Was ist eine Borderline-Störung?: Antworten auf die wichtigsten Fragen [4 ed.] 9783666462177, 9783525462171, 9783647462172

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Was ist eine Borderline-Störung?: Antworten auf die wichtigsten Fragen [4 ed.]
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1 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

2 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Gerd Möhlenkamp

Was ist eine Borderline-Störung? Antworten auf die wichtigsten Fragen

4. Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht 3 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-46217-1 ISBN 978-3-647-46217-2 (E-Book) © 2013, 2006, 2004 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Text und Form, Garbsen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Inhalt

Einleitung ......................................................................

7

Was heißt „Borderline“? ..............................................

9

Schwarz oder weiß .......................................................

10

Das Schwarzer-Peter-Spiel .........................................

11

Die Bedeutung der frühen Kindheit .........................

13

Die Suche nach Halt ....................................................

14

Sind die Mütter schuld? ..............................................

15

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es ......................

17

Wozu eine Diagnose? ..................................................

19

Einige Zahlen ...............................................................

21

Das Problem mit der Spannungsregulation .............

23

Die Auslöser für emotionale Hochspannung .......... Verlust von Übersicht und Orientierung ............. Verlassenwerden und Ausgrenzung ...................... Verlust von Selbstvertrauen ....................................

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Wie die Scham den Neuanfang verhindert ..............

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Die Grenzen der Psychotherapie ...............................

32

Sexueller Missbrauch – eine Ursache unter anderen ..........................................................................

34

Notlösungen ................................................................. Dissoziation und Multiple Persönlichkeit ............ Sucht und Borderline .............................................. Selbstverletzung .......................................................

36 36 39 42

Helfen Medikamente? .................................................

43

Arbeit ist das halbe Leben ..........................................

46

Borderline und die Liebe ............................................

49

Welche Psychotherapie ist hilfreich und wie finde ich einen Psychotherapeuten? ....................................

53

Möglichkeiten der Selbsthilfe.....................................

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Die wichtigsten Borderline-Probleme im Überblick .................................................................

59

Literaturhinweise .........................................................

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Einleitung

Menschen unterscheiden sich in ihrem Selbstwertgefühl, in der Stärke ihrer Gefühle, in der Veränderlichkeit ihrer Stimmungen, in der Sicherheit, mit der sie wissen, wer sie sind, was sie wollen – und in vielem mehr. Die einen tun selbstbewusst das, wonach ihnen zumute ist, und machen sich keinen Kopf, andere quälen sich fortwährend mit Selbstzweifeln. Manche sind kaum aus der Ruhe zu bringen und benötigen schon einen tüchtigen Schubs um aufzumerken. Andere geraten schnell aus dem Gleichgewicht, sowohl im Positiven wie im Negativen; sie können sich ebenso spontan für etwas begeistern, wie sie heftigste Ablehnung verspüren oder sich zutiefst verunsichert fühlen. Wenn Sie eher zu Letzteren gehören, dann wird es Ihnen in den Ohren klingen: „Wieso regst du dich so auf, was hast du jetzt schon wieder, ich versteh dich nicht.“ Sie fühlen sich abgelehnt und unverstanden und beginnen sich schließlich zu fragen, ob sie irgendwie daneben sind oder vielleicht schon total verrückt. Mit Neid schauen Sie auf die anderen, die es offenbar leichter haben und scheinbar ausgeglichen und in sich ruhend durchs Leben gehen. Wenn Sie eher ein emotional instabiler Typus sind – wie man es im Fachjargon ausdrückt – und Ihr Erleben von starken und wechselhaften Gefühlen geprägt ist, dann ist es alles in allem schwieriger, mit den Mitmenschen auszukommen – und umgekehrt. Dies macht sich im beruflichen wie im privaten Bereich bemerkbar. Es kommt zu Konflikten mit Vorgesetzten oder im Kollegenkreis, auch das Beziehungsleben ist oft anstrengend – für beide Seiten. Bei aller Sehnsucht nach Ruhe und Harmonie gestaltet sich das Leben oft wie eine einzige Berg- und Talfahrt. In diesem Buch soll auf die Probleme und Besonderheiten eingegangen werden, die zu einem Persönlichkeits7 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

typus gehören, den Psychotherapeuten mit dem Begriff „Borderline-Persönlichkeit“ oder auch „Borderline-Persönlichkeitsstörung“ verbinden. Auf eine scharfe Abgrenzung zu dem, was noch oder nicht mehr „Borderline“ genannt werden sollte, wird kein besonderer Wert gelegt. Es wird davon ausgegangen, dass es fließende Übergänge von der normal-neurotischen Persönlichkeit mit Borderline-nahen Eigenschaften bis hin zu schwerst krankhaften Borderline-Störungen gibt. Die Probleme können im Einzelfall ganz unterschiedlich ausgeprägt und akzentuiert sein. Auch wer sich nur in bestimmten Aspekten der Borderline-Störung wiederfindet, kann von dem Wissen über dieses Störungsbild profitieren. Nur wer sich selbst versteht und zum Experten in eigener Sache wird, kann etwas ändern. Dieses Buch ersetzt keine Psychotherapie, macht aber – hoffentlich – schlauer, indem es über Ursachen, typische Probleme und mögliche Lösungswege aufklärt. Sich zu ändern kann auch bedeuten, das hinzunehmen, was nicht zu ändern ist. Begibt man sich auf den schwierigen Weg der Selbstakzeptanz, so wird man entdecken, dass so manche Schwäche auch eine Stärke sein kann. Wichtig ist noch zu sagen, dass sich dieses Buch nicht an einer bestimmten Psychotherapierichtung orientiert. Alle Therapierichtungen haben Wichtiges zum Thema zu sagen, sie drücken es oft nur in unterschiedlichen Sprachen aus – manchmal auch etwas verklausuliert, oder sie betonen besondere Aspekte, die sich in der Zusammenschau ergänzen.

8 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Was heißt „Borderline“?

Borderline ist ein weites Feld. Was darunter zu verstehen ist, dazu gibt es in der Fachwelt durchaus unterschiedliche Meinungen. Es wurden verschiedenste Begrifflichkeiten und Theorien für die gleiche Sache entwickelt. Wir wollen uns hier auf das beschränken, was von den meisten Fachleuten unabhängig von ihrer Schulrichtung akzeptiert wird. Dieses Wissen ist umfangreich genug, um Betroffenen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung und denen, die diesem Störungsbereich in ihrem Erleben nahe kommen, verständlich zu machen, was mit ihnen los ist, was mögliche Ursachen ihres besonderen Erlebens und Verhaltens sind und welche Möglichkeiten der Hilfe es gibt. „Neurotisch“ klingt noch irgendwie normal, aber der Begriff „Borderline“ weckt schon schlimmere Assoziationen. Übersetzt heißt Borderline „Grenzlinie“. Eingeführt wurde der Begriff in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts und galt zunächst als Sammelbegriff für Grenzfälle zwischen den beiden anderen großen Störungskategorien Neurose und Psychose. Man stellte fest, dass viele Patienten tiefgreifendere und vor allem anhaltendere psychische Probleme hatten als Neurotiker, dass sie andererseits aber nicht so gestört waren wie Psychosekranke, die zum Beispiel an einer Schizophrenie leiden und aufgrund von Wahnerleben und Halluzinationen zumindest zeitweise den Bezug zur Realität verlieren. Die Borderline-Störung war lange Zeit eine Zwischenkategorie, die sich im Wesentlichen durch das definierte, was sie nicht ist, nämlich nicht mehr Neurose und noch keine Psychose. Näheres zur Problematik der Borderline-Diagnose kann im Kapitel „Wozu eine Diagnose?“ (S. 19ff.) nachgelesen werden. 9 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Schwarz oder weiß In den sechziger Jahren entwickelten psychoanalytisch orientierte Psychotherapeuten erste umfassende Theorien zum Hintergrund der Borderline-Persönlichkeitsstörung. Sie stellten zunächst fest, dass es eine klar abgrenzbare Borderline-Krankheit nicht gibt, sondern bestimmte Borderline-Merkmale, die mehr oder weniger stark ausgeprägt sein können und den Charakter prägen. Zu diesen Merkmalen wurde die Schwierigkeit gerechnet, Angst auszuhalten und Wutgefühle zu kontrollieren. Was allgemein als unangenehm erlebt wird, beispielsweise unvermittelt einer ungewohnten Anforderungssituation ausgesetzt zu sein, in einer Prüfungssituation unter Zeitdruck ein gutes Ergebnis abliefern zu müssen oder unvorbereitet kritisiert zu werden, führt bei bestimmten Personen zu heftigsten Affekten. Ihr Denken ist vor lauter Aufregung und Angst blockiert, sie neigen zu panikartigen Kurzschlussreaktionen, sie erstarren, möchten weglaufen oder draufhauen. Ein typisches Borderline-Merkmal sah man in der Schwierigkeit, positive und negative Vorstellungen von sich selbst und von anderen unter einen Hut zu bekommen, also zum Beispiel auf eine geliebte Person wütend zu sein, die positive Grundeinstellung dabei aber nicht zu verlieren. Es gibt nur ein Entweder-Oder. Stimmungen, Einstellungen, Meinungen polarisieren sich in auffälliger Weise nach diesem Muster: Entweder mag man jemanden oder man kann ihn nicht ausstehen, Freund oder Feind, gut oder böse, Himmel oder Hölle. Die Welt wird schwarz-weiß wahrgenommen, Zwischentöne und Mischungen im Sinne eines Sowohl-als-Auch werden übersehen – sie irritieren eher. Schwarz oder weiß sind klar zu unterscheiden, da weiß man, wie man dran ist. Grautöne sind wie Nebel, hinter denen sich alles Mögliche verbergen kann. 10 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Das überaus starke Bedürfnis nach Klarheit und Eindeutigkeit kostet jedoch seinen Preis: Eine bunte Welt wird in ein stark vereinfachtes Raster gepresst, Kompromisshaltungen sind nur schwer möglich, Konflikte sind programmiert.

Das Schwarzer-Peter-Spiel

Starke Affekte, vor allem aufbrausende Wut mit impulsiven Reaktionen, können schlimme Folgen haben – abgesehen davon, dass man damit nicht unbedingt einen guten Eindruck macht. Man bekommt Probleme bei der Arbeit, Beziehungen gehen auseinander, bevor sie richtig begonnen haben, es kann zu aggressiven Handlungen kommen – andern gegenüber oder auch gegen die eigene Person gerichtet. Aber wer möchte schon als unbeherrscht, überempfindlich oder irgendwie „schwierig“ gelten? Der Ausweg liegt darin, die Schuld auf andere zu schieben, auf den Partner, die Kollegen, die Gesellschaft, die Eltern, die schlechte Kindheit und sich selbst als Opfer zu definieren. Diesen Vorgang der Verlagerung eigener Unausgeglichenheit, Aggressivität und sonstiger negativ bewerteter Affekte auf die Außenwelt nennt man Projektion. Eigene, sozusagen hausgemachte Probleme werden anderen in die Schuhe geschoben. Das unablässige Ausmachen eines Sündenbocks als ein Ausweichmanöver gegenüber der eigenen Verantwortlichkeit zu erkennen und wahrzunehmen, selbst ganz und gar nicht nur unschuldiges Opfer zu sein, ist eines der 11 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

wichtigsten Ziele psychotherapeutischer Arbeit und gleichzeitig die Hürde, an der viele Therapien scheitern. Weil es das Selbstwertgefühl schützt, ist es immer leichter, das Schwarzer-Peter-Spiel fortzusetzen, als sich einzugestehen, dass manche Eskalation und vermeintliche Ungerechtigkeit ihre Ursache in eigener Überempfindlichkeit und Einseitigkeit hat. Damit soll nicht gesagt sein, dass ungerechtfertigte Schuldzuweisungen an andere und die rechtfertigende Selbsttäuschung, sich als unschuldiges Opfer zu betrachten, nur bei Borderline-Störungen zu beobachten ist. Es ist im Prinzip völlig normal und nur allzu menschlich, sich die Welt so auszulegen, dass man selbst gut dabei wegkommt. Bei einer Borderline-Störung ist der Druck zu projizieren jedoch besonders groß, weil die Neigung zu heftigen impulsiven Reaktionen stark ausgeprägt ist und es einer durchaus realistischen Einschätzung entspricht, dass man damit in der Regel nicht gut ankommt – außer man erfindet einen guten Grund, der außerhalb der eigenen Verantwortlichkeit liegt. Schuldzuweisungen nach außen, die helfen das Gesicht zu wahren, sind in der Regel keine taktischen Manöver, bei denen anderen bewusst und mit voller Absicht ein X für ein U vorgemacht wird. Es ist keine oder nur ansatzweise Einsicht vorhanden, dass man sich und anderen etwas vormacht. Die subjektive Gewissheit, dass es so und nicht anders ist, wird heftig verteidigt. Schnell kann es zu einem Beziehungsabbruch kommen, wenn solche einseitigen Selbstschutz-Rechtfertigungstheorien in Frage gestellt werden. Eine Psychotherapie kann helfen, sich wieder dafür zu öffnen, dass eine Münze mindestens zwei Seiten hat, das heißt sich Zeit zu lassen im Urteilen und sich die Erlaubnis zu geben, eine vorgefasste Meinung wieder zu korrigieren.

