Gesammelte Werke. Band 7 Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie: 1. Teil: Das Werk; 2. Teil: Ergänzende Texte [Reprint 2012 ed.] 9783110916393, 9783484641075

Volume 7 of the Collected Works of Roman Ingarden bears the title "On the Foundations of Epistemology" and con

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German Pages 718 [720] Year 1996

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Gesammelte Werke. Band 7 Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie: 1. Teil: Das Werk; 2. Teil: Ergänzende Texte [Reprint 2012 ed.]
 9783110916393, 9783484641075

Table of contents :
Vorwort
Einleitung des Herausgebers
Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie
1. Teil: Das Werk
§1. Einleitende Bemerkungen
§ 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie
I. Die psychophysiologische Erkenntnistheorie
§ 3. Einführung in das Problem
§ 4. Die vorepistemologischen Überzeugungen und die Geburt des Erkenntnisproblems
§ 5. Das Untersuchungsobjekt und das Ziel der psychophysiologischen Erkenntnistheorie
§ 6. Die Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie
II. Kritik der psychophysiologischen Erkenntnistheorie
§ 7. Einige Einwände gegen die Bestimmung ihres Forschungsgebietes
§ 8. Das Problem der Erkenntnis der Dinge der materiellen Welt auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie
§ 9. Die Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung des vollständigen Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie
§ 10. Eine allgemeine Charakterisierung der Weisen, wie auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie die Lösung des Objektivitätsproblems der sinnlichen Wahrnehmung begründet wird
§11. Die Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie
§ 12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie
§ 13. Der Übergang zum erkenntnistheoretischen Idealismus
§ 14. Der Standpunkt des erkenntnistheoretischen Idealismus und seine Begründung auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie. Kritik
§ 15. Der realistische Skeptizismus und seine Kritik
§ 16. Die pragmatistische Lösung des Problems der Objektivität der Wahrnehmung (allgemeiner: der Erkenntnis) und ihre Kritik
§ 17. Erkenntnisbeziehung und Kausalzusammenhang
§ 18. Das Problem von der Erkenntnis der Objekte der Mathematik auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie.
§ 19. Das Problem der Erkenntnis der eigenen psychischen Erlebnisse auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie
§ 20. Ergebnisse der Kritik der psychophysiologischen Erkenntnistheorie
III. Zweiter Bestimmungsversuch des Forschungsgebietes der Erkenntnistheorie. Die deskriptive Phänomenologie der Bewußtseinserlebnisse und deren Korrelate
§ 21. Schwierigkeiten bei der neuen Bestimmung des Forschungsgebietes der Erkenntnistheorie
§ 22. Der Erkenntnisakt und der psychische Prozeß als Erscheinung des Lebens des psychophysischen Individuums
§ 23. Das Erkenntnissubjekt und der erkennende Mensch
§ 24. Die Bestimmung des Forschungsgebiets der deskriptiv-phänomenologischen Erkenntnistheorie und ihrer Methode
§ 25. Einwände gegen die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie
IV. Die Erkenntnistheorie als die Phänomenologie des “Wesens” der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate
§ 26. Das Problem der “eidetischen” Erkenntnis und ihrer Verwendung in der Erkenntnistheorie
Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie. 2. Teil: Ergänzende Texte
I. Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie. Unvollendete Forsetzung des ersten Teils ()1971
Ingardens Gliederungsentwurf für den 2. Teil
Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie, 2. Teil
§ 29. Verschiedene Gruppen von Problemen der Ontologie der Erkenntnis
§ 30. Die Erkenntniskategorien
II. Ergänzende Texte aus früheren Redaktionen
A. Fortsetzungsteil der 1. Redaktion (1926)
§ 9. Das Verhältnis zwischen dem Erkennen und dem Erkenntnisgegenstand
§ 10. Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der erkenntnismäßigen Bewußtseinserlebnisse. Die Gruppen von Problemen
B. 2. Teil der Redaktion n/HI (1931-46?)
IV. Kapitel: Die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie und ihre Kritik
§ 20. Die Bestimmung des Forschungsgegenstandes und der Methode dieser Theorie
§ 21. Einwände gegen die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie
V. Kapitel: Die apriorisch-phänomenologische Erkenntnistheorie
§ 22. Über die apriorische Erkenntnis, die Ideen und das Wesen des Gegenstandes
§ 23. [die Erkenntnistheorie als Phänomenologie des Wesens der Erkenntnisbeziehungen sowie deren Elemente und die Erkenntnistheorie als Ontologie der Erkenntnisideen]
§ 24. Die Kritik der Erkenntnistheorie als phänomenologischer Theorie des Wesens der Erkenntnisbeziehungen und deren Elemente
§ 25. Die Erkenntnistheorie als Ontologie der Erkenntnisideen. Die reine Erkenntnistheorie und die Metaphysik der Erkenntnis (die angewandte Erkenntnistheorie)
§ 26. Das Problem der Objektivität der sinnlichen Wahrnehmung auf dem Boden der phänomenologischen angewandten Theorie der Wesenserkenntnis
C. Kleinere Fragmente
Aus der II. Redaktion (1932-38)
Fragment 1: [Zur Erkenntnis des eigenen Leibes]
Aus der IV. Redaktion (1947/48)
Fragment 2: § 17. Die Postulate, die bei einem neuen Bestimmungsversuch des Gegenstandes der Erkenntnistheorie zu erfüllen sind
Fragment 3: [Die innere Erfahrung und die immanente Erfahrung]
Fragment 4: § 20. Das reine Subjekt und das psychophysische Individuum (insbesondere die menschliche Person)
Fragment 5: [Die Notwendigkeit der phänomenologischen Reduktion in der Erkenntnistheorie]
Anhang
1. Quellenangaben und editorische Richtlinien
2. Literaturverzeichnis
3. Personenregister

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ROMAN INGARDEN Gesammelte Werke

ROMAN INGARDEN Gesammelte Werke

Herausgegeben von Rolf Fieguth und Guido Küng

Band 7.1

Max Niemeyer Verlag Tübingen

ROMAN INGARDEN Gesammelte Werke

Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie 1. Teil: Das Werk

Herausgegeben und übersetzt Wfodzimierz Galewicz

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ingarden, Roman: Gesammelte Werke / Roman Ingarden. Hrsg. von Rolf Fieguth und Guido Küng. -Tiibingen : Niemeyer. NE: Fieguth, Rolf [Hrsg.]; Ingarden, Roman: [Sammlung] Bd. 7. Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie / hrsg. und übers, von Wtodzimierz Galewicz. Teil 1. Das Werk. - 1996 NE: Galewicz, Wtodzimierz [Hrsg.] ISBN 3-484-64107-X ® Max Niemeyer Verlag GmbH ft Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck, Darmstadt Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Roman Ingarden, Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie Inhalt des 1. Halbbandes Vorwort Einleitung des Herausgebers

XI ΧΠΙ

Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie 1. Teil: Das Werk § 1. Einleitende Bemerkungen § 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie I. Die psychophysiologische Erkenntnistheorie § 3. Einführung in das Problem § 4. Die vorepistemologischen Überzeugungen und die Geburt des Erkenntnisproblems § 5. Das Untersuchungsobjekt und das Ziel der psychophysiologischen Erkenntnistheorie § 6. Die Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie

3 6 21 21 25 35 40

II. Kritik der psychophysiologischen Erkenntnistheorie 48 § 7. Einige Einwände gegen die Bestimmung ihres Forschungsgebietes 48 § 8. Das Problem der Erkenntnis der Dinge der materiellen Welt auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie... 57 § 9. Die Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung des vollständigen Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie 69 §10. Eine allgemeine Charakterisierung der Weisen, wie auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie die Lösung des Objektivitätsproblems der sinnlichen Wahrnehmung begründet wird 78

VI

Inhaltsverzeichnis

§11. Die Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie 79 § 12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie 90 § 13. Der Übergang zum erkenntnistheoretischen Idealismus 149 § 14. Der Standpunkt des erkenntnistheoretischen Idealismus und seine Begründung auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie. Kritik 151 § 15. Der realistische Skeptizismus und seine Kritik 156 § 16. Die pragmatistische Lösung des Problems der Objektivität der Wahrnehmung (allgemeiner: der Erkenntnis) und ihre Kritik 158 § 17. Erkenntnisbeziehung und Kausalzusammenhang 175 § 18. Das Problem von der Erkenntnis der Objekte der Mathematik auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie. 189 § 19. Das Problem der Erkenntnis der eigenen psychischen Erlebnisse auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie 217 § 20. Ergebnisse der Kritik der psychophysiologischen Erkenntnistheorie 222 III. Zweiter Bestimmungsversuch des Forschungsgebietes der Erkenntnistheorie. Die deskriptive Phänomenologie der Bewußtseinserlebnisse und deren Korrelate 231 § 21. Schwierigkeiten bei der neuen Bestimmung des Forschungsgebietes der Erkenntnistheorie 231 § 22. Der Erkenntnisakt und der psychische Prozeß als Erscheinung des Lebens des psychophysischen Individuums 233 § 23. Das Erkenntnissubjekt und der erkennende Mensch 252 § 24. Die Bestimmung des Forschungsgebiets der deskriptivphänomenologischen Erkenntnistheorie und ihrer Methode 261 § 25. Einwände gegen die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie 263

Inhaltsverzeichnis

VII

a) Der Einwand einer zu engen Bestimmung ihres Forschungsgebiets 263 b) Der Einwand einer zu einseitigen Verstehensweise der Forschungsmethode der deskriptiv-phänomenologischen Erkenntnistheorie 265 c) Kann die phänomenologische deskriptive Erkenntnistheorie eine Wissenschaft sein, die eine Kritik des Wertes aller wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnis möglich macht? 268 IV. Die Erkenntnistheorie als die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate 275 § 26. Das Problem der "eidetischen" Erkenntnis und ihrer Verwendung in der Erkenntnistheorie 275 a) Die Erkenntnis a priori bei Kant und die Erkenntnis a priori nach Husserl 277 b) Worauf kann sich die "eidetische" Erkenntnis beziehen? 297 c) Die Erkenntnis der idealen Qualitäten (reinen Spezies) 322 d) Analyse der Erkenntnis der Ideengehalte 362

vm

Inhaltsverzeichnis

Roman Ingarden, Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie Inhalt des 2. Halbbandes Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie 2. Teil: Ergänzende Texte 1. Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie. Unvollendete Fortsetzung des ersten Teils (1971) Ingardens Gliederungsentwurf für den 2. Teil Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie, 2. Teil § 29. Verschiedene Gruppen von Problemen der Ontologie der Erkenntnis § 30. Die Erkenntniskategorien II. Ergänzende Texte aus früheren Redaktionen A. Fortsetzungsteil der 1. Redaktion (1926) § 9. Das Verhältnis zwischen dem Erkennen und dem Erkenntnisgegenstand § 10. Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der erkenntnismäßigen Bewußtseinserlebnisse. Die Gruppen von Problemen

403 405 405 443

461 461

484

B. 2. Teil der Redaktion Π/ΙΠ (1931^6?) 540 IV. Kapitel: Die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie und ihre Kritik 540 § 20. Die Bestimmung des Forschungsgegenstandes und der Methode dieser Theorie 540 § 21. Einwände gegen die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie 541 V. Kapitel: Die apriorisch-phänomenologische Erkenntnistheorie... 556 § 22. Über die apriorische Erkenntnis, die Ideen und das Wesen des Gegenstandes 556 § 23. [die Erkenntnistheorie als Phänomenologie des Wesens der Erkenntnisbeziehungen sowie deren Elemente und die Erkenntnistheorie als Ontologie der Erkenntnisideen] 586

IX

Inhaltsverzeichnis

§ 24. Die Kritik der Erkenntnistheorie als phänomenologischer Theorie des Wesens der Erkenntnisbeziehungen und deren Elemente 588 § 25. Die Erkenntnistheorie als Ontologie der Erkenntnisideen. Die reine Erkenntnistheorie und die Metaphysik der Erkenntnis (die angewandte Erkenntnistheorie) 592 § 26. Das Problem der Objektivität der sinnlichen Wahrnehmung auf dem Boden der phänomenologischen angewandten Theorie der Wesenserkenntnis 597 C. Kleinere Fragmente Aus der II. Redaktion (1932-38) Fragment 1: [Zur Erkenntnis des eigenen Leibes] Aus der IV. Redaktion (1947/48)

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Fragment 2: § 17. Die Postulate, die bei einem neuen Bestimmungsversuch des Gegenstandes der Erkenntnistheorie zu erfüllen sind.. 636 Fragment 3: [Die innere Erfahrung und die immanente Erfahrung] 638 Fragment 4: § 20. Das reine Subjekt und das psychophysische Individuum (insbesondere die menschliche Person) 649 Fragment 5: [Die Notwendigkeit der phänomenologischen Reduktion in der Erkenntnistheorie] 654 Anhang 1. Quellenangaben und editorische Richtlinien 2. Literaturverzeichnis 3. Personenregister

657 663 667

XI

Vorwort Der hier unter dem Titel Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie vorgelegte Band 7 der Gesammelten Werke Roman Ingardens folgt den 1994 als Band 6 herausgegebenen Frühen Schriften zur Erkenntnistheorie und setzt somit die Herausgabe der erkenntnistheoretischen Werke des polnischen Phänomenologen fort. Die vorliegende Veröffentlichung gliedert sich in zwei Halbbände. Im ersten Halbband wird als Grundtext der noch vom Verfasser selbst in seinen letzten Lebensjahren zum Druck vorbereitete und 1971 erschienene 1. Teil seines Werkes Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie ( Upodstaw teorii poznania) in deutscher Übersetzung wiedergegeben. Der zweite Halbband bringt einige dazugehörende Ergänzende Texte. Es handelt sich dabei einerseits um das von Ingarden nachgelassene und in polnischer Originalversion 1995 edierte Anfangsstück des geplanten 2. Teils seines Werkes, andererseits um eine Auswahl von (hier erstmalig veröffentlichten) Fragmenten und größeren Textstücken aus früheren Redaktionen des Grundtextes, die bis auf die ersten Jahre von Ingardens selbständiger Forschungs- und Lehrtätigkeit zurückreichen. Alle in diesem Doppelband versammelten Texte sind vom Herausgeber aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt worden. Die detaillierten Quellenangaben zu den im vorliegenden Band veröffentlichten Texten sowie die Informationen über die Prinzipien der Textgestaltung sind im textkritischen Anhang vorhanden. Es findet sich dort auch ein Literaturverzeichnis, nach welchem die bibliographischen Nachweise in der Einleitung des Herausgebers wie auch in den Anmerkungen zu den Texten Ingardens gegeben werden. Bei der editorischen Bearbeitung wurden im vorliegenden Band grundsätzlich die gleichen Maximen und Maßnahmen verwendet wie im vorhergehenden 6. Band der Gesammelten Werke Ingardens. Alle Anmerkungen des Herausgebers finden sich also in den Fußnoten unten auf der jeweiligen Seite. Sie stehen dann - im Unterschied zu Anmerkungen des Verfassers - immer in eckigen Klammern. In eckige Klammem werden auch alle Zusätze des Herausgebers gesetzt, die innerhalb der Fußnoten des Verfassers erscheinen (wie zusätzliche bibliographische Angaben usw.).

XII

Vorwort

Zum Schluß bleibt dem Herausgeber die angenehme Pflicht, all denjenigen zu danken, die bei den Arbeiten am vorliegenden Band mitgeholfen haben. Ganz besondere Anerkennung gebührt den beiden Mitarbeitern, Patrick Büchel und Arkadiusz Chrudzimski. Ohne P. Büchels unermüdliche Korrekturen würde das Endergebnis dieser ein wenig riskanten Übertragung von Ingardens epistemologischen Analysen und Argumentationen aus seinem (nicht immer beeindruckend schönen und klaren) Polnischen ins Deutsche hie und da bestimmt noch gewaltsamer gegen das Sprachempfinden eines deutschsprachigen Lesers verstoßen. A. Chrudzimski hat eine Vielzahl von Manuskripten zu früheren Redaktionen des hier edierten Werkes gesichtet und bei der Auswahl der im 2. Halbband aufgenommenen Ergänzenden Texte geholfen; er hat auch viele bibliographische Angaben zusammengetragen sowie das Namenregister erstellt. Darüberhinaus haben zum Gelingen des Bandes in der einen oder anderen Form dankenswerterweise beigetragen: C. Blättler, Prof. R. Fieguth, R. Graf, Prof. G. Küng, lie. phil. M. Lanczkowski, R. Majkowska (vom Archiv der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Krakau) und Prof. A. Wçgrzecki. Wie die vohergehenden Bände dieser Edition, hätte auch dieser ohne eine großzügige finanzielle Unterstützung des Schweizerischen Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung nicht erscheinen können.

XIII

EINLEITUNG DES HERAUSGEBERS §1 Roman Ingardens Werk Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie (U podstaw teorii poznania) bildete den größten und grundlegenden Teil des gleichnamigen Buches, das 1971 als der letzte noch vom Verfasser selbst zum Druck vorbereitete Band seiner "Philosophischen Werke" erschienen ist.1 Dieses letzte Werk Ingardens kann jedoch im Ganzen keinesfalls als sein Alterswerk angesehen werden. Die Arbeit an diesem Buch, das allerdings längere Zeit als "Die methodologische Einleitung in die Erkenntnistheorie" betitelt sein sollte und erst verhältnismäßig spät, vielleicht sogar "im letzten Augenblick" seinen endgültigen Titel erhielt, reicht vielmehr bis auf die ersten Jahre von Ingardens philosophischer Laufbahn zurück. Wie wir es schon in unserer Einleitung zu Ingardens Frühere Schriften zur Erkenntnistheorie geschildert haben, standen diese Anfänge der selbständigen philosophischen Entwicklung des polnischen Husserl-Schülers ganz im Zeichen der Erkenntnistheorie. Nachdem Ingarden in (1925b) die Unabhängigkeit aller nicht-epistemologischen Disziplinen, darunter auch der Ontologie, von der Epistemologie dargelegt hatte, tat sich ihm freilich ein verlockendes Feld von rein ontologischen Untersuchungen auf, denen er sich auch tatsächlich zugewendet hat. Dies bedeutete indes keineswegs eine Abwendung von der Erkenntnistheorie überhaupt und von der Ingarden ganz speziell beschäftigenden Methodologie der erkenntnistheoretischen Forschung insbesondere. Wie stark dieser Problemkreis den frisch habilitierten Philosophen nach wie vor interessierte, bezeugen

Vgl. Ingarden (1971). Außer diesem grundlegenden Teil enthält der genannte Band polnische Versionen von fünf kleineren erkenntnistheoretischen Arbeiten des Verfassers: "Über die Gefahr einer petitio principii in der Erkenntnistheorie", "Über die Stellung der Erkenntnistheorie im System der Philosophie", "O poznawaniu cudzych stanów psychicznych" [Vom Erkennen des Fremdpsychischen], "Bemerkungen zum Problem der Begründung" und "Betrachtungen zum Problem der Objektivität" (vgl. die Positionen 1921a, 1925b, 1947, 1962 und 1967 in der am Ende des 2. Halbbandes angegebenen Bibliographie). Von diesen fünf Aufsätzen sind die zwei ersten im Rahmen der vorliegenden Ausgabe von Ingardens Gesammelten Werken schon in den Band Frühe Schriften zur

Erkenntnistheorie

(vgl. Ingarden 1994) aufgenommen worden. Die Herausgabe der drei weiteren muß einem anderen Band vorbehalten bleiben.

XIV

Einleitung des Herausgebers

die Themen seiner Vorlesungen, die er damals an der Universität Lemberg gehalten hat. So las Ingarden im WS 1925/26 über die "Hauptrichtungen der gegenwärtigen Erkenntnistheorie"2; im SS 1925/26 hielt er Vorlesungen unter dem Titel "Einleitung in die Erkenntnistheorie"3, die er auch 1929/30 wiederholt hat, und 1926/27 sprach er u. a. über das "Problem der Objektivität der äußeren Wahrnehmung". Die I. Redaktion dieser "Methodologischen Einleitung" ist schon 1926 entstanden. In den folgenden Jahren glaubte Ingarden, sein Werk bald zur Publikationsreife bringen zu können.4 Tatsächlich gelangte jedoch damals nur ein umfangreiches Anfangsstück seiner Arbeit zur Veröffentlichung, das 1930 als Aufsatz unter dem Titel "Psycho-fizjologiczna teoria poznania i jej

Nach dem im Ingarden Archiv in Krakau noch erhaltenen Programm sollte diese Vorlesung folgende Themenbereiche umfassen: "1. Der Niedergang des deutschen Idealismus; eine Krise in der Philosophie; Übertragung von Methoden der Naturwissenschaft auf die Philosophie. 2. Der Standpunkt des Positivismus: Comte, Spencer, J. St. Mill, Laas. 3. Der Empiriokritizismus: Avenarius, Mach. 4. Die unter Kants Einfluß stehenden Richtungen: a) die metaphysische Richtung: Liebmann, Volket; b) die Marburger Schule: Cohen, Natorp; c) die süddeutsche Schule: Windelband, Rickert, Lask; d) die psychologische Richtung: Nelson und die neufriesianische Schule. 5. Der Pragmatismus: W. James. 6. Der Intuitionismus: H. Bergson. 7. Die Quellen der Phänomenologie: Bolzano, Lotze, Frege, Brentano, Twardowski. 8. Die phänomenologische Erkenntnistheorie: Husserl und seine Gruppe. 9. Die neusten neurealistischen Richtungen (vgl. Anmerkung des Herausgebers in Ingarden (1995), S. 53)." Im Rahmen dieser Vorlesungen sollen folgende Themen besprochen worden sein: "1. Der Gegenstand der reinen und der angewandten Erkenntnistheorie: a) Phänomenologie der Erkenntnis, b) Kritik der Erkenntnis. 2. Das Ziel der beiden Theorien. 3. Welche Erkenntnismittel muß die Erkenntnistheorie zur Verfügung haben, um ihr Ziel zu erreichen? 4. Die Gefahr einer petitio principii beim Erkennen von Erkenntnisakten und die Möglichkeit, sie zu vermeiden. 5. Die Gefahr einer petitio principii beim Erkennen des Erkenntniswertes der Erkenntnisse, die sich auf transzendente Gegenstände beziehen. 6. Ein Spezialfall des vorangehenden [Problems]: die äußere Wahrnehmung und der Weg, ihre Objektivität zu gewinnen. 7. Die Idee einer konstitutiven Problematik. 8. Die Stellung der Erkenntnistheorie im System der philosophischen Wissenschaften." (vgl. die vorige Anmerkung). Er war hierin so zuversichtlich, daß er sogar in seinen anderen Arbeiten (vgl. die erst in Ingarden (1995) aus dem Nachlaß edierten Lemberger Vorlesungen zum Problem der Objektivität der sinnlichen Wahrnehmung, S. 178) auf diese "Einleitung" in einer Weise verwies, als ob sie bereits veröffentlicht wäre.

Einleitung des Herausgebers

XV

krytyka" [Die psycho-physiologische Erkenntnistheorie und ihre Kritik] erschien.5 In den dreißiger und vierziger Jahren hat Ingarden ein paar weitere Redaktionen des geplanten Werkes abgefaßt, indem er die jeweils früheren Versionen zum Teil übernommen, zum Teil überarbeitet und erweitert hat.6 Die Vollendung seines Buches und die Realisierung seiner Publikationspläne wurden jedoch aus diesen oder anderen Gründen immer wieder aufgeschoben. In der Vorrede zur Ausgabe von 1971 erzählt davon Ingarden: "Im Jahre 1948 glaubte ich, die Sache sei so weit vorangekommen, daß ich die ganze Einleitung vollenden können würde. Ich habe somit in der Breslauer Wissenschaftlichen Gesellschaft einen Vortrag gehalten.7 Der wissenschaftliche Sekretär dieser Gesellschaft wollte, daß ich das Ganze zum Druck abgebe, wichtige persönliche Angelegenheiten haben mich jedoch gezwungen, dies zu verzögern. Als ich mich im Frühling 1949 an die Breslauer Wissenschaftliche Gesellschaft mit der Frage gewendet habe, ob ich das Manuskript zuschicken könne, habe ich erfahren, daß die Publikation nicht erscheinen konnte. Der Plan ist für viele Jahre gefallen. Als ich nach dem Erscheinen mehrerer anderer Bücher den Gedanken gefaßt habe, dieses Buch dennoch letztlich zum Abschluß zu bringen, hat es sich herausgestellt, daß eine teilweise völlig neue Redaktion entstanden ist."®

Diese "teilweise völlig neue", schon fünfte Redaktion war es, die die Grundlage für die Ausgabe von 1971 bildete. Ingarden hat an dieser Redaktion in seinen letzten Jahren gearbeitet. Diese Arbeit wurde jedoch durch seinen Tod 1970 abgebrochen, ist also auch dieses letzte Mal eigentlich nicht zum Abschluß gekommen. Der in der Ausgabe von 1971 unter dem Titel Zur Grundlegung

der Erkenntnistheorie

erschienene Grundtext bildete nach

Vgl. Ingarden (1930). Nach Ingardens eigener Angabe in der Vorrede zur Ausgabe von 1971, S.7 bildete dieser Aufsatz das I. Kapitel seiner "Einleitung". Für weitere Informationen zur I. Redaktion vgl. unseren textkritischen Anhang, weiter unten S. 657/8. So schreibt Ingarden in (1964/65), S. VIII: "In den dreißiger Jahren habe ich auch an einer bisher noch nicht veröffentlichten Schrift unter dem Titel "Einleitung in die Erkenntnistheorie" gearbeitet, deren Zweck es war, nicht bloß die erkenntnistheoretische Problematik in ihrem charakteristischen Sinn zu klären, sondern auch die prinzipielle Möglichkeit der Erkenntnistheorie in ihren berechtigten Grenzen aufzuweisen". Eine kurze Zusammenfassung dieses Vertrags ist in demselben Jahre unter dem Titel "Metodologiczny wstçp do teorii poznania" [Methodologische Einleitung in die Erkenntnistheorie] erschienen; vgl. Ingarden (1948). Ingarden (1971), S.7, Anm.

XVI

Einleitung des Herausgebers

Ingardens Plänen nur den 1. Teil seines Werkes, dem noch ein zweiter Teil angeschlossen werden sollte. Von diesem zweiten Teil hat jedoch der Verfasser nur zwei erste Paragraphen niedergeschrieben, die erst in Ingarden (1995) aus dem Nachlaß herausgegeben worden sind.9 Einen Einblick in die Thematik der weiteren geplanten Paragraphen des 2. Teils seines Werkes gewährt der in Ingardens Nachlaß erhaltene Gliederungsentwurf, der im 2. Halbband der vorliegenden Ausgabe10 wiedergegeben wird. §2 Ingardens "methodologische Einleitung" in die Erkenntnistheorie setzt mit einer Skizze der Genealogie des Erkenntnisproblems ein. Die erkenntnistheoretische Reflexion stellt für Ingarden eine Art unmittelbare Fortsetzung der natürlichen Erkenntnis dar. In der alltäglichen und wissenschaftlichen Erkenntnis, die wir in natürlicher Einstellung vollziehen, unterliegen wir verschiedenen Täuschungen und Irrtümern. In manchen Fällen erkennen wir auch nachträglich, daß wir uns getäuscht haben. Diese entlarvten täuschenden Erkenntnisse sind es, die uns gewöhnlich den ersten Impuls geben, erkenntnistheoretische Untersuchungen in Angriff zu nehmen. Denn sie stellen uns vor die Frage - zu der wir allerdings ebenfalls über andere Wege kommen können - , inwiefern die von uns im Alltagsleben und in der Wissenschaft erzielte Erkenntnis objektiv ist. Die Frage nach der Objektivität der Erkenntnis gilt Ingarden als das erkenntnistheoretische Grundproblem. Die Methode der Erkenntnistheorie muß so bestimmt werden, daß dieses Problem gelöst werden kann. Diese richtige Bestimmung läßt sich aber nach Ingarden nicht direkt und sofort angeben. Sie muß vielmehr auf dem Umweg über eine Kritik von gewissen provisorischen Bestimmungsweisen gewonnen werden, von denen jede weitere die Wie aus Ingardens eigenen Anmerkungen hervorgeht (vgl. unten, S. 405, Anm.), sollten nach dem 26 Paragraphen umfassenden 1. Teil als weitere §§27 und 28 seine zwei früheren Aufsätze "Über die Gefahr einer petitio principii in der Erkenntnistheorie" und "Über die Stellung der Erkenntnistheorie im System der Philosophie" (vgl. Ingarden 1921a und 1925b; vgl. auch oben, Anm. 1) aufgenommen werden. Dementsprechend hat Ingarden beide von ihm noch abgefaßten Paragraphen der unvollendeten Fortsetzung als §29 und §30 numeriert. 10

Vgl. unten, S.403f.

XVII

Einleitung des Herausgebers

Fehler und Schwierigkeiten der vorangehenden zu umgehen sucht. Ingarden zählt ein paar solche Auffassungen der Erkenntnistheorie auf, die zwar bis zu einem gewissen Grad idealisierte Typen darstellen, doch ihre mehr oder minder genauen Exemplifikationen in der Geschichte der neueren und gegenwärtigen Philosophie haben sollen. Er unterscheidet nämlich zuerst: 1) die psychophysiologische Erkenntnistheorie, 2) die deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis, 3) die apriorisch-phänomenologische

Erkenntnistheorie und 4)

die (speziell vom Neukantianismus wie auch in gewissem Maße vom Neupositivismus vertretene) logizistische Erkenntnistheorie. Als letzte Auffassung nennt Ingarden 5) die von ihm selbst postulierte autonome Erkenntnistheorie. Ingarden hatte offenbar wenigstens eine Zeitlang vor, zuerst all die von ihm unterschiedenen unzulänglichen Konzeptionen der Erkenntnistheorie kritisch zu besprechen, um dann den positiven Ertrag dieser Kritik für die Präzisierung seiner eigenen epistemologischen Meta-Theorie zu verwerten. Dieses Vorhaben wurde jedoch nur teilweise realisiert. Von den vier vollendeten Kapiteln der Ausgabe von 1971 sind die zwei ersten, die bei weitem den größten Raum ausfüllen, einer Charakterisierung und ausführlichen Zurückweisung der psychophysiologischen Erkenntnistheorie gewidmet. Im 3. Kapitel bespricht Ingarden als zweiten Bestimmungsversuch des Forschungsgebietes der Erkenntnistheorie die deskriptive Phänomenologie der Bewußtseinserlebnisse und deren Korrelate. Das letzte Kapitel ("Die Erkenntnistheorie als die Phänomenologie des 'Wesens' der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate") handelt grundsätzlich von der apriorisch-phänomenologischen Erkenntnistheorie, obwohl es natürlich auch vieles zu Ingardens "endgültigem" Konzept der autonomem Epistemologie enthält, die die apriorisch-phänomenologische Erkenntnistheorie eher ergänzen als ersetzen sollte. Die logizistische Erkenntnistheorie, die in Ingardens Sicht insofern eine schwerwiegende Einseitigkeit der auf das Bewußtsein bzw. auf das Psychische ausgerichteten Erkenntnistheorien überwinden dürfte, als sie ebenfalls (oder gar vorzugsweise) die logischen (speziell urteilsartigen) Erkenntnisergebnisse in den Blick nimmt, kommt weder hier noch anderswo (von vereinzelten Bemerkungen abgesehen) zur Darstellung. Zu einer systematischen Entfaltung seiner Idee der autonomen Erkenntnistheorie sollte der Verfasser im 2. Teil des Werkes vorstoßen, der aber - wie schon gesagt - unvollendet blieb.

XVIII

Einleitung des Herausgebers

Unter der psychophysiologischen Erkenntnistheorie versteht Ingarden diejenige Form der erkenntnistheoretischen Reflexion, die sich uns gleichsam selbst aufdrängt, wenn wir in der natürlichen Einstellung beginnen, uns über die Erkenntnisprobleme zu besinnen. Den Untersuchungsgegenstand dieser "naturgewachsenen"

Erkenntnistheorie

machen

physiologisch

bedinge

psychische Erkenntnisprozesse aus. Stellt auch die so verstandene "psychophysiologische Erkenntnistheorie" in erster Linie einen systematischen Begriff dar, so findet sie doch nach Ingarden in der Geschichte der neueren Philosophie ihre mehr oder minder ausgeprägten Realisationen. Erkenntnistheoretische Untersuchungen im Stile der Psychophysiologie sieht Ingarden ζ. B. bei manchen englischen Empiristen, von John Locke an, in gewissem Maße aber auch bei den Rationalisten des Kontinentes, von Descartes an. Nicht weit entfernt von der psychophysiologischen Erkenntnistheorie sei sogar in vielerlei Hinsicht die tatsächlich realisierte Epistemologie Kants gewesen. Als besonders klares Beispiel der psychophysiologischen Erkenntnistheorie betrachtet schließlich Ingarden die auf der Physiologie der Sinnesorgane basierende Psychologie der Erkenntnisprozesse, wie sie in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts von manchen naturwissenschaftlich ausgerichteten Philosophen (wie etwa von H. Helmholtz) betrieben wurde. Ingardens mehrere Einwände gegen die psychophysiologische Auffassung der Epistemologie gehen auf drei grundlegende zurück. Die Grundgebrechen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie, so wie diese von ihm dargestellt wird, sind nämlich: 1. eine zu enge Bestimmung ihres Forschungsbereiches, 2. ihre einseitig empiristische Methode und 3. ihr dogmatischer Charakter, der ihr nicht erlaubt, die Aufgabe einer radikalen Erkenntniskritik und insbesondere das Problem der Objektivität der Erkenntnis ohne logische Fehler zur Lösung zu bringen. Die Forschungsdomäne der psychophysiologischen Erkenntnistheorie, die sich allein auf die psychischen Erkenntniserlebnisse beschränkt, ist nach Ingarden in mehrerer Hinsicht zu eng abgesteckt. Wie er schon im ersten Entwurf seiner Kritik postuliert, muß eine Erkenntnistheorie, die ihre Problematik bewältigen soll, außerdem jedesmal wenigstens zwei Dinge umfassen: die Erkenntnisbeziehung, die zwischen dem Erkennen und dem zu erkennenden Gegenstand besteht, und das im (effektiven oder auch nur prätendierten) Erkennen erzielte Erkenntnisergebnis, das nach Ingardens betont

Einleitung des

Herausgebers

XIX

antipsychologistischer Auffassung keinen reellen Bestandteil des entsprechenden Erlebnisses ausmacht, sondern in vielen numerisch verschiedenen Erkenntnisprozessen als identisch dasselbe wiederkehren kann. Später verlangt Ingarden von einer vollständigen Erkenntnistheorie darüber hinaus, daß sie auch die erkenntnistheoretischen Grundbegriffe und Erkenntniskriterien mit einbeziehen soll. Dieser erste Einwand gegen die psychophysiologische Auffassung der Erkenntnistheorie hat wohl relativ das kleinste Gewicht. Daß die Erkenntnistheorie ebenso die Erkenntnisbeziehungen und -ergebnisse mit zu berücksichtigen hat, kann vielleicht auch der Vertreter der kritisierten Konzeption zugeben. Dieses Zugeständnis zwingt ihn noch nicht, das Gebiet der psychophysiologischen Erkenntnistheorie zu verlassen, sondern allenfalls, es zu erweitern. Was aber die Erkenntniskategorien und -kriterien betrifft, so kann man sogar antworten, es sei einigermaßen mißverständlich, sie als gleichberechtigte Objekte der Erkenntnistheorie in einer Reihe mit Erkenntnistätigkeiten, Erkenntnisergebnissen usw. zu nennen. In ähnlicher Weise könnte man ja ζ. B. in den Forschungsbereich der Arithmetik neben den Zahlen selbst auch die Begriffe von den Zahlen oder Sätze über dieselben einverleiben. Zweitens bemängelt Ingarden an der psychophysiologischen Erkenntnistheorie ihre induktiv-empirische Methode, auf die sie als physiologisch fundierte Psychologie angewiesen sei. Die Ergebnisse, die sie mit Hilfe dieser Methode erreichen kann, seien immer nur mehr oder weniger wahrscheinlich, nie aber ganz sicher. Sie könnten somit "nicht auf endgültige Weise die Bedenken zerstreuen", für deren Beseitigung die Epistemologie ins Leben gerufen wurde. "Die Forderung jedoch, daß sie sie beseitige", ergibt sich nach Ingarden "notwendigerweise aus dem Charakter des Objektivitätsproblems der Erkenntnis selbst". 11 Der angeführte Einwand birgt offenbar ein bestimmtes, "absolutistisches" Ideal der Erkenntnis, das Ingarden selbst immer vorschwebte. Ein Verteidiger der psychophysiologischen Erkenntnistheorie ist natürlich nicht genötigt, diesem Ideal zu huldigen. Er kann auch den Standpunkt vertreten, unsere Zweifel an der Objektivität der Erkenntnis, die nach Ingarden die ursprüngliche Anregung zur erkenntnistheoretischen Reflexion geben, brauchten nicht

11

Vgl. unten, S. 54.

XX

Einleitung des Herausgebers

notwendig auf absolute, nicht mehr bezweifelbare Weise gelöst werden zu können, um überhaupt lösbar zu sein. Von diesem Standpunkt aus könnte er Ingardens Kritik sogar als unfair von sich weisen: Es wäre in der Tat allzu leicht, der psychophysiologischen Erkenntnistheorie Absurditäten nachzuweisen, nachdem man ihr unerfüllbare Aspirationen unterstellt hätte. Diese Möglichkeit, seinen zweiten Einwand gegen die Methode der psychophysiologischen Erkenntnistheorie derart zu entkräften, ist auch Ingarden selbst nicht entgangen. Er zieht sie in Betracht, wenn er schreibt: "Jemand könnte aber vielleicht sagen: Wenn der empirische Charakter der Erkenntnistheorie ihr keine Möglichkeit gewährt, ganz sichere Ergebnisse zu gewinnen und alle Bedenken wegzuräumen, so müsse man das einfach zur Kenntnis nehmen und an sie keine Forderungen stellen, die sie nicht erfüllen kann. Man müsse sich mit den Ergebnissen begnügen, die in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie erreichbar sind. Wenn wir sie betreiben würden, wüßten wir immerhin mehr als ohne sie." 12

Ingarden glaubt jedoch, die so formulierte minimalistische Version der psychophysiologischen Erkenntnistheorie mit zwei Bemerkungen zurückweisen zu können. Erstens stellte sie nach ihm nichts mehr als eine Notlösung dar, zu der wir berechtigterweise nur greifen könnten, "wenn es sicher wäre, daß streng allgemeine und unzweifelhaft wahre Ergebnisse bei keiner anders beschaffenen Erkenntnistheorie erreicht werden können" (was jedoch - den eigenen Voraussetzungen der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

zufolge - nie sicher sein könne). Zweitens wäre aber der Verzicht auf das "wesentliche", d. h. maximalistische Ziel der Erkenntnistheorie "nur nützlich, wenn die psychophysiologische Erkenntnistheorie keinen anderen prinzipiellen Einwänden ausgesetzt wäre" 13 . Mit dieser Bemerkung gibt Ingarden allerdings zu, daß die "empiristische" Methode der von ihm diskutierten Konzeption der Epistemologie - ungeachtet aller Mängel, die er ihr vorhält - für sich allein bei seiner Diskussion noch nicht ausschlaggebend wäre. Der schwerwiegendste von Ingardens Einwänden gegen die psychophysiologische Erkenntnistheorie, der auch am ausführlichsten dargestellt wird, ist wohl der dritte, der ihr die widersinnigen Konsequenzen vorwirft, die sich aus ihrem natürlichen Dogmatismus ergeben. Wie die zwei vorhergehenden

12

Vgl. unten, S. 55.

13

Vgl. unten, S. 55.

Einleitung des Herausgebers

XXI

Einwände, knüpft auch dieser an die erkenntnistheoretische Hauptaufgabe an, die in der Lösung des Objektivitätsproblems der Erkenntnis besteht. Es zeigt sich nun, daß die psychophysiologische Erkenntnistheorie bei ihren dogmatischen Voraussetzungen unfähig ist, dieser Aufgabe einwandfrei nachzukommen. Und wenn sie versucht, das Objektivitätsproblem (in diesem oder jenem seiner Sonderfälle) dennoch zu lösen, dann verstrickt sie sich unvermeidlich in logische Fehler. Ingarden unterscheidet drei grundlegende Fälle des epistemologischen Objektivitätsproblems, wie sich dieses im Rahmen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie darstellt: das Objektivitätsproblem der Erkenntnis der Außenwelt (d. h. der äußeren und insbesondere der sinnlichen Wahrnehmung), das Objektivitätsproblem der inneren Wahrnehmung und das Objektivitätsproblem der Erkenntnis irrealer (insbesondere mathematischer oder logischer) Objekte. Die zwei letzten Fälle werden in (1971) in den Paragraphen 19 und 18 kurz besprochen; den größten Raum nimmt jedoch dort das erste Objektivitätsproblem in Anspruch. Ingarden kleidet das Objektivitätsproblem der Sinneswahrnehmung, so wie es auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie zu betrachten ist, in die Gestalt der Frage danach, welche der Momente, die uns in der Wahrnehmung eines Gegenstandes anschaulich gegeben sind, sei es als seine Merkmale oder als Momente seiner Form oder schließlich als seine Existenz, diesem Gegenstand auch an sich, d. h. unabhängig von der Wahrnehmung, zukommen. Bei der Beantwortung der so gestellten Frage sind nach ihm vier und nur vier erkenntnistheoretische Standpunkte möglich: 1) der "radikale" oder "vollständige" Realismus, der den objektiven An-sich-Charakter für alle anschaulich gegebenen Momente des Wahrnehmungsgegenstandes beansprucht, mithin die Wahrnehmung als in jeder Hinsicht objektiv ansieht; 2) der "kritische" oder "eingeschränkte" Realismus, der diesen Objektivitätsanspruch für einige und nur einige Momente des erscheinenden Wahrnehmungsgegenstandes erhebt; 3) der "skeptische" Realismus, nach dem die Sinneswahrnehmung nur hinsichtlich der Existenz des darin gegebenen Gegenstandes objektiv ist, während die gesamte qualitative Beschaffenheit wie auch die Form, die der Gegenstand uns in der Wahrnehmung darbietet, ganz anders sei als diejenige, die er für sich besitzt; 4) der von Ingarden selbst als "radikaler Kritizismus" (gemeinhin aber als erkenntnistheoretischer

XXII

Einleitung des

Herausgebers

"Idealismus") bezeichnete Standpunkt, wonach gar keinem der anschaulich gegebenen Momente des Wahrnehmungsgegenstandes (nicht einmal dem Moment seiner Existenz) etwas in der Wirklichkeit entspricht, d.h. die Wahrnehmung in keiner Hinsicht objektiv ist. Wie Ingarden in einer detaillierten Analyse darzulegen sucht, läßt sich jedoch keiner der genannten Standpunkte im Rahmen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie ohne logische Fehler begründen. Diese Fehler, die jedem von ihnen vorzuwerfen sind, unterlaufen der in der Psychophysiologie fundierten Erkenntnistheorie nicht zufallig, sondern ergeben sich aus deren eigenen Voraussetzungen. Die psychophysiologische Erkenntnistheorie deutet nämlich erstens die Erkenntnistätigkeiten als Äußerungen (Erscheinungen, Wirkungen) "von physiologischen Prozessen, die sich im Organismus des sie ausführenden Menschen (psychophysischen Individuums) abspielen" 14 ; zweitens setzt sie voraus, daß in diesen Tätigkeiten der psychische Charakter des erkennenden Menschen zur Erscheinung kommt. Die beiden Voraussetzungen haben weitere schwerwiegende Implikationen. Die letztere impliziert die Existenz des psychophysischen Individuums (der Person), die erstere hingegen die Existenz des menschlichen Organismus, damit aber zugleich auch die Existenz der materiellen Welt, in die der Organismus durch ein Netz von kausalen Abhängigkeiten eingewoben ist. Mit der Anerkennung dieser Implikationen wird aber auch der positive Erkenntniswert der inneren bzw. der äußeren Wahrnehmung grundsätzlich von vornherein mit anerkannt. Dies ist indes - wie Ingarden betont - zu Beginn oder im Laufe der epistemologischen Untersuchungen nicht erlaubt, weil "erst die Ergebnisse dieser Untersuchungen die Frage entscheiden sollen, ob die Sinneswahrnehmung, die innere Erfahrung und die damit verbundenen weiteren Erkenntnistätigkeiten fähig sind, uns eine echte Erkenntnis zu liefern" 15 . So verstricke sich die psychophysiologische Erkenntnistheorie bei jedem Begründungsversuch ihrer Positionen unvermeidlich in einen Zirkel oder eine petitio principii.

Als Ergebnis seiner Kritik der psychophysiologischen Erkenntnistheorie stellt Ingarden eine Reihe von Postulaten auf, die in der richtig betriebenen

14

Vgl. unten, S. 224.

15

Vgl. unten, S. 226.

Einleitung des Herausgebers

XXIII

epistemologischen Forschung zu erfüllen sind. Erstens dürfe also die Erkenntnistheorie weder die von ihr untersuchten Akte des Erkenntnissubjekts als Äußerungen oder Wirkungen von Prozessen auffassen, die im psychophysischen Individuum ablaufen, noch das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen diesen Akten und dem Erkenntnisgegenstand annehmen. Daraus ergibt sich schon das Postulat der Unabhängigkeit der Erkenntnistheorie, das es ihr verwehrt, als ihre eigenen Voraussetzungen irgendwelche Sätze von Einzelwissenschaften zu übernehmen. Ferner solle das Gebiet der Erkenntnistheorie außer den vom Subjekt vollzogenen Erkenntnisakten und dem Erkenntnissubjekt selbst auch die Erkenntnisergebnisse einschließen. Eine weitere Bedingung, besonders für die Lösung der Objektivitätsprobleme der Erkenntnis, sei die Aufklärung von erkenntnistheoretischen Grundbegriffen wie "Erkenntnisprozeß", "Erkenntnisgegenstand", "Erkenntniswert" usw. Schließlich postuliert Ingarden, daß die in der Erkenntnistheorie erzielten Resultate allgemein (d. h. auf alle Erkenntnisse einer bestimmten Art oder alle Erkenntnisse überhaupt bezogen) und definitiv (nicht provisorisch) sein sollen. Bereits in der zweiten, deskriptiv-phänomenologischen Konzeption der Erkenntnistheorie, der sich Ingarden danach zuwendet, seien die soeben zusammengestellten Postulate zu einem guten Teil erfüllt. Unter der deskriptiven Phänomenologie der Erkenntnis versteht dabei Ingarden eine mit Hilfe einer rein deskriptiven Methode (so wie sie z. B. im Rahmen der deskriptiven Psychologie Brentanos, in den Logischen Untersuchungen Husserls oder bei Kasimir Twardowski angewendet worden sei) betriebene Analyse von individuellen Erkenntnisakten des individuellen reinen Bewußtseinssubjekts. Da bei dieser Analyse (wenigstens bei Husserl) jede naturalistische Apperzeption der beschriebenen Erkenntniserlebnisse zurückgestellt wird, entgeht die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie der Gefahr einer petitio principii, der die psychophysiologische Epistemologie unausweichlich ausgesetzt ist. Nichtsdestoweniger glaubt aber Ingarden auch gegen diese Auffassung der Erkenntnistheorie wenigstens zwei schwerwiegende Einwände wiederholen zu müssen. Erstens sei nämlich ihr Forschungsbereich, der allein das reine Erkenntnissubjekt, die von diesem vollzogenen Erkenntniserlebnisse, deren gegenständliche Korrelate (Phänomene) und die Erkenntnisbeziehungen umfasse, immer noch zu eng bestimmt. Denn er schließt weder die Erkenntniser-

XXIV

Einleitung des

Herausgebers

gebnisse noch die zur Lösung des Objektivitätsproblem notwendig mit zu berücksichtigenden Erkenntniskategorien in sich ein. Zweitens sei aber auch die Methode der deskriptiv-phänomenologischen Erkenntnistheorie zu einseitig verstanden. Ingarden weist in diesem Zusammenhang zunächst darauf hin, daß in der reinen Beschreibung eines Gegenstandes (ζ. B. eines Bewußtseinserlebnisses) nur ein Komplex von anschaulich auftretenden Zügen dieses Gegenstandes angegeben wird; es bleibe aber dabei immer fragwürdig, ob dieser anschauliche Komplex über die eigene Natur des Gegenstandes genügend Aufschluß gibt oder ob er sie - im Gegenteil - gerade verdeckt. Zudem sei die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie - sofern sie in der Sphäre des Individuellen verbleibt - nicht imstande, zu den erforderten streng allgemeinen und allgemeingültigen erkenntnistheoretischen Urteilen oder Sätzen zu gelangen. Dem letzteren Mangel abzuhelfen, ist eine charakteristische Aufgabe der dritten von den "Erkenntnistheorien", die Ingarden in Betracht zieht. Das wichtigste Novum dieser "apriorisch-phänomenologischen"

Erkenntnistheo-

rie (im Unterschied zur deskriptiv-phänomenologischen) liegt in der Methode der eidetischen Erkenntnis, die Ingarden näher als die Erforschung von Ideengehalten beschreibt. Nach seiner Deutung ist allerdings diese Ideation keine einfache "Schau", wie es manchmal bei Husserl (besonders in seinen Ideen I) den Anschein haben mag. Ingarden meldet seine Bedenken bereits hinsichtlich der Möglichkeit an, die eidetische Erkenntnis z. B. eines Bewußtseinserlebnisses allein schon auf Grund der reinen Phantasie vollziehen zu können. Er neigt vielmehr dazu, als unentbehrliche Grundlage für Wesenserkenntnisse solcher Art die immanente Wahrnehmung anzusehen. Ferner erfolgt die Erkenntnis des Gehaltes einer Erkenntnisidee nach Ingarden "nicht einfach auf Grund eines Aktes der immanenten Wahrnehmung. Sie ist ohne Zweifel ziemlich kompliziert." 16 Die Notwendigkeit, die Erforschung der Idee einer bestimmten Art von Erkenntniserlebnissen auf der Grundlage vieler verschiedener immanenter Wahrnehmungen durchzuführen, bringe es schließlich mit sich, "daß uns als diese Grundlage nicht nur die aktuellen (...) immanenten Wahrnehmungen dienen müssen, sondern auch die Wahrnehmungen,

16

Vgl. unten, S. 388.

Einleitung des

Herausgebers

XXV

die sich schon früher vollzogen (...) haben" 17 . Ingarden sieht zwar die Probleme, die sich aus dieser notwendigen Teilnahme der (zugegebenermaßen nie absolut sicheren) Erinnerung an der eidetischen Erkenntnis besonders für denjenigen ergeben, der sich - so wie er selbst - von der erkenntnistheoretischen Forschung irgendwelche unbezweifelbare Ergebnisse erhofft. Trotzdem meint er, mit dem Hinweis auf die apriorische Analyse von Erkenntnisideen die Frage nach der Möglichkeit einer epistemologischen Erkenntnis, die zu streng allgemeinen Resultaten führt, positiv beantworten zu können. In dieser Antwort glaubt sich Ingarden mit "analogen Betrachtungen E. Husserls" 18 grundsätzlich einig. In Opposition zu Husserl unterscheidet er jedoch deutlich zwischen der Analyse der allgemeinen Erkenntnisideen und der Erforschung des Wesens der einzelnen Erkenntniserlebnisse. In der Redaktion II/III Β wird dieser Unterschied so stark hervorgehoben, daß er Ingarden sogar dazu veranlaßt, die Phänomenologie des Wesens der Erkenntniserlebnisse und die phänomenologische Ontologie der Erkenntnis (im Sinne der Analyse der Erkenntnisideen) als zwei verschiedene Bestimmungen des Untersuchungsgegenstandes der Erkenntnistheorie einander gegenüberzustellen, und zwar als Bestimmungen, die "weder theoretisch noch praktisch äquivalent sind" 19 . Die apriorisch-phänomenologische Bestimmung der Erkenntnistheorie ist zwar die letzte der epistemologischen Konzeptionen, die in der Ausgabe von 1971 eigens besprochen wurden, sie ist aber noch nicht Ingardens endgültige Bestimmung, wenn sie auch dieser - im Vergleich mit den vorangehenden Konzeptionen - viel näher kommt. Die von Ingarden letztendlich postulierte Gestalt der Erkenntnistheorie, die er als "autonome" Erkenntnistheorie bezeichnet, sollte im 2. Teil seines Werkes zur systematischen Darstellung gebracht werden, dieser ist aber - wie schon gesagt - nur fragmentarisch zur Ausführung gekommen. Dennoch kann dieses positive Projekt der erkenntnistheoretischen Forschung, so wie sie von Ingarden konzipiert wurde, sowohl aufgrund der im 1. Teil seines Werkes verstreuten Ansätze als auch anhand des abgefaßten Anfangsstückes des 2. Teils als schließlich im Rückgriff auf

17

Vgl. unten, S. 390.

18

Vgl. unten, S. 392.

19

Vgl. unten, S. 598.

XXVI

Einleitung des Herausgebers

Ingardens frühere erkenntnistheoretische Schriften ziemlich genau (obgleich mit gewissen wesentlichen Fragezeichen) rekonstruiert werden. §3 Wie wir schon gesagt haben, zielt nach Ingarden jede Erkenntnistheorie letzten Endes auf eine Kritik der faktisch gewonnenen Erkenntnis ab. Die Aufgabe dieser Kritik liegt darin, zu bestimmen, welchen Erkenntniswert die Ergebnisse von Erkenntnisprozessen besitzen, die ζ. B. von bestimmten Erkenntnissubjekten bezüglich bestimmter Objekte vollzogen werden. Die Lösung dieses erkenntniskritischen Problems setzt schon eine Beantwortung einer ganzen Reihe von Fragen voraus, in erster Linie aber Fragen solcher Art wie "Was ist das Erkenntnisergebnis?", "Was ist der Erkenntnisprozeß?", "Was ist das Erkenntnissubjekt?" usw. Nach Ingardens Deutung betreffen solche "essentialen Fragen" immer das ideale Wesen entsprechender Gegenstände (in diesem Fall der Faktoren, die auftreten müssen, damit eine Erkenntnissituation zustande kommt) und können durch die Analyse von "Gehalten" der Ideen dieser Gegenstände beantwortet werden. Und so, wie er überhaupt die Analyse der Ideen, die einen bestimmten Gegenstandsbereich umfassen, als "Ontologie" dieses Gegenstandsbereichs bezeichnet, faßt Ingarden auch die Analyse von Gehalten der ursprünglichen Erkenntnisideen, die ihm als Grunddisziplin der Erkenntnistheorie gilt, als eine Art Ontologie, und zwar die Ontologie der Erkenntnis auf. Die erste Aufgabe der so verstandenen Ontologie der Erkenntnis ist es, den Gehalt der allgemeinsten der in den Forschungsbereich der Erkenntnistheorie fallenden Ideen zu analysieren. Ingardens ursprünglicher Bestimmung gemäß wurde diese "regionale" Erkenntnisidee mit der Idee der Erkenntnis gleichgesetzt. Im unvollendeten Fortsetzungsteil von Zur Grundlegung, der Ingardens "letztes Wort" zu diesem Thema enthält, lesen wir jedoch, daß sowohl die "Erkenntnis" (womit in erster Linie das Ergebnis eines Erkenntnisprozesses gemeint ist) als auch das "Erkennen" (das vorzüglich den Erkenntnisprozeß selbst bedeutet) nur gewisse Aspekte der Erkenntnissituation zum Ausdruck bringen. Um diese im Ganzen zu charakterisieren, will nun der Verfasser lie-

Einleitung des Herausgebers

XXVII

ber von einer Erkenntnisbegegnung sprechen, die zwischen einem bestimmten Erkenntnissubjekt und einem beliebigen Objekt zustande kommen kann. 2 0 Die analytische Betrachtung der zentralen Erkenntnisidee geht fast unmittelbar in die Analyse von damit verbundenen bzw. darin implizierten Erkenntniskategorien

wie "Erkenntnissubjekt", "Erkenntniserlebnis" oder

"Erkenntnisresultat" über. Eine Liste von solchen Erkenntniskategorien stellt Ingarden erstmals schon in der I. Redaktion von Zur Grundlegung zusammen, wo er ihnen - noch in enger Anlehnung an die Terminologie von Husserls Ideen I - auch entsprechende Teilgebiete der Ontologie (bzw. "Phänomenologie") der Erkenntnis wie etwa die Noetik oder die (allerdings etwas anders als bei Husserl verstandene) Noematik zuordnet. In späteren Zusammenstellungen der Erkenntniskategorien, die wir in fast allen erkenntnistheoretischen Arbeiten Ingardens finden, wird immer die wichtige Position der Kategorien "Erkenntnisergebnis" und "Erkenntniswert" herausgestellt, worin natürlich die erkenntniskritische Ausrichtung der Ingardenschen Konzeption der Epistemologie zum Ausdruck kommt. Den endgültigen Ertrag der Analyse von Erkenntniskategorien sowie ihren Beziehungen stellt sich Ingarden als ein System von Grundsätzen vor, die er als "Axiome" oder "Prinzipien" der Erkenntnistheorie bezeichnet. Die Aufgabe der Ontologie der Erkenntnis erschöpft sich jedoch für ihn nicht in der Herausstellung von solch allgemeinen Erkenntnisprinzipien. Sie soll vielmehr ebenfalls eine Reihe von weniger allgemeinen Erkenntnisideen, wie etwa "die Idee verschiedener Arten von Erkenntnissubjekten, verschiedener prinzipiell möglicher Erkenntnisobjekte, verschiedener möglicher Erkenntniswerte und möglicher Relationen zwischen ihnen" 21 einer Untersuchung unterziehen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung können nach Ingarden immer noch rein ontologisch gefaßt werden, d. h. "vorläufig ohne jeden Gedanken, sie auf irgendeinen faktischen Fall der Erkenntnis und des Erkennens anzuwenden". 22 Von einer erkenntnistheoretischen Grunddisziplin, die sich mit der Analyse der Erkenntnisideen zu beschäftigen hat, ist bei Ingarden bereits in seinem Habilitationsvortrag "Über die Stellung der Erkenntnistheorie im System der 2 0

Vgl. unten, S. 4 0 6 ff.

21

Vgl. unten, S. 593.

2 2

Vgl. unten, S. 593.

XXVIII

Einleitung des Herausgebers

Philosophie" die Rede. Sie wird jedoch dort noch als "reine Erkenntnistheorie" bezeichnet u n d - i m Verhältnis zum Aufgabenkreis der später so genannten Ontologie der Erkenntnis - etwas weiter verstanden. Zu den Aufgaben dieser reinen Erkenntnistheorie, die den angewandten Erkenntnislehren gegenübergestellt wird, gehört es nämlich, "die Bedingungen zu präzisieren, welche gewisse individuelle Gegenstände sowie gewisse Beziehungen zwischen ihnen erfüllen müssen, wenn durch sie (falls es sich um Erkenntnissubjekte handelt), bzw. betreffs ihnen (falls es sich um Gegenstände der Erkenntnis handelt) diese oder andere Idee der Erkenntnis realisiert werden soll". 23 Auf diesem Weg soll es möglich sein, "ein System von Sätzen aufzustellen, die uns als Kriterien dienen werden, wenn wir das Gebiet der Erkenntnistheorie in dem oben bestimmten Sinne (seil, der reinen Erkenntnistheorie) verlassen und an die Bearbeitung einer angewandten Erkenntnislehre herantreten werden". 24 Bereits in der nachgelassenen II. Redaktion von Zur

Grundlegung25

kommt Ingarden dazu, für die eben genannte erkenntnistheoretische Aufgabe einen speziellen Zweig der Epistemologie unter dem Namen "Kriteriologie" abzusondern, dem er eine Mittelstelle zwischen der reinen Ontologie der Erkenntnis und der angewandten Erkenntnislehre (oder "Erkenntniskritik") zuweist. Ingardens Äußerungen zu diesem vermittelnden Glied in seinem Gesamtkonzept der Erkenntnistheorie sind meistens ziemlich knapp. Am ausführlichsten wurde wohl die Kriteriologie in der von uns so bezeichneten 26 Redaktion II/III Β charakterisiert. Die in ihrem Rahmen aufzustellenden Kriterien sind - wie wir dort lesen - "Sätze, welche die Bedingungen festlegen, die ζ. B. das Erkenntniserlebnis E und seine Erkenntnisbeziehung Β zu einem Gegenstand einer bestimmten Art Κ zu erfüllen haben, damit das durch den Vollzug von E gewonnene Erkenntnisresultat R einen bestimmten Erkenntniswert IVbesitzt". 27 Die zitierte Formel läßt natürlich eine ganze Vielfalt von erkenntnistheoretischen Kriterien zu, je nachdem, ob es sich dabei um Bedingungen für dieses oder jenes Element der Erkenntnissituation (ζ. B. um das

23

Vgl. Ingarden (1994), S.278/9.

24

Ebenda, S. 279.

25

Vgl. unten, S. 20, Anm. des Hg.

26

Vgl. unten, S.593.

27

Vgl. unten, S.593.

Einleitung des

Herausgebers

XXIX

Erkenntnissubjekt oder um den Erkenntnisprozeß) handelt und ob von diesen Bedingungen dieser oder jener Erkenntniswert des Erkenntnisresultates (wie etwa dessen Objektivität oder Sicherheit) abhängig sein soll. Sofern sie nur solche in den entsprechenden Erkenntnisideen gründenden Abhängigkeiten feststellt, ist die Kriteriologie eine theoretische (oder deskriptive) Wissenschaft, die sich ausschließlich auf die Resultate der reinen Ontologie der Erkenntnis abstützt. Ingarden berücksichtigt jedoch auch die Möglichkeit, "auf Grund des Systems der Kriterien ein System der Erkenntnisnormen aufzubauen, deren Befolgen bei der konkreten Erkenntnisarbeit geboten wäre". 28 Solche Erkenntnisnormen wären Sätze von der Form: '"Man soll einen Erkenntnisakt A mit einem Inhalt I bezüglich eines Gegenstands G vollziehen, damit das dadurch gewonnene Erkenntnisresultat R den Wert W besitzt'" 29 . So wie er bereits im angeführten Passus der II. Redaktion 30 zwischen allgemeiner und spezieller Kriteriologie differenziert hat, so schreibt Ingarden auch an der jetzt in Rede stehenden Stelle, daß unter den Sätzen der Kriteriologie neben ganz allgemeinen Kriterien, die einen formalen Charakter haben, ebenfalls spezielle und vielleicht auch materiale Kriterien auftreten können, "welche die Typen des Inhalts der Erkenntnisresultate oder die Typen der Erkenntnisgegenstände (...) berücksichtigen, also z. B. die Kriterien, die für die Erkenntnisse von physischen Gegenständen gelten". 31 Die dritte Disziplin in Ingardens Gesamtentwurf der Epistemologie bildet diejenige, in deren Rahmen die Resultate der Ontologie der Erkenntnis und der Kriteriologie auf die faktischen Erkenntnisse angewendet werden. Diese angewandte Erkenntnislehre umfaßt noch zwei Reihen von Fragen. Sie soll nämlich zum einen untersuchen, wie beschaffen die Erkenntnisergebnisse dieser oder jener Art bzw. die zu ihnen führenden Erkenntnisoperationen tatsächlich sind; und zum anderen soll sie herausfinden, welchen Erkenntniswert diese Erkenntnisergebnisse bzw. Erkenntnisoperationen besitzen. 32 In Hinsicht auf die zweite, für sie so charakteristische Untersuchungsphase wird die

28

Vgl. unten, S.593.

2 9

Vgl. unten, S. 593.

30

Vgl. unten, S. 20, Anm. des Hg.

31

Vgl. unten, S.594/5.

3 2

Vgl. unten, S.595 f.

XXX

Einleitung des

Herausgebers

angewandte Erkenntnistheorie auch in ihrer Ganzheit bei Ingarden oftmals als Erkenntniskritik bezeichnet. Ingardens Auffassung der Erkenntniskritik wirft einige prinzipielle Fragen auf. 33 Unklar ist schon der methodologische Status, den er ihrer ersten, theoretischen oder deskriptiven Untersuchungsphase zuweist. In (1925b), wo das Konzept von angewandten Erkenntnislehren erstmals entworfen wurde, charakterisiert sie Ingarden als "Disziplinen, die ihr Forschungsmaterial in der Erfahrungswelt vorfinden und auf empirischem Wege erfassen und somit selbst bis zu einem hohen Grade empirisch sind" 34 . Man könnte demnach meinen, die angewandte Epistemologie sei einfach eine empirische Wissenschaft, in der die apriorischen Grundsätze der reinen Erkenntnistheorie ungefähr so zur Verwendung gebracht würden wie in der Physik die Gesetze der Mathematik. Nach anderen Äußerungen Ingardens wäre indes eine solche Klassifizierung der Erkenntniskritik als empirische Wissenschaft aus mindestens zwei Gründen unpassend oder unzulänglich. Erstens bleibt die philosophische Erkenntniskritik, wenn sie sich auch mit der tatsächlichen Erkenntnis beschäftigt, für ihn nichtsdestoweniger eine philosophische Disziplin, d.h. eine solche, die in das Wesen ihrer Forschungsgegenstände einzudringen hat. Ingarden will nämlich nicht alles Tatsächliche den "Tatsachenwissenschaften" im Sinne von Husserls Ideen I überlassen. Er postuliert vielmehr auch spezielle philosophische, nämlich "metaphysische" Untersuchungen, die sich insofern ebenfalls auf Tatsachen beziehen sollen, als sie das tatsächliche Wesen von Gegenständen der entsprechenden Untersuchungssphäre freizulegen haben. Eine solche Aufgabe weist er auch der angewandten Erkenntnistheorie zu. Demgemäß wird sie bei ihm oftmals auch als "Metaphysik der Erkenntnis" bezeichnet. Ob es jedoch möglich ist, zu einer solchen metaphysischen Theorie der Erkenntnis - wie auch zur Metaphysik überhaupt - mit Der problematische Charakter dieser von Ingarden postulierten epistemologischen Disziplin verschärft sich auch durch eine merkwürdige Disproportion zwischen der Rolle, die er der Erkenntniskritik im Rahmen der Philosophie, ja der Wissenschaft überhaupt zuweist, und dem Raum, den er ihr in seinen eigenen erkenntnistheoretischen Arbeiten tatsächlich widmet. Wie schon D. Gierulanka ("Teoria poznania bez kompromisów" [Erkenntnistheorie ohne Kompromisse], Z.ycie i Mysl

18(1968), S.61) prägnant bemerkt hat, enthalten

Ingardens Arbeiten zur Erkenntnistheorie "keinen einzigen Satz", der deren drittem Teilgebiet, d.h. der Erkenntniskritik zuzurechnen wäre. 34

Ingarden (1994), S. 279/80.

Einleitung des Herausgebers

XXXI

unseren menschlichen Erkenntnismitteln vorzustoßen, bleibt für Ingarden allerdings bis zum Ende problematisch. Zweitens dürfe aber die angewandte Erkenntnistheorie, ungeachtet ihres Bezugs auf die faktische Erkenntnis, auch aus dem Grund nicht der Reihe von empirischen Wissenschaften anzuordnen sein, weil ihre Untersuchungen immer noch einen gewissen "transzendentalen" Zug beibehalten sollen. Wie dies Ingarden wohl am deutlichsten in der nachgelassenen Redaktion II/III Β ausdrückt, sollte es sich bei der Faktizität, an der die philosophische Erkenntniskritik interessiert ist, "nicht um die Faktizität dieser wirklichen Welt und eines in dieser Welt lebenden psychophysischen Subjekts, sondern um die Faktizität einer besonderen Art des reinen Subjekts und die Faktizität der diesem Subjekt erscheinenden Phänomene handeln" 35 . Auch Ingardens Auffassung der enger verstandenen Erkenntnis&n/i& weist gewisse prinzipielle Unklarheiten auf. Worin besteht - muß man vor allem fragen - die eigentliche Leistung dieser epistemologischen Kritik, der jede Erkenntnis, insbesondere also auch die der positiven Einzelwissenschaften, zu unterwerfen sei? Ingarden streitet der Epistemologie irgendeine Begründungsfunktion gegenüber den positiven (wie auch anderen philosophischen) Wissenschaften aufs entschiedenste ab. Bereits in (1925b) betont er nachdrücklich, daß die erkenntniskritische Beurteilung mit der Begründung nichts zu tun hat. Durch die epistemologische Kritik der Urteile einer Wissenschaft "werden diese Urteile weder überhaupt noch irgendwie besser begründet. Es wird dadurch nur ausgewiesen, ob der Anspruch auf Wahrheit, den diese Urteile machen, gerechtfertigt ist oder nicht." 36 Man ist zunächst versucht, den hierin zum Ausdruck kommenden methodologischen Standpunkt derart zu interpretieren, daß in der epistemologischen Kritik irgendwelcher Erkenntnisergebnisse diese nicht hinsichtlich ihrer Wahrheit oder Objektivität, sondern allein auf ihr Gerechtfertigtsein hin zu bewerten seien. Mag aber diese Interpretation auch noch so verlockend sein, so erweist sie sich doch bereits bei flüchtigem Hinsehen als unangemessen. Schon im zitierten Passus erklärt nämlich Ingarden: "Ein Urteil (...) ist falsch oder wahr, ganz unabhängig davon, ob wir davon eine Erkenntnis besitzen oder nicht. Zwischen den

35

Vgl. unten, S.595.

36

Vgl. Ingarden (1994), S.308.

XXXII

Einleitung des Herausgebers

Urteilen 'S ist p' und 'Es ist wahr, daß S ρ ist' besteht in keiner Richtung ein Begriindungszusammenhmg,

sondern - vorausgesetzt, daß diese Urteile

beide wahr sind - ein Wahrheitszusammenhang." Den eigentlichen Grund, warum die Erkenntnistheorie nicht fähig ist, den nicht-epistemologischen Disziplinen gegenüber eine Begründungsfunktion auszuüben, sieht also Ingarden nicht darin, daß sie nicht in der Lage wäre, zu einem Urteil über die Wahrheit eines nicht-epistemologischen Satzes (sondern allenfalls über dessen Gerechtfertigtsein, Sicherheit usw.) zu kommen. Der Grund für diese Unfähigkeit liege vielmehr darin, daß zwischen dem Urteil über die Wahrheit eines Satzes und diesem Satz selbst kein "Begründungszusammenhang" bestehe. Auch an anderen Stellen versteht Ingarden die Hauptaufgabe der Erkenntniskritik offenbar als die Beurteilung der Objektivität der tatsächlich erzielten Erkenntnis. 37 Wie kann sich jedoch die epistemologische Erkenntniskritik anmaßen, irgend etwas über den Objektivitäts- oder Wahrheitswert der Ergebnisse irgendeiner nicht-epistemologischen Erkenntnis auszumachen? Daß diese Bedenken auch Ingarden selbst beunruhigten, kann man mit einem kennzeichnenden Beispiel belegen. In Der Streit um die Existenz der Welt weist Ingarden, um eine "erkenntnistheoretische" Bestimmung der philosophischen Problematik abzulehnen, darauf hin, daß auch die Probleme, die sich auf die Erkenntnis von etwas beziehen, nicht zur Philosophie, sondern zu einer Einzelwissenschaft gehören können. In diesem Zusammenhang schreibt er: "Wenn man ζ. B. die Frage stellt, ob und in welchem Maße ein bestimmtes, tatsächlich erzieltes Erkenntnisergebnis (ζ. B. der physikalische Satz von Archimedes) wahr sei (...), - dann wird (...) gewöhnlich im Grunde nach einer physikalischen Angelegenheit, und zwar nach einer physikalischen Begrün-

•37 Ingarden erkennt zwar die Erkenntnistheorie als eine gegenüber allen nicht-epistemologischen Disziplinen gleichgeordnete (d.h. weder unter- noch übergeordnete) Wissenschaft an. Indem er ihr aber die Kompetenz zuspricht, die Ergebnisse der anderen Wissenschaften hinsichtlich ihres Objektivitätswertes zu beurteilen, räumt er ihr - wie auch M. Hempolinski ("O fenomenologicznej i tzw. 'psycho-fizjologicznej' koncepcji teorii poznania" [Über die phänomenologische und die sog. 'psycho-physiologische' Auffassung der Erkenntnistheorie], Studia Filozoficzne bemerkt hat

1976, 6(127), S.3 33, dort S.6, Anm.) richtig

dennoch gewissermaßen eine übergeordnete Position im System der

Wissenschaften ein.

Einleitung des Herausgebers

XXXIII

dung dieses Satzes, gefragt". 38 In (1936), woher das angeführte Fragment des Streites übernommen wurde, merkt dazu Ingarden in einer Fußnote noch an, daß die in Rede stehende Frage "nicht notwendig in diesem Sinne verstanden werden muß 39 , womit er offenbar die - positiv leider nicht näher geklärte Möglichkeit offen lassen will, sie auch als Frage nach einer epistemologischen Rechtfertigung zu verstehen. Im Streit wird diese Anmerkung kennzeichnenderweise ausgelassen. Ingardens Unschlüssigkeit, was die Kompetenzen der Erkenntniskritik gegenüber den Ergebnissen der Einzelwissenschaften betrifft, ist nicht verwunderlich. Er sieht sich hierbei vor eine verzwickte Problemlage gestellt. Einerseits ist doch die ganze Erkenntnistheorie in seiner Sicht eben dafür ins Dasein gerufen worden, um eine universelle Kritik der Objektivität der Erkenntnis zu leisten. Andererseits ist aber Ingarden offenbar verlegen um die Methode, mit welcher ein einzelwissenschaftliches Erkenntnisergebnis wie etwa der physikalische Satz von Archimedes epistemologisch nachkontrolliert werden könnte. Soll sich die Epistemologie dabei ganz ohne Erkenntnismittel der betreffenden Einzel Wissenschaft behelfen? Dies wäre jedoch ein recht utopisches Ansinnen. Soll aber die epistemologische Nachkontrolle mit Hilfe der zu kontrollierenden Wissenschaft selbst durchgeführt werden, dann scheint die Epistemologie in ein Verhältnis der Abhängigkeit von dieser Wissenschaft zu geraten, womit sich auch - wenigstens in Ingardens Augen - ein unvermeidlicher Zirkel abzeichnet. Es bieten sich mindestens zwei Wege an, aus dem geschilderten Dilemma hinauszugelangen. Man kann erstens annehmen, die epistemologische Erkenntniskritik (im Unterschied zur positiven Kritik, die jede Einzelwissenschaft ohnehin an sich selbst übt) betreffe nicht die Resultate der kritisierten Wissenschaften, sondern nur die Methoden (Erfahrungsarten, Folgerungsweisen usw.), mit welchen diese Resultate erzielt werden. Zweitens kann man versuchen, das von Ingarden immer wieder betonte Postulat der Unabhängigkeit der erkenntnistheoretischen Forschung dahingehend abzuschwächen, daß es allein in der reinen Erkenntnistheorie unbedingt gelten soll. In bezug auf die angewandte Erkenntnistheorie hätte es nur eine eingeschränkte Gel-

38

Vgl. Ingarden (1964/65), Bd. I, S.27.

39

Vgl. Ingarden (1936), S. 8 [202],

XXXIV

Einleitung des Herausgebers

tung. Diese könnte nämlich solange - aber auch nur solange - von den Erkenntnismitteln einer kritisierten Einzelwissenschaft keinen Gebrauch machen, als deren Erkenntniswert nicht sichergestellt wäre. Sobald es sich aber zeigte, daß diese Erkenntnismittel der epistemologischen Kontrolle standhalten, würde uns nichts mehr daran hindern, sie eventuell bei der weiteren Kritik der Resultate der betreffenden Wissenschaft einzusetzen. Die beiden Verständnisweisen von Ingardens "Erkenntniskritik", die natürlich auch miteinander verbunden werden können 40 , gehen allerdings über den Wortlaut seiner expliziten Äußerungen zu diesem Thema hinaus. Um noch weitere problematische Aspekte von Ingardens Konzeption der Epistemologie herauszustellen, fragen wir zum Schluß, ob und inwiefern die von ihm postulierte und teilweise auch realisierte Erkenntnistheorie als eine "phänomenologische" bezeichnet werden kann. Die Antwort hängt natürlich zunächst vom Verständnis der Bezeichnung "phänomenologisch" ab. Versteht man z. B. darunter - so wie auch Ingarden am A n f a n g - d a s Charakteristikum jedweder Forschung, die das "Wesen" von irgend etwas betrifft, dann stellt sich auch die Erforschung des Wesens der Erkenntnis ohne weiteres als eine Art Phänomenologie dar. Und so wird auch tatsächlich im Fortsetzungsteil der I. Redaktion von Zur Grundlegung die erste Gruppe von erkenntnistheoretischen Untersuchungen, bei denen es um "die Erkenntnis und Beschreibung der Erkenntniserlebnisse und ihrer Korrelate" 41 geht, noch nicht als Ontologie, sondern eben als "Phänomenologie"

40

So kann die von G. Kiing (in seinem Aufsatz "Zum Lebenswerk von Roman Ingarden. Ontologie, Erkenntnistheorie und Metaphysik", in: H. Kuhn/E. Ave-Lallemant/R. Gladiator (Hg.), Die Münchener Phänomenologie,

Den Haag 1975, S.158—173) vorgeschlagene In-

terpretation verstanden werden, der zufolge Ingardens Erkenntniskritik drei Stufen zu durchlaufen hätte: "eine erste Stufe, wo wir den Wert unserer Intuition des Durchlebens und unserer immanenten Wahrnehmung erfassen; eine zweite Stufe, wo wir unter Verwendung der Intuition des Durchlebens und der immanenten Wahrnehmung den Wert unserer äußeren und inneren Wahrnehmung bestimmen; und eine dritte Stufe, wo unter Verwendung der äußeren und inneren Wahrnehmung die Erkenntnis des tatsächlichen, in der Welt vorkommenden Lebewesens 'Mensch' einer kritischen Bewertung unterzogen wird" (S. 165). In der zweiten Stufe der Erkenntniskritik würde es sich demnach - mit anderen Worten - um eine Kritik der transzendenten Erkenntnistve/ien, in der dritten dagegen von Ergebnissen der transzendenten Erkenntnis handeln. 41

Vgl. unten, S. 485.

