metaphy­ sique, la physique, et la morale, 3 Bde., Amsterdam 1691. 445 Renan, Ernest: Averroes et l’Averro’isme. Essai historique, 3., durchges. u. erw. Aufl., Paris 1867. 62, 85, 86 Reuchlin, Johannes: De arte cabalistica libri tres, Leoni X. dictati, in: Galatinus, Opus de arcanis, S. 433-551. 136 - De verbo mirifico, in: Galatinus, Opus de arcanis, S. 552-651. 136 Rocco, Antonio: Esercitazioni filosofiche contro il dialogo dei massimi sistemi, in: Galilei, Le opere, Bd.II, S. 117-289. 229 Rocholl, Rudolf: Bessarion. Studie zur Geschichte der Renaissance, Leip­ zig 1904. 68,82 Rohde, Erwin: Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglaube der Grie­ chen, 2 Bde., 2., verb. Ausg., Freiburg i. Brsg./Leipzig/Tübingen 1898. 506

Sabonde, Raimond de: Theologia naturalis sive liber creaturarum specia­ liter de homine et de natura eius in quantum homo: et de hisque sunt ei necessaria ad cognoscendum seipsum deum [Sulzbach 1852]. 145 Sainte-Beuve, Charles-Augustin: Port-Royal, Bd. 2, Paris 1842. 435 Sanchez, Francisco: Quod nihil scitur, Lyon 1581. 148, 166 f. Sante Felici, Giovanni: Le dottrine filosofico di Tommaso Campanella, Lanciano 1895 [Die religionsphilosophischen Grundanschauungen des Thomas Campanella, Diss., Halle a.d.S. 1887]. 140, 225 Scaliger, Julius Caesar: Exotericarum exercitationum liber quintus deci­ mus, De subtilitate, ad Hieronymum Cardanum, Paris 1557. 215 Scheier, Max: Die transszendentale und die psychologische Methode. Eine grundsätzliche Erörterung zur philosophischen Methodik, Leip­ zig 1900. 12 Schubert, Eduard/Karl Sudhoff: Paracelsus-Forschungen, Heft 1: Inwie­ fern ist unser Wissen von Theophrastus von Hohenheim durch Fried­ rich Mook und seinen Kritiker Heinrich Rohlfs gefördert worden. Eine historisch-kritische Untersuchung, Frankfurt a. Μ. 1887. 182 Schultze, Fritz: Georgios Gemistos Plethon und seine reformatorischen Bestrebungen (Geschichte der Philosophie der Renaissance, Bd.I), Jena 1874. 68 Simplicius, Cilicius: In Aristotelis De caelo commentaria, hrsg. mit Unterstützung der Preußischen Akademie der Wissenschaften v. Johan Ludvig Heiberg (Commentaria in Aristotelem graeca, Bd.VII), Berlin 1894. 284 Stein, Ludwig: Handschriftenfunde zur Philosophie der Renaissance, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 1 (1888), S. 534-553. 137 Strunz, Franz: Theophrastus Paracelsus: sein Leben und seine Person-

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lichkeit. Ein Beitrag zur Geistesgeschichte der deutschen Renaissance, Leipzig 1903. 184,186

Tannery, Paul: Descartes Physicien, in: Revue de Metaphysique et de Morale 4 (1896), S. 478-488. 401 - Pour l’histoire de la Science hellene. De Thales ä Empedocle, Paris 1887. 514 Telesio, Bernardino: De rerum natura iuxta propria principia libri IX, in: Tractationum philosophicarum, Sp. 553-964. 176,181, 193,195-198, 201, 215f., 263 Tocco, Felice: Le opere latine di Giordano Bruno esposte e confrontate con le italiane, Florenz 1889. 242, 254 Tractationum philosophicarum tomus unus. Opus multiplici eruditione refertum ac literarum humanarum sacrarumque studiosis omnibus apprime necessarium, Genf 1588. 176, 214 Trendelenburg, Adolf: Geschichte der Kategorienlehre. Zwei Abhand­ lungen (Historische Beiträge zur Philosophie, Bd.I), Berlin 1846. 372,451 Tubero, Oratius: s. LaMothe LeVayer, Fran$ois de Uebinger, Johann: Der Begriff docta ignorantia in seiner geschichtlichen Entwicklung, in: Archiv für Geschichte der Philosophie 8 (1895), S. 1-32. 23 - Die Gotteslehre des Nicolaus Cusanus, Münster/Paderborn 1888. 20 - Die mathematischen Schriften des Nicolaus Cusanus, in: Philosophi­ sches Jahrbuch 8 (1895), S. 301-317 u. 403-422, 9 (1896), S. 54-66 u. 391-410,10 (1897), S. 144-159. 39