12 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Die Bedeutung der frühen Kindheit

Die Ursache für die Neigung zu extremen Affekten sah man zunächst in einer Störung der normalen Persönlichkeitsentwicklung in den ersten Lebensjahren, weshalb man auch von einer „Frühstörung“ spricht. Was im Kleinkindalter, also in den ersten zwei bis drei Lebensjahren normal ist, nämlich ein Kippen des Affekts von einem Pol zum anderen, zum Beispiel vom satten Lächeln zum nervtötenden Schreien, das wird als Reaktionsbereitschaft beibehalten. Die Fähigkeit zu feineren Gefühlsabstufungen kann sich nicht ausreichend entwickeln, weil die Mutter-Kind-Beziehung durch Stress geprägt ist oder andere sich negativ auswirkende Dinge, wie traumatische Beziehungsbrüche, passieren. Mit hoher Erregung verbundener Stress stört das normale Erlernen differenzierter Zusammenhänge. Jeder kennt dieses Phänomen: Ist man sehr aufgeregt und unter Druck, bekommt man nicht sehr viel mit und fühlt sich im Denken blockiert, Konzentration und Informationsverarbeitung sind gestört. Werden in der frühen Kindheit grundlegende Lernerfahrungen blockiert, sind wichtige Weichenstellungen vollzogen, die nur schwer oder gar nicht mehr korrigierbar sind. Dazu gehört die Entwicklung eines Urvertrauens: dass die wichtigsten Bezugspersonen verlässlich sind und es gut mit einem meinen. Nicht weniger wichtig ist die Entwicklung eines ausreichenden Selbstvertrauens: dass gelingt, was man sich zum Ziel setzt – und sei es anfänglich nur das Ziel, den Blick der Mutter auf sich zu lenken. Wie ein Teufelskreis wird eine anfängliche Verunsicherung in der Beziehung zur Mutter oder zu anderen wichtigen Bezugspersonen weitere Verunsicherungen nach sich ziehen; eine negative, von Stress geprägte Fehlentwicklung in der frühen Kindheit wird zum Selbstläufer. 13 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Heute weiß man, dass auch sexueller Missbrauch und andere traumatische Erfahrungen in späteren Kindheitsjahren die Entwicklung einer Borderline-Störung verursachen oder zumindest mitverursachen können. Sexueller Missbrauch stellt einen derartig tiefgreifenden Vertrauensmissbrauch dar, dass alles wieder zusammenbrechen kann, was sich an Beziehungsvertrauen schon entwickelt hat. Auf die Bedeutung des sexuellen Missbrauchs als möglichen Hintergrund einer BorderlineStörung wird in einem eigenen Abschnitt (S. 34ff.) näher eingegangen werden.

Die Suche nach Halt

Das Spaltungskonzept der Borderline-Störung, das heißt die Neigung, immer wieder in eine undifferenzierte Schwarz-weiß-Weltsicht zurückzufallen, wurde im Lauf der Psychotherapieforschung um einen weiteren Aspekt ergänzt. Die heftigen Affekte und andere Symptome wie Suchtverhalten, Essstörungen, Zwänge oder Selbstverletzungen wurden als Hilfeschrei einer Seele interpretiert, die sich dauernd überfordert und allein gelassen fühlt. Dieses schmerzhafte Gefühl des Verlassen- und Alleinseins, das viele auch als Leeregefühl erleben, wird immer von neuem angestoßen, wenn es zu Störungen im Beziehungsumfeld kommt oder wenn auch nur eine Zeitlang Kontakte unterbrochen sind. Die absolute Katastrophe ist die Trennung von einer wichtigen Bezugsperson: Trennung wird als Verlust von etwas erlebt, was elementar zu einem gehört, als würde etwas im tiefsten Inneren 14 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

zerbrechen, als sei man ohne den anderen nicht lebensfähig. Dieses Gefühl, halt- und kraftlos zu sein, spiegelt reale Erfahrungen der frühen Kindheit wider, ist also nichts Eingebildetes. In den ersten Lebensjahren ist es überlebenswichtig, dass eine versorgende Bezugsperson – in der Regel die leibliche Mutter – zuverlässig zur Verfügung steht und dass die Grundhaltung der Mutter liebevoll und einfühlend ist. Ohne die Erfahrung einer solchen haltenden Beziehung kann sich kein stabiles Selbstbewusstsein entwickeln. Dass etwas Wichtiges fehlt, wird zu einem Grundgefühl. Entsprechend stark ist die Sehnsucht, die heilende, alles wieder gutmachende Liebe doch noch zu finden. Unterschiedlichste Süchte dienen als Notlösung, um das als Leere oder dunkles Loch erlebte Defizit auszugleichen und sich zumindest zeitweilig gut zu fühlen.

Sind die Mütter schuld?

Vereinfachende Schuldzuschreibungen haben etwas Verlockendes, man hat eine klare Meinung und muss nicht genauer hinschauen. Oft sind es die Mütter, denen die Schuld an der so genannten Persönlichkeitsfehlentwicklung des Kindes gegeben wird. Wir wollen hier die Frage nach der persönlichen Schuld und Verantwortlichkeit von Eltern nicht ausklammern, denn die Zumutung von Schuld kann durchaus angebracht sein. Für jemanden, der in seiner Kindheit vernachlässigt wurde, kann es ein wichtiger Entwicklungsschritt sein, seinen Zorn zu spüren und ihn auch zum Ausdruck zu bringen. 15 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Das Hängenbleiben an der Schuldfrage und das Steckenbleiben in Hass- und Rachegefühlen ist jedoch unproduktiv. Lebensenergie bleibt gebunden, die dann für nach vorn gerichtete Ziele fehlt. Die Mutter-Kind-Beziehung ist ein kompliziertes und störanfälliges Gefüge, auf das vielfältige Einflüsse jenseits persönlicher Schuld einwirken. Die Liebesfähigkeit einer Mutter mag begrenzt sein, weil auch sie nicht genügend geliebt wurde oder weil ihr aufgrund ehelicher Konflikte, aufreibender beruflicher Tätigkeit und sonstiger Belastungen zu wenig Kraft bleibt. Andererseits sind manche Babys alles andere als „pflegeleicht“ und können auch relativ stabile Mütter oder Väter gehörig stressen – mit dem Ergebnis, dass die Eltern-Kind-Interaktion in einen Teufelskreis von zunehmender Gereiztheit, Aufgeregtheit und Hilflosigkeit gerät. All das sind keine guten Startbedingungen für ein Kind, aber es ist immer noch kein Grund, die Eltern auf die Anklagebank zu setzen. Eine mögliche Ursache für spätere Borderline-Probleme, die mit dem Elternverhalten zunächst einmal gar nichts zu tun hat, ist das Vorliegen einer angeborenen oder durch geburtliche Komplikationen erworbenen nervösen Schwäche. Die Fachleute sprechen von einer besonderen Verwundbarkeit oder Vulnerabilität. Kinder mit einer solchen Schwäche sind von Anfang an unruhig und impulsiv, leicht ablenkbar, irritierbar und schwer zu beruhigen. Auffällig werden sie oft erst dann, wenn sie in der Schulzeit Anpassungsprobleme bekommen. Unter den Diagnosen Aufmerksamkeits-Defizit-Störung (ADS), Hyperkinetische Störung oder Zappelphilipp-Syndrom werden diese schwerpunktmäßig biologisch zu verstehenden möglichen Ursachen von Eltern-Kind-Beziehungsstörungen und – im ungünstigen Fall – auch späterer Borderline-Probleme heute diskutiert. Wichtig bleibt festzuhalten, dass es offenbar ganz ver16 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

schiedene Ursachen für das gleiche sichtbare Ergebnis auf der Problem- und Störungsebene geben kann. Auch wenn in der Herkunftsfamilie vieles schief gelaufen ist, bleibt es in der Regel ein lohnendes Ziel, Frieden mit seiner Geschichte und mit seinen Eltern zu machen. Manche kommen erst durch eigene Elternschaft zu einer nachsichtigeren Haltung, wenn sie konkret erfahren, wie schwer und wie unmöglich es manchmal ist, dem Anspruch gerecht zu werden, eine „gute Mutter“ oder ein „guter Vater“ zu sein. Hat man das Bedürfnis nach Anklage und einem Schuldeingeständnis der Eltern hinter sich gelassen, wird sich vielleicht die Beziehung zu den Eltern zum Guten wenden. Von jemandem, den ich anklage, kann ich nicht erwarten, dass er sich öffnet.

Es gibt nichts Gutes, außer man tut es

Bis in die achtziger Jahre basierte das Wissen über die Borderline-Persönlichkeitsstörung und darauf aufbauende Therapiekonzepte im Wesentlichen auf psychoanalytischen Theorien, die ausgehend vom Gründervater Sigmund Freud sich immer weiter verzweigten. Erweitert wurden diese Theorien durch die Säuglingsforschung, die sich zum Ziel setzte, das Verhalten von Kleinkindern und insbesondere die Mutter-Kind-Beziehung systematisch zu beobachten. Als sich in den achtziger Jahren die Verhaltenstherapie stärker durchsetzte, wurden das Borderline-Konzept und das therapeutische Vorgehen um wichtige Aspekte ergänzt. Es wurden mehr praktisch orientierte 17 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Therapieansätze entwickelt mit dem Ziel, selbstschädigendes Denken und Handeln unter Kontrolle zu bekommen und Möglichkeiten zu erlernen, sich vor Stress zu schützen und das Selbstwertgefühl zu stärken. Reagiert jemand auf bestimmte Stresssituationen besonders empfindlich, so mag es ein zu hoch gestecktes therapeutisches Ziel sein, diese Empfindlichkeit zu verändern. Lohnenswert bleibt es dann immer noch, genau herauszuarbeiten, worauf allergisch reagiert wird, wie bestimmte Stressoren vermieden werden können und wie sich durch achtsames und fürsorgliches Verhalten verhindern lässt, dass Wut und Sebstverachtung oder Unsicherheit und Ängste die Oberhand gewinnen. Besonderer Wert wird in der Verhaltenstherapie darauf gelegt, die destruktiven und oft in Endlosschlaufen kreisenden Selbstabwertungen zu unterbrechen und das Schwarz-weiß-Denken durch Realitätsprüfung zu differenzieren. Die Verhaltenstherapie ergänzt das psychoanalytische Vorgehen um den Aspekt, dass neben der Auseinandersetzung mit biographischen Zusammenhängen und dem Raumgeben für verletzte Gefühle der Blick nach vorn und das Ausprobieren neuer Handlungsmöglichkeiten – eben das Tun – wichtig sind. Eine entscheidende Ursache der Borderline-Störung wird aus verhaltenstherapeutischer Sicht in einer neurobiologisch bedingten Schwierigkeit gesehen, emotionale Spannungen zu regulieren. Die Spannung steigt schon bei relativ geringfügigen Anlässen sehr schnell und stark an und es braucht außergewöhnlich lang, bis sie sich wieder abbaut. Die für die späteren Borderline-Probleme maßgeblich verantwortliche Selbstwertproblematik erklärt sich dann dadurch, dass diese besonders empfindlich reagierenden Menschen auf wenig Verständnis stoßen und oft schon in der Kindheit immer wieder abgewertet werden, sei es von überforderten Eltern oder in der Schule durch Mitschüler und Lehrer. Diese Abwertungen spie18 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

geln sich in einem Selbstbild wider, das einseitig negativ gefärbt ist. Das Vertrauen in die eigene Wahrnehmung geht verloren, der oder die Betroffene erlebt sich als Außenseiter. Je nach Temperament kommt es in der Folge zu ängstlichem Rückzugsverhalten oder aber zur rücksichtslosen Offensive. Biologische Ursachen und negative psychosoziale Folgewirkungen können einen Teufelskreis in Bewegung setzen, an dessen Ende verfestigte Denk- und Verhaltensmuster stehen, wie sie für eine Borderline-Störung typisch sind.

Wozu eine Diagnose?

Wir leben in einer Zeit, in der aus unangepasstem Verhalten schnell eine Krankheit gemacht wird. Was man früher vielleicht als charakterliche Eigenart, etwa als cholerisches Temperament abgetan hätte, wird heute mit kompliziert klingenden Diagnosen belegt und bekommt – wie man es in der Medizinsprache sagt – Krankheitswert. Diese moderne Sichtweise hat Vor- und Nachteile. Der Nachteil liegt in der Gefahr der Stigmatisierung und Ausgrenzung. Was eine Spielart der Natur oder Folge eines schweren frühkindlichen Schicksals ist, erhält durch eine Diagnose schnell den Anschein von etwas Unnormalen und Defekten. Die Gefahr, mit der Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung ins soziale Abseits zu geraten, ist nicht von der Hand zu weisen in einer Leistungsgesellschaft, die den Normmenschen mit hoher Belastbarkeit und Konflikttoleranz fordert. Angesichts 19 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

dieser durchaus realen Gefahr der Ausgrenzung und bei einem ohnehin angeschlagenen Selbstwertgefühl ist es nachvollziehbar, dass die Diagnose einer Borderline-Störung von vielen als Bedrohung und Kränkung erlebt wird. Eine Diagnose kann jedoch auch Orientierungshilfe sein. Ein zunächst eher irritierend und diffus erlebtes Leiden bekommt einen Namen und wird damit fassbar. „Borderline“ wird zu einem Suchbegriff, um an Informationen und Problemlösungen zu kommen, die weiterbringen. Festzuhalten bleibt dabei, dass die verschiedenen diagnostischen Kategorien von Persönlichkeitsstörungen letztlich nur Orientierungspunkte sind und keine Abbilder eindeutiger Gegebenheiten. Außerdem ist es im Rahmen von Krankenbehandlung Vorschrift, eine Diagnose zu stellen und auf dem Krankenschein mit einem Zifferncode festzuhalten. Die Borderline-Störung hat den Code F60.3, was schon darauf hinweist, dass es weitere Störungen der übergeordneten Kategorie F60 gibt, die man zusammenfassend zu den „Persönlichkeitsstörungen“ rechnet. Im Diagnosenkatalog, der heute gebräuchlich ist (ICD-10; s. Literaturhinweise), wird zwischen 10 PersönlichkeitsstörungsDiagnosen unterschieden. Die Borderline-Störung ist in dieser Liste von Diagnosen – etwas haarspalterisch – eine von zwei Unterformen der „emotional instabilen Persönlichkeitsstörung“. Obwohl es so viele unterschiedliche Störungsbilder wie Patienten gibt und Überschneidungen mit Merkmalen anderer Persönlichkeitsstörungen die Regel sind, ist der Psychotherapeut gehalten, sich auf eine Leitdiagnose festzulegen. Weil sich Psychotherapeuten und Psychiater das eine Mal an die enge Definition der Borderline-Störung im Rahmen der offiziellen Diagnostik halten und das andere Mal von „Borderline“ im Sinne eines Sammelbegriffs wesensverwandter Persönlichkeitsstörungen sprechen, kann 20 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

es zu unterschiedlichen diagnostischen Zuordnungen kommen. Man sollte sich dadurch nicht irritieren lassen. Letztlich kommt es darauf an, sich als Individuum verstanden zu fühlen. Sich mit diagnostischen Spitzfindigkeiten aufzuhalten, bringt nicht weiter. Liegen typische Borderline-Probleme nur in abgeschwächter Form vor und stehen andere Symptome im Vordergrund, etwa depressive Verstimmungen, psychosomatische Störungen oder bestimmte Ängste, dann gibt es keinen Grund für die Diagnose einer Borderline-Persönlichkeitsstörung. Dies muss aber nicht heißen, dass Sie jetzt das falsche Buch lesen. Prüfen sie selbst, ob Sie sich angesprochen fühlen.