Einleitung des Herausgebers

XXXV

der Erkenntnis der ihr folgenden Gruppe der erkenntniskritischen Betrachtungen gegenübergestellt. In (1925b) bespricht Ingarden das Verhältnis der (reinen) Erkenntnistheorie zur Phänomenologie als Wesenslehre der Bewußtseinsakte. Die beiden Disziplinen erweisen sich in dem Sinne einander "verwandt", daß ihre Forschungsgebiete sich teilweise decken: Ihren gemeinsamen Teil bilden nämlich die Erkenntnisakte. Die Deckung des Forschungsbereiches der Erkenntnistheorie mit dem der Phänomenologie ist aber eben nur eine partielle, weil einerseits die erstere nicht nur die E r k e n n t n i s s e , sondern auch sonstige Elemente der Erkenntnissituation (ζ. B. die Ergebnisse der Erkenntnistätigkeiten) zu untersuchen hat und andererseits die letztere neben den Erkenntnisakten auch andere Bewußtseinserlebnisse in Betrachtung zieht. Außerdem sind die Interessen der beiden Wissenschaften auch bezüglich ihres gemeinsamen Gegenstandes insofern nicht gleich, als die Phänomenologie die Bewußtseinserlebnisse in deren voller Konkretheit betrachtet, während die Erkenntnistheorie lediglich an denjenigen Merkmalen von Erkenntnisakten interessiert ist, die deren Erkenntnisfunktion bedingen. Die "Verwandtschaft" der Erkenntnistheorie mit der Phänomenologie schließt nach Ingarden die Unabhängigkeit der ersteren von der letzteren in keiner Weise aus. Die Erkenntnistheorie braucht keine Sätze der Phänomenologie als ihre eigenen Voraussetzungen zu nehmen. Sie kann nämlich alles, was sie über die Erkenntnisakte wissen will, auch mit Hilfe von ihr selbst zur Verfügung stehenden Erkenntnismitteln, nämlich der Intuition des Durchlebens und der immanenten Wahrnehmung, erkennen. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen der Ingardenschen Erkenntnistheorie und der Phänomenologie nimmt jedoch wohl den interessantesten Sinn an, wenn als konstitutiver Zug der phänomenologischen Forschung ihr "transzendentaler" Gesichtspunkt gilt. Daß eine einwandfreie Erkenntnistheorie unter Verwendung der transzendentalen Methode aufzubauen ist, hat Ingarden immer wieder betont. Indessen ist die Rede von der transzendentalen Methode bei ihm nicht ganz eindeutig. Meistens handelt es sich dabei um die Methode der transzendentalen Reduktion, so wie sie von Edmund Husserl konzipiert wurde. Wie Ingarden mehrmals bemerkt, hat übrigens Husserl die phänomenologische EPOCHE nicht speziell zum Zweck der Bestimmung einer richtigen Verfahrensweise der Erkenntnistheorie eingeführt. Sein Hauptziel

XXXVI

Einleitung des

Herausgebers

dabei sei vielmehr gewesen, das reine Bewußtsein als besonderes Gebiet des individuellen Seins aufzudecken. 42 Nichtsdestoweniger glaubt sich Ingarden mit seinem Lehrmeister grundsätzlich in Ubereinstimmung, wenn er die Bedeutsamkeit der phänomenologischen Reduktion im Rahmen der erkenntnistheoretischen Forschung betont. In Ingardens Sicht ergibt sich die Notwendigkeit, in der Erkenntnistheorie die transzendentale Reduktion zu üben, vor allem aus dem Postulat der Voraussetzungslosigkeit der epistemologischen Untersuchungen, das wiederum aus dem Programm einer universellen Erkenntniskritik resultiert. Soll die in der immanenten Wahrnehmung gründende Erkenntnistheorie jede Erkenntnis einer Kritik unterziehen, dann muß sie sich - um den Fehler einer petitio principii zu vermeiden - bezüglich der Objektivität aller transzendenten Erkenntnisse des Urteils enthalten. Diese "erkenntnismäßige Zurückhaltung angesichts aller im transzendenten Erkennen gewonnenen Erkenntnisse" 43 ist es eben, was Ingarden in erster Linie unter der "phänomenologischen

EPOCHE"

versteht. Die so bestimmte transzendentale Reduktion bildet jedoch nur einen Aspekt der transzendental-phänomenologischen Methode, so wie diese von Ingarden verstanden wird. Eine andere Komponente derselben, die bei ihm manchmal sogar in den Vordergrund tritt, ist eine Art Konstitutionsanalyse, die er als "Rekonstitution des Gegenstandssinnes" bezeichnet. Sie besteht darin, daß wir den Sinn eines Objektes, der in einer Mannigfaltigkeit von Erkenntnisakten konstituiert wurde, im Rückgriff auf die ursprüngliche Erfahrung und "unter sorgfältiger Ausschaltung aller 'Vorurteile' " 4 4 gleichsam zu rekonstruieren versuchen. Je nach Ergebnis dieses Rekonstruktionsversuches erweist sich dabei der zu rekonstituierende Gegenstandssinn als gültig oder ungültig (bzw. rechtmäßig oder nicht rechtmäßig). Die Rekonstitution des Gegenstandssinnes setzt natürlich die phänomenologische Reduktion voraus, so wie diese in jener eine Art Fortsetzung findet. In der Redaktion II/III Β bringt Ingarden die beiden von uns hervorgehobenen Aspekte der transzendentalen Methode folgendermaßen miteinander in Verbindung: 42

Vgl. z.B. Ingarden (1963), S. 589.

43

Vgl. unten, S. 275.

44

Vgl. unten, S. 603.

Einleitung des Herausgebers

XXXVII

"Infolge der phänomenologischen Reduktion haben wir aus den erkenntnistheoretischen Betrachtungen den 'Gegenstand an sich' ausgeklammert und sind auf den 'Gegenstandssinn' (das Phänomen) und die Mannigfaltigkeiten von Akten zurückgegangen. Der transzendentale Gesichtspunkt macht uns auf die Abhängigkeit aufmerksam, die zwischen dem 'Gegenstandssinn', dem (...) Inhalt der Akte und den Akten der ursprünglichen Erfahrung besteht, denen dieser Sinn entstammt (...). Und er veranlaßt uns dazu, vom angeblich - wie wir naiv meinen 'fertigen' Gegenstandssinn auf die Mannigfaltigkeit der Akte der ursprünglichen Erfahrung unter Berücksichtigung des vollen Gehalts der Akte und deren vollständiger

Mannigfaltigkeit zurückzugehen, um auf diesem Weg zur Rekonstitu-

tion des Gegenstandssinnes zu kommen." 4 5

Es fragt sich nun, ob die so verstandene transzendentale Methode - von Ingardens Standpunkt aus - als eine universelle Methode der Erkenntnistheorie anzusehen ist. Kann also die ganze erkenntnistheoretische Forschung, so wie sie von Ingarden konzipiert wurde, in transzendentaler Einstellung durchgeführt werden? Diese Frage drängt sich bereits beim Postulat der transzendentalen Reduktion auf. Von den Schwierigkeiten, die uns entgegentreten, wenn wir versuchen, die von Ingarden geforderte "Zurückhaltung gegenüber allen transzendenten Erkenntnissen" in der Erkenntniskritik der positiven Wissenschaften durchzuhalten, war schon oben die Rede. Nicht minder bedenklich scheint jedoch der Versuch, diese Forderung in der reinen Erkenntnistheorie und insbesondere in der Ontologie der Erkenntnis streng zu erfüllen. In (1925b) bespricht Ingarden u. a. das Verhältnis der (reinen) Erkenntnistheorie zur Ontologie (worunter er natürlich nicht die Ontologie der Erkenntnis, sondern die Ontologie der ersten, sozusagen gegenständlichen Stufe versteht). Er verteidigt dabei die These, daß die Erkenntnistheorie von dieser gegenständlichen Ontologie nicht abhängig ist, weil jene die Existenz der Ideen der von ihr in den Blick genommenen Erkenntnisgegenstände (geschweige denn die Existenz dieser Gegenstände selbst) "nicht bedingungslos vorauszusetzen braucht" 46 . Des näheren führt er aber aus: "Jeder Ontologie liegen nämlich Existentialurteile zugrunde, die die Existenz der in Frage kommenden Ideen feststellen, den Inhalt der Ontologien aber bilden kategorische Urteile über den Gehalt der betreffenden Ideen. Aber gerade diese

45

Vgl. unten, S. 605.

46

Vgl. Ingarden ( 1994), S. 304.

XXXVIII

Einleitung des Herausgebers

kategorische, bedingungslose Feststellung der Existenz der betreffenden Ideen (die Idee der Erkenntnis natürlich ausgenommen) ist etwas, was die Erkenntnistheorie gar nicht braucht."47 Die von Ingarden in Klammern eingeräumte Ausnahme darf in unserem Zusammenhang nicht geringgeschätzt werden. Denn die Idee der Erkenntnis, bei der die existenziale Indifferenz der erkenntnistheoretischen Urteile "natürlich" nicht mehr gelte, ist nicht nur eine einzige Idee. Sie impliziert vielmehr eine ganze Gruppe von Ideen wie "Erkenntnissubjekt", "Erkenntnisprozeß", "Erkenntnisresultat" u. dgl. All diese Erkenntnisideen müssen also vom Erkenntnistheoretiker in ihrer idealen Existenz anerkannt werden. Was er in seinen Urteilen offen lassen kann, ist allein die Existenz von "gegenständlichen" Ideen wie der Idee des realen Seins oder der des materiellen Dinges. Die Anerkennung der idealen Existenz der Erkenntnisideen stünde jedoch offenbar im Widerspruch zur Forderung, der Erkenntnistheoretiker solle in allen Etappen seiner Untersuchungen eine zurückhaltende Haltung gegenüber allen transzendenten Erkenntnissen bewahren. Denn die in der reinen Epistemologie selbst verwendete Analyse von Erkenntnisideen ist immerhin auch eine transzendente Erkenntnis; sogar die Ideen von Erkenntniserlebnissen gehören ja nicht mehr zum Erlebnisstrom als seine immanenten Bestandteile. 48 Das Problem der universellen Anwendbarkeit der transzendentalen Methode in der Erkenntnistheorie kann jedoch auch von ihrem zweiten Aspekt her betrachtet werden. In der Redaktion II/III Β erwägt Ingarden den Standpunkt, wonach seine Unterscheidung zwischen der Ontologie der Erkenntnis,

47 48

Vgl. Ingarden (1994), S. 304. In der II. Redaktion von Zur Grundlegung beschließt Ingarden seine Liste von grundlegenden Bestimmungsweisen der Erkenntnistheorie nicht mit der "autonomen" Epistemologie, wie in der Ausgabe von 1971, sondern mit der "transzendentalistischen" Bestimmung, die er der an der vorletzten Stelle genannten "ontologischen" Auffassung folgen läßt (vgl. unten, S.20, Anm. d. Hg.). Da die von ihm in den Blick genommenen Auffassungen grundsätzlich so angeordnet sind, daB jede weitere die Unzulänglichkeiten der vorangehenden überwinden soll, könnte man daraus folgern, die transzendentale Erkenntnistheorie stelle für ihn eine Verbesserung oder Vervollständigung der Ontologie der Erkenntnis dar. Nach dieser Interpretation wäre Ingarden wenigstens zeitweise geneigt, dem so charakteristischen "Ontologismus" seiner Konzeption der Epistemologie dennoch abzuschwören. Dieser "transzendentalistische" Ansatz wurde jedoch von ihm nicht weiter entwickelt.

Einleitung des

Herausgebers

XXXIX

der Kriteriologie und der Erkenntniskritik im Grunde überflüssig wäre, weil alle erkenntnistheoretischen Probleme letzten Endes auf das Problem der transzendentalen Rekonstitution des Sinnes des Erkenntnisgegenstands zurückgingen; ergäbe die Konstitutionsanalyse des in einer bestimmten Erkenntnis konstituierten Gegenstandssinnes, daß er rechtmäßig oder nicht rechtmäßig ist, dann wäre eben damit die Aufgabe der Kritik dieser Erkenntnis erledigt. Ingarden weist jedoch diesen Standpunkt aus mehreren Gründen als falsch zurück. Erstens erachtet er es als unrichtig, das Ziel der erkenntnistheoretischen Untersuchungen auf die Beurteilung der tatsächlich stattfindenden Erkenntnisprozesse und deren Resultate zu beschränken, mag diese Aufgabe für die Erkenntnistheorie auch noch so richtunggebend sein. Denn "wir würden dadurch die Chance verlieren, die ganz allgemeinen Erkenntniskategorien zu gewinnen, die wir bei den transzendental-phänomenologischen Betrachtungen als Richtlinien benötigen" 49 , wobei wir uns gleichzeitig "im Bereich des Faktischen verschließen und uns die Perspektive auf das Mögliche abschneiden" 50 würden. Zweitens sei eine erkenntniskritische Folgerung, die wir zugestandenermaßen aus der konstitutiven Betrachtung eines Gegenstandssinnes manchmal ziehen können (indem wir ζ. B. diesen Gegenstandssinn als gültig anerkennen und demnach die dazu führende ursprüngliche Erkenntnis positiv bewerten), von dieser konstitutiven Betrachtung selbst wohl zu unterscheiden. Schließlich weist Ingarden daraufhin, daß die transzendental-phänomenologische Analyse selbst keineswegs eine rein deskriptive, von allen kritischen Gesichtspunkten freie Betrachtung ausmacht. Bereits die dieser Analyse zum Ausgangspunkt dienende Gegenüberstellung der ursprünglichen Erfahrung und der Meinungen des Subjekts habe ein bestimmtes erkenntniskritisches Kriterium zur Voraussetzung. Sie setze nämlich voraus, "daß die ursprüngliche Erfahrung eines Gegenstands im Prinzip einen höheren Erkenntniswert besitzt als alles unanschauliche Vermeinen von irgend etwas" 51 . Ingarden glaubt, dieses Kriterium, das uns beim Eintritt in eine transzendentale Analyse schon zur Verfügung stehen müsse, von seinem Gesichtspunkt aus in der Kriteriologie rechtfertigen zu können; vom Standpunkt des Transzendentalismus aus sei man dagegen gezwungen, es dogma-

49

Vgl. unten, S. 608.

50

Vgl. unten, S. 608.

51

Vgl. unten, S. 609.

XL

Einleitung des Herausgebers

tisch gelten zu lassen. Zwar könne ein Transzendentalist - wie Ingarden zugibt - die von ihm erhobenen Einwände mit der Bemerkung abwehren, daß die Untersuchungen der Ontologie und Kriteriologie der Erkenntnis tatsächlich möglich und unumgänglich, aber selber nach der transzendentalen Methode durchzuführen seien. Denn es sei richtig, daß die Erkenntnisoperationen, die wir ausüben, indem wir die reine Erkenntnistheorie aufbauen, unter die angewandte Erkenntnistheorie und insbesondere unter die universelle Erkenntniskritik fallen. Doch daraus folge nicht, "daß die reine Erkenntnistheorie selbst auf transzendental-phänomenologische Weise betrieben werden soll" 52 . Es folge nur, "daß man eine Kritik unserer im Rahmen der reinen Erkenntnistheorie faktisch gewonnenen Resultate auf dem Weg der transzendental-phänomenologischen Analyse durchführen kann und soll" 53 . Es mag dabei dahingestellt bleiben, ob und gegebenenfalls wie sich die letztere Antwort mit der von Ingarden selbst betonten Sonderstellung der Erkenntnistheorie im System der Wissenschaften vereinbaren läßt, die gerade darin bestehe, daß "sie allein nicht bloß Behauptungen aufstellen kann, sondern auch verpflichtet ist, die Objektivität der eigenen Erkenntnismittel auszuweisen" 54 .

52

Vgl. unten, S. 611.

53

Vgl. unten, S. 611.

54

Ingarden (1994), S.309.

Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie 1. Teil: Das Werk

3 § 1. Einleitende Bemerkungen Die Erkenntnistheorie 1 gehört zur Philosophie oder - wie man bei uns [in Polen] zu sagen pflegt - zu den "philosophischen Wissenschaften" und bildet eines der wichtigsten Glieder in ihrem System. Denn bedeutsam sind sowohl die Erkenntnisprobleme selbst und ihre möglichen Lösungen als auch der Einfluß, den der Forschungsstand im Rahmen der Erkenntnistheorie auf die Entwicklung der anderen philosophischen Wissenschaften und auf die allgemeine geistige Kultur einer Epoche ausübt. Die Geschichte der neueren Philosophie legt davon das beste Zeugnis ab. Als bewußt ausgesonderte Wissenschaft ist diese Theorie noch verhältnismäßig jung. Sie muß daher noch um eine adäquate Bestimmung ihres Untersuchungsgegenstandes und um die Schaffung angemessener und wirksamer Methoden kämpfen. Die einzelnen Erkenntnisprobleme aber wurden in der europäischen Philosophie von jeher behandelt. Denn seit der Zeit der griechischen Sophisten, vielleicht sogar schon seit Heraklit und Parmenides, waren diese Probleme lebendig und traten manchmal in den Vordergrund der philosophischen Problematik, obgleich man sich ihre spezifische Sonderstellung im allgemeinen nicht zum Bewußtsein brachte und sie nicht richtig aus den verschiedenen Problemkreisen aussonderte, die zu anderen Disziplinen der Philosophie gehören. Es gab sogar Zeiten, wo die Erkenntnistheorie nicht nur als die wichtigste, sondern geradezu als die einzige philosophische Wissenschaft betrachtet wurde. So war es beispielsweise gegen Ende des XIX. Jahrhunderts, in der Zeit der Wiedergeburt der Ansichten Kants. Die ganze Philosophie schien damals in der Erkenntnistheorie aufgegangen zu sein. Im Gegensatz dazu wurde bisweilen auch die Meinung vertreten, daß die Erkenntnistheorie überhaupt keine Wissenschaft, ja als Wissenschaft nicht einmal möglich sei, da sie auf einem prinzipiellen Fehler beruhe. Dies behauptete z. B. L. Nelson in seinem Buch Über das sogenannte Erkenntnisproblem

(1907). 2 Keine dieser extremen Anschauungen

scheint jedoch wahr zu sein. Hingegen trifft es zu, daß der tatsächliche Stand der Forschungen, die von ihrem Problemgehalt her der Erkenntnistheorie bei-

Sie wird manchmal bei uns [in Polen] auch Epistemologie oder Gnoseologie genannt. Der Bequemlichkeit halber werde ich mich auch dieser Termini bedienen. [Vgl. L. Nelson, "Über das sogenannte Erkenntnisproblem" in: L. Nelson, Gesammelte Schriften, Bd. II: Geschichte und Kritik der Erkenntnistheorie, Hamburg 1973, S. 59-394.]

4

§ 1. Einleitende

Bemerkungen

zuzählen sind, nicht zufriedenstellend ist. Man kann heute auf keinen Bestand an erkenntnistheoretischen Sätzen hinweisen, die auf hinreichende Weise begründet oder allgemein anerkannt wären. Dies liegt ohne Zweifel daran, daß die Erkenntnistheorie bisher nicht aiif ausreichend deutliche Weise von anderen Wissenschaften abgegrenzt worden ist. Denn weder ihr Forschungsgebiet noch ihre Aufgaben, noch schließlich ihre Methoden sind in einer Weise bestimmt worden, die keine prinzipiellen Bedenken und Einwände erweckt. Das ist aber weder ein Zufall noch zeugt es davon, daß die Erkenntnistheorie als verantwortungsvoll betriebene wissenschaftliche Forschung überhaupt nicht möglich ist. Die Natur der Erkenntnisprobleme selbst bewirkt, daß sie [die Erkenntnistheorie] verglichen mit anderen Wissenschaften gleichsam in ihrer Entwicklung zurückbleiben mußte. Denn wir können uns diese Probleme erst zum Bewußtsein bringen, wenn wir auf verschiedenen Gebieten mannigfache Erkenntnisoperationen zur Erkennung dieser oder jener Gegenstände bereits verwendet und nicht nur gewisse - wie wir glauben - positive Ergebnisse erlangt haben, sondern uns auch zugleich überzeugt haben, daß wir beim Erkennen verschiedener Dinge oftmals Irrtümer begangen haben. Dabei sind wir uns sogar dann, wenn gewisse Erkenntnisprobleme vor uns schon einmal aufgetaucht sind, am Anfang über ihre Spezifizität noch nicht im klaren; wir versuchen, sie auf eine Weise zu fassen und zu lösen, die in anderen Wissenschaften sozusagen gebräuchlich ist. Indessen erfordern sie - wie sich in den weiteren Ausführungen herausstellen wird - zu ihrer richtigen Lösung, ja sogar schon zur treffenden Fassung eine Forschungseinstellung völlig eigener Art sowie eine Methode, die von den Methoden und der Forschungseinstellung aller anderen Einzelwissenschaften oder philosophischen Wissenschaften prinzipiell verschieden sind. Es ist auch nicht leicht, diese Einstellung einzunehmen und in ihr im ganzen Verlauf der erkenntnistheoretischen Untersuchungen auszuharren. Sie unterscheidet sich auch sehr von der Einstellung, die wir im täglichen Leben einnehmen, wenn wir - für praktische oder theoretische Zwecke - eine Erkenntnis der uns umgebenden Dinge, Menschen oder irgendwelcher anderen Gegenstände erlangen. Ich werde mich bemühen, dies in den weiteren Überlegungen näher zu erläutern und zu begründen. Denn im Moment kann dies sonderbar oder sogar unwahrscheinlich erscheinen. Ganz am Anfang der Betrachtungen kann man das nur feststellen und auf die Konsequenzen hinweisen, die sich aus der Andersar-

§ I. Einleitende

Bemerkungen

5

tigkeit dieser für erkenntnistheoretische Forschungen charakteristischen, ja sogar unerläßlichen Einstellung ergeben. Die Einstellung des täglichen Lebens ist für uns ganz natürlich; wir kehren somit zu ihr auch dann leicht und unwillkürlich zurück, wenn wir uns schon darüber klar geworden sind, daß sie bei der Durchführung erkenntnistheoretischer Untersuchungen nicht angemessen ist. Dadurch geraten wir wieder auf Irrwege und verwickeln uns in unüberwindliche Schwierigkeiten. Es ist daher kein Wunder, daß diese Untersuchungen bisher zu keinen so vollendeten und sicheren Ergebnissen geführt haben, wie es diejenigen sind, über welche wir heute in anderen Forschungsbereichen verfügen. In dieser theoretischen Situation muß den eigentlichen erkenntnistheoretischen Untersuchungen die Erwägung des Problems vorangehen, ob und wie man die grundlegenden Erkenntnisprobleme so formulieren kann, daß die prinzipiellen Schwierigkeiten vermieden werden, die der Erkenntnistheorie in ihrer Entwicklung bisher entgegengetreten sind. Es ist auch klarzulegen, was für Erkenntnismittel zu ihrer Lösung verwendet werden können und eventuell sollen. Dieser Aufgabe ist das vorliegende Buch gewidmet. Es ist also weder sein Anliegen - wie man vielleicht seinem Titel nach erwarten könnte - , die in der Erkenntnistheorie bisher gewonnenen Hauptergebnisse auf populäre Weise darzustellen, noch einen Überblick über die wichtigsten Richtungen und Standpunkte im Rahmen der bisherigen Untersuchungen zu geben oder ähnliches. Seine Aufgabe ist es, gewisse methodologische Betrachtungen vorzunehmen, die uns vor allem davon überzeugen sollen, daß die natürliche Erkenntniseinstellung für die epistemologischen Untersuchungen nicht geeignet ist. Jene [Betrachtungen] sollen uns zugleich den Weg weisen, wie wir zu einer anderen, spezifisch epistemologischen Einstellung übergehen können und somit zu den erkenntnistheoretischen Hauptproblemen, die sich vor uns auftun, nachdem wir diese neue Einstellung eingenommen haben. Diese Probleme streng zu fassen und abzugrenzen, die angemessenen Methoden zu ihrer Lösung aufzufinden und sich zu vergewissern, daß bei ihrer Lösung die prinzipiellen Schwierigkeiten vermieden werden können - das ist das weitere Ziel dieses Buches. Dagegen können die Lösungen der wichtigsten erkenntnistheoretischen Probleme selbst hier lediglich als gewisse heute sich nur ankündigende Möglichkeiten skizziert werden. Es wird sich jedoch im Laufe unserer Betrachtungen zeigen, daß einige epistemologische

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§ 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie

Standpunkte dargestellt und kritisch besprochen werden müssen, die in der bisherigen Entwicklung der Philosophie mehr oder minder deutlich formuliert wurden. Denn die an ihnen ausgeübte Kritik wird uns erlauben, nach neuen Forschungswegen und anderen Problemstellungen zu suchen. Das vorliegende Buch wird uns auch als eine Art Information über die Richtlinien der bisherigen Forschungen der Erkenntnistheorie dienen können, ohne daß es den Anspruch erhebt, das vorliegende Material zu erschöpfen oder es in seiner historischen Entwicklung darzustellen. 3

§ 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie 4 Die Bestimmung irgendeiner Wissenschaft erfordert die Beantwortung der folgenden drei Fragen: 1. von welchen Gegenständen diese Wissenschaft zu handeln hat, 2. welche Erkenntnismittel und welche Methoden in ihr verwendet werden können (und sollen), 3. zu welchem Zweck diese Wissenschaft betrieben wird. Wie sich herausstellen wird, sind diese drei Fragen eng miteinander verknüpft. In den verschiedenen Wissenschaften ist die Rolle der einzelnen Fragen im Verhältnis zu den anderen unterschiedlich. Wo das Forschungsziel ein streng theoretisches ist, spielt die Beantwortung der ersten Frage, d. h. das Abstecken des Bereiches der Forschungsgegenstände, für die Ausgestaltung der betreffenden Wissenschaft eine maßgebende Rolle. Es scheint, daß das Ziel der Erkenntnistheorie streng theoretisch ist, daß es sich also bei ihr letzten Endes um die Erzielung eines Wissens handelt. So beginne ich meine Betrachtungen mit dieser Frage. Dies ist aber durchaus nicht einfach. Es kann sich als strittig herausstellen, ob die Erzielung des in der Er[In der II. Redaktion folgt noch durchgestrichen das Fragment: "Eine der sehr wichtigen Aufgaben, der wir hier große Aufmerksamkeit widmen müssen, sind diejenigen Probleme, die zwar sachlich nicht in die Erkenntnistheorie selbst gehören, die aber in einer theoretischen Einleitung in die Erkenntnistheorie zu besprechen und zu lösen sind, nämlich die Probleme bezüglich der sog. Möglichkeit der Erkenntnistheorie wie auch der Möglichkeit ihrer faktischen Realisierung durch uns Menschen. Das sind äußerst schwierige Probleme, auf deren Behandlung wir uns zuerst gebührend vorbereiten müssen" (Ms. S. 3).] [Bis nach der V. Redaktion zwischen den Paragraphen 2 und 3 die Überschrift: "I. Teil: Die Bestimmung des Forschungsgebiets der Erkenntnistheorie".]

§ 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie

7

kenntnistheorie ausschließlich gesuchten Wissens wesentlich und interesselos ist. Es ist also nicht ausgeschlossen, daß sich auf weitere Sicht irgendeine besondere Anwendung desselben und seine Verwertung zu einem anderen Ziel eröffnen kann und daß dieses Ziel spezielle Bedingungen aufzwingen wird, welche dieses Suchen nach Wissen erfüllen sollte. Wir werden somit viele Möglichkeiten in Betracht ziehen müssen, bevor wir zu einem Endresultat gelangen. Gleich am Anfang taucht eine prinzipielle Schwierigkeit auf. Man trifft manchmal auf die Meinung, daß der Forschungsgegenstand einer Wissenschaft auf zwei und nur die zwei folgenden Weisen bestimmt werden könne: Man könne entweder a) rein empirisch feststellen, womit sich diejenigen tatsächlich beschäftigt haben, deren Untersuchungen zu einer so oder so benannten Theorie gerechnet wurden oder die sie selber dazu gerechnet haben, oder man könne sich auch b) mit den Lesern darauf einigen, daß die Wissenschaft, die wir mit dem Wort A benennen wollen, durch unseren Willen von den Gegenständen Β zu handeln habe. Die erste dieser Bestimmungsweisen bezeichne ich als die historische, die zweite als die konventionalistische Bestimmung einer Wissenschaft. Keine der beiden ist jedoch, wie sich herausstellen wird, angemessen für unsere Zwecke. Es gibt indessen eine dritte Bestimmungsweise, deren Ausarbeitung die weiteren Betrachtungen gewidmet sind. Die historische Bestimmung des Gegenstandes einer Wissenschaft kann nur unter bestimmten Bedingungen vollzogen werden. Es muß nämlich beim Herantreten an die Lösung dieser Aufgabe ein ausreichend umfangreicher Komplex von Sätzen existieren, die: 1. sich auf die Gegenstände ein und desselben Gebietes beziehen, 2. untereinander in gesetzmäßigen logischen und sachlichen Zusammenhängen stehen, 3. auf ausreichende Weise begründet sind und 4. wahr oder mindestens wahrscheinlich sind. 5 Dann kann man verhältnismäßig leicht die Frage beantworten, was die Wissenschaft untersuchen würde, deren Kernstück die zu einem solchen System gehörenden Sätze bildeten. Die Subjektsbegriffe der Sätze des betreffenden Systems würden nämlich die Klasse der Gegenstände umgrenzen, die das Forschungsgebiet der betreffenden Wissenschaft ausmachen würden. Es ist nur zu betonen, daß diese

Die Festlegung dieser vier Bedingungen ergibt sich aus der ahistorischen, oder besser, methodologischen Betrachtung der betreffenden Wissenschaft.

8

§ 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie

Klasse auf die Gegenstände erweitert werden kann, die den bereits bestimmten Gegenständen verwandt sind oder mit ihnen in gewissen notwendigen oder auch nur tatsächlichen Beziehungen stehen. Existiert dagegen kein Komplex von Sätzen 6 , die den oben angegebenen Bedingungen Genüge tun, dann muß man zur Bestimmung einer Wissenschaft auf die folgende Reihe von historischen Tatsachen hinweisen: a) Es hat Menschen gegeben, die das Erkennen gewisser zumindest einander ähnlicher Gegenstände betrieben haben; b) Sie haben das getan, um ihre Wißbegierde zu befriedigen, wie auch immer die letztere weiter motiviert gewesen sein mag; c) Sie haben gewisse Sätze erlangt, die sie als befriedigende Ergebnisse ihrer Untersuchungen angesehen haben; d) Diese Ergebnisse haben sie irgendwie fixiert, so daß sie für später lebende Menschen mit ähnlichen Interessen zugänglich geworden sind; e) Diese fixierten Ergebnisse haben bei den später lebenden Menschen das Erkenntnisinteresse für mindestens ähnliche Gegenstände erweckt, auch wenn dieses Interesse bei ihnen zu ganz anderen Ergebnissen als früher, ja sogar zum Erkennen einer etwas anderen Gegenstandsgruppe geführt hat. Im Zusammenhang mit der manchmal weit gehenden Verschiebung der Grenzen der Gruppe von Forschungsgegenständen und zugleich mit den Unstimmigkeiten und Widersprüchen unter den gewonnenen Sätzen bildet dann die Kontinuität des historischen Prozesses der Untersuchung von einander teilweise verwandten Gegenständen eigentlich das Hauptkriterium, das es erlaubt, gewisse Sätze zu "derselben" Wissenschaft zu rechnen. Wir gehen dann gleichsam über Unstimmigkeiten unter den Sätzen hinweg, darüber, daß einige von ihnen sich im Lauf der Untersuchungen als falsch erwiesen haben und eventuell teilweise andere Gegenstände betrafen als diejenigen, auf die sich die übrigen Sätze beziehen. Vom rein historischen Standpunkt aus rechnen wir so zur betreffenden Wissenschaft alle jene Sätze, die im kontinuierlichen geschichtlichen Vorgang gewonnen werden, sofern es auch nur den Anschein7 hat, daß sie sich auf einander verwandte Gegenstände beziehen. In

Wenn jemand Bedenken hat, was hier unter der "Existenz" von Sätzen zu verstehen sei, dann kann er hier anstatt des Wortes "existiert" die Wendung: "ist uns bekannt" verwenden. Dieser Anschein kann unterschiedlichste Ursachen haben. Einmal wird er z.B. nur durch ähnliche Namen der Gegenstände erweckt, auf welche sich diese Behauptungen beziehen,

§ 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie

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diesem Fall stellt jedoch die rein historische Bestimmung einer Wissenschaft für ihre methodologische Betrachtung keinen größeren Wert dar8. Wie ich schon erwähnt habe, ist uns kein Bestand an Sätzen bekannt, die den oben angegebenen Bedingungen entsprechen und auch nur ein Kernstück der Erkenntnistheorie bilden würden. Es gibt dagegen viele Anschauungen, die unter dem Namen "Theorie" oder " Kritik" der Erkenntnis aufgetreten sind. Sie stehen nicht nur teilweise im Konflikt untereinander, sondern beziehen sich auch oft auf Gegenstände, die zu verschiedenen Gebieten gehören. Wenn wir also trotzdem die Erkenntnistheorie auf historische Weise bestimmen wollten, müßten wir uns bestenfalls mit der Auffindung eines geschichtlichen Vorgangs begnügen, in dessen Verlauf sich alle oder auch nur die wichtigsten unter dem Namen Erkenntnistheorie zusammengefaßten Anschauungen gebildet haben. Wenn wir dagegen fragen würden, wie es damit in der Geschichte auch nur der europäischen Philosophie tatsächlich war, würde sich zeigen, daß dieser Name manchmal überhaupt fehlte, daß man sich aber trotzdem mit Problemen beschäftigte, die, sei es auch annäherungsweise, zu dieser Theorie

ein anderes Mal durch den Namen der Theorie selbst, der zufälligerweise zwei verschiedenen Wissenschaften gemeinsam ist, dann wieder sogar durch Faktoren, die außerhalb der Erkenntnis liegen. Dies sind jedoch extreme, ziemlich seltene Ausnahmefälle. Gewöhnlich geht der in Rede stehende Anschein aus unzureichend erkannten Ähnlichkeiten zwischen den Gegenständen hervor. Es gibt natürlich Fälle, in denen nicht bloß ein Anschein von, sondern tatsächliche Verwandtschaften zwischen Forschungsgegenständen vorliegen. Dann stimmt die rein historische Bestimmung der betreffenden Wissenschaft mit deren sachlicher Bestimmung zusammen. Die Kontinuität des erwähnten Vorgangs kann nicht im streng mathematischen Sinne verstanden werden. Sie ist ganz spezieller Art und kommt in historischen Prozessen vor. Ihre Eigenart bildet eines der prinzipiellen Probleme der Geschichtsphilosophie. Es scheint sicher zu sein, daß für ihre Erhaltung kulturelle Gebilde und insbesondere sogenannte "fixierte" oder auch nur mündlich übertragene Erkenntnisergebnisse eine entscheidende Rolle spielen. Diese Sache erfordert besondere, schwierige Betrachtungen, die hier nicht durchgeführt werden können. Diesen rein historischen, keine anderen Kriterien berücksichtigenden Gesichtspunkt finden wir manchmal bei den Vertretern der sog. Philosophiegeschichte. Man braucht nicht hinzuzufügen, daß sie dann keine Geschichte der Philosophie im strengen Sinne des Wortes darstellt. Die Geschichte einer Wissenschaft kann nur derjenige geben, der neben historischen Tatsachen ihren in rein sachlichen Erwägungen gewonnenen Begriff heranzieht.

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§ 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie

gehören sollten. Es gab auch Zeiten, wo nicht nur der Name der Theorie fehlte, sondern die Gruppe der dazugehörigen Probleme nicht einmal ausgesondert, von anderen Problemen abgegrenzt wurde, diese aber mit den ersteren derart verbunden waren, daß sich ein ganz anderes theoretisches Ganzes abzeichnete. Und selbst wenn der Name aufgetaucht und die Aussonderung der Probleme vorgenommen worden ist, so haben sie beide mehrfach im Laufe der Geschichte beträchtliche Veränderungen erfahren. Wer nur Historiker sein wollte, würde sich wohl mit der Entdeckung eines solchen ziemlich uneinheitlichen Vorgangs begnügen. Er müßte jedoch schon bei der Lösung seiner Aufgabe unter den zu jenen Zeiten tatsächlich existierenden Anschauungen eine Auswahl treffen. Er müßte nämlich wissen, wo er es noch mit widersprüchlichen und falschen Anschauungen über Gegenstände zu tun hat, die zu demselben Gebiet gehören, und wo schon Anschauungen vorliegen, die vielleicht wahr sind, aber ganz verschiedene Gegenstände betreffen. Die Tatsache, daß gewisse Anschauungen unter einem gemeinsamen Namen aufgetreten sind, reicht noch nicht aus, um sie einer Gruppe zuzuordnen, besonders wenn dieser Name im Laufe der Jahrhunderte seine Bedeutung veränderte oder expressis verbis nicht verwendet wurde, was in der Geschichte der Wissenschaften oftmals stattgefunden hat. Auch die ursächlichen Beziehungen, die zwischen den Vorgängen bestehen, die zur Entstehung gewisser Anschauungen führen, reichen nicht aus. Diese Beziehungen können bestehen, die Anschauungen einander aber trotzdem ganz fremd sein. Man müßte somit im voraus einen Begriff vom Gebiet der Gegenstände besitzen, mit denen sich eine historisch zu bestimmende Wissenschaft (die Erkenntnistheorie) zu beschäftigen hätte, um eine Abgrenzung zwischen vorhandenen Anschauungen durchführen zu können. Dieser Begriff des Gegenstandsgebietes ließe sich in seinem Inhalt durch historische Tatsachen und mit Hilfe rein historischer Methoden nicht mehr bestimmen, sondern müßte dazu unter einem ganz anderen Gesichtspunkt betrachtet werden. So sieht man, daß sogar die historische Bestimmung einer Wissenschaft von gewissen außerhistorischen Begriffen abhängt - von welchen, das ist noch zu erwägen. Selbst wenn es uns aber gelänge, den historischen Entwicklungsgang der epistemologischen Anschauungen zu entdecken, so wären wir damit noch nicht in der Lage, ein einheitliches Forschungsgebiet der Erkenntnistheorie zu bestimmen. Denn wir würden nur eine verhältnismäßig lockere Menge von Sätzen gewinnen, von welchen wir

§ 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie

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die "eigentlich" zur Erkenntnistheorie gehörenden nicht auszuwählen wüßten, [also jene], die nicht aus Versehen oder infolge irgendwelcher nebensächlicher historischer Umstände dazugerechnet worden sind. Man könnte jedoch vielleicht sagen, daß es nicht nötig sei, eine solche Auswahl zu treffen, weil unter dem historischen Gesichtspunkt betrachtet alle diese Sätze, selbst wenn sie einander widersprächen und von verschiedenartigen Gegenständen handelten, dennoch zur gegebenen, historisch verstandenen Wissenschaft gehörten und alle - wenn man so sagen darf - gleich gut seien. Dann aber müßte man wohl zugeben, daß ein und dieselbe Wissenschaft Meinungen beinhalten kann, die teils zueinander im Widerspruch stehen und unvereinbar sind, teils sich auf ganz verschiedene Gegenstände beziehen. In jeder Wissenschaft wurden zwar in einer gewissen Periode ihrer Entwicklung Sätze ausgesprochen, die falsch waren oder anderen Sätzen widersprachen. Dies geschah aber nur solange, bis ihr Falschsein oder ihre Widersprüchlichkeit zu anderen Sätzen erkannt wurde. Und sobald das passierte, wurden sie als "nicht zur Wissenschaft gehörende" aus der Klasse der erworbenen Sätze ausgeschlossen. Ebenso wurde ein Satz aus dem Bereich der fraglichen Wissenschaft ausgeschlossen und zu einer anderen gerechnet, wenn es sich zeigte, daß dieser sich auf einen Gegenstand bezieht, der zu einem ganz anderen Gebiet gehört als die übrigen Forschungsgegenstände der gegebenen Wissenschaft. In manchen Fällen wurden, wenn es sich herausstellte, daß eine ganze Gruppe von Sätzen sich auf Gegenstände bezieht, die durch die gegebene Wissenschaft nicht erforscht werden, völlig neue Wissenschaften gebildet. Es kam auch umgekehrt vor, daß zwei verschiedene Gruppen von Sätzen, die man bis zu einem bestimmten geschichtlichen Zeitpunkt zu zwei Wissenschaften rechnete, zu einer Gruppe zusammengeschlossen wurden, wenn es sich zeigte, daß zwischen ihren Gegenständen irgendwelche sehr wesentlichen Verwandtschaften oder Zusammenhänge bestehen: so wurden zwei getrennte Wissenschaften zu einer Wissenschaft. Die geschichtlichen Tatsachen zeugen also davon, daß die Kontinuität des geschichtlichen Prozesses, in dem gewisse Sätze entdeckt werden, für sich allein noch nicht ausreicht, um alle diese Sätze zu einer Wissenschaft rechnen zu können, daß also über deren Einheitlichkeit eigentlich etwas ganz anderes entscheidet als die Einheit und Kontinuität des geschichtlichen Prozesses, in dem die Sätze dieser Wissenschaft entstehen. Diese Kontinuität scheint übrigens ebenfalls für die Identität

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5 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie

einer Wissenschaft nicht unentbehrlich zu sein. Manchmal wurden ja gewisse Wissenschaften während ganzer Epochen nicht betrieben, ohne daß ihre Einheit oder Identität dadurch beeinträchtigt wurde. Es kam auch vor, daß man ein und dieselbe Wissenschaft in verschiedenen Zeiten und Kulturkreisen ganz unabhängig voneinander betrieb, daß man sich aber davon erst ex post überzeugte. Was dagegen notwendig und hinreichend ist, damit wir es mit einer Wissenschaft zu tun haben, ist eine Frage, die besondere Betrachtungen erfordert. Für unsere Zwecke reicht es vorläufig aus, festzustellen, daß eine unentbehrliche Bedingung dafür, daß eine Klasse von Sätzen eine Wissenschaft bildet, darin besteht, daß diese Sätze a) sich auf ein Gebiet beziehen, b) in keinem Widerspruch zueinander stehen und c) alle wahr oder wenigstens in hohem Grad wahrscheinlich sind. 9 Dann aber taugt die rein historische Bestimmung einer Wissenschaft nicht viel. Angesichts dieser Situation sagen manche: Um eine Wissenschaft, ζ. B. die Erkenntnistheorie zu bestimmen, solle man einfach vereinbaren, womit sie sich zu beschäftigen habe, ohne sich dabei um geschichtliche Tatsachen oder Eigenschaften der Forschungsgegenstände zu kümmern. Denn diese würden wir eben noch nicht kennen, wenn wir die fragliche Wissenschaft noch nicht besitzen, sondern uns erst bemühen, sie zu bestimmen. Man müsse durch Konvention einen Bereich von Gegenständen angeben, indem man ihn in einer Weise festlege, die uns nicht zwinge, irgendwelche "wesentlichen" Eigenschaften dieser Gegenstände anzugeben 10 , wenn diese sich nur irgendwie äußerlich in die uns interessierende Klasse einordnen lassen. Letzten Endes beschäftige sich jede Wissenschaft eben damit, womit wir wollen, daß sie sich beschäftigt. Man müsse somit diesen unseren Willen hervortreten lassen und ihn zu einem Bestimmungsfaktor bei der Bildung der Wissenschaften machen.

Ich spreche hier von sogenannten "theoretischen" Wissenschaften. Anders verhält es sich bei sogenannten "praktischen" Wissenschaften und insbesondere Technologien. Darauf werde ich noch zurückkommen. Denn das - wie man sagt - könnten wir nur machen, wenn wir schon diese Gegenstände, ihr Wesen kennen würden, also wenn wir schon die Theorie besäßen, die wir doch erst vorbestimmen wollen.

§ 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie

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Die Wissenschaften sind zwar ohne Zweifel Erzeugnisse unserer Tätigkeiten besonderer Art. Der Faktor unseres Willens kann somit bei ihrer Bildung nicht ohne Bedeutung sein, er ist aber weder je streng autonom noch selbständig. Es scheint auf den ersten Blick, daß man - wenn man wirklich will - beliebig seltsame Wissenschaften bilden kann, ζ. Β. die "Wissenschaft" von den Gegenständen, die sich gerade jetzt in dem Zimmer befinden, wo ich diese Worte schreibe. Dies wäre - wie es scheint - ein besonderes Konglomerat von Wissenschaften, das ζ. B. einen Ausschnitt der Physik und Chemie, einen Ausschnitt der Psychologie und einen Teil der Kulturgeschichte und der deskriptiven Wissenschaft von Kultur- und Zivilisationsgebilden enthalten würde. In der Tat, ein solches Konglomerat könnten wir bilden, wenn wir alle in Frage kommenden Wissenschaften schon fertig hätten. Wenn wir sie aber nicht hätten und wenn wir uns wirklich auf die so umgrenzte Klasse von Gegenständen beschränken, hingegen die anderen, auf ganz andere Weise gebauten Wissenschaften nicht benutzen sollten - erst dann aber hätten wir es doch mit einer, wenn auch nur einigermaßen selbständigen, theoretischen Einheit zu tun - , dann würde sich bald zeigen, daß in diesem Zimmer viele Erscheinungen, Gegenstände und Tatsachen existieren, die ganz unverständlich sind. Wir könnten sie nicht erklären, ja nicht einmal ordentlich beschreiben, denn es würden uns Kenntnisse von Tatsachen und Gegenständen fehlen, die "außerhalb" dieses Zimmers liegen. Das müßte uns zu verstehen geben, daß die von uns willkürlich abgegrenzte Klasse der Gegenstände realiter gar nicht so abgegrenzt, sondern vielmehr auf mannigfache Weise eingeflochten ist in verschiedene Klassen von Gegenständen, die sich außerhalb dieses Zimmers befinden, und zwar durch Zusammenhänge und Abhängigkeiten, die zwischen ihnen obwalten. Es liegt nicht an unserem einfachen sie iubeo, irgend etwas am Bestand dieser Zusammenhänge zu ändern. Es hängt auch nicht von unserem Dekret ab, welche Zusammenhänge für die Erklärung der unverständlichen Tatsachen innerhalb des Zimmers heranzuziehen sind, denn darüber entscheiden die Tatsachen selbst. Wir würden uns zwar mit ihnen ohne unseren Willen überhaupt nicht beschäftigen, aber der von uns vollzogene Willensakt ist in seiner Richtung durch unsere ErkenntnisinteKssea und darüber hinaus - und vor allem - durch die Eigenschaften gewisser Gegenstände und die zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge bestimmt. Daher wird es angebracht und zugleich natürlich sein, wenn wir, ohne die Rolle des Wil-

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§2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie

lensfaktors bei der Bildung von Wissenschaften in Abrede zu stellen, die Wissenschaften vor allem nach Merkmalen und Eigenschaften der in unserer Umgebung vorgefundenen Gegenstände sowie nach Verwandtschaften und Zusammenhängen zwischen diesen bestimmen und damit zugleich voneinander abgrenzen. Dabei haben die Wissenschaften, obwohl sie von uns gebildet werden, gewisse eigene, von uns unabhängige Merkmale, die wir bei ihrer Bestimmung ebenfalls berücksichtigen müssen. Es ist somit klar, daß man das nie "mit einem Schlag" und endgültig machen kann. Man muß immer eine Reihe von sukzessiven vorläufigen Abgrenzungen vollziehen, die mit der Erweiterung und Vertiefung unseres Wissens von den zu erkennenden Gegenständen immer deutlicher werden. Dabei können die späteren Abgrenzungen im Prinzip Korrekturen der vorangehenden darstellen, die sich dann als zu eng oder zu weit herausstellen können. Es ist sogar nicht ausgeschlossen, daß sich in gewissem Sinne eine ganz andere Abgrenzung ergibt. Dann entwickelt sich zwar der Erkenntnisprozeß weiter, die Kontinuität der Entwicklung der gegebenen Wissenschaft wird jedoch abgebrochen; damit geht auch diese Wissenschaft sozusagen zu Ende, sie wird aufgegeben, und an ihre Stelle tritt eine ganz andere Wissenschaft, die ebenfalls nur vorläufig bestimmt ist. Praktisch läßt sich eine endgültige Bestimmung der gegebenen Wissenschaft nie erreichen, denn es scheint keine "fertige" Wissenschaft zu geben, in der alle Fragen geklärt wären und somit auch die Möglichkeit einer Veränderung ihrer Bestimmung durch neu gewonnene Erkenntnisergebnisse wegfiele. Diese Bemerkung über die Notwendigkeit immer neuer Abgrenzungen jeder Wissenschaft wird für uns von besonderer Bedeutung sein. Erst dort, wo wir es mit Technologien zu tun haben, mit Untersuchungen, die auf die Verwirklichung gewisser Gegenstände oder Sachverhalte, z.B. von Verkehrsmitteln oder von Mitteln zur Behandlung von Kranken, abzielen, bestimmt dieses Ziel und besonders die Funktion und die Eigenschaften der zu realisierenden Gegenstände den Umkreis der Gegenstände, die erkannt werden müssen, damit dieses Ziel der gegebenen Wissenschaft erreicht werden kann. Zu diesem Umkreis können verschiedene Klassen von Gegenständen gehören. In der Medizin beschäftigt man sich beispielsweise notwendig sowohl mit dem Aufbau des Körpers ζ. B. des Menschen wie mit den in ihm ablaufenden Prozessen - und zwar sowohl den "normalen" als den pathologi-

§ 2. Schwierigkeiten

bei der Bestimmung des Gebietes der

Erkenntnistheorie

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sehen - sowie den physikalischen und chemischen Eigentümlichkeiten von anorganischer Materie, mit der Einwirkung verschiedener chemischer Verbindungen auf den menschlichen Organismus wie auch mit den Eigenschaften des Klimas und seinem Einfluß auf den Körper des Menschen, mit verschiedenen Problemen der Psychologie und Soziologie. So entsteht ein Komplex von entsprechend gewählten Ausschnitten einer Reihe von Wissenschaften, die sämtlich die theoretische Grundlage für die gegebene Technologie abgeben, und erst auf dieser Grundlage baut sich ein System von Sätzen bezüglich der "technischen" Probleme selbst, der Realisierung der Ziele, denen die gegebene Technologie dienen soll (in der Medizin ζ. B. das Problem der Therapie). Aber selbst im Falle einer Technologie wird die Rolle unseres Willens ihrer Bildung durch die sachlichen Zusammenhänge beschränkt, die zwischen den Eigenschaften des zu realisierenden Zieles und den Eigenschaften der Mittel bestehen, die für die Erreichung dieses Zieles verwendet werden können oder müssen. In beiden Fällen also, d. h. sowohl bei den theoretischen wie bei den technologischen Wissenschaften, spielt der

gegenständliche

Faktor eine große Rolle bei ihrer Abgrenzung. Wir müssen uns demnach vor allem um seine präzise Bestimmung bemühen. Wenn wir uns jedoch bemühen, auf diesem Wege einzelne Wissenschaften zu charakterisieren, nehmen wir selbstverständlich an, daß zwischen den Gegenständen selbst Zusammenhänge und Verwandtschaften bestehen, die die einzelnen Familien, die Familien der Familien und die gesamten Gebiete der Gegenstände bestimmen. In der Folge, dadurch daß wir die Last der Bestimmung der Wissenschaft auf die Abgrenzung ihres Forschungsgebietes im Hinblick auf die Eigenschaften und Zusammenhänge zwischen gewissen Gegenständen verschieben, vergrößern wir selbst die Schwierigkeiten dieser Aufgabe, ja vielleicht sogar dermaßen, daß sie überhaupt nicht überwunden werden können. Denn wir setzen die Zusammenhänge und Verwandtschaften zwischen Gegenständen entweder ohne jeden Grund voraus oder aber auf Grund der Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung. Im ersten Fall wäre das eine unbegründete und mithin vielleicht falsche Annahme - wie kann man also auf so unsicherer Grundlage die einzelnen Wissenschaften und insbesondere die Erkenntnistheorie bilden und bestimmen? Im zweiten Fall würden wir uns im Kreise bewegen: Um die einzelnen Wissenschaften bestimmen und voneinander abgrenzen zu können, müßte man diese mindestens eini-

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§ 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie

germaßen abgeschlossen, auf jeden Fall aber bestimmt und voneinander abgegrenzt haben. Entweder wäre also die Bestimmung der einzelnen Wissenschaften überhaupt nicht möglich, oder man müßte ein anderes Prinzip ihrer Bestimmung und gegenseitigen Abgrenzung haben. In dem besonderen, uns speziell interessierenden Fall: Um die Erkenntnistheorie als eine Wissenschaft durch Abstecken des Gegenstandsgebietes ihrer Forschungen zu bestimmen, müßte man nicht nur wissen, daß zwischen den als "Erkenntnis" benannten Gegenständen eine besondere Verwandtschaft besteht, sondern außerdem, worin diese Verwandtschaft besteht und wodurch "Erkenntnisse" sich von allen übrigen "Gegenständen" "unterscheiden". Mit anderen Worten, man müßte im voraus wissen, was Erkenntnis ist. Woher aber sollen wir das wissen? Kann nicht erst eine wenigstens in ihren Hauptzügen fertige Erkenntnistheorie uns eine ausreichende und begründete Antwort auf diese Frage erteilen? Das würde bedeuten, daß die Erkenntnistheorie sich erst dann bestimmen läßt, wenn sie - wenigstens in ihren prinzipiellen Teilen - bereits existiert. Wenn wir eine Theorie - ζ. B. die euklidische Geometrie in angedeuteten Umrissen schon "fertig" haben, dann bereitet ihre Bestimmung als eine spezielle Wissenschaft durch Abstecken ihres Forschungsgebietes keine prinzipiellen Schwierigkeiten. Was soll man aber machen, wenn wir eine solche "fertige" Theorie noch nicht haben, wie es eben bei der Erkenntnistheorie der Fall ist - ist die Aufgabe, die wir uns stellen, unter solchen Umständen nicht hoffnungslos? So wäre es tatsächlich, wenn die Bestimmung einer Wissenschaft, die sich erst im geschichtlichen Werdegang befindet, "mit einem Schlag" und sofort endgültig durchgeführt werden müßte. Was aber zwingt uns, so vorzugehen? Die Geschichte der schon vorliegenden Wissenschaften lehrt uns, daß dies gar nicht erforderlich, geschweige denn notwendig ist. Die Physik beispielsweise existiert heutzutage ohne Zweifel unabhängig davon, wie viele von ihren Grundproblemen noch ungeklärt sind. Niemand aber, der die Geschichte der Physik auch nur ein wenig kennt, wird sagen, daß die wissenschaftlich organisierte physikalische Forschung mit der bewußten und endgültigen Bestimmung ihres Forschungsgebietes begonnen wurde. Im Gegenteil, während sehr langer Zeit befand sie sich in einem Zustand, in dem man schon eine Reihe von wahren Sätzen entdeckte und sich die charakteristischen Merkmale ihrer Forschungsgegenstände noch nicht klar zum Bewußtsein zu bringen wußte,

§ 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie

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wenn man auch die ganze Zeit auf eine wissenschaftlich nicht bewußte (wie man manchmal falsch sagt "intuitive") Weise ungefähr den entsprechenden Typus von Gegenständen und Erscheinungen "im Auge" hatte. In Grenzfällen unterlag man manchmal wesentlichen Irrtümern oder stieß auch auf Bedenken, die man nicht zu beseitigen wußte. Erst allmählich, durch das immer tiefere Eindringen in das Gebiet der physischen Tatsachen, gelangte man zu ihrer immer genaueren und bewußteren Bestimmung. Der Bereich der Forschungsgegenstände unterlag dabei nicht selten gewissen Veränderungen, ζ. B. wurde früher das Gebiet der Physik von dem der Chemie streng abgegrenzt, und heute verwischt sich diese Abgrenzung immer mehr. Im Zusammenhang damit haben sich auch die Meinungen über die richtigen Forschungsmethoden und die Rolle der einzelnen physikalischen Sätze innerhalb der Physik verändert, bis die Phase eingetreten ist, in der um die einzelnen, auch noch so grundlegenden Sätze gestritten werden kann, die Richtung der Untersuchungen aber endgültig festgelegt zu sein scheint. Nicht anders verhält es sich mit der Erkenntnistheorie. Auch in diesem Bereich haben wir es zu tun mit einem ähnlichen Prozeß ihres langsamen (obgleich vielleicht viel langsameren als etwa in der Physik) Sichkristallisierens durch das immer tiefere Eindringen in ihr Forschungsgebiet und durch eine Reihe von Versuchen, sie [die Erkenntnistheorie] allgemein zu fassen. Dieser Prozeß ist aber in der Erkenntnistheorie nicht so weit fortgeschritten wie in anderen Wissenschaften. Aus dieser Tatsache sollte man entsprechende methodologische Konsequenzen ziehen. Wollen wir eine auch nur vorbereitende Bestimmung der Erkenntnistheorie gewinnen, so müssen wir mit dem

vorwissenschaftlichen

Stand ihrer Forschungen anfangen und uns bemühen, gewissermaßen auszugsweise diese Stadien durchzugehen, die die Erkenntnistheorie zu ihrer wissenschaftlich wertvollen und verantwortlichen Bestimmung bringen können. Eben diese Tatsache ist der Grund dafür, daß in der heutigen Situation eine theoretische, oder besser, methodologische Einführung in die Erkenntnistheorie nötig ist, die den Prozeß ihres Sichkristallisierens in eine ihrer Eigenart, der Grundzüge ihres Forschungsgegenstandes bewußte Disziplin wie auch [den Prozeß] der Auswahl der richtigen Erkenntnismittel und der wirksamen Methode gewissermaßen beschleunigen würde.

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§ 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie

In der oben geschilderten Situation würde vielleicht ein Verfechter der Logistik noch einmal vorschlagen, daß wir anstelle der Erwägungen einer solchen "Einführung" "einfach" definieren (d. h. in der Sprache der Logistik vereinbaren) sollen, was wir unter "Erkenntnis" verstehen. Damit wäre - seiner Meinung nach - der Ausdruck "Erkenntnistheorie" definiert, so daß wir alle Schwierigkeiten lösen würden, die uns hier im Wege stehen. Leider geht es in der wissenschaftlichen Forschung und besonders in einer so bedeutsamen und schwierigen wie der epistemologischen nicht nur um die Festlegung der Bedeutungen der Ausdrücke, die wir gebrauchen. Gewiß machen wir indirekt, indem wir wissenschaftliche Ergebnisse gewinnen, die von uns gebrauchten Wendungen eindeutig, und manchmal verleihen wir ihnen sogar bewußt erstmals eine Bedeutung. Indessen ist das nur ein Nebenergebnis, wenn es auch für die Fixierung, Präzisierung und Mitteilung der gewonnenen wissenschaftlichen Ergebnisse und damit auch für die Entwicklung der weiteren Untersuchungen nicht ohne Belang ist. Der Wert dieses Nebenergebnisses ist jedoch desto geringer, je lockerer der Kontakt mit der Erkenntnis des Gegenstandes ist, der durch das Wort, in dem sich jene "Festlegung" der Bedeutung durch eine konventionelle Definition vollzogen hat, zu bezeichnen ist. Hätten wir tatsächlich eine Definition des Wortes "Erkenntnis", die auf unserem Wissen davon beruhte, was die Erkenntnis ist, dann würde die Lage, in der wir uns befinden, viel einfacher. Leider besitzen wir eben keine solche Definition, und es brächte uns auch keinen Nutzen, wenn wir einem Laut (etwa dem Laut "Erkenntnis") willkürlich eine sozusagen aus der Luft gegriffene Bedeutung verleihen würden, zumal diese willkürlich bestimmte Bedeutung des Wortes auf ganz andere Gegenstände als diejenigen, die uns interessieren oder auch überhaupt auf keine Gegenstände hinweisen könnte. Was würde es uns nützen, wenn wir ohne vorangehende Untersuchungen einfachz. B. festlegten, "Erkenntnis" sei ein X mit den Merkmalen y, z, k,..., ohne uns auch nur ein wenig darum zu kümmern, ob ein X dieser Art je existiert hat oder wirklich existiert und ob diese y, z, k, ... überhaupt ein und demselben Gegenstand zukommen können? Der Bereich der Gegenstände wäre zwar durch eine solche Definition eindeutig festgelegt, aber diese Gegenstände könnten reine Fiktionen darstellen, die uns nichts angehen. Wenn eine Erkenntnistheorie existiert oder existieren soll, so nur deswegen, weil vor uns gewisse konkrete Probleme auftauchen, im Zusammenhang mit Gegenstän-

§ 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie

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den, die wir nicht erzeugen, sondern in unserem Alltagsleben und in der darin stattfindenden Erfahrung vorfinden, und zwar Probleme, die so wichtig sind, daß sie unsere Aufmerksamkeit verdienen. Diese "Gegenstände" sind einerseits gewisse von uns vollzogene Tätigkeiten - wir nennen sie gewöhnlich "Erkennen" - die sich auf gewisse andere "Gegenstände" beziehen, die wir gewöhnlich "Dinge" oder "Prozesse" nennen (z.B. der Prozeß des Schmiedens von Eisen), und andererseits besondere, in unseren Tätigkeiten gewonnene Ergebnisse - ζ. B. "Sätze" (Urteile) über diese Dinge - die wir gemeinhin "Erkenntnis" nennen. Bereits gewisse Verhältnisse und Abhängigkeiten zwischen diesen "Gegenständen", diesen Tätigkeiten und deren Ergebnissen stellen für uns eine Art Rätsel dar, das wir nicht verstehen und das uns beunruhigt. Und das ist der Anfang der Fragen, der Probleme, die wir beantworten wollen. Um eine Antwort zu gewinnen, müssen wir die Untersuchung aller soeben genannten "Gegenstände" in Angriff nehmen. Daß wir es mit derartigen "Gegenständen" zu tun haben, daß wir überzeugt sind, daß sie irgendwie sind oder geschehen - das alles sind natürlich unsere "vorwissenschaftlichen" Überzeugungen, die sich als teilweise oder völlig falsch herausstellen können, die uns aber den ersten Impuls zur Durchführung der entsprechenden Untersuchungen geben. Unter ihrem Einfluß treten wir an diese Untersuchungen heran, und in dieser Situation kann uns keine rein konventionelle Definition bei der Lösung der sich uns aufdrängenden Probleme behilflich sein. Allein die Erforschung der Sachverhalte, vor deren Hintergrund diese Probleme erscheinen, eine gewissenhafte Analyse der darin beschlossenen Bestandteile, ein Versuch, die darin vorhandenen Unbekannten aufzuklären usw. können uns in den Lauf der Untersuchungen bringen, deren Gesamtheit die von uns gesuchte Theorie bilden kann. Dementsprechend werde ich hier eine Reihe von verschiedenen Bestimmungen der Erkenntnistheorie behandeln, von denen jede weitere die Fehler und Schwierigkeiten zu umgehen sucht, auf die die vorige Bestimmung gestoßen ist. Vielleicht wird es uns gelingen, auf diesem Weg eine Bestimmung zu gewinnen, die - wenigstens in dem Problembereich, den ich berühren werde - für unser bisheriges Wissen ausreichend erscheinen wird. Ich werde hier fünf solche Bestimmungen besprechen. Der Charakterisierung ihres Forschungsgegenstandes gemäß werde ich hier die so gewonnenen Theorien mit

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§ 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie

entsprechenden Bezeichnungen versehen, um sie voneinander zu unterscheiden. Es sind die folgenden: I. Die psychophysiologische Erkenntnistheorie. II. Die deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis. III. Die apriorisch-phänomenologische Erkenntnistheorie. IV. Die logizistische Erkenntnistheorie. V. Die autonome Erkenntnistheorie. 11 Diese Bestimmungen resp. die ihnen entsprechenden Auffassungen der Erkenntnistheorie wurden nicht rein willkürlich ad usum meiner Problematik ausgedacht. Sie haben alle ihre konkreten Entsprechungen in den Theorien, die tatsächlich in der Geschichte der europäischen Philosophie der Neuzeit vorgekommen sind. Die Art und Weise aber, wie ich hier diese verschiedenen Auffassungen entwickeln und besprechen werde, wird bewirken, daß sie eine Art Idealisierung der historisch vorliegenden Theorien darstellen werden. Diese Idealisierung wird einerseits im Weglassen des geschichtlichen Ballastes bestehen und andererseits in einer gewissen Vereinfachung und zugleich konsequenteren und gewissermaßen verbesserten Formulierung der einzelnen Auffassungen, Standpunkte und der mit ihnen verbundenen Lösungen. Meine Überlegungen werden dadurch den Charakter rein sachlicher Erörterungen annehmen, frei von Abweichungen und Unzulänglichkeiten, die in der geschichtlichen Entwicklung der fraglichen Theorien vorgekommen sind. Nichtsdestoweniger wird es nützlich sein, im Laufe meiner Ausführungen den Leser ab und zu auf diese oder jene tatsächlich ausgesprochene Ansicht zu verweisen.

'1

[In der III. Redaktion nennt Ingarden die folgenden "Erkenntnistheorien" bzw. Bestimmungsweisen der Erkenntnistheorie: "I. Die psychophysiologische Bestimmung: die psychophysiologische Erkenntnistheorie. II. Die deskriptiv-phänomenologische Bestimmung: die Phänomenologie der Erkenntnis. III. Die aprioristisch-phänomenologische Bestimmung: die aprioristisch-phänomenologische Erkenntnistheorie. IV. Die logizistische Bestimmung der Erkenntnistheorie. V. Die ontologische Bestimmung: die Ontologie der Erkenntnis. VI. Die transzendentalistische Bestimmung: die transzendentale Erkenntnistheorie" (Red. IIIA, Ms. S. 14). In der II. Redaktion (Ms. S. 25) danach noch durchgestrichen: "Außerdem werde ich irgendwann darstellen müssen: a) die reine allgemeine Erkenntnistheorie, b) die speziellen Erkenntnistheorien, c) die allgemeine und die spezielle Kriteriologie sowie die angewandten Erkenntnistheorien."]

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I.

Kapitel: Die psychophysiologische Erkenntnistheorie

§ 3. Einführung in das Problem Psychophysiologische

Erkenntnistheorie nenne ich diejenige Form der Er-

kenntnistheorie, deren Idee sich uns natürlicherweise aufdrängt, wenn wir unter den Beschäftigungen des Alltagslebens diese oder jene Erkenntnistätigkeit ausüben oder diese auch im Rahmen von speziellen wissenschaftlichen Untersuchungen vollziehen und bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal auf Erkenntnisprobleme stoßen. Sie beziehen sich entweder auf die von Menschen vollzogenen Erkenntnistätigkeiten oder auf die darin gewonnenen "Erkenntnisse". Diese Probleme tauchen vor uns auf, wenn wir uns bemühen, die in einem gewissen Bereich, ζ. B. in der Naturwissenschaft geführten Forschungen in korrekter Weise zu organisieren und dabei Mittel suchen, ihnen größere Wirksamkeit und zuverlässige Ergebnisse zuzusichern. Dann bemerken wir, daß wir, indem wir im Alltagsleben die Dinge der uns umgebenden Welt erkennen oder in einem Bereich systematische Forschungen durchführen, gewisse spezielle Tätigkeiten ausüben, deren wir uns früher nicht bewußt waren. Wir empfinden das Bedürfnis, uns zum Bewußtsein zu bringen, was für Tätigkeiten das sind, wie sie verlaufen und wohin sie führen. Bald stellen wir fest, daß wir eigentlich wenig über sie wissen und daß wir diesen Zustand der Unwissenheit - vor allem - dadurch überwinden müssen, daß wir uns [entsprechende] Fragen (oder Probleme) zum Bewußtsein bringen und auf eine durchdachte und konsequente Weise die Forschung organisieren, die zu ihrer Lösung führt. Dann kommen wir auf die Idee der Theorie, die ich soeben die "psychophysiologische Erkenntnistheorie" genannt habe. Ich habe sie aber so genannt im Hinblick auf: 1) die Weise, wie das Forschungsgebiet der so verstandenen Erkenntnistheorie bestimmt wird, 2) die Voraussetzungen, die sie mit sich bringt, und 3) die von ihr befolgten Methoden. Sie ist - wie schon erwähnt - keine Erfindung der philosophischen Spekulation. Im Gegenteil, man hat mehrfach versucht, sie in konkreten Untersuchungen zu realisieren, obwohl man sich weder ihre charakteristischen Züge noch [ihre] Voraussetzungen, die ich hier hervorheben möchte, klar zum Bewußtsein brachte. Man hat

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I. Die psychophysiologische

Erkenntnistheorie

die erkenntnistheoretischen Forschungen in diesem Stil einfach betrieben und erst verhältnismäßig spät ihren Gegenstand und ihre Aufgaben formuliert. So finden sich beispielsweise bei manchen englischen Empiristen, von John Locke an, zahlreiche Erwägungen, die in ihrem Sinne und auf ihrem Boden geführt wurden. Das betrifft jedoch in gewissem Maße ebenfalls die Rationalisten des Kontinentes, von Descartes an. Bei Kant ist die Situation nicht so klar. Es scheint, daß die Erkenntnistheorie, die er - besonders in der II. Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft - realisieren wollte, sich von der psychophysiologischen Erkenntnistheorie (deren deutlichen Begriffs er übrigens entbehrte!) in wesentlichen Zügen unterscheiden sollte. Indessen kommt die Theorie, die er tatsächlich realisiert hat, in vielen wesentlichen Punkten der psychophysiologischen Erkenntnistheorie sehr nahe, auch wenn man nicht geradezu sagen kann, daß sie mit dieser völlig identisch sei. Aber auch viel später, als in der Geschichte der europäischen Philosophie die Versuche unternommen wurden, die epistemologischen Probleme auf andere Weise zu betrachten, finden wir deutliche und vielleicht die stärksten Rückwendungen zur psychophysiologischen Erkenntnistheorie. Ich denke hier an jene Strömungen aus der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts, die nach dem Zusammenbruch der Systeme des deutschen Idealismus und gewissermaßen auch der Philosophie selbst sich bemüht haben, diese auf der Grundlage der Psychologie wiederaufzubauen. Zu dieser Zeit gaben sich viele Psychologen, die zugleich hervorragende Naturwissenschaftler waren, nicht damit zufrieden, Psychologie zu betreiben, sondern glaubten, daß die Psychologie ihnen eine Grundlage für die philosophischen Betrachtungen überhaupt bereitstelle. Man hat sich besonders bemüht, im Bereich der Erkenntnisprobleme zu philosophieren, und man machte das nicht anders, als eben in der Art der psychophysiologischen Erkenntnistheorie. Man betrieb die Psychologie der Erkenntniserlebnisse auf der Basis der Physiologie mit dem deutlichen Ziel, auf diesem Weg eine Lösung der epistemologischen Probleme zu erlangen, und in der Überzeugung, das sei eben der richtige Weg zur Lösung dieser Probleme, ein Weg, der von den Fehlern dieser oder jener philosophisch-metaphysischen Systeme frei sein soll. Wenn man die epistemologischen Forschungen auf das Gebiet der Psychologie richtete, tat man das offensichtlich in der Absicht, die Erkenntnistheorie wissenschaftlich zu machen, mithin ihr den Charakter von wissenschaftlich korrekten und verantwortungsvollen Untersu-

§ 3. Einführung in das Problem

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chungen zu verleihen. Daß man dabei eine Psychologie ganz spezieller Art betrieben hat, indem man sich hauptsächlich auf die Untersuchung der sinnlichen "Empfindungen" konzentrierte - das ist nur noch ein signum temporis, ähnlich wie die Tatsache, daß man sich auf die physiologischen Ansichten jener Zeit berufen hat. Bald stellte sich heraus, daß es möglich ist, den Typus dieser Psychologie zu ändern, mithin den experimentellen Charakter der Untersuchungen aufzugeben sowie die damals populäre assoziativ-atomistische Auffassung des psychischen Lebens zu verwerfen - oder sogar, daß es möglich ist, auf die Kampfparole gegen die Metaphysik zu verzichten und dennoch die grundsätzlichen Züge der psychophysiologischen Erkenntnistheorie beizubehalten. Ich habe hier die epistemologischen Forschungen Bergsons im Auge, die auf diesem Boden betrieben wurden, obgleich er, was die philosophischen Meinungen betrifft, Welten entfernt war von den deutschen Psychophysiologen wie auch von den englischen Empiristen des XIX. Jahrhunderts im Stil von J. St. Mill. Nicht anders ist es im Grunde mit W. James. Wohl erschien gegen Ende des XIX. Jahrhunderts eine Opposition gegen diese Art Erkenntnistheorie - vor allem in Gestalt von verschiedenen Versionen des Neukantianismus - , die sich am Anfang des XX. Jahrhunderts in die Konzeption der sog. reinen Phänomenologie Husserls umgewandelt hat. Nichtsdestoweniger hatte die psychophysiologische Erkenntnistheorie nicht nur ständig viele Anhänger in den Kreisen der empiristisch oder positivistisch orientierten Fachgelehrten; sie lebt auch gleichsam immer wieder gerade deswegen auf, weil diese Vorgehensweise in der Epistemologie den Dilettanten am natürlichsten, ich würde sagen am "selbstverständlichsten" erscheint (und zu den Dilettanten in der Erkenntnistheorie gehören nicht nur die Leute, die sich der alltäglichen Lebenspraxis widmen, sondern sogar die hervorragendsten Fachgelehrten, wie viele zeitgenössische Physiker oder Mathematiker). 1 Daher nimmt die Strömung der psychophysiologischen Erkenntnistheorie fast immer dann zu, wenn die Spannung des philosophischen Geistes nachläßt, oder auch dann, wenn auf dem Wege zur Lösung der philosophischen Grundprobleme überhaupt immer neue Schwierigkeiten und Gefahren auftauchen. So fallen z. B. die Gefahren, in die viele philosophische Richtungen nach dem

Das Schlimme ist, daß diese Gelehrten, zweifellos völlig hervorragend im Rahmen ihrer eigenen Wissenschaft, sich anmaßen, autoritative Urteile über Sachen auszusprechen, die über ihren Kompetenzbereich weit hinausgehen.

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/. Die psychophysiologische

Erkenntnistheorie

ersten Weltkrieg geraten sind, mit der Wiedergeburt der Tendenz der psychophysiologischen Erkenntnistheorie unter den sog. Neupositivisten zusammen. Diese Tendenz erscheint gewöhnlich dort, wo die philosophische Kultur - aus welchen Gründen auch immer - unterentwickelt bleibt, was übrigens sogar mit einer hohen Kultur innerhalb der Einzelwissenschaften einhergehen kann. Bei uns [in Polen] haben seit der Zeit des Zusammenbruches der polnischen romantischen Philosophie diejenigen Leute das Schicksal der polnischen Philosophie in die Hand genommen (ich habe hier den Anfang des XX. Jahrhunderts im Auge), die ihr Ideal von Wissenschaftlichkeit von den Naturwissenschaftlern oder Mathematikern der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts übernommen haben. 2 Sie sind zugleich von verschiedenen Formen der deutschen empirischen Psychologie ausgegangen und haben die Psychologie - unabhängig von der Richtung, der sie nahe standen - als die philosophische //awprwissenschaft angesehen. Sie blieben zugleich wenig empfänglich für die Veränderungen, die in der westeuropäischen Philosophie ungefähr seit 1900 stattgefunden haben, wobei sie oft entweder unter dem direkten Einfluß von E. Mach oder etwa B. Russell standen und verhältnismäßig weit entfernt von verschiedenen Varianten des Kantianismus, von der Phänomenologie usw. waren. Gerade sie haben die Erkenntnistheorie entweder überhaupt aufgegeben oder aber sie ausschließlich in der Weise der psychophysiologischen Erkenntnistheorie betrieben, ohne daß sie auch nur eine Spur von Verständnis dafür gehabt hätten, daß sie auch irgendwie anders betrieben werden kann, und ohne daß sie sich die Folgen zum Bewußtsein gebracht hätten, die diese Verfahrensweise nach sich zieht. In dieser Situation wird es um so wichtiger, die Grundlagen dieser Theorie zu überdenken und zu erwägen, ob bei ihren Voraussetzungen und Methoden die Hoffnung besteht, die grundlegenden Erkenntnisprobleme zu einer erfolgreichen Lösung zu bringen. Die oben als Beispiele angedeuteten Anschauungen, die zur psychophysiologischen Erkenntnistheorie gerechnet werden können, unterscheiden sich natürlich untereinander in verschiedenen Einzelheiten. Es wäre vielleicht aus historischen Gründen sogar interessant, diese Einzelheiten auszuarbeiten und zu zeigen, wie die psychophysiologisch verstandene Erkenntnistheorie sich in

Zu ihnen gehören merkwürdigerweise sowohl K. Twardowski und seine Schüler verschiedener Generationen wie andererseits auch W. Heinrich.