Valla, Lorenzo: Opera, nunc primo non mediocribus vigiliis et iudicio quorundam eruditiss. vivorum in unum volumen collecta, et exempla­ ribus variis collatis, emendata, Basel 1543. 102 - Dialecticarum disputationum lib. III, in: Opera, fol. 645-761. 101 f. - De voluptate et vero bono libri III, in: Opera, fol. 896-999. 102 f. Vanini, Julius Caesar: De admirandis naturae reginae deaeque mortalium arcanis libri quatuor, Paris 1616. 181 Vatablus, Franciscus: Totius philosophiae naturalis paraphrasis, Paris 1533. 90,270 Viete, Francois: Opera mathematica, in unum volumen congesta, ac re­ cognita, Leiden 1646. 361 - Isagoge in artem analyticam, in: Opera mathematica, S. 1-12. 361 Virgilius Maro, Publius: Aeneis [Werke, Bde. II u. III, übers, u. hrsg. v. Johann Heinrich Voß, Prag/Wien 1800]. 127, 316 Vives, Juan Luis: Opera in duos distincta tomos, 2 Bde., Basel 1555. 103 - De anima et vita libri tres, Leiden 1555. 108 - De causis corruptarum artium, in: Opera, Bd. I, fol. 325-435. 105 ff. - De tradendis disciplinis, in: Opera, Bd.I, fol.436-527. 105,137

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- In pseudodialecticos, in: Opera, Bd. I, fol. 272-286. 103 f. Voigt, Georg: Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus, Bd.I, 2., umgearb. Aufl., Berlin 1880. 63

Werner, Karl: Der heilige Thomas von Aquino, 3 Bde., Regensburg 1858 f. 532 Willmann, Otto: Geschichte des Idealismus, 3 Bde., Braunschweig 1894 ff. 138,530,532 Windelband, Wilhelm: Geschichte der Philosophie, Freiburgi.Brsg. 1892.308 Wohlwill, Emil: Die Entdeckung des Beharrungsgesetzes. Eine Studie zur Geschichte der Physik, Separat-Abdruck aus der Zeitschrift für Völ­ kerpsychologie und Sprachwissenschaft (Bde. XIV f.), Weimar 1884. 331 - Galilei und sein Kampf für die Copernicanische Lehre, Bd. I: Bis zur Verurteilung der Copernicanischen Lehre durch die römische Kongre­ gation, Hamburg/Leipzig 1909. 264 f.

Zabarella, Giacomo: Opera logica, Basel 1594. 113 - Commentarii in III. Aristot. libros de anima, Frankfurt a.M. 1619. 97 ff. - De methodis libri quattuor, in: Opera logica, Sp. 133-334. 113-117 - Liber de regressu, in: Opera logica, Sp.479-498. 116-119 Zeller, Eduard: Die Philosophie der Griechen in ihrer geschichtlichen Entwicklung, Bd.I/1: Allgemeine Einleitung. Vorsokratische Philoso­ phie, Leipzig 51892. 14, 505-508, 528

DIE HAMBURGER AUSGABE

»Ernst Cassirer · Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe« Herausgegeben von Birgit Recki Ernst Cassirer (1874-1945) lehrte von 1919 bis 1933 Philosophie an der neugegründeten Universität Hamburg. Nach seinen frühen Arbeiten zum Erkenntnisproblem, mit denen er sich vom Neukantia­ nismus löste und international Beachtung fand, verfaßte er hier angeregt durch seine Forschungsprojekte in der »Bibliothek War­ burg« - von 1923 bis 1929 sein Hauptwerk, die drei Bände der Philo­ sophie der symbolischen Formen. Seit 1933 arbeitete er an der Fort­ führung seines Werks unter den erschwerten Bedingungen des Exils, zunächst in England, dann in Schweden, schließlich in den USA. Nicht nur in Deutschland, sondern vor allem auch in Frankreich, Ita­ lien und den USA wird das Werk Ernst Cassirers heute als eine der großen zukunftsweisenden denkerischen Leistungen dieses Jahrhun­ derts gewürdigt. Neben der im Fokus seines Lebenswerks stehenden Grundlegung der Philosophie der symbolischen Formen gelten seine interdisziplinär betriebenen Forschungen zur Geschichte der Philo­ sophie und zur Geistesgeschichte (unter Einbeziehung der Entwick­ lung der Naturwissenschaften) als wegbereitend für die Zusammen­ führung der verschiedenen Ebenen und Disziplinen theoretischen Erkennens und praktischen Erfahrens unter dem Dach der »Kultur­ philosophie«. Die Hamburger Ausgabe der Werke Ernst Cassirers führt erstma­ lig zusammen, was - bedingt durch die Zäsur von 1933 - bisher nur in einer Vielzahl von unverbundenen, vielfach nur schwer zugänglichen Erstdrucken und/oder photomechanischen Nachdrucken erhalten war. Sie umfaßt alle von Ernst Cassirer veröffentlichten oder für eine Veröffentlichung vorbereiteten Texte und Schriften in chronologi­ scher Folge, jedoch stets nach Maßgabe der jeweils letzten vom Autor autorisierten Auflage; vom Grundsatz der strikt chronologischen Anordnung in der Bandfolge wird nur dort abgewichen, wo Cassirer selbst die Zusammenführung von später verfaßten Teilen mit früher abgeschlossenen Partien seines Werks ausdrücklich herstellte (so bei den Bänden zum Erkenntnisproblem und zur Philosophie der symbo­ lischen Formen).