Einige Zahlen

Es ist immer beruhigend zu wissen, dass man mit seinen Problemen nicht allein dasteht. Viele – nach den Schätzungen der Wissenschaftler sind es etwa 10 bis 15 Prozent der Bevölkerung – haben mit Borderline-Problemen zu tun –, ohne dass man hier von einer Persönlichkeitsstörung sprechen würde: Sie haben Schwierigkeiten, ihre Affekte zu kontrollieren, ihr Selbstwertgefühl ist labil und weil sie sehr empfindlich reagieren und dabei zum Schwarz-weiß-Malen neigen, ecken sie auch häufiger an als andere und fühlen sich selbst wiederum oft unverstanden. Diese 10 bis 15 Prozent sind nicht krank, sie sind allenfalls speziell: zugleich empfindsam und empfindlich. Mit dieser besonderen Persönlichkeitsausstattung oder Per21 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

sönlichkeitsstruktur, wie die Fachleute sagen, können die Betroffenen durchaus klarkommen. Die Belastbarkeit ist unter Umständen eingeschränkt, finden sie jedoch den richtigen Platz in der Gesellschaft, an dem nicht ständig die Schwachstellen berührt werden und die individuellen Stärken zum Zuge kommen können, dann kommen sie zurecht und ihr Selbstwertgefühl wird sich allmählich festigen. Von einer Borderline-Persönlichkeitsstörung spricht man erst dann, wenn es längerfristig zu erheblichen Beeinträchtigungen im persönlichen, im sozialen und beruflichen Bereich kommt. Nichts geht mehr: Verstimmungen, innere Anspannung, Schlafstörungen, Ängste, Gefühle von innerer Leere oder ein Neben-sich-Stehen, Süchte, selbstverletzendes Verhalten, aggressive Impulse oder andere Symptome nehmen überhand, man kommt mit seinen Mitmenschen nicht mehr klar oder ist den Anforderungen in Ausbildung und Beruf nicht gewachsen. Eine Zusammenfassung der wichtigsten BorderlineProbleme findet sich im letzten Kapitel (S. 59ff.). Unter einer ernsthaften Borderline-Störung leiden etwa 2 bis 5 Prozent der Bevölkerung – wobei die meisten Fachleute von einer steigenden Tendenz ausgehen. Auch wenn die angegebenen Zahlen die Wirklichkeit nicht genau treffen – wovon auszugehen ist, da die entsprechenden Untersuchungen von unterschiedlichen Definitionen der Borderline-Störung ausgehen –, so wird doch deutlich, dass Borderline-Störungen kein exotisches Phänomen darstellen, sondern weit verbreitet sind.

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Das Problem mit der Spannungsregulation

Je nachdem, aus welcher Perspektive die BorderlineStörung betrachtet wird, ergeben sich unterschiedliche Sichtweisen und Erklärungsansätze. Niemand wird heute behaupten, dass es sich um ein Störungsbild mit einheitlicher Ursache handelt. Gleiche Symptome können unterschiedlichste Ursachen haben. Passend wäre wohl am ehesten das Bild von einer gemeinsamen Endstrecke bei unterschiedlichen Ausgangspunkten. Bei der Frage nach den biologischen Ursachen der Borderline-Störung herrscht weitgehend in dem Punkt Einigkeit, dass Borderline-Persönlichkeiten vor allem Schwierigkeiten in der emotionalen Spannungsregulation haben. Viele andere Probleme und Symptome lassen sich von diesem Kernproblem ableiten. Situationen, die bei allen Menschen in einem gewissen Grad emotionale Spannung auslösen, führen bei der Borderline-Störung unmittelbar zu heftigsten Gefühlsaufwallungen, die nur schwer zu bremsen sind und besonders lang anhalten. Diese heftigen Emotionen sind verbunden mit starker Aufregung, die Gedanken rasen, die Wahrnehmung ist eingeengt, der Körper ist voller Unruhe und Spannung. Was man eigentlich genau fühlt, lässt sich in einem solchen Zustand gar nicht mehr auseinander halten, meist ist es eine Mischung aus Verunsicherung, Überreizung, Angst und Wut. Diese diffusen und unangenehmen Erregungszustände werden oft folgendermaßen umschrieben: „Ich fühle mich wie unter Strom, völlig kopflos, durcheinander, kurz vor dem Platzen.“ Jeder kennt heftige Affekte, bei den meisten bleiben sie jedoch auf Ausnahmesituationen beschränkt und wenn es dazu kommt, dann dauert es in der Regel nicht sehr lang, bis man sich wieder beruhigt hat und der Kopf 23 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

wieder klar ist. Man schläft eine Nacht darüber und dann sieht die Welt schon wieder anders aus. Bei Borderline-Persönlichkeiten ist das nicht so: Sie können nur sehr schwer unangenehme Erlebnisse verarbeiten; ein akuter Erregungszustand hält tagelang oder länger an; enttäuschende Erfahrungen bleiben über Jahre und oft ein Leben lang so präsent, als seien sie erst gestern geschehen. Außenstehende verstehen dieses „nachtragende“ Verhalten nicht und beklagen sich, dass man doch mal Ruhe geben und nach vorn schauen soll. Dies ist für Borderline-Persönlichkeiten leichter gesagt als getan, sie leiden an ihrem zu guten Gedächtnis, die Wunden wollen nicht heilen. Sie geraten immer wieder in einen Strudel von Grübeleien, Selbstzweifeln und Rachegedanken, sie können sich dann auf nichts anderes mehr konzentrieren, finden keine Ruhe mehr, schlafen schlecht und leiden in solchen Phasen oft unter körperlichen Beschwerden. Mit einem Bild aus der Computerwelt, könnte man sagen, dass Borderline-Persönlichkeiten Schwierigkeiten haben, Ordner anzulegen und ihre Erfahrungen auf der Festplatte abzuspeichern – so als wäre sie nicht formatiert. Der Arbeitsspeicher ist ständig randvoll, der Computer läuft heiß, die Übersicht geht verloren. Hat die emotionale Spannung und gedankliche Überreizung eine bestimmte Schwelle überschritten, dann geht es nur noch darum, die Notbremse zu ziehen, um den völligen Zusammenbruch abzuwenden. Die biologisch angelegten Notbremsen sind Angriff, Flucht oder Dichtmachen. Differenziertes Denken ist nicht mehr möglich. Daher hat es auch keinen Sinn, in solchen Situationen hoher Anspannung „vernünftig“ über ein Problem reden zu wollen oder etwas „auszudiskutieren“. Was dann Not tut, ist Beruhigung, auf Abstand gehen und Dampf ablassen, ohne sich selbst oder anderen Schaden zuzufügen.

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Die Auslöser für emotionale Hochspannung

Die emotionale Spannung steigt – und das gilt für alle Menschen –, wenn wichtige Bedürfnisse auf dem Spiel stehen, unsere Erwartungen enttäuscht werden und Schlimmes droht. Es geht im Wesentlichen um drei unangenehme Erfahrungsbereiche, die mit menschlichen Grundbedürfnissen in Zusammenhang stehen und Furcht, Angst und Panik auslösen können.

Verlust von Übersicht und Orientierung Solange jemand nicht weiß, wie er eine Situation einschätzen soll, und verunsichert ist, hat er eine Situation nicht unter Kontrolle und kann nicht zielgerichtet handeln. Das Ergebnis ist ein Zustand angespannter Unsicherheit und Irritation bis hin zu panikartiger Kopflosigkeit und Verwirrung. Kann derjenige keine Klarheit darüber gewinnen, wie er jemanden, der ihm wichtig ist, einschätzen soll, ob er ihm freundlich gesonnen ist oder eher nicht, ist er hin und her gerissen zwischen dem Wunsch nach Annäherung und Kontakt und dem Drang, sich zu schützen und auf Abstand zu achten. Solange kein eindeutiges Signal vom anderen kommt und er es auch nicht erreicht, ein solches Signal zu provozieren, wird das natürliche Bedürfnis nach Orientierung und Situationskontrolle frustriert. Die Empfindlichkeit gegenüber solchen uneindeutigen Situationen, in denen man nicht „durchblickt“, ist von Person zu Person sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite gibt es Menschen mit einer relativ hohen Unsicherheitstoleranz, die eine leichte Ungewissheit mit einem positiven, „prickelnden“ Spannungsgefühl verbinden, es macht sie eher neugierig. Ihr 25 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Selbstvertrauen ist stark genug, trotz einer nur eingeschränkt einschätzbaren Situation beispielsweise einen Annährungsversuch zu wagen. Sie sind eher zuversichtlich, dass es gut ausgeht, und, wenn nicht, dann können sie auch damit umgehen, ohne in anhaltende Selbstzweifel zu verfallen. Borderline-Persönlichkeiten liegen am anderen Extrem der Empfindlichkeitsskala. Sie reagieren geradezu allergisch auf Situationen und Botschaften, die uneindeutig, unklar und widersprüchlich sind. Entweder Freund oder Feind, schwarz oder weiß – alles andere verwirrt nur. Sie fühlen sich in unklaren und zweideutigen Situationen auf diffuse Weise bedroht. Den Zustand der Nicht-Kontrolle und vorläufigen Orientierungslosigkeit eine Zeitlang auszuhalten, um besonnen und unvoreingenommen die Lage zu prüfen, ist nur schwer möglich. Die emotionale Spannung wird schnell unerträglich, so dass der psychische Apparat zu einer Notlösung greift und eine Entscheidung trifft – auch um den Preis, dass damit der Realität Gewalt angetan wird. Eindeutigkeit wird kurzschlussartig dadurch hergestellt, dass die Situationseinschätzung entweder zum einen oder anderen Extrem kippt, in der Regel zum negativen Pol – schlimmer kann es dann ja nicht mehr kommen. Manchmal erscheint jedoch auch alles nur positiv. Der Betroffene steigert sich in eine idealisierende Begeisterung hinein, die keine Relativierung mehr zulässt. Wer ihm gegenüber Zweifel anmeldet, ob denn nun wirklich alles so „toll“ und „super“ ist, der kann sich unversehens auf der Feind-Seite wiederfinden.

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Verlassenwerden und Ausgrenzung Die Angst vor Ausgrenzung ist die andere Seite des menschlichen Grundbedürfnisses nach Zugehörigkeit, Bindung und sozialer Anerkennung. In schlichten Worten: Es geht um den Wunsch nach Liebe, Nähe und Geborgenheit. Nichts ist bedrohlicher, als sich als Außenseiter zu fühlen, nicht beachtet und nicht „für voll“ genommen zu werden. Für Kleinkinder ist die Bindung an die Mutter oder an eine an ihre Stelle tretende Person so wichtig, dass sie sterben können, wenn die Bindung nicht glückt. Kommt es schon sehr früh zu Beziehungsbrüchen und Trennungen, wird elterliche Fürsorge nicht in einem Mindestmaß gewährleistet oder ist der Mutter eine liebevolle Annahme des Kindes nicht möglich, so hat dies schwerwiegende Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung. Ein Grundvertrauen im Beziehungsbereich kann sich nicht entwickeln und das Selbstwertgefühl bekommt einen Riss. Kinder mit fehlendem Bindungsvertrauen stehen unter Dauerstress. Grundlegende Programme, um die Welt zu verstehen und die Wahrnehmungen zu ordnen, werden nicht erlernt, weil differenziertes Lernen ein Mindestmaß an innerer Ruhe und äußerer Sicherheit voraussetzt. Kinder, die ständig in Alarmstimmung sind oder einem Wechselbad von Gefühlen ausgeliefert sind, haben schlechte Karten. Nicht jedes Kind reagiert gleich stark auf Bindungsund Beziehungsstörungen. Eine entscheidende Rolle spielt dabei das Naturell des Kindes, also das, was von Geburt an vorgegeben ist, als genetische Anlage oder auch als Folge von Komplikationen vor oder im Zusammenhang mit der Geburt. Manche kommen schon als Sensibelchen auf die Welt, andere haben ein dickes Fell und können einiges wegstecken. Zu welchen Anteilen eine Borderline-Störung auf Anla27 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