§ 4. Die vorepistemologischen

Überzeugungen

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der europäischen Philosophie entwickelt hat. Das würde mich jedoch von meinem Hauptziel abbringen: von der Erstellung einer methodologischen Einleitung zur Erkenntnistheorie. Man muß also darauf verzichten, den historischen Standpunkt einzunehmen und die Betrachtungen auf dem Wege der Darstellung und Kritik der Ansichten bestimmter Autoren zu führen. Man muß vielmehr zu einer gleichsam idealisierenden Darstellung der Grundlagen dieser Theorie übergehen - ihres Ausgangspunktes, der Bestimmung ihres Forschungsgegenstandes, ihrer Problematik und ihrer (meistens nicht bewußten) Voraussetzungen - , um auf dieser Grundlage eine prinzipielle Kritik durchzuführen, die vor allem die Möglichkeit betrifft, auf dem Boden dieser Theorie zur Lösung der durch sie selbst gestellten Probleme zu kommen. Wenn wir so eine gewisse Art von epistemologischen Betrachtungen durchdiskutieren, bewahren wir uns davor, zufällige, individuelle, historisch bedingte Irrtümer zu bekämpfen, und wir heben gewisse prinzipielle Mängel hervor, die sich aus einer der naheliegenden Auffassungsweisen der Erkenntnistheorie ergeben. Die Anweisungen oder Postulate, die wir auf diesem Wege vielleicht gewinnen werden, werden auch nicht an die vorübergehenden, historisch bedingten Konzeptionen gebunden sein; sie werden vielmehr - sofern es uns gelingt, die Grundabsicht der vorliegenden Betrachtungen zu verwirklichen - den Charakter gewisser fester Richtlinien annehmen, die ebenso für die weiteren, speziellen epistemologischen Untersuchungen gelten werden.

§ 4. Die vorepistemologischen Überzeugungen und die Geburt des Erkenntnisproblems Bevor wir in die epistemologischen Untersuchungen eintreten, leben wir, und indem wir leben und handeln, erkennen wir und gewinnen zahlreiche Kenntnisse über die uns umgebende Welt und erwerben verschiedene praktische und theoretische Fertigkeiten. Eines Tages, unter besonderen Umständen, deren wir uns zunächst nicht bewußt werden, finden wir uns vor ganz neue, spezifische Probleme gestellt: Erkenntnisprobleme, d. h. Probleme, die sich auf die Erkenntnis beziehen. Ihre Andersartigkeit und Spezifität fällt uns jedoch zunächst nicht auf. Die Erfolge, die wir den gewonnenen Erkenntnisergebnis-

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/. Die psychophysiologische

Erkenntnistheorie

sen beim Erkennen der Welt in der wissenschaftlichen Arbeit und im Alltagsleben verdanken, haben zur Folge, daß wir unseren Kräften und unseren Forschungsmethoden im allgemeinen vertrauen und kein Bedürfnis empfinden, uns auf eine spezielle und andere Weise für die Erwägung dieser neuen Probleme vorzubereiten. "Direkt" in diesem Zustand also, in dem wir uns beim Entstehen des neuen Problems befunden haben, treten wir an seine Lösung heran, an die Untersuchungen, die für uns de facto völlig neu und ganz anders als die bisherigen Nachforschungen sind. Diese Tatsache, daß die epistemologischen Untersuchungen notwendigerweise später als alle praktischen Erkenntnisse und zumindest als manche wissenschaftlichen Forschungen eintreten und daß wir zu ihnen direkt vom praktischen vorwissenschaftlichen Leben oder von den einzelwissenschaftlichen Forschungen übergehen, hat zur Folge, daß wir sie mit dem ganzen Bestand der in unserem Leben erworbenen, durch die Wissenschaft teilweise geklärten und geordneten Überzeugungen beginnen, der Überzeugungen in bezug auf uns selbst und die uns umgebende Welt. Wir tragen diese Überzeugungen auch unkritisch und ohne sie uns deutlich zum Bewußtsein zu bringen in den Bereich der von uns begonnenen epistemologischen Untersuchungen hinein. Es handelt sich dabei nicht so sehr um die Überzeugungen, die wir nur innerhalb dieser oder jener rein theoretischen Erwägung haben, als vielmehr vor allem um solche, die wir - auf welchem Wege auch immer wir zu ihnen gekommen sein mögen, ob durch streng wissenschaftliche Forschung oder durch "Lebenserfahrung" 3 - in unserem Alltagsleben hegen4, indem wir die

Die Grenze zwischen dem einen und dem anderen ist ziemlich fließend. Die Aufklärung des Verhältnisses, in dem sie zueinander stehen, ihrer Unterschiede und Verwandtschaften würde besondere Betrachtungen erfordern. Es unterliegt auch keinem Zweifel, daß sich in diesem Zusammenhang auf viele solche besondere Überzeugungen hinweisen läßt, von denen wir im Augenblick kaum entscheiden könnten, ob sie sich aus wissenschaftlichen Untersuchungen ergeben oder auch zu den vorwissenschaftlichen Überzeugungen gehören, zumal ein und dieselbe Überzeugung in einer Epoche den Charakter einer "wissenschaftlichen" und in einer anderen den Charakter einer vorwissenschaftlichen, "alltäglichen" Überzeugung tragen kann. Diese ganze Sache spielt für uns keine große Rolle, denn in den weiteren Überlegungen wird es um gewisse sehr prinzipielle und zugleich allgemeine Überzeugungen gehen, die sowohl unserem alltäglichen Verhalten in der Welt zugrunde liegen als auch diesem (übrigens veränderlichen) Bestand an Sätzen, die wir gewöhnlich zur "Wissenschaft" rechnen.

S 4. Die vorepislemologischen

Überzeugungen

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für uns natürliche Einstellung des Menschen einnehmen, der in der ihn umgebenden Welt etwas bewirkt. Ich nenne diese Überzeugungen die vorepistemologischen Überzeugungen. Wählen wir davon diejenigen aus, die wir hier benötigen. Nun, im täglichen Leben bin ich - wie andere Menschen - vor allem überzeugt, daß ich mich unter einer Vielheit von Dingen, Tieren, Menschen usw. befinde, unter den Prozessen, Sachverhalten und Ereignissen, die sich unter den Dingen und Menschen abspielen. Das alles zusammen nenne ich "die Welt". Ich gehöre selber zu dieser Welt. Diese Welt - wie ich überzeugt bin existiert, und zwar auf dieselbe Weise wie ich selbst. Ich bin davon überzeugt, ohne darüber speziell nachzudenken. Es ist einfach die Welt um mich herum, und ich bin umgekehrt in dieser Welt als gleichsam ihr Teil. Das ist für mich so evident und natürlich, daß ich das nicht einmal eigens beachte. Alle Dinge, Tiere oder Menschen haben - nach meiner Überzeugung einen Bestand an Eigenschaften, die sie kennzeichnen und voneinander wie auch von mir selbst unterscheiden. Jedes dieser Dinge oder auch jedes dieser Tiere besitzt diese Eigenschaften an sich und ohne Rücksicht darauf, ob und was ich darüber "meine". Zwischen den Dingen spielen sich, wie gesagt, verschiedene Prozesse ab und vollziehen sich verschiedene Ereignisse, deren Verlauf - wie ich glaube - nur davon abhängt, welche Dinge an ihnen teilnehmen und mit welchen Eigenschaften diese ausgestattet sind. Das geschieht sogar dann, wenn ich in den Gang der Ereignisse eingreife, denn mein Eingriff besteht eben nur darin, daß gewisse Dinge von mir in den Komplex der Ereignisse hineingezogen werden und daß erst davon, wie sie beschaffen sind, der weitere Verlauf der Prozesse abhängt. Im Ablauf dieser Prozesse und im Vollzug dieser Ereignisse verändern sich - wie ich überzeugt bin - gewisse Dinge so, andere anders, und noch andere bleiben unverändert. Sie "verändern sich", d. h. sie verlieren manche Eigenschaften, die sie früher hatten, und erwerben andere. Das System der Eigenschaften, die sie früher hatten, und die ganze Situation, in der sich die am gegebenen Prozeß oder Ereignis teilnehmenden Dinge vor der vollendeten Veränderung befunden haben, sind - wie wir

Über etwas eine Überzeugung hegen heißt mehr als einfach etwas wissen oder sogar über etwas urteilen.

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I. Die psychophysiologische

Erkenntnistheorie

gemeinhin sagen - die "Ursache" der neuen Situation unter den Dingen und deren neuer Eigenschaften. Diese neue Situation dagegen und die Tatsache, daß die Dinge die neuen Eigenschaften besitzen, nennen wir die "Wirkung" dieser Ursache. Dabei meinen wir, daß dasjenige, was wir die "Wirkung" nennen, durch das, was wir die "Ursache" nennen, hervorgerufen wird. Jeder von uns - ausgenommen natürlich Leute, die nicht ganz bei Verstand sind - wird sich irgendwann in seinem Leben bewußt, daß sich in der ihn umgebenden Welt Wesen befinden, die ihm sehr ähnlich sind, und er nennt diese Wesen "Menschen", und andere, weniger ähnliche, nennt er "Tiere" (Hunde, Katzen, Pferde usw.). Die Gegenstände, die uns noch weniger ähnlich sind, nennen wir ("unbelebte") "Dinge" oder - wieder andere - "Pflanzen". Die "unbelebten" Dinge unterscheiden sich - wie ich überzeugt bin von den Menschen und Tieren dadurch, daß in mir und anderen Menschen prinzipiell alle Prozesse derselben Art ablaufen oder ablaufen können wie in den "unbelebten" Dingen (wir nennen sie "physische" oder "materielle" Prozesse), während sich - umgekehrt - nicht alle Prozesse der Art, wie sie in uns stattfinden, in den Dingen abspielen. Unter anderem findet sich in uns etwas, was wir "Denken" oder "Trauer", "Freude", "Begehren", "Abscheu", "Haß" usw. nennen. Manche bezeichnen das kurz als "Bewußtsein", andere als "psychisches Leben". Zugleich sind wir überzeugt - zu Recht oder zu Unrecht - , daß wir uns von den unbelebten, rein "physischen" Dingen nicht nur durch das psychische Leben, sondern daneben durch eine Reihe besonderer Eigenschaften unterscheiden. Nicht nur denken wir, fühlen uns traurig oder freuen uns usw., sondern darüber hinaus sind wir ζ. B. "gut" oder "böse", "heiter" oder "düster", "heftig" oder "sanft", "gescheit" oder "dumm". Mit anderen Worten, wir besitzen einen verhältnismäßig dauerhaften - wie wir uns manchmal ausdrücken - "Charakter". Dabei ist er - wie wir meinen - der Charakter von etwas, was wir unser "Selbst" nennen. Wenn wir aber "ich" oder "du" oder "er" sagen, so meinen wir damit nicht ein Stück des sich im Raum bewegenden, das Knochengerüst bedeckenden Fleisches, sondern einen Menschen, der wie wir sagen - eine "Seele" hat. Wir wissen nicht genau, was diese "Seele" ist, sie scheint uns aber etwas zu sein, was in unserem Leib lebt, in ihm gleichsam enthalten und uns selbst so wesentlich ist, daß wir - wenigstens manche von uns - geneigt sind zu glauben, daß ohne diese "Seele" wir selbst nicht mehr existieren würden. Wenn es geschieht, daß wir sehen, wie ein uns

§ 4. Die vorepistemologischen

Überzeugungen

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bekannter Mensch stirbt und keine Spuren oder Äußerungen jener Seele mehr zeigt, haben wir nicht weiter die Überzeugung, daß wir es noch mit einem Menschen (und zwar eben mit diesem bestimmten) zu tun haben, sondern daß wir eine "Leiche" sehen, etwas ebenso Totes, rein Physisches, wie irgendein Ding. Nur als Wesen, die unter anderem eine Seele besitzen, haben wir jene Eigenschaften, von denen ich oben ein paar Beispiele genannt habe; in dieser Seele spielen sich jene verschiedenen psychischen Prozesse ab, durch welche sie selbst im Laufe unseres Lebens oftmals verschiedene Veränderungen erleidet. Sie verändert sich aber auch durch das, was in meinem Körper geschieht und was mit meinem Körper geschieht. Wenn mein Körper krank wird, leide ich oder bin traurig, wenn ich wieder gesund werde, freue ich mich, wenn die beschwerliche Krankheit zu lange dauert, werde ich "mürrisch", "unruhig", "unerträglich". "Mein" Leben besteht nicht so sehr aus den Schicksalen meines Körpers, als vielmehr aus denjenigen meiner Seele. "Ich" und meine mit meinem Körper vereinte Seele oder auch umgekehrt - mein mit meiner Seele belebter Körper - sind ein und dasselbe. Nun, als ein solcher, als ein lebendiger Körper und einer, der eine Seele besitzt, als einer, der nicht recht weiß, wo - wenn man so sagen darf - seine Seele endet und wo sein Körper beginnt, lebe ich in der Welt der mich umgebenden Dinge, Pflanzen, Tiere, Menschen und der verschiedenen darin stattfindenden Prozesse und "Erscheinungen". Ich beziehe mich auf sie alle auf mannigfache Weise, wie auch all diese "Gegenstände" sich mannigfach auf mich beziehen. Und das gilt sowohl für mich als auch für alle anderen Leute. Ich kann jedoch zwei Arten unserer Beziehungen zu den Gegenständen der jeden von uns umgebenden Welt unterscheiden. Sie sind entweder so, daß wir in der uns umgebenden Welt etwas bewirken: Wir fangen Tiere und töten sie zur Nahrung für uns, wir bauen Häuser und verschiedene Maschinen, wir pflügen und besäen den Acker, um dann die Ernte einzutragen usw.; oder sie sind so, daß wir die Wirkung anderer uns umgebender Menschen, Tiere und Dinge auf uns erleiden. In beiden Fällen ändert sich etwas in der Welt - entweder wir selbst oder aber manche der uns umgebenden Gegenstände. Und in dieser Änderung ist jedesmal das eine die Ursache und das andere die Wir-

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/. Die psychophysiologische

Erkenntnistheorie

kung. 5 Manchmal ist sowohl die Ursache als auch die Wirkung - wie wir meinen - rein physisch, und manchmal gehen sie in den Bestand dessen, was die Ursache resp. die Wirkung ausmacht, neben materiellen Zuständen und Prozessen auch psychische Zustände und Prozesse ein. So oder anders bilden jedoch eben jene kausalen Zusammenhänge zwischen uns und den Gegenständen, die zur uns umgebenden Welt gehören, ein Bindeglied, in dem sich unsere Zugehörigkeit zur wirklichen Welt ausdrückt. Wir sind ein Teil dieser Welt, der in seinem Sein ihren anderen Teilen gleichgeordnet ist. Der Umstand aber, daß die kausalen Zusammenhänge nicht nur zwischen rein materiellen Prozessen oder Dingen, sondern ebenso zwischen physischen und psychischen Prozessen oder umgekehrt bestehen, scheint uns im täglichen Leben und sogar im Rahmen der Einzelwissenschaften (insbesondere der biologischen Wissenschaften) etwas ganz Natürliches zu sein. Erst die philosophischen Spekulationen erheben darüber Bedenken, die wir aber in der täglichen Praxis nicht berücksichtigen. Von unseren vielen Tätigkeiten oder allgemeiner unseren Verhaltensweisen gegenüber den uns umgebenden Menschen und Dingen zeichnen sich diejenigen aus, die wir zwar manchmal verwenden, wenn wir in der uns umgebenden Welt etwas ändern wollen, die aber für sich allein - wie wir meinen diese Veränderungen nicht hervorrufen und, mehr noch, nicht hervorrufen sollen. Wir schreiben ihnen auch gerade dann einen besonderen Wert zu, wenn sie sich tatsächlich so vollzogen haben, daß sie keine Veränderung in der uns umgebenden Welt verursacht haben, jedenfalls nicht in dem Ding, auf welches es uns beim Vollzug dieser besonderen "Tätigkeit" ankommt. Das sind "Tätigkeiten", in denen wir mit den uns umgebenden 6 Gegenständen nichts machen, sondern lediglich etwas von den Eigenschaften und vom Sein dieser Gegenstände erfahren. Es geschieht in uns etwas, dessen wir uns übri-

Dieser Satz besagt weniger als das sog. "Gesetz der Kausalität", welches sagt, daß jeder in der realen Welt bestehende Sachverhalt seine Ursache hat. Er besagt nur, daß dort, wo sich etwas ändert, eine Opposition zwischen a) einer Ursache und b) einer Wirkung vorliegt. Ob das Gesetz der Kausalität zu den "vorepistemologischen Überzeugungen" gehört oder sogar gehören muß, will ich hier nicht entscheiden. [In der III. Redaktion lautet der letzte Satz: "Das Gesetz der Kausalität ist meiner Meinung nach nicht ein Satz, der zu den 'vorepistemologischen Überzeugungen' gehören muß" (Red. IIIA, Ms. S. 20).] "Mit den uns umgebenden" - d.h. mit den sich außerhalb unseres Körpers befindenden.

§ 4. Die vorepistemologischen

Überzeugungen

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gens gewöhnlich nicht deutlich bewußt werden und infolge dessen wir vor uns farbige und gestaltete Dinge vorfinden (auf sie stoßen), infolge dessen zu uns Laute und Geräusche gelangen, die durch die Dinge hervorgebracht werden, und infolge dessen uns glatte oder rauhe, warme oder kühle, harte oder weiche Dinge gegeben sind. Wir sagen in solchen Fällen, daß wir die Dinge "sehen", die Geräusche "hören" usw. Allgemeiner sagen wir, daß wir verschiedene Gegenstände mit ihren Eigenschaften "wahrnehmen". Nur manchmal, mit einer besonderen Einstellung von uns, geschieht etwas anderes: Wir sehen dann die Farbe, empfinden die Wärme eines Dinges, die Rauheit oder die Glätte eines Körpers u. dgl. In einer etwas anderen Einstellung und in einer anderen Bedeutung dieses Wortes "nehmen" wir "wahr", daß die Dinge sich bewegen, daß sie ihre Eigenschaften wechseln usw. In einer noch anderen Bedeutung "nehmen" wir die Freude eines unserer Bekannten oder seine anderen psychischen Zustände "wahr". Wenn wir im täglichen Leben sagen, daß wir etwas wahrnehmen, überlegen wir nicht, was dieses Wahrgenommene ist. Ebenso sind wir uns, wenn wir sagen, daß wir an etwas "denken" oder daß wir etwas wollen oder begehren, dessen, was sich in uns im gegebenen Augenblick abspielt, nicht deutlich bewußt, wissen wir nicht genau, was dieses "Denken" ist. Auf ähnliche Weise sind wir, ohne darüber speziell nachzudenken oder sogar ohne es uns besonders zum Bewußtsein zu bringen, daß es so ist, einfach überzeugt, daß die Dinge (Tiere, Menschen) und die sich in ihnen abspielenden Prozesse genau so sind, wie wir sie wahrnehmen. Erst eines Tages erleben wir ein besonderes Ereignis: Wir stehen ζ. B. am Ufer eines Teiches und angeln. In einem bestimmten Augenblick tauchen wir die Angelrute schräg ins durchsichtige Wasser ein und sehen, daß sie in diesem Augenblick plötzlich auf sonderbare Weise ihre ursprüngliche Gestalt verändert hat: Sie hat sich gleichsam verbogen oder ist an der Linie "gebrochen", die das Wasser von der Luft trennt. Es überkommt uns zunächst Verwunderung: Wir verstehen nicht, was eigentlich passiert ist. Wie kann das Eintauchen der Rute ins flüssige und mithin keinen Widerstand leistende Wasser die "Brechung" der Rute verursacht haben, die Brechung, die wir doch ganz deutlich sehen. Diese sieht zwar etwas anders aus als sonst, aber das fällt uns zunächst wenigstens nicht auf. Wir ziehen die Rute aus dem Wasser heraus und bemerken, daß sie an dieser Stelle, an der sie soeben "gebrochen" war, wieder gerade ist. Wir sagen dann: Wir sind soeben einer "Täu-

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/. Die psychophysiologische

Erkenntnistheorie

schung" erlegen, und jetzt sehen wir die Rute wieder so, wie sie "tatsächlich" ist. Oder: Wir sitzen in einem Boot, das am Ufer festgemacht ist, und schauen ins fließende Wasser. Auf einmal sehen wir, daß das Wasser steht und wir uns in umgekehrter Richtung bewegen. Wir werfen einen Blick auf das Ufer und überzeugen uns, daß das Wasser fließt und wir an der gleichen Stelle bleiben. Oder: Wir betreten ein Zimmer, in dem Halbdunkel herrscht, und nehmen zwei Sachen wahr: eine ist fast schwarz, die andere grau, viel heller als jene. Wir zünden die Lampe an, und nun sehen wir dieselben zwei Gegenstände, aber ihre Farbe hat sich offensichtlich verändert: der erste ist grell rot, der zweite blau. Dabei ist der erste viel heller als der zweite. Wieder Verwunderung und ein gewisses Schwanken: Wie ist denn "eigentlich", "tatsächlich" das von uns gesehene Ding? Im täglichen Leben erklären wir uns das gewöhnlich sehr schnell. Wenn wir die Angelrute zum zweiten Mal sehen, nach dem Herausziehen aus dem Wasser, kommen wir zur Überzeugung, daß sie gerade so ist, wie wir sie jetzt sehen. Wenn wir zum zweiten Mal uns im stehenden Boot sitzend wahrnehmen, gewinnen wir die Sicherheit wieder, daß das Wasser im Fluß "wirklich" fließt, während wir ohne Bewegung stehen. Indem wir diese für einen Augenblick erschütterte Überzeugung wiedergewinnen, daß Dinge (im allgemeinen) so sind, wie wir sie wahrnehmen, kommen wir wenigstens in manchen Fällen dazu, einerseits die Dinge und ihre Eigenschaften, wie sie "in Wirklichkeit" sind, und andererseits, wie sie uns in gewissen besonderen Wahrnehmungen nur "erscheinen" (während sie "in Wirklichkeit" mindestens in gewisser Hinsicht ganz anders sind), einander gegenüberzustellen. Dabei schreiben wir diesen Dingen jene Eigenschaften zu, mit denen sie in anderen Wahrnehmungen auftreten. Zugleich kommt es zu einer Unterscheidung der Dinge und ihrer Eigenschaften von "meinen" Wahrnehmungen: der Dinge als etwas, was "außer mir" ist, und der Wahrnehmungen als etwas, was sich "in mir" abspielt. Wir verlieren auch dieses naive, unbedingte Vertrauen, daß unsere Wahrnehmungen uns immer getreu informieren, wie die Dinge (Menschen usw.) "in Wirklichkeit" sind, und wir beginnen, von allen anderen Wahrnehmungen einige besondere zu unterscheiden, die wir "Täuschungen" nennen. Wir betrachten aber diese eher als einen Ausnahmefall und als etwas, was verhältnismäßig leicht entdeckt werden kann. Obwohl wir somit wissen,

§ 4. Die vorepistemologischen

Überzeugungen

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daß sie von Zeit zu Zeit unter besonderen Umständen vorkommen, haben wir weiterhin die Überzeugung, daß die wahrgenommenen Dinge "im allgemeinen" so sind, wie wir sie wahrnehmen. Das Vorhandensein von Täuschungen wie auch das Vorkommen von Irrtümern, denen wir in unseren intellektuellen Tätigkeiten, ζ. B. beim Rechnen, unterliegen, beginnt manche von uns zu beunruhigen. Es stellt sich uns die Frage, wie wir uns denn vergewissern können, daß wir im gegebenen Fall, wenn wir ζ. B. die Dinge - wie wir meinen - eben so sehen, wie sie in Wirklichkeit sind, gerade keiner Täuschung unterliegen? Denn jedesmal, wenn wir einer solchen Täuschung unterliegen, sind wir am Anfang überzeugt, daß wir die Dinge genau so wahrnehmen, wie sie selbst sind. Solange diese Überzeugung andauert, bleibt auch diese Täuschung. Erst eine andere, spätere Wahrnehmung lehrt uns, daß wir vorher einer Täuschung unterlegen sind. Täuschen wir uns nicht auch in diesen neuen Wahrnehmungen? Was berechtigt uns zu behaupten, daß die nach dem Herausziehen aus dem Wasser gesehene Angelrute in Wirklichkeit gerade ist und überdies daß sie auch vorher so war, bevor sie aus dem Wasser herausgezogen wurde? Ist es prinzipiell so unmöglich, daß diese Rute sich zweimal verändert hat, so daß sie letzten Endes, nachdem sie im Wasser gebrochen war, nach dem Herausziehen aus dem Wasser wieder geradegebogen wurde? Wodurch unterscheidet sich die neue Wahrnehmung (der Rute nach dem Herausziehen aus dem Wasser) von der vorigen, daß wir ihr gleichsam unseren Glauben nicht verweigern, während wir das gegenüber der Wahrnehmung der Rute im Wasser tun? Worin ist jene dieser überlegen? Was ist überhaupt die Wahrnehmung eines Dinges? Welche sind ihre möglichen Abwandlungen? Wie können wir dasselbe sehen, was wir berühren? Wie können wir dasselbe sehen wie die anderen? Worum handelt es sich überhaupt, wenn wir - wie wir meinen - einen Gegenstand erkennen'? Was bedeutet das, daß wir "einer Täuschung unterliegen", daß wir uns "irren'"! Welches sind die Bedingungen dafür, daß wir etwas erkennen? Welches sind diese charakteristischen Merkmale des Erkennens, die es uns erlauben würden, jedesmal in einzelnen Fällen zu entscheiden, ob wir einen Gegenstand erkennen oder uns nur täuschen oder irren? - Das sind verschiedene Fragen, die uns an die Schwelle der Erkenntnistheorie heranführen. Wir brauchen eine neue Wissenschaft, die diese Probleme beantworten kann. Aber was für eine Wissenschaft? Was soll ihr Forschungsgegenstand sein? Was soll ihre

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Erkenntnistheorie

endgültige Aufgabe sein? Welcher Mittel wird man sich in ihr beim Erkenntnisvorgang bedienen müssen, um diese Aufgabe zu verwirklichen? Das sind die Fragen, die zu beantworten sind. Wenn ich hier das Entstehen der erkenntnistheoretischen Probleme gleichsam vor dem Hintergrund des Vorkommens von Täuschungen und speziell von Sinnestäuschungen darstelle, will ich damit nicht behaupten, Täuschungen (oder die Tatsache ihrer Entdeckung) seien eine unentbehrliche Bedingung dafür, daß wir uns die erkenntnistheoretischen Probleme zum Bewußtsein bringen. Wir können auf verschiedenen Wegen zu diesen Problemen gelangen. Täuschungen bieten aber gleichsam die einfachste Gelegenheit, sich dieser Probleme bewußt zu werden, und sie haben ohne Zweifel mehrfach einen wesentlichen Impuls zu epistemologischen Betrachtungen gegeben. Einen ähnlichen Impuls geben aber ebenso alle Fälle, in denen wir uns davon überzeugen, daß eine bestimmte Weise des Erkennens (ζ. B. durch das Schließen von etwas auf etwas) uns aus irgendwelchen, zunächst unbewußten Gründen irreführt. Theoretisch könnte man sich jedoch denken, daß man zu epistemologischen Problemen auch ohne diese besonderen Impulse gelangt. Wenn wir etwas erkennen, üben wir - wie schon bemerkt - eine Tätigkeit aus, die uns zu gewissen Ergebnissen führt. Diese Tätigkeit selbst kann - ohne weitere Gründe - bei uns die Neugier erregen, [zu erfahren,] was wir da eigentlich tun, ebenso wie diese Neugier auch durch andere unserer Tätigkeiten, wie etwa das Häuserbauen oder Töpfern, erweckt wird, Tätigkeiten, deren Theorie wir später konstruieren, um sie zu vervollkommnen. Ebenso kann es im Falle des Erkennens sein. Auch hier können wir Nachforschungen über das Erkennen unternehmen, um es [selbst] zu erkennen und nachher zu lenken und zu vervollkommnen. In dieser Hinsicht sind die Quellen der Erkenntnistheorie nicht anders als die der Theorien in bezug auf andere Tätigkeiten. Wesentlich für die Quellen der Erkenntnistheorie scheint nämlich nur folgendes zu sein: Wenn wir die Aufmerksamkeit auf unsere Tätigkeiten richten, die uns zur Erkenntnis führen, wollen wir sie so erforschen, daß ihre Vorzüge und Nachteile zum Vorschein kommen. Wir beginnen unsere Erwägungen von vornherein in der Einstellung auf einen Wert dessen, was wir tun oder was wir gewinnen. Das bestimmt auch gewisse Ziele und Weisen unseres Vorgehens. Gehen wir nun darauf näher ein.

§ 5. Untersuchungsobjekt

und Ziel der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

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§ 5. Das Untersuchungsobjekt und das Ziel der psychophysiologischen Erkenntnistheorie Die Überzeugungen, die wir haben, bevor wir in die epistemologischen Untersuchungen eintreten, und die Umstände, unter welchen die Erkenntnisprobleme gewöhnlich entstehen, bestimmen in natürlicher Weise das Gebiet der Gegenstände, deren Erforschung - wie es zunächst den Anschein hat - die Aufgabe der Erkenntnistheorie bildet. Diese Prozesse oder Tätigkeiten nämlich, aus welchen wir, indem wir sie vollziehen, etwas über die Dinge (Menschen usw.) zu "erfahren" glauben und von denen einige uns enttäuscht haben in unserem ursprünglichen Vertrauen darin, daß wir in ihnen die Dinge (Menschen usw.) erkennen, sind, wie wir meinen, nichts anderes als gewisse besondere psychische Prozesse, die sich in uns, den Menschen, abspielen. Das Untersuchungsobjekt der Erkenntnistheorie dürfte somit nichts anderes sein als eben diese psychischen Prozesse der Menschen. Zu ihrer Gruppe sind in erster Linie sog. sinnliche Wahrnehmungen zu rechnen, mithin die Wahrnehmungen von materiellen Körpern (eventuell auch "meines" Körpers), wie das Sehen, Hören, Tasten, Riechen u. dgl. Von den Körpern und ihren Eigenschaften erfahren wir nicht nur in den sinnlichen Wahrnehmungen, sondern ebenso in anderen Erlebnissen, ζ. B. wenn wir etwas über sie urteilen oder in bezug auf sie irgendwelche Schlüsse ziehen; daher sind auch diese psychischen Erlebnisse dem Forschungsgebiet der Erkenntnistheorie zuzurechnen. Dieses Gebiet soll auch jene besonderen psychischen Prozesse umfassen, in denen wir etwas über unsere eigenen psychischen Zustände und Prozesse (über unser Denken, unsere Traurigkeit, unsere Freude usw.) sowie über unsere Charakterzüge erfahren; darüber hinaus diejenigen Prozesse, in denen wir wie wir meinen - die Charakterzüge und die psychischen Zustände anderer Menschen erkennen, von welchen wir doch ebenfalls ein Wissen besitzen. Aber auch von den Tieren wissen wir etwas, und wir erkennen sie irgendwie, wir wissen, wie sich die einen und wie sich die anderen verhalten usw. Diese Weise des Erkennens müssen wir mit in Betracht ziehen. Nicht anders verhält es sich noch mit einer anderen Gruppe von Gegenständen und ihrem Erkennen, mit den Gegenständen, bei welchen wir vielleicht noch vor den größten Rätseln stehen, denn es sind Gegenstände, die wir irgendwie erkennen und die weder zu der uns umgebenden Welt der Dinge, Tiere und Menschen gehören,

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I. Die psychophysiologische

Erkenntnistheorie

noch in uns selbst, in unseren psychischen Zuständen oder Erlebnissen zu finden sind: Es sind die Gegenstände der mathematischen Untersuchungen (die geometrischen Figuren, Zahlen, die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen usw.), ferner logische Gebilde wie etwa Urteile, Schlußfolgerungen, Theorien. Die entsprechenden psychischen Prozesse, durch welche wir solche Gegenstände erkennen, sollen demnach auch in das in Rede stehende Gebiet der Forschungsgegenstände der Erkenntnistheorie einbezogen werden. Jemand würde vielleicht vorschlagen, daß die Klasse dieser Prozesse noch um diejenigen Prozesse zu erweitern sei, in denen wir - wie einige meinen - Gott erkennen. Ein anderer würde fordern, wir sollen hierbei noch die psychischen Prozesse berücksichtigen, in denen wir - nach seiner Meinung - ethische, ästhetische und andere Werte erkennen. Noch ein anderer würde jedoch vielleicht diesen oder jenen der hier aufgezählten Prozesse aus der Klasse der Forschungsgegenstände der Erkenntnistheorie ausschließen oder umgekehrt noch irgendwelche hinzufügen wollen, von denen bisher keine Rede war. Es zeichnet sich somit vor uns eine Klasse von menschlichen Prozessen (Tätigkeiten) ab, die durch die Aufzählung ihrer Elemente, geordnet nach den einzelnen Typen der zugehörigen Gegenstände, entsteht. Die Grenzen dieser Klasse sind verschwommen, und sie lassen sich nicht eindeutig bestimmen in dem Augenblick, in dem wir an die erkenntnistheoretischen Untersuchungen herantreten, denn vorerst sind uns all diese Prozesse noch nicht in wissenschaftlicher Weise bekannt. Erst die erkenntnistheoretischen Untersuchungen selbst können uns darüber belehren, welche speziellen Merkmale sie haben und was über ihre Zugehörigkeit zur abgegrenzten Klasse entscheidet. Zu Beginn der Untersuchungen aber werden wir zur Bildung einer solchen Klasse mit fließenden Grenzen nur durch die von uns gehegte naive Überzeugung veranlaßt, daß wir in den zu dieser Klasse gehörenden Prozessen die "Erkenntnis" der Gegenstände gewinnen, auf die sie sich beziehen. Diese Überzeugung ist jedoch weder hinreichend klar noch genügend gewiß, weil wir darüber weder nachgedacht haben, noch man genau weiß, was wir eigentlich meinen, wenn wir sagen, daß wir in einem Erlebnis die "Erkenntnis" von etwas gewinnen. Auf jeden Fall aber verfügen wir über eine vorläufig bestimmte Klasse von Gegenständen und können auf dieser Grundlage in unsere Arbeit eintreten.

§ 5. Untersuchungsobjekt

und Ziel der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

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Wenn wir uns jedoch einmal entschließen, zum Bereich der Forschungsgegenstände der Erkenntnistheorie manche psychischen Prozesse zu zählen, so bemerken wir bei näherer Betrachtung, daß außer der so bestimmten Klasse der direkten - wenn man so sagen darf - Gegenstände der epistemologischen Forschungen in diesen Untersuchungen noch andere, wesentlich verschiedene Gegenstände zu berücksichtigen sind. Wir sind - wie wir meinen psychophysische Wesen. Nach dieser Meinung haben wir außer den psychischen Prozessen (Erlebnissen) eine "Seele" mit diesen oder jenen, mehr oder weniger dauerhaften Charakterzügen und Fähigkeiten, und darüber hinaus besitzen wir einen Körper mit einem besonderen Aufbau, in dem sich verschiedene physiologische Vorgänge abspielen, die in ihrem Verlauf und ihren Eigenschaften vom Aufbau unseres Körpers und von den Bedingungen abhängen, in denen er sich aktuell befindet. Die Erfahrung lehrt uns dabei, daß die anatomischen Veränderungen, die in unserem Körper geschehen, einen bestimmten Ablauf der physiologischen Prozesse resp. deren Veränderung verursachen. Diese Prozesse aber entscheiden - wie wir gewöhnlich meinen darüber, ob und welche psychischen Prozesse in uns vor sich gehen. Das hängt auch davon ab, was für Menschen wir sind, d. h. welches die Merkmale unseres Charakters in einer gewissen Phase unseres Lebens sind. Wie aber unser Charakter ist, steht - wie viele von uns meinen - u. a. in engem Zusammenhang mit dem Aufbau unseres Körpers und den darin ablaufenden physiologischen Vorgängen. Wollen wir also die psychischen Erkenntnisprozesse einer Untersuchung unterziehen, so darf ihre Abhängigkeit von unserem Charakter und indirekt von den konstitutiven Eigenschaften unseres Körpers sowie von den darin vorkommenden physiologischen Prozessen nicht vergessen werden. Um diese Abhängigkeit zu berücksichtigen und ihre Art und ihre Grenzen zu erforschen, scheint es also erforderlich zu sein, das Gebiet der Erkenntnistheorie noch einmal zu erweitern. Es muß nämlich sowohl die rein psychischen Eigenschaften unserer Seele als auch die Eigenschaften unseres Körpers und der darin vorkommenden physiologischen Prozesse umfassen, wenigstens deqenigen, deren Vorkommen einen - bisher nicht erklärten Einfluß auf unsere psychischen Erkenntnisprozesse ausüben kann. Zu beachten sind hier ferner verschiedene Tätigkeiten unseres Körpers (bzw. von uns selbst), die wir ausüben, indem wir z.B. gewisse Wahrnehmungen vollziehen, mithin solche Tätigkeiten wie das Wenden unserer Augen in eine gewis-

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Erkenntnistheorie

se Richtung, die Bewegungen der Hand, mit welcher wir das Ding berühren, dessen Glätte oder Wärme wir nachprüfen wollen usw. Gewiß, sie finden statt, wenn sich in unserem Körper gewisse physiologische Prozesse abspielen, aber von den letzteren haben wir im allgemeinen kein direktes Wissen. Eine Bewegung der Hand oder eine Neigung des Kopfes sind dagegen Tätigkeiten, die wir bewußt vollziehen, und zugleich Tätigkeiten, die uns z.B. beim Sehen oder Hören (Zuhören) helfen. Sie bilden gleichsam Mittel und Stützen, die wir bei unseren psychischen Erkenntnistätigkeiten benützen. Diese Motive, die uns zur vorläufigen Bestimmung der Klasse der Untersuchungsgegenstände geführt haben, veranlassen uns dazu, die Erkenntnistheorie als die psychophysiologische

Theorie der psychischen, physiologisch

bedingten Erkenntnisprozesse zu begreifen. Nachdem wir auf diese Weise das Gebiet der Erkenntnistheorie bestimmt haben, müssen wir noch kurz erwägen, welche Aufgabe und welches endgültige Ziel dieser Theorie zuzuweisen ist. Wozu soll sie ins Leben gerufen werden? Selbstverständlich handelt es sich hier nicht um ein "praktisches" Ziel, denn es geht nicht darum, eine Technologie der Erkenntnis aufzubauen.7 Jede Wissenschaft aber hat notwendigerweise ein Ziel, muß irgendwelche intellektuellen Bedürfnisse befriedigen, irgendwelche Mängel beheben, irgendwelche wesentlichen Schwierigkeiten ausräumen. Nun werden wir am meisten durch die Tatsache, daß Täuschungen und von uns begangene Irrtümer vorliegen, zum Eintreten in die epistemologischen Untersuchungen veranlaßt. Diese Tatsache erweckt bei uns den Zweifel, ob und in welchem Ausmaß wir beim Vollziehen von Erkenntnisprozessen überhaupt die Erkenntnis der betreffenden Gegenstände erzielen. Dieser Zustand des Zweifeins und der Unmöglichkeit, eine sichere und definitive Entscheidung zu fassen, ist jener Mangel, den die Erkenntnistheorie zu beseitigen hat. Sie hat auch gewisse theoretische Interessen von uns zu befriedigen, die Unruhe zu stillen, die uns ergreift, wenn wir uns des Fehlens eines klaren und begründeten Wissens bezüglich unserer Erkenntnis bewußt werden. Ihr Ziel ist es somit, die Frage zu beantworten, ob wir im Vollzug eines psychischen Erkenntnisprozesses wirklich etwas erkennen oder uns darin, daß es so sei, nur täuschen. Natürlich müs7

Eine solche Theorie kann man auch ausarbeiten, und es empfiehlt sich sogar, dies zu tun, aber das kann erst aufgrund einer entsprechend ausgebauten Erkenntnistheorie gemacht werden.

§ 5. Untersuchungsobjekt

und Ziel der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

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sen wir uns dabei klar und genau zum Bewußtsein bringen, was eigentlich diese "Erkenntnis" von etwas ist, die in den Erkenntnisprozessen gewonnen oder nicht gewonnen wird. Sowohl in der Wissenschaft als auch im täglichen Leben schätzen wir irgendwie die Fälle höher ein, in denen wir - wie wir meinen - etwas "erkennen", als diejenigen, in denen wir Täuschungen oder Irrtümern unterliegen. Man kann somit auch sagen, das Ziel der Erkenntnistheorie sei die Beantwortung der Frage, welchen Wert dieses unsere Erkennen habe im Hinblick darauf, ob wir darin die "Erkenntnis" resp. die "Wahrheit" erzielt haben. Die Frage nach dem Wahrheitswert der von uns gewonnenen Erkenntnisergebnisse werde ich der Kürze halber das Problem der Objektivität der Erkenntnis nennen. 8 Die nähere Bestimmung dieses Problems muß aufgeschoben werden. Seine Fassungen können nämlich je nach der Ebene der Untersuchungen und der Konzeption der Erkenntnistheorie verschieden sein. Die Antwort auf dieses Problem kann bejahend oder verneinend ausfallen das kann man nicht voraussehen. Es wird uns jedoch keine andere Antwort als nur diejenige zufriedenstellen, die den Zustand des Zweifeins und der Unsicherheitbeseitigt, die also keine weiteren Zweifel nahelegt und selbst absolut sicher und definitiv ist. Daraus ergeben sich bezüglich des Charakters der Erkenntnistheorie und der darin gewonnenen Ergebnisse wesentliche Postulate, von denen wir noch sprechen werden. Wie es sich herausstellen wird, werden sie in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie nicht ausreichend beachtet, obgleich sie zu ihr insofern gehören, als ihre Quelle im Problem der Objektivität liegt. Seit dem Buch von L. Nelson Über das sogenannte

Erkenntnisproblem9

trifft man oft - besonders bei uns [in Polen] - auf die Meinung, die Erkenntnistheorie müsse auf die Absicht verzichten, das Problem der Objektivität der Erkenntnis zu entscheiden, denn sie verfalle dann unvermeidlich in

Dieser Terminus wird auch in vielen anderen Bedeutungen verwendet. So sagt man z.B. manchmal, die Erkenntnis sei "objektiv", wenn man meint, daß sie sich auf beziehe,

Gegenstände

die vom Erkenntnisrafc/eitf verschieden sind. Diese Verwendungsweise aber

kommt hier nicht in Frage. Ich habe versucht, die verschiedenen Begriffe der "Objektivität" im Artikel 'Betrachtungen zum Problem der Objektivität" (Zeitschrift für Forschung,

philosophische

1967, Heft 1 und 2) [Ingarden (1967)] zu unterscheiden und zu präzisieren.

[Vgl. L. Nelson, "Über das sogenannte Erkenntnisproblem" in: L. Nelson, Schriften, Bd. II: Geschichte und Kritik der Erkenntnistheorie,

Gesammelte

Hamburg 1973, S. 59-394.]

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I. Die psychophysiologische

Erkenntnistheorie

den Fehler einer petitio principii. Ob es wirklich so ist, werde ich ausführlich in meinen weiteren Überlegungen erwägen. Dieser Zweifel ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß alle erkenntnistheoretischen Untersuchungen der Verunsicherung entspringen, die durch das Bewußtwerden des Problems der Objektivität bei uns erweckt wird, und daß seine Lösung ihr natürliches Ziel bildet. In allen Perioden ihres Aufblühens wurden in der europäischen Philosophie auch zahlreiche Bemühungen unternommen, dieses Problems Herr zu werden.

§ 6 . Die Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie Ob das Problem der Objektivität der Erkenntnis auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie in wissenschaftlich befriedigender Weise gelöst werden kann, und zwar in einer Weise, welche die Postulate erfüllt, die ich am Ende des vorigen Paragraphen erwähnt habe, hängt davon ab, ob wir über die zu diesem Ziel unerläßlichen Erkenntnismittel verfügen und ob es uns gelingt, eine angemessene Untersuchungsmethode herzustellen. Das ist jedoch in hohem Grad auch davon abhängig, welche Voraussetzungen der so verstandenen Erkenntnistheorie zugrunde liegen. Wir müssen also jetzt diese Voraussetzungen ins Auge fassen. Was uns dazu veranlaßt, ist der Umstand, daß sie bei den Autoren, die auf diesem Boden erkenntnistheoretische Untersuchungen betreiben, meistens nicht klar genug formuliert sind oder vielmehr, ehrlich gesagt, wir kein Bedürfnis empfinden, sie ausdrücklich zu formulieren. Infolgedessen werden sie von den Erkenntnistheoretikern der in Rede stehenden Art stillschweigend angenommen oder präjudiziell, und zwar unabhängig vom Standpunkt, zu dem sie beim Lösen der einzelnen Probleme gelangen. Es ist auch meistens so, daß wir erst aus der Weise des Argumentierens in verschiedenen Angelegenheiten, aus den einzelnen Sätzen, die von Epistemologen dieser Art bei verschiedenen Gelegenheiten ausgesprochen werden, die Folgerung ziehen können, daß diese Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie tatsächlich zugrunde liegen. Von diesem unbewußten Charakter der Grundlagen der Theorie rührt - wie wir uns überzeugen werden - die erste und vielleicht die wichtigste Gefahr her, die ihr

§ 6. Die Voraussetzungen der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

41

droht. Wir können diese Grundlagen in folgende Gruppen einteilen: 1. die existenzialen Voraussetzungen, 2. die "sachlichen" Voraussetzungen, 3. die spezifisch epistemologischen Voraussetzungen. Es sind die folgenden 10 : I. Die existenzialen

Voraussetzungen

1. Es existieren reale Erkenntnissubjekte - die Menschen. 2. Es existieren wirkliche psychische Prozesse der Menschen und darunter spezielle Erkenntniserlebnisse. 3. Es existieren in Wirklichkeit reale Erkenntnisobjekte (tote und belebte Dinge und zwischen ihnen bestehende Zusammenhänge, Prozesse und Ereignisse). 11 II. Die sachlichen

Voraussetzungen

1. Die realen Erkenntnissubjekte sind die psychophysischen Individuen und insbesondere die einen realen Körper und eine reale Seele besitzenden Menschen. 12 2. Sowohl die Seele als auch der menschliche Körper ist mit einem System von Fähigkeiten und mehr oder minder dauerhaften Eigenschaften ausgestattet.13 10

Indem ich diese Voraussetzungen festlege, gebe ich ihnen Formulierungen, die manchmal genauer sind als diejenigen, die man in der vorhandenen Literatur findet. Ich bemühe mich überhaupt, der Konzeption der psychophysiologischen Erkenntnistheorie die möglichst beste Form zu verleihen, wobei ich aber die allgemeine Art der Erwägungen beibehalte.

11

Ob darüber hinaus noch irgendwelche anderen, irrealen Erkenntnisobjekte existieren, das wird in der Voraussetzung I 3 nicht entschieden. Im allgemeinen tritt jedoch - wie wir sehen werden - die Tendenz auf, ihre Existenz zu verwerfen oder sie so oder anders auf reale

ι9

Gegenstände zu "reduzieren". Das widerspricht scheinbar der von den Psychologen der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts verkündeten Parole "Psychologie ohne Seele". Indessen haben nicht alle Psychophysiologen die "Seele" als eine gegenüber den Bewußtseinserlebnissen transzendente Entität verworfen. Diejenigen dagegen, die die genannte Parole verkündeten, verwarfen zwar die "Seele" als eine "Substanz" und als etwas, was in den Bewußtseinserlebnissen allein zur Erscheinung kommt, sie sahen aber diese Erlebnisse selbst als "psychische" Prozesse oder Phänomene an, und gerade die letzteren bilden die "Seele" in ihrem Verstände, so daß bei



diesem Verstände die Voraussetzung II 1 auch von ihnen anerkannt wurde. Diese "Fähigkeiten" der Seele treten bei den die Parole "Psychologie ohne Seele" verkündenden Psychophysiologen unter dem Titel "psychische Dispositionen" auf, was sich ja weder mit den Erlebnissen selbst noch mit den Eigenschaften oder Fertigkeiten des Körpers des Menschen identifizieren läßt. Sie sind also etwas Psychisches und zugleich etwas, was im Verhältnis zu den Bewußtseinserlebnissen ein transcendens bildet.

42

1. Die psychophysiologische

Erkenntnistheorie

3. Die Seele und der Körper können verschiedenen Veränderungen unterliegen und tun dies tatsächlich, u. a. infolge der Veränderung der Bedingungen, unter welchen sich die jeweiligen psychophysischen Subjekte befinden. 4. Die psychischen Prozesse sind Erscheinungen des psychischen Lebens des Menschen und dessen psychischer 14 Eigenschaften sowie physiologischer Prozesse, die in seinem Körper stattfinden. 5. Das System der Organe des Organismus und ihr Zustand bestimmt den Bereich der möglichen psychischen Prozesse des gegebenen Menschen und speziell den Bereich seiner möglichen Erkenntnisprozesse. 6. Zwischen den physiologischen Prozessen, die sich im Körper des gegebenen Menschen abspielen, und seinen psychischen (u. a. erkenntnismäßigen) Prozessen bestehen Zusammenhänge der Abhängigkeit und der Zuordnung, die gemeinhin als kausale Zusammenhänge angesehen werden. 15 7. Solche Zusammenhänge bestehen auch umgekehrt: zwischen den psychischen (erkenntnismäßigen) Prozessen und den physiologischen Prozessen, die sich im Körper des gegebenen Menschen abspielen. 8. Jeder Mensch gehört zu derselben (realen) Welt, zu der die (realen) Gegenstände seines Erkennens gehören. 9. Jeder Gegenstand der realen Welt - wenn er überhaupt existiert - ist seinsautonom 16 , d. h. er hat in sich selbst das Fundament seines Seins in den ihm immanenten Bestimmtheiten, und diese Seinsautonomie besteht ohne Rücksicht auf das eventuelle weitere System der Bedingungen, deren Bestehen für die Erhaltung seines Seins erforderlich sind. 17

14

Insbesondere der sog. "psychischen Dispositionen".

15

Im täglichen Leben neigen wir eher zur Überzeugung, daß dies kausale Zusammenhänge sind. In der Theorie gehen bekanntlich die Meinungen darüber auseinander. Sowohl die Okkasionalisten als auch die Parallelisten begreifen diese Zusammenhänge anders.

16

Für Näheres über den Begriff der "Seinsautonomie" vgl. mein Spór o istnienie swiata, Warszawa 1960 [Ingarden (1947/48)], Bd. I, § 11 [Ingarden (1964/65), Bd. I, § 12]. Es ist zu betonen, daß der Begriff der Seinsautonomie gewöhnlich nicht expliziert ist und in der wissenschaftlichen Praxis mit anderen existenzialen Momenten verwechselt wird, wie z.B. mit der Seinsunabhängigkeit, von der unter II 10 die Rede ist.

17

Wenn es sich z.B. um eine Pflanze einer bestimmten Art handelt, so kann das u.a. eine bestimmte Temperatur ihrer Umgebung und ihrer selbst, eine bestimmte chemische Zusammensetzung der Atmosphäre, der Zugang einer bestimmten Art von Licht usw. sein.

§ 6. Die Voraussetzungen der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

43

10. Jeder Erkenntnisgegenstand (insbesondere unter denjenigen, die zur realen Welt gehören) ist, wenn er überhaupt existiert, in seinem Sein und in seinen Eigenschaften von den psychischen Prozessen, in denen sich sein "Erkennen" vollzieht, unabhängig 18 (d.h. er existiert und besitzt seine Eigenschaften ohne Rücksicht darauf, ob er zum Objekt eines Erkenntnisaktes wird, und er verändert sich nicht unter dem Einfluß dieses Aktes). 11. Alle materiellen und psychophysischen Gegenstände bilden zusammen ein geordnetes Ganzes (die "Welt"). Diese Ordnung äußert sich in den in der Welt geltenden konstanten Gesetzen (sog. "Naturgesetzen"), die ein einheitliches System ausmachen. 12. Zwischen allen zur realen Welt gehörenden Gegenständen und ihrer Umgebung bestehen oder können mittelbare oder unmittelbare Kausalzusammenhänge bestehen. 12a. Insbesondere aber gehört zu jedem psychischen Prozeß oder Ereignis als einer Wirkung eine Ursache, und zwar entweder eine psychische oder psychisch-physiologische, sich in dem gegebenen oder in einem anderen psychophysischen Individuum abspielende, oder aber eine physische Ursache, die in der dem gegebenen Individuum äußeren Welt stattfindet. 12b. Wenn die Ursache einer psychischen Tatsache eine rein physische Tatsache in der gegenüber dem betreffenden psychophysischen Individuum äußeren Welt ist, dann bilden die physiologischen Prozesse, die in seinem Körper ablaufen, immer ein Vermittlungsglied zwischen der physischen Ursache und der psychischen Wirkung. 12c. Die Erkenntnisprozesse bilden in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Mindestens einige von ihnen werden also durch die sich in der äußeren Welt abspielenden Prozesse hervorgerufen, durch Vermittlung eines physiologischen Organs (insbesondere des Nervensystems) und der darin vorkommenden Prozesse, andere dagegen werden nur durch physiologische Prozesse hervorgerufen, die eine normale Äußerung der biologischen Funktionen des Organismus oder irgendeine Störung derselben ausmachen. 19

18

Zur Seinsunabhängigkeit vgl. I.e. [Ingarden (1947/48), Bd. I] § 14, [Ingarden (1964/65), Bd. I, § 15],

19

Die Voraussetzungen 12a, 12b und 12c sind in Voraussetzung 12 enthalten. Ich gebe sie hier nur aus praktischen Gründen explizit an. [In der III. Redaktion folgt: "Wenn ich diese 'sachlichen' Voraussetzungen angebe, will ich nicht behaupten, daß sie schon die Gesamt-

44

I. Die psychophysiologische

III. Die spezifisch epistemologischen

Erkenntnistheorie

Voraussetzungen

1. Alle der realen Welt angehörenden Gegenstände (in der Zeit verharrende Gegenstände - "Dinge" - , Prozesse, Ereignisse und Beziehungen zwischen ihnen) können unter gewissen Umständen zu Gegenständen des menschlichen Erkennens werden. Das betrifft auch psychophysische Individuen, die etwas erkennen. la. Das schließt nicht aus, daß, wenn noch irgendwelche anderen, zur realen Welt nicht gehörenden Gegenstände existieren, auch sie in gewisser Weise zu Gegenständen des menschlichen Erkennens werden können. 2. Die Gegenstände der Erkenntnis, wenigstens die materiellen, sind prinzipiell als identisch dieselben dem Erkennen von beliebig vielen Menschen zugänglich. 20 (Dabei werden nur psychisch und physisch normale Menschen berücksichtigt. Trifft das aber auf psychisch oder physisch kranke Menschen nicht zu, so wird das auf ihre Abnormität zurückgeführt.) 3. Jeder erkenntnismäßige psychische Prozeß enthält (oder erwirbt nur) einen Inhalt, der sich auf den Gegenstand der Erkenntnis bezieht. 21 3a. Der Inhalt macht das Erkenntnisergebnis aus. Wenn wir ihn besitzen, haben wir ein Wissen vom Gegenstand der Erkenntnis. 4. Daß wir in einem psychischen Erkenntnisprozeß die Erkenntnis von einem Gegenstand gewinnen, bedeutet, daß das darin gewonnene Wissen den zu erkennenden Gegenstand genau in dem erfaßt, was ihn selbst bestimmt,

heit der möglichen sachlichen Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie erschöpfen. Ich nenne nur die Voraussetzungen, die mir besonders wichtig und für diese Theorie kennzeichnend erscheinen und die zugleich ausreichen, um zu zeigen, daß 20

diese Auffassung der Erkenntnistheorie nicht zu halten ist" (Red. IIIA, Ms. S. 32).] Man sagt manchmal

in diesem

Zusammenhang,

daß

die

Erkenntnisgegenstände

"intersubjektiv" seien. Im Gegensatz dazu spricht man nicht selten von der "Objektivität" gewisser Gegenstände, wobei [drei] verschiedene Bedeutungen vermengt werden: 1. die ontologische Bedeutung, nach der "subjektiv" soviel bedeutet wie "nicht trennbar vom Subjekt"; 2. die epistemologische Bedeutung: "zugänglich dem unmittelbaren Erkennen nur eines Erkenntnissubjektes" (monosubjektiv); 3. "nichtobjektiv", d.h. falsch, aber für wahr 21 gehalten. Der "Inhalt" wurde in der Geschichte der europäischen Epistemologie auf zweifache Weise verstanden: a) als ein Bestandteil des Erkenntnisprozesses, b) als etwas Nichtpsychisches. Die psychophysiologischen Erkenntnistheoretiker folgen im allgemeinen der ersten Auffassung von Inhalt.

§ 6. Die Voraussetzungen der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

45

wie er an sich selbst ist, und zwar sowohl hinsichtlich seiner Existenz als hinsichtlich seiner Form und seiner Eigenschaften. Populär gesagt bedeutet dies, daß das Wissen "in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit" ist (Def. von "Erkenntnis"22). 5. Wenn das in einem Erkenntnisprozeß gewonnene Wissen nicht "in Übereinstimmung mit der Wirklichkeit" ist, so bedeutet dies, daß es falsch ist, d. h. daß es keine Erkenntnis ist (Def. von Falschsein). 6. Ob das gewonnene Wissen eine Erkenntnis oder etwas Falsches ist, hängt von der Weise ab, wie der entsprechende Erkenntnisprozeß kausal bedingt ist (das allgemeine, formale Kriterium der Erkenntnis). 6a. Das negative (realistische) Kriterium der Erkenntnis: Wenn ein Erkenntnisprozeß X, der von der Person Y vollzogen wird und sich auf einen von Y verschiedenen Gegenstand Ζ bezieht, nicht durch einen sich in Ζ abspielenden Prozeß Ρ verursacht ist oder sich auf dem Wege der kausalen Genese auf einen Erkenntnisprozeß X' (Y), der durch einen Prozeß P'(Z) verursacht ist, zurückführen läßt, dann gewinnt Y im Vollzug des Prozesses X keine Erkenntnis des Gegenstandes Ζ und kann sie nicht gewinnen. 23 11 Das Wort "Erkenntnis" wird hier in der engen Bedeutung gebraucht, in der es den Zusatz "wahr" oder "objektiv" nicht verlangt, weil so verstandene "Erkenntnis" nicht mehr falsch sein kann. In der wissenschaftlichen Praxis gebraucht man oft das Wort "Erkenntnis" im Sinn eines beliebigen Erkenntnisergebnisses, in dem sie sowohl wahr (objektiv) als falsch sein kann. Man kann auch von der "Objektivität" des Erkennens in dem Sinne sprechen, daß es das Erkennen ist, das zu Erkenntnis im engen Sinne des Wortes fuhrt. Diese Voraussetzung braucht in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie nicht aufzutreten. Sie ist vielmehr für eine ihrer Richtungen kennzeichnend, die Empirismus genannt wird. Der nichtempiristische Standpunkt beschränkt die obige Voraussetzung auf das Erkennen von materiellen Gegenständen und läßt die Existenz von Erkenntnisprozessen zu, die durch keinen sich außerhalb des Körpers des Erkenntnissubjektes abspielenden physischen Prozeß hervorgerufen werden und dennoch eine Erkenntnis der Gegenstände liefern, auf die sie sich beziehen (vgl. die angeborenen Ideen bei Descartes, die Theorie der Anamnese bei Plato usw.). Unabhängig von der Richtung ist jedoch die psychophysiologische Erkenntnistheorie Uberhaupt durch das genetische Kriterium der Erkenntnis, d.h. durch Voraussetzung 6 gekennzeichnet. Das Kriterium 6a ist in einem so engen Sinne formuliert, daß es lediglich das Erkennen von äußeren Gegenständen betrifft. Es kann aber auf das Erkennen von eigenen Zuständen erweitert werden, und unter den psychophysiologischen Erkenntnistheoretikern tritt die Tendenz auf, das angegebene Kriterium so zu erweitern. Dieses Kriterium betrifft nur das unmittelbare Erkennen (z.B. das Wahrnehmen), dessen Ergebnis die Erkenntnis des Gegenstandes Ζ ist.

46

/. Die psychophysiologische

Erkenntnistheorie

6b. Das negative (idealistische) Kriterium der Erkenntnis: Neben dem unter 6a genannten Kriterium wird oft ein Kriterium in Anschlag gebracht, das von den "Idealisten" gebraucht wird. Es besagt, daß, wenn die Inhalte von zwei Erkenntnisprozessen oder zwei Phasen ein und desselben Prozesses, die sich auf denselben Gegenstand beziehen, miteinander nicht übereinstimmen, wenigstens eines der Ergebnisse falsch ist. 24 6c. Das positive Kriterium der Erkenntnis: Wenn der Erkenntnisprozeß X, in dem y den Gegenstand G erkennt, a) allein dadurch, daß er sich vollzogen hat, den Gegenstand G nicht verändert hat, b) die Formung des darin gewonnenen Inhalts nicht auf eine von G unabhängige Weise beeinflußt, sondern die Formung dieses Inhalts nur dem Einfluß des Gegenstandes G überläßt, wenn also X ein rein adaptives Empfangen der dem Subjekt Y durch [den Gegenstand] G aufgezwungenen Inhalte ausmacht, dann ist der im Prozeß X gewonnene Inhalt eine Erkenntnis dieses Gegenstandes. 25 7. Jeder Erkenntnisprozeß, der sich direkt auf den psychischen Zustand desselben psychophysischen Individuums bezieht, dessen Prozeß er ist, liefert eine Erkenntnis dieses Zustands. 8. Manche psychischen Erkenntnisprozesse liefern falsche Erkenntnisergebnisse. Die Voraussetzung III 8 ist besonders wichtig, denn sie gibt einen Impuls, erkenntnistheoretische Untersuchungen anzufangen. Die hier angeführten Voraussetzungen sind keine Axiome, wie sie für formale Systeme charakteristisch sind. Man soll sie also vor allem keiner Kritik

24

Man könnte sagen, das sei das epistemologische Prinzip des Widerspruchs. Man weiß dabei nicht genau, was diese "Nichtübereinstimmung" zwischen den Inhalten der Erkenntnisprozesse ist, denn nicht immer handelt es sich um einen Widerspruch im strengen Sinne des Wortes. Die Annahme dieses Kriteriums setzt mindestens in manchen Fällen die Anerkennung des logischen Prinzips des Widerspruchs voraus. Es ist fraglich, ob man bei der Grundlegung der Erkenntnistheorie ein System von logischen Sätzen als grundlegende Erkenntnisprinzipien voraussetzen darf, ohne im Rahmen der Erkenntnistheorie selbst eine Kontrolle der Prinzipien der Logik durchführen zu müssen. Auf diese Frage werden wir noch zurückkommen müssen.

25 Dieses Kriterium wird nicht ausdrücklich formuliert, aber das Verfahren, das man in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie verwendet, um in den einzelnen Fällen des Erkennens festzustellen, ob wir in ihnen eine Erkenntnis gewinnen, ist derart, daß es das von mir angegebene Kriterium voraussetzt. Dasselbe gilt für die beiden negativen Kriterien.

§ 6. Die Voraussetzungen der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

47

im Hinblick darauf unterziehen, ob sie alle voneinander logisch unabhängig sind oder ob man Sätze auffinden könnte, die ihnen logisch vorangehen. Man soll auch nicht vermuten, daß sie ein vollständiges System der Voraussetzungen bilden, aus welchen alle andere Sätze der psychophysiologischen Erkenntnistheorie folgen sollten. Man weiß überhaupt nicht, ob die Erkenntnistheorie ein deduktives System bilden kann. Die Zusammenstellung der genannten Voraussetzungen ist also kein Versuch von " Axiomatisierung" der Erkenntnistheorie. Ihre Aufgabe ist nur, Sätze, die gewöhnlich stillschweigende Voraussetzungen in der Argumentation der psychophysiologischen Erkenntnistheorie ausmachen, ausdrücklich zu formulieren, damit man erwägen kann, in welchem Verhältnis zu ihnen die Sätze stehen, die expressis verbis als die von dieser Theorie erlangten Ergebnisse genannt werden. Auch das Erforschen ihres (in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie selbst nicht ermittelten) Charakters macht eine der Aufgaben dieser Zusammenstellung aus. Dies gibt uns einen Ausgangspunkt zur Kritik dieser ganzen Konzeption der Erkenntnistheorie.

48

II. Kapitel: Kritik der psychophysiologischen Erkenntnistheorie

§ 7. Einige Einwände gegen die Bestimmung ihres Forschungsgebietes 1. Die in § 5 angegebene Bestimmung des Forschungsgebietes der Epistemologie ist vor allem zu eng. Denn wenn die Lösung des Problems der Objektivität das Ziel der Erkenntnistheorie ausmacht, die Erkenntnis aber dann objektiv ist, wenn das darin gewonnene Wissen "mit der Wirklichkeit übereinstimmt", so reicht es für das Erreichen dieses Zieles nicht aus, die psychischen Erkenntnisprozesse selbst zu erforschen und ihre Abhängigkeit von den physiologischen Prozessen zu berücksichtigen. Um das Problem der Objektivität der Erkenntnis zu lösen, muß man zudem wissen: a) welche Merkmale die Gegenstände der Erkenntnis unabhängig davon besitzen, ob sie erkannt werden1, b) welcher der vollständige Inhalt des Erkenntnisergebnisses ist, c) welche Art Verhältnis zwischen diesem Inhalt und dem ihm entsprechenden Gegenstand besteht.2 Das Wissen von (a) scheint notwendig, wenn das Verhältnis (c) zwischen dem Inhalt des Erkenntnisergebnisses (b) und den Eigenschaften des Gegenstandes (a) - das Verhältnis, das in dem Fall, wo das Erkenntnisergebnis eine "Erkenntnis" wäre, in jener "Übereinstimmung" zwischen (a) und (b) bestünde - durch die Zusammenstellung oder den Vergleich von (a) mit (b) ermittelt werden soll. In der Praxis der psychophysiologischen Erkenntnistheorie kommt es tatsächlich zu derartigen Vergleichen. Man sagt z.B., die Hörwahrnehmung einer läutenden Glocke sei nicht objektiv, weil im Inhalt einer solchen Wahrnehmung die Qualität eines "Klanges" auftritt,

Genauer sollte man sagen: ob und wie die Erkenntnisgegenstände hinsichtlich ihrer Eigenschaften, ihrer Form und ihrer Existenz an sich sind. In dieser Argumentation behaupte ich keineswegs, daß bei der richtig bestimmten Erkenntnistheorie das Gebiet der Erkenntnisgegenstände zum Forschungsgebiet der Epistemologie gehören muß. Das ist nur dann unentbehrlich, wenn man das Problem der Objektivität so bestimmt, wie das die psychophysiologische Erkenntnistheorie tut, indem sie gewisse Uberzeugungen aus dem Alltagsleben übernimmt.

J 7. Einwände gegen die Bestimmung ihres Forschungsgebietes

49

wohingegen "in Wirklichkeit" die Wellenbewegung eines elastischen Mediums stattfindet. Man könnte jedoch sagen, ein solcher Vergleich des Erkenntnisergebnisses mit dem Gegenstand sei gar nicht nötig. Gerade deswegen sei das Kriterium 6 resp. 6a formuliert worden: Dieses Kriterium erlaube es uns zu beurteilen, ob ein Erkenntnisergebnis "objektiv" ist oder nicht, ohne (a) mit (b) zu vergleichen. Indessen wird diese Schwierigkeit durch das Kriterium 6a tatsächlich nicht beseitigt. Um dieses Kriterium anzuwenden, ist es nämlich unentbehrlich, sich auf den Gegenstand der Erkenntnis (a) zu berufen. Der Unterschied zum vorigen Ergebnis ist nur folgender: Während es sich beim direkten Vergleich von (a) mit (b) genau um diejenigen Eigenschaften des Gegenstandes handelt, die den im Inhalt des Erkenntnisergebnisses bestimmten Momenten "entsprechen", muß man jetzt von (a) wissen, daß sich darin ein Prozeß abspielt oder ein Ereignis vorkommt, das einen Erkenntnisprozeß hervorruft, der letztlich zu dem Erkenntnisergebnis führt, dessen "Objektivität" wir feststellen sollen. In beiden Fällen also wird für die Lösung des Objektivitätsproblems ein Wissen vom Gegenstand der Erkenntnis benötigt. Daß dies zu Schwierigkeiten führt, bemerken die Idealisten, wenn sie ihr Kriterium 6b aufstellen. Die Schwierigkeit aber besteht vor allem darin, daß sowohl (a) als auch (c) außerhalb des Gebietes der psychischen Prozesse und ihrer physiologischen Bedingungen angesiedelt sind. Es ist auch zumindest fraglich, ob die Erkenntnisergebnisse selbst - deren Erkenntniswert die Erkenntnistheorie durch die Lösung des Objektivitätsproblems doch beurteilen soll - überhaupt dem in § 5 abgesteckten Forschungsgebiet der Epistemologie angehören. Dazu müßten sie entweder psychische Erkenntnisprozesse oder Bestandteile von ihnen (ihr konkreter "Inhalt") oder schließlich - was am wenigsten wahrscheinlich ist - physiologische Prozesse sein. Vom Standpunkt der psychophysiologischen Erkenntnistheorie aus werden die Erkenntnisergebnisse am häufigsten mit dem konkreten Inhalt des Erkenntniserlebnisses identifiziert. Diese Auffassung scheint jedoch falsch. Ein und dasselbe Erkenntnisergebnis kann doch mehrmals in vielen verschiedenen aufeinanderfolgenden psychischen Prozessen, und zwar sogar in Prozessen von vielen

verschiedenen

Erkenntnissubjekten gewonnen werden. Wie jedoch die psychologischen Un-

50

11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

tersuchungen zumindest seit Bergson 3 erwiesen haben, ist der konkrete Inhalt des Bewußtseinserlebnisses ewig veränderlich und wiederholt sich niemals als genau der gleiche (geschweige denn als derselbe). Jeder psychische Prozeß ist dabei (mit seinem konkreten Inhalt) vergänglich·, die Erkenntnisergebnisse dagegen, einmal erlangt, vergehen nicht mit den Prozessen, in denen sie gewonnen wurden. Das scheint sogar ihr unentbehrliches Merkmal zu sein. Sollten sie nämlich stets veränderlich und vergänglich sein, dann könnten sie mit den Eigenschaften des Gegenstandes, auf den sie sich beziehen, überhaupt nicht konfrontiert werden; sie wären dann gar nicht erfaßbar und nicht bestimmbar. Man kann sie daher nicht mit dem konkreten Inhalt irgendwelcher Bewußtseinserlebnisse gleichsetzen. Zu demselben Resultat müßte man gelangen, wenn man versuchte, die Erkenntnisergebnisse mit den Akten oder deren Bestandteilen gleichzusetzen; auch diese sind doch veränderlich, vergänglich und ebenso zahlreich wie die Erkenntnisprozesse selbst. Es ist schließlich kaum denkbar, daß die Erkenntnisergebnisse z.B. gewisse verhältnismäßig dauerhafte psychische Dispositionen oder irgendwelche physiologischen Tatsachen sein könnten. Denn die einen wie die anderen sind - nach der psychophysiologischen Erkenntnistheorie selbst - nur subjektive Bedingungen für das Vorkommen der Erkenntnisprozesse, nicht aber das, was wir in diesen Prozessen gewinnen. Ein Erkenntnisergebnis dagegen ist das, was wir eben bewußt wissen oder denken. Es scheitert also auch dieser Versuch, die in § 5 vorgelegte Bestimmung des Forschungsgegenstandes der psychophysiologischen Erkenntnistheorie zu retten. Auch das Verhältnis zwischen dem zu erkennenden Gegenstand (a) und dem Inhalt des Erkenntnisergebnisses (b), insbesondere jene "Übereinstimmung" zwischen der "Erkenntnis" und der Wirklichkeit ist nichts "Psychisches", mithin kein Bewußtseinserlebnis, und macht keine physiologische Bedingung des Erkenntniserlebnisses aus. Es bleibt völlig außerhalb des Forschungsgebietes der psychophysiologischen Erkenntnistheorie. Ein Epistemologe, der dieses Verhältnis festlegt resp. bestimmt, ist kein Psychologe

Schon in seinem Buch Essai sur les données

immédiates

de la conscience,

[Paris] 1889,

weist Bergson die Unhaltbarkeit der alten, in der englischen Psychologie seit Locke bis mindestens J. St. Mill vertretenen Auffassung des Bewußtseins nach, der zufolge das Bewußtsein ein "Bündel von Ideen" sei, die mehrmals unverändert vorkämen.

§ 7. Einwände gegen die Bestimmung

ihres

Forschungsgebietes

51

oder Psychophysiologe mehr, sondern er beschäftigt sich mit Sachen, die über den Kompetenzbereich dieser Fächer hinausgehen. Und man weiß nicht, was für Erkenntnismittel er einsetzen soll, um diese Aufgabe zu bewältigen. Mit anderen Worten, die psychophysiologische Erkenntnistheorie kann gerade die Frage, zu deren Lösung sie ins Leben gerufen wurde, nämlich die Frage nach der Objektivität der Erkenntnis, nicht beantworten. Es fehlen ihr nämlich im Rahmen des [von ihr] bestimmten Forschungsgebietes die Faktoren, die für die Beurteilung der "Objektivität" der gewonnenen Erkenntnisergebnisse unentbehrlich sind. Versucht aber die so verstandene Erkenntnistheorie, diese Aufgabe tatsächlich zu realisieren, so überschreitet sie die sich selbst gesetzten Grenzen und begeht dabei - wie wir noch in den § § 8 und 9 sehen werden - prinzipielle Fehler, die sie übrigens bei ihren Voraussetzungen nicht vermeiden kann. 4 2. Von einem noch anderen Gesichtspunkt aus erweist sich das in § 3 umgrenzte Forschungsgebiet der Erkenntnistheorie als zu eng, nämlich wenn wir fragen, was an den psychischen Erkenntnisprozessen für den Epistemologen relevant ist. Sind es alle ihre Eigenschaften oder nur manche? Man kann nun auf verschiedene Eigenschaften der Prozesse hinweisen, die für die Erkenntnistheorie offenbar gar keine oder zumindest keine allgemeine Bedeutung haben, z.B. auf die Unräumlichkeit dieser Prozesse oder auf die Eigenschaft, daß jeder psychische Prozeß einen untrennbaren Teil vom Kontinuum der psychischen Prozesse eines Subjekts darstellt. Nur einige der Eigenschaften der Erkenntnisprozesse kommen also bei den epistemologischen Untersuchungen in Betracht, und zwar: a) die Eigenschaften, deren Gesamtheit die unentbehrliche 5 und hinreichende Bedingung dafür aus-

Aus dieser Argumentation soll man nicht schließen, daß zum Gebiet der Erkenntnistheorie in jeder ihrer Auffassungen die Gegenstände der Erkenntnis zu rechnen sind. Das betrifft nur die psychophysiologische Erkenntnistheorie und nur bei der angegebenen Fassung des Erkenntnisbegriffs und des Objektivitätsproblems. Eine unentbehrliche Bedingung für die Gewinnung eines Erkenntnisergebnisses ist z.B., in den einzelnen Phasen des Erkennens die "gegenständliche Konsequenz" zu bewahren. Diese erfordert u.a., daß die den Erkenntnisgegenstand bestimmenden Faktoren ihn so determinieren, daß er trotz der im Laufe des Erfahrens stattfindenden Veränderungen einen Kern von Eigenschaften (insbesondere dieselbe Natur) behält, der seine Identität garantiert (siehe Das literarische

Kunstwerk,

[Ingarden (1931a), 3. Aufl., Tübingen] 1965; außerdem

Der Streit, zitierte Ausg. [Ingarden (1947/48)], Bd. II, § 56) [Ingarden (1964/65), Bd. II/l,

52

II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

macht, daß überhaupt ein Erkenntnisergebnis gewonnen wird, b) die Eigenschaften, die darüber entscheiden, ob dieses Ergebnis eine Erkenntnis eines Gegenstandes ist, und schließlich c) diejenigen, die die Gewinnung des Erkenntnisergebnisses und seinen Wahrheitswert positiv oder negativ beeinflussen können. 6 Dann aber entstehen folgende Fragen: 1. Was kann als eine Richtlinie dienen, [die es erlaubt], im konkreten Ganzen des Erkenntnisprozesses seine epistemologisch bedeutsamen Eigenschaften oder Bestandteile aufzufinden? 2. Ist es möglich, eine solche Richtlinie bei der Beschränkung des Forschungsgebietes der Epistemologie auf Erkenntnisprozesse und deren physiologische Bedingungen zu gewinnen? Als derartige Richtlinien können dienen: 1. der Begriff des Erkenntnisergebnisses, 2. der Begriff des Gegenstandes der Erkenntnis, 3. die Begriffe der prinzipiell möglichen Verhältnisse zwischen dem Erkenntnisprozeß und dem darin gewonnenen Erkenntnisergebnis, 4. die Begriffe der prinzipiell möglichen Verhältnisse zwischen dem Erkenntnisprozeß und dem ihm entsprechenden Erkenntnisgegenstand, 5. die Begriffe der prinzipiell möglichen Verhältnisse zwischen dem gewonnenen Erkenntnisergebnis und dem ihm entsprechenden Erkenntnisgegenstand, 6. die Kriterien, welche Bedingungen festlegen, die von den unter 3,4 und 5 genannten Verhältnissen sowie von den Erkenntnisprozessen selbst erfüllt sein müssen, damit von den prinzipiell möglichen Verhältnissen zwischen

§ 58]. Eine andere unentbehrliche Bedingung für die Gewinnung eines Erkenntnisergebnisses ist, daß die vom Erkenntnissubjekt im Vollzug eines Aktes der Sinneswahrnehmung erlebten Empfindungsdaten sich nach der Qualität oder nach der Art der Qualität differenzieren und auf eine Weise gruppieren, die es möglich macht, daß in der Wahrnehmung ein und derselbe, aus der Menge anderer Gegenstände ausgesonderte Gegenstand gegeben ist. Darüber noch später. Einen negativen Einfluß auf die Gewinnung eines Erkenntnisergebnisses in einer sinnlichen Wahrnehmung des Gegenstandes X üben andere, sich gleichzeitig mit dieser Wahrnehmung abspielende Serien von Wahrnehmungen (z.B. anderer Gegenstände) aus, wenn diese zur Zerstreuung der Aufmerksamkeit oder zu einer falschen Erfassung der Eigenschaften des Gegenstandes X führen. Eine ähnliche Rolle kann z.B. das gleichzeitige Vorkommen dieser oder jener Gefühle oder Wünsche usw. im gegebenen Wahrnehmungssubjekt spielen.