Die Edition gliedert sich wie folgt:

Band 1: Leibniz’ System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen [1902] Band 2: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie der neueren Zeit. Erster Band [1906; 1911; 1922]

Band 3: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie der neueren Zeit. Zweiter Band [1907; 1911; 1922] Band 4: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie der neueren Zeit. Dritter Band: Die nachkantischen Systeme [1920; 1923] Band 5: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie der neueren Zeit. Vierter Band: Von Hegels Tod bis zur Gegenwart (1832-1932) [1957] Band 6: Substanzbegriff und Funktionsbegriff. Untersuchungen über die Grundfragen der Erkenntniskritik [1910; 1923] Band 7: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschich­ te [1916] Band 8: Kants Leben und Lehre [1918] Band 9: Aufsätze und kleine Schriften [1906-1921] Band 10: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoreti­ sche Betrachtungen [1921] Band 11: Philosophie der symbolischen Formen. Erster Teil: Die Sprache (Zur Phänomenologie der sprachlichen Form) [1923] Band 12: Philosophie der symbolischen Formen. Zweiter Teil: Das mythische Denken [1925] Band 13: Philosophie der symbolischen Formen. Dritter Teil: Phä­ nomenologie der Erkenntnis [1929] Band 14: Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renais­ sance [1927]; Die Platonische Renaissance in England und die Schule von Cambridge [1932] Band 15: Die Philosophie der Aufklärung [1932] Band 16: Aufsätze und kleine Schriften [1922-1926] Band 17: Aufsätze und kleine Schriften [1927-1932] Band 18: Aufsätze und kleine Schriften [1932-1935] Band 19: Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik. Historische und systematische Studien zum Kau­ salproblem [1937] Band 20: Descartes: Lehre - Persönlichkeit - Wirkung [1939] Band 21: Axel Hägerström. Eine Studie zur schwedischen Philoso­ phie der Gegenwart [1939]; Thorilds Stellung in der Gei­ stesgeschichte des 18. Jahrhunderts [1941] Band 22: Aufsätze und kleine Schriften [1936-1940] Band 23: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture [1944] Band 24: Aufsätze und kleine Schriften [1941-1947] Band 25: The Myth of the State [1946]

Ernst Cassirer Gesammelte Werke Hamburger Ausgabe

Band Band Band Band Band Band

1 2 3 4 5 6

Band Band Band

7 8 9

Band 10 Band 11 Band 12 Band 13

Band 14

Band 15 Band 16 Band 17 Band 18

Band 19

Band 20 Band 21

Band 22 Band 23 Band 24

Band 25

Leibniz' System Erkenntnisproblem I Erkenntnisproblem II Erkenntnisproblem III Erkenntnisproblem IV Substanzbegriff und Funktionsbegriff Freiheit und Form Kants Leben und Lehre Aufsätze und kleine Schriften (1906-1921) Zur Einsteinschen Relativitätstheorie Philosophie der symbolischen Formen I Philosophie der symbolischen Formen II Philosophie der symbolischen Formen III Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance Die Platonische Renaissance in England Die Philosophie der Aufklärung Aufsätze und kleine Schriften (1922-1926) Aufsätze und kleine Schriften (1927-1932) Aufsätze und kleine Schriften (1932-1935) Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik Descartes Axel Hägerström Thorilds Stellung in der Geistes­ geschichte des 18. Jahrhunderts Aufsätze und kleine Schriften (1936-1940) An Essay on Man Aufsätze und kleine Schriften (1941-1946) The Myth of the State

Die Hamburger Ausgabe der Gesammelten Werke Ernst Cassirers (ECW) versammelt erstmals in chronologischer Reihenfolge alle von Cassirer veröffentlichten Texte und ist auf 25 Bände angelegt. Enthalten sind seine 20 Monographien und die gesondert publizierten Aufsatzbände. Ferner werden rund 100 Aufsätze und Artikel, Rezen­ sionen, Vorträge und Reden zum Abdruck gebracht. Alle Texte werden in Orthogra­ phie und Interpunktion nach den Regeln Duden (20. Auflage 1991) modernisiert, Zitate und bibliographische Angaben nach­ gewiesen und - wo erforderlich - korrigiert. Als Basis für die Textredaktion dient die jeweils als letzte von Cassirer autorisierte Auflage. Jeder Band bzw. jede Bandgruppe enthält einen editorischen Bericht sowie Personen-, Sach- und Schriftenregister. Ernst Cassirers vierbändiges Werk »Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit«, dessen erster Band zuerst 1906 und dessen vierter Band zuerst 1950 in englischer Übersetzung erschien, ist das klassische, heute noch immer nicht übertroffene Werk einer pro­ blemorientierten Philosophiegeschichts­ schreibung. Es verbindet die geschichtliche Betrachtung mit dem Ziel der systema­ tischen Gliederung der Grunderkenntnisse.

Der erste Band umfaßt den Zeitraum von Cusanus bis Bayle; er behandelt die Renais­ sance des Erkenntnisproblems, die Ent­ deckung des Naturbegriffs und die Grund­ legung des Idealismus.

ISBN 3-7873-1402-4