gefaktoren oder Umwelteinwirkungen zurückzuführen ist, lässt sich oft nur noch schwer rekonstruieren. In der Regel haben wir es hier mit komplexen Wechselwirkungen von biologischen, psychologischen und sozialen Faktoren zu tun. Bei Borderline-Persönlichkeiten ist das Ergebnis in jedem Fall eine besondere Empfindlichkeit gegenüber Beziehungsstörungen und insbesondere gegenüber Trennung. Kleinste Enttäuschungen lassen die Beziehungssicherheit zusammenbrechen. Im partnerschaftlichen Beziehungsleben sind eine nur schwer zu kontrollierende Eifersucht und das Klammern am Partner die auffälligsten Hinweise auf eine tiefgreifende Trennungsangst. Ein echtes Vertrauen entsteht nicht, die Beziehung muss immer wieder überprüft und getestet werden. Dieser Zwang zur Rückversicherung, ob auch noch alles in Ordnung ist, erinnert an das Verhalten ängstlicher kleiner Kinder, die immer wieder nachprüfen müssen, ob die Mama noch da ist. Auch in der therapeutischen Beziehung kann das gute Gefühl zum Therapeuten zunächst nicht gehalten werden. Der Therapeut muss immer wieder von neuem einem Vertrauenstest unterzogen werden, wobei kleine Provokationen besonders beliebt sind nach dem Motto: Wenn er das aushält, kann ich davon ausgehen, dass er noch auf meiner Seite steht. Das Beziehungsleben von Borderline-Persönlichkeiten ist meist ein ständiges Hin und Her zwischen Höhen und Tiefen, zwischen Trennung und Versöhnung. Beide Partner sind Gefangene eines Teufelskreises: Eifersucht und Kontrollverhalten führen zu abwehrenden Gegenreaktionen, die dann wieder als Beleg dafür gewertet werden, dass man zu Recht misstrauisch ist. Kommt es zur Trennung, ist ein depressiver Zusammenbruch die Folge, meist verbunden mit starken Hassgefühlen – sich selbst oder dem anderen gegenüber. 28 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Verlust von Selbstvertrauen Hier geht es nicht um Beziehungsvertrauen und Bindung, sondern um Selbstvertauen und das Bedürfnis nach Selbstbehauptung, Kompetenzerwerb und Eigenständigkeit, wobei das eine mit dem anderen eng verbunden ist. Ohne verlässliche Bindung kann sich kein Selbstvertrauen entwickeln und ohne Selbstvertauen und ein Mindestmaß an Eigenständigkeit wird es in einer Beziehung schwierig. Selbstvertauen zu besitzen bedeutet, auf die eigene Kraft, auf die eigene Wahrnehmung und auf die eigenen Gefühle zu vertrauen. Vertraue ich auf meine eigene Kraft, dann bin ich in der Lage, mich zu behaupten und meine persönlichen Ziele aktiv, überlegt und – wenn es sein muss – mit dem nötigen langen Atem durchzusetzen. Ich habe gelernt, meine Meinung und meine Wünsche so zu vertreten, dass sie auf positive Resonanz stoßen – vielleicht nicht immer, aber meistens. Fehlt schon in den ersten Lebensjahren die nötige Unterstützung, um die Welt mutig zu erkunden, und gehen die eigenen Bemühungen ins Leere, bei der Mutter oder bei anderen Bezugspersonen positive Wirkungen zu erzielen, entwickelt sich das Gegenteil von Selbstvertrauen, nämlich eine tiefe Selbstunsicherheit, die verbunden ist mit Ängstlichkeit, Entscheidungsunfähigkeit und einer allgemeinen Lähmung von Initiative und Vitalität. Wer sich auf die eigene Wahrnehmung und auf die eigenen Gefühle verlassen kann, der hat einen festen Bezugspunkt, um Entscheidungen treffen zu können. Er vertraut darauf, dass er mit seiner Wahrnehmung und seinem Denken richtig liegt und dass er sich auch auf sein „Bauch-Gefühl“ verlassen kann. Erst mit einem Mindestmaß dieser inneren Sicherheit hat man die Möglichkeit, sich nach außen hin abzugrenzen und sich als selbstwirksames, autonomes und ich-starkes Individuum zu fühlen. 29 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Fehlt einem Menschen dieser innere Kompass und zweifelt er grundsätzlich daran, dass er richtig „tickt“ und dass die eigenen Gefühle stimmig und auch für andere nachvollziehbar sind, dann ist er wie ein Blatt im Wind. Werden die eigene Meinung oder das eigene Gefühl von außen in Frage gestellt, kommt es unmittelbar zu einer tiefgreifenden Verunsicherung. Selbstbehauptung bedeutet dann eine ungeheure Kraftanstrengung – der Betroffene ist ja selbst nicht überzeugt von dem, was er fühlt und denkt. Welche prägenden Erfahrungen stehen hinter fehlendem Selbstvertrauen? In der frühen Kindheit können es die ständigen Warnsignale einer überängstlichen Mutter sein, die eine tiefe Verunsicherung bewirken. Es können aber auch subtil missbilligende Reaktionen sein, die sich auf anlagebedingte oder erworbene Empfindlichkeiten beziehen. Wer immer wieder gespiegelt bekommt, dass er sich ständig „ohne Grund“ aufregt und sich nur „anstellt“, der glaubt schließlich daran, dass etwas mit ihm nicht stimmt, dass er grundsätzlich „daneben“ und „falsch“ liegt. Die negativen Rückmeldungen von außen müssen nicht böse gemeint sein. Kinder, die besonders sensibel sind, sehen und erleben manches anders, vielleicht sogar „richtiger“ als andere. Beliebt machen sie sich damit aber in der Regel nicht. Ein von Natur aus eher ängstliches oder leicht erregbares Kind fordert den Eltern, den Lehrern und anderen Bezugspersonen mehr Einfühlungsvermögen ab, als diese oft aufbringen können. Kinder, die sich so verhalten, wie Eltern und Lehrer es sich wünschen, haben bessere Chancen bestätigt und anerkannt zu werden, so dass ihr Selbstvertrauen fast schon automatisch immer stärker wird. Irgendwie ist es ungerecht: Wer von Natur aus im Nachteil ist, der gerät schnell in einen Teufelskreis weiterer Benachteiligung durch die Umwelt.

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Wie die Scham den Neuanfang verhindert

Sich selbst einzugestehen, anders zu sein als die anderen, ist eine Zumutung. Entsprechend viel Mut braucht es, um diesen wichtigen ersten Schritt zu tun. Notwendig ist ein Positionswechsel von der Selbstverachtung zur Wertschätzung des Andersseins und zur Wahrnehmung der damit verbundenen besonderen Qualitäten. Anders zu sein bedeutet nicht, weniger wert zu sein. Dieser positiven oder zumindest neutralen Einstellung zu sich selbst steht der Selbsthass gegenüber, der einen – oft sehr verdeckt im Hintergrund – schon über Jahre begleitet und den manche als ihren einzig treuen Begleiter schon gar nicht mehr missen wollen. „Ich bin abgrundtief schlecht, nichts wert, total doof und eine Zumutung für andere“, so oder ähnlich lauten die Selbstanklagen, die sich wie eine Schallplatte im Kopf drehen. Die Selbstanklage hinter sich zu lassen ist ein langwieriger Prozess, ein ständiges Vor und Zurück. Mal kann man sich ehrlich im Spiegel betrachten, dann wiederum melden sich Scham und Wut. Selbsthass und Selbstanklage können auch kippen in eine nach außen gerichtete Anklage: „Wieso soll ich ein Problem haben, sind es nicht die anderen, die ein Problem mit mir haben?“ Ganz falsch ist diese Sichtweise ja nicht, sie nutzt dem Betroffenen nur wenig, da er lange warten kann, bis die anderen oder die Gesellschaft oder der Partner sich ändern. Eine Möglichkeit, sich an der Notwendigkeit vorbeizumogeln, bei sich selbst anzufangen, wurde bereits angesprochen: dem Sprichwort „Die Bösen sind immer die anderen“ folgen und den Schwarzen Peter weiterschieben. Ein zweiter, gern beschrittener Weg, der Selbstverantwortlichkeit auszuweichen, ist die Vorstellung, der Psychotherapeut müsse es richten. Psychotherapie wird be31 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

trachtet wie eine Reparaturwerkstatt: Wenn das Auto nicht mehr läuft, dann bringt man es in die Werkstatt und erwartet, dass der Mechaniker die Ursache findet und den Fehler repariert. Mit ähnlichen Erwartungen gehen viele in die Psychotherapie: „Nicht ich habe ein Problem, sondern meine Psyche hat eine Störung. Finden Sie doch bitte die Ursache heraus und beheben sie die Störung.“ Verbunden mit dieser Haltung ist oft der feste Glaube an die heilende Wirkung einer bestimmten psychotherapeutischen Technik, sei es nun Hypnose, Traumaarbeit oder irgendeine gerade aktuelle modische Strömung. Eine dritte Möglichkeit, ohne innere Inventur und harte Arbeit an sich selbst davonzukommen, ist die Einstellung: „Wenn schon Borderline, dann auch richtig“. Derjenige benutzt seine Diagnose als Freibrief dafür, sich so richtig gehen zu lassen, die Sau rauszulassen, wo immer möglich, und das damit verbundene Machtgefühl zu genießen. Man kann ja angeblich nichts dafür, man ist ja krank. Damit kann jemand ganze Mannschaften von Therapeuten und Sozialarbeitern auf Trab halten und es sich in einem gewissen Sinn auf eine ungemütliche Weise gemütlich machen.

Die Grenzen einer Psychotherapie

Eine bessere Selbstakzeptanz zu erreichen, ist das erste und wichtigste Ziel der Psychotherapie einer BorderlineStörung. Selbstakzeptanz ist die Bedingung für alle weitere Entwicklung. Wer sich zutiefst ablehnt mit seinen Ecken und Kanten, seiner Empfindlichkeit, seiner ewigen 32 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Sehnsucht danach, sich ganz und rund zu fühlen, wer es nicht ertragen kann, dass trotz hoher Intelligenz die Belastbarkeit nicht sehr groß ist und berufliche Ziele sich nicht erfüllen, der wird sich im Selbsthass weiter zerstören. Sich so anzunehmen, wie man ist, bedeutet nicht, dass alles beim Alten bleiben kann und soll, dass man sich mit allem abfinden muss, was man so unerträglich findet. Hinter diesem ersten Ziel der Selbstakzeptanz steckt eine Art paradoxer Logik: Es kann sich erst dann etwas ändern, wenn man aufhört, Veränderungen erzwingen zu wollen, und wenn man seinen Frieden macht mit den Seiten, die sozusagen zur Grundausstattung der eigenen Persönlichkeit dazugehören. Im Gegensatz zu neurotischen Störungen, die als erlebnisreaktive Störungen betrachtet werden, das heißt, ihre Ursache wird man primär in nicht verarbeiteten Lebenserfahrungen und Konflikten sehen, spricht man bei den Persönlichkeitsstörungen von strukturellen Störungen. Damit ist gemeint, dass nur schwer oder gar nicht veränderbare Merkmale, die in der Persönlichkeitsstruktur verankert sind und den Charakter bleibend prägen, für vielfältige Anpassungsprobleme verantwortlich sind. Wer dünnhäutig ist, dem wird auch nach Jahren der Therapie kein dickes Fell gewachsen sein – aber er kann lernen, achtsamer mit sich umzugehen. Wer in seinem Wesenskern kein klar abgegrenztes und stabiles Ego spürt, der wird nie so genau wissen, wer er wirklich ist – was man als Nachteil, aber auch als Chance zur Vielseitigkeit betrachten kann. Wer zu impulsivem Verhalten neigt, der wird diese Neigung nie ganz überwinden – aber er kann auf Schadensbegrenzung zu achten lernen.

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Sexueller Missbrauch – eine Ursache unter anderen

Für Probleme eine einzige Ursache verantwortlich zu machen, ist sehr verlockend. Gäbe es nur eine Ursache, dann wäre alles klar – im Gegensatz zu komplizierten Erklärungen, die davon ausgehen, dass BorderlineStörungen in der Regel durch ein Zusammenwirken verschiedenster ungünstiger Bedingungen und Belastungsfaktoren entstehen. Es gibt also viele gute Gründe, einfache Erklärungen vorzuziehen. Gibt es nur eine Ursache, dann dürfte auch die Behandlung nicht allzu schwierig sein, da genau an dieser einen Ursache der therapeutische Hebel anzusetzen wäre. Gibt es eine bestimmte Ursache, dann ist endlich auch ein klares Ziel vorhanden für all die Enttäuschungswut, dass man so ist, wie man ist. Die Wissenschaft sagt jedoch ganz klar, dass es so einfach nicht ist. Bei psychischen Störungen spielen in aller Regel verschiedene Teilursachen zusammen, die sich zu einem Ursachengeflecht verweben, das zurückschauend nicht mehr bis ins Einzelne auflösbar ist. Lässt man angeborene Besonderheiten des Temperaments, die auf die Angst- und Aggressionsbereitschaft eines Menschen ohne Zweifel einen großen Einfluss haben, beiseite und konzentriert man sich auf ungünstige Entwicklungsbedingungen in der Kindheit, dann spielen frühkindliche traumatische Ereignisse für die Entwicklung von Borderline-Störungen eindeutig eine wichtige, wahrscheinlich sogar eine entscheidende Rolle. Zu den krank machenden traumatischen Ereignissen gehört jedoch an erster Stelle nicht der sexuelle Missbrauch und Gewalterfahrungen, sondern die alltägliche Vernachlässigung des kleinen Kindes: fehlende Zuwendung und Fürsorge, längere Abwesenheit der Mutter oder anderer wichtiger Bezugspersonen (frühe Trennungs34 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

erfahrungen), stark wechselhaftes Verhalten der Mutter (instabiles Bindungsverhalten), ständiger Zank und Streit in der Familie (familiäre Disharmonie). Emotionale Vernachlässigung als entscheidender Belastungsfaktor kann zu einer Borderline-Störung führen, muss es aber nicht. Dieser Faktor begünstigt alle möglichen psychischen Störungen. Man geht heute davon aus, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, von einer bestimmten Belastung in der Kindheit auf eine bestimmte spätere Störung zu schließen. Bezogen auf die Persönlichkeitsentwicklung muss davon ausgegangen werden, dass es zwischen dem Anfang und dem Ende des Weges keinen direkten Zusammenhang gibt. Unter ausgleichenden positiven Bedingungen, wenn zum Beispiel eine liebevolle Bezugsperson außerhalb des Elternhauses zur Verfügung steht, kommt es möglicherweise zu gar keinen besonderen Folgeproblemen. Man kann jedoch zu Recht sagen, wer als Kleinkind vernachlässigt wurde, wird im späteren Leben mit großer Wahrscheinlichkeit ernsthafte psychische Probleme bekommen. Sexueller Missbrauch steht fast immer im Zusammenhang mit einer allgemeinen emotionalen Vernachlässigung, oft auch mit physischer Misshandlung durch körperliche Bestrafungshandlungen und mit psychischer Misshandlung im Sinne ständiger Herabsetzung, Einschüchterung und Demütigung des Kindes. Sexueller Missbrauch ist fast immer ein krankmachender Faktor. Schwerer sexueller Missbrauch in der Kindheit – über längere Zeit und verbunden mit Geschlechtsverkehr – ist in diesem Zusammenhang gesondert zu bewerten. Eine solche Erfahrung führt zum Zusammenbruch jeglichen Selbstwertgefühls und Beziehungsvertrauens und bedeutet eine Art Seelenmord. Bei besonders schweren Formen einer Borderline-Störung, die mit häufigen Selbstverletzungen und schweren dissoziativen Störungen – auf die 35 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

noch eingegangen wird – einhergehen, steht schwerer sexueller Missbrauch oft im Hintergrund. Bei der Bewertung sexuellen Missbrauchs muss differenziert und sehr sorgfältig auf den Einzelfall geschaut werden.