§ 7. Einwände gegen die Bestimmung ihres

Forschungsgebietes

53

Prozeß und Gegenstand und zwischen Prozeß und darin gewonnenem Erkenntnisergebnis diejenigen bestehen, die unentbehrlich und hinreichend sind für die Verwirklichung eines ganz speziellen Verhältnisses zwischen dem Erkenntnisergebnis und dem Erkenntnisgegenstand ([nämlich des Verhältnisses] jener "Übereinstimmung mit der Wirklichkeit"). Hätten wir das alles geklärt, dann könnten wir nicht nur von allen psychischen Prozessen diejenigen wählen, die bei den erkenntnistheoretischen Untersuchungen sicherlich in Frage kommen, und bei ihnen ihre besonders wichtigen Eigenschaften oder Bestandteile herausgreifen, sondern wir könnten überdies feststellen, welche Rolle die einzelnen Arten von Erkenntnisprozessen und ihre einzelnen Eigenschaften bei der Gewinnung der Erkenntnisergebnisse spielen (ob diese nun mit der Wirklichkeit übereinstimmend sind oder nicht). Indessen kann uns die Erforschung der Erkenntnisprozesse und ihrer eventuellen physiologischen Bedingungen allein die oben angedeuteten Richtlinien nicht liefern. Denn die meisten Punkte, die wir dort genannt haben, betreffen Gegenstände, die keine psychischen oder physiologischen Prozesse sind. So ist beispielsweise - wie ich das schon erwähnt habe - das Verhältnis zwischen dem Erkenntnisprozeß und dem ihm entsprechenden Erkenntnisgegenstand, z.B. das Verhältnis zwischen dem Sehen und dem Gesehenen, nichts Psychisches. Dasselbe könnte man von anderen der oben genannten Begriffe sagen. Wir müssen jedoch über diese Richtlinien verfügen, wenn wir an das Erforschen der psychischen Erkenntnisprozesse herantreten. Es ist somit eine andere - der psychophysiologischen Erkenntnistheorie logisch und methodologisch vorgeordnete - Theorie unentbehrlich, die uns grundlegende epistemologische Begriffe und Kriterien vermittelt. Daß dem so ist, davon zeugt ebenfalls die Tatsache, daß die psychophysiologische Erkenntnistheorie im Laufe ihrer Untersuchungen die spezifisch epistemologischen Voraussetzungen selber nicht entdeckt, sondern - falls sie sich dieser überhaupt bewußt wird - sie unkritisch aus den vorepistemologischen Überzeugungen übernimmt, die wir in der natürlichen Einstellung des praktischen Lebens hegen. 7

Das bedeutet, daß die psychophysiologische Erkenntnistheorie als eine grundlegende Theorie fehlerhaft konstruiert ist. Daraus folgt aber nicht, daß es nicht möglich wäre, eine Psychophysiologie der Erkenntnis oder sogar eine Theorie der Erkenntnis des Menschen als eines psychophysischen Wesens zu konstruieren, wenn diese Theorie schon eine spä-

54

II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

Zum Schluß: Die Auffindung und Aufklärung der grundlegenden epistemologischen Begriffe und Kriterien bilden eben eine der Hauptaufgaben der richtig verstandenen Erkenntnistheorie. Die psychophysiologische Erkenntnistheorie kann dieser Aufgabe nicht nachkommen, weil ihr Forschungsgebiet zu eng, wo nicht gar falsch bestimmt ist. 3. Ein weiterer fraglicher Zug der betrachteten Theorie ist ihr rein empirischer Charakter, der sich aus der in § 5 angegebenen Bestimmung ihres Forschungsgebietes ergibt. Soll die Erkenntnistheorie vor allem eine physiologisch fundierte Psychologie sein, so muß man im Auge behalten, daß die Psychologie ihre Untersuchungen in der Weise durchführt, daß sie einzelne Erfahrungen sammelt, Experimente anstellt, auf dieser Grundlage eine Reihe von Einzelurteilen fällt und erst danach diese Ergebnisse statistisch mit Hilfe der sog. unvollständigen Induktion verallgemeinert, die bekanntlich [nur] mehr oder minder wahrscheinliche Ergebnisse liefert. Diese lassen somit in jeder Untersuchungsphase einen begründeten Zweifel daran bestehen, daß sie wahr sind, bzw. sie lassen stets einen gewissen Grad der Möglichkeit zu, daß sie nicht wahr sind. Die Ergebnisse einer derartigen empirischen Epistemologie können nicht auf endgültige Weise die Bedenken zerstreuen, für deren Beseitigung sie ins Leben gerufen wurde. Die Forderung jedoch, daß sie sie beseitige, ergibt sich notwendigerweise aus dem Charakter des Objektivitätsproblems der Erkenntnis selbst. Mit anderen Worten, der empirische Charakter der psychophysiologischen Erkenntnistheorie hat zur Folge, daß sie das sich selbst gesetzte Ziel nicht erreichen kann. Nicht jede psychologische Erkenntnistheorie muß freilich ipso facto empirisch sein. Wer die Möglichkeit der sog. rationalen Psychologie als apriorische Wissenschaft vom Wesen (bzw. von der "Idee") der menschlichen Seele und deren Erscheinungen anerkennt, wird vielleicht vorschlagen, eine apriorische psychophysiologische Erkenntnistheorie zu errichten. Ob und inwiefern diese Idee begründet und realisierbar ist, das erwäge ich später (vgl. IV. Kap.). Die psychophysiologische Erkenntnistheorie wurde [aber] tatsächlich als eine empirische Theorie betrieben und sogar mit der deutlichen Absicht,

tere, in der grundlegenden Erkenntnistheorie fundierte Theorie bilden würde. Darüber noch später!

§ 7. Einwände gegen die Bestimmung ihres Forschungsgebietes

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sich jedem Apriorismus entgegenzustellen. Und das ist auch natürlich. Den Erkenntnistheoretikern dieser Art (das betrifft sowohl J. Locke als auch die Psychophysiologen der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts) schien es ganz offensichtlich, daß die epistemologischen Untersuchungen nur auf empirische Weise geführt werden können. Sie waren doch selbst in ihren erkenntnistheoretischen Ansichten Empiristen. Auch heute noch sind viele derselben Meinung (vgl. z.B. E.R. Jaensch 8 ). Empiristen sind auch die Physiker des XX. Jahrhunderts, die - wie Eddington oder Weizsäcker - Erkenntnistheorie zu betreiben versuchen. Jemand könnte aber vielleicht sagen: Wenn der empirische Charakter der Erkenntnistheorie ihr keine Möglichkeit gewährt, ganz sichere Ergebnisse zu gewinnen und alle Bedenken wegzuräumen, so müsse man das einfach zur Kenntnis nehmen und an sie keine Forderungen stellen, die sie nicht erfüllen kann. Man müsse sich mit den Ergebnissen begnügen, die in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie erreichbar sind. Wenn wir sie betreiben würden, wüßten wir immerhin mehr als ohne sie. Insbesondere würden wir uns der Gefahren bewußt werden, die beim Erkennen der Gegenstände der realen Welt und anderer Gegenstände bestehen, und uns vor einem blinden erkenntnismäßigen Dogmatismus bewahren, wenngleich wir die uns quälenden prinzipiellen Bedenken nie endgültig beseitigen würden. Zu einem solchen Verzicht auf das wesentliche Ziel der Erkenntnistheorie wären wir indessen nur berechtigt, wenn es sicher wäre, daß streng allgemeine und unzweifelhaft wahre Ergebnisse bei keiner anders beschaffenen Erkenntnistheorie erreicht werden können. Vom Standpunkt der empirisch betriebenen psychophysiologischen Erkenntnistheorie aus könnte man aber nicht einmal diese Sicherheit gewinnen. Dieser Verzicht wäre auch nur nützlich, wenn die psychophysiologische Erkenntnistheorie keinen anderen prinzipiellen Einwänden ausgesetzt wäre. Weder das eine noch das andere ist jedoch der Fall, wie wir uns noch überzeugen werden. 4. Unter den spezifisch epistemologischen Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie tritt u. a. die These III 7 auf, daß nämlich die Erkenntnisprozesse, die sich auf unsere eigenen psychischen Zustände Vgl. E. R. Jaensch, [Über den] Aufbau der Wahrnehmungswelt, Wahrnehmungswelt Leipzig] 1923.

[in: Über den Aufbau der

und die Grundlagen der menschlichen Erkenntnis, Bd. 1, 2. Aufl.,

56

II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

und Vorgänge beziehen, uns immer wahre und sichere Erkenntnisergebnisse verschaffen. Das ist mindestens ein Postulat, dessen Erfüllung die psychophysiologische Erkenntnistheorie fordern muß. Diese These wurde auch von vielen Psychologen und Philosophen seit Descartes, ζ. Β. von F. Brentano vertreten. Indessen erweckt sie ernsthafte Bedenken. Man hat auch mehrfach darauf hingewiesen, daß die sog. "Introspektion" oder "Reflexion" zu falschen Ergebnissen führen kann, daß dabei verschiedene Täuschungen entstehen usw. 9 Einige (ζ. B. A. Comte und von den zeitgenössischen Autoren Watson) gehen so weit, der "Introspektion" überhaupt jeden Erkenntniswert abzusprechen, vor allem unter Hinweis darauf, daß das Vollziehen der Akte der inneren Erfahrung die Bedingung des Stattfindens der psychischen Prozesse antaste, die man auf diesem Wege erforschen wolle - der Verlauf dieser Prozesse ändere sich dadurch, und einige von ihnen würden überhaupt vernichtet (man spricht gewöhnlich von jenem Zorn, der vergeht, wenn er zu unserem Bewußtsein gelangt). Man kann zweifeln, ob eine so weit gehende Kritik der inneren Erfahrung begründet ist 10 . Auf jeden Fall aber erfordert diese Sache eine ausführliche Betrachtung, noch bevor man entscheidet, daß die epistemologischen Untersuchungen auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie zu betreiben seien. Von der Wahrheit der erwogenen Voraussetzung hängt es nämlich ab, ob diese Theorie überhaupt möglich ist. Daher müßten wir schon hier eine eingehende Untersuchung der "inneren Erfahrung" und ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit durchführen, wären wir nicht durch andere wichtige Argumente hinreichend von der Notwendigkeit überzeugt, die betrachtete Auffassung der Erkenntnistheorie zu verwerfen.

Näher bespricht diese Sache u.a. Max Scheler in der Abhandlung [Die] Idole der Selbsterkenntnis (vgl. Aufsätze u. Abhandlungen, 1915, in der II. Ausgabe unter dem Titel Umsturz der Werte, 1923, 2 Bände [Max Scheler, Gesammelte Werke, Band 3, Bern und München 1972, S. 213-292]. In unserer Zeit hat diese übrigens sehr oberflächliche Kritik dazu geführt, daß man die Möglichkeit der Psychologie als Wissenschaft von Bewußtseinserlebnissen überhaupt bestreitet und die Notwendigkeit behauptet, sie durch die Physiologie zu ersetzen, die übrigens von den sog. Psychologen auf ziemlich mythologische Weise betrieben wird. Husserl hat richtig darauf aufmerksam gemacht, daß die These, die den Weit des unmittelbaren Erkennens der eigenen Bewußtseinserlebnisse negiert, zum Widerspruch führt. Siehe E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie, Schuhmann)], § 46.

1913 [Ideen I (Husserliana III/l, hrsg. von K.

§ 8. Das Problem der Erkenntnis der Dinge der materiellen Welt

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Auf diese Frage werden wir übrigens noch aus anderen Gründen zurückkehren müssen. Die Konzeption der psychophysiologischen Erkenntnistheorie ist indes unter vielen Forschern, besonders bei uns [in Polen] so tief verwurzelt, daß die allgemeinen Einwände, die gegen sie erhoben werden, auf ihre Anhänger keinen großen Eindruck machen. Man tut sie als "philosophische Spekulationen" ab, über die man stillschweigend hinweggehen kann, und man geht in der einmal festgelegten Richtung weiter. Die Anhänger der psychophysiologischen Erkenntnistheorie fühlen sich dabei so hilflos, wenn man ihnen sagt, es können auf diesem Weg keine befriedigenden Ergebnisse erreicht werden, daß sie gar keine andere Möglichkeit sehen, Epistemologie zu betreiben. Nachdem sie sich mit den allgemeinen Einwänden gegen ihre Theorie bekannt gemacht haben, ziehen sie es schon aus bloßer Ratlosigkeit vor, an der bisherigen Verfahrensweise festzuhalten, die ihnen, bei ihrer nicht allzu großen Scharfsichtigkeit, wenigstens den Anschein wissenschaftlicher Arbeit gibt. Man muß somit bis aufs Einzelne eingehen und nachprüfen, auf welche Weise manche epistemologischen Grundprobleme durch die psychophysiologische Erkenntnistheorie gestellt und gelöst werden. Zunächst wende ich mich dem Problem des Erkenntniswertes jener Erkenntnisergebnisse zu, die sich auf die Objekte der "materiellen" Welt beziehen.

§ 8. Das Problem der Erkenntnis von den Dingen der materiellen Welt auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie Dieses Problem wird oft mit dem Problem der Erkenntnis der Außenwelt vermengt. Die "äußere" Welt wird nämlich manchmal mit der "materiellen" Welt identifiziert. Indessen schöpft der Begriff der Außenwelt seine Bestimmung aus epistemologischen Überlegungen, während der Begriff der "materiellen" Welt im Hinblick auf eine grundlegende Eigenschaft der Gegenstände selbst gebildet ist. Der erste Begriff hängt mit der Differenz von verschiedenen prinzipiellen Richtungen zusammen, in welche ein Erkenntnisakt gerichtet sein kann: a) "nach außen", d. h. entweder (in einer engeren Wortbedeutung) über das psychophysische Subjekt (das auch den Körper dieses Subjekts umfaßt)

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//. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

"hinaus" oder (in einer weiteren Bedeutung) über den Strom der psychischen Prozesse des psychophysischen Subjekts "hinaus", das eben den betreffenden "nach außen" gerichteten Akt vollzieht, b) "nach innen" in den analogen zwei Bedeutungen. Nun ist die "Außenwelt" die Gesamtheit aller Gegenstände der in der weiteren Wortbedeutung "nach außen" gerichteten Akte. Sie umfaßt somit außer den "materiellen" (physischen) Gegenständen noch verschiedene andere, z.B. andere psychophysische Subjekte (Menschen, Tiere), die Jagellonen-Universität als eine öffentliche Institution, den polnischen Staat, Kunstwerke, wie etwa die Kathedrale in Reims usw. 11 Die "materielle Welt" ist im Verhältnis zur "Außenwelt" viel ärmer. Beim Problem ihrer Erkenntnis wird gewöhnlich die Frage nach dem Erkennen aller zur Außenwelt gehörenden Gegenstände, die nicht rein physisch sind, außer acht gelassen, z.B. bleiben von den anderen Personen nur ihre Körper übrig usw. Das Erkennen der materiellen Welt erfolgt im Vollzug gewisser psychischer Tätigkeiten, die mit gewissen Tätigkeiten unseres Körpers in engem Zusammenhang stehen. Zu den hier in Frage kommenden psychischen Tätigkeiten gehört einerseits das sinnliche Wahrnehmen, in dem zwecks Erlangung der Erkenntnis die Wahrnehmung eines Gegenstandes (Dinges oder Prozesses) als ein uns gegenwärtiger zustande kommen muß, andererseits gehören hierzu verschiedenartige Denkprozesse, ζ. B. Vergleichen und Folgern. Das sinnliche Wahrnehmen bildet dabei eine unentbehrliche Grundlage für alle weiteren psychischen Erkenntnistätigkeiten, die sich auf Gegenstände der materiellen Welt beziehen. Es wird gewöhnlich zu einseitig gefaßt, nämlich nur unter Berücksichtigung der Bewußtseinsprozesse allein und unter Hintansetzung der dieses Wahrnehmen begleitenden oder ermöglichenden körperlichen Tätigkeiten, wie das Öffnen der Augen, das Aufstellen des Gegenstandes im Sehfeld, die Benützung der die Wahrnehmung erleichternden Geräte usw. 12 Die sinnliche Wahrnehmung kann verschiedener Art sein: Seh-, Ge-

11

Ich lasse hier die schwierige und auf verschiedene Weisen gelöste, für uns aber in diesem Zusammenhang unwesentliche Frage außer acht, ob z.B. die Gegenstände der mathematischen Forschung zu der so verstandenen Außenwelt gehören oder nicht.

12 Es handelt sich also nicht um die hypothetisch vorausgesetzten physiologischen Prozesse, die z.B. in verschiedenen Nervenzentren stattfinden. Von diesen Prozessen besitzen wir direkt (während des Sehens) kein Wissen. Die psychophysiologischen Epistemologen ziehen diese hypothetisch angenommenen (verborgenen) Prozesse des öfteren erst dann in Be-

§ 8. Das Problem der Erkenntnis der Dinge der materiellen Welt

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hör-, Tast-, Geschmackswahrnehmung usw. Die Wahrnehmungen verschiedener Art können uns Wissen über dieselben Dinge verschaffen, obwohl sie im allgemeinen diese Dinge mit verschiedenen Merkmalen darbieten. Wir sehen also farbige Dinge, doch dieselben Dinge nehmen wir mit dem Tastsinn als rauh oder glatt wahr usw. Manche Merkmale der Dinge, ζ. B. ihre Gestalt, können wir sowohl visuell als taktil wahrnehmen. Im praktischen Leben jedoch gebrauchen wir nicht alle Arten des Wahrnehmens gleichmäßig, ζ. B. hat das Sehen unter unseren heutigen Verhältnissen eine große Überlegenheit im Vergleich zu anderen "Sinnen". Infolgedessen scheint uns der Verlust der Sehkraft ein großes Unglück zu sein, während z.B. der Verlust des Geruchssinnes für uns ohne größere Bedeutung sein könnte. Dagegen wäre dieser Verlust für einen Hund, auch als Haustier, sehr empfindlich. Welcher Art Wahrnehmung wir uns bedienen, erfordert im allgemeinen keine spezielle Entscheidung. Das vollzieht sich vielmehr von selbst, wobei gewöhnlich mehrere "Sinne" gleichzeitig wirken. Hat also der Gesichtssinn bei uns meistens ein Übergewicht vor anderen Sinnen, so liegt das offenbar einerseits an den Bedingungen, unter denen wir uns befinden, an der wohl größeren biologischen Bedeutsamkeit der Wahrnehmung der Dinge aus der Ferne mit einer deutlichen räumlichen Lokalisierung, wie sie uns das Sehvermögen liefert13, andererseits vielleicht auch an der größeren Effizienz der Wahrnehmungen dieser Art selbst. Denn man kann nicht vermuten, daß die Farben selbst, die beimSéhen ohne Zweifel eine beträchtliche Rolle spielen, für sich allein genommen für uns eine größere Lebensbedeutung

tracht, wenn sie sich bemühen, eine kausale Erklärung der BewuBtseinsprozesse zu geben und auf diesem Weg eine Grundlage für die Entscheidung des Objektivitätsproblems der sinnlichen Erkenntnis zu gewinnen. Darin steckt die im voraus angenommene Hypothese des Dualismus. Dagegen sprechen wir im Text von den Tätigkeiten unseres Körpers, die uns in der Erfahrung während des Vollziehens der betreffenden Wahrnehmung gegeben

1^

sind, wie z.B. das Bewegen der Augen. Die Geruchswahrnehmung ist auch einer Art Wahrnehmung "aus der Ferne", ähnlich wie die Gehörwahrnehmung. Die Geruchsdaten entbehren jedoch für sich allein einer räumlichen Lokalisierung, sie helfen uns also nicht beim Sichorientieren im Raum aus der Ferne. Mutatis mutandis läBt sich dasselbe in gewissem Maße auch von der Gehörwahrnehmung sagen, obwohl die Gehördaten schon eine gewisse räumliche Lokalisierung aufweisen.

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

haben als andere Merkmale von Dingen. 14 Dagegen steigert sich der biologische Wert der visuellen Wahrnehmung durch die Tatsache, daß - wie die neueren Untersuchungen zeigen - durch die Farben der Dinge uns deren verschiedene, für uns wichtige Eigenschaften, z.B. die Stoffeigenschaften erscheinen: Wir sehen, daß etwas aus Holz oder aus Metall ist, daß es ein Gewebe ist usw. Der größere biologische Wert (Bedeutsamkeit) der visuellen Wahrnehmung ist wahrscheinlich auch ein Grund dafür, daß sie von den Psychologen verhältnismäßig genauer als andere Wahmehmungstypen behandelt wurde (wobei man sie nota bene manchmal zu einseitig verstanden hat, wenn man z.B. entgegen der unmittelbaren Erfahrung behauptete, sie stelle ausschließlich Farben, Lichter und Schatten dar). 15 Theoretisch scheint dagegen die Überlegenheit des "Sehvermögens" über andere "Sinne" nicht begründet. Daher sollen sämtliche Wahrnehmungstypen beim Betrachten der Erkenntnis der zur materiellen Welt gehörenden Dinge gleichermaßen einer Untersuchung unterzogen werden. Mit Rücksicht auf die relativ vollkommeneren Ergebnisse bezüglich der visuellen Wahrnehmung werde ich aber hier das Problem der Erkenntnis der Dinge der materiellen Welt hauptsächlich vor dem Hintergrund dieser Wahrnehmung, obwohl unter Berücksichtigung auch anderer Wahrnehmungstypen, behandeln. 16 Gemäß der in Erwägung stehenden Theorie stellt das "Sehen" einen psychischen Prozeß dar, der durch physiologische Prozesse bedingt ist, die sich vor allem im Auge und dem mit ihm verbundenen Teil des Nervensystems abspielen. Diese haben wiederum gewöhnlich ihre Teilursache in den physischen Prozessen, die außerhalb des Körpers des auf ein Ding schauenden Menschen ablaufen, die aber ins Innere des Auges gelangen und die entspre-

14

Das bemerkt u.a. auch H. H. Price, Perception, [London] 1932, wobei er übrigens auch die Rolle des Tastsinnes betont.

15

Dies rührt u.a. von der Dominanz des physiologischen Gesichtspunkts in den psychologischen Betrachtungen her sowie von den ausgesprochen sensualistischen Tendenzen bei vielen Psychologen.

16

Ich werde hier übrigens die Ergebnisse der weit in dieser Richtung vorangekommenen Forschungen der Phänomenologen nicht benutzen, denn diese Forschungen wurden gerade dadurch möglich, daß der für die psychophysiologische Erkenntnistheorie kennzeichnende Gesichtspunkt aufgegeben wurde. Hier handelt es sich aber um die Darstellung einer für diese Theorie charakteristischen Argumentationsweise.

§ 8. Das Problem der Erkenntnis der Dinge der materiellen Welt

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chenden Nervenenden erregen. Die sog. "Lichtwellen" 17 (das "Licht" im Sinne der Physik) dringen nämlich - wie man sagt - durch die Hornhaut und die Augenlinse ins Innere des Auges, fallen auf die Netzhaut und lösen in dieser photochemische Prozesse aus; diese werden mittels des Sehnervs zum Sehzentrum im Gehirn übertragen und ziehen, wenn der Mensch, aus anderen Gründen, wach ist, das Sichabspielen eines psychischen (bewußtseinsmäßigen) Prozesses nach sich, den man als das Sehen von farbigen Dingen im Raum außerhalb unseres Körpers bezeichnet. Diese Lichtwellen, die in diesem Fall physische Stimuli oder "Reize" ausmachen, sollen [nach dieser Theorie] etwas Objektives 18 sein: etwas, was sich in der materiellen, wirklichen Welt unabhängig von unserem Sehen abspielt. Das Sehen dagegen - als ein psychischer Prozeß - soll etwas Subjektives sein, d. h. vor allem etwas, was 1. sich völlig innerhalb des psychophysischen Individuums abspielt und 2. ohne das das gegebene Individuum nicht existieren würde. Es ist zugleich etwas numerisch vom physischen Gegenstand, auf den es sich bezieht, Verschiedenes und kann sich in gewissen Fällen sogar dann abspielen, wenn die Lichtwellen nicht zur Netzhaut gelangen. Dies letztere findet statt, wenn diese Wellen durch einen anderen physischen Prozeß (ζ. B. elektrischen Strom) ersetzt werden oder wenn sich aus irgendwelchen endogenen Gründen (z.B. durch eine Meskalinvergiftung) im Sehzentrum ein entsprechender Nervenprozeß abspielt (wir haben dann sog. visuelle Halluzinationen). In jedem dieser Fälle treten, wenn der Mensch wach ist, die von den Psychologen so genannten "Sehempfindungen" 19 auf, und es kann das Sehen von etwas

ιη Beziehungsweise die sich schnell bewegenden Photonen; das macht aber in unserem Zu-

1 8 sammenhang

keinen wesentlichen Unterschied aus.

Dieser Terminus ist Übrigens bekanntlich mehrdeutig, aber hier handelt es sich nur um diese seine Bedeutung, die ich umreiße. 19

Nota bene sind - was man manchmal vergißt - die sog. visuellen Erscheinungen oder Licht'empfindungen", die z.B. durch den elektrischen Strom oder eine Schädelerschütterung hervorgerufen werden, in ihrem Verlauf und ihrem Inhalt von den "gewöhnlichen" Gesichtswahrnehmungen deutlich verschieden. Es sind uns in ihnen keine im Raum außerhalb unseres Körpers lokalisierten Dinge deutlich gegeben, wie das bei der "normalen" Wahrnehmung der Fall ist, sondern ziemlich unbestimmte Lichterscheinungen. Diejenigen, die sich auf die inadäquaten visuellen Empfindungen berufen und darin ein Argument für die sog. "Subjektivität" der Gesichtsempfindungen sehen, lassen diese Unterschiede völlig außer acht.

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11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

erfolgen, was dem schauenden Menschen verschieden von ihm selbst und seinem Körper vorkommt. Wenn wir nur den psychischen Prozeß des Sehens erleben, kennen wir seine physiologischen und physischen Bedingungen nicht, und somit wissen wir nicht, welcher der genannten Fälle gerade vorliegt. Dieses Wissen zu gewinnen, ist aber nach der psychophysiologischen Erkenntnistheorie sehr wichtig. Denn falls das Sehen infolge der Einwirkung eines "adäquaten" physischen Reizes (einer Lichtwelle) zustande kommt, dann existiert außerhalb unseres Körpers ein materieller Gegenstand, auf den das Sehen sich bezieht. In den anderen Fällen aber gibt es keinen solchen Gegenstand; das Sehen (oder - wie man gemeinhin sagt - die "Gesichtsempfindungen")20 bezieht sich auf etwas, was in Wirklichkeit nicht existiert. Wie können wir jedoch herausfinden, welcher Fall in einer gegebenen Situation vorliegt? Gemäß der psychophysiologischen Erkenntnistheorie soll man zu diesem Zweck vor allem die Kette von Prozessen verfolgen, die sich zwischen dem den physischen Reiz entsendenden Ding und dem Erlebnis des Sehens abspielen. Da die Person selbst, die das Ding sieht, dies meistens nicht machen kann, auf jeden Fall es aber für sie aus verschiedenen Gründen nicht angebracht ist, dies zu machen, muß das von jemand anderem gemacht werden: von jemandem, der das Verhalten der wahrnehmenden Person unter den ihm bekannten Umständen beobachtet und versucht, von ihr zu erfahren, was sich in ihrer Psyche beim Sehen abspielt. Daher rührt die von vielen Psychophysiologen aus der zweiten Hälfte des XIX. und aus dem XX. Jahrhundert realisierte Idee, für die Erkenntnistheorie die experimentellen Methoden der

20 Die weitaus meisten Psychologen - von Locke bis hin zu den Psychologen der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts, wie Ebbinghaus, Wundt u.a. - sind der Meinung, daß "visuell wahrnehmen" und "visuelle Empfindungen besitzen" ein und dasselbe sei. Das sind die sog. "Sensualisten". Einen radikal anderen Standpunkt vertreten nicht so sehr diejenigen, die (wie Brentano und bei uns [in Polen] Twardowski) die Wahrnehmung als ein Erlebnis ansehen, das aus einer "Wahmehmungsvorstellung" und einem sog. "Urteil" besteht, als vielmehr die, die behaupten, die Wahrnehmungen seien dadurch charakterisiert, daß sie direkt Dinge mit ihren Eigenschaften zeigen würden. Dies [behaupteten] im XVIII. Jahrhundert die Vertreter der schottischen Schule und im XX. Jahrhundert die Phänomenologen. Die Anhänger der psychophysiologischen Erkenntnistheorie neigen im allgemeinen zum sensualistischen Verständnis der visuellen Wahrnehmung. [Vgl. F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, Bd. 1/2, hrsg. von Oskar Kraus, Hamburg 1924/1925; K. Twardowski, Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen, Wien 1894.]

§ 8. Das Problem der Erkenntnis der Dinge der materiellen Welt

63

Psychophysiologie in Anspruch zu nehmen, mit denen die Beziehungen zwischen dem physischen Reiz und der durch diesen Reiz hervorgerufenen "Sinnesempfindung" 21 ermittelt werden sollten. Da aber die Gestaltung des Inhalts der aktuellen Wahrnehmung ebenfalls durch die früher vollzogenen Erlebnisse beeinflußt werden kann, die im psychophysischen Subjekt sog. psychische "Dispositionen" erzeugen, Dispositionen, die ihrerseits den Verlauf der aktuellen Erlebnisse mit bestimmen, muß man auch in dieser Richtung Untersuchungen vornehmen, um die Weise zu ermitteln, wie die untersuchten Wahrnehmungen von den früheren Erfahrungen und den durch diese erzeugten Dispositionen abhängen. Mit anderen Worten: Das Problem des Wahrheitswertes der sinnlichen Wahrnehmung (insbesondere des Sehens) bzw. des darin gewonnenen Erkenntnisergebnisses nimmt auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie die Gestalt eines kausal-genetischen Problems an. Es handelt sich dabei sowohl um die rein psychologische als auch um die physiologische und physikalische Genese. Wenn die genetische Untersuchung ergibt, daß der betrachtete Erkenntnisprozeß (das betrachtete Sehen) nicht durch einen physischen Reiz hervorgerufen wurde, der seine Quelle im Gegenstand hat, auf den sich der untersuchte Erkenntnisprozeß bezieht, dann wird auf diesem Weg - gemäß der Voraussetzung III 6a - das Problems des Wahrheitswertes des gegebenen Erkenntnisprozesses bzw. des darin gewonnenen Ergebnisses negativ entschieden. Zeigt dagegen die genetische Untersuchung, daß eine bestimmte sinnliche (z.B. visuelle) Wahrnehmung eines Gegenstandes X durch einen vom Gegenstand X ausgehenden physischen Reiz (oder wenigstens durch einen, bei dem der Gegenstand X eine vermittelnde Rolle spielt, z.B. das Licht ablenkt), hervorgerufen wurde, dann kann man durch diese Tatsache allein noch keine positive Entscheidung des erwägten Problems gewinnen. Im Gegenteil, es ist - worauf man oft hingewiesen hat - wahrscheinlich, daß eine durch den gegebenen physischen Reiz verursachte Wahrnehmung nur einen mehr oder weniger beschränkten oder gar keinen Erkenntniswert besitzt. Auch dann kann aber - gemäß den prinzipiellen Tendenzen der 11 Ich setze diese Anführungszeichen, denn es ist höchst unklar, was eigentlich jene "Empfindung" sein soll. Verschiedene Autoren verstehen das auf verschiedene Weise. Vgl. H. Hoffmann, "Untersuchungen über den Empfindungsbegriff', Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. XXVI (1913), Hft. 1.

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11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

psychophysiologischen Erkenntnistheorie - nur eine kausal-genetische Erwägung zeigen, aus welchen Gründen und auf welche Weise diese Beschränkung des Wertes der untersuchten Wahrnehmung stattfindet. So treten die genetischen Untersuchungen in den Vordergrund der Betrachtungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie und gewinnen die Schlüsselrolle eines Grundwerkzeugs zur Lösung der Probleme der Objektivität. Infolgedessen werden alle anderen Probleme und Forschunsgmethoden ganz zurückgedrängt; im Laufe der Zeit hören daher die Erkenntnistheoretiker dieser Art überhaupt auf, zu verstehen, daß man andere Untersuchungsmethoden befolgen kann und soll. Ganz im Schwinden begriffen ist vor allem die deskriptive Untersuchung der Bewußtseinserlebnisse überhaupt und der Erkenntniserlebnisse und -Operationen im besonderen. Nachdem man gewisse, möglichst primitive, Einteilungen der psychischen Erlebnisse in Grundklassen oder Gattungen vorgenommen hat, geht man sofort zu den genetischen Problemen über, ohne daß man sich über die charakteristischen Eigenschaften und den Aufbau einzelner Arten von Erlebnissen oder über ihren Verlauf oder schließlich über die Zusammenhänge Klarheit zu verschaffen vermag, die zwischen den einzelnen Erlebnissen im Hinblick auf den in ihnen beschlossenen Sinn bestehen. Deswegen wird auch ein so kompliziertes Erlebnis wie die sinnliche Wahrnehmung gewisser Dinge einfach als das schlichte Haben von "Empfindungen" betrachtet, und sogar diese "Empfindungen" selbst werden hinsichtlich ihrer der deskriptiven Analyse zugänglichen Eigenschaften in einer möglichst primitiven Weise behandelt. Das wirkt sich besonders dort sehr nachteilig aus, wo es im Lauf der Erfahrung zu verschiedenartigen Motivationszusammenhängen zwischen Erlebnissen kommt und wo der Sinn (oder - wenn man will - der "Inhalt") gewisser Erlebnisse zugleich ein synthetisches Ergebnis ausmacht, das die in den früheren Erlebnissen gewonnenen Ergebnisse gleichsam zusammenfaßt. Das Fehlen oder die Unterentwicklung der deskriptiven Analyse macht sich schließlich besonders dort negativ fühlbar, wo wir - wie es gerade bei den erkenntnistheoretischen Betrachtungen der Fall ist - die Funktion und Operationsfähigkeit gewisser spezieller Erkenntnistätigkeiten klarzulegen haben, Erkenntnistätigkeiten solcher Art wie die zweckmäßig durchgeführte wissenschaftliche Beobachtung, die im einzelnen den Eigenschaften des Untersuchungsobjektes angepaßt ist, die komplizierten experimentellen Maßnahmen, die mögliche Quel-

§ 8. Das Problem der Erkenntnis der Dinge der materiellen Welt

65

len von Irrtümern beseitigen sollen usw. Das alles erscheint überhaupt nicht im Gesichtsfeld der rein genetisch eingestellten Epistemologen der betrachteten Art. Infolgedessen verliert sich mit der Zeit nicht nur die Geschicklichkeit in der analytisch-deskriptiven Forschung; es verschwindet sogar allmählich die Fähigkeit selbst, die der Erfahrung und Beschreibung zugänglichen Tatsachen zu perzipieren, und zwar egal, ob es sich um die sog. psychischen "Erscheinungen" handelt oder um die phänomenal gegebenen Tatsachen innerhalb der uns umgebenden Welt; es werden dagegen die Methoden der kausalgenetischen Forschung ausgebildet und verfeinert. Da sie jedoch auf Situationen angewendet werden, die durch keine deskriptiven Untersuchungen begrifflich geklärt sind, ergibt sich, daß auch die genetischen Probleme nicht befriedigend gelöst werden können, weil man nicht genau weiß, worauf man sie eigentlich anwendet. Im vorliegenden Fall ist ein solches begrifflich nicht geklärtes Objekt der genetischen Forschung vor allem die Sinneswahrnehmung selbst sowie ihre Beziehung zu den sog. Sinnesempfindungen auf der einen Seite und zu den Wahrnehmungsgegenständen und deren Merkmalen auf der anderen. So wie man einerseits infolgedessen die Sinneswahrnehmung mit der Mannigfaltigkeit der während dieser Wahrnehmung erlebten Empfindungen verwechselt, so verwechselt man andererseits - ohne genauere Überlegung und ohne ausreichende Motive - die anschaulich gegebenen Merkmale der wahrgenommenen Gegenstände mit den Empfindungsdaten ("Empfindungen"). In dieser völlig unklaren Situation erwägt man auch das (genetisch verstandene) Problem der Einflüsse, die verschiedene Faktoren auf den Erkenntniswert der Wahrnehmung haben. Man hat dabei die folgenden Umstände im Auge: 1. den (möglichen) Einfluß, den auf die psychischen Prozesse átx Aufbau des Sinnesorgans und des Nervensystems ausüben, die zwischen den physischen Reizen und den psychischen Prozessen vermitteln, einen Einfluß, der wie man im voraus annimmt - sich praktisch nie ausschließen läßt; 2. die unmittelbare Abhängigkeit der psychischen Prozesse von den physiologischen Prozessen, die sich beim Ablauf der gegebenen psychischen Prozesse im Nervensystem abspielen; 3. die Abhängigkeit der psychischen Prozesse von den psychischen Eigenschaften des Subjekts, spezieller von seinen psychischen Dispositionen, die ihrerseits von der früheren Erfahrung (der Gedächtnisübung usw.) abhän-

66

II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

gen, mithin von Faktoren, die vom aktuellen physischen Reiz verhältnismäßig unabhängig sind; 4. schließlich die Möglichkeit, daß sich bei verschiedenen physischen Reizen derselbe physiologische Prozeß abspielt. Diese Möglichkeit ergibt sich aus der vermittelnden Rolle des Sinnesorgans. Erst die Erforschung aller dieser Umstände in jedem Fall, in dem das Objektivitätsproblem der Sinneswahrnehmung zur Debatte steht, kann - wie man im Rahmen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie glaubt - zur Lösung dieses Problems führen. Man kann jedoch im voraus sagen, daß mit Rücksicht auf die Voraussetzung III 4 2 2 vier und nur vier Lösungen möglich sind 23 , sofern der in der Wahrnehmung gegebene Gegenstand - wie das bei der Wahrnehmung der materiellen Dinge immer der Fall ist - in sich viele verschiedene ihn kennzeichnende Momente unterscheiden läßt. Es sind nämlich die folgenden Lösungen: I. Alle die Momente, die in einer beliebigen Sinneswahrnehmung eines Gegenstandes X als seine Merkmale oder als Momente seiner Form oder schließlich als seine Existenz dem wahrnehmenden Subjekt anschaulich gegeben sind, sind genau gleich und identisch wie die, die diesem Gegenstand an sich, mithin unabhängig davon, ob er wahrgenommen wird, zukommen. Diese Lösung des Objektivitätsproblems der sinnlichen Wahrnehmung der materiellen Gegenstände werde ich den "radikalen" oder "vollständigen" erkenntnistheoretischen Realismus nennen. 24 Er wird gemeinhin als der "na22

Vgl. oben S. 44. Ob sie auch in anderer Hinsicht möglich sind, das ist gerade zu erwägen.

24

Selbstverständlich entspricht diese Formulierung des erkenntnistheoretischen "radikalen Realismus" nur dem Verständnis der sinnlichen Wahrnehmung als Erlebnis, in dem farbige, riechende, rauhe usw. Dinge gegeben sind. Das würde der Auffassung der Wahrnehmung entsprechen, die z.B. von Th. Reid oder von den Phänomenologen angenommen wurde. Bei uns [in Polen] würde sich diesem Begriff vielleicht der "radikale Realismus" bzw. "Reismus" T. Kotarbinskis nähern, wenn Kotarbinski bereit wäre, die qualitative Ausstattung eines Dinges, seine Form und seine Seinsweise zu unterscheiden. [Vgl. T. Kotarbinski, Elementy teorii poznania, logiki formalnej i metodologii nauk, Lwow 1929; 2. Aufl. Warszawa 1961; englische Übersetzung: Gnosiology: The scientific approach to the theory of knowledge, Oxford - Wroclaw 1966.] Wer die Gesichtswahrnehmung von vornherein mit dem Haben visueller Empfindungen gleichsetzt, den wird die von mir angegebene Formulierung nicht befriedigen. Er müßte sagen, daß der volle Komplex von visuellen Empfindungen, den das Wahmehmungssubjekt in einem bestimmten Augenblick besitzt, genau so qualifi-

§ 8. Das Problem der Erkenntnis der Dinge der materiellen Welt

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ive" Realismus bezeichnet, was nicht richtig ist, weil der "naive Realismus" nur die vorepistemologischen Überzeugungen des Erkenntnissubjektes charakterisieren kann. II. Einige und nur einige der Momente, die in einer beliebigen Sinneswahrnehmung eines Gegenstandes X als seine Merkmale oder als Momente seiner Form oder schließlich als seine Existenz dem wahrnehmenden Subjekt anschaulich gegeben sind, sind genau gleich und identisch wie die, die dieser Gegenstand unabhängig davon besitzt, ob er wahrgenommen wird, wobei zu diesen sozusagen "sich bewährenden" Momenten allemal das Moment der Existenz gehört, d. h., hinsichtlich dieses Momentes ist die Wahrnehmung objektiv. Diesen Standpunkt werde ich den "kritischen" oder "eingeschränkten" erkenntnistheoretischen Realismus nennen. III. Keines der Momente, die in einer beliebigen Sinneswahrnehmung eines Gegenstandes X dem wahrnehmenden Subjekt als sein Merkmal oder als Moment seiner Form anschaulich gegeben sind, ist genau gleich und identisch wie eines derjenigen Momente, welche dieser Gegenstand für sich selbst besitzt, unabhängig davon, ob er wahrgenommen wird, ausgenommen das Moment seiner Existenz, hinsichtlich dessen die Wahrnehmung objektiv ist, während sie sonst nicht objektiv ist. Diesen Standpunkt nenne ich den "skeptischen" Realismus. IV. Keinem der Momente, die in einer beliebigen Sinneswahrnehmung eines Gegenstandes X als sein Merkmal oder als Moment seiner Form oder schließlich als seine Existenz dem wahrnehmenden Subjekt gegeben sind, entspricht etwas in der Wirklichkeit; d. h. die Wahrnehmung ist in jeder Hinsicht nicht objektiv, sogar bezüglich der darin gegebenen Existenz des

ziert ist wie das materielle Ding, das diese "Empfindungen" hervorruft. Es scheint, daß keiner der psychophysiologischen Erkenntnistheoretiker, die diese Auffassung [der Sinneswahrnehmung] vertreten, sich für jenen Standpunkt [des "vollständigen Realismus"] aussprechen würde. Ein amerikanischer Neorealist würde - so wie G. Berkeley - sagen, der Komplex der erlebten Sinnesempfindungen sei einfach dasselbe wie das materielle Ding. Cum grano salis!

68

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Erkenntnistheorie

Gegenstandes X. Diesen Standpunkt werde ich den "radikalen Kritizismus" nennen. Manche nennen ihn den erkenntnistheoretischen "Idealismus". 25 Es ist schließlich ein agnostischer Standpunkt möglich, gemäß dem wir überhaupt nicht wissen, ob und in welcher Hinsicht das, was dem Erkenntnissubjekt in der Wahrnehmung als ein Merkmal (die Form oder die Existenz) eines Gegenstandes X gegeben ist, diesem in Wirklichkeit unabhängig von der Wahrnehmung zukommt. Diesen Standpunkt kann man jedoch nicht als eine Lösung des Objektivitätsproblems der Sinneswahrnehmung gelten lassen; ich muß ihn vielmehr als die Anerkennung der Unlösbarkeit dieses Problems betrachten. Deswegen lasse ich ihn in meiner Kritik der psychophysiologischen Erkenntnistheorie außer Betracht. Ich komme dagegen später darauf zurück. Auf diese Weise bleiben nur vier mögliche Lösungen des betrachteten Problems übrig. 26 Behalten wir dabei zugleich die in der Voraussetzung III 4 angegebene Definition bei, dann erschöpfen diese Lösungen nicht nur alle Möglichkeiten, sondern es muß auch eine von ihnen wahr sein. Wenn es sich also zeigen würde, daß auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie keine von ihnen ohne logische Fehler begründet werden kann, dann würde das bedeuten, daß die so bestimmte Erkenntnistheorie in ihrer Bestimmung einen prinzipiellen Fehler verbirgt. Wenn wir dagegen die Voraussetzung III 4 fallenlassen und an ihre Stelle eine andere Voraussetzung, ζ. B. die pragmatistische Bestimmung der "Wahrheit" einführen, dann eröffnet sich In der Geschichte der Philosophie sind viele verschiedene Ansichten aufgetreten, die man kritischen Realismus bzw. "Idealismus" nannte. Um Mißverständnissen vorzubeugen, bitte ich die Leser, sie möchten diese Termini in diesem Buch ausschließlich in den soeben angegebenen Bedeutungen verstehen. Ich übersehe nicht die Tatsache, daß in der europäischen Philosophie viele Versionen der dargestellten Standpunkte vorgekommen sind. Sie gehören aber zum Teil nicht in den Rahmen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie (zumal wenn es sich um verschiedene Formen des Idealismus handelt), zum Teil leiten sie sich von verschiedenen Auffassungen des Bewußtseins ab, zum Teil schließlich - wenn es sich um den sogenannten kritischen erkenntnistheoretischen Realismus handelt - unterscheiden sie sich voneinander nur dadurch, daß die einen in einer Hinsicht und die anderen in einer anderen Hinsicht die NichtObjektivität der Erkenntnis der materiellen Welt behaupten. Oft betreffen die Unterschiede [zwischen diesen Versionen] nur die Begründungsweise ein und desselben Standpunkts. Für unsere Zwecke genügt es, wenn wir die allgemeinen Typen von möglichen Lösungen erwägen.

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auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie noch eine andere Lösungsmöglichkeit des (im Grunde völlig veränderten) Objektivitätsproblems der Erkenntnis der materiellen Welt, eine Lösungsmöglichkeit, die eine besondere Betrachtung verlangt. Ich werde diese [anderen Voraussetzungen] später angeben und kritisch besprechen. 27

§ 9. Die Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung des vollständigen Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie Von den vier in § 8 angegebenen Lösungen des Objektivitätsproblems der Erkenntnis der äußeren Welt fällt der vollständige erkenntnistheoretische Realismus sofort weg. Denn er widerspricht einer im Ausgang angenommenen Voraussetzung der psychophysiologischen Erkenntnistheorie, daß es nämlich sogenannte Sinnestäuschungen gebe (Voraussetzung III 8). Man muß jedoch noch eine Überlegung erwägen, die eine Möglichkeit nahe legt, den vollständigen Realismus [doch] aufrechtzuerhalten. Wenn es Täuschungen gibt, so können nicht alle Wahrnehmungen derart sein, daß alles, was in ihnen als "Merkmal" des wahrgenommenen Dinges gegeben ist, diesem Ding in Wahrheit unabhäftgig von der Wahrnehmung zukommt. Der Begriff der Täuschung selbst schließt in sich ein, daß das, was in einer uns täuschenden Wahrnehmung als Merkmal eines Dinges gegeben ist, diesem in Wahrheit nicht zukommt, sondern daß dieses Ding in der betrachteten Hinsicht nur scheinbar so ist, wie es gegeben ist. Es können aber derart weit gehende Täuschungen vorliegen, daß das darin gegebene Ding gar nicht existiert; in der vorangehenden Täuschung oder in der darauf folgenden Wahrnehmung zeigt es sich dann, daß an Stelle des in der Täuschung gegebe-

27 [In der Redaktion IIIA folgt, statt des Paragraphen 9, der erst in der Redaktion HIB hinzugefügt wird, der Absatz: "Von den hier angegebenen vier Lösungen wird der naive oder vollständige epistemologische Realismus sofort durch eine grundlegende Voraussetzung der psychophysiologischen Erkenntnistheorie ausgeschlossen, nämlich dadurch, daß es sog. Sinnestäuschungen gibt. Es genügt somit, wenn ich hier die Begründungsweisen von den drei übrigen möglichen Lösungen des fraglichen Problems auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie erwäge" (Ms. S. 47).]

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nen Dinges ein ganz anderes Ding auftritt. So ist es ζ. B., wenn wir, am Abend auf einer schlecht beleuchteten Straße fahrend, im Lichte der Scheinwerfer den Schatten eines Menschen erkennen, wonach es sich aber bald zeigt, daß es sich um einen auf der Straße stehenden Wagen handelt. Bei dieser Sachlage könnte der vollständige Realismus nur dann aufrechterhalten werden, wenn es entweder [1] gar keine besonderen Wahrnehmungserlebnisse gäbe, die zu einer Täuschung führen, - d.h., wenn man die Voraussetzung III 8 fallenließe - oder auch [2] wenn man zwar anerkennen würde, daß derartige besondere Wahrnehmungen vorliegen, die wir im Alltagsleben oder sogar in der Wissenschaft als täuschend 28 ansehen, daß wir das aber zu Unrecht tun, daß sie also die Funktion des Darstellens der Gegenstände mit diesen de facto nicht zukommenden Merkmalen nicht ausüben. Es bleibt aber [3] noch ein dritter Fall, bei dem man den Bereich des "radikalen Realismus" einschränkt. Im ersten Fall handelt es sich um eine einfache quaestio facti. Die Voraussetzung III 8 muß einfach als eine unbestreitbare empirische Behauptung anerkannt werden. Es wäre wohl denkbar, daß sich unsere faktische Erfahrung so abspielt, daß keine derartigen "illusorischen" Wahrnehmungen vorkommen; tatsächlich ist das aber einfach nicht der Fall. Ja wenn man die Sache so betrachtet, wie sie sich auf Grund gewisser psychophysiologischer und physikalischer Überlegungen darstellt - daß nämlich, wenn auch nicht alle, so jedenfalls sehr viele "Täuschungen" ihre physikalisch-physiologische Erklärung haben, mithin bei der Existenz einer solchen materiellen Welt und solcher sich darin abspielenden Prozesse in gewissem Sinne auftreten müssen -, dann muß man sagen, daß die Anerkennung der Voraussetzung III 8 nicht einer allgemein verbreiteten Meinung entspringt, sondern - und zwar gerade vom Standpunkt der psychophysiologischen Erkenntnistheorie aus - eine tiefere Begründung hat. Der zweite Fall liegt nahe im Zusammenhang mit einer Behauptung E. Machs in seiner Analyse der Empfindungen.29 Mach behauptet, daß wir zu Unrecht zwischen Schein und Wirklichkeit unterscheiden und manchen unserer Wahrnehmungen illusorischen Charakter zuschreiben. Wenn wir also den "geknickten" Stock sehen, den wir ins Wasser eingetaucht haben, und 28

[Im Original statt "täuschend" (zhidne) offensichtlich irrtümlich "richtig" (stuszne).] 29 [Vgl. E. Mach, Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena 1886; 2. Aufl. unter dem Titel: Die Analyse der Empfindungen, Jena 1900; 9. Aufl. Jena 1922.]

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zugleich mit dem Tastsinn feststellen, daß er gerade ist, dann sei er zugleich (haptisch) gerade und (optisch) geknickt. Beides sei der Fall. 30 Das kann aber nur jemand behaupten, der sich - wie Mach - den Verlauf und Aufbau einer "Täuschung", d.h. einer täuschenden Sinneswahrnehmung, sowie ihr Verhältnis zu anderen Wahrnehmungen desselben Gegenstandes nicht deutlich zum Bewußtsein bringt. Dadurch, daß er die deskriptiven Analysen nicht weit genug vorangetrieben hat, fällt es Mach leichter, die Sinneswahrnehmung mit dem einfachen Erleben der als unveränderliche "Elemente" verstandenen Sinnesempfindungen gleichzusetzen und, korrelativ, den in der Wahrnehmung gegebenen Gegenstand mit dem "Komplex" derselben "Elemente" zusammenfallen zu lassen. Strenggenommen folgt daraus die Verneinung der Identität des Gegenstandes (Dinges), der mehrere Male gesehen wird oder gleichzeitig in zwei Wahrnehmungen verschiedener Art - einer Gesichtswahrnehmung und einer Tastwahrnehmung - zur Gegebenheit kommt. Mach spricht zwar immer noch von "dem" (selben) "Bleistift", das ist aber nur eine façon de parier. Die von Mach begangenen Verwechslungen und Gleichsetzungen angenommen, müßten wir es im betrachteten Fall mit zwei oder mehr Komplexen von Elementen zu tun haben. Und dann hätten wir tatsächlich keinen Grund, einen davon als Wirklichkeit und den anderen als Täuschung oder Schein zu betrachten. Denn die beiden Komplexe von "Elementen" (d. h. streng gesprochen - von Empfindungsdaten, die wir während der Wahrnehmung eines Dinges erleben) sind als Korrelate der Empfindungen gleich "wirklich". Es geht uns aber weder um die Wirklichkeit dieser Empfindungsdaten noch um deren Scheinbarkeit, wenn wir einen wirklichen Bleistift wahrnehmen und ihm den Schein eines geknickten Bleistifts entgegenstellen. Denn der Bleistift (der wirkliche oder nur scheinbare, vermeinte) ist keine Mannigfaltigkeit von Empfindungsdaten (Elementen); er ist vielmehr etwas, in Vgl. I.e. [9. Aufl. Jena 1922] S. 8: "Man pflegt in der populären Denk- und Redeweise der Wirklichkeit den Schein gegenüber zu stellen. Einen Bleistift, den wir in der Luft vor uns halten, sehen wir gerade; tauchen wir denselben schief ins Wasser, so sehen wir ihn geknickt. Man sagt nun in letzterem Falle: Der Bleistift scheint geknickt, ist aber in Wirklichkeit gerade. Was berechtigt uns aber, eine Tatsache der anderen gegenüber für Wirklichkeit zu erklären und die andere zum Schein herabzudrücken? In beiden Fällen liegen doch Tatsachen vor, welche eben verschieden bedingte, verschiedenartige Zusammenhänge der Elemente darstellen. Der eingetauchte Bleistift ist eben wegen seiner Umgebung optisch geknickt, haptisch und metrisch aber gerade."

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was uns beim Erleben dieser Daten erscheint, [und zwar] als etwas von diesen Daten deutlich Verschiedenes und ihnen gegenüber Transzendentes. Machs Standpunkt ergibt sich aus einer falschen (oder gar keiner) Analyse der Sinneswahrnehmung und der Situation, in der wir einer Täuschung erliegen, indem wir einen geknickten Bleistift sehen. In jener uns allen gut bekannten Situation, in der wir gleichzeitig einen geknickten Bleistift sehen und beim Anfühlen spüren, daß er gerade ist, müßten wir - wenn wir uns bemühten, beiden Erfahrungen in gleichem Maße zu vertrauen (ihnen Glauben zu schenken) - wohl die zweifache Beschaffenheit des realen Seins (in manchen Fällen wenigstens) annehmen, d. h. anerkennen, daß im wirklichen Bleistift eine deutliche Unstimmigkeit besteht: dazwischen, daß er gerade ist, und daß er nicht so ist, sondern geknickt. Das können wir aber eben nicht gelten lassen; wir sind irgendwie von vornherein auf Einstimmigkeit und Einheit des Seienden eingestellt bzw. auf Einstimmigkeit und Einheit dessen, was wir geneigt sind, für Seiendes zu halten. Wo wir auf eine solche Unstimmigkeit treffen, erfolgt gleichsam automatisch die Gegenüberstellung des Wirklichen und dessen, was ein Schein, eine Illusion ist. Mit anderen Worten: Was die Überzeugung vom täuschenden Charakter gewisser Wahrnehmungserlebnisse motiviert, ist das Bestehen der Unstimmigkeiten zwischen den uns als Merkmale eines (identischen) Dinges gegebenen gegenständlichen Qualitäten, bei unserer gleichzeitigen festen Überzeugung von der Einheitlichkeit und inneren Einstimmigkeit alles Seienden. Eine Folge davon ist die Veränderung des Seinscharakters dessen, was uns in manchen Wahrnehmungen gegeben ist. Wenn wir zum ersten Mal einen im Wasser geknickten Bleistift wahrnehmen, stellt er sich - mit der sich zeigenden Knickung - als wirklich dar. Darin erliegen wir gerade einer Täuschung, ohne zu wissen, daß wir ihr erliegen. Wenn wir aber infolgedessen, daß die uns gegebene Tatsache sonderbar und unerwartet ist, auf andere Erfahrungen zurückgreifen, in denen der Bleistift sich uns als gerade darstellt, und wenn wir dann nochmals zur Ausgangssituation zurückkehren, in der wir wieder die Knickung des Bleistifts sehen - dann erfolgt sozusagen eine besondere Erscheinung der Entwirklichung dessen, was uns nach wie vor gegeben ist, zugleich eine Erscheinung der Scheinbarkeit der Knickung, deren illusorischen Charakters, des Charakters von etwas, was nur soundso erscheint, ohne daß es in Wahrheit so ist. Diesen besonderen, anschaulichen Charakter der Scheinbarkeit nimmt ex post das in der "täuschen-

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Ti

den" Wahrnehmung Gegebene an, und dieser Charakter erhält sich gleich danach schon in allen weiteren täuschenden Wahrnehmungen dieser Art. Zugleich aber kommt bei diesen Wahrnehmungen ein neues Moment vor, das nicht vorhanden ist, wenn wir einer Täuschung erliegen. Indem wir nämlich einen scheinbar geknickten Bleistift sehen, vollziehen wir zugleich eine Intention, die zwar durch die Anschauungsdaten der erlebten Wahrnehmung nicht erfüllt wird, die aber das darin Wahrgenommene in gewisser Weise modifiziert; [es ist] eine Intention, die bestimmt, wie jener Bleistift "in Wahrheit" ist, daß er nämlich gerade ist (obwohl man das nicht sieht) und nur geknickt scheint. Eben diese Intention und die damit verbundene Überzeugung haben ihre Quelle in anderen Wahrnehmungen des gegebenen Bleistifts. Aber gerade deswegen, weil die Überzeugung den Wahrnehmungen entstammt, in denen die Geradheit des Bleistifts gegeben war, ist sie keine grundlose Überzeugung, kein blinder, unbegründeter Glaube, sondern eine Überzeugung, die ihre Rechtfertigung aus den Gegebenheiten der früheren (eventuell späteren) Wahrnehmungen bezieht. Demgemäß ist auch die Geradheit des Bleistifts keine rein gedachte oder nur mutmaßliche; sie nimmt vielmehr den Charakter von etwas im Gegenstand Vorhandenen an, obwohl sie nicht gesehen wird (denn gesehen wird eben die Knickung). Und eben dieser Umstand hat zur Folge, daß die in der täuschenden Wahrnehmung anschaulich gegebene "Knickung" des Bleistifts gleichsam aus der Wirklichkeit verbannt und zu einem bloßen "Schein" herabgesetzt wird, zu etwas, was nicht zur wirklichen Ausstattung des Bleistifts gehört und nur aus irgendwelchen Gründen als ein Einzelzug dieser Ausstattung erscheint. Die Wahrnehmung des geraden Bleistifts erweist sich im ganzen Wahrnehmungsverlauf und im Konflikt zwischen den Wahrnehmungen als stärker, als rechtmäßiger. Sie allein behauptet sich als Wahrnehmung (in einer bestimmten, ganz engen Wortbedeutung), während jene, die Knickung des Bleistifts zeigende Wahrnehmung zu einer "Täuschung" wird. All das sind Prozesse, die - obwohl sie ohne Zweifel weitere Analysen erfordern - doch durch das hier Gesagte insoweit geklärt sind, als es gewiß scheint, daß sie zwischen den durch die wahrnehmungsmäßige Anschaulichkeit gekennzeichneten Erlebnissen selbst bestehen und in manchen von diesen wesentliche Veränderungen hervorrufen. Man kann sich also weder einfach denken noch gedanklich beschließen, daß die Erlebnisse, die sich in die-

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sem Prozeß letzten Endes als Täuschungen herausstellen, keine Täuschungen sind, mithin den gleichen Erkenntniswert wie andere Wahrnehmungen besitzen. Man kann somit den täuschenden Charakter des in den illusorischen Wahrnehmungen Gegebenen nicht einfach verneinen, um den vollständigen Realismus aufrechtzuerhalten; denn dieser täuschende Charakter ergibt sich aus einem komplizierten Erfahrungsverlauf, aus spezifischen Motivationszusammenhängen, die zwischen den Wahrnehmungen bestehen. Es genügt nicht, es einfach so zu machen, wie es Mach tut, indem er die täuschenden Wahrnehmungen nichttäuschend nennt und [somit] den spezifischen Verlauf und Aufbau der Wahrnehmung verfälschend darstellt. Um den Standpunkt des radikalen oder vollständigen Realismus aufrechtzuerhalten, müßte man den Erfahrungsverlauf selbst, das Gewicht der Berechtigung der einzelnen Wahrnehmungen, die die einzelnen Phasen der wahrnehmungsmäßigen Erkenntnis eines Dinges ausmachen, verändern und damit in eins den komplizierten Aufbau desjenigen Erlebnisses verändern, das wir eine - von uns schon als solche wiedererkannte - Täuschung nennen. Das allés kann aber nicht verwirklicht werden. Denn dies liegt nicht an unserem Willen, noch ist es zulässig im Rahmen der Theorie, die zur Aufgabe hat, den faktischen Verlauf des Erkennens eines Gegenstandes nur zu verfolgen und auf Grund der Eigenschaften dieses Erkennens zu beurteilen, ob und inwiefern darin eine [echte] Erkenntnis oder ein in dieser oder jener Hinsicht falsches Erkenntnisergebnis gewonnen wird. 31 Wenn aber der Verlauf des wahrnehmungsmäßi-

11 Die hier durchgeführten Betrachtungen über das Vorliegen von Täuschungen innerhalb der sinnlichen Erfahrung weichen in ihrem Typus von der Weise ab, wie das Problem der Objektivität der Erkenntnis und die Erkenntnisprobleme im Rahmen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie behandelt werden. Auf dem Boden dieser wird nämlich die Nichtobjektivität der Täuschungen so betrachtet, daß man entsprechende physische Reize aussucht und Ursachen auffindet, die zur Entstehung einer Täuschung fuhren. Man fuhrt also z.B. die Täuschung der Knickung des Bleistifts auf die Tatsache der Brechung von Lichtstrahlen beim Übergang von einem dichteren Medium in ein dünneres zurück usw. Indem wir diesen anderen Stil der Betrachtungen verwenden, lösen wir uns zwar von den in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie angenommenen Gewohnheiten, aber das beeinträchtigt nicht das von uns dabei gewonnene Ergebnis. Im Gegenteil, dieses Ergebnis wird dadurch von den Einwänden befreit, die ich im folgenden gegen die die psychophysiologische Erkenntnistheorie vorbringen will.

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gen Erkennens (Erfahrens) so ist, daß er u. a. täuschende Wahrnehmungen umfaßt, dann ist der Standpunkt des vollständigen erkenntnistheoretischen Realismus nicht haltbar. 32 Es bleibt aber noch der früher erwähnte dritte Fall, bei dem der Geltungsbereich des vollständigen Realismus eingeschränkt wird. Man kann sagen: Die Täuschungen kommen zwar vor, bilden aber eine Klasse von eher außergewöhnlichen Fällen, die sich von den "normalen" (richtigen) Wahrnehmungen unterscheiden lassen, für die schon der vollständige Realismus gilt. Das wäre eine Lösung, der ein Mensch zustimmen würde, der keine Erkenntnistheorie treibt, sondern nur einfach allen Wahrnehmungen "treu" ist, bei denen keine Täuschung vorliegt. Ein solcher Mensch weiß, daß der Bleistift gerade ist, weil er sich so in allen übrigen Wahrnehmungen zeigt, und daß die "Täuschung" eine Ausnahme bildet, weil sie durch besondere Umstände hervorgerufen wird, nämlich dadurch, daß der Bleistift an der Grenze zweier verschiedener Medien betrachtet wird: des verhältnismäßig dichten Mediums Wasser und der verhältnismäßig dünnen Luft. Die Physik erklärt auch, warum der Bleistift "geknickt" erscheint und so erscheinen muß, weil er gerade ist und weil er zu einem Teil im Wasser oder in einer anderen Flüssigkeit eingetaucht und zu einem Teil in der Luft ist und weil er von einem sich in der Luft befindenden Punkt aus betrachtet wird. Jemand könnte aber sagen: Es ist auch nicht möglich, einen derart eingeschränkten vollständigen Realismus aufrechtzuerhalten, denn es ist nicht so, daß nur manche Wahrnehmungen "täuschend" sind und alle anderen die vom vollständigen Realismus aufgestellten Bedingungen erfüllen. Die "täuschende" Natur der Erfahrung reicht nämlich viel weiter, sie betrifft jede einzelne Wahrnehmung: Für jede Gesichtswahrnehmung eines materiellen Dinges gilt, daß manche der uns gegebenen Merkmale des gesehenen Dinges diesem nicht zukommen und daß es nur so scheint, als ob sie ihm zukämen. Wie ist es denn ζ. B. mit der Gestalt eines Dinges? Wir sehen den Tisch, an dem wir schreiben, derart, als ob seine Tischplatte trapezoid wäre: wir sehen, daß der von uns weiter entfernte Rand kürzer ist als der uns nähere Rand. Die seitlichen Ränder des Tisches sind offenbar schräg zueinander angeordnet. Und doch hat der Tisch bzw. seine Platte die Gestalt eines Rechtecks, nicht

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[Der nachstehende Text bis zum Ende des Paragraphen erscheint erst in der V. Redaktion.]

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eines Trapezes, seine gegenüberliegenden Seiten sind gleich und zugleich parallel zueinander. Das kann man auch sehen, nicht nur mit Instrumenten "messen". Und wie ist es mit der Größe des Tisches oder irgendeines Dinges? Aus der Nähe erscheint es viel größer (manchmal sehr groß), und wenn [das Ding] weit von uns entfernt ist, sehen wir, wie es sich (scheinbar) vermindert, es offenbar immer kleiner wird. Und wie ist es mit der Farbe eines Dinges? Das Ding scheint bei einer bestimmten Beleuchtung einheitlich gefärbt, wenn es aber von einer Seite stark beleuchtet wird, während seine andere Seite im Schatten bleibt, dann werden wir - wenn das Ding ζ. B. eine Kugel ist - diese einheitliche Farbe gleichsam in verschiedenen Abschattungen und Sättigungen sehen. Sehen wir sie als einheitlich rot oder, im Gegenteil, in vielen Abschattungen und Reflexen, während das Ding selbst dennoch einheitlich gefärbt ist und nur in Abschattungen zu schillern scheint? Und wie ist es mit der gesehenen Oberfläche? Von weitem erscheint sie uns glatt und glänzend, und wenn wir sie aus der Nähe betrachten, sehen wir, daß sie porös, matt usw. ist. Gibt es eine Wahrnehmung eines Dinges, in der jedes seiner gesehenen Merkmale genau so ist, wie es diesem Ding selbst zukommt? Ist es nicht so, daß jedesmal [nur] manche Merkmale so gegeben sind, wie sie dem Ding zukommen, während andere als verschieden von den ihm zukommenden Merkmalen erscheinen (erscheinen, denn sie sind offenbar als verschiedene gegeben)? Jede Wahrnehmung - sei es Gesichts-, Tast- oder Gehörwahrnehmung usw. - enthält also in ihrem Inhalt Momente, die es nicht gestatten, den vollständigen oder radikalen Realismus als die richtige Lösung anzusehen. Soll jedoch der sog. "radikale Realismus", den T. Kotarbiñski vertritt, mit diesen Überlegungen auch verworfen werden? Diese Frage kann man nicht so leicht beantworten. Denn der Standpunkt Kotarbinskis ist - meines Erachtens - unklar und zugleich unvollständig. Nur eines scheint klar präzisiert und zugleich richtig festgestellt: daß nämlich die sog. "sinnlichen Qualitäten", die in der Wahrnehmung als Bestimmtheiten des wahrgenommenen Dinges auftreten, keine "Inhalte" sind (wie man dies spätestens seit J. Locke zu sagen pflegt). Nach Annahme dieser Behauptung beginnen aber die Schwierigkeiten. Bei Kotarbiñski findet man zum einen eigentlich gar keine Analyse der Sinneswahrnehmung, abgesehen von gewissen Redewendungen, die aus der Tradition der Ansichten Twardowskis übernommen wurden. Zum anderen er-

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scheint [bei ihm] die Behauptung, daß es überhaupt "keine Inhalte", aber auch keine "Merkmale" der Dinge gebe. Es würden wohl die farbigen, ausgedehnten, gestalteten usw. Dinge existieren, nicht aber ihre Merkmale (die dem gegebenen Ding zukommende Farbe u. dgl.): das ist Kotarbiñskis Reismus 33 , den wir hier in den Einzelheiten nicht diskutieren können. Was es aber bedeutet, daß es "keine Inhalte gibt", das weiß man nicht. Gibt es keine "anschaulichen" Inhalte, z. B. keine Ansichten, Empfindungsmerkmale u. dgl.? Oder intendiert der Akt einer Wahrnehmung z. B. des altadeligen Schnurrbarts von Herrn X nichts Bestimmtes und hat daher keinen "Inhalt" seiner Intention? Kann man in dieser Situation fragen, ob wir den Schnurrbart von Herrn X richtig wahrnehmen? Oder hat diese Frage für den Autor des Reismus gar keinen Sinn? Lassen wir hier also die mehrfach wiederholte Erklärung beiseite, man dürfe zwar sagen: "Der Schnurrbart von Herrn X ist grau und herabhängend", nicht aber: "Die Grauheit des Schnurrbarts von Herrn X verrät sein Alter". Ob wir die Namen oder Sätze (Verbbezeichnungen) verwenden, hat gewiß eine Bedeutung, wenn es sich um eine Veränderung (oder einen Unterschied) der kategorialen Auffassung des Genannten bzw. mit Hilfe eines Verbs Bezeichneten handelt. Indessen, in dem [hier] Genannten (die Grauheit des Schnurrbarts) und dem mit Hilfe eines Verbs Bezeichneten (der Schnurrbart ist grau) bleibt dennoch ein gemeinsames Moment enthalten, das in beiden Fällen gemeint ist. Tritt dieses gemeinsame Moment auch im wahrgenommenen Ding (dem grauen Schnurrbart) auf, und hat es auch im Akte der Wahrnehmung des Schnurrbarts ein Korrelat? Und besteht zwischen ihnen eine Beziehung (eindeutige Entsprechung usw.), die uns berechtigen würde, zu behaupten, daß die Wahrnehmung des grauen Schnurrbarts von Herrn X etwas bestimmt, das im Schnurrbart dieses Herrn tatsächlich auftritt? Es existiert aber auch diese Entsprechung nicht, denn es existieren nach Prof. Kotarbiñski keine Verhältnisse. So läßt sich die Frage, um die es sich in unserem Verständnis beim "radikalen Realismus" handeln kann, weder stellen noch beantworten. Es gibt somit keinen Grund, sich darum zu kümmern, ob der "radikale Realismus" Prof. Kotarbiñskis mit der Verwerfung des "radikalen Realismus" in meinem Verständnis verworfen wird oder nicht. Denn es handelt sich hier um Stand-

[Vgl. T. Kotarbinski, Elementy teorii poznania, logiki formalnej i metodologii 1929; 2. Aufl. Warszawa 1961; englische Ubersetzung: Gnosiology: proach to the theory of knowledge, Oxford - Wroclaw 1966.].

nauk, Lwów

The scientific

ap-

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punkte, die nicht nur verschieden sind, sondern sich auch nicht im Rahmen derselben Problematik betrachten lassen. Bei der hier bestimmten Begriffsapparatur können wir dagegen sagen, daß der "radikale" oder "vollständige" Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie in dem hier angegebenen Sinne nicht haltbar ist. Bei diesem Sachverhalt genügt es, die drei übrigen möglichen Lösungen des Objektivitätsproblems der Erkenntnis von Gegenständen der materiellen Welt näher zu betrachten.

§ 10. Eine allgemeine Charakterisierung der Weisen, wie auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie die Lösung des Objektivitätsproblems der sinnlichen Wahrnehmung begründet wird Wir müssen zunächst den Stil der Überlegungen kurz charakterisieren, mit denen auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie die in § 8 angeführten Lösungen des Objektivitätsproblems der sinnlichen Wahrnehmung begründet werden. 1. Die Begründungen der Lösungen des betrachteten Problems bedienen sich entweder ausschließlich oder hauptsächlich einer psychophysiologischen Genese der (wahrnehmungsmäßigen) Erkenntnisprozesse aus anderen realen Prozessen. Die Durchführung einer solchen Genese ist nur bei ganz bestimmten erkenntnistheoretischen Voraussetzungen möglich. Wir müssen sie genau formulieren und erwägen, ob man sie in der Erkenntnistheorie annehmen darf. 2. Die Behauptungen über das Bestehen einer partiellen oder totalen Nichtübereinstimmung zwischen dem durch die Sinneswahrnehmung gelieferten Erkenntnisergebnis und den Eigenschaften des entsprechenden Gegenstandes werden zum Teil aus den Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie, zum Teil aus den Behauptungen über Tatsachen erschlossen, die im Laufe der Forschung entdeckt werden, nicht dagegen durch eine direkte Erkenntnis der Beziehung zwischen der Wahrnehmung (bzw. deren Erkenntnisergebnis) und dem Gegenstand dieser Wahrnehmung ermittelt.

§11. Die Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

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3. Die von der psychophysiologischen Erkenntnistheorie verwendeten Methoden unterscheiden sich im wesentlichen gar nicht von denjenigen, die die Naturwissenschaften befolgen (der empirische Charakter der Forschung, die Verwendung des Experiments und der unvollständigen Induktion). Die Befolgung dieser Methoden gleicht der stillschweigenden Anerkennung ihrer Wirksamkeit in der wissenschaftlichen Erkenntnis überhaupt und in der Erkenntnistheorie im besonderen. 4. Die psychophysiologische Erkenntnistheorie übernimmt von den Naturwissenschaften eine Reihe von Behauptungen über deren Untersuchungsgegenstände. Angesichts der unter 3 und 4 angeführten Tatsachen kann man die psychophysiologische Erkenntnistheorie als eine Art Fortsetzung der Naturwissenschaften ansehen. Die unter 1 - 4 angegebene Charakterisierung der Betrachtungsart der psychophysiologischen Erkenntnistheorie legt die Vermutung nahe, daß diese Theorie mit grundlegenden logischen Fehlern behaftet ist, nämlich entweder mit Fehlern von der Art einer petitio principii oder mit einem Widerspruch. Das erstere, wenn es sich um eine positive Lösung des Objektivitätsproblems der Erkenntnis der materiellen Welt handelt; das letztere, wenn diese Theorie zu einer negativen Beurteilung der untersuchten Erkenntnisergebnisse kommt. Die speziellen Betrachtungen, denen ich mich jetzt zuwende, werden zeigen, ob und in welchem Sinne diese Vermutung gerechtfertigt ist.

§11. Die Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie Der Standpunkt des kritischen erkenntnistheoretischen Realismus läßt sich bei genauerer Formulierung in die folgenden Behauptungen fassen: 1. Die Erkenntnis der Gegenstände der materiellen Welt, wie sie vor allem in der sinnlichen Wahrnehmung gewonnen wird, ist "übereinstimmend mit der Wirklichkeit" hinsichtlich der darin einbeschlossenen existenzialen These, nämlich hinsichtlich dessen, daß wir uns nicht irren in der von uns in der Wahrnehmung gehegten Überzeugung, es existierten wahrgenommene

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II. Kritik der psychophysiologischen

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und zur realen Welt gehörende Dinge, die von unseren Erkenntnisprozessen (insbesondere von unserem Wahrnehmen) verschieden und seinsunabhängig sind. 2. Die erste "kritische" Einschränkung. Von allen Merkmalen eines materiellen Gegenstandes (eines Dinges oder materieller Prozesse) sind nur manche für uns Menschen sinnlich wahrnehmbar, andere dagegen lassen sich nur (indirekt) erschließen (oder hypothetisch annehmen), auf Grund der sog. "Erfahrung" - wie sich die Naturwissenschaftler gewöhnlich ausdrücken - , d. h. aus den Wahrnehmungen der Veränderungen, die unter gewissen Bedingungen im Bereich der direkt wahrnehmbaren Merkmale des entsprechenden Gegenstandes erfolgen und die in einem Zusammenhang mit den erschlossenen Eigenschaften der Gegenstände stehen (ζ. B. deren Wirkungen sind). So sind beispielsweise von der ganzen Menge der Wellenprozesse im sog. "Äther" für uns nur "Wärme"- und "Licht"prozesse wahrnehmbar. 34 Nicht direkt wahrnehmbar sind dagegen die Röntgenstrahlen; wir können sie nur dadurch erkennen, daß wir sie aus den uns in der Wahrnehmung gegebenen Veränderungen der durch diese Strahlen bestrahlten oder durchleuchteten Gegenstände erschließen. Ebenso nehmen wir die magnetischen Eigenschaften eines Eisenstücks nicht direkt wahr, sondern wir erschließen diese auf Grund der wahrgenommenen Verhaltensweisen anderer eiserner Gegenstände in der Nähe des "Magnetes" usw. 3. Die zweite "kritische" Einschränkung. Nur manche der wahrgenommenen Merkmale eines materiellen Gegenstandes kommen ihm in Wahrheit, unabhängig von der Wahrnehmung zu, die anderen dagegen, obgleich sie als seine Merkmale wahrgenommen werden, sind nur "subjektive Erscheinungen", die keinem der dem Gegenstand wirklich zukommenden Merkmale ähnlich sind. Im einzelnen müssen zu den subjektiven Erscheinungen alle "sekundären Qualitäten" - alle "sinnlichen Qualitäten": Farben, Laute, Geschmäcke, Rauheiten usw. - gerechnet werden, während die "primären Qualitäten" den materiellen Gegenständen an sich zukommen (vgl. z.B. Demokrit, Locke,

Strenggenommen sind es nicht die "Lichtwellen" selbst, die wahrnehmbar sind oder wahrgenommen werden, doch das ist eine weitere Frage. Im Augenblick geht es nur darum, daß das bei den "kritischen Realisten" so ausgedrückt wird.

§11. Die Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

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aber auch Descartes). Bezüglich der sinnlichen Qualitäten täuschen uns also unsere Wahrnehmungen, bezüglich der primären nicht. Zur Stützung dieses Standpunkts beruft sich die psychophysiologische Erkenntnistheorie auf gewisse Tatsachen und nimmt bestimmte Voraussetzungen an. Man verwendet dabei die folgenden typischen Argumentationsweisen: I. (Argumentation für die zweite Einschränkung). Es kommt vor, daß ein Gegenstand G in einer Wahrnehmung W¡ als ein solcher gegeben ist, welcher ein Merkmal m¡ einer Gattung M besitzt, während er in einer anderen Wahrnehmung W2, die zu derselben Gattung gehört und von demselben Menschen vollzogen wird wie W¡, als ein solcher gegeben ist, welcher m¡ nicht besitzt bzw. "anstelle" von m¡ ein anderes Merkmal m2 der Gattung M besitzt. Dabei unterliegt der Gegenstand G selbst - und zwar in der ganzen Periode zwischen dem Eintreten von W¡ und dem Eintreten von W2 - keiner Veränderung hinsichtlich M oder in anderer Hinsicht, von der die Merkmale der Gattung M abhängen könnten. Ist dem so, dann besitzt der Gegenstand G in dem Augenblick, in dem W2 eintritt, noch das Merkmal m¡, obwohl das von m¡ verschiedene Merkmal m2 schon vorhanden ist. Nach dem Prinzip des Widerspruchs ist es aber nicht möglich, daß ein Gegenstand das Merkmal m¡ besitzt und es zugleich nicht besitzt. Infolgedessen muß der Grund dafür, daß der Gegenstand G einmal mit dem Merkmal m¡, das andere Mal ohne dieses Merkmal wahrnehmungsmäßig gegeben ist, entweder in einer Veränderung der "objektiven" Bedingungen der beiden Wahrnehmungen (z. B. in einer Veränderung der Beleuchtung) gesucht werden oder in einer Veränderung der "subjektiven" Bedingungen der Wahrnehmung, insbesondere im Zustand des Körpers der wahrnehmenden Person, oder schließlich in einer Veränderung des Zustands ihrer Psyche oder in allen diesen Bedingungen insgesamt. Da jedoch eine Veränderung in den objektiven Bedingungen der Wahrnehmung in der Regel eine solche im körperlichen und sekundär auch im psychischen Zustand der wahrnehmenden Person nach sich zieht, ist die Feststellung einer Veränderung der subjektiven Bedingungen wichtiger. Hat man nun positiv erwiesen, daß in den ersteren oder letzteren Bedingungen in der gegebenen Zeitperiode eine Veränderung eingetreten ist, dann folgert man auf Grund dessen nicht nur, daß m¡ kein Merkmal des Gegenstandes G ist, sondern überdies, daß es bloß eine sog. "subjektive Erscheinung" darstellt. Das gleiche be-

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hauptet man aber nicht nur \onm]y

Erkenntnistheorie

sondern auch von allen m2, m3... mn der

Gattung M. Beispiele: a) Der Geschmack einer Speise - z.B. eines Stücks Zwiebel (oder Zucker, ein Beispiel Berkeleys) - bei normalem Zustand des Körpers der wahrnehmenden Person und der Geschmack derselben Speise bei Schnupfen oder einer anderen Krankheit werden als subjektive Erscheinungen angesehen, mit Rücksicht darauf, daß in diesem Fall eine Veränderung der subjektiven physiologischen Bedingungen stattfindet. b) Der finstere Charakter einer Landschaft, die wir in einer Zeit wahrnehmen, in der wir traurig sind, und der frohe Charakter derselben Landschaft, wenn wir sie nach einem für uns glücklichen Ereignis sehen, gelten auch als subjektive Erscheinungen, angesichts der Tatsache, daß die subjektiven psychischen Bedingungen sich verändert haben, während in der Landschaft selbst keine Veränderung stattgefunden hat. c) Das Läuten einer elektrischen Klingel, das wir hören, wenn die Schallwellen zu unserem Ohr gelangen, und das Nichtläuten und die bloß gesehene Bewegung derselben Klingel, wenn wir sie unter eine Glasglocke stellen, aus der wir die Luft ausgepumpt haben, bilden ein weiteres Beispiel einer "subjektiven Erscheinung". Auf die Subjektivität des Läutens schließen wir in diesem Fall auf Grund einer Veränderung der objektiven Bedingungen der Wahrnehmung. II. Eine gewisse Anzahl von "normalen" Menschen nehmen ein und denselben Gegenstand, der sich in einer bestimmten Hinsicht Q nicht ändert, mit einem Merkmal mn wahr, während "abnormale" Menschen denselben Gegenstand ohne Merkmal mn, dafür aber mit einem anderen Merkmal mr wahrnehmen, wobei mn und mr Spezialfälle von Q darstellen oder auch ausschließlich von Q abhängen. Als Beispiel kann man das "normale" Sehen der bunten Farben der Dinge im vollen Licht und das Sehen derselben Dinge unter denselben objektiven Bedingungen von Achromatopen nehmen. Da ein Gegenstand G nicht zugleich mn und non-mn sein kann, zieht man wieder die Schlußfolgerung, daß das Auftreten von mn als Merkmal des Gegenstandes G in einer (sinnlichen) Wahrnehmung durch gewisse Eigenschaften der Sinnesorgane verschiedener wahrnehmender Individuen bedingt sei und daß infolgedessen mn (eine bunte Farbe) eine subjektive Erscheinung darstelle, der im wirklichen, von "norma-

§11. Die Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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len" Menschen wahrgenommenen Gegenstand weder etwas Gleiches noch sogar etwas Ähnliches wie mn entspreche (die als grün gesehenen Dinge seien an sich weder grün noch überhaupt bunt). Dasselbe gelte dann auch für mr (die neutralen Farben). III. Jemand nimmt mit demselben Sinn nacheinander zwei hinsichtlich einer Eigenschaft verschiedene Gegenstände G¡ und G2 als solche wahr, die das gleiche Merkmal mk besitzen. Nun kann mk aber keinem dieser Gegenstände Gj und G2 als Merkmal zukommen - vorausgesetzt es gilt: Zwei Gegenstände G¡ und G2 unterscheiden sich voneinander nur hinsichtlich der Eigenschaften mr* mz, und nur eine dieser Eigenschaften mr mz impliziert mk, falls mk dem gegebenen Gegenstand zukommt. Also ist mk eine sog. subjektive Erscheinung, die durch das psychophysische Erkenntnissubjekt erzeugt wird, eine Erscheinung also, deren Auftreten durch die Gleichheit des entsprechenden Sinnesorgans und die gleiche Abhängigkeit der Wahrnehmung von diesem Organ bedingt ist. Beispiele: Ein Gegenstand mit einer niedrigeren Temperatur und ein Gegenstand mit einer höheren Temperatur, bei "normalem" 35 Zustand des entsprechenden Organs nacheinander mit dem sog. "Kältepunkt" an der Haut des Menschen berührt, erscheinen beide kalt; der elektrische Strom, der durch die Zunge geht, und die Zitronensäure, die auf die Geschmackspapillen wirkt, erscheinen beide sauer. IV. Das ständige gemeinsame Auftreten einer Tatsache F, die in der materiellen Welt besteht, mit mp das in der sinnlichen Wahrnehmung als ein Merkmal des Gegenstandes G j auftritt (oder mit einem Merkmal m^ derselben Gattung My) und das Nichtauftreten von »y als Merkmal das Gegenstandes Gß wo immer F nicht besteht, obwohl weder Gy-noch die wahrnehmende Person dabei eine entsprechende Veränderung erfahren, veranlaßt uns zum Schluß, daß lediglich der Prozeß F dasjenige sei, was in der Wirklichkeit statt-

35

Das Wort "normal" setze ich - wie früher - in Anführungszeichen, um anzudeuten, daß ich diesen Terminus aus dem täglichen Gebrauch - sowohl im Bereich der praktischen wie der wissenschaftlichen Fragen - übernehme. Seine Bedeutung ist vage und unklar. Es bestehen dabei Meinungsverschiedenheiten unter den Gelehrten, was es z.B. bedeutet, daß ein Organismus "normal" sei oder daß ein Organ sich im "normalen" Zustand befinde. Es ist aber an dieser Stelle nicht nötig, verschiedene Bedeutungen dieses Terminus zu präzisieren oder Streitfragen ins klare zu bringen. In unserem Zusammenhang spielt diese Sache keine größere Rolle.

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11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

findet, sooft uns in der Wahrnehmung der Gegenstand G^mit dem Merkmal Wygegeben ist. Dagegen sei m j (oder m^) selbst bloß eine subjektive Erscheinung. Als Beispiel kann uns hier der schon besprochene Fall dienen mit dem Hören der elektrischen Klingel, wenn die Schwingungen eines elastischen Mediums zu unserem Ohr kommen, und dem Nichthören des Läutens dieser Klingel, wenn die Schwingungen des elastischen Mediums nicht zu unserem Ohr gelangen. V. Gewisse Tatsachen Fn, die in der Sinnes Wahrnehmung als gegeben auftreten, lassen sich nur unter der Voraussetzung erklären, daß Fn bloß subjektive Erscheinungen sind, die durch gewisse von ihnen verschiedene Prozesse Prn hervorgerufen werden. Ein Beispiel: Die sog. Licht"empfindungen" (geauer, die von uns visuell wahrgenommenen Farben und Lichter) sieht man auf Grund des Experiments Fresnels als subjektive Erscheinungen an. Dagegen wird das "Licht" im physikalischen Sinne als ein Wellenprozeß betrachtet, der den physischen Reiz der entsprechenden subjektiven Erscheinungen ausmacht. (In den letzten Jahren hat sich bekanntlich die Auffassung des "Lichtes" im Sinne der Physik verändert. Unabhängig davon aber, welche der physikalischen Auffassungen des "Lichtes" sich letzten Endes als die richtige durchsetzen mag, gelten die von uns faktisch gesehenen Farben und Lichter als subjektive Erscheinungen.) VI. Alle sinnlichen Wahrnehmungen erlangen wir vermittels eines Sinnesorgans, das mit dem zentralen Nervensystem verbunden ist. Das heißt: Zwischen dem physischen Reiz und der Wahrnehmung als einem der psychischen Prozesse vermitteln das Sinnesorgan und das zentrale Nervensystem; von ihnen erst ist der Verlauf und Inhalt der Sinneswahrnehmung direkt abhängig. Das Sinnesorgan kann dabei seinem Aufbau gemäß nur auf eine fest begrenzte und streng bestimmte Anzahl von Weisen innerhalb einer Art von physiologischen Prozessen funktionieren, und sie liefert auch Inhalte einer Art. Da aber gemäß dem Gesetz J. Müllers verschiedene physische Reize, die auf dasselbe Sinnesorgan einwirken, zu "Sinnesempfindungen" derselben Art führen und - umgekehrt - die gleichen physischen Reize, die auf verschiedene Organe einwirken, "Empfindungen" verschiedener Art auslösen, muß das Sinnesorgan

mit dem

entsprechenden

Teil

des

Nervensystems als ein spezifischer Transformator einer bestimmten Art betrachtet werden, der die auf ihn einwirkenden physischen Reize in

§11. Die Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

85

Qualitäten einer bestimmten, ihm zugehörigen Art übersetzt. Dadurch aber, daß

man

beim

Wahrnehmen

die

Vermittlung

des

entsprechenden

Sinnesorgans nicht ausschalten kann, sind die als Gegebenheiten der Sinneswahrnehmung auftretenden sinnlichen Qualitäten immer - wie man sagt - bloß subjektive Erscheinungen, die von den Eigenschaften der auf das gegebene Sinnesorgan einwirkenden physischen Gegenstände verschieden oder - nach den physikalischen Theorien - diesen nicht einmal ähnlich sind. Sie sind bestenfalls nur gewisse "Zeichen" der uns in der Wahrnehmung nicht gegebenen Eigenschaften der Dinge. (Eine solche Auffassung der uns in der Sinneswahrnehmung gegebenen Qualitäten als "Zeichen" der Eigenschaften der Dinge hat bekanntlich Hermann Helmholtz vertreten.) Deswegen wird die Deutung der uns in der Wahrnehmung gegebenen "Zeichen" als die Aufgabe der Naturwissenschaften betrachtet. Da diese Argumentation betont, daß die Sinnesorgane die physischen Reize, auf die sie überhaupt empfindlich sind, transformieren, bildet sie eine Begründung der zweiten Einschränkung des kritischen Realismus. VII. Wenn wir in einem Fall F mit Hilfe des Sinnesorgans 0¡ keine diesem Organ zugehörenden

"subjektiven Erscheinungen"

(Eigenschaften des

Gegenstandes) besitzen, mit Hilfe eines anderen Sinnesorgans 02 dagegen gewisse Merkmale oder einen Prozeß derselben Gattung Q wahrnehmen wie deijenige, der ein anderes Mal unter Verwendung des Organs 01 zu den diesem zugehörigen subjektiven Erscheinungen führt: dann zieht man die Schlußfolgerung, daß die Empfindlichkeit des Organs 0¡ auf Prozesse der Gattung Q begrenzt ist. So ist es z. B. bei den Schwingungen eines elastischen materiellen Mediums, wo wir nur die Schwingungen mit einer Frequenz zirka von 13 - 20 000 Schwingungen pro Sekunde als Schall wahrnehmen; die zu schnellen oder zu langsamen Schwingungen dagegen "hören" wir nicht, obwohl wir ihr Vorhandensein feststellen können, sei es direkt z.B. durch den Tast- oder Gesichtsinn, sei es indirekt durch eine Wahrnehmung der diese Schwingungen verursachenden oder durch diese Schwingungen verursachten Prozesse. Nicht anders verhält es sich mit den sog. Ätherwellen, von denen nur eine Gruppe in Gestalt von Licht bzw. Farben visuell wahrnehmbar ist. Für den Nachweis, daß die Empfindlichkeit eines Sinnes O begrenzt ist, ist übrigens die Verwendung desselben Organs nicht ausgeschlossen, sofern es uns gelingt, einen Prozeß der Gattung Q indirekt, mit Hilfe entsprechender

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

technischer Vorrichtungen, in einen derartigen Prozeß der Gattung Q gleichsam zu übersetzen, der schon in der Reichweite der Empfindlichkeit dieses Sinnes liegt. Dieser Fall hat ζ. B. statt, wenn wir visuell Veränderungen der Farbe ζ. B. eines Körpers (oder Lichtes) unter dem Einfluß von ultravioletten Strahlen feststellen. Die begrenzte Empfindlichkeit eines Sinnesorgans auf physische Reize verleiht ihm den Charakter eines Selektors. Demnach bildet das System der Sinnesorgane des Menschen eine komplexe selektive Einrichtung, der ein Bereich der seiner Erfahrung zugänglichen Qualitäten und, korrelativ, ein Bereich der der Transformation durch die Sinnesorgane unterliegenden physischen Prozesse zugeordnet ist. Außerhalb dieses Bereiches, liegt (oder kann liegen) das Gebiet deijenigen physischen Prozesse, die sich in der Erfahrung in keiner Weise direkt geltend machen. Erlangen wir von diesen Prozessen ein Wissen, so [geschieht das] nur indirekt: dadurch, daß sie mit künstlichen Geräten registriert werden, deren Ergebnisse (Registrierungen) uns aber irgendwie in der Erfahrung gegeben sein müssen. Diese Tatsache bildet die Grundlage dafür, die im Standpunkt des kritischen Realismus enthaltene erste Einschränkung anzunehmen. Zugleich aber weist sie auf den Weg, auf dem die Grenzen unserer unmittelbaren Erfahrung mit Hilfe künstlich konstruierter Geräte überschritten werden können, Geräte, deren Bereich der "Empfindlichkeit" über die Grenzen der Empfindlichkeit unserer organischen Sinnesorgane hinausreicht. Der letztere Punkt gehört aber an sich nicht direkt zum Standpunkt des kritischen Realismus, sondern deutet nur indirekt darauf hin, daß die Grenzen unserer unmittelbaren sinnlichen Erkenntnis gleichsam innerhalb des Gebietes der möglichen Erkennbarkeit der Dinge verlaufen, wobei die Grenzen dieser Erkennbarkeit sich überhaupt allmählich in dem Maße erweitern, wie unsere Untersuchungsgeräte, deren Herstellung die allmählichen Fortschritte des Wissens ermöglichen, vervollkommnet werden. (Vgl. die Entwicklung der Physik und Astronomie und damit zusammenhängende immer bessere Untersuchungsgeräte: Mikroskope, Hypermikroskope, elektronische Mikroskope, Rundfunkempfänger, Funkmeßgeräte, immer größere Teleskope, immer vollkommenere und empfindlichere Meßinstrumente usw.) Die soeben angeführten Argumentationsarten erschöpfen die Gesamtheit der mir bekannten Begründungsweisen, die man auf dem Boden der psycho-

§11. Die Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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physiologischen Erkenntnistheorie gewöhnlich verwendet, um die Thesen zu stützen, daß manche der wahrgenommenen Merkmale der materiellen Dinge diesen in Wirklichkeit nicht zukommen und daß manche der Eigenschaften der Dinge nicht wahrgenommen werden; oder korrelativ, in epistemologischer Formulierung: daß die Sinneswahrnehmungen in Hinsicht auf die darin vermeinten sinnlichen Qualitäten und insofern, als sie den Dingen keine weiteren Qualitäten unmittelbar zuschreiben, nicht objektiv sind. Diese Thesen werden dabei sukzessiv auf alle Wahrnehmungen der einzelnen "sekundären" Qualitäten angewendet. Wenn man aber jene Thesen einmal schon für begründet hält, beginnt der zweite Teil der Betrachtungen. Seine Aufgabe ist, zu zeigen, auf welchem Weg es durch die Einwirkung von einem qualitätsfreien physischen Reiz auf ein Sinnesorgan zur Entstehung qualitativer sinnlicher "Empfindungen" und zur vollen Sinneswahrnehmung in der Gestalt kommt, in der wir sie tatsächlich erleben. Anders gesagt, es handelt sich hier um das Problem der genetischen physiologisch-physikalischen Erklärung, wie unsere faktische sinnliche Erfahrung entsteht. Mit diesem zweiten Teil der Ausführungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie werde ich mich erst später auseinandersetzen, und zwar nur innerhalb der Grenzen, in denen das hier nötig sein wird. Nicht so deutlich sind dagegen die Motive, die die kritischen Realisten der hier besprochenen Art veranlassen, den Satz anzunehmen, daß manche der uns in der Sinneswahrnehmung gegebenen Merkmale der materiellen Gegenstände diesen unabhängig von der Wahrnehmung zukämen, daß also die Wahrnehmungen in dieser Hinsicht objektiv seien. Oft, ζ. B. bei Locke, treffen wir auf die einfache Feststellung, daß es eben so sei, ohne weitere Begründung. Als ob es nicht ebenso wichtig und schwierig wäre, neben den beiden negativen Einschränkungen auch den positiven Teil des erkenntnistheoretischen Realismus zu begründen. Eine besondere Begründung erfordert auch der Satz des kritischen Realismus, daß die Sinneswahrnehmung hinsichtlich der darin beschlossenen Überzeugung vom Wirklichsein des wahrgenommenen materiellen Gegenstandes "übereinstimmend mit der Wirklichkeit" sei. Diese Begründung führt man gewöhnlich in Gestalt der folgenden Ausführung durch: VIII. Es ist eine Tatsache, daß: a) innerhalb der psychischen Erscheinungen eine kennzeichnende Regelmäßigkeit der Sinneswahrnehmungen auf-

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11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

tritt, die sich nicht auf die rein subjektiven Bewußtseinsgesetze zurückführen läßt, die es also erfordert, daß etwas anderes als das wahrnehmende Subjekt und dessen Erlebnisse anerkannt wird, b) daß wir im "normalen" Fall gegenüber den uns "vermittels der Sinne" (wie man zu sagen pflegt) gelieferten Erscheinungen in hohem Maße machtlos sind: Solange unsere Sinne der Einwirkung der physischen Reize unterliegen, können wir - wenigstens in gewissen Grenzen - die Wahrnehmungserscheinungen weder ganz beliebig verändern noch sie unterdrücken. Wir können natürlich manchmal [1] das Wahrnehmen abbrechen, z. B. die Augen schließen, mithin unsere Sinne aus [dem Bereich] der Einwirkung der physischen Reize entfernen oder [2] unsere Aufmerksamkeit von dem abwenden, was in unserem Wahrnehmungsfeld erscheint. Wir können schließlich [3] auf verschiedene Weise die Erfahrungsgegebenheiten deuten, obwohl immer nur in gewissen, durch den Erfahrungsverlauf selbst bestimmten Grenzen. Im ersten dieser Fälle ist das aber nicht eine derartige Freiheit zur Unterdrückung oder Veränderung der psychischen Erscheinungen wie jene, die normalen Menschen gegenüber Schöpfungen ihrer Phantasie zukommt. Wir müssen nämlich gewisse entsprechende körperliche Tätigkeiten ausüben (z.B. die Augen schließen, die Hand aus dem Wirkbereich eines Reizes entfernen usw.), um den Einfluß des entsprechenden Gegenstandes auf unseren Körper zu beseitigen. Bevor wir das nicht getan haben, sind wir nicht imstande, durch einen sozusagen rein bewußtseinsmäßigen Entschluß die während des Wahrnehmens auftretenden phänomenalen Gegebenheiten loszuwerden, also z. B. zu bewirken, daß das Blatt Papier, auf dem ich gerade schreibe, nicht in meinem Gesichtsfeld auftritt und daß meine Schrift, die dabei auf diesem Blatt entsteht, nicht erscheint. Im zweiten Fall existieren die "sinnlichen Erscheinungen" weiterhin und drängen sich uns auf, obwohl sie nicht mehr im Bewußtseinszentrum stehen und nicht so deutlich und lebhaft sind, und sie enthalten eine Reihe von Elementen, gegenüber welchen wir machtlos sind. Das gleiche liegt schließlich im dritten Fall vor, wenn wir den oder jenen Versuch einer Interpretation der uns in der Wahrnehmung gegebenen "Erscheinungen" unternehmen - indem wir z. B. in der Erkenntnistheorie diesen oder jenen Standpunkt bezüglich der "Objektivität" der Wahrnehmung einnehmen. Dieser Versuch ändert dann weder den "Inhalt" dieser "Erscheinungen" (sie treten nach wie vor als die in der Wahrnehmung gegebenen selben Dinge mit denselben Eigenschaften auf) noch än-

§11. Die Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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dert er etwas an ihrer Gegebenheitsweise (sie erscheinen nach wie vor mit der gleichen Lebhaftigkeit und demselben Charakter der Selbstgegebenheit). Nur gedanklich verleihen wir ihnen den Charakter von subjektiven Erscheinungen und nicht [denjenigen] der uns fremden ("transzendenten") Wirklichkeit, diese gedankliche Verleihung vernichtet jedoch nicht den anschaulichen Charakter der transzendenten Wirklichkeit. Das Abbrechen der Wahrnehmung aber, wenn wir uns vom Einfluß des entsprechenden Gegenstandes entfernt haben, zeugt ebenfalls nicht davon, daß wir über die in der Wahrnehmung auftretenden (gegebenen) "Erscheinungen" selbst Macht besitzen, zeugt also auch nicht davon, daß sie Erzeugnisse eines rein subjektiven Prozesses sind. Die beiden angeführten Tatsachen (a) und (b) lassen sich - wie die den Standpunkt der psychophysiologischen Erkenntnistheorie vertretenden kritischen Realisten meinen - nur dann erklären, wenn man annimmt, daß die Ursache des Auftretens solcher subjektiver "Erscheinungen" physische Reize sind, die auf unsere Sinne einwirken. Es gehe dabei um Reize, die von unseren psychischen Prozessen seinsunabhängig sowie mit gewissen ihnen zukommenden Eigenschaften ausgestattet seien, d. h. um Reize, die zur wirklichen Welt gehörten. Mit anderen Worten: Diese Tatsachen würden sich nicht anders erklären als dadurch, daß man die Übereinstimmung der Überzeugung von der Existenz des Wahrnehmungsgegenstandes mit der "Wirklichkeit" annehme, mithin in dieser Hinsicht die Objektivität der Sinneswahrnehmung anerkenne. Auch andere Tatsachen, die für die Abhängigkeit der bewußten psychischen Erscheinungen von physischen oder physiologischen Prozessen sprechen - wie etwa der Bewußtseinsverlust infolge einer Bluteffusion im Gehirn, die ζ. B. durch einen starken Schlag auf den Schädel verursacht wurde - , werden vom kritischen Realismus zugunsten der These von der Existenz der materiellen Welt benutzt; das ist aber nur eine indirekte Argumentation, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit der Analyse der sinnlichen Wahrnehmung und mit der Betrachtung ihrer Objektivität steht. Nota bene: Es kommen Tatsachen vor, die der soeben angeführten Argumentation zu widersprechen scheinen. Es sind dies einerseits die sog. idées fixes, die eine enorm starke Überzeugung von der Wirklichkeit ihrer Gegenstände begleitet, andererseits die in der Psychasthenie vorkommenden Sin-

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

neswahrnehmungen, die der Überzeugung von der Wirklichkeit ihrer Gegenstände ganz entbehren oder wenigstens einen sehr abgeschwächten Seinscharakter dieser Gegenstände aufweisen. Die beiden Fälle werden aber von den psychophysiologischen Erkenntnistheoretikem in der Regel dadurch jeglicher Bedeutung für das Problem der Rechtmäßigkeit des Standpunkts des kritischen Realismus beraubt, daß sie als "abnormale", mithin von vornherein als nichtobjektive Wahrnehmungen angesehen werden oder aber mindestens als solche, die nicht in die gewöhnliche Problematik der Objektivität der "normalen" Wahrnehmungen hineingehören.

§12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie Ich möchte darlegen, daß keine der angeführten Begründungsweisen des kritischen Realismus frei von ernsthaften Bedenken ist. Natürlich ist eine Kritik der Begründung eines Standpunkts noch nicht gleichbedeutend mit einer Kritik dieses Standpunkts selbst, der ungeachtet der Fehler der zu ihm führenden Argumentation dennoch wahr sein kann. Das darf man nicht vergessen. Die kritisierte Begründung hängt aber aufs engste mit der Konzeption der psychophysiologischen Erkenntnistheorie zusammen. Die Fehlerhaftigkeit der Begründung zeugt also gegen die Richtigkeit dieser Konzeption. ad I. Erinnern wir uns: Nach der psychophysiologischen Erkenntnistheorie sind beispielsweise die Geschmacksqualitäten gewisser Dinge (von Zucker) bloß "subjektive Erscheinungen", weil ein und dasselbe Ding (ein Stück Zucker, um an Berkeleys Beispiel anzuknüpfen), das sich selbst nicht verändert, in der Wahrnehmung einmal als süß, ein anderes Mal etwa als leicht säuerlich gegeben ist, und zwar infolge der Veränderungen, die mittlerweile im Organismus der wahrnehmenden Person eingetreten sind. Es bieten sich die folgenden kritischen Bemerkungen an: a) Aus der angeführten Tatsache folgt keineswegs, daß das gegebene Stück Zucker weder süß noch säuerlich ist, und erst recht nicht, daß die Geschmacksqualitäten überhaupt keine Eigenschaften von irgendwelchen Din-

§ 12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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gen, sondern nur "subjektive Erscheinungen" sind. Es folgt daraus lediglich unter Berücksichtigung des Gesetzes, wonach die niedersten qualitativen Differenzen derselben Spezies sich in ein und demselben Ding gegenseitig ausschließen - , daß das gegebene Stück Zucker entweder süß oder säuerlich oder schließlich weder süß noch säuerlich, sondern irgendwie anders bestimmt ist (es kann ζ. B. bitterlich sein oder auch gar keinen Geschmack haben). Gäbe es also keine weiteren Einwände gegen die angeführte Argumentation, dann würde daraus nur folgen, daß eine der beiden in Betracht kommenden Geschmackswahrnehmungen hinsichtlich der darin gegebenen Geschmacksqualität nicht objektiv ist, man wüßte aber nicht welche·, es wäre dagegen noch möglich, daß sie beide zugleich nicht objektiv sind, und zwar entweder in der Weise, daß dem betreffenden Stück Zucker eine andere geschmackliche Qualität zuzuschreiben ist, die ihm in Wahrheit zukommt, oder gar eine (nichtgeschmackliche, ζ. B. chemische) Eigenschaft, die sich von dem in der Wahrnehmung Gegebenen prinzipiell unterscheidet. Um zu entscheiden, welcher der hier unterschiedenen Fälle vorliegt, müßte man für jeden von ihnen zwei Bedingungen zu erfüllen versuchen. Im ersten Fall müßte man zeigen, daß beim Vollzug einer der betreffenden Wahrnehmungen irgendwelche besonderen - physiologischen oder psychischen - Umstände aufgetreten sind, welche die NichtObjektivität der entsprechenden Wahrnehmung verursacht haben. Es scheint auch, daß wir dies in der Praxis gewöhnlich so tun. Wir sagen beispielsweise: Das Stück Zucker "scheint" uns säuerlich, weil wir etwas gegessen haben, was unseren Geschmack "verdorben" hat. Dann entscheidet aber nicht jene einfache Nichtübereinstimmung der in Betracht gezogenen Wahrnehmungen über ihre NichtObjektivität, sondern etwas ganz anderes, nämlich die "Abnormalität" des Zustande, in dem sich unser Sinnesorgan befindet. Dann müßte man jedoch diese Abnormalität des Organs mit Sicherheit feststellen, ihre Ursache kennen und verstehen, wie sie zustande kommt - und all dies ganz unabhängig von der Frage, ob wir uns darin irren oder nicht, wenn uns in der Wahrnehmung so oder anders schmeckende Gegenstände und speziell jenes Stück Zucker mit einem bestimmten Geschmack gegeben sind. Indessen, wenn wir tatsächlich vermöchten, den physiologischen (oder psychophysiologischen) Prozeß aufzufinden, der zur Folge hat, daß jenes Stück Zuckeruns säuerlich "schmeckt", dann würde uns nichts daran hindern, anzuerkennen, daß der Zucker nach wie vor süß ist und daß nur wir - ζ. B. durch

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//. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

eine Veränderung des chemischen Zustande der Geschmackspapillen auf der Zunge - diese Süße mit Hilfe des "Geschmackssinnes" nicht entdecken können, weswegen dieser süße Zucker uns säuerlich "schmeckt" oder einen bitterlichen Beigeschmack annimmt usw. Jedenfalls genügt es sogar für den Augenblick, in dem uns der Zucker säuerlich schmeckt, nicht, diesen physiologischen Prozeß und den dadurch verursachten Zustand unseres Organs aufzuzeigen, um festzustellen, daß der Zucker dann nicht süß ist. Es ist dadurch zugleich die Vermutung nicht ausgeschlossen, daß gerade unser Geschmacksorgan infolge einer Veränderung seines Zustande die Fähigkeit verloren hat, die Süße als ein eigenes Merkmal des Zuckers wiederzuerkennen. Es genügt [dieses Aufzeigen] schließlich auch nicht, um festzustellen, daß dieses Organ das Phänomen einer Geschmacksqualität (der Süße, der Bitterkeit usw.) in jedem Fall erzeugt. Denn die Tatsache, daß in einem Fall das Phänomen der "Säuerlichkeit" erschienen ist, zeugt nicht so sehr davon, daß das Geschmacksorgan diese Qualität von sich aus erzeugt hat, als vielmehr, daß dieses Phänomen dann entsteht, wenn das Geschmacksorgan den Zucker berührt und wenn sich zwischen ihnen ein Prozeß abspielt, dessen Resultat jene Säuerlichkeit ist. Will man sich jedoch davon überzeugen, daß keine der genannten Geschmacksqualitäten (d.h. weder die Süße noch die Säuerlichkeit) dem betreffenden Stück Zucker zukommt, daß ihm aber dafür eine andere, in einer anderen Wahrnehmung gegebene Qualität eigen ist, dann kann man das nicht anders tun als unter Berufung auf eine andere Geschmackswahrnehmung, in der diese neue Qualität (z.B. die Bitterlichkeit) gegeben ist und bei der wir keinen Grund haben, ihre Objektivität anzuzweifeln. Können wir indes eine solche dritte Wahrnehmung nicht angeben, dann bleibt noch die letzte Möglichkeit übrig. Es ist nämlich möglich, daß einerseits keine Geschmacksqualität irgendeinem Ding (insbesondere jenem Stück Zucker) zukommt und - korrelativ - jede Geschmackswahrnehmung dieses Stücks Zucker (oder irgendeines Dinges) hinsichtlich der darin gegebenen Geschmacksqualitäten der Dinge nicht objektiv ist und daß andererseits in jeder dieser Wahrnehmungen irgendwelche Prozesse oder im Zusammenhang damit Umstände vorkommen, die es bewirken, daß beim vorliegenden Aufbau des Sinnesorgans, den psychischen Eigenschaften des Wahrnehmungssubjekts und schließlich einer bestimmten, nichtgeschmacklichen Eigenschaft des Dinges notwendigerweise in der Wahrnehmung der

§ 12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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Schein auftreten muß, der Gegenstand dieser Wahrnehmung habe eine Geschmacksqualität. Sofem ich weiß, hat bisher niemand einen solchen psychophysiologischen (eventuell biochemischen) Beweis erbracht. Auf jeden Fall aber läßt sich eine solche Behauptung durch den einfachen Hinweis auf eine Nichtübereinstimmung zwischen Gegebenheiten in verschiedenen Wahrnehmungen nicht begründen. Die Argumentation I ist somit für die Begründung der These, die sie begründen soll, nicht hinreichend. b) Die betrachtete Argumentation nimmt zwei Voraussetzungen an (die sie zugleich gewöhnlich nicht expliziert). Sie setzt nämlich voraus, 1. daß der Gegenstand G (das Stück Zucker) in der Zeit vom Augenblick tj, in dem die Wahrnehmung W¡ eintritt, die ihn mit dem Merkmal m¡ darstellt, bis zum Augenblick tn, in dem die Wahrnehmung W2 erfolgt, die ihn mit einem anderen Merkmal derselben Gattung darstellt, keine solche Veränderung erfährt, die es verursachen würde, daß er das Merkmal m¡ nicht besitzt und das Merkmal m2 besitzt; 2. [daß] das Wahrnehmungssubjekt in derselben Zeitperiode infolge einer Veränderung in seinem Organismus oder in seinem psychischen Zustand oder schließlich in dem einen und dem anderen eine Veränderung erfuhr. Diese Veränderung muß dabei so sein, daß ihr Eintreten notwendigerweise das Auftreten des Gegenstandes G ohne Merkmal m¡ und mit dem Merkmal m2 in der zweiten Wahrnehmung nach sich zieht oder mindestens diese Tatsache verständlich macht. Diese Voraussetzungen sind ohne Zweifel entweder wahr oder falsch. Wenn die erste falsch ist, dann bricht sogar beim Wahrsein der zweiten das ganze Problem und zugleich auch die Argumentation für die "Subjektivität" der "Geschmacks"qualitäten zusammen. Wenn die zweite falsch und die erste wahr ist, ist die ganze Situation unverständlich, es weist aber zugleich noch nichts daraufhin, daß die Lösung des Problems in der Theorie der "Subjektivität" der Geschmacksqualitäten zu suchen ist. Man muß somit nachweisen, daß beide Sätze wahr sind, um weiter argumentieren zu können. Es stellt sich jedoch die Frage, ob und wie man auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie nachweisen kann, daß sie wahr sind, ohne dabei in irgendwelche prinzipiellen Schwierigkeiten zu geraten. Die erste Frage [nach der Wahrheit der ersten Voraussetzung] müssen wir verneinend beantworten, sofern wir das ganze Problem auf dem Boden und unter Ver-

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

wendung der Methoden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie erwägen. Nämlich: ad 1. Um festzustellen, daß z. B. das gegebene Stück Zucker in der Zeit t¡ - tn keine Veränderung erfährt, infolge welcher es aufhören würde, süß zu sein, können wir uns der Geschmackswahrnehmung nicht bedienen. Denn sie weist gerade eher auf eine Veränderung des Gegenstandes hin. Außerdem besteht der Verdacht, daß sowohl die betreffende Geschmackswahrnehmung als auch alle anderen Wahrnehmungen dieser Art nicht objektiv sind. Sie hören also auf, glaubwürdige Zeugen zu sein, und wenn man irgendwelche von ihnen als einen glaubwürdigen Zeugen behandelte, würde man der zu begründenden These widersprechen. Wir können jedoch eine Veränderung des Zukkers nicht anders erkennen als dadurch, daß wir ihn in anderer Weise, z. B. visuell, mit Hilfe des Tastsinnes usw. wahrnehmen oder auch daß wir einen Komplex von Gegenständen wahrnehmen, von denen es abhängen könnte, ob jenes Stück Zucker sich in der betrachteten Hinsicht verändert. Und tatsächlich, wenn wir mit Hilfe entsprechender Wahrnehmungen feststellen, daß dieses Stück Zucker dieselbe Gestalt, dieselbe Farbe, dasselbe Gewicht usw. wie früher hat oder auch daß es die ganze Zeit von t¡ bis t2 so aufbewahrt wurde, daß jede äußere Beeinflussung ausgeschlossen war, die es hätte verändern können: dann können wir praktisch mit voller Sicherheit behaupten, daß das gegebene Stück Zucker sich nicht in einer solchen Weise verändert hat, daß es hätte aufhören können, süß zu erscheinen. Bei größerer Vorsicht werden wir uns auf eine chemische Analyse berufen, die wir aber wiederum nicht anders durchführen können, als daß wir vor allem visuell eine Reihe von chemischen Reaktionen wahrnehmen, die beim betreffenden Stück Zucker durch entsprechend gewählte (und wieder in letzter Linie wahrnehmungsmäßig erkannte) Reagenzien hervorgerufen werden. 36 Indem wir das Bestehen aller dieser uns Die Verwendung dieser Argumentation bedeutet die Anerkennung des allgemeinen Prinzips, wonach zwischen manchen Eigenschaften der Dinge derartige Abhängigkeiten bestehen, daß das Auftreten einer dieser Eigenschaften in einem Gegenstand das Auftreten der anderen oder das Eintreten der Veränderungen hinsichtlich gewisser Eigenschaften in demselben Gegenstand nach sich zieht. Dieser allgemeine Satz muß selbst wiederum eine Begründung haben, insbesondere eine Begründung, die man aus der Erfahrung schöpft, und seine Anerkennung im Rahmen der erkenntnistheoretischen Diskussion setzt gewisse positive erkenntnistheoretische Entscheidungen bezüglich des Wertes dieser begründenden Erfahrung voraus.

§ 12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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in den entsprechenden Wahrnehmungen gegebenen Tatsachen annehmen, setzen wir implicite voraus, daß die Wahrnehmungen, deren wir uns bedienen - vorzugsweise Gesichtswahrnehmungen und bis zu einem gewissen Grad auch Tast- und Geruchswahrnehmungen - mit der Wirklichkeit übereinstimmend sind. Mit anderen Worten: Um die Voraussetzung 1 zu begründen, die für die Begründung der These unentbehrlich ist, daß die Geschmackswahrnehmungen hinsichtlich der darin gegebenen Geschmacksqualitäten des Gegenstandes mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen, müssen wir voraussetzen, daß wenigstens manche Sinneswahrnehmungen anderer Art (also vor allem die Gesichtswahrnehmungen) hinsichtlich gewisser darin gegebener Merkmale der materiellen Gegenstände mit der Wirklichkeit übereinstimmend sind. Diese Voraussetzung ist zwar für sich genommen mit dem allgemein formulierten Standpunkt des kritischen erkenntnistheoretischen Realismus nicht unvereinbar. Um jedoch mögliche logische Fehler zu vermeiden, muß man zwei Vorbehalte machen: a) daß diese Voraussetzung selbst begründet werden muß, ohne daß man dabei im voraus den Standpunkt des kritischen Realismus annimmt, d. h. ohne daß man den Fehler einer petitio principii begeht, b) daß sie der endgültigen These des kritischen Realismus nicht widersprechen kann, daß nämlich alle sinnlichen Wahrnehmungen, also nicht nur die Geschmackswahrnehmungen, sondern ebenso die Gesichts-, Tast-, Geruchswahrnehmungen u. a., hinsichtlich der darin gegebenen sekundären Qualitäten nicht objektiv seien. Wenn wir jedoch beispielsweise in der chemischen Analyse feststellen, daß der Zucker auf die eine oder andere Weise seine Farbe verändert usw., nachdem wir darauf mit einer chemischen Reagenz gewirkt haben, stellen wir ipso facto fest, daß der Zucker vorher eine andere Farbe hatte·, wir machen also nichts anderes, als daß wir den Gesichtswahrnehmungen Objektivität hinsichtlich der darin gegebenen gegenständlichen Farben zuschreiben. Damit geraten wir in Widerspruch mit der These, die wir letzten Endes begründen sollen. Wenn wir aber, um diesen Widerspruch zu vermeiden und zugleich auch den Fehler einer petitio principii nicht zu begehen, über den Erkenntniswert der Gesichtswahrnehmungen hinsichtlich der darin gegebenen sinnlichen Qualitäten als Eigenschaften der Dinge weder positiv noch negativ entscheiden, dann können wir nicht gleichzeitig behaupten, daß dieses Stück Zucker sich unter dem Einfluß der chemischen Reagenzien wirklich verändert habe oder wenigstens daß es sich nicht so

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//. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

verändert habe, wie das für Zucker eigentümlich ist; wir können also nicht behaupten, daß seine chemische Zusammensetzung in der Zeit von í¡ bis tn keine Veränderung erfahren habe. Wir können das solange nicht behaupten, als eine - ganz unabhängig von der Untersuchung der Geschmackswahrnehmung durchgeführte - Untersuchung der Gesichtswahrnehmung uns nicht zur Ermittlung deren Erkenntniswertes führt. Die Frage nach der sog. Subjektivität der Geschmacksqualitäten bleibt also unentschieden; ja sie könnte nur dann im Sinne des kritischen Realismus beantwortet werden, wenn die Analyse der Gesichtswahrnehmung die NichtSubjektivität der visuellen Qualitäten (Farben, Lichter, Schatten) nachweisen würde. Mit anderen Worten: Der allgemeine, d. h. alle Sinne umfassende, kritische erkenntnistheoretische Realismus läßt sich auf dem betrachteten Weg nicht begründen. Gegen die soeben durchgeführten Überlegungen wird jedoch der folgende Einwand erhoben: Um in der chemischen Analyse festzustellen, daß das betreffende Stück Zucker in zwei verschiedenen Phasen dieselbe chemische Zusammensetzung hat, braucht man gar nicht vorauszusetzen, daß die von uns zu diesem Zweck verwendeten Gesichtswahrnehmungen (ihre Unentbehrlichkeit angenommen) hinsichtlich der darin gegebenen visuellen sekundären Qualitäten (Farben, Lichter, Schatten) objektiv sind. Denn es genügt, wenn wir - ohne etwas in bezug darauf zu entscheiden, ob jene Qualitäten bloß subjektive Erscheinungen sind oder nicht - im Falle regelmäßiger Veränderungen im Auftreten dieser Qualitäten in den gegebenen Wahrnehmungen annehmen, daß diesen Veränderungen ebenso regelmäßige Veränderungen der Eigenschaften des Zuckers, insbesondere seiner chemischen Zusammensetzung, entsprechen. Es genügt, mit anderen Worten, eine regelmäßige eindeutige Zuordnung zwischen zwei Reihen von Tatsachen anzunehmen: zwischen den regelmäßig geordneten Eigenschaften der Gegenstände und materiellen Prozesse einerseits und den in der Wahrnehmung gegebenen sekundären visuellen Qualitäten andererseits. Die von uns beobachteten Tatsachen und ihre Zusammenhänge im Bereich der wahrnehmungsmäßig gegebenen sekundären Qualitäten informieren uns - als ein spezielles Zeichensystem - auf hinreichende Weise über die Tatsachen innerhalb der Eigenschaften der Dinge und materiellen Prozesse selbst. Eine solche Lösung wird ebenfalls mit dem Stand-

§12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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punkt des kritischen erkenntnistheoretischen Realismus übereinstimmen. Und gerade eine solche Lösung wurde auch von manchen vorgeschlagen. Als Antwort darauf ist zu bemerken: Wird eine derartige Hypothese angenommen, vermeiden wir wirklich den Widerspruch, den ich soeben aufgezeigt habe. Indessen bildet diese Hypothese de facto eine Modifikation des kritischen Realismus. Dieser behauptet ja, daß die sinnlichen Wahrnehmungen bezüglich der sekundären Sinnesqualitäten alle illusorisch seien, jene Hypothese dagegen läßt die Frage nach dieser illusorischen Natur (bzw. "Subjektivität") der Qualitäten im Falle der Gegebenheiten in den visuellen Wahrnehmungen dahingestellt 37 , dafür aber nimmt sie eine eineindeutige Zuordnung zwischen diesen Gegebenheiten und den Eigenschaften der Dinge (der materiellen Gegenstände) an. Man kann also nicht für die Begründung des [Standpunkts des] kritischen erkenntnistheoretischen Realismus in dem hier diskutierten Sinne auf korrekte Weise eine These annehmen, die eine solche Modifikation [dieses Standpunkts] bildet. Und zwar egal, ob ihre Annahme [zu diesem Zweck] ausreichend wäre. Jemand könnte aber vielleicht sagen, daß es für die Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen Realismus zulässig sei, die angeführte Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung anzunehmen, weil sie von der auf sie gestützten These des Realismus verschieden sei, dieser jedoch nicht widerspreche und zugleich logisch schwächer sei als diese. Sie könne also einen Teil der Begründung der logisch stärkeren These ausmachen, wenn zu ihr irgendwelche unabhängigen Argumente hinzukämen, mit denen sie gemeinsam die logisch stärkere These begründe. Die logische Korrektheit des Verfahrens könne man hier nicht in Zweifel ziehen. Ich glaube, daß diese ganze theoretische Situation nur deswegen einen Schein von logischer Korrektheit bekommen kann, weil wir uns einerseits gewisse nicht zu Ende ausformulierte Einzelheiten der Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung nicht klar genug zum Bewußtsein bringen und weil wir andererseits den Sinn des zweiten kritischen Vorbehaltes (der zweiten Einschränkung) des kritischen Realismus nicht deutlich genug erfassen. Worin

Selbstverständlich wird hier diese Einschränkung der gewöhnlich allgemein formulierten Hypothese deswegen durchgeführt, weil wir sie hier ausschließlich als Mittel zur Begründung der NichtObjektivität der Geschmackswahrnehmungen betrachten.

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

besteht denn eigentlich der Übergang vom "vollständigen" zum kritischen Realismus unter Berücksichtigung der zweiten Einschränkung? Für einen ein Ding "naiv" wahrnehmenden Menschen, ja sogar für einen den radikalen (oder vollständigen) Realismus vertretenden Erkenntnistheoretiker, stellt sich die bei der (ζ. B. visuellen) Wahrnehmung eines Dinges vorliegende Situation in der Weise dar, daß wir, ganz nach der Überzeugung der wahrnehmenden Person, direkt die Dinge selbst mit deren eigenen Merkmalen sehen: die Farben eines Apfels, den ich sehe, sind seine eigenen Farben, die gesehene Gestalt ist seine eigene Gestalt. Der Apfel ist - nach dieser Meinung - genau so, wie er sich selbst in der Wahrnehmung zeigt. Mit anderen Worten, es existieren nicht zwei verschiedene Tatbestände: a) der Apfel und seine Eigenschaften und b) eine "Erscheinung" des Apfels und Erscheinungen seiner Eigenschaften (oder in Lockes Terminologie: eine "zusammengesetzte Idee" des Apfels und "einfache" Ideen seiner Eigenschaften). Wer im Sinne der Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung diese Zuordnung festlegen will, muß vor allem sagen, zwischen was für Gliedern sie bestehen soll. Nun soll sie - nach den Erklärungen der Vertreter der Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung - zwischen a) den uns im Original nicht gegebenen Eigenschaften eines realen Dinges selbst und b) den uns in der Wahrnehmung als (angebliche) Merkmale der Dinge gegebenen Qualitäten - Farben, Gestalten, Glattheiten, Geschmäcken u. a. - bestehen. Es liegen hier zwei Reihen von Tatsachen vor. Zum einen haben wir materielle Gegenstände (Dinge, Prozesse?) mit ihren Eigenschaften. Es sind Gegenstände, die in der materiellen "Wirklichkeit", im Raum, jedenfalls außerhalb dessen existieren, was ein Komplex von psychophysiologischen Tatsachen ist, die sich in der gegebenen Person während des Sehens der Dinge abspielen. Die zweite Reihe bilden aber die innerhalb des gegebenen psychophysiologischen Individuums (des Menschen) und jedenfalls außerhalb des Raumes, den das in der ersten Reihe von Tatsachen erwähnte Ding einnimmt, sich abspielenden psychischen Tatsachen, die als "Erscheinungen" bezeichnet werden, nämlich "gesehene Dinge", "ihre gesehenen Farben", "ihre gesehenen Gestalten". Die letzteren, "sich im Bewußtsein abspielenden" Tatsachen werden im Sinne der psychophysiologischen Erkenntnistheorie "subjektive Erscheinungen" genannt, und es sind gerade sie, die jetzt in einer eineindeutigen Zuordnung zu den in der ersten Reihe aufgezählten Tatsachen stehen sollen. Dieselbe Verschiebung von der

§ 12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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Auffassung des vollständigen Realismus zu einer genau entgegengesetzten Auffassung erfolgt im kritischen erkenntnistheoretischen Realismus, der, nachdem er diese Verschiebung vollzogen hat, das Problem der Objektivität oder NichtObjektivität der sinnlichen Wahrnehmung auf der Ebene des Bestehens von Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit zwischen der in der Wahrnehmung auftretenden "subjektiven Erscheinung" und dem materiellen Gegenstand stellt. Der kritische Realismus behauptet dabei (vgl. ζ. B. Locke), daß diese Ähnlichkeit im Falle der sog. primären Qualitäten besteht und daß sie im Falle der sekundären Qualitäten nicht statthat. Die Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung - in der oben angegebenen Einschränkung - hebt sich vom Standpunkt des kritischen Realismus dadurch ab, daß sie das Bestehen von Ähnlichkeit oder Unähnlichkeit zwischen den in Übereinstimmung mit dem kritischen Realismus unterschiedenen Elementen scheinbar nicht behaupten will und nur das Bestehen einer Zuordnung zwischen diesen Elementen behauptet. Bei näherem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, daß sie noch weiter geht als der kritische Realismus. Wenn man nämlich die Frage nach einer bloßen (durch ein Gesetz geregelten) Zuordnung in den Vordergrund rückt, so tut man das eben deswegen, weil die Vertreter dieser Ansicht von der Andersartigkeit der sekundären "subjektiven Erscheinungen" und der entsprechenden, diesen Erscheinungen zugeordneten Eigenschaften der materiellen Dinge so tief überzeugt sind, daß sie hier nicht einmal von Unähnlichkeit sprechen wollen. Sie sind nämlich der Meinung, daß auch schon dieses Verhältnis lediglich zwischen Wahrnehmungsgegebenheiten selbst (d.h. zwischen den sich in den "subjektiven Erscheinungen" darbietenden Qualitäten selbst) verständlich ist, zwischen den so heterogenen Entitäten wie den materiellen Dingen selbst und deren Eigenschaften einerseits und den in den subjektiven Erscheinungen auftretenden "sekundären Qualitäten" andererseits dagegen sich in seinem Bestehen weder verstehen noch nachprüfen läßt. Auch nach der betrachteten Hypothese also - wenn sie zu Ende ausformuliert wird - sind die sinnlichen (insbesondere visuellen) Wahrnehmungen hinsichtlich der betrachteten Qualitäten nicht objektiv, und man fügt in dieser Hypothese nur die Behauptung hinzu, daß den Regelmäßigkeiten zwischen den sekundären subjektiven Erscheinungen auf eineindeutige Weise die Eigenschaften der Dinge und materiellen Prozesse sowie die zwischen diesen bestehenden Regelmäßigkeiten entsprechen. Das aber heißt nichts anderes,

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//. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

als daß für die Begründung der zweiten Einschränkung des kritischen Realismus in diesem Fall eben diese Einschränkung oder sogar eine noch stärkere Behauptung angenommen wird, was vom logischen Gesichtspunkt aus nicht korrekt scheint. Ist jedoch diese Deutung der Konzeption einer eineindeutigen Zuordnung von Elementen der zwei Reihen von Tatsachen nicht arbiträr? Und ist sie nicht speziell so gewählt - als für diese ganze Argumentation ungünstig - , daß sie diese Argumentation zurückweist? Erwägen wir folgendes: Es müssen irgendwelche Gründe vorhanden sein, die zwei Reihen von Tatsachen zu unterscheiden: die (beispielsweise physiko-chemischen) Eigenschaften der physischen Dinge und die "subjektiven Erscheinungen". Die einen sollen physische Tatsachen, die anderen "psychische Erscheinungen" sein. Was für Eigenschaften der ersteren und der letzteren berechtigen uns dazu? Wir wollen dabei nicht nach den allgemeinen Eigenschaften des Physischen einerseits und des "Psychischen" andererseits fragen, denn man weiß nicht, ob irgendjemand von den kritischen epistemologischen Realisten sagen könnte, was für Eigenschaften beispielsweise über die "materielle" oder "physische" Natur einer Tatsache entscheiden. Bleiben wir konkret bei dem, was die einander entsprechenden Glieder der beiden Reihen von Tatsachen sein sollen. Können wir dann eine andere Antwort erhalten als die, daß es auf der physischen Seite eine elektromagnetische "Welle" mit einer bestimmten Länge und auf der psychischen z.B. die Erscheinung einer "Farbe" mit einer bestimmten Nuance einer Qualität (z. B. der Rotheit) gebe? Wenn wir aber diese Antwort hören, dann ist schon nicht nur die "Zuordnungs"-These, sondern auch die "Unähnlichkeit" zwischen den einander zugeordneten Tatsachen im voraus entschieden. Gleicht die Berufung darauf nicht der Feststellung der NichtObjektivität der Gesichtswahrnehmungen? Dann besteht jedoch eine petitio principii. Wollte aber jemand behaupten, daß [hier] nicht Unähnlichkeit, sondern gerade "Ähnlichkeit" oder gar "Gleichheit" vorliege, dann bricht wiederum die These von der "Nichtobjektivität" aller Sinneswahrnehmungen hinsichtlich sekundärer Qualitäten zusammen. Um den Fehler einer petitio principii in der hier diskutierten Argumentation zu vermeiden, muß man somit die betrachtete Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung lediglich auf die Gesichtswahrnehmungen beschränken.

§ 12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

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Wie können wir dann aber nachweisen, daß dies nicht nur eine arbiträre Hypothese, sondern eine wahre Behauptung ist? Es scheint, daß wir uns zu diesem Zweck entweder visueller Wahrnehmungen selbst bedienen oder auch auf Wahrnehmungen anderer "Sinne" rekurrieren können. Schlagen wir den zweiten Weg ein, dann verschiebt sich nur das Problem, weil im Bereich der jetzt gewählten Art von Wahrnehmungen (z.B. der Tastwahrnehmungen) eine völlig gleiche theoretische Situation entsteht wie im Falle der Gesichtsund vorher noch Geschmackswahrnehmungen. Wir werden nämlich wieder entweder gezwungen sein, eine Behauptung anzunehmen, die der abschließenden Konklusion des kritischen Realismus mit seiner zweiten Einschränkung widerspricht, oder aber wir müssen uns auf die These von einer eineindeutigen Zuordnung der in den Wahrnehmungen des betreffenden "Sinnes" in Erscheinung tretenden sekundären Qualitäten zu gewissen Eigenschaften der Dinge berufen. Die letztere These muß dabei entweder im Rekurs auf weitere "Sinne" begründet werden oder unter ausschließlicher Zuhilfenahme von Wahrnehmungsgegebenheiten, von denen die begründete These eine eineindeutige Zuordnung zu den entsprechenden Eigenschaften der materiellen Dinge selbst behauptet. So müßten wir der Reihe nach alle Wahrnehmungsarten durchlaufen, bis wir wieder zu den Geschmackswahrnehmungen zurückkämen. Wir würden uns dann im Kreis drehen. Die Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung hilft uns aus diesem Kreis ebensowenig hinaus wie die Annahme einer partiellen "Übereinstimmung" und einer partiellen "Nichtübereinstimmung" der sinnlichen Wahrnehmungsgegebenheiten mit der materiellen Wirklichkeit. Bemerken wir aber noch folgendes: Bei der These von einer eineindeutigen Zuordnung der "subjektiven Erscheinungen" (ζ. B. im Bereich der visuellen Qualitäten) zu einer bestimmten Reihe von Eigenschaften der physischen Dinge soll es sich doch nicht um eine Festlegung durch Konvention handeln. Diese Zuordnung soll vielmehr real zwischen den zwei Reihen von Tatsachen bestehen, und zwar infolge der kausalen Zusammenhänge zwischen den physischen Prozessen, die außerhalb des Körpers des wahrnehmenden Menschen vorgehen, und den physiologischen Prozessen, die in seinem Körper ablaufen, und schließlich den "subjektiven Erscheinungen", die in der "Psyche" (im Bewußtsein) der die Gesichtswahrnehmung vollziehenden Person auftreten. Das Grund- oder Anfangs-

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Erkenntnistheorie

glied in dieser Kette von Ereignissen oder Prozessen sei das, was in der materiellen Welt stattfindet - der "physische Reiz". Die letzte, endgültige Wirkung mache dagegen die gegebene "subjektive Erscheinung", die "visuelle Sinnesempfindung" aus. Zwischen diesen Endgliedern der ganzen Kette von Ereignissen bestehe jene Zuordnung - sie ergebe sich gleichsam daraus, daß eine solche kausale Kette von Ereignissen vorliegt. Der Prozeß oder das physische Ereignis, das vom wahrgenommenen Ding ausgeht, sei nicht nur ursprünglicher als die "psychische Erscheinung", sondern auch von dieser seinsunabhängig; die "psychische Erscheinung" dagegen entstamme dem "physischen Reiz" und sei von diesem seinsabhängig. Auf welcher psychophysiologischen Grundlage kann aber oder vielmehr darf der Erkenntnistheoretiker eine solche Reihe annehmen und eine solche Ursprünglichkeit und Unabhängigkeit des "physischen Reizes" im Verhältnis zur "subjektiven Erscheinung" behaupten? Er muß die Eigenschaften materieller Dinge und speziell die von diesen ausgehenden Prozesse ("physische Reize") kennen, er muß darüber hinaus ein besonderes materielles Ding - den Körper des wahrnehmenden Menschen und die sich darin abspielenden Prozesse - kennen. In beiden Fällen müßte er - wie ich das gleich am Anfang dieser kritischen Bemerkungen festgestellt habe - über das Gebiet der Gegenstände hinausgehen, das er selbst als das Forschungsgebiet der psychophysiologischen Erkenntnistheorie abgegrenzt hat. Er hat jedoch selbst keine Erkenntnismittel und daher auch keine Kompetenzen, Behauptungen über Eigenschaften materieller Dinge und über "physische Reize" bzw. physiologische Reize aufzustellen. Er muß sich also auf die entsprechenden Einzelv/issenschaften - auf die Physik, Physiologie, Biochemie u. dgl. - berufen und entweder zur Kenntnis nehmen, was diese zu diesem Thema sagen, oder aber selbst anfangen, Physik, Physiologie usw. zu betreiben. Auf welcher Grundlage kann dann er oder der Physiker objektives Wissen von den Eigenschaften materieller Dinge erlangen? Es bestehen zwei Möglichkeiten: Entweder sind diese Eigenschaften selbst in der Erfahrung (in der Wahrnehmung) gegeben dann begeht er, wenn er diese Informationen für die Klarlegung des Problems der Objektivität der Wahrnehmungen hinsichtlich der darin gegebenen Eigenschaften der Dinge in Anspruch nimmt, den Fehler einer petitio principii, weil er das voraussetzt, was im vorliegenden Fall eine daraus folgende These der Erkenntnistheorie ausmachen soll; oder er muß sich auf eine andere Er-

§12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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fahrung berufen als die, deren Objektivität er einer Untersuchung unterzieht. Da es aber keine solche andere Erfahrung gibt, bleibt nur noch übrig, diese Eigenschaften physischer Dinge oder Prozesse als erschlossene anzusehen. Erschlossen woraus aber? Wenn aus den Gegebenheiten der Sinneswahrnehmung, dann müssen diese Gegebenheiten nicht nur als existierende, sondern auch als geltende, richtig informierende, mithin "objektive" oder schließlich als den Eigenschaften physischer Dinge bzw. Prozesse "zugeordnete" anerkannt werden. Im ersten Fall begeht man einen Widerspruch, weil man die "Objektivität" der Wahrnehmung hinsichtlich der visuellen Qualitäten annimmt, während man deren "NichtObjektivität" (Subjektivität) begründen will. Im zweiten Fall begeht man eine petitio principii, weil man die Zuordnung voraussetzt, die mit Hilfe dieser Argumentation erst abgeleitet werden soll. Dabei sind eine Reihe von Eigenschaften physischer Dinge oder Prozesse weder in ihrem Sein noch in ihrer Ausstattung von den Wahrnehmungsgegebenheiten unabhängig, sondern werden auf deren Grundlage durch die Physik oder die Erkenntnistheorie dieser Art konstruiert. Dann kann jedoch die ganze Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung nicht nur von der "Wirklichkeit" der Eigenschaften der Dinge und von der NichtObjektivität der Wahrnehmungsgegebenheiten zeugen, sondern sie kann ebensogut als Argument zur Stützung der These dienen, daß die Gegebenheiten der sinnlichen (insbesondere visuellen) Wahrnehmung die letzte Wirklichkeit sind, während die erschlossenen Eigenschaften der Gegenstände der Physik oder Physiologie für gewisse Zwecke der wissenschaftlichen Forschung, z.B. für die "Denkökonomie", wie etwa Ernst Mach sagen würde, [auf dieser letzten Wirklichkeit] nur hypothetisch aufgebaut sind - damit ist jedoch die These des kritischen erkenntnistheoretischen Realismus schon aufgegeben. Es scheint indes, daß es mit dem rein sachlichen Wahrsein der allgemein verstandenen Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung ziemlich schlecht bestellt ist und daß man sich auf diese Hypothese im Rahmen der ersten Argumentation zugunsten des kritischen Realismus eher nicht berufen sollte. Sie soll nämlich zur Stützung der These dienen, daß sich unter bestimmten Bedingungen ein Wahrnehmungsgegenstand in einer ausgewählten Hinsicht nicht verändert, betreffs welcher die Wahrnehmungsgegebenheiten gerade auf in ihm vorgehende Veränderungen hinweisen (vgl. das Stück Zucker und

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11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

die Veränderung seines Geschmacks). Wenn wir zwecks einer Nachkontrolle des Bestehens dieser Diskrepanz zwischen den Wahrnehmungsgegebenheiten und den Eigenschaften des Gegenstandes das Problem - dem oben angeführten Schema gemäß - auf das Gebiet der Gesichtswahrnehmung übertragen und wenn sich auch hier erneut die Frage z.B. nach der Veränderung einer gesehenen Farbe unter Beibehaltung der Eigenschaften eines als farbig gesehenen Gegenstandes erhebt, dann führt uns dabei die Berufung auf das Bestehen einer eineindeutigen Zuordnung oder auch der Versuch, diese Behauptung zu begründen, letzten Endes zu einem prinzipiellen Widerspruch zwischen der These II des kritischen Realismus und der These von jener eineindeutigen Zuordnung. Denn nur eines von beiden ist der Fall: Entweder besteht eine eineindeutige Zuordnung zwischen den betrachteten Faktoren, oder es gilt die Behauptung von der Diskrepanz, die zwischen dem unverändert bleibenden Merkmal des materiellen Gegenstandes und der sich verändernden Farbe besteht, wie sie uns aus irgendwelchen subjektiven Gründen in den Wahrnehmungen gegeben ist. Die beiden Thesen schließen sich gegenseitig aus. Soll die These von der Diskrepanz als Begründung für die "Subjektivität" der sekundären Qualitäten dienen, dann kann man sich zwecks ihres Nachweises nicht auf die ihr widersprechende These vom Bestehen einer eineindeutigen, durch gewisse konstante Gesetze geregelten Zuordnung der Glieder der beiden Reihen von Veränderungen berufen. So scheitert der Versuch, die von mir hier angegriffene Argumentation I mit Hilfe der Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung der zwei Reihen von Tatsachen zu verteidigen. ad 2. Ähnliche Schwierigkeiten bietet auch das Problem, auf welche Weise die zweite Voraussetzung der betrachteten Argumentation zu begründen ist, nämlich die Behauptung, daß das wahrnehmende Subjekt zwischen der ersten und der zweiten Wahrnehmung jenes Stücks Zucker eine Veränderung erfährt. Ich möchte hier lediglich den Fall besprechen, wo es sich um eine Veränderung seines körperlichen Zustands (Vergiftung, Krankheit usw.) handelt, die eine Veränderung des "Geschmacks" verursacht. Diese Voraussetzung kann nicht unbegründet bleiben. Wir dürfen sie gemäß dem empirischen Charakter der psychophysiologischen Erkenntnistheorie - nur dann annehmen, wenn sie auf irgendwelchen Erfahrungen beruht. Welche können also diese Erfahrungen sein? Der Gegenstand, der sich

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Realismus

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in diesem Fall verändern sollte, ist der Leib 38 des wahrnehmenden Subjekts. Nach den naturwissenschaftlichen Ansichten, die in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie anerkannt werden, ist das ein materieller Gegenstand, der sich von den anderen materiellen Gegenständen nicht nur dadurch unterscheidet, daß er ein Organismus ist, sondern auch dadurch, daß sich seine Eigenschaften in zwei ganz verschiedenen Arten von Wahrnehmungen darbieten können: a) in den sinnlichen Wahrnehmungen - von außen und b) von innen, in den Wahrnehmungen einer eigenen Art, die von der Psychologie bisher im allgemeinen wenig erforscht wurden und die oft zu Unrecht mit dem bloßen Haben von sog. Organempfindungen gleichgesetzt werden. Ich möchte sie die "somatischen" Wahrnehmungen nennen. Wenn es sich aber um die Feststellung der Veränderungen handelt, die im Leib des wahrnehmenden Menschen unter dem Einfluß der auf "unseren" Körper einwirkenden äußeren Prozesse ablaufen, dann kommt noch die äußere Wahrnehmung in Betracht, die sich auf die Begegnung der äußeren Dinge und Prozesse mit "unserem" Körper bezieht. Beim Erkennen von fremden Körpern und ihren Zuständen bleibt uns natürlich nur die erste Wahrnehmungsweise. Obwohl nun die Wahrnehmungen von fremden lebenden Körpern in ihrem Verlauf und Inhalt nicht ganz gleich sind wie die Wahrnehmungen von "toten" Dingen (was die Psychologie übrigens gewöhnlich vergißt), so haben sie doch ohne Zweifel die sinnlichen Wahrnehmungen zur Grundlage. Wollten wir daher zum Nachweis der Wahrheit der jetzt betrachteten Voraussetzung auf die Wahrnehmungen des gegebenen Organismus von außen rekurrieren, dann würden wir in all dieselben Schwierigkeiten geraten, die uns schon weiter oben entgegengetreten sind. Die Situation wird hier aber insofern komplizierter, als man bei der Beobachtung eines lebenden Organismus in seinen verschiedenen Zuständen und Veränderungen viele Wahrnehmungen nicht durchführen kann, ohne den Organismus zu töten oder wenigstens tiefe Störungen in seinen normalen Lebensprozessen hervorzurufen. Man muß sich also der Wahrnehmungen von Organismen anderer Art (ζ. B. von Tieren) oder toter Organismen ("Sektionen") bedienen. Infolgedessen sind die Behauptungen über die Veränderungen, die in lebenden menschlichen Organismen ablaufen sollen, in über10

[Im Original "ciato". In der III. Redaktion (S. 98) folgt hier die Anmerkung: "Das Wort 'ciato' muß hier in dem Sinne verstanden werden, in dem man im Deutschen 'Leib' und nicht nur 'Körper' sagt."]

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

wiegendem Maße nur Vermutungen, die durch Analogieschluß gewonnen werden.39 Sie haben also einen verhältnismäßig niedrigen Wahrscheinlichkeitsgrad, folglich können auch die darauf gestützten Folgerungen nicht die absolute Sicherheit aufweisen, wie sie im Rahmen der erkenntnistheoretischen Betrachtungen verlangt werden sollte. Wenn wir uns dagegen zur Begründung unserer Voraussetzung auf die Wahrnehmungen unseres Leibes "von innen" berufen, so ist - abgesehen davon, daß die Natur dieser Wahrnehmung bisher wenig geklärt ist und daß man nicht weiß, welcher Erkenntniswert ihr zukommt - die überwiegende Mehrheit der Veränderungen und Prozesse, die sich in unserem Leib abspielen, unserer Wahrnehmung dieser Art überhaupt nicht zugänglich. Wir besitzen z.B. gar keine "inneren" Wahrnehmungen, in denen uns Prozesse gegeben wären, "3Q

Es unterliegt keinem Zweifel, daß wir hier ein Gebiet von sehr vielfältigen und komplizierten Tatsachen betreten, die seit jeher die Ärzte interessierten. Zur Zeit liegt ein ganzer Komplex von sehr ausgebauten Wissenschaften vor - von der Anatomie, Histologie, Zytologie, Physiologie, Biochemie usw. bis hin zur zeitgenössischen speziellen und komparativen Diagnostik - [Wissenschaften], die uns eine ungeheure Menge von Informationen über den Aufbau und das Funktionieren des menschlichen Körpers sowie über zahlreiche pathologische Verwandlungen geliefert haben. Dieses immense Wissen über den Menschen, einschließlich der Psychologie und Psychopathologie, soll keinen Augenblick lang geringgeschätzt werden. Man darf aber zugleich auch die Tatsache nicht übersehen, daß dieses ganze so umfangreiche und mit so subtilen Methoden operierende Wissen als seine Erkenntnisgrundlagen die sinnlichen Wahrnehmungen des fremden Körpers hat, die zwar durch Beobachtungen mit Hilfe von Geräten wie gewöhnlichen oder Elektronenmikroskopen gewonnen werden, uns aber Informationen Uber den Zustand und Aufbau des menschlichen Körpers liefern, die letzten Endes "abglesen", d.h. sinnlich wahrzunehmen, und nota bene mit Hilfe der auf allen diesen Beobachtungen aufgebauten Theorien zu verstehen sind. Sobald wir aber des wahrnehmungsmäßigen Charakters der Grundlagen dieses Wissens gewahr werden und zugleich seine Ergebnisse zur Erforschung der Objektivität der sinnlichen Wahrnehmung benutzen möchten, müssen wir zugeben, daß die einfache Inanspruchnahme der Behauptungen über unseren Körper, seine Zustände und darin vorgehende Veränderungen, [der Behauptungen], die u.a. mit Hilfe der hier erwähnten Wissenschaften gewonnen wurden, entweder zum Fehler einer petitio principii oder zu einem Widerspruch führt, wenn wir [nämlich] zur Begründung des kritischen Realismus in bezug auf die Wahrnehmungen voraussetzen, daß die wahrnehmungsmäßigen Grundlagen des Wissens über unseren Körper uns viele zutreffende, richtige, mithin "objektive" Informationen über unseren Körper liefern, während wir zugeben sollten, daß diese Wahrnehmungsbasis uns gerade "falsche" Informationen erteilt, indem sie uns nur "subjektive Erscheinungen" verschafft.