Notlösungen

Emotionale Hochspannung kann niemand auf Dauer ertragen, das Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung muss zumindest zeitweilig zu seinem Recht kommen. Um sich gegenüber andrängenden unangenehmen Gefühlen und Gedanken Abstand zu verschaffen, helfen verschiedene Notlösungen, insbesondere die so genannte Dissoziation, Selbstverletzung und Suchtverhalten.

Dissoziation und Multiple Persönlichkeit Dissoziation ist eine allen Menschen eigene Möglichkeit, bei besonders belastenden Empfindungen einfach abzuschalten. Die Aufmerksamkeit gleitet ab, man hört nicht mehr zu, man ist innerlich woanders oder steht neben sich. Der innere Empfänger wird ausgeschaltet oder stellt einen anderen Sender ein, wenn es zuviel wird. Wenn dieser an sich nützliche Überlastungsschutzschalter so oft ein inneres Abschalten auslöst, dass der Kontakt zu sich selbst, zum eigenen Körper und zu anderen Menschen verloren zu gehen droht, dann spricht man von krankhafter Dissoziation. Übersetzt heißt Dissoziation „Trennung“: Bestimmte 36 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Empfindungen, Erinnerungen und Wahrnehmungen werden vom Bewusstsein und von der unmittelbaren Aufmerksamkeit abgetrennt. Dissoziation wird zum Problem, wenn wiederholtes unbewusstes Abgleiten der Aufmerksamkeit die Kommunikation mit anderen behindert. Dissoziation wirkt auf andere irritierend und kann zum Kontaktabbruch führen. Von außen betrachtet sieht man einen Menschen vor sich, der unerwartet und scheinbar ohne darüber Kontrolle zu haben etwas ausblendet und aus dem Kontakt aussteigt. In der Psychotherapie geht es darum, dieses Ausblenden und Abschalten bewusst zu machen und die vermiedenen unangenehmen Erinnerungen und Gefühle schrittweise wieder zugänglich zu machen, damit sie verarbeitet werden können. Die Multiple Persönlichkeitsstörung ist eine besondere Form der Dissoziation. Sie fällt oft mit einer BorderlineStörung zusammen. Multiple Persönlichkeiten nutzen die Möglichkeit des inneren Trennens, der Dissoziation besonders kreativ. Sie teilen ihre Persönlichkeit beziehungsweise ihr Ich in verschiedene, voneinander unabhängige Teilpersönlichkeiten auf. Mal ist die eine Person am Zuge, mal die andere. In einem gewissen Ausmaß ist es normal, dass unser Ich nicht gleichbleibend mit einem klar umrissenen und einheitlichen Ich-Bewusstsein verbunden ist. Wir drücken diese innere Vielfalt auch in unserer Umgangssprache aus, indem wir davon sprechen, dass wir mehrere Seelen in der Brust haben, dass nicht immer nur die erwachsene, „vernünftige“ Seite in uns das Sagen hat, manchmal meldet sich auch das Kind in uns oder uns reitet der Teufel und wir geraten so sehr außer uns, dass wir uns kaum wiedererkennen. Wir wissen jedoch immer noch, dass diese verschiedenen Seiten unseres Selbsterlebens unterschiedliche Facetten unseres Ich darstellen und letztlich zusammengehören. 37 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Im Erleben Multipler Persönlichkeiten haben sich die verschiedenen inneren Stimmen, Gefühlslagen und Erfahrungswelten verselbstständigt und führen ein Eigenleben. Widersprüchliche Empfindungen werden unterschiedlichen inneren Stimmen, fantasierten Gestalten und Persönlichkeiten zugeordnet. Diese Aufteilung der inneren Welt in klar voneinander abgegrenzte Persönlichkeiten und Rollenspieler hat den Vorteil, dass konflikthafte Empfindungen vermieden werden und traumatische Erinnerungen über die Zuordnung zu bestimmten inneren Personen abgegrenzt werden können. Dadurch wird notdürftig eine gewisse innere Ordnung wiederhergestellt, die vor Reizüberflutung schützt und Ruhezonen sichert. Das Springen von einer Rolle zur nächsten bewahrt den inneren Frieden. Bildlich gesprochen könnte man sagen, dass Multiple Persönlichkeiten die Last eines schweren Schicksals auf viele Schultern verteilen. Jede innere Person lebt und erlebt nur bestimmte Aspekte der ganzen Wahrheit und da jede Person der anderen gegenüber verschlossen bleibt, bleibt auch die vielleicht unerträgliche „ganze Wahrheit“ verborgen. Zu dissoziieren und sich multipel zu verhalten hat den Vorteil des Selbstschutzes gegenüber schmerzhaften Wahrnehmungen, Erinnerungen und Gefühlen, die überfordern könnten. Andererseits ist es jedoch auch ein Ausweichen vor etwas, das man vielleicht zu verarbeiten und auszuhalten imstande wäre, wenn man sich dem stellen würde. Im Rahmen einer Psychotherapie kann man dies versuchen. In vorsichtigen Schritten werden die verschiedenen inneren Personen wieder miteinander ins Gespräch gebracht, um sie wieder zu einem mehr einheitlichen Ich-Bewusstsein zusammenwachsen zu lassen. Man erobert sich seine eigene Geschichte zurück und wird für andere wieder ein Gegenüber, das im Kontakt bleibt – auch wenn es unangenehm wird. 38 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Sucht und Borderline Die wohl allgemeinste und gebräuchlichste Notlösung, um einen unangenehmen seelischen Zustand zu beenden und sich ein gutes Gefühl zu verschaffen, liegt darin, sich in eine Sucht zu flüchten. Von daher verwundert es nicht, dass zu einer Borderline-Störung fast immer auch ein Suchtproblem gehört, sei es eine stoffgebundene Sucht wie exzessives Rauchen, Alkoholmissbrauch, Konsum illegaler Drogen oder auch eine nicht stoffgebundene Sucht wie Esssucht, Magersucht, Spielsucht oder Kaufsucht. Manche betrachten auch die bei Borderline-Störungen nicht selten auftretenden Zwangsstörungen als eine Art Suchtverhalten, denn der Zweck liegt auch hier in der kurzfristig wirksamen Selbstberuhigung und Ablenkung von innerer Not. All diese Süchte – und davon könnte man weitere Spielarten aufzählen – haben die Funktion einer zumindest zeitweiligen Entlastung und Beruhigung. Unangenehme Empfindungen wie Angst, Selbstunsicherheit, innere Leere, Einsamkeit und Depression treten für eine gewisse Zeit in den Hintergrund durch von außen zugeführte Beruhigungsmittel oder vom Körper selbst produzierte Beruhigungsstoffe (Endorphine). Der Vorteil der kurzfristigen Erleichterung wird jedoch meist teuer bezahlt: Man gefährdet seine körperliche Gesundheit und das ohnehin angeschlagene Selbstbewusstsein sinkt immer tiefer, weil neue seelische und soziale Probleme hinzukommen. Jede Sucht gewinnt eine Eigendynamik, die man auch als Teufelskreis der Sucht bezeichnet. Waren es am Anfang noch Borderline-typische Probleme, für die eine Entlastung gesucht wurde, so benötigt man später seine kleinen oder großen Süchte dafür, die Folgen der Sucht zu bekämpfen. Wer alkohol- oder drogenabhängig geworden ist, der muss weitermachen, weil der Körper ihn zwingt. Viele reagieren mit starken Scham39 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

und Schuldgefühlen auf ihr Suchtverhalten und setzen dann wiederum die Sucht ein, um diese Gefühle zu verdrängen. Auch Hungern und Essen kann zur Droge werden. Magersucht (Anorexie) und Ess- und Brechsucht (Bulimie) sind Störungen, die immer mehr zunehmen. Grundlage des Suchtmechanismus ist die allen Menschen angeborene Fähigkeit des Körpers, sowohl im Zustand des Hungerns als auch bei einer exzessiven Zufuhr von Kohlehydraten – also durch anfallsartiges Essen großer Mengen von Nahrungsmitteln – mit der Ausschüttung von Endorphinen zu reagieren. Ist diese Möglichkeit, sich durch vom eigenen Körper produzierte Suchtmittel in einen rauschähnlichen Zustand zu versetzen, erst einmal entdeckt, etwa im Verlauf einer Diät, kann es bei entsprechendem inneren Druck zu einer zwanghaften Gewohnheit werden, diesen entlastenden Zustand immer wieder herbeizuführen. Was kann man tun, wenn man im Teufelskreis einer Sucht steckt? Zuallererst ist es wichtig anzuerkennen, dass neben den Borderline-Problemen ein Suchtproblem mit einer eigenständigen Dynamik besteht. Eine solche Erkenntnis ist ernüchternd und für viele Betroffene auch kränkend. Es ist nahe liegend, den im Grunde simplen Suchtmechanismus zu verleugnen und sich psychologisierend damit aufzuhalten, nach den so genannten eigentlichen Ursachen zu forschen und diese zunächst beheben zu wollen. In einem zweiten Schritt ist es wichtig zu entscheiden, ob man mit der Sucht aufhören will oder nicht. Unrealistischer Ehrgeiz, sofort und für immer aufzuhören, ist wenig hilfreich. Der Rückfall ist programmiert, wenn nicht zunächst eine nüchterne Bestandsaufnahme erfolgt: Bin ich stabil genug und sind auch die aktuellen Lebensumstände so, dass eine realistische Chance besteht, auf die Sucht zu verzichten? Ist der seelische Problemdruck akut 40 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

sehr groß, zum Beispiel unmittelbar nach einer Trennung, und geht es erst einmal darum, irgendwie, und sei es mit Hilfe der Sucht, über die Runden zu kommen, sollte man „bessere Zeiten“ abwarten. Es wäre ebenfalls Ausdruck falschen Ehrgeizes, gleich alle Süchte auf einmal loswerden zu wollen. Wer mit dem Trinken aufhört, der überfordert sich leicht, wenn er gleichzeitig mit dem Rauchen aufhört. Man sollte Prioritäten setzen – nicht jede Sucht ist gleich schädlich – und eine kleine Sucht zu behalten, mag manchmal das kleinere Übel sein. Die Chance, von einer Sucht loszukommen, steigt wesentlich, wenn man sich vorab nach einem Ersatz für die schädigende Sucht umsieht. Was kann man alternativ tun, um innere Spannungszustände abzubauen? Regelmäßige sportliche Aktivitäten wie Fitness-Training oder Joggen sind für viele eine hilfreiche Alternative. Unter Umständen kann auch ein beruhigendes Medikament die bessere Alternative sein. Der Anschluss an eine Sucht-Selbsthilfegruppe ist ein weiterer möglicher Weg, sich die Unterstützung zu sichern, die man für den schwierigen Weg benötigt, die Sucht zu überwinden. Scham- und Schuldgefühle helfen in keiner Weise weiter, sie erhalten ganz im Gegenteil eher das Suchtverhalten aufrecht, weil sie von der eigenen Selbstverantwortlichkeit ablenken. Heftige Schamgefühle haben oft nur die Funktion einer Sühneleistung, wodurch die Schuld ausgeglichen und das Gewissen beruhigt werden soll. Selbstverantwortlichkeit bedeutet etwas anderes: Verzicht auf billige Wiedergutmachung durch Schuldgefühle und zu dem zu stehen, was man tut beziehungsweise sich antut. Die Entscheidung kann dann nur sein, entweder aufzuhören mit der Sucht oder unter den gegebenen Umständen die Sucht als „zweitbeste Lösung“ zu akzeptieren.