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die sich in unserem Gehirn in der Zeit abspielen, in der seine Zentren erregt werden; ebenso haben wir keine Wahrnehmungen des aktiven Zustands der Nerven, die eine Erregung der Nervenenden zu den Gehirnzentren leiten usw. Erst im Fall irgendwelcher pathologischen Prozesse (Krankheitsvorgänge), beispielsweise bei Nervenentzündung, bei Veränderungen, die im Gehirn durch Neubildungen hervorgerufen werden usw., empfinden wir gewisse "Symptome". Ähnlich verhält es sich in manchen Fällen des "normalen" Funktionierens unserer inneren Organe, ζ. B. beim Schlagen des Herzens. Es entsteht hier auch eine Schwierigkeit, wenn es sich um die Anerkennung der Objektivität der Wahrnehmungen unseres eigenen Leibes von innen handelt, eine Schwierigkeit, die nicht so sehr an deren eigenem Verlauf und Aufbau liegen dürfte, als vielmehr an einer - für die Psychologen natürlichen - Ansicht darüber, was in diesen Wahrnehmungen eigentlich zur Gegebenheit kommt. Nach dieser Ansicht werden nämlich die Prozesse, die sich überhaupt in unserem Körper abspielen, insbesondere aber diejenigen, bei denen in der Zeit zwischen zwei Wahrnehmungen (z.B. jenes Stücks Zucker) Veränderungen in unseren Sinnesorganen eintreten, als "rein physiologische" und damit auch als von allen psychischen Zuständen und Vorgängen und speziell von den Bewußtseinserlebnissen radikal verschiedene Prozesse angesehen. Im allgemeinen betrachtet man sie als physiko-chemische Prozesse, nur daß sie komplizierter und anders geordnet seien, als das bei den Körpern der unbelebten Natur der Fall ist. Doch sogar diejenigen, die eine Andersartigkeit dieser Prozesse gegenüber den Prozessen in der unbelebten Natur gelten lassen möchten, sehen in ihnen immerhin materielle Prozesse, die von den "psychischen Erscheinungen" prinzipiell verschieden sind. Andererseits wird die Wahrnehmung des eigenen Leibes "von innen", samt allen ihren unmittelbaren Gegebenheiten, als etwas "rein Psychisches" betrachtet. Deswegen sagt man im voraus, daß dasjenige, was uns in diesen Wahrnehmungen gegeben ist, nichts anderes sei als gewisse (organische, somatische) "Empfindungen", die bestenfalls nur psychische "Symptome" dessen ausmachen würden, was tatsächlich in unserem Leib geschieht. Auf jeden Fall nehmen wir - nach dieser Ansicht - die in unserem Leib ablaufenden physiologischen Prozesse nicht einmal dann unmittelbar wahr, wenn wir derartige Symptome besitzen. Denn diese Symptome seien nur gleichsam subjektive Signale davon, daß sich in einem Teil unseres Leibes irgendwelche Prozesse abspielen, die sich

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II. Kritik der psychophysiologischen Erkenntnistheorie

uns mit ihren eigenen Merkmalen in den betrachteten Erfahrungen nicht zeigen würden und deren Natur vielleicht nur mit Hilfe von auf fremde Körper oder tote Organismen bezogenen sinnlichen Wahrnehmungen sowie unter Zuhilfenahme experimenteller physiko-chemischer Methoden aufzudecken sei. Dabei sind diese subjektiven Signale ziemlich oft unzuverlässig, weil darin - wie die Psychophy siologen selbst sagen - manchmal z . B . falsche Lokalisierungen erscheinen oder auch einander sehr ähnliche "Empfindungen" (etwa Schmerzen), wo sich "objektiv" voneinander sehr verschiedene physiologische Prozesse abspielen, abgesehen schon davon, daß bei der überwiegenden Mehrheit der physiologischen Prozesse jene "subjektiven Signale" überhaupt fehlen. Trotz all dem bilden die Wahrnehmungen unseres Leibes "von innen" in manchen Fällen ein gewisses Mittel, um nachzuprüfen, ob und inwiefern unsere auf einem anderen Weg gewonnenen Vermutungen in bezug auf den Zustand unseres Körpers begründet sind. Sie sind also bestenfalls ein - übrigens sehr oft unzuverlässiges - Hilfsmittel, und das Hauptgewicht und die Verantwortung für die Erkenntnis unseres Körpers verschiebt sich auf die sinnliche Wahrnehmung "von außen" (und zwar meistens von fremden Körpern) wie auch auf verschiedene experimentell-deduktive Methoden, wie sie in den Naturwissenschaften allgemein befolgt werden. Ich möchte im Augenblick nicht entscheiden, ob die soeben dargestellte Ansicht über die Wahrnehmung unseres Leibes von innen richtig ist. Ich werde auf diese Frage und die Wahrnehmung dieser Art später eingehen. Wie immer dem auch sei, kann aber die psychophysiologische Erkenntnistheorie eine genaue Untersuchung der besprochenen Wahrnehmungen nicht entbehren, und zwar gerade deswegen, weil sie eine psychophysiologische Theorie ist. Es wird sich auch später herausstellen - nachdem wir die psychophysiologische Erkenntnistheorie zurückgewiesen haben - , daß es in einer Phase der erkenntnistheoretischen Problematik unentbehrlich ist, in den Kreis der Betrachtungen der Erkenntnistheorie den realen menschlichen Körper und seine Funktion beim Erkennen zu ziehen. Dann werden wir auch die Wahrnehmung des eigenen Körpers von innen und ihre Rolle in dem vom Menschen durchgeführten Erkennen zu untersuchen haben. Im Augenblick aber sei nur folgendes festgestellt: Wenn das Hauptgewicht des Erkennens des menschlichen Körpers und der sich darin abspielenden Prozesse tatsächlich in der sinnlichen

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Wahrnehmung des fremden menschlichen Körpers liegt, dann läßt sich die Voraussetzung 2 der den kritischen Realismus begründenden Argumentation I auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie ohne logische Fehler ebenfalls nicht begründen. Denn es stellen sich hier die gleichen Schwierigkeiten entgegen wie bei den Versuchen, die Voraussetzung 1 dieser Argumentation zu begründen. Auf nähere Einzelheiten dieser Frage kann ich hier nicht mehr eingehen. ad II. In bezug auf die Argumentation, die sich auf die Unterschiede zwischen dem Sehen farbiger Dinge bei "normalen" Menschen und bei "Achromatopen" 40 beruft, erheben sich teilweise dieselben Einwände, denen die Argumentation I ausgesetzt ist. Ähnlich wie dort folgt daraus nicht, daß jede Gesichtswahrnehmung farbiger Gegenstände hinsichtlich der darin gegebenen Farben dieser Gegenstände nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmt, bzw. korrelativ, daß alle Farben bloß "subjektive Erscheinungen" sind. Es folgt aus dieser Argumentation nur, daß bestimmt manche Gesichts wahrnehmungen in der genannten Hinsicht nicht objektiv sind, man weiß aber nicht welche. Es ist jedoch nur möglich, daß sowohl die Wahrnehmungen, die uns Dinge mit bunten Farben zeigen, als auch diejenigen, die sie uns mit neutralen Farben darstellen, nicht objektiv sind. Und man müßte erst irgendwelche weiteren Gründe ausfindig machen, die uns veranlassen würden, anzuerkennen, daß das letztere nicht nur möglich, sondern geradezu wirklich ist. Sollten wir dagegen anerkennen, daß beispielsweise die Wahrnehmungen von Daltonisten, aber nicht die von "normalen" Menschen nicht objektiv sind, dann würde auch dies eine besondere Begründung erfordern. Ähnlich wie früher entsteht das Problem, wie man ohne Fehler die folgenden Voraussetzungen begründen kann: 1. daß das wahrgenommene Ding hinsichtlich einer Eigenschaft Q in der Zeit zwischen zwei Wahrnehmungen keine Veränderung erfährt und 2. daß zwischen den Gesichtsorganen der wahrnehmenden Menschen Unterschiede bestehen, die jeweils einen anderen Wahrnehmungsverlauf verursachen. Was die erste Voraussetzung betrifft, wird hier die Situation insofern einfacher, als ein und dasselbe Ding gleichzeitig von zwei Individuen - einem normalen und einem abnormalen - gesehen werden kann. Doch dies bringt neue Schwierigkeiten mit sich.

40

Vgl. oben S. 82.

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

Es bestehen aber zugleich auch die folgenden Unterschiede zur Argumentation I: 1. Während es sich vorher um die Wahrnehmungen ein und desselben Menschen handelte, kommen jetzt die auf denselben Gegenstand bezogenen Wahrnehmungen vieler, normaler und abnormaler Menschen in Betracht. 2. Vorher mußte man nachweisen, daß der wahrgenommene Gegenstand G in einer Zeitperiode keine Veränderung erfuhr, jetzt dagegen überdies, daß er ein und derselbe ist, wenn ihn zwei Menschen in einer Hinsicht mit verschiedenen Merkmalen wahrnehmen. 41 ad 1. Da jetzt viele, mindestens aber zwei Menschen die Tatsache feststellen, daß jedem von ihnen dasselbe Ding mit verschiedenen Merkmalen erscheint, so fragt es sich zuerst, wie sie a) diese Tatsache mit Sicherheit festlegen können und b) wie sie sich über das Bestehen dieser Tatsache miteinander sicher verständigen können. Die beiden Fragen hängen aufs engste zusammen. Die erste versuchen die Psychophysiologen bekanntlich unter Verwendung angemessen gewählter Experimente zu erledigen. Ihre Hauptidee geht dahin, die untersuchte (des Daltonismus verdächtigte) Person in eine Situation zu stellen, in der man aus ihrer Verhaltensweise gegenüber den ihr zum Sehen vorgelegten Dingen schließen könne, daß ihr diese Dinge mit anderen Farben gegeben sind als der den Versuch führenden und als "normal" geltenden Person. Man stellt ζ. B. fest, daß die untersuchte Person, wenn sie aufgefordert wird, von verschiedenfarbigen Baumwollegarnbündeln alle "von gleicher 4

' Nota bene, während vorher zum Nachweis der Unverändertheit des wahrgenommenen Dinges die Gesichtswahrnehmungen herangezogen wurden, sind jetzt diese Wahrnehmungen hinsichtlich ihrer Objektivität gerade in Frage gestellt und können nicht dazu dienen, die hier erwähnten Voraussetzungen zu begründen. Dieser Umstand ist jedoch nicht wesentlich, denn man kann in beiden Argumentationen mit Tatsachen aus dem Bereich der Wahrnehmungen derselben Art operieren. Angenommen aber, daß sich jemand zum Nachweis der NichtObjektivität der Geschmackswahmehmungen der Argumentation I und zum Nachweis der NichtObjektivität der Gesichtswahrnehmungen der Argumentation II bedient, kann er sich beim Versuch, die Behauptungen über die Unverändertheit des wahrgenommenen Dinges und über die Unterschiede zwischen den Sinnesorganen der wahrnehmenden Personen zu begründen, weder der Geschmacks- noch der Gesichtswahrnehmung bedienen. Auf welche Art der sinnlichen Wahrnehmung er sich aber auch immer berufen mag, es wird jedesmal notwendig sein, auf immer neue Wahrnehmungsarten zu verweisen und auf die bereits in Frage gestellten Wahrnehmungen zurückzugreifen, wie ich das oben schon dargestellt habe.

§ 12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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Farbe" auszuwählen, auf dasselbe Häuflein ζ. B. die roten, grünen und grauen Garnbündel legt. Wir sagen: Sie sieht sie offenbar als gleich hinsichtlich der Farbe, während der Experimentator sie mit verschiedenen Farben sieht. Diese Tatsache scheint unzweifelhaft, sofern nur die untersuchte Person die erhaltene Aufforderung richtig verstanden hat. Diese Bedingung kompliziert jedoch die Situation. Beim beschriebenen Verfahren schließt man absichtlich die Bitte aus, daß die untersuchte Person die Farben des von ihr gesehenen Gegenstandes nenne. Denn der Umstand, daß sie einen bestimmten Farbennamen "richtig" (d. h. so wie der Experimentator) gebraucht, ist noch gar kein Beweis. Trotzdem ist hier die sprachliche Verständigung nicht ganz ausgeschaltet, wir können darauf nicht verzichten. Wir sind doch genötigt, in irgendwelcher Sprache der untersuchten Person mitzuteilen, welche Aufgabe sie ausführen soll, und wir setzen dabei voraus, daß sie die an sie gerichtete Aufforderung richtig versteht. Diese Voraussetzung ist wichtig, denn sie verlangt eine Lösung der Probleme des Sprachverständnisses und insbesondere eine positive Antwort auf die Fragen: a) auf welche Weise wir mit dem Gehörsinn oder mit dem Sehvermögen dieselben (wie der Sprechende) Laute (evtl. Aufschriften) der Worte einer Sprache wiedererkennen und wie wir uns der Richtigkeit dieser Wiedererkennung vergewissern können und b) wie wir dieselbe (wie der Sprechende) Bedeutung der Worte erfassen bzw. den Sinn eines Satzes (richtig) verstehen. Das steht in engem Zusammenhang mit den Schwierigkeiten, auf die ich unter 2 hingewiesen habe, ich werde also auf diese Fragen bei der Besprechung dieses Punktes zurückkehren. Man könnte jedoch diese Schwierigkeiten durch den Hinweis zu umgehen suchen, man könne darauf, daß die untersuchte Person die ihr erteilte Aufforderung richtig verstanden hat, mit Sicherheit aus der Weise folgern, wie sie diese Aufforderung ausgeführt hat: Sie hat nämlich auf dasselbe Häuflein Garnbündel verschiedener Farben gelegt; folglich müßten ihr die für den Experimentator verschiedenfarbigen Garnbündel als hinsichtlich der Farbe gleich erscheinen. Sollten wir jedoch aus ihrer Verhaltensweise allein schließen, ob sie die erhaltene Aufforderung richtig verstanden hat, dann müßten wir eher zum Schluß kommen, daß das nicht der Fall ist, weil ihre Handlungsweise mit dieser Aufforderung nicht übereinstimmt. Diese Nichtübereinstimmung kann sich ebensogut aus einem falschen Verständnis der Aufforderung

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11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

bei gleichem Sehen der farbigen Dinge wie der Experimentator ergeben als auch einem "falschen" Sehen der Dinge bei richtigem Verstehen der Aufforderung als schließlich daraus, daß die untersuchte Person [zwar] richtig versteht und die Dinge ebenso richtig sieht wie der Experimentator, doch der Aufforderung nicht gefolgt ist. Um uns die Sicherheit zu verschaffen, daß nur die zweite Möglichkeit vorliegt, müssen wir uns anhand einer anderen, vom faktischen Verhalten der untersuchten Person unabhängigen Grundlage vergewissern, daß die übrigen zwei Fälle ausgeschlossen sind. Wenn es uns indessen schon gelänge, die dritte Möglichkeit auf irgendeine Weise auszuschließen, müßten wir uns irgendwie vergewissern, daß die untersuchte Person die ihr (sprachlich) mitgeteilte Aufforderung richtig versteht. Sonst wären die Resultate des Experiments nicht eindeutig. Die Gewinnung dieser Gewißheit bringt jedoch die oben angedeuteten allgemeinen Schwierigkeiten bezüglich des Verstehens von Sprachgebilden mit sich. ad 2. Auf welcher Grundlage nimmt man an, ein von zwei Menschen mit verschiedenen Farben gesehenes Ding sei (numerisch) dasselbe? Die Voraussetzung, daß dies der Fall ist, ist bei der Argumentation II unentbehrlich, weil ohne sie der Schluß von der Subjektivität des Sehens farbiger Dinge nicht gezogen werden kann. Es genügt daher nicht, diese Voraussetzung einfach anzunehmen; man muß außerdem die Sicherheit haben, daß sie wahr ist. Es ist dabei ohne Belang, ob wir in den tatsächlich durchgeführten Betrachtungen auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie Überlegungen zu diesem Thema finden.42 Wichtig in unserem Zusammenhang ist nur, ob sich die betrachtete Voraussetzung im Rahmen dieser Theorie überhaupt begründen läßt. Diese Frage muß verneinend beantwortet werden. Die Frage, ob ein gleichzeitig von zwei Menschen wahrgenommenes Ding in Wirklichkeit dasselbe ist und auf welcher Grundlage wir das feststel-

[In der III. Redaktion dazu in den Fußnoten die Anmerkung: "Tatsächlich finden wir auch in den klassischen Werken der psychophysiologischen Erkenntnistheorie keine solchen Erwägungen, was insofern natürlich ist, als der in Rede stehende Satz zu den gewöhnlich nicht einmal ausgesprochenen, sondern nur implicite angenommenen Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie gehört, die man im voraus als evident anerkennt, obwohl gerade sie die grundlegendsten Probleme der Epistemologie in sich bergen. Daß sie diese Probleme nicht sieht, darin liegt wohl der größte theoretische Mangel der psychophysiologischen Erkenntnistheorie" (Red. IIIA, Ms. S. 70).]

§12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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len können, wird desto akuter, je "kritischer" der zu begründende Realismus ist. Denn wenn es zweifelhaft wird, daß süß das ist, was uns deutlich "süß" schmeckt, daß weiß das ist, was ich als weiß sehe usw., wenn wir es dabei nicht nur nicht vermögen, sondern wenn es - wie man gewöhnlich behauptet sogar [prinzipiell] unmöglich ist, einen anderen auf irgendeine Weise zu informieren, was die Süße, die Weißheit usw. ist (und das wird um so unmöglicher, je stärker man den subjektiven Charakter sinnlicher Qualitäten betont und je hartnäckiger man auf dem Standpunkt beharrt, daß ein Subjektives einem anderen Subjekt erkenntnismäßig nicht unmittelbar zugänglich sei), muß es dann nicht zumindest in gleichem Grade zweifelhaft werden, ob zwei Menschen in Wahrheit ein und denselben Gegenstand in der Zeit wahrnehmen, wo sie davon naiv überzeugt sind, zumal wenn einer z.B. eine rote Kugel und der andere eine graue sieht? Gewiß, der den Standpunkt der psychophysiologischen Erkenntnistheorie vertretende kritische Realist wird antworten: Das gestellte Problem läßt sich positiv entscheiden, sofern nur jene Kugel in beiden Wahrnehmungen dieselben primären Qualitäten darbietet. Wenn sich die von zwei Menschen gesehene Kugel mit derselben Gestalt darstellt, wenn die Person A sie in der Hand hält und der Person Β reicht, die sie wiederum in der Hand hat und mit dem Tastsinn dieselbe Gestalt, dieselbe Größe und Undurchdringlichkeit feststellt: dann dürften wohl die beiden einig werden, daß sie es mit einer Kugel zu tun haben, und niemand wird das in Zweifel ziehen, obwohl sie einem von ihnen grau und dem anderen rot vorkommt. Ungeachtet der scheinbaren Evidenz dieser Argumentation läßt sich das Problem nicht so leicht erledigen. Der kritische Realist hat zwar das Recht, sich in diesem Fall auf die primären Qualitäten wahrgenommener Dinge zu berufen, denn das entspricht seinem Standpunkt, er setzt jedoch damit in eins die Richtigkeit seines Standpunkts voraus. Indessen muß diese Behauptung [zum einen] sowohl im besonderen Fall als auch allgemein begründet werden und dies unabhängig von der Begründung der NichtObjektivität sinnlicher Wahrnehmungen hinsichtlich der sekundären Qualitäten; und zum anderen muß man erwägen, ob die Tatsache, daß zwei Menschen etwas mit den gleichen primären Qualitäten wahrnehmen, für sich genommen schon genügt, um die Identität dieses von ihnen wahrgenommenen Dinges gelten zu lassen.

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

Nun müssen wir - ohne zuerst zu entscheiden, ob im Rahmen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie der positive Teil des kritischen Realismus korrekt zu begründen ist - in Übereinstimmung mit Berkeley feststellen, daß die primären Qualitäten in der sinnlichen Wahrnehmung immer in so enger Verbindung mit den sekundären Qualitäten auftreten, daß man die einen von den anderen weder realiter noch in der Wahrnehmung abtrennen kann. 43 Gewiß, die Gestalt einer Kugel ist nicht ihre Farbe, doch diese Gestalt erkennen wir visuell anhand gewisser Eigenschaften der Färbung der gegebenen Kugel, an ihrer Ausdehnung, an der Verteilung der "Lichter" und "Schatten" und der verschiedenen Abschattungen "derselben" Farbe innerhalb eines gegebenen Farbenflecks, und schließlich an gewissen Eigenschaften von ihnen, von denen ihre Lokalisierung im Raum abhängt und auf die D. Katz in seiner Unterscheidung von "Oberflächenfarben", "Flächenfarben" und "Raumfarben" hingewiesen hat. 44 Solange wir glauben, daß die in der Gesichtswahrnehmung gegebenen Farben der Dinge deren Eigenschaften sind, hindert uns die Verknüpfung der Farben mit der Gestalt nicht nur gar nicht daran, daß wir die Gestalt als eine Eigenschaft der Dinge anerkennen, sondern sie trägt sogar ihrerseits dazu bei. Wenn wir aber mit dem kritischen Realismus behaupten, die gesehenen Farben seien nur "subjektive Erscheinungen" (und in der Sprache der psychophysiologischen Erkenntnistheorie heißt das soviel wie "Inhalte", die eine Komponente des Wahrnehmungserlebnisses ausmachen), dann haben wir mit Rücksicht auf den engen Zusammenhang der Gestalt eines Dinges mit seinen Farben konsequenterweise zuzugeben, daß auch die gesehene Gestalt des Dinges nicht seine Eigenschaft, sondern ebenso ein "Inhalt", d. h. eine Komponente eines Erlebnisses einer Person ist. Oder umgekehrt: Die "Objektivität" der primären Qualitäten und deren offenkundiger, enger Zusammenhang mit den sekundären Qualitäten würde uns dazu zwingen, uns für die "Objektivität" auch der letzteren Qualitäten, insbesondere der Farben auszusprechen. Die deutliche Lokalisierung der Oberflächen-

43

Vgl. G. Berkeley, Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Leipzig

44

Vgl. D. Katz, Die Erscheinungsweisen der Farben und ihre Beeinflussung durch die indivi-

1917. duelle Erfahrung, Leipzig 1911 (Zeitschrift f. Psychologie und Physiologie d. Sinnesorgane, Erg. Bd. [7]). Vgl. auch W. Schapp, Beiträge zur Phänomenologie mung, Halle 1910.

der Wahrneh-

§12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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färben gerade auf der Oberfläche der gesehenen Dinge gibt jedenfalls zu denken und erweckt Zweifel daran, ob die These von ihrer "Subjektivität" haltbar ist. Geben wir jedoch zu, daß die Wahrheit und die Begründung des kritischen Realismus solange zur Diskussion stehen, wie man nicht weiß, ob die Farben "subjektive Erscheinungen" oder Eigenschaften materieller Dinge sind, [dann müssen wir auch zugeben, daß man auch so lange nicht weiß], ob die wahrgenommenen primären Qualitäten, insbesondere die Gestalt der Dinge, deren Eigenschaften sind oder nicht. Dann können wir uns auch nicht darauf berufen, daß uns gewisse primäre Qualitäten die Identität eines gleichzeitig von zwei Menschen wahrgenommenen Dinges verbürgen. Um so weniger, als die Gleichheit der in den Wahrnehmungen von zwei Menschen gegebenen Qualitäten uns auch deswegen für die Identität des wahrgenommen Dinges (unter diesen Bedingungen) keine Garantie gibt, weil es möglich ist, daß zwei verschiedene Dinge hinsichtlich ζ. B. der Gestalt genau gleich sind. Wie sollen wir aber zu wissen bekommen, daß die in den Wahrnehmungen von zwei verschiedenen Menschen gegebenen primären Qualitäten in manchen Fällen wirklich gleich sind? Ist diese Frage nicht ebenso schwierig zu entscheiden wie das ähnliche Problem bezüglich der sekundären Qualitäten? Es ist dabei wahrscheinlich, daß die von zwei verschiedenen Personen gesehene Gestalt eines Dinges, das diese Personen für dasselbe halten, gar nicht gleich ist, und auch [seine] Lokalisierung im Gesichtsraum kann unterschiedlich sein. Zwei verschiedene Menschen sehen doch "dasselbe" Ding am häufigsten von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus. Und um sich irgendwie zu überzeugen, daß sich das Ding an derselben Stelle befindet, muß man sich entweder auf Wahrnehmungen eines anderen "Sinnes" stützen, beispielsweise auf Tastwahrnehmungen, wenn das gegebene Ding gleichzeitig von zwei verschiedenen Personen angefaßt wird, oder aber die Person Β versucht, die zuvor von der Person A eingenommene Stelle einzunehmen und das gegebene Ding von "derselben" Stelle aus wahrzunehmen (zu sehen) wie A. Woran können wir jedoch erkennen, daß diese "Stelle" dieselbe ist, solange wir auf der "Subjektivität" der sekundären Qualitäten beharren? Wenn jedoch die Voraussetzung der Identität des Dinges, das - nach der Argumentation II - von einem Menschen als grau, von einem anderen als rot wahrgenommen wird, auf diesem Wege nicht zu begründen ist, dann kann man auch (sogar unter der Annahme, daß das tatsächliche Ergebnis des Expe-

116

//. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

riments eindeutig ist) nicht folgern, daß die Farben bloß "subjektive Erscheinungen" sind. Dieses Ergebnis ist aber - wie ich erwähnt habe - solange nicht eindeutig, als wir nicht die Sicherheit gewinnen, daß der Mensch, der auf dasselbe Häuflein verschiedenfarbige Baumwollegarnbündel sammelt, die ihm erteilte Aufforderung richtig verstanden hat und sie ausführen wollte. Eine unentbehrliche Bedingung für die Gewinnung dieses Verständnisses ist, daß der mutmaßliche Daltonist dieselben Wortlaute (oder dieselben graphischen Symbole) hört (oder sieht), die der Experimentator ausspricht oder schreibt. Wenn aber - in der betrachteten theoretischen Situation - der Identitätsnachweis der von zwei Perzeptoren gesehenen oder gehörten Dinge auf Schwierigkeiten stößt, dann ist es mindestens ebenso schwierig, die Identität der Laute "desselben" Wortes nachzuweisen. 45 Es scheint fast sicher, daß der Laut eines Wortes von der dieses Wort aussprechenden Person mit anderen Gehör"empfindungen" gehört wird als von der Person, die einer fremden Äußerung zuhört. Dieses Anderssein läßt sich vielleicht nicht leicht nachweisen, doch vom Standpunkt des kritischen Realismus aus, so wie er in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie vertreten ist, dürfte darüber kein Zweifel bestehen. Ist es also dann nicht ziemlich erstaunlich, daß die zwei Personen (die sprechende und die hörende) von der Identität der ausgesprochenen und gehörten Worte überzeugt sind, ja daß sie - wenigstens in den meisten Fällen - zur Verständigung über den identischen Sinn dieser Worte gelangen? Diese Tatsache scheint eher gegen die Richtigkeit des kritischen erkenntnistheoretischen Realismus in bezug auf die akustischen "Erscheinungen" zu sprechen. Wer sich der jetzt in Rede stehenden Argumentation [zugunsten] der "Subjektivität" der Farben bedient, der setzt, indem er sich auf die Identität der sprachlich mitgeteilten Aufforderung beruft, "die gleichen" Baumwollgarnbündel auszuwählen, tacite die Ungültigkeit des kritischen Realismus in bezug auf die akustischen "Erscheinungen" (Qualitäten) voraus; abgesehen schon davon, daß man nicht weiß, ob der Sinn dieser Aufforderung vom mut-

Ich sehe hier davon ab, daß im Falle des Wortlautes die Schwierigkeiten verhältnismäßig viel größer sind als in den betrachteten Fällen. Denn der Wortlaut erscheint zwar auf der Grundlage des akustischen Stoffes, so wie dieser in der Gehörwahrnehmung gegeben ist, stellt aber selbst eine typische Gestaltqualität dar, die über das konkrete akustische Material hinausgeht. Vgl. Das literarische Kunstwerk [Ingarden (1931a)], § 9 und Vom Erkennen des literarischen Kunstwerks [Ingarden (1968)], § 7.

§12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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maßlichen Daltonisten in genau gleicher Weise verstanden wird wie vom Experimentator. Infolgedessen ist das Ergebnis des Experiments bestimmt nicht eindeutig. Letzten Endes kann somit die zweite Argumentation nicht als frei von wesentlichen Mängeln angesehen werden. ad III. Die dritte Argumentation46 knüpft an eine experimentelle Situation an, die gleichsam eine Umkehrung deqenigen ist, von der die erste Argumentation ausgeht. Die jetzt naheliegenden Einwände sind in ihrem wesentlichen Kern die gleichen wie in den schon behandelten Fällen. Ich füge hier also nur deswegen gewisse Bemerkungen hinzu, weil manche Autoren die "paradoxe Kälteempfindung" für eine Tatsache halten, die auf recht einleuchtende Weise für die Richtigkeit des kritischen Realismus spreche.47 Um die Tatsache der "paradoxalen Kälteempfindung" sicher festzustellen und daraus Schlußfolgerungen zugunsten des kritischen Realismus ziehen zu können, muß man die folgenden Voraussetzungen als wahr erweisen:

46 47

Vgl. S. 83. [In der III. Redaktion (Ms.. S. 74-75) folgt nach diesem Absatz der später ausgelassene bzw. ausgefallene Text: "Gehen wir von einem Beispiel aus. Wir berühren mit dem Ende eines Drähtchens, das einmal eine Temperatur z.B. von 0° C, das andere Mal eine Temperatur von 40° C besitzt, dieselbe Stelle auf unserer Haut und 'empfinden' beidemal Kälte oder, genauer gesagt, fühlen uns durch einen gleich kalten Gegenstand berührt. (Dieses Experiment kann man an einer anderen Person oder auch an sich selbst durchführen. Ich beschränke mich auf den zweiten Fall, weil er weniger Schwierigkeiten bereitet.) Angesichts solcher Tatsachen wurde die psychophysiologische Theorie von den sogenannten 'Punkten der Kälte' und 'Punkten der Wärme', also von der Verschiedenheit der Sinnesorgane für die Kälte und für die Wärme gebildet, andererseits aber die These von der 'Subjektivität' der sogenannten Wärme- und Kälteempfindungen aufgestellt. Nach der Physik und der Psychophysiologie existieren also in der materiellen Wirklichkeit keine derartigen Qualitäten wie 'warm' oder 'kalt'; es existieren nur verschiedene Zustände der molekularen Bewegung, deren Eigenschaften und Gesetze die kinetische Wärmelehre festlegt. Diese Theorie stützt sich nicht nur auf die 'paradoxe Kälteempfindung', sondern auf eine viel größere Anzahl von empirischen Tatsachen. Wir werden jedoch weder diese Tatsachen besprechen noch den sachlichen und epistemologischen Voraussetzungen dieser Theorie nachgehen, denn unsere Aufgabe ist nicht nachzuweisen, daß diese oder jene physikalische Theorie falsch ist, ja nicht einmal, daß der kritische epistemologische Realismus falsch ist, sondern lediglich zu zeigen, daß dieser Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie nicht begründet werden kann. Wir beschränken uns nur auf die Betrachtung der als Beispiel angeführten Tatsache der 'paradoxen Kälteempfindung'."]

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//. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

1. in zwei verschiedenen Momenten besteht objektiv ein Unterschied der Temperatur eines Drähtchens, das eine Stelle an unserer Haut berührt, 2. diese Stelle ist bei den beiden Berührungen genau dieselbe, 3. der Zustand der Stelle auf der Haut und des damit verbundenen Sinnesorgans (der Nervenenden, der Körperchen Krauses usw.) ist in beiden Momenten der Berührung des Drähtchens mit der Haut genau der gleiche hinsichtlich der Eigenschaften, die das Funktionieren dieses Organs mit bestimmen (insbesondere [handelt es sich darum], daß er sich infolge der ersten Berührung nicht so verändert hat, daß diese Veränderung das Erscheinen der Kälteempfindung bei der zweiten Berührung verursacht). Es ist zu erwägen, wie man vom Standpunkt der psychophysiologischen Erkenntnistheorie aus die Wahrheit dieser Behauptungen nachweisen kann. Ein Unterschied der Temperatur zweier Körper läßt sich entweder mit Hilfe "subjektiver" Methoden, durch eine unmittelbare Berührung des untersuchten Körpers mit unserer Haut, oder unter Verwendung "objektiver" Methoden, durch eine Berührung eines Thermometers mit dem gegebenen Körper feststellen. 48 Bei Verwendung der subjektiven Methode müßten wir zugeben, daß wenigstens manche Berührungen des untersuchten Gegenstandes mit unserer Haut uns über die Temperatur des untersuchten Körpers richtig informieren. Dann wäre es schwierig, die These von der allgemeinen "Subjektivität" der Wahrnehmungen von Wärme und Kälte aufrechtzuerhalten. Die Verwendung des Thermometers aber führt zur Beobachtung ζ. B. der Quecksilbersäule, beruht also auf dem Prinzip der "Berufung auf andere Sinne", die uns schon bei den vorigen Argumentationsweisen begegnet ist und die zu den schon besprochenen Schwierigkeiten führt. Der Nachweis der Wahrheit der Voraussetzung 2 und 3 erweckt jedoch die gleichen Einwände, die wir schon bei der ersten und zweiten Argumentation besprochen haben. Man muß hier aber betonen, daß wir keine Möglichkeit haben, gleichzeitig physische Eigenschaften der Sinnesorgane sowie sich darin abspielende Prozesse zu beobachten und sog. Empfindungen zu erleben. Unser Wissen von Nervenprozessen ergibt sich aus gewissen Vermutungen, Nota bene könnten wir keine objektive Temperaturmessung mit Hilfe von Geräten konstruieren und im Sinne einer Messung ausgerechnet der Temperatur interpretieren, wenn wir nicht über die subjektive Methode verfügen würden. Wir sind aber heutzutage so gewöhnt, Geräte zu gebrauchen, daß wir das vergessen.

§12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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die wir bei der Untersuchung fremder Organismen (meistens von Tieren) aufstellen, indem wir diese den Reizen unterziehen, von denen wir vermuten, daß sie analoge "Empfindungen" auslösen wie diejenigen, die wir selber erleben. Daher ist die Voraussetzung, daß ζ. B. der Zustand der Körperchen Krauses (von denen wir vermuten, daß die darin vorgehenden Prozesse mit den Empfindungen von Wärme und Kälte in einem Zusammenhang stehen) infolge der ersten Berührung der Haut mit dem Drähtchen keine Veränderung erfahren hat, nur eine Vermutung, eine Hypothese, die vielleicht wahrscheinlich, sicherlich aber keine rein empirische Feststellung ist. Damit wir jedoch auf Grund des angeführten Experiments das Recht hätten, erkenntnistheoretische Schlußfolgerungen über die Wahrnehmung von warmen und kalten Dingen zu ziehen, müßten wir eine solche Garantie für die anatomische und funktionale Unveränderlichkeit des Organs haben, die sicher wäre und uns weder in den Fehler einer petitio principii noch in jenes sukzessive Rekurrieren von einem Sinn auf einen anderen verstricken würde. ad TV und V. 49 Ich beschränke mich auf die Besprechung der Argumentationen IV und V am Beispiel des Experiments von Fresnel. Der wesentliche Einwand gegen diese Argumentationsweisen, der hier naheliegt, ist sehr ähnlich wie die schon besprochenen Einwände. Die Situation, auf die er angewendet wird, ist etwas anders, denn sie umfaßt expressis verbis das Gebiet der physikalischen Tatsachen, die aufgrund der Erfahrung angenommen werden, selbst aber in der Erfahrung nicht gegeben sind. Die am Experiment von Fresnel anknüpfende Überlegung gliedert sich in zwei Teile ein: 1. physiko-physiologische Betrachtungen und 2. eine erkenntnistheoretische These. Der erste Teil enthält zwei prinzipiell verschiedene Unterteile: A. die Darstellung eines in der sinnlichen Wahrnehmung gegebenen Sachverhalts und Β. die Darstellung eines Sachverhalts, der nach der physikalischen Theorie in der materiellen Welt besteht. Wir werden sie nacheinander beschreiben. A. Der beim Experiment von Fresnel in der Erfahrung gegebene Sachverhalt: In dem vom Experimentator gesehenen Raum befinden sich: 1. zwei flache, rechteckige, dunkle Spiegel (oder ein Doppelprisma), die unter einem

49

Vgl. S.83 und 84.

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11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

stumpfen Winkel zueinander aufgestellt sind und die sich einander in einer gewissen Entfernung zu 2. einem weißen Bildschirm berühren, und zwar so, daß ihre Berührungslinie parallel zur Fläche des Bildschirms ist. Durch eine schmale Öffnung in 3. einem Vorhang, hinter dem sich 4. eine Lampe verbirgt, fallt ein Strahlenbündel, das sich als ein hellerer Streifen im Raum abzeichnet, so auf die Spiegel, daß ein Teil der Strahlen von dem einen und ein anderer von dem anderen Spiegel auf den Bildschirm zurückgeworfen wird. In dem durch die zwei Strahlenbündel beleuchteten Teil auf dem Bildschirm erscheint ein Muster von helleren und dunkleren Lichtstreifen, die parallel zueinander und zur Berührungslinie der beiden Spiegel sind. In demselben Raum, wo sich die beschriebene Erscheinung abspielt, befindet sich der Experimentator, der das alles und zugleich einen Teil seines Körpers sieht. Der eventuelle zweite Zeuge des geschilderten Experiments wird vom Experimentator ebenfalls gesehen. Die beiden sind überzeugt, daß sie dieselbe Erscheinung von Lichtstreifen auf dem Bildschirm sehen und diese einander zeigen können. Sie sind Zeugen des Entstehens dieser Erscheinung im Augenblick, in dem das Strahlenbündel emittiert wird, und deren Verschwindens, sowie die Lampe ganz verdeckt wird. Sie sehen auch - nach ihrer Überzeugung - dieselben Spiegel, denselben Bildschirm usw. Der in dem Experiment wahrnehmungsmäßig festgestellte Sachverhalt enthält ein unverständliches Detail, das eine Erklärung verlangt. Es ist die Tatsache, daß die Streifen auf dem Bildschirm an den Stellen erscheinen, die mit dem von beiden Spiegeln reflektierten Licht beleuchtet werden, wobei zwischen helleren Streifen dunklere vorkommen, und zwar solche, die auch dunkler sind als diejenigen Stellen des Bildschirms, die mit dem von nur einem Spiegel reflektierten Licht beleuchtet werden. Wie kann die Hinzufügung eines Lichts zu einem anderen eine Verdunkelung hervorrufen? Diese Frage wird von der Undulationstheorie des Lichts beantwortet, die nicht nur das Auftreten der Lichtstreifen, sondern auch eine Reihe von ihren Eigenschaften erklärt. Diese Antwort stellt jedoch den Sachverhalt bereits nach einer physikalischen Theorie dar, die übrigens auch auf andere Tatsachen Rücksicht nimmt. B. Der (vereinfachte) Sachverhalt nach Auffassung der physikalischen Theorie:

§12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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In einer großen Elektronen-Atom-Molekularwolke treten besondere Verdichtungen auf, die gewöhnlich zugleich Stellen einer beträchtlich verringerten Molekularbewegung und kinetischen Energie der Moleküle (Atome) sind. (Im Rahmen des Sachverhalts A werden diese Verdichtungen "Körper" genannt.) Sowohl innerhalb dieser Verdichtungen als auch zwischen ihnen - wo die Entfernungen der Atome voneinander unvergleichbar größer sind - finden unaufhörlich Bewegungen von Elektronen, Atomen und Molekülen statt, die verschiedenste Geschwindigkeiten, Bahnen und Beschleunigungen haben. Das gleichzeitige Stattfinden dieser Bewegungen führt zu gegenseitigen Modifikationen ihrer Geschwindigkeiten, Bahnen, Beschleunigungen. Strenggenommen gibt es nur resultierende Bewegungen, die die Resultate dieser gegenseitigen Angleichungen ausmachen. (Ich lasse hier chemische Prozesse außer Betracht, denn diese werden in dem beim Experiment von Fresnel ablaufenden Prozeß nicht berücksichtigt.) Unter den vielen Atomverdichtungen finden sich auch gewisse besondere Verdichtungen, die wir beim Sachverhalt A "menschliche Körper" nennen. Wir wissen nicht genau, was für Bewegungsprozesse (und sonstige Vorgänge) in diesen "Körpern" letzten Endes ablaufen. Höchstwahrscheinlich sind es jedoch all die, die sich auch außerhalb von ihnen abspielen. Wahrscheinlich obwohl nicht mehr mit dem gleichen Wahrscheinlichkeitsgrad - gibt es darunter keine, die sich im Prinzip nicht auch außerhalb dieser lebenden Körper abspielen könnten. Die letztere Behauptung wird nicht von allen akzeptiert, sie spielt jedoch in der Diskussion über das Experiment von Fresnel und seine Bedeutung für die erkenntnistheoretischen Entscheidungen keine Rolle. Unter den vielen bisher untersuchten interatomaren Bewegungsprozessen finden u.a. Sprünge von Elektronen von einer "Bahn" in eine andere statt. Ihre Folgen kommen aus dem Bereich eines Atoms heraus: Es erfolgt die Emission einer elektromagnetischen Welle, die - wenigstens nach der einen Konzeption - keine Bewegung eines "materiellen Teilchens" mehr ist. 50 Diese Welle pflanzt sich kugelförmig im Raum um das Atom fort und trifft darin auf die Wellen, die ihre Quelle in den in anderen Atomen verlaufenden Prozessen haben. Dieses Zusammentreffen zweier oder mehrerer Wellen im interatomaren

Ich bleibe hier bei der alten Undulationstheorie der hier verlaufenden Prozesse, denn nur diese Konzeption erklärt das Erscheinen der Interferenzstreifen auf dem Bildschirm.

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

Raum führt zu ihren gegenseitigen gesetzmäßigen Modifikationen, die in der Physik "Interferenz" genannt werden. Die Interferenzgesetze wurden anhand "materieller" Wellen in der makroskopischen Welt (strenggenommen: im Rahmen des Sachverhalts Λ) ermittelt und auf Prozesse in der submikroskopischen Welt (im Rahmen des Sachverhalts B) angewendet. Die emittierten Wellen stoßen u.a. auf die Atomverdichtungen und erfahren an deren "Grenze" unter gewissen Bedingungen eine besondere Modifikation: Vom ganzen Wellenbündel, das auf eine Atomverdichtung trifft, dringen manche Wellen in ihr Inneres ein und verlieren sich gleichsam darin. Die Physiker sagen, daß die Welle "absorbiert" wurde. Die anderen Wellen dagegen (was übrigens nicht immer stattfinden muß) ändern nur die Richtung ihrer Fortpflanzung und breiten sich, ohne ins Innere der gegebenen Atomverdichtung einzudringen, weiterhin in dem Teil der Atomwolke aus, in dem keine so starken Verdichtungen auftreten, bis sie auf andere Verdichtungen treffen, wobei oft eine ähnliche Modifikation der Wellen erfolgt wie vorher. Die Physiker sagen, daß die Welle vom gegebenen "Körper" "reflektiert" wurde. Die elektromagnetischen Wellen unterscheiden sich voneinander vor allem in ihrer Länge, die umgekehrt proportional zur Frequenz ihrer Schwingungen ist. Die Länge der Welle und deren Ausbreitungsweise machen es aus, ob und welche Wahrnehmungsgegebenheiten im Sachverhalt A erscheinen. So stellt sich in den wichtigsten Zügen die Theorie des Aufbaus der Materie und die Undulationstheorie des Lichts dar. In Anwendung auf die Situation aber, die beim Experiment von Fresnel vorliegt, erhalten wir den folgenden Sachverhalt: Wir haben eine sog. Lichtquelle, d. h. eine Atomverdichtung, deren Atome einige Zeit Wellenbündel mit einer bestimmten Länge (wenn das Licht homogen ist) oder mit bestimmten Längen (wenn das Licht heterogen ist) emittieren. Diese Wellen stoßen auf eine [andere] Atomverdichtung (den "Vorhang"), die eine ziemlich breite Lücke enthält, durch die ein Teil dieses Wellenbündels ohne Richtungswechsel auf die andere Seite dieser Verdichtung durchkommt und, sich in der Atomwolke weiterbewegend, auf eine weitere, besonders gestaltete Verdichtung (unter A: zwei Spiegel) trifft. An deren

§ 12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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"Grenze" 51 erfolgt eine solche Ablenkung der Wellen des gegebenen Bündels, daß bei ihrer weiteren Fortpflanzung im Raum ein Teil des Raumes mit zwei auseinandergehenden Wellen bedeckt ist, wodurch deren Interferenz stattfindet. Diese besteht darin, daß [einerseits] Stellen der gesteigerten Bewegung (der [gesteigerten] Stärke des elektromagnetischen Feldes) und [andererseits] Stellen entstehen, wo die zwei Wellenbewegungen" sich gegenseitig aufheben, d. h. Stellen, wo (im Hinblick auf die interferierenden Wellen) ein relativer Stillstand, eine Unbewegtheit (Nullstärke des elektromagnetischen Feldes) herrscht. Diese Stellen bilden in dem mit der Atomwolke ausgefüllten Raum gewisse parabolische dünne Schichten mit einer bestimmten Dicke - wechselweise eine Schicht der gesteigerten Bewegung und "Stärke" und eine Schicht der Unbewegtheit, der Nullstärke des Feldes. Wenn wir "quer" durch diese Schichten eine neue Atomverdichtung (den "Bildschirm") stellen, erfolgt eine neue Störung: Manche Wellen werden durch diese Verdichtung absorbiert, andere reflektiert. Die reflektierten Wellen bewegen sich weiter im Raum, aber schon in jenem Schichtensystem. Wenn wir schließlich diesen reflektierten Wellen noch eine weitere Atomverdichtung mit einer bestimmten Auswahl von Atomen und darin ablaufenden interatomaren Prozessen ("den lebenden Körper des Experimentators") in den Weg stellen, und zwar so, daß die reflektierten Wellen in einen besonderen Teil dieses Körpers eindringen (der unter A "Auge" und genauer "Netzhaut" genannt wird), kommt es in diesem Teil zu Prozessen, deren Natur uns näher nicht bekannt ist und die man gewöhnlich photochemische oder photoelektrische Prozesse nennt. Diese Prozesse, die über die (unter A) sogenannten "Nerven" auf weitere Teile jener Atomverdichtung übergehen, gelangen schließlich zu einem (unter A) "Nervenzentrum", in dem sie weitere, uns wiederum nicht näher bekannte materielle Prozesse auslösen. Und danach weiß man nicht mehr, was und ob überhaupt etwas im System Β geschieht. Man weiß nur, daß in gewissen Fällen, wenn der im System A betrachtete Experimentator "wach" ist - was übrigens mit Hilfe der Begriffe dieses Systems A nicht

Ich gebrauche Anführungszeichen, um anzudeuten, daß eine derartige Atomverdichtung streng genommen keine scharfe "Grenze" hat. Es erstreckt sich nur "um" die Verdichtung eine Zone, in der ziemlich starke Unterschiede in der Dichte der Atome und Moleküle bestehen, und zwar beträchtliche Unterschiede, wenn man "quer" durch diese Zone geht, und verhältnismäßig geringe "längs" dieser Zone.

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11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

mehr bestimmt ist, was wir aber in der Praxis dennoch verstehen - , noch etwas anderes eintritt, was gegenüber den bisher beschriebenen Prozessen sowohl im System A als auch im System Β ganz neu und andersartig ist: Der Experimentator "sieht" den Bildschirm und dessen Umgebung, und auf dem Bildschirm sind ihm sog. Interferenzstreifen gegeben, wie sie unter Λ beschrieben wurden. Bei diesem Sehen haben wir es einerseits mit dem zu tun, was dem Experimentator gegeben ist, andererseits erfolgt noch das "Sehen" selbst, wobei das eine wie das andere - nach der Psychophysiologie - durch die sich in Nervenzentren abspielenden materiellen Prozesse und mittelbar durch die vom Bildschirm reflektierten Lichtwellen verursacht werden soll. Da diese Wellen im Experiment von Fresnel nach dem Vollzug der Interferenz zum "Auge" gelangen, müssen "vor dem Augenhintergrund" gestreifte Stellen erscheinen, an denen photochemische Prozesse vor sich gehen, und dazwischen andere gestreifte Stellen, wo entweder gar keine Prozesse stattfinden, die durch die vom Bildschirm reflektierten ins Auge fallenden Wellen verursacht würden, oder wo diese Prozesse abgeschwächt sind. Da aber - nach den allgemeinen Voraussetzungen der Psychophysiologie - den stattfindenden photochemischen Prozessen die "Lichtempfindungen" und dem Fehlen solcher Prozesse die "Empfindungen" der Dunkelheit (eventuell der schwarzen Farbe) entsprechen, so wird es dadurch verständlich, warum nach der Kreuzung zweier Lichtbündel (elektromagnetischer Wellen mit einer entsprechenden Länge) auf dem Bildschirm helle und dunkle Streifen erscheinen - natürlich unter Berücksichtigung der sonst noch bekannten Gesetze bezüglich der "optischen Dunkelkammer". C. Die erkenntnistheoretische These: Da in der "materiellen" Wirklichkeit (d. h. im Sachverhalt B) dann, wenn wir gewisse farbige Dinge (in diesem Fall - im Sachverhalt A - den mit Interferenzstreifen bedeckten Bildschirm) sehen, ein Vorgang von interferierenden Wellen stattfindet, die zum Auge gelangen und in diesem entsprechende photochemische Prozesse auslösen, in der Gesichtswahrnehmung hingegen Farben, Lichter und Schatten da stehen als angebliche Merkmale der Dinge oder wenigstens als solche, die (wie jene Streifen, die wir in der Erfahrung dem Bildschirm selbst nicht zuschreiben) "auf der Oberfläche" der Dinge erscheinen: deshalb ist die Gesichtswahrnehmung hinsichtlich der Farben, Lichter

§12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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und Schatten nicht objektiv, und die Farben, Lichter und Schatten als angebliche Merkmale der Dinge sind bloß "subjektive Erscheinungen". Kritische Bemerkungen. Bedenken wir zuerst: Der ganze Sachverhalt Β wird vom Experimentator nicht wahrgenommen, sondern von ihm nur gedacht oder höchstens mit Hilfe gewisser Ersatzvorstellungen mehr oder weniger veranschaulicht. Wie verhalten sich aber die beiden Sachverhalte A und Β zueinander? Ihr Verhältnis hat gleichsam zwei Gesichter: Es stellt sich anders dar, wenn wir - im Besitz von Α - Β erst suchen, als wenn Β schon aufgefunden ist. Im ersten Fall ist A in der Erfahrung gegeben und gilt in ihrem Rahmen als ein Wirkliches, während Β bloß gedacht ist und aus den innerhalb von Β gegebenen Tatsachen erschlossen und zur Erklärung gewisser sonderbarer, ja sogar unverständlicher Tatsachen innerhalb von A hypothetisch angenommen wird. Der Sachverhalt Β ist also im Verhältnis zu A abgeleitet. Im zweiten Fall dagegen wird der Sachverhalt Β als wirklich anerkannt52, und

Man weiß nicht, ob alle Physiker bzw. die den Sinn und die Funktion der physikalischen Theorie interpretierenden Philosophen damit einverstanden wären, daß der durch die physikalische Theorie behauptete Sachverhalt Β "wirklich" sei und als solcher zur "Erklärung" der in der sinnlichen Erfahrung im Sachverhalt A gegebenen Tatsachen dienen soll. So sind z.B. einige englische, von Maxwell stammende Physiker geneigt zu behaupten, daß der Sachverhalt Β nur ein sog. "Modell" dessen sei, was sich "in Wirklichkeit" abspiele. Es ist jedoch dabei nicht leicht zu befinden, was man hier "Wirklichkeit" nennt und wofür das "Modell" nur ein "Modell" ist: für den Sachverhalt Λ oder auch für einen viel genauer und wenn man so sagen darf - "wahrer" ausgearbeiteten Sachverhalt B. Andere Physiker, z.B. Duhem, behaupten, daß der Sachverhalt der physikalischen Theorie nur als eine "symbolische Darstellung" der anhand der Erfahrung gewonnenen experimentellen Gesetze dienen soll, eine "Darstellung", die in hohem Grade von der Wahl der grundlegenden Hypothesen der gegebenen physikalischen Theorie abhängig ist. Einen bis zu einem gewissen Grad verwandten Standpunkt vertritt z.B. Poincaré. Ich vergesse weder diese Tatsache, noch daß in manchen Kreisen von Physikern und positivistischen Philosophen die soeben angeführten Ansichten als die einzig "wissenschaftliche" Interpretation der Physik gelten, während die hier in meinen Betrachtungen zugrundegelegte Ansicht als "veraltet" angesehen wird. Wenn ich trotzdem die These anführe, daß der Sachverhalt Β der physikalischen Theorie a) als Wirklichkeit anerkannt und b) zur Erklärung der im Sachverhalt A gegebenen Tatsachen angenommen wird, so tue ich das nicht nur deswegen, weil auch heutzutage diese These auch sehr namhafte Physiker und Philosophen vertreten, sondern vor allem deswegen, weil nur bei diesem Standpunkt eine Interpretation der Physik vorliegt, die mit dem kritischen Realismus in Einklang steht. Die letztgenannten Ansichten dagegen, die übrigens noch eine genauere Deutung erfordern, tendieren im allgemeinen zum Idealismus dieser

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

obwohl er weiterhin nur erschlossen und gedanklich vorgestellt wird, wird der Sachverhalt A im Verhältnis zu ihm abgeleitet, und zwar im Sinne der genetisch-kausalen Abgeleitetheit. Er hört auf, ein Wirkliches innerhalb der materiellen Welt zu sein, und wird zu einer bloß "subjektiven Erscheinung" und - wie die Psychophysiologen meistens behaupten - zu einem Teil des psychischen Wahrnehmungsprozesses, der sich nota bene aus den in Β ablaufenden Prozessen nie im Ganzen herleiten läßt. Trotz dieser Umkehrung des Verhältnisses Β zu Λ bleiben die Gegebenheiten der Erfahrung (also A) für den experimentierenden Physiker in irgendeinem Sinne bestehen und behalten für ihn den Charakter der Wirklichkeit, und zwar nicht nur in seinem praktischen Leben, sondern auch dann, wenn er sich mit wissenschaftlicher Arbeit beschäftigt und an die physikalische Theorie glaubt oder auch nur sich bemüht, daran zu glauben. 53 Würden die Interferenzstreifen nicht auf dem Bildschirm auf-

oder jener Art. Nota bene, man darf noch eine andere kennzeichnende Tatsache nicht außer acht lassen, daß nämlich ohne Rücksicht darauf, wie sich die allgemeinen philosophischen Interpretationen der Physik darstellen, die speziellen Abhandlungen und streng physikalischen Bücher und besonders die wissenschaftlichen Physiklehrbücher fast ohne Ausnahme in der Interpretation des kritischen Realismus geschrieben werden. Man kann noch mehr sagen: Jede einzelne physikalische Forschung wird von vornherein

in der Annahme

geführt, der kritische Realismus sei wahr. Es ist dies eine Konzeption, die sich unter den Physikern sozusagen dermaßen "eingebürgert" hat, daß sie ihre ganze, in der wissenschaftlichen Praxis gebrauchte Begriffsapparatur dieser Ansicht angepaßt haben. Andererseits scheinen aber die den kritischen Realismus vertretenden Erkenntnistheoretiker diese Tatsache gleichsam zu vergessen und berufen sich zur Begründung ihres Standpunkts auf die Ergebnisse der Physik, als ob die letzteren ganz unabhängig von dieser oder jener erkenntnistheoretischen Ansicht gewonnen worden wären. Sie bringen dadurch den Schein der Konvergenz zwischen der Physik und der psychophysiologischen Erkenntnistheorie hervor, der nicht vorhanden wäre, wenn die physikalischen Forschungen in einer den Standpunkt des kritischen Realismus nicht vorentscheidenden Sprache beschrieben würden. 53 Noch mehr: Kommt es zu einem Konflikt zwischen Konsequenzen der physikalischen Theorie und Gegebenheiten der sinnlichen Wahrnehmung, dann muß die Theorie eine Modifikation erleiden. Das geben nicht nur die realistisch eingestellten Physiker und Methodologen der Physik zu, sondern sogar die "Konventionalisten" von der Art des soeben erwähnten Duhem. Duhem drückt sich in seinen Büchern oft so aus, als ob die Wirklichkeit nur das wäre, was in der sinnlichen Erfahrung gegeben ist. Man darf jedoch nicht vergessen, daß die Redeweise dieses Autors nicht immer präzis ist und daß sein Standpunkt eine

§ 12. Kritik der Begründung

des kritischen

erkenntnistheoretischen

Realismus

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treten, dann entstünde nicht die Aufgabe, sie mit Hilfe der Undulationstheorie des "Lichts" zu erklären, und eine der faktischen empirischen Grundlagen dieser Theorie wäre nicht vorhanden. Ja der experimentierende Physiker muß anerkennen, daß zwischen der dem Bildschirm "eigenen" Farbe und der Farbe, die darauf infolge davon erscheint, daß zwei Bündel von miteinander interferierenden Lichtstrahlen darauf geworfen werden, ein Unterschied besteht. Er tut das aber im Zusammenhang mit dem Verlauf des Experiments von Fresnel selbst, indem er erstens zeigt, wie die Streifen entstehen, nachdem die Quelle von interferierenden Lichtstrahlen eingeschaltet wurde, aus dem Bildschirm verschwinden, wenn man diese Lichtquelle ausschaltet, und indem er zweitens etwa demonstriert, wie sich die Breite der Streifen je nach Wellenlänge der im Experiment gebrauchten Lichtquelle verändert - und zwar in beiden Fällen bei demselben nicht veränderten Bildschirm. Somit muß er auch zugeben, daß die dem Bildschirm "eigene" Farbe mit diesem irgendwie besonders eng verbunden ist (ebenso wie die dem Spiegel und anderen Dingen, die am Experiment teilnehmen, eigenen Farben). In der experimentellen Praxis ist der Bildschirm für den Physiker einfach ζ. B. weiß. Seine Geräte bei der Veranstaltung des Experiments wahrnehmend, traut der Physiker seiner Wahrnehmung; er glaubt also, ohne darüber nachzudenken, sie informiere ihn richtig über die Dinge, mit denen er experimentiert. In zweifelhaften Fällen aber, wo es ihm besonders daran gelegen ist, daß das Experiment "gelingt", prüft er nach, ob alles so ist, wie es sein Experiment erfordert, und er führt diese Nachprüfung nicht anders durch, als daß er die in Betracht kommenden Dinge aufmerksam wahrnimmt. Er glaubt offensichtlich, daß ihn die Wahrnehmung nicht irreführen werde, sofern er nur selbst aufmerksam genug sei. Indessen erklärt ihm der psychophysiologisch eingestellte Erkenntnistheoretiker, das alles sei nur ein besonderer Schein, eine konsequente, gesetzmäßige, genetisch bedingte Illusion. Diese Ansicht ist zwar übereinstimmend mit der physikalischen Theorie, doch zugleich unverträglich mit der alltäglichen natürlichen Erfahrung. Und umgekehrt, jene Erfahrung

eindringliche interpretative Untersuchung erfordert, damit er eine eindeutige und allseitig geklärte Gestalt annehmen kann.

128

//. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

scheint mit den Ergebnissen der physikalischen Theorie und mit der erkenntnistheoretischen These nicht übereinstimmend zu sein. Ist aber diese Nichtübereinstimmung notwendig? Muß der Physiker tatsächlich seinen Wahrnehmungen darin trauen, daß sie ihn in bezug auf das, was in Wirklichkeit besteht, nicht täuschen? Muß er, mit anderen Worten, tacite die Objektivität der Gesichtswahrnehmung hinsichtlich der "primären" Qualitäten voraussetzen? Verneinen wir das aber, dann fragt es sich, wie der Physiker nachprüfen kann, daß sich im Raum tatsächlich befinden: eine Lampe, die Lichtstrahlen von einer bestimmten Länge entsendet, zwei Spiegel, die in einem bestimmten Winkel zueinander geneigt sind, ein im Raum entsprechend aufgestellter Bildschirm usw. Denn wenn er seinen Gesichtswahrnehmungen nicht trauen soll, darf er von ihnen bei der Feststellung der wirklichen Bedingungen des Experiments keinen Gebrauch machen. Wie kann er anders verfahren? Wenn er aber keine Sicherheit hat, daß diese Bedingungen wirklich bestehen, dann entfällt die empirische Grundlage für die Annahme der Tatsache, daß die Interferenz der Wellen stattfindet, und damit auch die Grundlage dafür, die "Erscheinung" der Streifen auf dem Bildschirm zu erklären. Man kann zwar sagen, der Physiker solle die 7asrwahrnehmung gebrauchen; doch das bedeutet - wie wir schon wissen - nur eine Verschiebung des Problems auf die Ebene einer anderen Wahrnehmung, wobei die Tastwahrnehmung - nach dem kritischen Realismus selbst - weder täuschungsfrei ist noch sich durch irgendwelche Merkmale auszeichnet, die sie im Hinblick auf die Objektivität besonders günstig von anderen Wahrnehmungen unterscheiden würden. Bei diesem Sachverhalt scheinen nur zwei - uns schon bekannte - Auswege aus dieser Schwierigkeit offen zu bleiben: entweder 1. können wir annehmen, daß die Gesichtswahrnehmung, obgleich nicht objektiv in Hinsicht auf die darin gegebenen Farben und Lichter, hinsichtlich der primären Qualitäten und speziell der gesehenen Gestalten objektiv ist, oder wir können auch 2. an die Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung zwischen den Eigenschaften materieller Dinge an sich und den uns in der Wahrnehmung gegebenen Qualitäten (Farben u. dgl.) appellieren. Die erste Vermutung läßt sich aber in der betrachteten Situation weder verwerten noch sogar - wie man aus den früheren Überlegungen ersieht - streng aufrechterhalten. Weitere Argumente dafür wird uns unsere Besprechung der Begründung der positiven These des

§12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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kritischen Realismus von der Objektivität der Sinneswahrnehmungen hinsichtlich der primären Qualitäten liefern. Jetzt sei nur folgendes bemerkt: Soll es in Wahrheit möglich sein, sich in den erkenntnistheoretischen Betrachtungen auf die (unter Β angegebenen) Sätze der physikalischen Theorie zu berufen, dann kann man nicht an der These festhalten, daß die in der Wahrnehmung gegebenen Qualitäten den materiellen Dingen zukommen. Denn der ganze Sachverhalt Β ist derart, daß die räumlichen Eigenschaften - nicht die wahrgenommenen, sondern die den Dingen in der physikalischen Auffassung Β zugeschriebenen - von den in der Wahrnehmung gegebenen primären Qualitäten im gleichen Maße verschieden sind, in dem sich die sekundären Qualitäten von anderen Eigenschaften der Dinge unterscheiden. "Es gibt" doch z.B. keine glatte, flache Oberfläche von Spiegeln, sondern nur eine Wolke oder Verdichtung von Atomen (oder Molekülen). Diese bilden zwar dank zwischen ihnen bestehenden Kräften einen "Festkörper" im Verständnis der Physik, der aber zugleich zwischen den Atomen (oder Molekülen) - wenn man so sagen darf - voll von leerem Raum ist. Und an Stelle der "glatten Oberfläche" tritt die äußere Schicht der Atome (Moleküle) jenes "Festkörpers", die der äußeren Schicht eines Bienenschwarms ähnelt. Von der Gestalt eines "Festkörpers" kann man nur in einer sehr unvollkommenen Annäherung sprechen. Wenn man also die fertige physikalische Theorie auf das Problem der Objektivität der Gesichtswahrnehmung anwendet, gelangt man zur These von deren NichtObjektivität sowohl hinsichtlich der Farbe wie der Gestalt oder allgemeiner: der räumlichen Eigenschaften der gesehenen Dinge. Wenn man dagegen diese Theorie durch die in der Erfahrung gegebenen Tatsachen begründet, muß man die Objektivität der Gesichtswahmehmung voraussetzen, und zwar vor allem deren Objektivität hinsichtlich der primären Qualitäten, aber auch hinsichtlich der sekundären Qualitäten, insbesondere hinsichtlich der Farben, sofern es sich um die den Dingen "eigenen" Farben handelt, um die Farben, an denen diese wiedererkannt werden; dies natürlich im Falle, daß die Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung der Wahrnehmungsgegebenheiten und der Eigenschaften der "Festkörper" und Prozesse im Verständnis der Physik diese Schwierigkeit nicht beseitigt. Die Anwendung dieser Hypothese bereitet jedoch neue Schwierigkeiten. Sie hat zwar einen solchen Inhalt, daß sie als einen Spezialfall die Objektivität der Wahrnehmung im Sinne der Voraussetzung III 4 zuläßt; sie läßt aber auch

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

als einen anderen Spezialfall [die Möglichkeit] zu, daß die Wahrnehmung nicht objektiv ist. Im ersten Fall wären die einander zugeordneten Glieder der beiden Mengen von "Tatsachen" (aus dem System A und aus dem System B) "gleich" (und zwar sowohl in ihrer Materie - Qualität - wie in ihrer Form). Im zweiten Fall dagegen würden sie sich voneinander unterscheiden (die einen wären beispielsweise Farben, die anderen "Wellen", wobei auch eine formale Verschiedenheit bestünde: In A /hätten wir] die (konstante) Form der Eigenschaft eines Dinges, in Β die des Prozesses (der "Welle"). In der Praxis des Argumentierens setzt man diese Hypothese gerade deswegen ein, weil man die Objektivität der Wahrnehmung im Sinne der Voraussetzung III 4 verneint oder auch weil man diese Voraussetzung selbst verwirft und an ihre Stelle einen anderen Begriff der Erkenntnis (bzw. der Objektivität) einführt oder schließlich deswegen, weil man der Ansicht ist, daß sich bei dem in der Voraussetzung III 4 angegebenen Erkenntnisbegriff nicht nachprüfen läßt, ob ein bestimmter Erkenntnisverlauf (ζ. B. eine bestimmte Gesichtswahrnehmung) uns zu einer [effektiven] Erkenntnis führt oder nicht. Die auf diese Weise angewendete Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung wird demnach so eng verstanden, daß die Glieder, die gemäß dieser Hypothese einander eineindeutig zugeordnet sein sollen, nicht einmal genau gleich sind, geschweige denn identisch. Im ersten der unterschiedenen Fälle ihrer Anwendung befinden wir uns gerade in derselben Situation wie dann, wenn wir unter Berufung auf die physikalischen Ansichten, die sich u. a. auf das Experiment von Fresnel stützen, einfach die NichtObjektivität der Gesichtswahrnehmung feststellen. Dann entgehen wir nicht dem Widerspruch zwischen der These des kritischen erkenntnistheoretischen Realismus und den Voraussetzungen der zu dieser These führenden Argumentation. Im zweiten Fall müßten wir die Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie auf wesentliche Weise verändern. Das ist natürlich nicht ausgeschlossen - wir zielen doch hier letzten Endes darauf ab, die Erkenntnistheorie unter irgendwelchen anderen Voraussetzungen zu betreiben. Doch dies bedeutet zunächst nur soviel, daß der Standpunkt der psychophysiologischen Erkenntnistheorie aufzugeben und ein anderer Standpunkt einzunehmen ist. Dadurch beheben wir somit die auf dem Boden dieser Theorie entstandene Schwierigkeit nicht, sondern bestätigen gerade ihre Unbehebbarkeit. Später werde ich übrigens noch eigens erwägen, wie sich die Aussichten darstellen, das Problem der Objektivität der

§12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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sinnlichen (visuellen) Wahrnehmung unter einer veränderten Voraussetzung III 4 und zugleich unter Beibehaltung der übrigen Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie zu einer konsequenten Lösung zu bringen. Im dritten Fall würden wir endlich - angesichts der angeblichen Unnachprüfbarkeit der Objektivität der visuellen (allgemeiner: sinnlichen) Wahrnehmung - bei der Begründung der philosophischen Theorie das Vorhandensein einer eineindeutigen Zuordnung annehmen; bei der Anwendung der physikalischen Theorie auf das Objektivitätsproblem würden wir dagegen letzten Endes die NichtObjektivität der Wahrnehmung im Sinne der Voraussetzung III 4, mithin eine (sei es auch nur mittelbare) Nachprüfbarkeit des Nichtvorhandenseins der Objektivität dieser Wahrnehmung einräumen. Wenn aber schon das Problem der Nachprüfbarkeit der Objektivität der Wahrnehmung berührt wird - wie ist es denn mit der Nachprüfbarkeit der Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung der Gegebenheiten der Gesichtswahrnehmung und der entsprechenden Eigenschaften einer Lichtwelle usw. selbst bestellt? Verfügen wir über Mittel, die uns unabhängig von der Gesichtswahrnehmung diejenigen Eigenschaften der Lichtwelle zeigen können, die gewissen speziellen visuellen Gegebenheiten, beispielsweise der Breite der Interferenzstreifen, zugeordnet sein sollen 54 (bzw. die Veränderungen der Eigenschaften der Lichtwelle den Veränderungen der Eigenschaften der Interferenzstreifen)? Eine rein begriffliche Bestimmung der ersteren läßt sich den Wahrnehmungsgegebenheiten bzw. den zwischen diesen ablaufenden Veränderungen gedanklich zuordnen, wenn man im voraus annimmt, daß der "Stillstand" (das Minimum der Feldstärke) dem "Schatten" auf dem Bildschirm entspricht. Strenggenommen läßt sich diese Hypothese und diese ganze Zuordnung [erst] nach der Feststellung einer anderen Zuordnung einsetzen, nämlich [einer Zuordnung] im Rahmen des Systems A zwischen dem Auftreten: a) der Interferenzstreifen, b) eines bestimmten Winkels der Spiegel im Verhältnis zueinander und zum Bildschirm und c) [bestimmter] Eigenschaften der Lichtquellen, sowie nach der Feststellung einer Zuordnung zwischen den Veränderungen in (a) und den Veränderungen in (b) und in (c). Über diesen ganzen Gegebenheitskomplex im System Λ gehen wir nicht hinSo wie wir z.B. die Möglichkeit haben, Schwingungen von elastischen Medien beim Empfangen dieser oder jener Daten der Gehörswahrnehmung mit Apparaten indirekt zu registrieren.

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11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

aus und können darüber nicht hinausgehen. Würden wir uns damit begnügen, eine Zuordnung zwischen den innerhalb des Systems A bestehenden Tatsachen einfach festzustellen, dann wäre die Hypothese von der Existenz des Systems Β und die Einführung einer Zuordnung des Systems A zum System Β nicht nötig. Nur weil wir überzeugt sind, daß die Zuordnungen im Rahmen des Systems Λ - die zeitlich-räumlichen Zuordnungen und die Zuordnungen der (kausalen?) Abhängigkeit der einen Veränderungen in diesem System von den anderen - für sich allein uns nicht befriedigen, da manche von ihnen unverständlich scheinen, und weil wir im voraus annehmen, daß die Qualität des uns unmittelbar in der Wahrnehmung gegebenen Lichts keine echte Wirklichkeit ist: [nur daher] sehen wir uns genötigt, ein begrifflich geeignet bestimmtes System Β zu suchen. Ist also die ganze Lichttheorie im Sinne der Physik nicht im voraus so aufgebaut, daß eine gesetzmäßige Zuordnung zwischen entsprechend gewählten Eigenschaften eines hypothetisch angenommenen physikalischen Prozesses und Wahrnehmungsgegebenheiten festgelegt wird? Diese Zuordnung braucht schließlich nicht immer einen einfachen eineindeutigen Charakter zu haben, sie muß aber auf jeden Fall einem konstanten Gesetz unterliegen. Wie kann man sich also auf das Vorhandensein dieser Zuordnung für die Begründung der NichtObjektivität der Sinneswahrnehmung berufen, wenn sie im voraus mit Rücksicht auf die Gegebenheiten der Gesichtswahrnehmung begrifflich eingeführt und diesen Gegebenheiten angepaßt wurde, keinesfalls aber eine bloß empirische Feststellung einer Tatsache darstellt, die durch die Festlegung der zwei Reihen von bestehenden Sachverhalten - der Gegebenheiten der Gesichtswahrnehmung einerseits und der Phasen des physikalischen "Licht"prozesses andererseits - entdeckt wurde? Eine solche Tatsache müßten wir zur Kenntnis nehmen und könnten uns darauf berufen, um das erkenntnistheoretische Problem der Objektivität der Wahrnehmung so oder anders zu lösen. Für die Physik kann es schließlich gleichgültig sein, auf welche Weise diese Zuordnung statuiert wird, sofern nur im Rahmen des Systems Β letzten Endes alles stimmt und keine Widersprüche vorkommen. Tauchen Widersprüche auf, dann modifizieren wir die angenommenen Hypothesen und bemühen uns, die Theorie solange umzubilden, bis es uns gelingt, die mutmaßliche physikalische Wirklichkeit widerspruchsfrei zu bestimmen und zugleich - durch jene gesetzmäßige Zuordnung zwischen den Wahrnehmungsgegebenheiten und den angenommenen Eigen-

§ 12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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Schäften der Materie - die Schwierigkeiten (Unverständlichkeiten) im System A zu beheben. In den letzten Jahrzehnten konnten wir mehrfach beobachten, wie die Theorie infolge davon umgebaut wurde, daß in der Zuordnung zwischen den Wahrnehmungsgegebenheiten und angenommenen Eigenschaften der Lichtprozesse im Verständnis der Physik Ungesetzmäßigkeiten aufgetaucht sind. Es genügt hier, an die Divergenz zwischen den Ergebnissen des Experiments von Fresnel-Young und denjenigen des Effekts von Compton zu erinnern, auf den die Undulationstheorie des Lichts, die auf die Gegebenheiten des Experiments von Fresnel anwendbar ist, keine Anwendung findet. Man unternimmt verschiedene Versuche, die Divergenzen zwischen den beiden verschiedenen Lichttheorien konzeptuell zu vereinbaren (die Komplementaritätstheorie). Diese Versuche werden unternommen, weil wir nicht in der Lage sind, die zwei Reihen von Tatsachen - die Wahrnehmungsgegebenheiten einerseits und die physikalischen Tatsachen einer Welle oder der Bewegung eines Photons andererseits - erfahrungsmäßig zu konfrontieren. Über die ersten verfügen wir tatsächlich, die zweiten vermuten wir nur. Die Nachprüfbarkeit der Zuordnung ist in diesem Fall nicht besser oder in höherem Grade möglich als beim Versuch, die Vermutung von der Objektivität der Wahrnehmung nach der Voraussetzung III 4 nachzuprüfen. Deswegen aber stützt sich die erkenntnistheoretische These, die Gesichtswahrnehmung sei nicht objektiv, weil sie uns andere Gegebenheiten als die eigenen Eigenschaften der Lichtwellen darstelle, letztlich auf eine unmittelbar nicht nachprüfbare Hypothese einer eineindeutigen oder sonst gesetzmäßigen Zuordnung der einen [Tatsachen] zu den anderen und ist ebensowenig begründet oder nachprüfbar wie diese letztere. Unter diesen Bedingungen, bei einer solchen Argumentation kann man keine sichere Antwort auf die Frage nach der Objektivität der Gesichtswahrnehmung geben. Zum Schluß gibt es auch noch sachliche Bedenken, die Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung der hier in Frage kommenden Faktoren anzunehmen. Es sind Umstände vorhanden, die darauf hinweisen, daß zwischen Gegebenheiten der Gesichtswahrnehmung und angenommenen physikalischen Lichtprozessen vielmehr eine ein-vieldeutige Zuordnung obwaltet. Das sagen uns die Untersuchungen über die "Empfindlichkeitsschwelle", wo wir bei einer Vielheit von Eigenschaften des physischen "Reizes" dieselbe sinnliche "Empfindung" unterhalb der sog. relativen Empfindlichkeitsschwelle haben

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

oder auch wo wir in einem Bereich von Eigenschaften des physischen Reizes gar keine sinnliche "Empfindung" besitzen. In eine ähnliche Richtung gehen auch die Untersuchungen im Zusammenhang mit der Hypothese über die "spezifische Energie" der Sinne, der Hypothese, wonach gerade heterogene physikalische Prozesse homogene "Empfindungs"daten (genauer: Daten der entsprechenden Sinneswahrnehmungen) verursachen. Diese Umstände zeugen jedoch nur davon, wie große Vorsicht geboten ist, falls man sich auf die in Rede stehende Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung beruft, wenn man die erkenntnistheoretischen Sätze über Gesichtswahrnehmungen unter Heranziehung gewisser physikalischer Tatsachen begründet. ad VI. Diese Argumentation 55 stützt sich strenggenommen auf die schon besprochenen Argumentationsweisen. Denn nur wenn wir aufgrund der letzteren die Verschiedenheit der sog. sinnlichen "Empfindungen" von den nicht wahrgenommen, sondern bloß konzeptuell bestimmten Eigenschaften der materiellen Dinge annehmen, kommen wir zum Schluß, daß die Sinnesorgane nur "Transformatoren" der qualitätslosen physischen Reize in sinnliche Qualitäten sind. Wer jene Argumentations weisen als unbefriedigend beurteilt, der sollte auch nicht anerkennen, daß die Argumentation VI zu unserem Problem etwas ganz Neues und Unzweifelhaftes beitrage. Dabei basiert - was zu betonen ist - jede Berufung auf die physiologischen Prozesse, die in unseren Sinnesorganen ablaufen, entweder auf der Voraussetzung der Objektivität der sinnlichen Wahrnehmungen, von denen uns die Sinnesorgane anderer Menschen (bzw. Leichen) dargeboten werden, oder auch auf der Hypothese einer eineindeutigen Zuordnung der Eigenschaften der physischen Reize und der in der sinnlichen Wahrnehmung gegebenen Qualitäten der Dinge. Das eine wie das andere führt aber zu den schon besprochenen Schwierigkeiten. ad VII. Die These von der begrenzten Wahrnehmbarkeit der physischen Prozesse schränkt nur - wie es auf den ersten Blick scheint - den Bereich der in unseren Sinneswahrnehmungen unmittelbar erkennbaren Gegenstände ein, sie tangiert aber nicht die Objektivität der Wahrnehmungen, die wir tatsächlich besitzen. 56 Bei ihrer näheren Analyse jedoch, und zwar im Zusammen55 56

Vgl. S. 84. [In der III. Redaktion folgt hier der Text: "Hat man diese These angenommen, dann kann man nicht behaupten, die materielle Welt sei nach allen ihren Eigenschaften so, wie sie sich uns in den uns zugänglichen Wahrnehmungen darstellt. Das schließt jedoch nicht aus, daß

§12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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hang mit der zweiten Einschränkung des kritischen Realismus, wird es deutlich, daß sie auch zu einem speziellen Fall der NichtObjektivität der Sinneswahrnehmung führt. Die materiellen Prozesse, welche die Grenzen der Wahrnehmbarkeit gewisser durch einige "Sinnes"organe gewonnener Daten überschreiten sollen, verraten ihre Existenz gleichsam indirekt im Bereich der uns wahrnehmungsmäßig gegebenen Tatsachen: Es treten nämlich in diesem Bereich gewisse "Erscheinungen" auf, welche die Physik veranlassen, die Existenz jener uns direkt nicht gegebenen Tatsachen zu setzen. Zum Beispiel: Beim Einwirken von ultravioletten oder infraroten Strahlen auf das Auge (Fallen auf die Netzhaut) nehmen wir die sozusagen ihnen "entsprechenden" Farben nicht wahr (abgesehen von einem Ausnahmefall, von dem unten die Rede sein wird). Die infraroten Strahlen "lösen" jedoch gewisse uns als Wärme gegebene Tatsachen "aus", die wir uns durch die Annahme der Existenz dieser Strahlen erklären. Von den ultravioletten Strahlen erfahren wir zwar mit Hilfe von Gesichtswahrnehmungen, aber nur indirekt, nämlich dadurch, daß sich - wie die Physik lehrt - infolge der Einwirkung dieser Strahlen auf gewisse chemische Substanzen die diesen Körpern zukommenden Eigenschaften der Absorption und Reflexion von Lichtwellen verändern, wodurch wir gewisse Dinge anders sehen, als wenn wir sie ohne die Wirkung der ultravioletten Strahlen sehen würden. Es tritt nämlich die sog. Erscheinung der Fluoreszenz auf. Im ersten Fall unterscheidet sich die von uns wahrgenommene Wärme nach der physikalischen Theorie vom physikalischen Prozeß (der infraroten Wellen), im zweiten Fall sollen dagegen die wahrgenommenen Farben oder Lichter von den Wellen, die durch die früher mit den ultravioletten Strahlen bestrahlten Substanzen emittiert oder reflektiert werden, aber zugleich auch von diesen Strahlen verschieden sein. In beiden Fällen wird also etwas anderes von uns wahrgenommen als was [von uns] als existierend anerkannt wird. In Anbetracht der Behauptung der Physik aber, daß sowohl die "sichtbaren" wie die "unsichtbaren" Wellen derselben Art seien und sich von-

wir die materiellen Gegenstände, wenn wir sie auf verschiedene Weise wahrnehmen, sie nach manchen ihrer Merkmale objektiv erkennen. Würde der kritische Realismus allein die erste Beschränkung annehmen, dann behauptete er nur, daß die materielle Welt reicher an Prozessen und Eigenschaften ist, als es uns in den Wahrnehmungen selbst gegeben ist" (Red. IIIA, Ms. S. 88-89).]