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Selbstverletzung Eine weitere Form der Notfallselbsthilfe liegt darin, sich durch körperliche Selbstverletzung Entlastung zu verschaffen. Zu dieser Form kurzfristiger Ablenkung von seelischem Schmerz greifen vor allem diejenigen, bei denen sich immer wieder schmerzhafte Erinnerungen an traumatische Ereignisse aufdrängen. Auslöser können aber auch bestimmte alltägliche Enttäuschungen sein, auf die man besonders empfindlich reagiert. Selbstverletzung führt zu einer vorübergehenden Erleichterung und Entspannung, die intensiven negativen Gefühle werden unterbrochen. Die entlastende Wirkung beruht darauf, dass der Körper auf heftige Schmerzreize mit der Ausschüttung körpereigener Morphine reagiert, die für eine gewisse Zeit schmerzunempfindlich machen und beruhigen. Die Selbstverletzung kann dadurch geschehen, dass sich jemand Schnitte oder Verbrennungen zufügt, mit dem Kopf gegen die Wand schlägt oder auf andere Weise seinen Körper in einen Schockzustand versetzt. Selbstverletzungen können zu einer Sucht werden, die nur noch schwer zu kontrollieren ist. Dies ist verständlich, weil sie helfen, peinigende Spannungszustände zu beenden und das Gefühl vermitteln, endlich eine StoppMöglichkeit in der Hand zu haben. Manchmal ist die Selbstverletzung mit einem starken Machtgefühl verbunden. Nicht nur, dass man sich nicht mehr ausgeliefert fühlen muss, man ist sozusagen selbst am Drücker und kann einen sonst passiv erlebten Horror jetzt selbst auslösen. Der Schrecken, den jemand mit einer blutigen Selbstverletzung bei anderen auslösen kann, mag dazu beitragen, dieses Machtgefühl noch zu verstärken. Ein möglicher Ausweg aus dem Zwang zur Selbstverletzung liegt im Erlernen alternativer Beruhigungsstrategien und in der frühzeitigen Wahrnehmung von Warnsignalen – bevor die Lawine negativer Gefühle und sich aufschau42 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

kelnder Spannungen ins Rollen kommt. Herauszufinden gilt, was die meist wiederkehrenden Auslöser der Gefühlsstürme sind, die alles mitreißen und jede Form der Selbstkontrolle zunichte machen. Sich den genauen Ablauf bewusst zu machen – also welche Ereignisse, Gefühle und Gedanken sich automatisiert wiederholen, bis es zum Entschluss zur Selbstverletzung kommt – ist der entscheidende erste Schritt, den Teufelskreis zu unterbrechen.

Helfen Medikamente?

Beruhigende Psychopharmaka können durchaus eine Hilfe darstellen. Es geht hier in der Regel nicht um eine Dauermedikation, sondern um eine zeitweilige Medikation in Krisenzeiten, die Erleichterung verschaffen kann. Um sich ein Medikament verschreiben zu lassen, sollten Betroffene sich an einen Psychiater wenden. Als Facharzt kann er am besten entscheiden, was bei der im Vordergrund stehenden Symptomatik hilft. Da eine Borderline-Störung typischerweise mit einer besonderen Angst verbunden ist, sich auf etwas einzulassen, was nicht hundertprozentig der eigenen Kontrolle unterliegt, besteht oft ein starkes Misstrauen gegenüber Medikamenten: Die Wirkungen und Nebenwirkungen lassen sich nicht exakt vorhersagen – der Beipackzettel bestätigt dies ausdrücklich. Es bestehen Befürchtungen, in nicht vorhersehbare Ausnahmezustände zu geraten oder von Medikamenten abhängig zu werden. Diese Ängste sollte man mit dem Psychiater offen besprechen und sich alles genau erklären lassen. Es gibt viele hilf43 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

reiche Medikamente, die nicht abhängig machen, und selbst die klassischen Beruhigungsmittel (Tranquilizer vom Valium-Typ) tun dies nicht, wenn sie nur kurzfristig zur Überbrückung besonderer Krisen eingesetzt werden. Da Psychopharmaka nicht bei allen gleich wirken, sollte man nicht aufgeben, wenn das erste verordnete Medikament nicht wirkt oder sich unerwünschte Nebenwirkungen einstellen. Man muss Geduld mitbringen und unter Umständen verschiedene Substanzen ausprobieren. Was sind die Anzeichen für eine Krise, in denen ein Medikament hilfreich sein kann? Einschlafstörungen, Durchschlafstörungen und frühes Erwachen gehören für viele zum Alltag und sind von daher nicht unbedingt als Krisenzeichen zu werten. Problematischer wird es bei völliger Schlaflosigkeit. Die Gedanken drehen sich im Kreis, man bleibt trotz eines Gefühls großer Erschöpfung hellwach. Hält die Schlaflosigkeit länger als eine Nacht und einen Tag an, sollte man etwas unternehmen und sich mit einem schlafanstoßenden Medikament helfen. Anhaltende völlige Schlaflosigkeit kann zu psychotischen Entgleisungen führen, das heißt, es kommt zu einer Art Überdrehen der Gedanken und zu Störungen in der Realitätswahrnehmung. Viele haben gelernt mit Zuständen hoher Anspannung umzugehen, ohne zu selbstschädigenden Verhaltensweisen zu greifen. Sie ziehen sich eine Zeitlang zurück, betätigen sich intensiv sportlich oder nehmen Zuflucht zu sonstigen ganz persönlichen Hausmitteln wie Musikhören, Spazierengehen, Meditation, ein entspannendes Bad. Hilft das alles nicht mehr und hält die quälende Unruhe weiter an, sollte man sich medikamentös über die Krise hinweghelfen. Dies insbesondere dann, wenn anhaltende innere Anspannung schwerwiegende Konsequenzen haben könnte, etwa den Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund großer Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und im Kontakt mit anderen zu bleiben. 44 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Chronische Anspannung und Unruhe sind oft mit körperlichen Symptomen verbunden, insbesondere mit Schmerzstörungen wie Rückenschmerzen und Kopfschmerzen. Weil die tiefere Ursache im Psychischen liegt, hilft hier oft eher ein beruhigendes und entspannendes Medikament als ein Schmerzmittel im engeren Sinn. Bei Borderline-Störungen kann es unter besonderen Stressbedingungen zu Störungen in der Wahrnehmung und im Erleben kommen, die denen gleichen, unter denen auch Schizophrene leiden. Diese so genannten psychotischen Symptome sind bei Borderline-Störungen meist kurzfristiger Natur und bedeuten nicht, dass derjenige schizophren ist oder wird. Kommt es zu psychotischen Symptomen, ist eine medikamentöse Behandlung mit einem so genannten Neuroleptikum sehr wirksam, die Symptome verschwinden in der Regel nach wenigen Tagen. Woran erkennt man psychotische Symptome? Zunächst gibt es Frühwarnzeichen, die eine psychotische Episode ankündigen können. Dazu gehört die schon angesprochene Schlaflosigkeit über mehrere Tage – verbunden mit einer geistigen Übererregtheit in Form von ständigem Denken und Grübeln. Weiterhin gehört dazu ein diffuses Gefühl, dass irgendetwas im Gang ist und von außen auf die eigene Gedankenwelt oder den Körper einwirkt. Gelingt in dieser Vorlaufphase keine Beruhigung, etwa durch ein Medikament, kommen die eigentlichen psychotischen Symptome zum Ausbruch, vor allem Wahnerlebnisse und Stimmenhören. Zu den Wahnerlebnissen gehört zum Beispiel die Überzeugung, besondere Botschaften und Hinweise zu erhalten, entweder etwas ganz Besonderes zu sein, beispielsweise eine Art Retter der Menschheit, oder verfolgt oder von außen manipuliert zu werden. Obwohl dies alles mit der Realität nichts zu tun hat, besteht die feste Überzeugung, dass der Tagesschau45 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

sprecher zu einem spricht, der Therapeut heimlich bestimmte Liebessignale aussendet oder der Nachbar zu einer Spionageorganisation gehört und Feindliches im Schilde führt. Das Stimmenhören kann sich unterschiedlich bemerkbar machen. Meist wird – nicht im Sinne lauten Denkens, sondern als akustischer Eindruck von außen – eine Stimme vernommen, die das eigene Verhalten kommentiert, Beschimpfungen ausstößt oder Befehle erteilt.

Arbeit ist das halbe Leben

Eine entscheidende Voraussetzung für seelische Gesundheit ist eine sinnvolle Arbeit. Arbeit und Beruf sichern nicht nur die materielle Existenz, sondern auch den sozialen Status. Die Frage „Was machst du eigentlich?“ wird für viele, die keine Arbeit haben, zur Bedrohung. Wenn schon psychisch stabile Menschen sich ohne Arbeit und Beschäftigung minderwertig und ausgegrenzt fühlen, dann trifft dies auf Menschen mit Borderline-Problemen erst recht zu. Wie findet man den richtigen Beruf und wie sichert man seinen Arbeitsplatz, wenn das psychische Befinden und damit das Konzentrationsvermögen, die Ausdauer und die Stressbelastbarkeit starken Schwankungen unterliegen. Viele beginnen darüber erst nach zahlreichen Anläufen, Jobwechseln und Kündigungen nachzudenken, andere haben nach längerer Arbeitslosigkeit vielleicht schon resigniert oder haben den Weg der Frühberentung gewählt. 46 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Wie immer setzt die Lösung eines Problems voraus, dass ein Problembewusstsein vorhanden ist. Solange die Überzeugung vorherrscht, dass die Probleme im Arbeitsbereich vor allem daher rühren, dass die anderen Schuld sind – der ungerechte Chef, die verständnislosen Kolleginnen und Kollegen –, wird sich wenig ändern. Die anderen kann man nicht ändern, man kann nur bei sich selbst anfangen. Im Vorteil ist der, der sowohl seine Stärken als auch seine Schwächen gut kennt und sich darauf einstellt. Die Stärken liegen oft in einer guten Intelligenz und einer hohen Kreativität. Auch die besondere Feinfühligkeit kann von Vorteil sein. Die Schwächen liegen in einer geringen Frustrations- und Kritiktoleranz und in einer vergleichsweise geringen oder schwankenden Belastbarkeit. Schwierig wird es für viele, wenn das Arbeitsklima von Konkurrenzdenken, wechselseitigem Misstrauen und fehlender Offenheit geprägt ist, wenn unter Zeitdruck gearbeitet werden muss und die Arbeitsabläufe wenig strukturiert sind. Unter direkter Aufsicht und Kontrolle arbeiten zu müssen, ist ebenfalls schwer auszuhalten. Viele geraten unter Dauerstress, wenn sie in zu großer körperlicher Nähe mit anderen beziehungsweise mit mehreren Menschen in einem Raum arbeiten müssen. Im Umkehrschluss kann man sagen, dass die Arbeitsleistung konstant und hoch sein kann, wenn das Arbeitsklima ruhig und ausgeglichen ist, niemand drängt und einem ständig auf die Finger schaut und Rückzugsmöglichkeiten vorhanden sind. Auf den Punkt gebracht geht es vor allem darum, bei der Arbeit seine Ruhe zu haben. Nur, wo gibt es heute noch Berufe und Jobs, in denen Hektik und Druck nicht ganz so groß sind und die eigene Empfindlichkeit nicht so viele Anknüpfungspunkte findet? Die Stellenanzeigen sprechen eine deutliche Sprache, erwünscht sind vor allem Belastbarkeit, Kommunikationsfähigkeit und Flexibilität. 47 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Für viele liegt der Ausweg in einer selbstständigen Tätigkeit, soweit Ausbildung und Neigung dazu befähigen. Auch die moderne EDV-Welt hat Arbeitsplätze geschaffen, die eine gewisse Ruhe und soziale Distanz gewährleisten. Der Computer ist insbesondere für diejenigen ein geeignetes Arbeitsmedium, die auf Kontrolle und Berechenbarkeit der Abläufe Wert legen und zu viel soziales Miteinander eher schlecht vertragen. Ein vernünftiger Kompromiss kann auch darin liegen, sich keine Vollzeitarbeit zuzumuten – soweit man sich dies finanziell leisten kann. Man muss sich auf die Suche begeben und sich auch nicht scheuen, Arbeitsversuche wieder abzubrechen, wenn man feststellt, dass es nicht passt. Hinweise auf zu hohen Stress sind ein ständiges Erschöpfungsgefühl, Schlafstörungen, chronische Schmerzen – insbesondere Rückenschmerzen und Kopfschmerzen – und eine sich steigernde Gereiztheit und innere Anspannung. Durchhalteparolen helfen hier gar nichts, lieber sollte man mehrere Anläufe unternehmen bis sich – wenn das Glück mitspielt – etwas Passendes findet, als sich über die Runden zu quälen. Nicht um jeden Preis durchzuhalten, bedeutet selbstverständlich nicht, beim ersten Konflikt – und der kommt bestimmt und die Wut auch – die Brocken hinzuschmeißen. Vielerorts gibt es für den beruflichen Ein- oder Wiedereinstieg auch spezielle Hilfen, die beim Sozialpsychiatrischen Dienst des Gesundheitsamtes, beim Sozialamt, beim Versorgungsamt/Integrationsamt oder bei der Bundesagentur für Arbeit erfragt werden können. Die Bundesagentur für Arbeit und neuerdings auch das Sozialamt bieten verschiedenste Rehabilitationshilfen an, soweit man seine gesundheitlichen Einschränkungen offen gelegt hat. Eine Bescheinigung des behandelnden Psychiaters oder Psychotherapeuten vorzulegen, ist sinnvoll. Neben Arbeitserprobungs- und Umschulungsmaßnahmen 48 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

gibt es auch die Möglichkeit von Lohnkostenzuschüssen für den Arbeitgeber, um den beruflichen Wiedereinstieg zu erleichtern. Lässt bei bestehender beruflicher Tätigkeit die Arbeitsleistung aufgrund psychischer Überlastung gravierend nach, wird möglicherweise eine Schwerbehinderung bescheinigt. Wird einem eine Schwerbehinderung aufgrund einer Persönlichkeitsstörung zuerkannt, was bei besonderen Ausprägungsformen durchaus möglich ist, besitzt man einen besonderen Kündigungsschutz. Andererseits ist zu bedenken, dass mit dem Schwerbehindertenstatus das psychische Handicap nicht mehr reine Privatsache ist – was sich auch nachteilig auswirken kann.