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//. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

einander nur durch ihre Länge unterscheiden würden, sagen die psychophysiologisch eingestellten Erkenntnistheoretiker, daß wir "eigentlich" alle Wellen dieser Art unmittelbar als Farben oder Lichter wahrnehmen sollten und daß der Gesichtssinn dafür verantwortlich sei, wenn es anders geschieht: Er bringe in diesem Fall gleichsam ein Maximum von NichtObjektivität der Gesichtswahrnehmungen hervor, nämlich das Fehlen von visuellen "Erscheinungen" dort, wo sie im Hinblick auf die Natur des physischen Reizes eher zu erwarten wären. Ähnlich spricht man von der Begrenztheit unseres Gehörsinnes, die uns nicht erlaubt, Töne zu hören, die den Schwingungen des elastischen Mediums mit einer Frequenz von ζ. B. über 20 000 Schwingungen pro Sekunde entsprechen, im Gegensatz ζ. B. zur Hörempfänglichkeit beim Hund usw. Die These von der begrenzten Wahrnehmbarkeit gewisser Gegebenheiten durch unsere "Sinne" führt noch auf einem anderen Weg zur These von der NichtObjektivität mancher unserer Wahrnehmungen. Wenn sich uns in der Wahrnehmung Gegenstände mit bestimmten Eigenschaften darstellen, sind wir davon überzeugt, daß diese Eigenschaften existieren und den Gegenständen zukommen. Ist uns dagegen ein X in einer Wahrnehmung als ein Merkmal eines Gegenstandes Y nicht gegeben, so sind wir überzeugt, daß Y [das Merkmal] X nicht besitzt. Falls wir aber aus irgendwelchen Gründen dennoch gezwungen sind, die Existenz von jenem X als Prozeß oder Eigenschaft eines Dinges zu setzen, dann behaupten wir, daß die Wahrnehmung, in der wir dieses Merkmal nicht wahrnehmen, obwohl der entsprechende Gegenstand uns gegeben ist, in dieser Hinsicht nicht objektiv ist. Denn sie zeigt uns nicht das, was existiert. Angesichts dieser Situation muß man untersuchen, ob die Begründung der ersten Einschränkung des kritischen Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie nicht irgendwelche wesentlichen Schwierigkeiten bereitet. Ich werde das am Beispiel der ultravioletten Strahlen erwägen. Wie ich erwähnt habe, werden sie von uns vornehmlich anhand von Erscheinungen der Fluoreszenz gewisser Substanzen erkannt, die mit ihnen bestrahlt werden, wobei sie dabei von den Substanzen absorbiert werden. Daß sie tatsächlich vom fluoreszierenden Körper absorbiert werden, erfahren wir aufgrund der folgenden Tatsachen: Wenn wir ζ. B. das Sonnenlicht durch eine Schicht Erdöl durchlassen, dann fluoresziert dieses; wenn wir dagegen das

§12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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aus dem Erdöl ausgehende Licht durch eine andere Flasche mit Erdöl durchgehen lassen, kommt die Erscheinung der Fluoreszenz nicht vor: durch die erste Schicht Erdöl hindurch sind die "Strahlen" nicht durchgedrungen, welche die Erscheinung von seiner Fluoreszenz hervorgerufen haben. Daß dies aber Strahlen derselben Art sind wie die von uns direkt gesehenen Lichtstrahlen, außer daß sie im Verhältnis zu diesen kürzer sind und stärker gebrochen werden als u. a. die violetten Strahlen, davon erfahren wir ζ. B. dadurch, daß wir das Sonnenlicht durch ein Quarzprisma durchlassen und das durch dieses gebrochene Licht auf die Oberfläche von Erdöl in einem gläsernen Gefäß werfen. Dann gehen alle Lichtstrahlen von Rot bis Violett ohne jedwede Reflexion durch das Erdöl durch, und erst im violetten Teil des Spektrums erscheint ein bläulicher Glanz, der sich weit über das Violett hinaus erstreckt: es sind offenbar Strahlen vorhanden, die im Vergleich zu den direkt "sichtbaren" Lichtwellen stärker gebrochen werden (kürzer sind), und eben diese sind es, die durch Absorption durch gewisse Körper die Erscheinung der Fluoreszenz verursachen. In besonderen Fällen können wir ultraviolette Strahlen sogar "unmittelbar", wie die Physiker sagen, d. h. ohne Vermittlung von fluoreszierenden Körpern, zu Gesicht bekommen. Wenn wir nämlich das Sonnenlicht durch ein Quarzprisma durchlassen und das "normale" Sonnenspektrum verdecken, dann sehen wir "rechts" von diesem einen ziemlich weiten Streifen von einem graublauen Licht, das wir unter anderen Bedingungen nicht sehen können, weil es im Verhältnis zum "normalen" Licht des Sonnenspektrums zu schwach ist. 57 Wie aus den angeführten physikalischen Tatsachen hervorgeht, ist die Situation ziemlich kompliziert. Um nämlich die dargestellte physikalische Interpretation der Erscheinung der Fluoreszenz und deren Ursache oder [die Interpretation] der "unmittelbaren" Wahrnehmung von ultravioletten "Strahlen" zu gewinnen, muß man außer der Beobachtung dieser "Erscheinungen" eine Reihe von anderen, physikalisch entsprechend interpretierten Experimenten einsetzen. Man muß ζ. B. die Erscheinung der Lichtbrechung, die Behauptungen über das Vorhandensein verschiedener Längen von Lichtwellen, die Behauptungen über das Absorbieren und Durchlassen jener Wellen durch

Vgl. ein beliebiges Physiklehrbuch.

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11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

diese oder jene Substanzen, letzten Endes vielleicht nicht (wie Duhem vermutlich sagen würde) die ganze Lichttheorie, auf jeden Fall aber deren Grundbehauptungen und damit auch die entsprechenden Experimente und deren Interpretationen zugrunde legen; sogar abgesehen davon, daß man sich dabei ebenfalls auf physiologische Behauptungen Uber das Funktionieren unseres Gesichtsorgans zu berufen hat sowie auf gewisse psychologische Behauptungen, beispielsweise auf das Gesetz Webers. Dann aber befinden wir uns in einer ähnlichen Situation wie die, auf die ich aufmerksam gemacht habe bei der Besprechung der Frage, auf welche Weise die von der psychophysiologischen Erkenntnistheorie aus dem Experiment von Fresnel und dergleichen gezogenen Schlußfolgerungen zu begründen seien. Denn erst wenn es sicher und gebührend begründet wäre, daß die Gesichtswahrnehmungen hinsichtlich der darin gegebenen Farben und Lichter nicht objektiv sind (weil "objektiv" nur elektromagnetische Wellenprozesse dieser oder jener Art existieren), könnten wir auch die Sicherheit haben, daß der Erscheinung der Fluoreszenz in der materiellen "Wirklichkeit" die Absorption gewisser ultravioletter Strahlen durch den gegebenen Körper entspricht bzw. daß das nach dem Durchgang von Sonnenlicht durch ein Prisma gesehene graublaue Licht durch diese Strahlen hervorgerufen wird. Die These von der Unempfänglichkeit des Gesichtsorgans für ultraviolette Strahlen unter normalen Wahrnehmungsbedingungen 58 läßt sich auf diesem Weg solange nicht begründen, als CO

Nota bene: Einen Gegensatz zur soeben besprochenen Behauptung bildet die von der Psychophysiologie in verhältnismäßig wenigen Fällen festgestellte Tatsache, daß eine "subjektive Erscheinung" [manchmal] da vorkommt, wo gar kein physischer Reiz vorhanden ist. Die schwarze Farbe eines Dinges oder die völlige Dunkelheit können hier als Beispiel dienen. Stellt man eine solche Tatsache fest, kann sie wieder als noch ein anderer Fall von NichtObjektivität der sinnlichen Wahrnehmung angeführt werden, mit dem Unterschied, daß hier die Wahrnehmung über die objektiv existierende Wirklichkeit hinausgeht. Ich gehe auf diese Sachen nicht näher ein, denn, sofern ich weiß, ist die psychophysiologische Situation selbst, die hier - nach der vorhandenen Theorie - vorliegen soll, noch nicht genügend geklärt. Man weiß nicht, ob das Nichtvorhandensein eines physischen Reizes nicht eine besondere Bedingung dafür ausmacht, daß sich in den lichtempfindlichen Substanzen im Hintergrund des Auges gewisse physiologische Prozesse abspielen, und ob daher nicht gerade diese Prozesse einen "physiologischen Reiz" für die Erscheinung der schwarzen Farbe bilden. In dieser Situation ist es somit schwierig zu erwägen, ob und welche logischen Schwierigkeiten die von den angeführten Tatsachen ausgehende erkenntnistheoretische Argumentation enthalten würde.

§ 12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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nicht die These von der NichtObjektivität der Sinneswahrnehmung hinsichtlich der sekundären Qualitäten einwandfrei begründet wird; diese Nichtobjektivität ist jedoch - wie wir uns überzeugt haben - gerade nicht der Fall. Kritik der Begründung

der positiven

Thesen des kritischen

Realismus

Erwägen wir zuerst folgendes: Kann jemand, der die beiden kritischen Einschränkungen des Realismus gelten läßt, die These annehmen und (stets auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie) begründen, wonach unsere Sinneswahrnehmungen hinsichtlich der darin als Eigenschaften wahrgenommener Dinge gegebenen primären Qualitäten objektiv sind? Nun, abgesehen schon von den Einwänden, die ich gegen diese These bei der Besprechung der Argumentationsweisen I - VII vorgebracht habe, muß man sagen, daß das Festhalten an dieser These von seiten des Vertreters des kritischen Realismus etwas überraschend anmutet. Denn wer die besprochenen Argumentationsweisen verwendet, um nachzuweisen, daß die Sinneswahrnehmungen in gewisser Hinsicht nicht objektiv sind, kann diese Argumentationsweisen ebensogut auf die Wahrnehmung der primären Qualitäten von Dingen übertragen. Zum Beispiel: Kann man denn nicht ein Ding auf ähnliche Weise, wie es von zwei verschiedenen Personen mit verschiedenen Farben wahrgenommen wird, ebenfalls mit verschiedenen Gestalten wahrnehmen - wenn dies z. B. von verschiedenen Gesichtspunkten aus, bei Kurzsichtigkeit oder Weitsichtigkeit usw. geschieht? Man kann ebenso sagen: Ein und dasselbe Ding, das sich seiner Gestalt nach nicht verändert, erscheint ein und demselben Menschen in zwei verschiedenen Wahrnehmungen einmal als flach und nur verschiedenfarbig, einmal als ein von einer Seite beleuchteter Würfel oder auch einmal als durch glatte Wände begrenzt und ein anderes Mal - durch eine starke Lupe - als "porös", d. h. durch komplizierte krumme und gebrochene Flächen begrenzt. "Dieselbe", unter verschiedenen Bedingungen gesehene Gestalt eines Dinges ist von seiner mit dem Tastsinn wahrgenommenen Gestalt dermaßen verschieden, daß Blindgeborene, wenn sie nach einer Operation ihre Sehkraft wiedergewinnen, die ihnen aus der Tasterfahrung wohl bekannte Gestalt eines Dinges mit dem Gesichtsinn bekanntlich nicht wiedererkennen usw. Nicht anders verhält es sich mit den Wahrnehmungen der Bewegung von Körpern. Einmal nehmen wir die Bewegung eines Körpers als eine "gleichförmige" Kreisbewegung wahr, ein anderes Mal als eine nichtgleichförmige und oszillierende Bewegung auf einer Strecke einer

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

Geraden, einmal als eine schnelle Bewegung, ein anderes Mal als eine langsame oder sogar einmal als Bewegung, ein anderes Mal als Ruhezustand - obwohl in all diesen Fällen die Bewegung des gegebenen Körpers sich "in Wahrheit" in dieser Zeitperiode ihrer Eigenschaften nach nicht verändert hat. Wenn man bei den sekundären Qualitäten von derartigen Tatsachen - nach Ansicht des psychophysiologisch eingestellten Realisten - auf ihre Subjektivität schließen könnte, so müßte man konsequenterweise auch in bezug auf die Wahrnehmungen der primären Qualitäten der Dinge in gleicher Weise verfahren. 59 Indessen wird nicht nur diese Argumentation von den kritischen Realisten nicht verwendet, sondern es ist auch zugleich nicht klar, warum sie an ihrer These von der Objektivität der Sinneswahrnehmung hinsichtlich der primären Qualitäten festhalten. Manche von ihnen, z.B. Locke, sind zwar vorsichtiger und sprechen nur von einer "Ähnlichkeit" der von uns wahrgenommenen primären Qualitäten im Verhältnis zu den primären Qualitäten materieller Dinge, indem sie diese der Unähnlichkeit der sekundären Qualitäten im Verhältnis zu den entsprechenden Eigenschaften materieller Gegenstände entgegenstellen. Sie wollen damit wahrscheinlich sagen: Obwohl die wahrgenommene Gestalt gewisser Dinge sich von deijenigen Gestalt unterscheidet, die sie an sich besitzen, so haben wir es doch in beiden Fällen mit einer Gestalt zu tun. Dagegen liege etwa bei den Farben einerseits eine besondere Qualität, andererseits ein Wellenprozeß, z.B. eine elektromagnetische Störung vor, die jener Qualität in keiner Weise ähnlich sei. Die genannten kritischen Realisten gestehen also in gewissen Grenzen die Nichtobjektivität der Sinneswahrnehmungen hinsichtlich der primären Qualitäten der Dinge, sie nehmen aber zugleich eine [im Vergleich zur Objektivitätsthese] schwächere These an, nämlich die These, daß wir, wenn wir Dinge mit primären Qualitä-

Diesen Gedanken habe ich vom Idealisten Berkeley entliehen, der hierin konsequenter ist als der Realist Locke und in seinen beiden Werken (in der Abhandlung über die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis und in den Drei Dialogen) [G. Berkeley, Abhandlung

über

die Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, Leipzig 1917, derselbe, Drei Dialoge über Raum, Zeit und Kausalität, Berlin 1954] die soeben angeführten Argumente auf die primären Qualitäten anwendet, die er zusammen mit den sekundären als die sinnlichen Qualitäten bezeichnet. Ich bediene mich hier absichtlich nicht der Terminologie Locke's, um meine Betrachtungen nicht unnötig zu komplizieren.

§ 12. Kritik der Begründung

des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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ten wahrnehmen, sie mit Qualitäten derselben Art wahrnehmen wie diejenigen, die ihnen "wirklich" zukommen. Wie kann das jedoch der psychophysiologische Erkenntnistheoretiker begründen, der zugleich die beiden Einschränkungen des kritischen Realismus gelten läßt? Wenn er sich auf Ergebnisse der Physik (besonders der theoretischen) beruft, nimmt er im voraus an, es bestehe eine prinzipielle Dualität zwischen: a) dem wahrgenommenen Ding, so wie es wahrgenommen wird und b) dem materiellen Gegenstand im Verständnis der Physik, also [ζ. B.] einer Atomwolke. Infolgedessen sei kein Merkmal oder Bestandteil von (a) mit einem Merkmal oder Bestandteil von (b) identisch und umgekehrt, wobei (b) mit seinen eigenen Merkmalen uns überhaupt in keiner Erfahrung zur Gegebenheit komme. Alles, was wir von (b) wissen bzw. behaupten, sei nur eine mehr oder weniger begründete und wahrscheinliche Vermutung, die letztlich auf Grund der auf (a) bezogenen Wahrnehmungen gewonnen werde. 60 Von einem unmittelbaren Vergleich der in (a) auftretenden primären Qualitäten mit den in (b) auftretenden primären Qualitäten im Hinblick auf ihre Ähnlichkeit kann keine Rede sein. Man kann höchstens sagen, daß (b) so gedacht ist, daß eine (ζ. B. artmäßige) Ähnlichkeit besteht. Ob aber (b) darin richtig gedacht ist, das können wir solange nicht wissen, als wir nicht die Frage entscheiden, ob die betrachtete These des kritischen Realismus wahr ist. Man kann sich also zur Begründung gerade dieser These nicht auf die Richtigkeit gewisser physikalischer Konzeptionen bezüglich der primären Eigenschaften von (b) berufen, denn das würde der Berufung auf die These gleichen, die eben zu begründen ist. ad VIII. Wie wird schließlich die These des kritischen Realismus begründet, welche die Objektivität der Sinneswahrnehmung hinsichtlich der darin beschlossenen Überzeugung von der Existenz des wahrgenommenen Gegenstandes feststellt? Wir müssen aber zuerst auf diese These selbst eingehen.

Wenn wir in Übereinstimmung mit Duhem sagen, daß die prinzipiellen Hypothesen in bezug auf die Eigenschaften von (b) nicht ausreichend und eindeutig durch die Gegebenheiten in den sinnlichen Wahrnehmungen bestimmt sind, dann fallt es uns umso schwerer, die These von der betrachteten Ähnlichkeit anzuerkennen und zu begründen. Vgl. [P.] Duhem, La théorie physique, son objet et sa structure, [Paris] 1906.

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11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

Wenn wir die übrigen Behauptungen des kritischen Realismus berücksichtigen und die These von der "Übereinstimmung" der Sinneswahrnehmung mit dem entsprechenden materiellen Gegenstand hinsichtlich der primären Qualitäten durch die These vom Bestehen einer (artmäßigen) Ähnlichkeit zwischen den wahrgenommenen primären Qualitäten und den entsprechenden Qualitäten des materiellen Gegenstandes ersetzen, dann scheint die jetzt zur Diskussion stehende These mit den übrigen Behauptungen des kritischen Realismus unverträglich zu sein. Vor allem betrifft nämlich die Existenz-Überzeugung, die wir haben, während wir sinnlich die Dinge wahrnehmen, vermöge der in der Wahrnehmung beschlossenen Intention diese Dinge selbst und nicht die physikalischen Gegenstände (Atomwolken); von den letzteren erfahren wir doch in den Wahrnehmungen allein gar nichts, wir beziehen daher in diesen Wahrnehmungen in keiner Weise auf sie. Zum anderen wird diese Existenz, von der wir in der Sinneswahrnehmung überzeugt sind, dem Sinn dieser Überzeugung gemäß als eine autonome und von der Wahrnehmung unabhängige verstanden. Nun sind aber erstens das, mit dessen Existenz die in der Wahrnehmung einbeschlossene Überzeugung nach dem kritischen Realismus "übereinstimmen" soll, gar nicht die wahrgenommenen Dinge, sondern gerade jene Atomwolken. Strenggenommen müßten wir uns also irren, wenn wir in der Wahrnehmung überzeugt sind, daß die Dinge (Steine, Berge, Wolken), d. h. die mit Qualitäten ausgestatteten Dinge auf diese Weise existieren; denn diese existieren nach dem kritischen Realismus nicht autonom und unabhängig von der Wahrnehmung. Zweitens: Wenn dagegen der kritische Realismus annimmt, daß die wahrgenommenen Dinge existieren, dann müßte man gemäß seinen übrigen Behauptungen sagen, wie das schon Berkeley gesagt hat, daß ihr esse = percipi sei, daß also ihre Existenz nicht autonom und wahrnehmungsunabhängig sei und daß infolgedessen hinsichtlich der Existenzweise keine Übereinstimmung bestehe zwischen den wahrgenommenen Dingen und den Atomwolken, deren Existenz, wenigstens nach vielen Physikern, eine "Wirklichkeit", mithin eine autonome und wahrnehmungsunabhängige Existenz sein soll. Entweder würden wir uns also in unserer Annahme der Übereinstimmung der Seinsweise von den Dingen und den Atomwolken irren und den Dingen fälschlicherweise eine autonome und wahrnehmungsunabhängige Existenz zuschreiben; oder wir würden uns nicht irren, sondern wä-

§ 12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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ren uns über ihre Seinsheteronomie und Abhängigkeit von der Wahrnehmung im klaren, und dann müßte wiederum die positive These des kritischen Realismus von der Objektivität der Wahrnehmungen hinsichtlich der Existenz der Dinge falsch sein. Der kritische Realismus sollte also seine prinzipielle "realistische" These auf folgende Weise formulieren: Indem wir in der sinnlichen Wahrnehmung von der autonomen und wahrnehmungsunabhängigen Existenz der wahrgenommenen Dinge überzeugt sind (und es ist eine unzweifelhafte Tatsache, daß wir gerade eine solche Überzeugung haben), irren wir uns nur insofern, als gerade diese Dinge (genau so, wie sie wahrgenommen werden) in der soeben angedeuteten Weise nicht existieren. Wir irren uns dagegen nicht, wenn wir - als Gelehrte - glauben, daß autonom und unabhängig von unserer Wahrnehmung etwas von uns selbst und unseren Wahrnehmungen Verschiedenes existiert, das in seinen primären Eigenschaften den wahrgenommenen Dingen ähnlich ist und zugleich eine Ursache dessen ausmacht, daß uns, zum einen, in der Wahrnehmung qualitativ bestimmte Dinge gegeben sind und, zweitens, daß das uns von diesen Dingen Gegebene gerade so und nicht anders ist, wobei bei der Gestaltung einer solchen Bestimmung eine besondere Rolle unser Körper, mithin eine noch andere Atomverdichtung spielt. Die Begründung des ersten Teils dieser These ist in den oben angeführten Argumenten des kritischen Realismus einbeschlossen, die mit den schon früher besprochenen Mängeln behaftet sind. Es bleibt also ihr zweiter positiver Teil zu besprechen, in dem von der physischen, auf unsere "Sinne" ursächlich einwirkenden Wirklichkeit die Rede ist. Das geschieht auf die weiter oben unter VIII 61 angegebene Weise. Diese Argumentation geht von der Feststellung gewisser Tatsachen aus, denen die psychophysiologische Theorie ein psychologisches Gepräge verleiht. Auf Grund der übrigen Thesen des kritischen Realismus rechnet man dabei zu den "psychischen" Tatsachen nicht nur die Funktion der sinnlichen Wahrnehmung selbst, sondern auch all das, was uns darin als ein wahrgenommenes Ding mit allen seinen qualitativen Bestimmtheiten gegeben ist und was eine "subjektive Erscheinung" sein soll. Diese Tatsachen aber, die laut dieser Argumentation davon zeugen, daß wir das autonome und wahrnehmungsun-

61

[S. 87.]

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//. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

abhängige Sein der materiellen (physischen) Dinge zu Recht anerkennen, seien die folgenden: 1. Es bestehen besondere Gesetzmäßigkeiten innerhalb der "subjektiven Erscheinungen". 2. Es besteht eine besondere Beziehung dieser Erscheinungen zum wahrnehmenden Subjekt. Das Subjekt ist nämlich gegenüber den sich ihm aufdrängenden "Erscheinungen" machtlos, es kann sie weder beliebig verändern noch sie nicht besitzen, solange auf seine Sinnesorgane bestimmte "physische Reize" einwirken. 3. Es besteht eine Abhängigkeit der subjektiven Wahrnehmungserscheinungen von den Sinnesorganen des wahrnehmenden Subjekts, von deren Zustand und den Prozessen, die sich darin abspielen und die wenigstens teilweise durch die auf unsere Organe einwirkenden "physischen Reize" kausal hervorgerufen werden. 4. Neben den gesetzmäßig verlaufenden und sich wiederholenden "subjektiven Erscheinungen" kommen auch solche Erscheinungen vor, die unerwartet, überraschend und manchmal sogar mit der bisherigen Erfahrung uneinstimmig sind und die sich dem wahrnehmenden Subjekt mit dem gleichen Charakter der Seinsautonomie und derselben Dynamik der Wirkung auf dieses Subjekt aufdrängen, einer Wirkung, die von seinem Willen und seinen Gefühlen unabhängig ist. Diese Tatsachen haben - nach der psychophysiologischen Erkenntnistheorie - zur Folge, daß sich uns auf unwiderstehliche Weise die Überzeugung von der autonomen Existenz der materiellen (physischen) Gegenstände aufdrängt, die von unseren Wahrnehmungserlebnissen und -erscheinungen verschieden seien, kurz gesagt, von der realen materiellen Welt, innerhalb deren wir leben und deren kleinen Teil wir ausmachen. Die angeführten Sätze sind gewisse allgemeine, durch Induktion gewonnene Gesetze, die sich ζ. B. von allgemeinen physikalischen Sätzen dadurch prinzipiell unterscheiden, daß sie sich auf Tatsachen beziehen, die - einen einzigen Fall ausgenommen 62 - über den Bereich dessen, was in der Erfah-

Diesen Fall bildet die Annahme des Bestehens eines Kausalzusammenhanges zwischen den materiellen Dingen bzw. Prozessen und unserem Körper bzw. seinen Sinnesorganen. Zu dieser Übertretung zwingt uns - nach den Psychophysiologen - gerade die Reihe der angeführten Tatsachen im Rahmen der "Erfahrung".

§ 12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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rang selbst vorfindbar ist, nicht hinausschreiten. Bei der hier in Frage kommenden Erfahrung handelt es sich - nach der psychophysiologischen Erkenntnistheorie - um die innere Erfahrung ("Reflexion", "Introspektion"), die aber - wie in allen früher besprochenen Argumenten - auf das Gebiet der äußeren Erfahrung gleichsam übergreift, weil sie mit ihrem Bereich nicht nur die Wahrnehmung selbst umfaßt, sondern auch die wahrzunehmenden oder wahrgenommenen und in dieser Reflexion als "subjektive Erscheinungen" betrachteten Dinge. Diese wahrgenommenen Dinge treten dabei gleichsam mit zweifachem Charakter auf: Bei normaler Einstellung des wahrnehmenden Menschen tragen sie das Gepräge einer autonomen Wirklichkeit, die mit ihrer normalen, offensichtlich gegebenen Ausstattung über die Sphäre des Psychischen hinausgeht. In der diese Gesetzmäßigkeiten feststellenden psychologischen (vom psychophysiologischen Erkenntnistheoretiker betriebenen) Reflexion werden sie dagegen, wenn nicht gar als ein Bestandteil des psychischen Erlebnisses, so jedenfalls als ein mit diesem eng verbundenes und von diesem in seinem Sein und Sosein abhängiges Korrelat der sinnlichen Wahrnehmung: [als] eine psychische Erscheinung betrachtet. Einen Impuls zum Wechsel der Betrachtungsweise des wahrgenommenen Dinges gibt die seit je und in der Neuzeit seit Locke allgemein praktizierte Betrachtung der qualitativen, streng gegenständlichen Determinationen der wahrgenommenen Dinge, deren Farben, Gestalten, Glattheiten usw. als sogenannter ideas of sensation oder - wie es später üblich geworden ist geradezu zu sagen - als "sinnlicher Empfindungen". Wie die Geschichte der Psychologie, besonders seit der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts, sowie die Geschichte der auf die Psychologie gestützten Betrachtungen der Erkenntnistheorie zeigen, bringt es dieser Wechsel in der Forschungspraxis mit sich, daß man sich gewöhnlich weder im einzelnen zum reflexiven Bewußtsein bringt, was in der Sinneswahrnehmung gegeben ist und wie es gegeben ist, noch die Ergebnisse von diesem Zum-Bewußtsein-Bringen getreu beschreibt. Man führt nämlich in die oberflächliche Beschreibung im voraus geprägte, nicht geklärte und nicht gebührend geprüfte psychologische Begriffe ein. Diese sind nicht so sehr durch den Inhalt der inneren, auf die Sinneswahrnehmung gerichteten Erfahrung, als vielmehr durch gewisse im voraus angenommene Konzeptionen bestimmt, wie sie für diese oder jene psychologische Richtung bzw. für die auf der Psychologie aufgebauten erkenntnistheoretischen Betrachtungen

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

charakteristisch sind. Infolgedessen werden statt unparteiischer und gewissenhaft den Tatsachen angepaßter Beschreibungen der Akte und jener Korrelate der Sinneswahrnehmung gewöhnlich nicht nur - mangels einer gebührenden Analyse - stark vereinfachte, sondern auch durch Verwendung der unangemessenen psychologischen Begriffsapparatur verfälschte Beschreibungen der "sinnlichen Empfindungen" und deren Komplexe bzw. deren Zusammenhänge geliefert. Das hat seine bedeutsamen negativen theoretischen Konsequenzen in Form von eingefleischten theoretischen Vorurteilen, deren ständigen Ballast für diese Art Psychologie die psychophysiologische Erkenntnistheorie übernimmt, wodurch sie sozusagen von vornherein einen versperrten Weg zu einer unvoreingenommenen Analyse der Erkenntnistätigkeiten und -prozesse sowie zu dem hat, wozu diese führen oder was sie erlangen. 63 Darauf werden wir noch zurückkommen müssen. Im Augenblick ist für uns nur wichtig, daß sich infolge der soeben angedeuteten Umstände das Problem noch einmal verschiebt, vor dem der Erkenntnistheoretiker steht, der eine Argumentation aufzufinden versucht, die den wahrnehmenden Menschen zur Überzeugung von der autonomen Existenz des ihm in der Wahrnehmung Gegebenen und Gegenwärtigen bringen würde. Bei den soeben angedeuteten Gesetzmäßigkeiten, die uns dazu berechtigen sollen, die Existenz der materiellen Dinge anzunehmen, der Dinge, die wir - strenggenommen nicht wahrnehmen, die aber auf die Nervenenden unserer Sinnesorgane als "physische Reize" wirken sollen, handelt es sich nämlich bei der besprochenen Einstellung um Gesetzmäßigkeiten, die nicht unter den wahrgenommenen, nicht einmal unter den als sog. subjektive Erscheinungen betrachteten Dingen, sondern unter einer Mannigfaltigkeit von sinnlichen "Empfindungen" obwalten sollen. Man spricht auch nicht von der Machtlosigkeit des wahrnehmenden Subjekts angesichts der in der sinnlichen Erfahrung vorgeNicht viel nützen hierbei die zahlreichen und unzweifelhaft mit subtilen experimentellen Methoden gegen Ende des vorigen Jahrhunderts von Psychophysiologen wie Helmholtz, Wundt, Ebbinghaus und Georg Elias Müller durchgeführten Untersuchungen über die sog. sinnlichen "Empfindungen" aus dem Gebiet des Gesicht-und Gehörsinnes. Denn bei allen diesen Forschungen fordert man die untersuchten Personen sofort dazu auf, sich auf die erlebten "Sinnesempfindungen" einzustellen, die man zugleich auf besondere Weise mit den einfachen Merkmalen der wahrgenommenen Dinge (den sekundären Qualitäten) gleichsetzt. Diese Einstellung verfälscht nämlich von vornherein den ursprünglichen Verlauf der sinnlichen Wahrnehmung und den Gehalt dessen, was darin originaliter gegeben ist.

§ 12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen

Realismus

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fundenen Dingen, sondern von seiner, aus der Einwirkung der physischen Reize auf den menschlichen Organismus resultierenden Machtlosigkeit gegenüber den sinnlichen Empfindungen. Da aber die dieses Problem erwägenden Erkenntnistheoretiker nicht bloß Psychologen, sondern Psychophysiologen sind, so deuten sie im voraus die sinnlichen Empfindungen als Äußerungen oder besser: als Wirkungen gewisser psychophysiologischer Prozesse, die diese Empfindungen nicht nur hervorrufen, sondern auch eindeutig bestimmen (die Theorie der sog. spezifischen Energie der Sinne). Und erst die Gesetzmäßigkeiten, die zwischen den physiologischen Prozessen obwalten oder genauer: nach der [betrachteten] Hypothese walten sollen, veranlassen uns, ihre weiteren Ursachen in den sog. physischen Reizen zu suchen. Diese Formulierung des Problems entscheidet im voraus über seine Lösung. Sobald wir nämlich zugeben, daß die psychischen Prozesse durch die physiologischen bedingt sind, nehmen wir die Existenz unseres Körpers an. Wer aber die Existenz des menschlichen Körpers annimmt, nimmt damit zugleich die Existenz der ganzen materiellen Welt an, kann sich somit zur Stützung der These von der Objektivität der Sinneswahrnehmung hinsichtlich der darin beschlossenen Überzeugung von der Existenz des materiellen Gegenstandes nicht auf die kausalen Zusammenhänge berufen, die zwischen dem "physischen Reiz" und den physiologischen Prozessen bestehen. Wer sich aber nicht darauf beruft, daß die psychischen Tatsachen durch die physiologischen Prozesse bedingt sind, sondern im Bereich der in der inneren Erfahrung festgestellten Tatsachen verbleibt und diese durch die Annahme der materiellen Gegenstände zu erklären versucht, der ist gar nicht gezwungen, diese Hypothese zu akzeptieren. Als Beweis kann uns hier ζ. B. die Überlegung Berkeleys dienen. Obwohl er die Existenz der nicht wahrgenommenen materiellen Objekte nicht anerkennt und den menschlichen Körper als einen Komplex von "Ideen" derselben Art wie die außerhalb unseres Körpers sinnlich wahrgenommenen Dinge ansieht, sucht er dennoch ebenfalls eine Erklärung für die Tatsache, daß die sinnlichen "Ideen" sich uns mit solcher Kraft aufdrängen, daß wir sie im Gegensatz zu den Ideen der Phantasie - nicht loswerden können, und findet diese Erklärung in der Behauptung, daß die sinnlichen Ideen uns von Gott aufgezwungen würden, der ein rein geistiges Wesen ist und mit dem "physischen Reiz" im Verständnis der Psychophysiologen nichts zu tun hat. Berkeley verläßt dabei ohne Zweifel das Gebiet der psychophysiologischen

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//. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

erkenntnistheoretischen Betrachtungen, obwohl er einen guten Teil seiner Erwägungen auf dieser Ebene durchführt. Das aber widerspricht nicht unserer Behauptung, daß die Begründung der jetzt betrachteten positiven These des kritischen Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie weder eine korrekte noch die einzig mögliche Begründung ist. Dabei lassen sich gegen diese Begründung noch zwei weitere Einwände vorbringen: 1. Sie verwendet den Begriff der kausalen Beziehung dort, wo er vielleicht nicht verwendet werden soll 64 ,2. sie klärt nicht kritisch den Wert der inneren Erfahrung, an die sie in ihrem Verlauf appellieren muß. Der Begriff der kausalen Beziehung ist aus dem Bereich der Beziehungen geschöpft, die zwischen den uns in der sinnlichen oder der inneren Erfahrung gegebenen Gegenständen bestehen (oder bestehen sollen). Er wird aber hier auf einen Fall angewendet, in dem eines der Glieder uns in der Erfahrung gegeben ist, das andere dagegen diese Erfahrung radikal überschreitet. Woher wissen wir, daß die Kausalität nicht eine Beziehung ist, die nur innerhalb dessen bestehen kann, was uns in der sinnlichen oder der inneren Erfahrung gegeben ist? Was berechtigt uns, den Bereich möglicher Anwendbarkeit dieses Begriffs zu erweitern? Was aber das Problem des Erkenntniswertes der inneren Erfahrung betrifft, so sind wir darauf schon vielfach gestoßen. Das ist ganz natürlich, denn wir haben es die ganze Zeit mit den Betrachtungen zu tun, die auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie durchgeführt werden. Die Tatsache, daß diese Theorie implicite die absolute Objektivität der inneren Wahrnehmung voraussetzt, erledigt das Problem nicht, denn es handelt sich doch darum, ob diese Voraussetzung richtig ist, und darum, mit welchem Recht wir sie annehmen dürfen. Dieses ganze Problem ist jedoch ziemlich kompliziert, wir werden ihm also eine besondere Betrachtung widmen müssen; hier weisen wir nur auf eine Schwierigkeit hin, die u. a. der kritische psychophysiologische Realismus zu überwinden hat.

Ich sehe hier von der in diesem Augenblick unwesentlichen Frage ab, ob der Begriff der kausalen Beziehung der Erfahrung entstammt, wie das die extremen Empiristen vor Hume wollten, oder ob das nicht der Fall ist, wie Hume behauptete, oder schließlich ob er - in Übereinstimmung mit Kants Auffassung - eine apriorische Kategorie bildet. Auch Kant aber hat diese Kategorie bekanntlich auf einen Fall angewendet, in dem er das nach seiner eigenen Theorie nicht hätte tun sollen.

§ 13. Der Übergang zum erkenntnistheoretischen

Idealismus

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Ich habe mich ziemlich lange bei der Frage nach der Begründung des kritischen Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie aufgehalten, nicht nur weil dieser Standpunkt im Rahmen dieser Theorie viele Anhänger hat, sondern auch weil unter den Forschern innerhalb der Einzelwissenschaften die Ansicht ziemlich verbreitet ist, seine Begründung erwecke keine prinzipiellen Bedenken. Aus diesem Grunde wird auch besonders bei uns [in Polen] das Betreiben der Erkenntnistheorie auf psychophysiologischem Boden propagiert. Man mußte somit diese Sache ausführlich behandeln.

§ 13. Der Übergang zum erkenntnistheoretischen Idealismus Es gibt viele Wege, auf denen man zum erkenntnistheoretischen Idealismus gelangen kann. Einen dieser Wege bildet die Betrachtung, die, ihre Argumentation ganz im Stil des kritischen Realismus beginnend, sie auf die Fragen erweitert, die der kritische Realismus im positiven Sinne beantwortet, und durch deren negative Beantwortung letztlich zur idealistischen These kommt. Einen Teil dieses Weges sind wir schon gegangen, indem wir die Begründung des kritischen Realismus kritisiert haben. Es seien hier nur noch die wesentlichen Punkte in Erinnerung gerufen: Der auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie stehende Idealist sagt: Der kritische Realismus hat recht, wenn er die Nichtobjektivität der sinnlichen Wahrnehmung hinsichtlich der sekundären Qualitäten behauptet. Er ist jedoch zu wenig kritisch und irrt sich in seinen positiven Thesen. Denn die Sinneswahrnehmung ist hinsichtlich der primären Qualitäten ebenso und aus denselben Gründen nicht objektiv, wie sie in Hinsicht auf die sekundären Qualitäten nicht objektiv ist. 65 Man muß also auch die zweite positive These des kritischen Realismus ablehnen, welche die Objektivität der Sinneswahrnehmung hinsichtlich der darin involvierten Überzeugung von der autonomen Existenz von Gegenständen der materiellen Welt anerkennt. Denn diese These entbehrt - nach Ansicht des Idealisten - jeder Grundlage. Wenn wir schon einmal zugegeben haben, daß alles, was wir wahrneh-

Es war davon schon auf S. 114 die Rede.

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

men, nur "eine subjektive Erscheinung" sei, haben wir keine Gründe zu vermuten, daß "jenseits" der Wahrnehmung auf autonome Weise etwas existiert, was in seinem Grundwesen dennoch gleich ist wie das, was uns in der Wahrnehmung als Ding erscheint, nämlich materiell. Der Grundfehler der Beweisführung des Realismus besteht nach dem Idealisten darin, daß er die Sache so darstellt, als ob wir im Erkennen im voraus zwei verschiedenartige Existenzen vorfänden: a) die je nach der Richtung und dem Stand der Psychologie so oder anders begriffenen sog. subjektiven Erscheinungen und b) einen wirklichen materiellen Gegenstand, der mit den Eigenschaften ausgestattet ist, die ihm die Physik - entsprechend ihrer Entwicklungsphase - zuschreibt. Diese Gegenüberstellung führt den Realisten dazu, daß er (a) und (b) miteinander vergleicht oder einander zuordnet oder schließlich (a) als so oder anders durch (b) bedingt ansieht. Indessen stellt sich die Situation, mit der es der psychophysiologische kritische Realist zu tun hat, ganz anders dar. In der Erfahrung gegeben ist - wie ich das schon in der Diskussion über den kritischen Realismus festgestellt habe - ausschließlich (a); dagegen ist (b) nie in der Erfahrung gegeben, sondern es wird nur aufgrund der Eigenschaften von (a) erschlossen und denkmäßig so bestimmt, wie es für die Anordnung von "Erscheinungen", deren gegenseitige kausale Verbindung und deren Fassung in konstante allgemeine Gesetze benötigt wird. Der physikalische Gegenstand ist eine Funktion des in der sinnlichen Erfahrung anschaulich gegebenen Gegenstandes, ein wissenschaftliches Konstrukt, ein Überbau, der zur Orientierung in der Erscheinungswelt nützlich ist. Es ist also nicht so - wie der kritische Realismus glaubt-, daß "subjektive Erscheinungen" vermittels physiologischer Prozesse durch physikalische Prozesse hervorgerufen würden. Es ist vielmehr umgekehrt: Subjektive Erscheinungen dienen als Grundlage für [gewisse] subjektive Erzeugnisse höherer Ordnung, [nämlich] für Korrelate von wissenschaftlichen Konstruktionen. Die einen wie die anderen sind "subjektiv"; der Unterschied zwischen ihnen ist nur der, daß die ersteren subjektive Erscheinungen der unmittelbaren sinnlichen Erfahrung darstellen, während die letzteren genauso subjektive Korrelate anderer, vornehmlich intellektueller Erkenntnisprozesse sind. Damit haben wir die idealistische Lösung des Objektivitätsproblems der Erkenntnis der materiellen Welt erlangt.

§ 14. Die Begründung des erkenntnistheoretischen

Idealismus. Kritik

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§ 14. Der Standpunkt des erkenntnistheoretischen Idealismus und seine Begründung auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie. Kritik Der Idealismus dieser Art sagt: Es gibt keinen Grund, irgendwelche wirklichen Gegenstände außer dem Wahrgenommenen anzunehmen. Es existiert nur das, was wir wahrnehmen. Was wir aber wahrnehmen, ist seinsheteronom und von unseren psychischen (erkenntnismäßigen, aber auch übrigen) Erlebnissen abhängig. Je nach der Feinheit seiner psychologischen Analysen nimmt der erkenntnistheoretische Idealismus eine mehr oder weniger feinsinnige Gestalt an, und auch seine Begründung erfolgt auf verschiedenen Wegen. In seiner gröbsten Gestalt lehrt der Idealismus, daß Erkenntnisgegenstände und speziell die in der sinnlichen Wahrnehmung gegebenen Dinge gewisse psychische Erlebnisse sind (Berkeley sagt, sie seien "Ideen", wobei er einen Terminus J. Lockes gebraucht).66 Ein subtilerer Idealismus dagegen behauptet, daß Erkenntnisgegenstände (insbesondere materielle Dinge) nur Korrelate ("intentionale Gegenstände") unserer Erkenntniserlebnisse (insbesondere Sinneswahrnehmungen) seien, die dann und nur dann existierten, wenn diese Erlebnisse existieren. Über die Seinsweise dieser Korrelate sind sich nicht alle Idealisten einig. Seit Berkeley begegnen wir aber ziemlich oft der Behauptung, "existieren" heiße in diesem Fall soviel wie "wahrgenommen werden", erlebt werden (esse = percipi). Nach einigen Idealisten macht es nur einen rein sprachlichen Unterschied, ob wir diese Korrelate als subjektive Erscheinungen (Ideen, Erlebnisse) oder - wie im Alltagsleben - als Dinge bezeichnen. Die soeben angeführte These des Idealismus ist - streng genommen - eine metaphysische Annahme, denn sie sagt etwas über das Wesen der materiellen Welt aus, nicht über deren Erkenntnis. Sie geht aber aus einer erkenntnistheoretischen Argumentation hervor und hat ihr erkenntnistheoretisches Pendant

66

Man darf natürlich nicht vergessen, daß der Terminus "Idee" bei Locke und seinen Nachfolgern vieldeutig ist, wie das E. Husserl in den Logischen Untersuchungen gezeigt hat. Daher nimmt der Idealismus nur bei einer der von Berkeley gebrauchten Wortbedeutungen die Gestalt an, die ich im Text angebe. Diese Vieldeutigkeit ist übrigens einer der Gründe, die Berkeley zur idealistischen Lösung haben kommen lassen.

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lì. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

in der Behauptung, die ich auf S. 67 unter III und IV angefühlt habe. 67 Diese wird jedoch üblicherweise nicht ausgesprochen, weil der erkenntnistheoretische Idealismus - wie wir bald sehen werden - im Zusammenhang mit der metaphysischen These das Objektivitätsproblem der Sinneswahrnehmung und überhaupt der Erkenntnis anders formuliert. Die Begründung des Idealismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie liegt in dem, was ich hier den "Übergang" vom kritischen Realismus zum Idealismus genannt habe. Wir werden uns also nur auf eine Argumentation beschränken, in der die Mängel der Beweisführung des Idealismus besonders deutlich ans Licht kommen. 68 Die psychischen Erlebnisse seien in ihrem Sein, ihren Eigenschaften und ihrem Verlauf durch physiologische Prozesse bedingt, die sich im Organismus des gegebenen psychophysischen Individuums abspielten. Der Aufbau und die Funktionsweise der Sinnesorgane sowie des ganzen Nervensystems bewirkten, daß kein Erkenntniserlebnis, das sich auf (vermeintliche) physische Gegenstände bezieht, in irgendeiner Hinsicht mit irgendeinem Merkmal dieser Gegenstände übereinstimmt. Denn unaufhörlich greife hier ein Transformator, oder genauer, ein Produktor ein: die Sinnesorgane und das Zentralnervensystem. Diese Nichtübereinstimmung betreffe auch das uns in der Wahrnehmung gegebene Moment der Seinsautonomie der wahrgenommenen Dinge und deren Unabhängigkeit von unseren Erlebnissen. Deswegen liege

Auf ähnliche Weise ist übrigens auch der erkenntnistheoretische kritische Realismus eng mit dem metaphysischen Realismus verbunden. Auf die enge Verflechtung des metaphysischen und des erkenntnistheoretischen Idealismus habe ich in der Abhandlung Niektóre zatozenia idealizmu Berkeleya (1931) [Ingarden (1931b)] hingewiesen. In der Abhandlung Bemerkungen zum Problem Idealismus-Realismus (1929) [Ingarden (1929)] und danach in Spór o istnienie swiata (1947/48) [Ingarden (1947/48), Ingarden (1964/65)] habe ich das Postulat der Abgrenzung verschiedenartiger Probleme von "Idealismus" und "Realismus" aufgestellt. Es ist zu betonen, daß der hier besprochene Idealismus eine besondere Form von Idealismus darstellt. Die idealistischen Ansichten, die man im XIX. Jahrhundert im Rahmen der sog. transzendentalen Philosophie vielfach zu begründen versuchte, unterscheiden sich von ihm prinzipiell in ihren Voraussetzungen und sind in der Regel frei von den Einwänden, denen die hier besprochene Form des Idealismus ausgesetzt ist. Ich komme darauf noch weiter unten zurück (vgl. Kap. V). [Ingardens Verweis bezieht sich wohl auf den geplanten 2. Teil seines Werkes.] Die Mängel in der Begründung des Idealismus Berkeleys versuchte ich in der schon erwähnten Abhandlung ans Licht zu bringen.

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§ 14. Die Begründung des erkenntnistheoretischen Idealismus. Kritik

kein Grund vor, die Existenz einer von unseren Erlebnissen unabhängigen und seinsautonomen "materiellen" Welt anzunehmen. Die Tatsache aber, daß die physiologischen Prozesse für den Inhalt unserer Wahrnehmungen mitbestimmend sind, zeuge davon, daß alles, was uns in der Wahrnehmung als scheinbar von uns unabhängig und seinsautonom gegeben ist, in Wirklichkeit erlebnisabhängig und "subjektiv" sei. Wenn aber alles Subjektive psychisch ist, dann seien die "Dinge" ebenso psychisch wie die Wahrnehmungsprozesse selbst. Infolgedessen gebe es keinen Grund dafür, die "Gegenstände" und den "Inhalt" des psychischen Erlebnisses radikal einander gegenüberzustellen: Die sog. wahrgenommenen Dinge seien nur gewisse besondere Inhalte. 69 Dann muß jedoch die für die Entscheidung des Realismus charakteristische Formulierung des Objektivitätsproblems aufgegeben werden. Denn wenn man zwischen "Gegenstand" und "Inhalt" der Erkenntnis nicht unterscheiden soll, dann fällt auch die Möglichkeit weg, dieses Problem unter dem Aspekt der Beziehung des Inhalts zum Gegenstand zu betrachten.70 Dennoch bleibt auch für den idealistischen Standpunkt das Problem bestehen, wann wir in Erkenntniserlebnissen eine Erkenntnis gewinnen. Anstatt nach der Übereinstimmung zwischen zwei heterogenen Faktoren - Erlebnisinhalt und autonomem Gegenstand - zu fragen, fragt der Idealist nach dieser oder jener Art von Übereinstimmung homogener Elemente, von denen alle uns erkenntnismäßig unmittelbar zugänglich sind, d. h. nach einer Überein-

So finden wir z.B. bei Berkeley, der wenigstens in einem Teil seiner Betrachtungen ein klassischer Vertreter der Begründung des Idealismus auf der Basis der psychophysiologischen Erkenntnistheorie ist, keinen Begriff des Inhalts eines Erlebnisses im Gegensatz zu dessen Gegenstand. Auf ähnliche Weise tritt z.B. Natorp, der in seiner Allgemeinen

Psycho-

logie [1. Buch: Objekt und Methode der Psychologie, Tübingen 1912, S. 25] den idealistischen Standpunkt des Neukantianismus darlegt, gegen die Unterscheidung zwischen Inhalt und Gegenstand der Erkenntnis ein. Natorp fuhrt übrigens seine Ausführungen nicht auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie durch. 70 Die soeben dargestellte Begründung des Idealismus gibt Argumente an, die wir gewöhnlich in explizierter Gestalt bei den angeführten Autoren nicht finden. Daher scheint es wenig wahrscheinlich, daß irgend jemand auf diesem Weg den erkenntnistheoretischen Idealismus zu begründen versucht habe. Eine genaue Erwägung der einschlägigen Betrachtungen zeigt jedoch, daß die hier angegebenen Argumentationen bei ihnen in einer versteckten, nicht zu Ende ausgeführten Form auftreten. Und nur durch ihre volle Explikation kann gezeigt werden, welche Mängel die Theorien in sich verbergen, Mängel, die in der "nicht zu Ende ausgeführten" Gestalt der Theorien manchmal so schwierig zu überwinden sind.

154

11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

Stimmung von Inhalten unserer Erkenntniserlebnisse. Dadurch, daß wir diese Inhalte miteinander vergleichen, können wir das Vorhandensein dieser Übereinstimmung oder ihr Nichtvorhandensein feststellen und auf diese Weise Erkenntniserlebnisse, die eine Erkenntnis erbringen, von solchen unterscheiden, die irrig sind. Denn die "Wahrheit" eines Erkenntnisergebnisses bedeutet nach dem Idealismus - nichts anderes als das Vorhandensein einer Übereinstimmung oder Harmonie zwischen Inhalten von Erkenntniserlebnissen. Um was für eine Art von "Übereinstimmung" oder Harmonie es sich dabei handelt, erklärt man im allgemeinen nicht; man sieht darin nicht einmal ein besonderes Problem, obwohl wir auch schon bei flüchtigem Hinsehen bemerken, daß hier mehr als nur die logische Widerspruchslosigkeit ins Spiel kommt. Viele Erkenntnisergebnisse werden ja als miteinander nicht übereinstimmend verworfen, obgleich kein Widerspruch zwischen ihnen aufzuweisen ist. Es ist hier nicht möglich, dies ausführlicher zu besprechen. Es sei jedoch hervorgehoben, daß der Begriff der Wahrheit bei den Idealisten zwei verschiedene Formen annimmt: a) [die Form] der rein immanenten Wahrheit im Sinne der angedeuteten "Übereinstimmung" von "Ideen" 71 und b) [die Form] der zwischen verschiedenen Subjekten bestehenden ("intersubjektiven") Wahrheit. Im erstgenannten Fall handelt es sich um eine besondere Übereinstimmung von Inhalten von Erkenntniserlebnissen ein und desselben Subjekts, im letztgenannten Fall um eine ähnliche Übereinstimmung, aber von Erlebnisinhalten mehrerer psychischer Subjekte. Das Akzeptieren der einen oder der anderen dieser Konzeptionen hängt u. a. davon ab, ob der Idealist einräumt, daß Gegenstände der sinnlichen Wahrnehmung für viele psychische Subjekte dieselben seien, oder ob er das für ausgeschlossen hält. Analoge Transformationen wie der Wahrheitsbegriff erfahren im Rahmen des Idealismus auch andere erkenntnistheoretische Grundbegriffe, wie z.B. der Begriff des Erkenntnissubjekts, des "Gegenstands" der Erkenntnis, der wirklichen Existenz des Erkenntnisgegenstandes usw., das brauchen wir aber im Moment nicht zu besprechen. Die von mir rekonstruierte Begründung des Idealismus läßt sich nicht halten, weil sie in sich einen Widerspruch zwischen den (meistens versteckten)

71

Wie diese "Ideen" und ihre "Ubereinstimmung" erkannt werden, darüber denkt z.B. Berkeley gar nicht nach.

§ 14. Die Begründung des erkenntnistheoretischen

Idealismus. Kritik

155

Voraussetzungen der Argumentation und der zu begründenden These verbirgt. Dieser Widerspruch entspringt nicht nur der Tatsache, daß der Idealismus, indem er gemeinsam mit dem kritischen Realismus den naiven (vollständigen) Realismus bekämpft, viele Argumente ins Feld führt, die mit dem realistischen Standpunkt zwar übereinstimmend, mit der idealistischen These aber unverträglich sind. Die Quelle dieses Widerspruchs liegt auch in den Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie selbst. Daher muß der Idealist entweder diese Auffassung der Erkenntnistheorie ablehnen und eine ganz andere Betrachtungsebene suchen oder aber seinen Standpunkt mit einem unvermeidbaren Widerspruch belasten. Die gemeinsame Voraussetzung der angeführten Begründung und der psychophysiologischen Erkenntnistheorie ist nämlich die [Annahme der] Existenz einer realen Welt, deren Bestandteile autonom existierende und von psychischen Prozessen unabhängige Dinge bilden (darunter befindet sich auch mein "Körper"). Die Konklusion ist aber, daß eine solche Welt nicht existiert, daß dagegen dasjenige, was existiert (im Sinne von: "in Übereinstimmung mit anderen Wahrnehmungen wahrgenommen wird") entweder "Komplexe" von Erlebnissen ("Ideen") oder auch nur Korrelate mancher Erkenntniserlebnisse sind. Diese Voraussetzung verbirgt sich in der Annahme der Existenz des menschlichen Körpers und der physiologischen Prozesse, von denen Bewußtseinserlebnisse abhängen sollen. Denn dieser Körper, wenn wir ihn genau so nehmen, wie er von der Psychophysiologie konzipiert ist, bildet ein Glied der materiellen Welt und kann nur dann existieren, wenn diese Welt existiert. In Anwendung auf den Organismus des psychischen Individuums (auf den Leib) nimmt dieser Widerspruch die folgende Gestalt an: Nach der Argumentation, die der psychophysiologische Idealismus vom kritischen Realismus übernimmt, sind die psychischen Prozesse von den im gegebenen Organismus ablaufenden physiologischen Prozessen abhängig, der Organismus macht aber eines der Glieder der realen Welt aus. Bei dieser Sachlage könnte er, als ein Glied der Welt, gemäß der These des Idealismus nicht autonom existieren, nach der zu dieser These führenden Argumentation dagegen müßte er nicht nur doch autonom existieren, sondern auch gerade jene psychischen Prozesse, von denen er abhängen sollte, in ihrer Existenz und Beschaffenheit bedingen. 72

79

Eine ähnliche Überlegung kann man bei H. Bergson in der Abhandlung "Le paralogisme

156

II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

Der soeben aufgezeigte Widerspruch genügt, um die besprochene Begründung des Idealismus zurückzuweisen. Nur diese Begründung jedoch ist auf der Basis der psychophysiologischen Erkenntnistheorie möglich. 73 Denn nur sie stimmt mit den Voraussetzungen dieser Theorie überein. Deswegen ist gerade von Seiten der idealistisch orientierten Erkenntnistheoretiker ein sehr wichtiger Angriff auf die psychophysiologische Erkenntnistheorie ausgegangen, der zu der sog. transzendentalistischen Erkenntnistheorie geführt hat, mit der wir uns in Zukunft noch genauer auseinandersetzen müssen.

§ 15. Der realistische Skeptizismus und seine Kritik Dieser Standpunkt unterscheidet sich vom kritischen Realismus nur dadurch, daß er die These verwirft, die Sinneswahrnehmung sei objektiv hinsichtlich der primären Qualitäten, vom Idealismus dagegen durch dessen metaphysische Konsequenz und überdies dadurch, daß er die idealistische Interpretation von erkenntnistheoretischen Grundbegriffen nicht mitvollzieht. Aus der These, daß die physiologischen Prozesse, die zwischen den physischen Reizen und dem Inhalt von Erkenntniserlebnissen vermitteln, diese Reize in die von ihnen verschiedenen Erlebnisse transformieren, schließt er auf die völlige Nichtübereinstimmung zwischen den beiden Endgliedern der Kette von Kausalzusammenhängen. Da wir uns aber von der Vermittlung durch physiologische Prozesse nicht befreien können, so sei alles, was wir in der Sinneswahrnehmung scheinbar erkennen, nur eine "subjektive Erscheinung", der materielle Gegenstand an sich dagegen sei für uns völlig unerkennbar. Man müsse jedoch seine bloße Existenz annehmen, um einen besonderen Ablauf unserer psychischen Erlebnisse und ihre Zusammenhänge verständlich zu machen. Die Begründung dieses Standpunkts auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie muß, ähnlich wie in den beiden schon diskutierten

psycho-physiologique", Revue de métaphysique et de morale, 1905, Abdruck in [derselbe,]

ΠΊ

L'énergie spirituelle [Essais et conférences, Paris] 1919 finden. Selbstverständlich kann man diese Begründung unter Verwendung verschiedener früher besprochener Argumente des kritischen Realismus sehr ausbauen, das wird jedoch ihren prinzipiellen Charakter nicht ändern.

§ 15. Der realistische Skeptizismus und seine Kritik

157

Fällen, abgelehnt werden. Sie ist vor allem mit einem Widerspruch derselben Art behaftet, die uns schon vorher begegnet ist. Zur Stützung seiner Hauptthese, daß die materiellen Gegenstände für uns unerkennbar seien, setzt nämlich der Skeptizismus voraus, daß 1. uns deren wirkliche Eigenschaften bekannt sind 74 und 2. daß uns die Eigenschaften von den sich in menschlichen Organismen abspielenden physiologischen Prozessen oder wenigstens deren Rolle bei der Entstehung und dem Verlauf von Sinneswahrnehmungen bekannt sind. Die erste Voraussetzung wird benötigt, um die völlige Nichtübereinstimmung zwischen der Sinneswahrnehmung und den physischen Gegenständen feststellen zu können, die zweite dagegen dient zur Aufdeckung der Ursache dieser Nichtübereinstimmung und zugleich zur Begründung deren tatsächlichen Bestehens. Wenn uns aber die Eigenschaften von physischen Gegenständen (physiologischen Prozessen) bekannt sind, dann müssen sie irgend einmal erkannt worden sein, können also nicht zugleich unerkennbar sein. Darin liegt der Widerspruch, der dieser Ansicht anhaftet. Würden wir aber schon im kritischen Realismus auf die Schwierigkeit stoßen, [zu erklären,] was uns die Identität oder wenigstens die Gleichheit der uns in der Sinneswahrnehmung gegebenen Gegenstände und der Gegenstände, so wie sie an sich selbst sind, gewährleistet, so läßt sich diese Schwierigkeit im skeptischen Realismus gar nicht überwinden. Wir müßten jedoch diese Identität irgendwie sichergestellt haben, sollte die skeptische These überhaupt einen Sinn haben. Denn man kann nur dann behaupten, daß wir uns bezüglich eines Gegenstandes irren, wenn wir wissen, daß derselbe Gegenstand, von dem wir gemeint haben, er besitze z.B. ein Merkmal a, dieses Merkmal nicht besitzt. Wie kann man jedoch diese Identität nachweisen, wenn man den Standpunkt vertritt, daß sich in einem seinsautonomen materiellen Gegenstand gar kein solches Merkmal vorfinde, das gleich wäre wie diejenigen Merkmale, die uns in der Sinneswahrnehmung gegeben sind? Und wenn dieser Gegenstand überhaupt unerkennbar sein sollte? Wenn aber

In bezug auf die Erkenntnis des Dinges an sich muß der Standpunkt I. Kants dem realistischen Skeptizismus zugerechnet werden. Die Argumentation aber, durch die Kant in der Kritik der reinen Vernunft zu seinem Skeptizismus kommt, ist anders; deswegen kann man auch Kants Erkenntnistheorie nicht zur psychophysiologischen Erkenntnistheorie rechnen.

158

II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

das unmöglich ist, dann bricht auch die skeptische These zusammen.

selbst

75

Unbegründet ist schließlich auch die Annahme der Existenz der materiellen Welt. Denn wenn wir von den Eigenschaften materieller Gegenstände nichts behaupten dürfen, dann dürfen wir auch weder blind voraussetzen, daß zwischen diesen [Gegenständen] und psychischen Prozessen Kausalbeziehunen bestünden, noch annehmen, daß die Kategorie der Kausalität auf unerkennbare Gegenstände der materiellen Welt überhaupt berechtigterweise anwendbar sei. Auf diese Voraussetzung stützt sich jedoch gerade die positive Komponente des Standpunkts des realistischen Skeptizismus, die für diese Begründungsweise seiner negativen These unentbehrlich ist.

§16. Die pragmatistische Lösung des Objektivitätsproblems der Wahrnehmung (allgemeiner: der Erkenntnis) und ihre Kritik Wie ich schon in § 8 angedeutet habe, bietet sich außer den schon besprochenen Lösungsweisen des Objektivitätsproblems der Sinneswahrnehmung (bzw. der Erkenntnis der materiellen Welt) noch eine Lösung an, die in der Geschichte der Philosophie der Gegenwart unter dem Namen "Pragmatismus" auftritt. Wir finden diese Lösung bei einer Reihe von Autoren an der Wende des XIX. Jahrhunderts, wobei zwischen ihren Ansichten merkliche Unterschiede in der Betrachtungsweise von einzelnen Problemen wie auch sozusagen in der Entwicklungsstufe ihrer Theorie bestehen. Es kommen hier vor allem in Betracht: in Deutschland E. Mach 76 und R. Avenarius77 (d. h. der sog. Empiriokritizismus), in Frankreich H. Bergson 78 mit seiner Theorie des ne Einen solchen Einwand gegen den Skeptizismus hat schon H. Lotze (vgl. Logik, [Leipzig] 1843, Teil III., Vom Erkennen) vorgebracht. Vgl. E. Mach, [Beiträge zur Analyse der Empfindungen, Jena 1886, 2. Aufl. unter dem Titel:] Die Analyse der Empfindungen, [Jena 1900]; Die Mechanik in ihrer Entwicklung [historisch-kritisch dargestellt, Leipzig 1883] und Erkenntnis und Irrtum [Skizzen zur Psy77

chologie der Forschung, Leipzig] 1905. Vgl. R. Avenarius, Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes, [Leipzig] 1876; Der menschliche Weltbegriff [Leipzig] 1891 und Kritik der

78 reinen Erfahrung, [Bd. I/II, Leipzig 1888/1890]. Vgl. vor allem Matière et mémoire, [Paris] 1896 und L'évolution créatrice, [Paris] 1907.

§ 16. Die pragmatistische Lösung des

Objektivitätsproblems

159

Intellektes, schließlich in Amerika W. James 79 , von dem der Name der Lösung stammt, und F. C. Schiller 80 . Angesichts der Fülle von Material und der Unterschiede zwischen den einzelnen Ansichten 81 beschränke ich mich hier auf eine schematische Darstellung der Art und Weise, wie der Pragmatismus das Objektivitätsproblem der Erkenntnis löst, und auf die wichtigsten Einwände gegen diese Lösung. Haben wir aber das Recht, die pragmatistischen Ansichten der psychophysiologischen Erkenntnistheorie zuzurechnen? Der pragmatistische Standpunkt verwirft doch - wenigstens bei manchen seiner Vertreter - eine der grundlegenden Voraussetzungen dieser Theorie, nämlich die durch diese verwendete Bestimmung der Wahrheit bzw. der Erkenntnis. So ist es in der Tat, er behält aber das bei, was für diese Art der Erkenntnistheorie wesentlich ist, und zwar besonders in dem Teil seiner Betrachtungen, die zur pragmatistischen Stellungnahme führen und diese wenigstens teilweise stützen. Es ist nämlich die Auffassung des Erkenntnissubjekts als psychophysisches Individuum (Mensch), das innerhalb der realen und insbesondere materiellen Welt lebt und in seinem Sein, seinen Eigenschaften und Schicksalen durch die in dieser Welt stattfindenden Sachverhalte und Prozesse bedingt ist. In dieser allgemeinen Voraussetzung liegt insbesondere die Behauptung eingeschlos-

79 Vgl. vor allem Pragmatism [A new name for some old ways of thinking. Popular lectures on Philosophy. New York, London] 1907 und L'idée de vérité [The meaning of the truth. A sequel to "Pragmatism", New York, London 1909]. 80

Vgl. [F. C. S. Schiller,] Riddles of the Sphinx [a Study in the Philosophy of Humanism, New

ο 1 and revised ed., New York 1968]. Diese Unterschiede gehen so weit, daß bei Mach der pragmatistische Gesichtspunkt der sog. Denkökonomie mit einer idealistischen Lösung einhergeht, die in manchen Punkten der Ansicht Berkeleys sehr verwandt ist, während uns bei James und Bergson ein ausgesprochener Idealismus begegnet. Am weitesten in der Richtung des Pragmatismus geht James, der überhaupt die Verwerfung der klassischen Konzeption der Wahrheit verlangt und, an ihre Stelle eine neue Wahrheitsbestimmung einführend, die pragmatistische Betrachtungsweise auf jede Erkenntnis erstreckt. Dagegen gibt Bergson, obwohl er in seiner Theorie des Intellektes ohne Zweifel einen idealistischen Standpunkt einnimmt, zugleich die klassische Auffassung der Wahrheit nicht auf und bringt seine Theorie der intuitiven Erkenntnis vor, in der die pragmatistischen Überlegungen keine Rolle mehr spielen. Zu den Anschauungen Bergsons vgl. meine Arbeit "Intuition und Intellekt bei Henri Bergson", Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische auch in Ingarden (1994)].

Forschung, 5 (1921) [Ingarden (1921b);

160

II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

sen, daß Erkenntniserlebnisse in ihrem Sein, ihren Eigenschaften und ihrem Verlauf durch physiologische Prozesse, die im Leib des erkennenden Individuums ablaufen, sowie durch dessen psychische Dispositionen bedingt und damit auch ins durchgehende Kausalsystem der realen Welt eingewoben seien. Damit hängt eng zusammen, daß die erkenntnistheoretischen Betrachtungen auf der Basis von Forschungsergebnissen der Psychologie und der Physiologie des Menschen (eventuell auch der Tiere) durchgeführt werden. Die pragmatistische Lösung bildet ohne Zweifel eine Form von Reaktion darauf, daß auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie keine der schon besprochenen Lösungsweisen des Objektivitätsproblems (Wahrheit) der Sinneswahrnehmung (bzw. der Erkenntnis überhaupt) ohne prinzipielle Fehler begründet werden kann. Statt aber einzusehen, daß die Stützung der erkenntnistheoretischen Forschung auf die Psychologie und die Physiologie selbst unrichtig ist, sucht der Pragmatismus die Quelle des Irrtums woanders. Er glaubt nämlich, es würde bei der Untersuchung von Erkenntnisprozessen des Menschen nicht genügend beachtet, daß der Mensch (allgemeiner: ein Lebewesen), um sich am Leben zu erhalten, vor allen Dingen handeln muß, und zwar unter den Bedingungen, in die er mit seiner Geburt geraten ist, mithin in der materiellen Welt, in der sich neben ihm auch andere Lebewesen (andere Menschen) befinden. Infolgedessen seien sowohl sein Organismus wie seine wichtigsten Lebensfunktionen dem Handeln und dessen Bedingungen angepaßt. Man dürfe also bei der Erforschung von Erkenntnisprozessen und deren Ergebnissen die Rolle nicht vergessen, die das Erkennen und die Erkenntnis im Handeln des Menschen spiele. Das Erkennen stehe im Dienst der wirklichen und möglichen Handlungen des erkennenden Individuums und sei deren Erfordernissen angepaßt. Die Erkenntnis, der wir uns im Alltagsleben bedienen, sei - wie Bergson sagt - nicht interesselos. 82 Sogar die Erkenntnis aber, die wir in den Einzelwissenschaften gewinnen, werde durch das Bedürfnis nach der Beherrschung der Natur durch den Menschen geleitet. Das Erkennen nehme dadurch eine Reihe von Eigenschaften an, die es nicht hätte, wenn es auf die Gewinnung interesseloser Erkenntnis abzielte. In engem Zusammenhang damit bleibt nicht nur eine andere Beschreibung von

82

Die Möglichkeit einer solchen interessenlosen Erkenntnis läßt aber Bergson zu: Es ist dies gerade die intuitive, absolute, philosophische Erkenntnis.

§ 16. Die pragmatistische

Lösung des

Objektivitätsproblems

161

Verlauf und Funktion der Sinneswahrnehmung und anderer Erkenntnisprozesse 83 , sondern auch eine andere Begriffsbestimmung der Wahrheit bzw. der Erkenntnis. Diese Begriffsbestimmung hängt übrigens auch mit einer Kritik der "klassischen", wie ich mich ausgedrückt habe, Auffassung der Wahrheit (Objektivität) zusammen, der zufolge der Inhalt der Erkenntnis, die objektiv (wahr) sein soll, mit der "Wirklichkeit" übereinstimmen muß. 84 Diese Auffassung müsse jedoch - nach dem Pragmatismus - vor allem deswegen verworfen werden, weil sie in der Erkenntnistheorie ganz unbrauchbar sei. Man könne mit ihrer Hilfe nie entscheiden, ob im vorliegenden Fall ein Erenntnisergebnis wahr ist oder nicht. Um das zu entscheiden, müßte man die Eigenschaften des Erkenntnisgegenstandes, so wie sie ihm wirklich zukommen, mit dem Erkenntnisinhalt bzw. damit vergleichen, welche Eigenschaften ihm in der betrachteten Erkenntnis zugeschrieben werden. Um aber diesen Vergleich durchzuführen, müßte man die wirklichen Eigenschaften des Erkenntnisgegenstandes schon irgendwie kennen. Entweder müßte man sich also zwecks Ermittlung der Wahrheit eines Erkenntnisergebnisses X auf ein anderes Erkenntnisergebnis y berufen, dessen Wahrheit wir im Rückgriff auf ein weiteres Erkenntnisergebnis Ζ nachzuweisen hätten und so fort ins Unendliche, oder man müßte die Kenntnis der Eigenschaften des Erkenntnisgegenstandes X auf dogmatische Weise stillschweigend voraussetzen oder schließlich den Fehler einer petitio principii begehen. In keinem dieser Fälle würde die Wahrheit des Erkenntnisergebnisses X einwandfrei nachgewiesen. Da 83

Vgl. z.B. Bergson, Matière et mémoire, [Paris 1896,] Kap. I und IV.

R4 Auf den ersten Blick hat es den Anschein, als ob der Pragmatismus den klassischen Wahrheitsbegriff nicht verwerfen würde. Denn wir lesen z.B. bei James in The Meaning of Truth in der VorTede (die übrigens entsprechende Stellen aus dem Pragmatismus

anführt!):

"Truth (...) is a property of certain of our ideas. It means their 'agreement', as falsity means their disagreement, with 'reality'. Pragmatists and intellectualists both accept this definition as a matter of course ..." (S. 3). Kurz danach lesen wir aber: "Where our ideas [do] not copy definitely their object, what does agreement with that object mean? ... Pragmatism asks its usual question. 'Grant an idea or belief to be true', it says, 'what concrete difference will its being true make in anyone's actual life? What experiences [may] be different from those which would obtain if the belief were false? How will the truth be realized?'" (I.e. S. 3). Und auf S. 117 I.e. lesen wir einen Satz, der jener "Übereinstimmung" einen speziellen Sinn verleiht und die Konzeption der Wahrheit auf pragmatistische Bahnen bringt: "With some such reality any statement, in order to be counted true, must agree. Pragmatism defines 'agreeing' to mean certain ways of 'working', be they actual or potential."

162

¡1. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

aber - nach Ansicht des Pragmatismus und vieler anderer Richtungen - beim fraglichen Wahrheitsbegriff kein anderer Weg offen stehe 85 , die Geltung einer Wahrheit nachzuweisen, als über den angedeuteten Vergleich, so sei dieser Wahrheitsbegriff überhaupt aufzugeben und durch einen anderen zu ersetzt. 86 Einen Hinweis, wie der letztere zu gewinnen sei, gibt die pragmatistische Lehre von der Anpassung der Erkenntnisfunktionen an Erfordernisse des Handelns. Bis jetzt handelt es sich um eine Konzeption, die keine prinzipielle Veränderung des Wahrheitsbegriffs, sondern nur die Forderung zu sein scheint, daß wahre "Ideen" zugleich verifizierbar sein sollen. Defacto wird hier an Stelle des Wahrheitsbegriffs ein Begriff der Verifizierbarkeit bzw. ein Wahrheitskriterium eingeführt. Man sagt nämlich (James): "True ideas are those that we can assimilate, validate, corroborate and verify. False ideas are those that we cannot."87 Kurz danach lesen wir aber: "To 'agree' in the widest sense with a reality can only mean to be guided either straight up to it or into its surroundings, or to be put into such working touch with it as to handle either it or something connected with it better than if we disagreed. Better either intellectually or practically!"88 Und im Resultat: '"The true' is only the expedient in the way of our thinking, just as 'the right' is only the expedient in the way of

oe Nicht alle übrigens teilen diese Ansicht; u.a. habe ich in meinem 1923 am I. Polnischen Philosophischen Kongreß gehaltenen Vortrag "Czy i jak mozna wykazac obiektywnosc spostrzezenia zmyslowego?" [Kann die Objektivität der Sinneswahrnehmung aufgewiesen werden, und wenn ja, auf welche Weise?; vgl. Ingarden (1927)] versucht, zu zeigen, daß man die klassische Auffassung der Objektivität (Wahrheit) beibehalten soll, daß aber ein anderer Weg möglich ist, um nachzuweisen,

daß wir es im vorliegenden Fall mit einem

wahren Erkenntnisergebnis zu tun haben. Ich komme auf diesen Punkt in weiteren Teilen meiner Betrachtungen (vgl. Kap. V) zurück. [Ingardens Verweis bezieht sich wohl auf den Of:

geplannten 2. Teil seines Werkes.] Die angeführte Argumentation ist übrigens nicht spezifisch für den Pragmatismus. Sie wurde mehrmals von verschiedenen Seiten vorgebracht, die mit dem Pragmatismus nichts zu tun haben, u.a. auch von Seiten des Idealismus. In der letzten Zeit hat sie O. Kraus ins

87

Feld geführt. [I.e. S. 3.] Vgl. auch ibid.: "Truth happens

to an idea. It becomes

true, is made true by

events. Its verity is in fact an event, a process: the process namely of its verifying itself, its veri-fication. Its validity is the process of its valid-afion." 88

[I.e. S. 4.]