Borderline und die Liebe

Der tiefsitzende Zweifel, ein liebenswerter und beziehungsfähiger Mensch zu sein, hat Folgen. Die Angst, enttäuscht und verletzt zu werden, ist mindestens so groß wie die Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Dem anderen zu vertrauen, dass er verlässlich zu einem steht, ist nicht nur schwierig, für viele ist so etwas schlicht nicht vorstellbar. Vertrauen ist und bleibt ein Fremdwort; immer wieder drängen sich Misstrauen und Unsicherheitsgefühle in den Vordergrund und beherrschen Denken und Handeln. Wo kein Vertrauen ist, bleiben als Ausweg nur noch Kontrolle und ständige Rückversicherung, um zumindest zeitweilig zur Ruhe zu kommen. Diese Notlösungen können zur Sucht werden, weil die dadurch erreichte Sicherheit kurzfristig befriedigt – bis Unsicherheit und Zweifel wieder durchbrechen und der Kreislauf von Eifersucht, 49 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Kontrolle, Klammern und Bestätigungssucht von vorn beginnt. Um Verunsicherungslawinen auszulösen, reichen geringfügigste Anlässe: ein falscher Blick, ein kritischer Unterton, eine kleine Abweichung von gewohnten Ritualen. Aber auch ohne äußere Anlässe können sich Zweifel festsetzen, eine misstrauische Fantasie reicht aus. Wer sucht, der findet, oder anders ausgedrückt, wer zweifelt, der findet grübelnd und prüfend fortlaufende Bestätigungen seines Zweifels – man nennt das eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Dagegen ist kein Kraut gewachsen; rationale Gegenargumentation und Beruhigungsstrategien heizen das Misstrauen meist nur weiter an, der vermeintlich gerechte Zorn hat die Vernunft längst abgeschaltet. Wer nicht vertraut, der muss kontrollieren. Es gibt verschiedene Wege, das Verhalten des anderen unter Kontrolle zu bekommen. Zunächst gibt es sehr direkte Einschüchterungstaktiken: Androhung körperlicher Gewalt und tatsächliche Misshandlungen, um Unterordnung und Anpassung zu erzwingen. Auch Suiziddrohungen können einen Partner erheblich unter Druck setzen, sich zurückzunehmen und sich nur noch nach den Wünschen des anderen zu richten. Kontrollieren kann man den anderen aber auch subtiler, etwa indem man immer wieder das Bemühen des Partners abwertet, sich einen Rest an Eigenständigkeit und persönlicher Freiheit zu bewahren. „Allein schaffst du das nie, du bist egoistisch, alle werden sich von dir abwenden“, und so weiter. Während der andere abgewertet und moralisch disqualifiziert wird, stilisiert sich der Ankläger als Opfer, was oft dann auch noch moralische Unterstützung von außen einbringt. Der angeschuldigte Partner bekommt ein schlechtes Gewissen – soweit er es sich machen lässt – und traut sich nicht mehr, ehrlich seine Meinung zu sagen und für sich einzutreten. Wenn eine Beziehung nicht mehr von wechselseitiger 50 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Achtung und Loyalität getragen wird, dann macht sie unglücklich und krank. Trennung ist der Ausweg – und wiederum bestätigt sich für den vertrauensschwachen Part im Beziehungsdrama die alte Furcht, doch wieder verlassen zu werden. Der Teufelskreis schließt sich und nicht Einsicht in das eigene Mitwirken am Ergebnis ist die Konsequenz, sondern noch mehr Misstrauen, Depression und Wut. Trennung von wichtigen Personen ist immer schlimm, für Borderline-Persönlichkeiten ist es die Katastrophe schlechthin. Mit dem Verlust des anderen glauben sie sich selbst zu verlieren, fühlen sich buchstäblich zerbrochen zurückgelassen, als sei ihnen ein Stück aus dem Leib oder Herzen gerissen. Im Inneren breitet sich ein Gefühl der Leere aus. Es ist wohl ein ähnliches Empfinden, das Kleinkinder haben, wenn sie den überlebenswichtigen Kontakt zur Mutter verlieren. Weil Trennung so schwer zu ertragen ist und als existenzbedrohlich erlebt wird, ist der Druck, diese Erfahrung zu vermeiden, entsprechend groß. Eine Möglichkeit der Vermeidung besteht darin, das Prinzip Hoffnung bis zum letzten auszureizen und es immer wieder neu zu versuchen – trotz sich ständig wiederholender Katastrophen. Eine zweite Variante ist, sich nur äußerlich zu trennen. Offiziell ist das Paar getrennt, die Beziehung wird jedoch auf der Fantasie- und Gefühlsebene fortgesetzt. Oft sind es Hassgefühle, über die man mit dem Partner verbunden bleibt. Ein solcher Hass kann sich bis zu realer Verfolgung, ständigem Nachspionieren und Gewaltanwendung steigern. Es können jedoch auch Liebesfantasien sein, die die Realität nicht zur Kenntnis nehmen und sich im Extremfall bis zu einem verfolgenden Liebeswahn steigern. Eine radikale Präventivmaßnahme gegenüber Erfahrungen von Verlassenwerden und Trennung liegt darin, jede Art von enger Bindung zu vermeiden und keine Beziehung einzugehen. Der Preis ist die Einsamkeit. 51 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Auch wenn sich das Liebesleben von Menschen mit Borderline-Problemen eher wechselhaft gestaltet und eine Beziehungskrise auf die andere folgt, so haben viele dieser Beziehungen auch ihre Stärken: Sie können eine ganz besondere Intensität erreichen – nicht zuletzt in der Sexualität. Die sexuelle Begegnung überdeckt mit ihren starken Gefühlen alles Misstrauen und alle Selbstzweifel und bedeutet vielen eine Insel des Glücks. Die andere Seite der Medaille ist allerdings die Gefahr, dass die Suche nach diesen Glücksmomenten zur selbstwertschädigenden Sucht wird. Was sind die Voraussetzungen dafür, dass eine befriedigende Partnerschaft gelingt – trotz unzureichender Vertrauensfähigkeit und unausgeglichenem Temperament? Solange kein Problembewusstsein vorhanden ist und die Schuld für Streit und Konflikte nur beim anderen gesucht wird, wird sich nichts bessern. Hat ein Umdenken begonnen, vielleicht im Rahmen einer Psychotherapie, dann sollte man sich zunächst gar nicht so viel vornehmen, sich vor allem nicht zu viel von klärenden Partnergesprächen versprechen. Wenn man es dann schafft, in einem Moment erneuter Verunsicherung einfach mal nichts zu tun, abzuwarten, bis die innere Erregung wieder abgeklungen ist, dann hat man für sich und die Partnerschaft eine ganze Menge erreicht. Wichtig bleibt, dass dem Partner ein Verständnis der eigenen Empfindlichkeiten ausdrücklich vermittelt wird und nicht davon ausgegangen wird, dass jemand, der einen liebt, auch ohne weiteres alles verstehen und nachfühlen kann. Ein Verstehen ohne Worte gibt es, wenn es gut geht, in der Kleinkind-Mutter-Beziehung. In einer Beziehung unter Erwachsenen ist dieses unmittelbar intuitive Verstehen nicht mehr vorauszusetzen – auch wenn die Sehnsucht noch so groß ist, eine solche als Kind vermisste Innigkeit doch noch „haben“ zu wollen.

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Welche Psychotherapie ist hilfreich und wie finde ich einen Psychotherapeuten?

Als ambulante Krankenkassenleistung sind drei Psychotherapiemethoden zugelassen: – Psychoanalytische Psychotherapie – Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie – Verhaltenstherapie In der Praxis unterscheiden sich alle Therapiemethoden weit weniger als in der Theorie – sieht man einmal ab von der psychoanalytischen Behandlung in der klassischen Form mit mehreren Sitzungen pro Woche, bei der der Patient auf der Couch liegt und der Therapeut aufmerksam zuhört, aber von sich aus wenig aktiv wird. Das zurückhaltende und abwartende Verhalten des Therapeuten und der fehlende Blickkontakt wird von Patienten mit Borderline-Problemen eher verunsichernd als hilfreich erlebt. Bei einer tiefenpsychologisch fundierten Therapie liegt der Schwerpunkt mehr im Erkennen und Nachfühlen innerseelischer und lebensgeschichtlicher Zusammenhänge, während bei einer Verhaltenstherapie das Ausprobieren neuer Handlungsmöglichkeiten stärker im Vordergrund steht. Borderline-Patienten profitieren mehr von einem aktiv-strukturierenden Therapiestil, weil sie Schwierigkeiten haben, ihre Gefühle und Eindrücke zu sortieren und sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Zudem reagieren sie schnell verunsichert, wenn sie eine Situation nicht klar einschätzen können; sie benötigen viel Rückmeldung und eigene Kontrollmöglichkeiten über das, was in der Therapie geschieht. Wichtiger als die Schulrichtung des Therapeuten ist die Frage, ob die therapeutische Beziehung stimmt. Ein Mindestmaß an wechselseitiger Sympathie sollte ebenso vor53 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

handen sein wie gegenseitiger Respekt. Der Therapeut sollte einerseits verständnisvoll sein und auch einiges aushalten können, wenn die Wogen manchmal hochgehen, er sollte andererseits aber auch in der Lage sein, sich abzugrenzen und Kontra zu geben. Wenn das Vertrauen zum Therapeuten vor allem darauf beruht, dass dieser auf alles mit Verständnis, Nachsicht und Zustimmung reagiert, dann mag das bequem sein, ein solch übertriebenes therapeutisches Schonverhalten ist jedoch nicht produktiv. Neben ambulanten Therapieangeboten gibt es die Möglichkeit stationärer Psychotherapie in einem psychiatrischen Krankenhaus oder in speziellen Fachkliniken. Stationäre Therapie sollte jedoch die Ausnahme bleiben, zum Beispiel als Anstoßbehandlung, wenn noch kein Problembewusstsein vorhanden ist oder krisenhafte Zuspitzungen ambulant nicht mehr aufzufangen sind, etwa bei akuter Suizidgefahr. Ist noch keine ambulante Behandlung eingeleitet, sollte dies während der stationären Behandlung geschehen. Ist keine ambulante Anschlussbehandlung gewährleistet, verpufft der Therapieeffekt meist wieder schnell. Zudem ist die Gefahr groß, dass die mit der Beendigung einer stationären Behandlung verbundenen unumgänglichen Trennungen nicht vertragen werden. Basis einer erfolgversprechenden Psychotherapie ist eine tragfähige therapeutische Beziehung, die auf einen längeren Zeitraum angelegt ist. In der Regel wird von einem Mindestzeitrahmen von 2 bis 5 Jahren ausgegangen. Dies muss nicht bedeuten, dass über den gesamten Zeitraum gleichbleibend häufige Kontakte notwendig sind. Das Prinzip „Viel hilft viel“ entspricht vielleicht der subjektiv erlebten Bedürftigkeit, es wirkt sich jedoch letztlich nachteilig aus, wenn sich das Leben zu sehr auf die Therapie zentriert und zu starke Abhängigkeiten entstehen. Wichtiger als die Häufigkeit der Kontakte ist die Konstanz und Verlässlichkeit der therapeutischen Beziehung, die 54 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Sicherheit, jemandem im Rücken zu haben, der im Notfall Halt und Orientierung gibt. Die praktische Umsetzung einer auf längere Sicht angelegten Therapie ist dadurch erschwert, dass man von der Krankenkasse immer nur begrenzte Stundenkontingente bewilligt bekommt, die immer wieder neu beantragt und durch einen Gutachter bewilligt werden müssen. Die derzeit für die Kassenbehandlung gültigen Psychotherapierichtlinien berücksichtigen leider zu wenig die Besonderheiten der Borderline-Therapie. Die größte Hürde besteht darin, überhaupt einen Psychotherapeuten zu finden. Die regionalen Unterschiede im psychotherapeutischen Versorgungsangebot sind erheblich. Aber auch bei einem ausreichenden Angebot an niedergelassenen Psychotherapeuten ist es oft ein langer Weg, bis ein Psychotherapieplatz gefunden ist. Den Hausarzt, einen niedergelassenen Psychiater oder den örtlichen Sozialpsychiatrischen Dienst zu bitten, bei der Vermittlung eines geeigneten Psychotherapeuten behilflich zu sein, ist wahrscheinlich weniger mühsam und erfolgversprechender, als sich von der Krankenkasse eine Liste der niedergelassenen Psychotherapeuten zu besorgen, um dann telefonisch nach einem freien Therapieplatz zu fragen. Psychotherapeuten haben in der Regel eine Warteliste, die ihnen die Möglichkeit gibt, bei den nachrückenden Patienten in einem gewissen Rahmen auszuwählen. Da sie allein und ohne Hilfspersonal arbeiten und von ihnen Stunde um Stunde konzentriertes und einfühlsames Zuhören erwartet wird, müssen sie – um über die Runden zu kommen – mit ihrer psychischen Energie achtsam umgehen. Patienten mit Borderline-Merkmalen gelten wegen ihrer heftigen Emotionalität als eher schwierig, befürchtet werden häufige Krisen mit schwer einschätzbaren Selbstgefährdungsrisiken, die erforderliche Langzeittherapie bindet den Therapeuten zudem auf lange Sicht. Dies 55 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

macht die vorsichtig-zurückhaltende Haltung gegenüber dieser Patientengruppe verständlich. Dennoch erleben viele Therapeuten die Arbeit mit Borderline-Patienten auch als spannende Herausforderung. Jede Seite – der Therapeut wie der Patient – muss für sich prüfen und entscheiden, „ob man miteinander kann und will“. Um dies zu klären und gegebenenfalls mehrere Therapeuten kennen zu lernen, stehen jedem Patienten insgesamt 5 Probesitzungen zur Verfügung. Selbstverständlich steht jedem Patenten das Recht zu, auch im weiteren Verlauf die Behandlung zu beenden und einen Therapeutenwechsel vorzunehmen. Dies sollte man sich jedoch gut überlegen, mit dem Therapeuten besprechen und nicht aus einem spontanen Affekt heraus entscheiden. Wie bei allen wichtigen Entscheidungen sollten impulsiv veranlagte Menschen auch in einem solchen Fall mindestens eine Nacht darüber schlafen und möglichst mit einer vertrauten Person darüber sprechen. In jedem Fall sollte man sich klar darüber sein, dass für eine erfolgreiche Psychotherapie ein langer Atem notwendig ist.

Möglichkeiten der Selbsthilfe

Ob mit oder ohne Psychotherapie: Weiter kommt nur, wer sich aktiv und selbstverantwortlich auf den Weg macht. Was kann man für sich tun, wenn die Entscheidung gefallen ist, die Sorge um das eigene Wohlergehen zur eigenen Sache zu machen? Die zugleich schwierigste und wichtigste Aufgabe liegt sicherlich darin, sich so anzunehmen, wie man ist. Das 56 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Bemühen um Selbstakzeptanz ist die Voraussetzung für Veränderung. Wer sich selbst ständig abwertet, dem bleibt keine Kraft für Veränderung, der dreht sich im Kreis, versinkt in Selbstmitleid und Anklage. Wer sich leicht überreizt und erschöpft fühlt, der sollte versuchen herauszufinden, welche wiederkehrenden Stresssituationen er meiden kann. Bestimmten Aufgaben, Erwartungen und Konfliktbereichen auszuweichen, entspricht vielleicht nicht den eigenen Leistungsansprüchen, kann jedoch die Lebensqualität deutlich verbessern. Wer emotional hochtourig läuft, der benötigt Zeiten und Orte der Entspannung und Ruhe. Hier muss jeder schauen, was auf ihn persönlich beruhigend und erholsam wirkt: vielleicht ein Spaziergang allein, ein heißes Bad, ein Tag im Bett mit eingeschaltetem Anrufbeantworter. Die Selbsthilfe liegt hier im gewohnheitsmäßigen begrenzten Rückzug. Sportliche Aktivitäten sind eine weitere gute Möglichkeit, überschüssige Spannung abzubauen und die mit intensiver körperlicher Anstrengung verbundene stimmungsaufhellende Wirkung zu nutzen. Ist durch Beruf oder sonstige Verpflichtungen der Alltag nicht strukturiert, muss man selbst für eine Tagesstruktur sorgen. Regelmäßige Tätigkeiten geben Halt und stärken das Selbstwertgefühl, auch wenn es nur darum geht, sich gesund zu ernähren und die Wohnung in Ordnung zu halten. Für den Notfall, wenn man allein nicht mehr weiter weiß und der innere Druck so stark ist, dass selbstschädigende Kurzschlusshandlungen drohen, sollte vorgesorgt werden: Gibt es jemanden, den man anrufen oder aufsuchen kann, um sich über ein Gespräch zu entlasten? Neue Wege der Selbsthilfe bietet das Internet: Unter www.borderline-community.de findet man eine seriöse Internetgemeinschaft und weiterführende Informationen zur Borderline-Persönlichkeitsstörung. Selbsthilfegruppen gibt es hier und da, aber sicherlich 57 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

noch zu wenig. Zu den bekanntesten Selbsthilfegruppen gehören die EA-Gruppen (Emotions Anonymus) – die allen offen stehen, die emotionale Schwierigkeiten haben, und nach einem ähnlichen Konzept arbeiten wie die Selbsthilfegruppen der Anonymen Alkoholiker. Ziel ist es, die Selbstverantwortlichkeit zu stärken. Daneben geht es aber auch um gemeinsame Freizeitgestaltung und andere schöne Dinge des Lebens. In der Selbsthilfe-Bewegung steckt noch viel Potenzial, insbesondere wenn sich Selbsthilfegruppen nicht nur therapeutisch verstehen, sondern auch als Interessenvertretung einer gesellschaftlich bedeutsamen Gruppe. Sie könnten auf die familiären, schulischen und beruflichen Rahmenbedingungen aufmerksam machen, die die Entstehung von Borderline-Störungen begünstigen, und sich für Bedingungen einsetzen, die für Abweichungen von der Norm des dauerbelastbaren, allseits konfliktfähigen und lebenslang veränderungsbereiten Leistungstypus Raum lassen. Handeln statt sich nur behandeln zu lassen, könnte ein Leitmotiv einer solchen Bewegung sein. Mit dem Anderssein leben zu lernen, hat somit immer zwei Zielrichtungen: zum einen im „Binnenverhältnis“ dafür Sorge tragen, dass man sich besser leiden kann, die Selbstkontrolle besser wird und der Alltag funktioniert, und zum anderen nach außen hin deutlich machen, dass nicht alle Menschen gleich sind, aber alle einen Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben.

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Die wichtigsten Borderline-Probleme im Überblick

Emotionale Instabilität Unbeständige und unberechenbare Stimmungen; von außen betrachtet: Geringfügige Anlässe lösen spontan heftige, gefühlsbetonte Reaktionen aus. „Achterbahn der Gefühle“. Schwierigkeiten mit der Spannungsregulation und Selbstkontrolle Anhaltende Zustände von körperlich und psychisch erlebter Hochspannung beeinträchtigen das alltägliche Funktionieren und führen zu verschiedensten psychosomatischen und psychischen Symptomen (Schmerzen, Schlafstörungen, psychosomatische Funktionsstörungen). Es kommt zu nur schwer kontrollierbaren impulsiven Entlastungsversuchen (Wutausbrüche, Suchtverhalten, Selbstbeschädigung, Zwänge). Geringe Frustrationstoleranz Geringste Enttäuschungen, insbesondere Zurückweisung und Kritik, lösen heftige Affekte aus – vor allem Wut. Folgen: geringes Durchhaltevermögen, Abbrüche von Beziehungen und Arbeitsverhältnissen, ständige Konflikte. Schwarz-weiß-Denken Polarisierte Denk- und Wahrnehmungsmuster schaffen in verunsichernden Situationen Klarheit und Ordnung. Emotionspsychologisch geht es um ein Notfallverhalten, womit unter Stressbedingungen auf schnelle Weise Unsicherheit, Ambivalenz und Komplexität reduziert und Verhaltensbereitschaft wiederhergestellt wird – allerdings um den Preis einer stark vereinfachten Weltsicht. Es gibt 59 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

kein Sowohl-als-Auch, sondern nur entweder – oder, gut oder böse, alles oder nichts. Negatives Selbstbild Das Selbstwertgefühl ist geprägt durch selbstabwertendes und destruktives Denken oder es schwankt zwischen Größenideen und Minderwertigkeitsgefühl. Angst vor Verlassenwerden und Alleinsein Damit zusammenhängend heftige Eifersucht, vorsorgliches Kontroll- und Manipulationsverhalten gegenüber dem Partner (oder dem Therapeuten) und nach Trennung Wut- und Rachereaktionen – unter Umständen einhergehend mit Verfolgungsverhalten (Stalking). Alleinsein fällt sehr schwer. Selbstschutz durch Projektion und Anklage Um das Gesicht zu wahren, wird vorschnell anderen Schuld zugeschrieben, konflikthafte Erlebnisse werden nach dem Opfer-Täter-Schema polarisiert, an die Stelle von Selbstverantwortlichkeit tritt die Sündenbocksuche, subjektiv oft starkes Ungerechtigkeitserleben. Vergessen und Verdrängen fallen schwer Negative Erfahrungen verlieren sich nicht mit der Zeit, sie bleiben überdauernd frisch im Gedächtnis haften, können noch nach Jahren detailliert erinnert werden, wie Wunden, die nicht heilen wollen. Gewöhnungslernen ist erschwert Alles ist immer wieder wie neu. Positive Erfahrungen hinterlassen – im Gegensatz zu negativen – wenig Spuren. Es fehlen grundlegende positive Schemata – wie Beziehungsvertrauen, Selbstwirksamkeit, Selbstwert, Selbstkontrolle –, an die lernend angeknüpft werden kann. Ständige Hochspannung erschwert differenziertes Neulernen. 60 © 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172

Probleme von Anfang an „Richtig gut war es noch nie.“ Bereits in Kindheit und Jugend Auffälligkeiten, zum Beispiel erhöhte Ängstlichkeit, Aggressivität, Impulsivität, Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörungen, Depressionen, Zwänge.

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Literaturhinweise

Wer sich näher mit den klassischen freudianischen Konzepten auseinander setzen möchte, sollte den bekanntesten Vertreter dieser Richtung, Otto F. Kernberg, lesen, zum Beispiel sein grundlegendes Werk: „Borderline-Störungen und pathologischer Narzissmus“ (Frankfurt a. M., 1978; 16. Auflage 2011). Borderline-Störungen beruhen danach wesentlich auf einer erhöhten Aggressions- und Angstbereitschaft. Durch entwicklungspsychologisch frühe Abwehrstrate-gien, insbesondere durch die polarisierende Trennung widersprüchlicher innerer Bilder und Bewertungen in nur gute und nur böse Anteile, wird die verunsichernde und möglicherweise zerstörerische Wirkung überstarker Affekte gemildert. Die ebenfalls tiefenpsychologisch orientierte Richtung der Selbstpsychologie oder Objektbeziehungstheorie betont stärker die Bedeutung gescheiterter Bindungen in der frühen Kindheit und die daraus resultierende unvollständige Entwicklung des Selbst beziehungsweise des Selbstbewusstseins. Der bekannteste Vertreter dieser Richtung ist Heinz Kohut, dessen grundlegende Arbeit unter dem Titel: „Narzissmus“ (Frankfurt a. M., 1973; 15. Auflage 2011) erschienen ist. Therapeutisch wird bei diesem Ansatz und bei seinen Weiterentwicklungen eine eher aktiv unterstützende Haltung des Therapeuten für wesentlich gehalten. Eine umfassende Übersicht über die tiefenpsychologischen Theorien und therapeutischen Konzepte findet man in dem Standardwerk von Christa Rohde-Dachser: „Das Borderline-Syndrom“ (Bern u. a., 1978; 7. Auflage 2004).

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Die verhaltenstherapeutisch orientierte Behandlung von Borderline-Störungen – insbesondere bei selbstschädigendem Verhalten – hat durch die Forschungen von Marsha Linehan entscheidende Impulse erhalten. Ihr Buch „Dialektisch-Behaviorale Therapie der Borderline-Persönlichkeitsstörung“ (München, 1996/2007) ist zu einem Standardwerk mit vielen sehr praktischen Hilfestellungen geworden. Eine Fülle von Informationen – aus psychologisch-erfahrungswissenschaftlicher Sicht – findet man in dem theorieübergreifenden Buch von Peter Fiedler: „Persönlichkeitsstörungen“ (Weinheim, 1994; 6. Auflage 2007). Zum Thema „Sexueller Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung“ sei auf den gleichlautenden Band von Ulrich T. Egle, Sven O. Hoffmann und Peter Joraschky (Stuttgart/NewYork, 3. Auflage 2004) hingewiesen. Dieser Sammelband besticht vor allem durch seine klare Orientierung an erfahrungswissenschaftlichen Forschungsergebnissen. Wer sich eingehender mit den diagnostischen Kriterien von Persönlichkeitsstörungen beschäftigen will, kann auf die ICD-10-Leitlinien zurückgreifen: „Internationale Klassifikation psychischer Störungen“ (Bern u. a., 1991).

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Thema: Borderline Ulrike Schäfer / Eckart Rüther / Ulrich Sachsse Borderline-Störungen

VamIk D. Volkan / Gabriele Ast Eine Borderline-Therapie

Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige

Strukturelle und Objektbeziehungskonflikte in der Psychoanalyse der Borderline-Persönlichkeitsorganisation

2006. 118 Seiten mit 9 Abbildungen, kartoniert ISBN 10: 3-525-46249-2 ISBN 13: 978-3-525-46249-2

Mit einem Vorwort von U. Streeck. 2. Auflage 1996. 200 Seiten, kart. ISBN 10: 3-525-45739-1 ISBN 13: 978-3-525-45739-9

Die Borderline-Störung ist eine psychische Erkrankung, die sowohl für den Betroffenen selbst als auch für seine Angehörigen eine schwierige Herausforderung darstellt. Viele Verhaltensweisen widersprüchlicher Art, starke Stimmungsschwankungen, heftige Auseinandersetzungen führen zu Belastungen und Verzweiflung. Verlustängste und reale Trennungserfahrungen sind oftmals die Folge.

Diagnostik und Behandlung einer Borderline-Persönlichkeitsorganisation werden in diesem Buch ausführlich dargelegt bis hin zur Diskussion des bemerkenswerten Therapieerfolgs.

Der Ratgeber informiert über das Erkrankungsbild, mögliche Ursachen und Behandlungsstrategien. Selbsthilfe, verschiedene Therapieformen, der Einsatz von Medikamenten und Umgangsmöglichkeiten für die Angehörigen stehen im Mittelpunkt.

Stavros Mentzos / Alois Münch (Hg.) Borderline-Störung und Psychose Forum der Psychoanalytischen Psychosentherapie, Band 5. 2. Auflage 2003. 102 Seiten mit 3 Abbildungen, kartoniert ISBN 10: 3-525-45106-7 ISBN 13: 978-3-525-45106-9 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der BorderlineStörung und der Psychose werden herausgearbeitet.

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525462171 — ISBN E-Book: 9783647462172