§ 16. Die pragmatistische

Lösung des

Objektivitätsproblems

163

our behaving." 89 Etwas weiter dagegen lesen wir über die Idee: "for what meets expediently all the experience in sight won't necessarily meet all farther experiences equally satisfactorily." 90 Es zeigt sich also, daß diese "Vorteilhaftigkeit" einer wahren Idee beim "Verbinden" von vergangenen mit künftigen Erfahrungen zum Vorschein kommt. Auf diese Weise kommt, ziemlich unerwartet, die pragmatistische Bestimmung (ungeachtet des ausgesprochen realistischen Standpunkts James') 91 der früher angeführten idealistischen Bestimmung sehr nahe, nur mit dem Unterschied, daß beim Idealisten vom Verbinden (der Harmonie) der subjektiven Erscheinungen, hier dagegen vom Verbinden der "Erfahrungen" (experiences)92 die Rede ist. Wir können hier die zahlreichen und in vielen Varianten auftretenden Erklärungen James' über Wahrheit oder Wahrsein nicht vermehren. Es ist für uns wichtiger, wenn auch nur skizzenhaft, die Weise darzustellen, wie vom pragmatistischen Standpunkt aus die Anpassung der Sinneswahrnehmung an Erfordernisse des Handelns verstanden wird. Die verhältnismäßig am besten ausgearbeitete Theorie darüber hat Bergson in Matière et mémoire dargelegt 9 3 Den grundlegenden Teil in Bergsons Theorie des Intellekts bildet seine Theorie der äußeren Wahrnehmung, in der er nachzuweisen versucht, daß diese Wahrnehmung handlungsrelativ ist. Diese Relativierung mache sich sowohl im Inhalt des Wahrgenommenen als auch in dessen Form geltend. Der Mensch, wie jedes Lebewesen, sei nicht so sehr ein Erkenntnissubjekt, als vielmehr ein Handlungszentrum und passe seine Erkenntnisweise den Bedingungen an, die ihm in einer Welt, insbesondere in der materiellen, die von ihm auszuführende Handlung diktiere. Inhaltlich mache sich das so bemerkbar, daß die Wahrnehmung gleichsam ein Instrument werde, mit dessen Hilfe aus der ganzen Mannigfaltigkeit von Daten 94 , die dem Menschen jeweils zugäng89 90 91

[ibid.] [Md.] Vgl. z.B. den Satz: "This notion of a reality independent of either of us, taken from ordinary social experience, lies at the base of the pragmatist definition of truth." I.e. S. 117. Es ist aber dabei ziemlich unklar, was in diesem Fall unter jener experience zu verstehen ist.

93

[Hier endet das Manuskript der Redaktion HIB. Der nachstehende Text bis zum Ende des

94

Bergson gebraucht bekanntlich den Terminus "image", den man als "Erscheinung" oder

16. Paragraphen erscheint erst in der V. Redaktion.]

"Phänomen" übersetzen könnte. Es handelt sich aber zugleich um solche Erscheinungen,

164

II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

lieh sein (oder auch ihm erscheinen) könnten, nur jene "Daten" ausgewählt würden, die im Hinblick auf die für ihn im gegebenen Augenblick mögliche Handlung relevant sind. Das betreffe sowohl die Auswahl von Dingen (Prozessen) in der Umgebung des gegebenen Menschen als auch diejenigen anchaulichen Eigenschaften der schon ausgewählten Dinge, die sich dem Menschen gleichsam aufdrängen, während die anderen, die für die Handlung irrelevant sind, entweder überhaupt nicht im Gesichtsfeld aufträten oder in den Hintergrund zurückgedrängt würden. Die (in erster Linie sinnliche) Wahrnehmung sei also immer nur partiell (sogar innerhalb dessen, was der Wahrnehmung jeweils vom gegebenen Ding zugänglich wäre). Das betrifft die von Bergson so genannte "konkrete" Wahrnehmung (la perception concrète), die nicht "reine" Wahrnehmung (la perception pure) ist, weil sie in ihrem Inhalt (wenn man diesen Terminus hier gebrauchen darf) sowohl rein wahrnehmungsmäßige als auch gedächtnismäßige Momente einschließt. Die einen wie die anderen unterliegen aber einer Selektion im Hinblick auf ihre Bedeutung für die mögliche Handlung des wahrnehmenden Subjektes. Neben diesem inhaltlichen charakteristischen Zug weise die sinnliche, auf die mögliche Handlung relative Wahrnehmung auch gewisse rein formale Züge auf, in denen diese Relativität sich ebenfalls bemerkbar mache. Bergson nennt sie "Schemata der Handlung"; sie entsprechen wenigstens teilweise dem, was Kant unter den "Kategorien" (reinen Verstandesbegriffen) versteht und was er als apriorische Formen betrachtet, die für die Erkenntnis überhaupt bzw. für menschliche Erkenntnis notwendig sind. Diese Kategorien zusammen mit den apriorischen Anschauungsformen, Zeit und Raum, verwehren es bei Kant, eine Erkenntnis der Dinge an sich zu gewinnen, indem sie einen formalen Schleier ausmachen, durch welchen wir zur Wirklichkeit so wie sie an sich ist nicht durchkommen können. Nun machen bei Bergson die "Schemata der Handlung", denen seiner Ansicht nach auch der homogene Raum (l'espace) und die homogene Zeit (le temps) - was übrigens für ihn ein und dasselbe ist! - zuzurechnen seien, ebenso etwas aus, was die originale Gestalt

die nur in der Wahrnehmung und nicht z.B. in der Phantasievorstellung auftreten. Deswegen kann man, meiner Meinung nach, diesen Terminus durch das Wort "Datum" ersetzen, das übrigens einem anderen Terminus entspricht, den Bergson in seinem ersten Buch Essai sur les données gebrauchte.

§16. Die pragmatistische Losung des

Objektivitätsproblems

165

der Wirklichkeit entstellt, sie seien aber zugleich für die menschliche Erkenntnis nicht notwendig. Sie würden nur die "interessierte", handlungsrelative Erkenntnis kennzeichnen. Sie ließen sich also in der interesselosen, mithin - was bei Bergson auf dasselbe hinausläuft - intuitiven Erkenntnis beseitigen. Nur in der intuitiven Erkenntnis sei uns die reale Welt - insbesondere der sich selbst erkennende Mensch - in seiner originalen (echten - wenn man so sagen darf 95 ) Gestalt gegeben, ohne formale Verunstaltungen, die durch die auf die mögliche Handlung relative Erkenntnis hineingetragen würden. Die "Schemata der Handlung", einschließlich des homogenen Raumes, sind verschiedener Art. Es handelt sich zuerst um die "Hervorhebung" (Abgrenzung, morcellement) des gegebenen Dinges von seiner ganzen Umgebung, [die Hervorhebung], die es zur Folge habe, daß die materielle Wirklichkeit auf solche Weise perzipiert werde, daß man sie als eine Mannigfaltigkeit von gegeneinander abgegrenzten Ganzheiten auffasse. Zweitens handelt es sich darum, daß der kontinuierliche Strom von Veränderungen, in dem sich die Dinge befänden, in Gestalt von gewissen unveränderlichen oder wenig veränderlichen Qualitäten auf gewisse Weise stabilisiert oder unbeweglich gemacht werde; [darum], daß der Prozeß der kontinuierlichen Veränderungen als eine Mannigfaltigkeit von schnell aufeinanderfolgenden momentanen, in sich unveränderlichen Zuständen begriffen werde, was im Bereich unseres Bewußtseins zu dessen "statischem Aspekt" führe. Ein weiteres Handlungsschema ist die Gegenüberstellung des leeren, homogenen, unendlich teilbaren und stabilisierten Raumes und der diesen leeren Raum ausfüllenden Materie = Mannigfaltigkeit von Dingen. Damit hängt die Geometrisierung der konkreten reinen Zeit der Dauer (la durée pure) zusammen [und ihre Verwandlung] in die homogene Zeit - in ein eindimensionales homogenes Kontinuum. Schließlich handelt es sich darum, daß man im konkreten ständig fließenden Ganzen des Dinges sein unveränderliches Wesen hevorhebe, dem seine veränderlichen, kurz dauernden "Zustände" entgegengestellt würden. Das endgültige Ergebnis von all diesen Schemen ist das, was Bergson in L'évolution créatrice die "kinematographische" Auffassungs- oder Betrachtungsweise

Ich sehe hier davon ab, daß es nach Bergson verschiedene mögliche Formen der "Intuition" gibt, je nach dem Grad der "Spannung der Dauer" (tension de la durée).

166

II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

der Welt nennt, die dieser Welt ein ihr deutlich fremdes, mithin ihre eigene Natur - wenigstens in formaler Hinsicht - verfälschendes Gesicht aufpräge. In Matière et mémoire versucht Bergson auf ingeniöse Weise, den - wenn man so sagen darf - psychologisch-physiologischen Mechanismus aufzudekken, in dessen Verlauf die Verwandlung der reinen Wahrnehmung in konkrete Wahrnehmungen eintritt, die auf eine mögliche Handlung relativ, mithin für die Realisierung dieser Handlung vorteilhaft sind. Ich kann hier diese geistreiche Theorie nicht ausführlich besprechen; es ist für uns hier nur interessant, daß es einerseits eine Theorie ist, die ohne Zweifel auf dem Boden der Psychologie und Physiologie aufgestellt wird, die es also berücksichtigt, daß der Mensch, der diese konkreten Wahrnehmungen erlebt, ein psychophysisches Wesen ist, bei dem sein Körper eine große Rolle spielt - gerade als Zentrum möglicher und wirklicher Handlungen. Dieser Körper bewirke, daß die reinen und unmittelbaren Bewußtseinsdaten im Sinne des von Bergson so genannten "statischen Bewußtseinsaspekts" verunstaltet und im besonderen in eine Reihe von äußeren konkreten Wahrnehmungen verwandelt würden, in denen die soeben erwähnten "Schemata der Handlung" aufträten, die eine Verfälschung der den Menschen umgebenden Welt zur Folge hätten. Andererseits ist es eine Konzeption, die man in den "kritischen Realismus" als eine seiner besonderen Spielarten einordnen kann. In der konkreten Wahrnehmung sei uns unzweifelhaft eine Wirklichkeit gegeben, diese Wirklichkeit nehme aber eine ihrer Natur fremde, auf die mögliche Handlung relative Gestalt an. Diese formale Gestalt des wahrgenommenen Dinges, die ihm durch die konkrete Wahrnehmung aufgeprägt werde, sei ihm fremd, d. h. verfälsche es, sei somit mindestens in formaler Hinsicht "nicht objektiv". Es läßt sich jedoch unter Berücksichtigung der ganzen Argumentation Bergsons sehr schwer sagen, wie weit diese NichtObjektivität der konkreten Wahrnehmung reicht. Umfaßt sie nur die formalen, den Kantischen Kategorien entsprechenden Momente, oder betrifft sie auch die materialen (inhaltlichen) Momente, ζ. B. sinnliche Qualitäten 96 und vielleicht sogar primäre Qualitäten, wie die Gestalt eines Dinges?

Daß in konkret wahrgenommenen Dingen auch solche Qualitäten wie z.B. Farben oder Klänge auftreten, ergibt sich bei Bergson nicht mehr aus der Relativität dieser Art von Wahrnehmungen auf die mögliche Handlung, sondern aus dem Unterschied der "Spannung der Dauer" zwischen dem Menschen und der Schicht der Materie. Der Mensch lebt durch diese Spannung gleichsam so schnell, daß er Billionen von Schwingungen oder elektroma-

§16. Die pragmatistische Lösung des

Objektivitätsproblems

167

Gibt es schließlich Momente des konkret wahrgenommenen Dinges, die keine Verfälschung der ihm eigenen Natur ausmachen? Man könnte meinen, daß der Mensch, wenn die konkrete Wahrnehmung seinem Handeln in der materiellen Welt dienen solle, sich nicht in einer völlig illusorischen Welt bewegen könne. Denn das wäre gar nicht günstig für die Handlung, die er mit Hilfe dieser Wahrnehmung zu realisieren versucht. Es müsse also in der konkreten Wahrnehmung ein Bestand an Momenten vorhanden sein, die der wahrnehmenden Person die dem Ding eigene Natur kundgeben. Es ist aber nicht leicht zu sagen, welche der qualitativen ("inhaltlichen") Momente des uns in einer konkreten Wahrnehmung gegebenen Dinges diesem selbst zukommen und welche ihm fremd sind und es verfälschen. Die Schwierigkeit liegt nicht nur darin, daß das bei Bergson nicht deutlich gesagt ist, sondern vor allem daran, daß Bergson selber offenbar nicht geneigt wäre, eine solche Unterscheidung festzuhalten. Denn es hat den Anschein, daß es sich damit nach seiner Auffassung bei verschiedenen Wahrnehmungen verschieden verhalten kann. Das hänge vor allem davon ab, wie diese in der jeweiligen Situation mögliche Handlung sein soll, der die Wahrnehmung zu dienen hat, und darüber hinaus davon, in welchem Maße diese Wahrnehmung jener Handlung unterworfen, d. h. auf sie relativ ist. Im Gegensatz zu den früher besprochenen Theorien innerhalb des kritischen Realismus, in denen der Bereich der NichtObjektivität der Wahrnehmung unabänderlich durch konstante Eigenschaften des Organismus des Menschen und durch dessen psychische Natur bestimmt und zugleich etwas Unaufhebbares ist, läßt Bergsons Auffassung hierin weitgehende Unterschiede zwischen einzelnen Wahrnehmungen des Menschen zu: sie erlaubt es ihm, der Abhängigkeit von der Handlung in größerem oder kleinerem Grade zu unterliegen, sie gestattet ihm sogar, sich von der intellektuellen, relativierten Art des Erkennens bzw. Wahrnehmens der Welt ganz zu befreien und zur Intuition zurückzukehren, bei der alle Deformationen, die aus der Abhängigkeit des Erkennens von den

gnetischen Wellen z.B. zu einer gelben Farbe kondensiert. Ob aber diese Kondensierung und zugleich Stabilisierung auch für das Handeln vorteilhaft ist und ob sie deswegen nicht vielleicht weiter geht, als das aus dem Unterschied der Spannungen der Dauer allein folgen würde - das muß einer Diskussion vorbehalten bleiben, die ich hier nicht mehr durchführen kann.

168

//. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

Postulateli des Handelns stammen, gleichsam automatisch wegfallen. In der späteren Phase seiner Philosophie ordnet Bergson seine Erkenntnistheorie in eine metaphysische Evolutionstheorie ein, so daß die intellektuelle Erkenntnis (das Erkennen) eine der Erkenntnisformen wird, die einem bestimmten Stadium und einem bestimmten Fall der Entwicklung (Evolution) eigen seien. Der Mensch sei jedoch nicht fest, ein für allemal oder auf wesentliche Weise an den Evolutionsprozeß gefesselt, er sei also nicht dazu verurteilt, die ihn umgebende Wirklichkeit auf unabänderliche Weise zu erkennen, sondern könne sich von der in ihm normalerweise vorherrschenden Macht des Intellekts mehr oder weniger befreien und sich, wenigstens für einen Augenblick, zum interesselosen, intuitiven Erkennen aufschwingen. Während der meisten Zeit seines Alltagslebens erkenne er jedoch die äußere, materielle Welt auf die Weise, die der konkreten Wahrnehmung eigentümlich ist, [der Wahrnehmung,] die sich in ihrer Relativität ihrer Form nach oder sogar ihrem Inhalt nach in gewissen Grenzen verändert, in bezug auf die von ihm vollzogene oder auch nur für ihn mögliche Handlung. Bergsons Erkenntnistheorie ist somit nicht nur psychophysiologisch, sondern sogar metaphysisch bzw. von der Metaphysik (Bergsons) abhängig. In seinem Buch L'évolution créatrice legt Bergson auch das Verhältnis zwischen Erkenntnistheorie und Metaphysik auf deutlich andere Weise fest, als es in anderen philosophischen Systemen aufgefaßt wird. Seit Kant herrschte die Tendenz vor, die Erkenntnistheorie von der Metaphysik, ja sogar von allem "positiven" (wissenschaftlichen) Wissen unabhängig zu machen. Als Gegensatz zu dieser Ansicht sah man nur die Auffassung, welche die Erkenntnistheorie (programmäßig oder faktisch) von der Metaphysik bzw. den Einzelwissenschaften -

wie das in der

psychophysiologischen

Erkenntnistheorie geschieht - abhängig macht. Bergson tritt bewußt für eine dritte mögliche Lösung des Problems des Verhältnisses zwischen der Erkenntnistheorie und der Metaphysik oder anderen Wissenschaften ein, nämlich für ihre gegenseitige Abhängigkeit. Gerade in diesem Zusammenhang behauptet er, daß die Erkenntnisweise, die der Mensch oder sonst ein Lebewesen realisieren kann, von seiner metaphysischen Natur und seiner Stellung innerhalb der Evolution der ganzen Wirklichkeit abhänge, daß aber andererseits auch das Bild der wirklichen Welt, das der Mensch gewinnen kann, davon abhängig sei, welcher Art Erkenntnis - der intuitiven oder der

§ 16. Die pragmatistische Lösung des

Objektivitätsproblems

169

intellektuellen, mehr oder weniger auf die mögliche Handlung relativierten er fähig ist. Mit anderen Worten, die Erkenntnistheorie sei in ihren konkreten Ergebnissen von unserer metaphysischen Natur abhängig und, umgekehrt, unsere Metaphysik sei davon abhängig, welchen Grad von Intuitivität unserer Erkenntnis wir erreichen können. Wenn wir ganz unter der Macht der rein intellektuellen Erkenntnisweise verbleiben, seien wir nur fähig, zu einem statischen Bild der Wirklichkeit zu gelangen. Wenn wir dagegen den auf unserem Erkennen lastenden Drang zur intellektuellen Erkenntnis wenigstens bis zu einem gewissen Grad überwinden, vermöchten wir auf mehr oder weniger vollkommene Weise zur intuitiven Erfassung des veränderlichen Stroms der reinen Dauer vorzustoßen, wie er in der konkreten nichthomogenen, mithin qualitativen Zeit enthalten sei. In meinem Buch Intuition und Intellekt bei Henri Bergson97 habe ich versucht zu zeigen, in welche Schwierigkeiten und Widersprüche sich Bergson in seiner Theorie des Intellektes verwickelt. Ich kann das hier nicht wiederholen. Ich kann auch nicht ausführlich dartun, welchen besonderen Gefahren Bergsons Auffassung der konkreten Wahrnehmung ausgesetzt ist, zumal ich hier diese ziemlich komplizierte Theorie im einzelnen nicht referiert habe. Ich muß mich auf [einige] unentbehrliche Bemerkungen beschränken, die sich auf die Frage beziehen, ob für Bergsons pragmatistische Theorie der konkreten Wahrnehmung ähnliche Einwände gelten wie die, die ich gegen den "kritischen erkenntnistheoretischen Realismus" vorbringen mußte. Diese Frage läßt sich schwer beantworten, gerade wegen dem oben festgestellten Charakter der Bergsonschen Auffassung, die keine feste, in jedem Fall gleiche Relativierung der konkreten Wahrnehmung kraft deren Gebundenheit an die Handlung, mithin keine feste, gleichsam starre NichtObjektivität dieser Wahrnehmung in bezug auf Gegenstände der materiellen Welt annimmt, sondern vielmehr ihre veränderliche NichtObjektivität behauptet, die von Bedingungen abhänge, unter denen diese Wahrnehmung stattfindet. Dabei verhalten sich die Sachen noch anders bezüglich der - sozusagen formalen NichtObjektivität der Wahrnehmung, d. h. in bezug auf die darin auftretenden "Schemata der Handlung" (die kategoriale Formung), die in der Wahrnehmung den uns gegebenen Dingen (dürfen wir uns so ausdrücken?)

07 y

Es ist zum ersten Mal als meine Doktordissertation erschienen. Vgl. die Anm. 81 auf S.159.

170

11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

gleichsam aufgestülpt werden, und wiederum anders bezüglich der in der betreffenden Wahrnehmung verkörperten inhaltlichen (qualitativen - wenn man so sagen darf) Gegebenheiten. Man könnte nämlich sagen, im letzteren Fall bestehe die NichtObjektivität der Wahrnehmung nicht darin, daß das wahrgenommene Ding unter dem Aspekt gerade einer bestimmten Gegebenheit, einer Qualität, einer Eigenschaft auftritt, sondern darin, daß [eine solche Eigenschaft] in unserer Wahrnehmung - durch unsere auf unsere möglichen Handlungen konzentrierten Interessen, - aus der Gesamtheit von Gegebenheiten, in denen das vorliegende Ding sich in der Wahrnehmung überhaupt darbieten könnte, ausgesondert, den Charakter von einem gleichsam einzigen oder wichtigsten Gesicht dieses Dinges, von der Natur desselben angenommen habe; ihre Rolle in der Gesamtheit der Eigenschaften dieses Dinges sei also zu stark hervorgehoben worden. Diese zutage geförderte Eigenschaft dürfte das gegebene Ding - wie es scheint - besitzen, und nur [der Umstand], daß sie in den Vordergrund gerückt, an die dominierende Stelle am Ding gebracht werde, mache eine gewisse Verfälschung der Wirklichkeit, mithin eine gewisse NichtObjektivität der Wahrnehmung selbst aus, [eine NichtObjektivität] die in einer weiteren Wahrnehmung zu beseitigten oder durch eine andere ersetzt werde, indem die gegebene Eigenschaft durch eine andere, gleichermaßen grundlos in den Vordergrund rückende abgelöst werde. Es handle sich also hierbei nur um eine relative, gleichsam graduelle NichtObjektivität der Wahrnehmung, die sich zugleich in anderen Wahrnehmungen desselben Dinges beheben lasse. Dagegen mache das Auftreten des wahrgenommenen Dinges in einer ganzen Auswahl von "Handlungsschemen", die dem Ding eine ihm fremde Form aufzwingen würden, schon eine absolute Verfälschung der materiellen Wirklichkeit

aus. Das in der gegebenen

konkreten

Wahrnehmung

Wahrzunehmende besitzt ja eine solche Form - wie es scheint - gar nicht, ist dieser Form seiner Natur nach völlig fremd. Hier wird nicht mehr nur eine in der Wirklichkeit auftretende und [daraus] ausgesonderte Form überbetont, sondern es würde der Wirklichkeit etwas aufgedrängt, was in ihr selbst überhaupt nicht auftrete und dazu der einzigartigen - wenn man so sagen darf Struktur der fließenden, heterogenen und zugleich in ihrer Heterogenität undifferenzierten Koninuität der reinen Dauer (continuité hétérogène dans la durée pure) nicht entspreche. Nur noch der Grad selbst, in dem diese feste

§ 16. Die pragmatistische

Lösung des

Objektivitätsproblems

171

Form eines Handlungsschemas im vorliegenden Fall dem Wahrgenommenen aufgeprägt wird, könne mehr oder weniger weit oder tief gehen und damit auch die originale Wirklichkeit in der reinen Dauer mehr oder weniger stark verfalschen, lasse sich jedoch in der konkreten Wahrnehmung nie ganz beseitigen. Das letztere sei erst in der reinen äußeren Perzeption, d. h. in einer der Formen von Intuition möglich. Wenn wir uns aber klarmachen würden, daß eines der Handlungsschemen darin bestehe, daß der fließende Strom von Veränderungen der Wirklichkeit stabilisiert werde (daß dem unaufhörlich Veränderlichen der Schein der Stabilität gegeben werde) und daß der Grad dieser Stabilisierung durch den Unterschied der Spannung der Dauer oder Spannung des Bewußtseins, den Unterschied zwischen der Spannung, mit der sich die gegebene konkrete Wahrnehmung vollzieht, und der "Spannung" der Dauer der materiellen Wirklichkeit bestimmt sei und daß schließlich eine Folge dieser Stabilisierung ζ. B. sei, daß etwas, was in Wirklichkeit ein elektromagnetischer Wellenprozeß mit einer ungeheuren Anzahl von Schwingungen pro Sekunde ist, in der Gesichtswahrnehmung des Menschen als die relativ stabile rote Farbe einer Kugel (oder die grüne Farbe eines Blattes) auftritt: dann würden wir uns überzeugen, daß die NichtObjektivität der konkreten Wahrnehmung sich nicht auf Aspekte der mehr oder weniger [stark] betonten "Form" (des gegebenen Handlungsschemas) beschränke, sondern deutlich auf das Gebiet der sekundären, sinnlichen Qualitäten übergreife, mit denen sich die Dinge als die in der konkreten Wahrnehmung gegebenen darböten. Diese NichtObjektivität sei nicht mehr bloß pragmatischer Natur, sei somit nicht mehr durch die Erfordernisse der möglichen Handlung (mit Rücksicht auf deren Erfolg) allein bedingt, sondern sie liege an einem metaphysischen Unterschied zwischen der Spannung der Dauer des Menschen und der Spannung oder auch deren weitgehender Senkung, j a sogar - im Grenzfall - dem Fehlen dieser Spannung im materiellen Ding. Diese NichtObjektivität scheine also in dem Maße unbehebbar zu sein, in dem es schwierig oder gar unmöglich sei, die Spannung der Dauer des menschlichen Bewußtseins gleichsam auf den Nullpunkt dieser Spannung im rein materiellen Ding herabzusetzen. Solange der Unterschied der Spannung der Dauer der beiden so verschiedenen Existenzen wie das menschliche Bewußtsein und das materielle Ding noch bestehe, so lange stelle uns die konkrete Wahrnehmung Dinge mit Qualitäten dar, die [von der Wirklichkeit] ebenso verschieden seien wie - nach der physi-

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

kaiischen Theorie - Farben und Mannigfaltigkeiten von elektromagnetischen Wellen. 98 Wie wir also sehen, kommt die pragmatistische Theorie der konkreten Wahrnehmung bei Bergson in letzter Konsequenz dem psychophysiologischen kritischen Realismus sehr nahe, mit dem Unterschied, daß sie, sofern sie sich nicht nur auf die Psychologie und Physiologie des Menschen, sondern auch auf die Physik sowie auf gewisse metaphysische Ansichten beruft, im Gegensatz zum früher besprochenen kritischen Realismus in ihrer Auffassung auf die formale Struktur des Wahrnehmungsgegenstandes Rücksicht nimmt und durch eine Relativierung der konkreten Wahrnehmung auf die mögliche Handlung die Möglichkeit bietet, die NichtObjektivität dieser Wahrnehmung zu beseitigen oder zu vermindern. Für Kant, der diese Form als eine für menschliche Erkenntnis notwendige Form a priori betrachtete, war das unmöglich, und die (kategoriale) Form bildete [für ihn] eine (unaufhebbare) Barriere zwischen dem Erkenntnissubjekt und der Wirklichkeit (an sich). Greift jedoch Bergsons Theorie, indem sie diese Relativität der Wahrnehmung einführt und Charakter und Quelle dieser NichtObjektivität aufdeckt, auf Ergebnisse der Wahrnehmung zurück, und kann sie - wie das in den früher besprochenen Fällen des "kritischen erkenntnistheoretischen Realismus" der Fall war - ohne einen Rückgriff auf diese Ergebnisse nicht auskommen?

QQ

Wie verhält es sich also: Hebt der Physiker, der die Wellennatur des Lichtes entdeckt und der roten Farbe eine bestimmte Länge ihrer elektromagnetischen Welle zuordnet, diesen grundlegenden Unterschied der Spannungen der Dauer zwischen dem menschlichen Bewußtsein und der physikalischen Natur der elektromagnetischen Welle auf - und gewinnt er dadurch eine intuitive Erkenntnis? Bergson würde vielleicht antworten: Es ist gar nicht der Fall, daß die Physik dieses Wissen mit Hilfe intellektueller (begrifflicher) Erkenntnis gewonnen hat; wenn aber der Physiker in der Lage wäre, die einzelnen "Schläge" zu fühlen - gleichsam eine Berührung einer Serie dieser Wellen zu erleben - dann würde er den Unterschied der Spannungen der Dauer überwinden, der ihn von der physikalischen Wirklichkeit trennt, und eine Intuition der elektromagnetischen Welle erzielen, was ihm - praktisch genommen - nie gelingen kann. Bergsons Stellung zur Frage nach [dem Wert] naturwissenschaftlicher und insbesondere physikalischer Erkenntnis ändert sich übrigens mit der Entwicklung seiner Philosophie. Während in Matière et mémoire die Relativität intellektueller und speziell wissenschaftlicher Erkenntnis stark betont wird, macht sich später im einleitenden Aufsatz in La pensée et le mouvant [in Bergson, Œuvres, Paris 1946, Bd. 7] eine deutliche Tendenz bemerkbar, zu betonen, daß diese Erkenntnis zur Wirklichkeit gelangt und trotz ihrer Relativität "objektiv" sei.

§ 16. Die pragmatistische Lösung des Objektivitätsproblems

173

Bergson stellt Behauptungen zur Theorie des Organismus und zur Physik auf. Man kann freilich nicht sagen, daß seine Behauptungen zur Anatomie und Physiologie des Organismus, insbesondere des menschlichen Organismus, ebenso wie diejenigen zur Physik, sehr aufschlußreich und konkret seien. Er mußte sich aber jedenfalls darauf berufen, daß der menschliche Organismus ein Zentrum der möglichen und aktuellen Handlungen sei. Diese Behauptung setzt eine Kenntnis der Anatomie und Physiologie voraus (unter anderem führt Bergson eine Diskussion über die Funktion des Gehirns durch, dem er eine ähnliche Rolle wie die der Telephonzentrale zuschreibt). Wenn er sich diese Behauptungen zunutze macht, nimmt er zugleich zur Kenntnis, daß das naturwissenschaftliche (biologische) Wissen mit Hilfe der äußeren Wahrnehmung gewonnen wird, derjenigen also, die er konkrete Wahrnehmung nennt. Er muß zugleich anerkennen, daß der lebende Organismus ein Ganzes ausmacht, das von seiner Umgebung wirklich abgegrenzt ist, nicht nur scheinbar, wie das bei der konkreten Wahrnehmung der Fall sein soll, die ihrer Form nach gerade relativ auf die Handlung sei. Er muß auch anerkennen, daß lebende Organismen einen Bestand an wesentlichen Merkmalen haben, die sie von unbelebten Dingen effektiv unterscheiden usw. Und in diesem Fall kann er nicht behaupten, daß die entsprechenden Wahrnehmungen, durch die dieser Komplex von charakteristischen und wesentlichen Merkmalen der lebenden Organismen aufgefunden wird, uns über gerade diese ihre wesentlichen und charakteristischen Merkmale nicht objektiv unterrichten würden. Die der Auffindung dieser Merkmale (letzten Endes) dienenden Wahrnehmungen können also nicht gerade in dieser Hinsicht - wie das aus Bergsons pragmatistischer Theorie folgen würde - nicht-objektiv sein. Auch in diesem Fall kann also Bergson, um seiner pragmatistischen, relativistischen Theorie der konkreten Wahrnehmung eine empirische Stütze zu geben, sich nicht nur auf Erkenntnisergebnisse berufen, die in den von ihm untersuchten Wahrnehmungen gewonnen werden, sondern er muß zugleich eine Reihe von Thesen annehmen, die der zu begründenden Theorie der konkreten Wahrnehmung widersprechen. Bergson könnte sich zwar mit der Bemerkung verteidigen, er habe seine Wahrnehmungstheorie nicht anhand von auf der sinnlichen Wahrnehmung beruhenden naturwissenschaftlichen Behauptungen, sondern mit Hilfe der Intuition entdeckt. Er habe doch innerhalb seiner Erkenntnistheorie eine andere Erkenntnisweise neben der intellektuellen zur Verfügung,

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

eine Erkenntnisweise, die eine vollends "objektive" und von Handlungsschemen freie Erkenntnis liefere usw. Doch auch wenn wir ihm darin recht gäben, daß er die Funktion des menschlichen Organismus und seine Andersartigkeit im Verhältnis zu den Dingen, die keine Handlungszentren sind, intuitiv erkannt habe, müßten wir fragen, ob der so oder anders erkannte menschliche Organismus nicht ein besonderes Ganzes ausmachen müsse, das mit einer Auswahl von wesentlichen Merkmalen ausgestattet ist, die es von der toten Natur radikal unterscheiden. Ist dem so, dann müssen wir Bergsons These zurückweisen, daß ζ. B. die Eigenschaft, ein getrenntes, von seiner Umgebung abgegrenztes Ganzes zu sein, nur ein "Handlungsschema" sei, dem in der Wirklichkeit nichts entspreche. Wir müssen vielmehr zugeben, daß diese Eigenschaft ein notwendiger Zug der dem Organismus eigenen Form sei. Auch in diesem Fall begehen wir also einen Widerspruch - dieses Mal zu Bergsons Theorie der Intuition, die als reine, uninteressierte Erkenntnis von der Einführung der Handlungsschemen in die Wirklichkeit frei sein soll und kein derart abgegrenztes Ganzes präsent haben kann, wie es der Organismus ist und sein muß. Diese Bemerkungen mögen ausreichen, um uns zu überzeugen, daß auch die pragmatistischen Theorien der Art von Bergsons Theorie der konkreten Wahrnehmung und seiner Theorie des Intellektes genau den gleichen Einwänden ausgesetzt sind wie die früher besprochenen Begründungsversuche des kritischen erkenntnistheoretischen Realismus. In letzter Abrechnung ist somit keine der Theorien, die das Objektivitätsproblem der äußeren Wahrnehmung auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie zu lösen versuchen, frei von prinzipiellen Irrtümern. Folglich findet dieses Problem auf dieser Ebene überhaupt keine befriedigende Lösung. Man darf dabei nicht vergessen, daß Bergson, ungeachtet seiner im Grunde pragmatistischen Wahrnehmungs- und Intellektstheorie, das klassische Verständnis der Wahrheit bzw. Objektivität der Erkenntnis nicht aufgibt. Dieses Verständnis gilt nämlich für ihn mindestens im Rahmen seiner Theorie der Intuition, nicht weniger aber innerhalb der Theorie des Intellektes, den Bergson gerade deswegen für die NichtObjektivität der in der Wahrnehmung gewonnenen Ergebnisse verantwortlich macht, weil diese auf die mögliche Handlung relativ sind und der Wirklichkeit zumindest die formalen kategorialen Aspekte (Handlungsschemata) aufprägen, die dieser fremd sind. Auch in diesem Fall läßt

§17. Erkenntnisbeziehung

und

Kausalzusammenhang

175

also Bergson die klassische Auffassung der Wahrheit bzw. Objektivität der Erkenntnis gelten. Angesichts der Tatsache, daß keine der betrachteten möglichen Lösungsweisen des Objektivitätsproblems der Erfahrungserkenntnis zu dem erhofften Ergebnis führt, ist zu vermuten, daß die Konzeption der psychophysiologischen Erkenntnistheorie selbst an einem prinzipiellen Fehler krankt, der dieses negative Resultat verursacht.

§ 1 7 . Erkenntnisbeziehung und Kausalzusammenhang Eine der grundlegenden Überzeugungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie - die übrigens gewöhnlich nicht ausdrücklich ausgesprochen wird - ist eine besondere Auffassung der Beziehung, die zwischen dem Erkenntnisgegenstand und der vom psychischen Subjekt bei der Gewinnung einer Erkenntnis vollzogenen Erkenntnistätigkeit bzw. zwischen diesem Gegenstand und der Erkenntnis als Erzeugnis der Erkenntnistätigkeit besteht. Sowohl die erste wie die zweite dieser Beziehungen werden wir die Erkenntnisbeziehung zwischen Gegenstand und Erkennen bzw. Erkenntnis nennen. Und wir werden uns bemühen, diese Erkenntnisbeziehung näher aufzuhellen. Die psychophysiologische Erkenntnistheorie faßt sie als eine der Kausalbeziehungen auf, die zwischen dem Menschen und seiner Umgebung, insbesondere dem zu erkennenden Gegenstand bestehen. Diese Auffassung begegnet uns - manchmal nur implizit - bei jedem psychophysiologischen Lösungsversuch des Objektivitätsproblems der Erkenntnis der materiellen Welt als eine seiner Voraussetzungen. Sie spielt auch - wie wir bald sehen werden eine gewisse Rolle bei der Behandlung des Problems der Erkenntnis der irrealen, insbesondere mathematischen Gegenstände. Daher macht sich jedesmal die Bemühung bemerkbar, bei der Betrachtung der Erkenntnis gewisser Gegenstände die Glieder der erkenntnismäßig-kausalen Beziehung näher zu bestimmen und eventuell eine ganze Kette von Kausalzusammenhängen festzulegen, die hier in Frage kommen (oder kommen können). Im Falle der materiellen Gegenstände erhalten wir dann eine Reihe mit folgenden Gliedern: ein (vom Gegenstand ausgehender) physischer Reiz - ein physiologischer Reiz - ein aktiver Zustand in den leitenden Nerven - ein Prozeß im

176

II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

Nervenzentrum - ein psychischer Prozeß (der eventuell noch durch die entsprechende psychische Disposition bedingt sein kann) - das Erzeugnis dieses Prozesses: ein bestimmtes Wissen von einem Gegenstand. Je nachdem, wie weit das Wissen des Erkenntnistheoretikers dieser Art über die Glieder des ganzen Prozesses und die Abhängigkeiten zwischen ihnen reicht, werden diese oder jene Schlußfolgerungen nicht mehr über den Erkenntnisprozeß selbst oder seine kausalen Bedingungen, sondern über die Beziehung zwischen dem psychischen Prozeß (oder seinem Erzeugnis) und dem Erkenntnisgegenstand gezogen. Man vergißt dabei gewissermaßen, daß diese - nach der bisherigen Auffassung - Endglieder einer Kette von Zusammenhängen waren, die man als Kausalzusammenhänge ansah, und man fängt an, diese Beziehung unter einem ganz anderen Aspekt zu betrachten, der für eine Kausalbeziehung nicht geeignet scheint. Bevor wir uns aber der Frage zuwenden, welcher dieser Aspekt ist, sei vorerst bemerkt, daß es nicht klar ist, was nach der psychophysiologischen Erkenntnistheorie den "Gegenstand" ausmachen soll, der dem Erkenntniserzeugnis - der Erkenntnis - entspricht. Soll es das Ding sein, das man anscheinend wahrnimmt und von dem man eventuell etwas aussagt, also ζ. B. das Papier, auf dem ich diese Worte schreibe; oder soll es etwas anderes sein? Nicht selten stellt man die Situation so dar, als ob der auf das Sinnesorgan des Erkenntnissubjektes einwirkende physische Reiz, ζ. B. ein Wellenprozeß - "Licht" im Verständnis der Physik, diesen Gegenstand ausmachte, oder auch so, daß es sich dabei um den Festkörper handle, der dieses Licht ausstrahlt oder auch nur ablenkt. Was dagegen als die diesem "Gegenstand" entsprechende "Erkenntnis" in Frage kommen sollte, wäre dann nichts anderes als ein Komplex von sinnlichen "Empfindungen", der durch jene Kette von miteinander kausal verbundenen Tatsachen - vom physischen Reiz bis hin zum Prozeß im Nervenzentrum - hervorgerufen wird. Hier aber eröffnet sich erneut eine Quelle von Unklarheiten und Bedenken, was eigentlich jene "sinnliche" Empfindung sein soll. Es liegt in bezug darauf eine ganze Reihe von auseinandergehenden Meinungen vor, ausgehend von der primitivsten und zugleich - wie manche glauben - am wenigsten kritischen", die als eine sinnliche, ζ. B. visuelle "Empfindung" einfach eine Far-

OO Als eine solche [d.h. kritische] will Th. Ziehens Betrachtung im Buch Erkenntnistheorie psychologischer

und physikalischer

Grundlage,

[Jena] 1913 gelten.

auf

§17. Erkenntnisbeziehung

und

Kausalzusammenhang

177

be ansieht, und zwar eine solche, die an einem Ding, ζ. B. an der Wand eines Hauses, an der Tür, am Gras usw. auftritt. So sieht das bei J. Locke, bei Berkeley, sogar bei D. Hume aus. Dieser Auffassung stellt man die Ansicht entgegen, die sich bemüht, sehr kritisch und zugleich in ihren Betrachtungen sehr subtil zu sein, und die von den "reinen" Empfindungen, von den Empfindungsdaten spricht, die wir erleben, ohne daß wir sie uns deutlich zum Bewußtsein bringen und indem wir auf ihrer Grundlage etwas anderes, nämlich qualitative Merkmale der wahrgenommenen Dinge vermeinen. Es zeigt sich dann, daß man den vollen wahrnehmungsmäßigen psychischen Zustand, z. B. die visuelle Wahrnehmung eines Dinges, nicht als etwas betrachtet, das in jeder Hinsicht durch den physischen Reiz kausal hervorgerufen wird. Man glaubt vielmehr, dieser Zustand enthalte eine Reihe von inhaltlichen Momenten, von denen man sagt, daß sie "aus der Erfahrung stammen". Das soll aber heißen, daß sie gleichsam eine Spur oder ein Echo oder Erzeugnis von früheren ähnlichen Wahrnehmungen sind (derselben oder anderer Art oder sogar von gewissen reproduktiven oder produktiven Vorstellungen). Diese Momente rechnet man zu den aktuellen "Empfindungen", die zu dieser Wahrnehmung gehören und die man ausschließlich als solche betrachtet, die gerade "jetzt" durch einen physischen Reiz oder mehrere solche Reize hervorgerufen werden. Auf diese Weise kommt zur ersten Genese, welche die Empfindungsphänomene aus den physischen Reizen ableitet, gleichsam eine andere hinzu, die gewisse Einzelzüge des aktuellen wahrnehmungsmäßigen Erkenntnis"zustands" aus den früheren "Erfahrungen" (früheren Empfindungen, die "jetzt" gleichsam reaktiviert werden) sowie aus anderen Erkenntniserlebnissen, z.B. aus den "Gedanken an" oder "Urteilen über" und sogar aus nichterkenntnismäßigen Erlebnissen ableitet, als welche z.B. alle emotionalen oder volitionalen Erlebnisse gelten. Während die erste Genese die "reinen" Empfindungen als mittelbare Wirkungen von physischen Reizen und deren Transformation im empfangenden, leitenden und zentralen Nervenapparat aufzufinden hat, soll die zweite Genese solche inhaltlichen (anschaulichen) Wahrnehmungselemente aussuchen, die an sich nicht im strengen Sinne wahrnehmungsmäßig sind, die sich aber mit der aktuellen Wahrnehmung irgendwie verflechten. Dadurch, daß man auf sie und ihren andersartigen Charakter aufmerksam wird, soll die konkrete Wahrnehmung gleichsam von all dem "gereinigt" werden, was keine "reine" sinnliche Empfindung mehr ist

178

11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

und was daher eine Täuschungs- oder Irrtumsquelle ausmachen kann. Auf diese Weise bildet die sinnliche Empfindung ein abstraktes, aus dem Ganzen des anschaulichen Inhalts des Erlebnisses herausgehobenes Gebilde, letztlich das Erzeugnis einer genetischen psychologischen Analyse dieses Erlebnisses, ein Gebilde, von dem man dartun soll, daß es ein Endresultat des durch den physischen Reiz initiierten Prozesses bildet. Und erst der Inbegriff von so verstandenen "sinnlichen Empfindungen" soll jene "reine Erfahrung" ausmachen, die irgendwie mit der "Wirklichkeit" zu konfrontieren sei. Die letztere sei dabei nichts als eine entsprechende Auswahl von physischen "Reizen", die - nach dieser Theorie und den sie eventuell bestätigenden Experimenten jene Empfindungen auslösen. Würde es sich in der Erkenntnistheorie lediglich (oder auch nur hauptsächlich) um eine kausale Genese gewisser psychischer Prozesse handeln, dann wäre ihre Untersuchung in dem Augenblick beendet, in dem für einen Prozeß X andere (physische) Prozesse Υ, Ζ ... aufgefunden würden, von denen X die "Wirkung" ist oder sein soll. Indessen, die genetische Betrachtung bildet nur gleichsam eine Einleitung oder ein Mittel zur Überlegung über etwas ganz anderes, nämlich über die "Übereinstimmung" ("Wahrheit") oder "Nichtübereinstimmung" des Erkenntnisergebnisses, als welches jener Bestand an reinen "Empfindungen" gilt, mit dem Erkenntnisgegenstand oder der "Wirklichkeit", die jene physischen Reize konstituieren sollen. Erst im Augenblick, wo im Laufe der Betrachtungen derartige Begriffe auftauchen und wo wir beginnen, über ihre Verwendung zu reflektieren, betreten wir das eigentliche Gebiet der psychophysiologischen Probleme. Es ist seinem Wesen nach ein ganz anderes Gebiet als der Bereich der psychophysiologischen Probleme kausaler Bedingungen dieser oder jener psychischen Tatsachen. Die letzteren als Tatsachen dieser Art sind alle gleichermaßen kausal bedingt und unterscheiden sich in ihrer Faktizität gar nicht voneinander, mögen sie mit irgendeiner Sache "übereinstimmen" oder nicht. Ihre Betrachtung unter diesem Aspekt [der Übereinstimmung] führt jedoch einen ganz neuen Gesichtspunkt und dadurch auch eine Beurteilung dieser Tatsachen ein, die ohne diesen neuen Gesichtspunkt keinen Sinn hätte. Bevor solche Begriffe wie "Übereinstimmung mit der Wirklichkeit", "Wahrheit" oder "Objektivität" in die Diskussion eingeführt werden, sollte man eine analytische Untersuchung anstellen, die den wesentlichen Sinn dieser Begriffe aufklären soll sowie die Rechtmäßigkeit ihrer Anwendung auf jene "rei-

§17. Erkenntnisbeziehung

und

Kausalzusammenhang

179

nen" Empfindungen oder, wie bei Locke, "sekundären Ideen" einerseits und auf die "Wirklichkeit" bzw. den physischen Reiz andererseits. Im allgemeinen finden wir aber innerhalb der psychophysiologischen Erkenntnistheorie keine derartige Analyse des Sinnes dieser für die Epistemologie so grundlegenden Begriffe. Wir treffen [hier] auch keine Überlegungen an, die darauf hinweisen würden, daß man sich im Rahmen dieser Theorie zum Bewußtsein bringt, daß die Begriffe "Übereinstimmung", "Objektivität" u.a. sich z. B. in ihrem grundlegenden Typus prinzipiell von der Begriffsapparatur unterscheiden, die in der psychologischen Genese von Kausalzusammenhängen verwendet wird, und daß die ganze Problematik, in der Begriffe dieser Art gebraucht werden, von den in der Psychologie erörterten Fragen ganz verschieden ist. Im Gegenteil, die Überlegungen über die "Übereinstimmung" oder

"Objektivität" des wahrnehmungsmäßigen

Erkenntnisergebnisses

schließt man als eine Fortsetzung den genetischen Untersuchungen an, als ob diese nur ein Weg oder Mittel wären, zu entscheiden, ob jene "Übereinstimmung" oder "Objektivität" der Erkenntnis [tatsächlich] besteht. Die soeben erwähnte zweifache "Genese" des konkreten anschaulichen Wahrnehmungsinhalts soll vor allem als ein Mittel dazu dienen, aus dem Bereich der Wahrnehmung solche Elemente auszuschließen oder wenigstens auszusondern, welche - nach den Erkenntnistheoretikern dieser Art - überhaupt keinen Anspruch darauf erheben können, für eine Erfahrung sensu stricto zu gelten, für etwas also, was, als letzten Endes von den physischen "Reizen" stammend, seinem Wesen nach ein "objektives" Wissen über die materielle Wirklichkeit vermitteln könnte. In ihrem Endresultat ergeben derartige Erwägungen, daß auch das, was den physischen Reizen entstammt, infolge der unvermeidlichen Beeinflussung durch die "spezifische Energie der Sinne" und der besonderen Rolle des Zentralnervensystems nicht "übereinstimmend mit der Wirklichkeit" ist und es nicht sein kann. Schon diese Nichtunterscheidung der zwei in Wirklichkeit verschiedenen Typen von Problematik und Begriffsapparatur deutet darauf hin, daß im Rahmen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie die "Erkenntnisbeziehung" zwischen dem Erkenntnisergebnis und dem zu erkennenden Gegenstand mit der Kausalbeziehung zwischen dem physischen Reiz und dem Erkenntnisergebnis, insbesondere mit jenem Komplex von so oder anders verstandenen "Empfindungen" gleichgesetzt wird. Es empfiehlt sich also, zu

180

II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

erwägen, ob und inwiefern es zulässig ist, die Erkenntnisbeziehung mit einem Kausalzusammenhang gleichzusetzen, und außerdem, was als die Glieder der Erkenntnisbeziehung anzusehen ist. Von unserer Stellungnahme in dieser Frage hängt es ab, ob wir eine Einsicht in die erkenntnistheoretische Problematik sowie in die Art und Weise gewinnen, wie die Hauptprobleme der Erkenntnistheorie korrekt zu formulieren sind. Die Tatsache, daß in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie die beiden Beziehungen, wenn auch nicht als identisch gesetzt, jedenfalls irgendwie miteinander eng verbunden werden, zieht eine falsche Fassung des Problems der Erkenntnis nicht nur materieller, sondern auch mathematischer und überhaupt irrealer Objekte sowie der Erkenntnis von Bewußtseinserlebnissen selbst nach sich. Diese Einsicht wird uns u. a. befähigen zu verstehen, warum im XX. Jahrhundert eine Reihe von verschiedenen Interpretationen der Mathematik erschienen ist. Vor allem: Die Erkenntnisbeziehung, an deren Klarlegung ich sogleich herantrete, ist an sich überhaupt keine Kausalbeziehung und speziell keine Kausalbeziehung zwischen dem zu erkennenden Gegenstand und dem Erkenntnisprozeß bzw. -ergebnis. Sie ist nicht einmal dann eine solche, wenn für ihr Bestehen das Bestehen einer Kausalbeziehung erforderlich ist. Auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie, die bei einer gewissen Simplizität ihrer Erwägungen nicht fähig ist, über die Natur der Erkenntnisbeziehung auf deutlichere Weise ins klare zu kommen, wird folgendes sichtbar: [Die Tatsache], daß z.B. zwei Gegenstände A und Β miteinander "übereinstimmen" (was auch immer diese "Übereinstimmung" des näheren bedeuten mag), ist nicht gleichbedeutend damit, daß A die "Ursache" von Β ist, daß also Α Β hervorbringt oder dessen Entstehen nach sich zieht. Die Kausalbeziehung ist, auf welche Weise auch immer sie genauer zu bestimmen sein mag, jedenfalls eine Beziehung, in der A (die Ursache) sich durch eine Seinspriorität gegenüber Β (der Wirkung) auszeichnet, Β dagegen dadurch, daß seine Existenz (sein Entstehen, Eintreten) auf besondere Weise durch A bedingt ist. Diese Beziehung ist also durch eine besondere existenziale Ungleichwertigkeit ihrer Glieder gekennzeichnet, wenn wir auch, im Hinblick darauf, daß ihre Natur nicht geklärt ist, nicht einfach sagen wollen - wie wir davon im täglichen Leben überzeugt sind - daß Α Β "hervorbringe". Indessen finden wir in dieser "Übereinstimmungs"- oder "Ähnlichkeits"beziehung oder in einer Relation zwischen A und B, vermöge deren A im Verhältnis zu Β

§17. Erkenntnisbeziehung

und

Kausalzusammenhang

181

"wahr" wird, nichts von der geschilderten existenzialen Ungleichwertigkeit. Miteinander "übereinstimmend", also ζ. B. einander "ähnlich", in einer Hinsicht "gleich" können zwei Gegenstände sein, zwischen denen überhaupt kein Kausalzusammenhang besteht, weil sie voneinander so weit entfernt sind, daß zwischen ihnen keine Kommunikation der Einwirkung statthat. Es können dies etwa zwei Menschen sein, von denen einer seit vielen Jahrhunderten nicht mehr lebt und der andere unter ganz anderen Bedingungen, wobei sich zwischen diesem und jenem ζ. B. ihrem Charakter nach sehr ähnlichen Menschen keine Filiationslinie aufweisen läßt. "Einander ähnlich" können zwei Gegenstände sein, zwischen denen in ihrer Seinsweise wie in ihrer Beschaffenheit kein Kausalzusammenhang bestehen kann; ähnlich sind z.B. zwei mathematische Dreiecke und gleich sind zwei kongruente Dreiecke. Gewiß ist also diese "Übereinstimmung", um die es sich bei der Betrachtung der Erkenntnisbeziehung zwischen Gegenstand und Ergebnis der Erkenntnis handelt (oder handeln kann), in Wahrheit weder "Ähnlichkeit" noch "Gleichheit", obwohl manchmal (z.B. bei Hume) von der "Kopie" die Rede ist; es geht dabei ebenfalls nicht um eine Bild-Modell-Beziehung usw. Gleichwohl ist diese Beziehung [der Übereinstimmung] den genannten Verhältnissen irgendwie verwandt, während sie der Kausalbeziehung ganz fremd zu sein scheint. Auch wenn in einem Fall zwischen A und Β in dem Sinne ein Kausalzusammenhang bestünde, daß A eine Ursache von Β wäre, und wenn es zugleich [zufällig] so wäre, daß A und Β einander "ähnlich" oder miteinander "übereinstimmend" wären, ist das letztere Verhältnis etwas ganz anderes als der zwischen diesen Gliedern zugleich bestehende Kausalzusammenhang. Es spielt hier keine Rolle, daß beispielsweise Β deswegen existiert, weil A eingetreten ist, sondern lediglich, daß unter den Merkmalen von Β eine Auswahl von gleichen Merkmalen vorhanden ist wie entsprechend ausgewählte Merkmale von A. Auch wenn Λ und Β in jeder Hinsicht gleich wären, würde das noch nicht bedeuten, daß Β eine Wirkung von A ist. [Fälle von] Ähnlichkeit, Übereinstimmung und Gleichheit in gewisser Hinsicht können sich voneinander dem Grade nach unterscheiden. A und Β können einander mehr oder weniger "ähnlich" sein; A kann aber nicht mehr oder weniger die "Ursache" von Β sein. In keinem Fall, wo beim Eintreten der Tatsache (des Ereignisses) A das Eintreten der Tatsache Β unterbliebe, könnte man annehmen, daß zwischen ihnen ein Kausalzusammenhang stattgefunden hat. Davon ist in den Fällen

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

jener verschiedenen Verhältnisse der "Ähnlichkeit", "Übereinstimmung" usw. gar keine Rede. Zwei "ähnliche" oder miteinander "übereinstimmende" Gegenstände können ganz unabhängig voneinander existieren, und es ist im allgemeinen so, daß erst wenn die beiden Gegenstände (oder auch nur Ereignisse) schon irgendwie existieren, eines der Verhältnisse der "Übereinstimmung", "Gleichheit" oder "Ähnlichkeit" usw. vorliegen kann. Eine Ähnlichkeit kann man aber sogar unter nicht existierenden, sondern bloß möglichen oder nur "gedachten" Gegenständen erblicken. Wir sprechen mit guten Gründen von "kausalem Zusammenhang", während wir nicht geneigt sind, denselben Namen dem Ähnlichkeits- oder Gleichheits verhältnis zu geben. Das liegt daran, daß die Glieder dieses Verhältnisses voneinander seinsunabhängig sind und sogar in einer existenzialen, räumlichen und zeitlichen Distanz zueinander stehen können. Es ist kennzeichnend, daß Hume, der das wesentliche Moment der "Notwendigkeit" des kausalen Zusammenhangs ablehnte und sogar die Behauptung aufgab, die Ursache bringe die "Wirkung" hervor, zugleich behauptete, daß zwischen ihnen eine zeitliche und sogar räumliche "Berührung" bestehe. Er stellte dagegen dieses Postulat nicht an die "Impressionen" und die ihnen ähnlichen "Ideen". Seit Humes Kritik des Begriffs der Kausalbeziehung ist bekanntlich diese Beziehung für uns rätselhaft geworden. In den letzten Jahrzehnten hat man sogar Zweifel daran gemeldet, ob sie in der Welt der Mikrophysik überhaupt besteht. Für unsere Zwecke wird es aber genügen, wenn wir uns klarmachen, daß die Erkenntnisbeziehung, mit ihrem Spezialfall, in dem die [effektive] Erkenntnis eines Gegenstandes zustande kommt, etwas ganz anderes ist als die Kausalbeziehung und daß daher die Zurückführung der erkenntnistheoretischen Forschung auf genetische Probleme einen zu vermeidenden theoretischen Irrtum ausmacht. Solange die Natur der Kausalbeziehung selbst nicht angezweifelt wurde, herrschte die allgemeine Überzeugung, die Ursache mache eine hinreichende Bedingung der Wirkung aus. In Anwendung auf die Erkenntnisbeziehung falls jemand darauf beharrte, sie sei ein Spezialfall der Kausalbeziehung müßte man sagen, daß entweder der Erkenntnisgegenstand eine hinreichende Bedingung seiner "Erkenntnis" bildet oder umgekehrt die Erkenntnis eine hinreichende Bedingung für den Gegenstand ausmacht. Kein auch noch so "realistisch" eingestellter psychophysiologischer Erkenntnistheoretiker könn-

§17. Erkenntnisbeziehung

und

Kausalzusammenhang

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te zugeben, daß der Erkenntnisgegenstand eine hinreichende Bedingung für das Erkenntnisergebnis (die "Erkenntnis") sei; auch ein "idealistisch" orientierter Erkenntnistheoretiker dieser Art könnte aber die umgekehrte Behauptung nicht gelten lassen, denn er würde dadurch seinen eigenen Voraussetzungen widersprechen. Vielleicht würde jedoch ein psychophysiologisch ausgerichteter Erkenntnistheoretiker darauf beharren, daß die Existenz des Gegenstandes sowie seine kausale Einwirkung auf das Erkenntnissubjekt und auf das im Erkennen gewonnene Erkenntnisergebnis eine unentbehrliche Bedingung für diesen Prozeß bzw. sein Ergebnis sei und daß darin eine Quelle der genetischen Auffassung der Erkenntnisproblematik liege. Das behauptet gerade die psychophysiologische Erkenntnistheorie, und die Feststellung dieser Tatsache macht einen Ausgangspunkt für ihre ganze Problemstellung aus. Es ist indes interessant, folgendes zu bemerken: Wenn wir ζ. B. durch das Fenster auf die Straße schauen und dort einen Wagen vorbeifahren sehen, dann hat niemand von uns - populär gesprochen - den Eindruck, dieser Wagen oder sein Vorbeifahren sei die Ursache dafür, daß wir ihn im gegebenen Augenblick sehen und ζ. B. seine Marke wiedererkennen. Wenn uns hingegen jemand schlägt und uns das weh tut, sind wir ohne jedwede Überlegung davon überzeugt, daß unser Schmerz gerade durch den Schlag verursacht, hervorgerufen wurde. Es verhält sich somit irgendwie anders mit dem Sehen des Wagens als mit dem Empfinden eines Schlages mit dem Stock auf unseren Rücken. Die Vertreter der psychophysiologischen Erkenntnistheorie werden uns jedoch sagen: Das tue nichts zur Sache; wir wüßten nur nicht, daß der gesehene Wagen auf uns einwirke und daß das, was wirke, was die Ursache unseres Sehaktes ausmache, das vom Wagen reflektierte Licht sei, das zum Hintergrund unseres Auges komme und dort photochemische Veränderungen auslöse. Diese Ursache unseres Erkenntnisprozesses, von dem man in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie spricht, entziehe sich der direkten Erfahrung des sehenden Menschen, ihre Wirkungen aber träten dennoch im Bereich seines Bewußtseins ein. Das alles aber - gerade als etwas, was sich - wie gesagt - unserer Erfahrung "entzieht", d. h. wovon wir nichts wissen, während wir den Wagen wahrnehmen - macht gar nicht die Erkenntnisbeziehung zwischen dem wahrgenommenen Wagen und unserer Wahrnehmung aus. Wir sehen einen Wagen einer bestimmten Marke, d. h. mit einer bestimmten Gestalt, wir sehen, daß er

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11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

z. B. cremefarben ist, daß er durchsichtige Scheiben hat, daß sein Blinker gerade blinkt usw. Von dem physischen Reiz dagegen, der auf den Hintergrund unseres Auges einwirkt, wissen wir nicht nur gar nichts, sondern es ist auch im Inhalt des Erkenntnisergebnisses, das wir in dieser Wahrnehmung gewinnen, keine Feststellung über diese spezielle Einwirkung enthalten. Dieses Erkenntnisergebnis beinhaltet dagegen eine ganz andere Feststellung, nämlich die, daß ein soundso beschaffener Wagen mit einer bestimmten Farbe und leuchtenden Blinkern in die Querstraße eingebogen ist. Und wenn wir fragen, ob wir in dieser Wahrnehmung, die zu einem solchen Ergebnis führt, jenen Wagen gerade so sehen, wie er wirklich ist, ob also - wie man populär sagt - jene "Übereinstimmung" des Inhalts unserer Erkenntnis mit dem, worauf sie sich bezieht, besteht oder nicht: dann handelt es sich dabei keineswegs um den physischen Reiz oder darum, ob er existiert und so oder anders auf den Hintergrund unseres Auges einwirkt. Was überhaupt das bestimmt, womit unsere Erkenntnis - wie man sagt - "in Übereinstimmung" sein soll, ist nichts anderes als der Wahrnehmungsprozeß selbst und des näheren die im bewußten Akt dieser Wahrnehmung beschlossene Intention. Käme es nicht zu dieser Bestimmung, dann bestünde entweder gar keine oder aber eine ganz andere Erkenntnisbeziehung. Der Wahrnehmungsakt würde dann einen anderen Gegenstand, z.B. nicht einen Wagen, sondern eine in jene Querstraße einschwenkende Kuh bestimmen. Ob es dafür, daß ein solcher Akt der Wahrnehmung eines Wagens mit bestimmten Eigenschaften zustande kommen kann, hinreichend und notwendig ist, daß zwischen dem entsprechenden physischen Reiz und dem Hintergrund unseres Auges ein Kausalzusammenhang eintritt, das ist eine ganz andere Frage. Auch dann aber, wenn dies der Fall wäre, wenn also das Eintreten eines bestimmten Kausalzusammenhangs eine Bedingung für das Bestehen der gegebenen Erkenntnisbeziehung ausmachte, bestünde die erste wichtige Aufgabe der Erkenntnistheorie darin, klarzulegen, was im Rahmen der Erkenntnisbeziehung selbst vorliegt, welche ihre Glieder sind, sodann aber auch, ob der durch den Erkenntnisakt betroffene Gegenstand an sich gerade solche Merkmale hat, wie sie ihm in diesem Erkenntnis- und des näheren Wahrnehmungsakt zugewiesen werden. Ob aber die Erforschung dieser Beziehung uns Resultate vermitteln kann, die uns schon auf hinreichende Weise darüber Aufschluß geben würden, ob der fragliche Gegenstand in der untersuchten Beziehung tatsächlich erkannt wurde,

§17. Erkenntnisbeziehung

und

Kausalzusammenhang

185

mit anderen Worten, ob die Erkenntnis dieses Gegenstandes "objektiv" ist das ist eine andere Frage, auf die wir noch eingehen wollen. Auch wenn es sich jedoch herausstellen sollte, daß zwischen dem Erkenntnisgegenstand (in dem der Prozeß seine Quelle hat, der zur Einwirkung eines physischen Reizes auf ein Sinnesorgan des wahrnehmenden Menschen führt) und dem Erkenntnisergebnis in jedem Fall ein Kausalzusammenhang besteht (was - wie wir uns überzeugen werden - nicht der Fall ist), reicht das Bestehen dieses Zusammenhangs für das Bestehen einer Erkenntnisbeziehung zwischen dem (so bestimmten) Erkenntnisgegenstand und dem Erkenntnisergebnis nicht aus. Daß es für das Bestehen einer Erkenntnisbeziehung nicht hinreicht, in der es zur Gewinnung eines "objektiven" Wissens über den Gegenstand kommt, davon zeugt jeder Fall, wo man behauptet, daß eine "subjektive Erscheinung" entstehe, die keinen Anspruch auf "Objektivität" erheben könne, die aber dennoch durch einen entsprechenden physischen Reiz hervorgerufen werde. Man kann aber auch auf Fälle hinweisen, in denen, trotz des Eintretens eines Kausalzusammenhangs zwischen einem Gegenstand und dem empfindenden Menschen, keine Erkenntnisbeziehung auf das gegenständliche Glied dieses Zusammenhangs konstituiert wird. Wenn jemand zum Beispiel im Schlaf einen Fuß unter der Decke herausstreckt und träumt, daß er halbnackt auf der Hauptstraße der Stadt spazieren gehe und friere, sagt man, daß dieser Traum, als ein psychischer Prozeß, infolge der Abkühlung des Fußes entstanden sei. Niemand dürfte aber sagen, zwischen der Traumvorstellung und der Abkühlung des Fußes bestehe eine Erkenntnisbeziehung. Es liegt hier gar kein Erkennen des unter der Decke herausgestreckten Fußes vor; der Traum bezieht sich auf etwas ganz anderes. Der darin bestimmte Gegenstand und die ihm in der Traumvorstellung zugeschriebenen Eigenschaften und Prozesse sind andere. Jemand könnte aber sagen, dieses Beispiel sei nicht überzeugend, weil wir von den Nachtträumen sehr wenig und Ungenaues wüßten. Fassen wir also gewisse im wachen Leben vorkommenden psychischen Erscheinungen ins Auge. So besitzen wir z.B. manchmal reine Sinnesempfindungen, ohne daß sich darauf irgendwelche Vorstellungen oder Urteile aufbauen, die einen Gegenstand (etwa ein Ding) zunächst einmal bestimmen würden, von dem wir dann eine Kenntnis erwerben würden. Derartige rein empfindungsmäßige und zugleich gegenstandslose Zustände kommen zwar ziemlich selten vor, doch jeder von uns hat wohl Situationen erlebt,

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

in denen sie erscheinen. Wir könnten uns auch Fälle verschaffen, wo wir uns auf indirektem Weg vergewissern würden, daß jene rein gegenstandslosen Empfindungen durch die Einwirkung eines entsprechenden physischen Reizes hervorgerufen worden wären, wobei aber trotzdem kein Erkenntnisgegenstand bestimmt wäre: Wir würden einfach gewisse Empfindungen erleben, und mit ihrem Erleben wären wir am Ende. Es würde uns kein ζ. B. farbiges und klingendes Ding erscheinen, und man könnte ebenfalls nicht sagen, daß zwischen der erlebten reinen Sinnesempfindung und dem physischen Reiz eine Erkenntnisbeziehung bestehe. Diese Empfindung würde nämlich weder auf irgendeine Weise auf jenen Reiz zurückverweisen noch ihm ein Merkmal zuschreiben, noch endlich wüßten wir über jenen Reiz etwas aus der direkten Erfahrung; es würde uns nur jemand ex post versichern, daß in der Zeit, als wir die Empfindung hatten, der Reiz auf unser Sinnesorgan einwirkte. Sogar in dem Augenblick, wo uns das mitgeteilt würde, hätten wir den physischen Reiz in der Erfahrung nicht präsent. Wir hätten von ihm und seiner Existenz nur denkmäßig Kenntnis erhalten und würden auch nur in Gedanken diesen Reiz mit der erlebten Empfindung zusammenbringen und zur Überzeugung kommen, die Empfindung sei als Folge der Einwirkung des Reizes entstanden; wir würden jedoch mit dieser Empfindung jenen Reiz noch gar nicht erkennen. Sogar dann bestünde keine Erkenntnisbeziehung zwischen dem Reiz und der erlebten Empfindung. Sowohl die direkt erlebte Empfindung als auch jener bloß gedachte Reiz, als auch schließlich der denkmäßig festgelegte Zusammenhang zwischen ihnen wären Gegenstände eines ganz neuen, denkmäßigen Erkenntnisaktes, eines Urteils, in dem wir die Empfindung als eine Folge der Einwirkung des Reizes bestimmen würden. Und erst zwischen diesen Gegenständen und dem neuen Erkenntnisakt (dem Urteilen) mit einem bestimmten Inhalt fände eine Erkenntnisbeziehung statt, die wiederum die Frage aufwerfen würde, ob sich darin eine "objektive" Erkenntnis des genannten Kausalzusammenhangs zwischen dem Reiz und der Empfindung vollzieht. Und man kann nicht wieder behaupten, diese neue Erkenntnisbeziehung werde durch einen physischen Reiz hervorgerufen, ohne welchen sie keinen Bestand hätte; denn wir wüßten dann von diesem neuen Reiz, seiner Existenz und Natur abermals nichts, und nicht er würde den Gegenstand unserer Erkenntnis ausmachen. Und umgekehrt: Stellen wir uns jemanden vor, der ζ. B. den Rükken einer anderen Person mit einem erwärmten Drähtchen berührt, einen Laut

§17. Erkenntnisbeziehung

und

Kausalzusammenhang

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des Erschreckens der berührten Person hört und sagt: Ihr seht nun, der physische Reiz (die plötzliche Einwirkung mit einem erwärmten Körper auf eine Nervenzelle) hat eine Empfindung der Wärme hervorgerufen (oder der Kälte, wenn die Hautstelle gerade ein sog. Kältepunkt war). Er hat dann in seiner eigenen Wahrnehmung nur präsent, daß er mit einem Drähtchen einen fremden Körper berührt, er weiß, daß das Drähtchen warm ist, weil er es früher erwärmt hat, er hört außerdem den Laut des Erschreckens der untersuchten Person, erlebt aber nicht die Wärmeempfindung und besitzt kein unmittelbares, anschauliches Wissen darüber, sondern bringt nur in Gedanken den mutmaßlichen physischen Effekt der Berührung mit dem Drähtchen mit der mutmaßlichen fremden Sinnesempfindung zusammen und stellt (zu Recht oder zu Unrecht) das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen ihnen fest. Das alles macht den Gegenstand seines Erkennens bzw. seiner Erkenntnis aus; von welchen Reizen aber diese Erkenntnis hervorgerufen wird, weiß er selber nicht und bezieht sich in keiner Weise auf diese unbekannten Reize. Wie ich festgestellt habe, besteht zwischen der reinen erlebten Empfindung und dem Reiz weder eine Erkenntnisbeziehung, noch kommt bei solch reinem Erleben überhaupt ein gegenständliches Erkennen oder eine solche Erkenntnis zustande, weil die Sinnesempfindung für sich allein keinen Gegenstand bestimmt und selbst noch nicht zu einem Erkenntnisgegenstand wird. Erst wenn wir, ζ. B. über unser "Empfinden" verwundert, unsere Aufmerksamkeit auf das Empfundene oder Erlebte richten, darauf, wie es beschaffen ist, wo [es erscheint] usw., dann wird die von uns erlebte Empfindung selbst zum Gegenstand der Erkenntnis, und wir vollziehen in bezug auf sie ein Vermeinen, das ihr bestimmte Eigenschaften, Dauer, Existenz usw. zuschreibt. Solange das nicht eintritt, ist auch keine Erkenntnisbeziehung vorhanden. Denn damit eine solche Erkenntnisbeziehung zustande kommt, ist es notwendig und hinreichend, daß 1. ein Erkennen, d. h. ein Bewußtseinserlebnis besonderer Art oder eine ganze Reihe von solchen Erlebnissen stattfinden, in denen wir Wissen von etwas gewinnen, 2. daß im Erkennen selbst der zu erkennende Gegenstand bestimmt ist, daß also dieses Erkennen eine Intention enthält, die sich auf etwas Bestimmtes (und zwar in dieser Intention selbst Bestimmtes) richtet, 3. daß dem in der Erkenntnisintention bestimmten Gegenstand im Laufe des Erkennens mit einem Bewußtseinsakt [die folgenden Momente] zugeschrieben werden: a) eine bestimmte Natur, b)

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

eine Auswahl von Eigenschaften und c) eine Existenz dieser oder jener Art, immer aber eine solche, die vom Erkenntnisakt unabhängig ist, die dem Gegenstand nicht durch diesen Akt verliehen wird. Wenn das alles erfolgt, stabilisiert sich sozusagen als Effekt des ganzen Prozesses ein Wissen: ein Erkenntnisergebnis, das wir mit einem Meinungsakt gleichsam umfassen und als etwas Fertiges und bei erneuter Zuwendung zu demselben Gegenstand Reaktivierbares festhalten können. Ist aber ein Kausalzusammenhang zwischen dem Erkenntnisgegenstand und dem Erkenntnisprozeß bzw. Erkenntnisergebnis tatsächlich eine unentbehrliche Bedingung für das Bestehen der Erkenntnisbeziehung? Wenn das wirklich so wäre, könnten genetische Überlegungen in der erkenntnistheoretischen Forschung zwar eine Rolle spielen, aber wohl nur als eine Hilfsuntersuchung, die für sich allein das Objektivitätsproblem nicht lösen könnte. Es ist jedoch zweifelhaft, ob in jedem Fall des Erkennens eines Gegenstandes zwischen dem zu erkennenden Gegenstand und dem Erkennen bzw. dem Erkenntnisergebnis ein Kausalzusammenhang besteht, geschweige denn bestehen muß. Dieser Zweifel erhebt sich insbesondere a) beim Erkennen irrealer Gegenstände, d.h. in der Mathematik, Logik, in der Theorie der Literatur usw., b) beim Erkennen eigener psychischer Erlebnisse (insbesondere von Bewußtseinserlebnissen), mithin in der Psychologie. Beschränken wir uns zuerst auf die Objekte der Mathematik. Wenn wir also zugeben, daß 1. die Objekte der mathematischen Forschung existieren, 2. daß sie aber nicht real sind, 3. daß wir tatsächlich eine Erkenntnis dieser Objekte gewinnen, die Mathematik also in Wahrheit eine Wissenschaft ist und 4. daß ein Kausalzusammenhang nur zwischen realen Gegenständen (Sachverhalten, Ereignissen, Prozessen) bestehen kann, dann besteht zwischen keinem Objekt der mathematischen Forschung und seinem Erkennen bzw. dem auf dieses Objekt bezogenen Wissen ein solcher Zusammenhang. Dieser Zusammenhang wäre somit für das Eintreten einer Erkenntnisbeziehung nicht notwendig. Wer dagegen an der These von der Unentbehrlichkeit dieses Zusammenhangs für die Erkenntnisbeziehung festhalten will, muß eine der Prämissen 1 - 4 verwerfen. Nun kann niemand, der den Kausalzusammenhang von der Beziehung zwischen Grund und Folge unterscheidet, die Möglichkeit einräumen, die Ursache eines wirklichen Erkenntnisaktes könne irgend etwas ausmachen, was nicht wirklich ist. Es bleibt somit nur übrig, in dem oben angegebenen kondi-

§ 18. Das Problem der Erkenntnis der Objekte der Mathematik

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tionalen Satz mindestens eine der drei übrigen Prämissen zu verneinen. Kein Wunder also, daß uns bei Betrachtungen über die mathematische Erkenntnis, wie sie oft von Mathematikern angestellt werden, die diese Frage naturgemäß auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie erörtern (ohne sich dessen ganz klar zu sein), mehrfach Ansichten begegnen, die im wesentlichen auf die Verneinung mindestens einer dieser Prämissen hinauslaufen. Sowohl wegen der Wichtigkeit des Problems der mathematischen Erkenntnis selbst als auch um keinen der naheliegenden Einwände gegen die psychophysiologische Erkenntnistheorie unberücksichtigt zu lassen, möchte ich diesen Ansichten etwas Aufmerksamkeit widmen.

§ 1 8 . Das Problem von der Erkenntnis der Objekte der Mathematik auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie Da wir drei Prämissen haben, sind verschiedene Kombinationen ihrer Verwerfung oder Anerkennung möglich. Ich werde hier nur jene besprechen, die im Laufe der Untersuchungen über mathematisches Erkennen und mathematische Erkenntnis tatsächlich vorgekommen sind. Diese Ansichten sind vor allem in den letzten paar Jahrzehnten gleichsam am Rande der mathematischen Forschung im Zusammenhang mit dem "Grundlagenproblem" aufgetaucht. Sie wurden im allgemeinen von hervorragenden Mathematikern ausgesprochen, die sich für berechtigt hielten, sich zu diesen Themen zu äußern. Das hat bis zu einem gewissen Grad gewisse Umwandlungen im Betreiben der Mathematik selbst und jedenfalls beim Festlegen der Grundlagen des deduktiven Systems nach sich gezogen. Auch von der Seite der mathematisierenden Logiker des XX. Jahrhunderts wurden Ansichten dieser Art vertreten. Bei den Philosophen des XIX. Jahrhunderts ist die Auffassung J. St. Mills am wichtigsten, die in seinem System der deduktiven und induktiven

Logik100

dargestellt wurde. Alle diese Betrachtungen kreisen um das grundlegende Problem der Möglichkeit apriorischer Erkenntnis, wobei die Tendenz überwiegt, ohne die Annahme einer solchen Andersartigkeit dieser Erkenntnis zu-

100 [Vgl. J. St. Mill, System der deduktiven und induktiven Logik. Eine Darlegung der Grundsätze der Beweislehre und der Methoden wissenschaftlicher Buch II, Kap. VI, § 1.]

Forschung, Leipzig 1869,

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

rechtzukommen, die uns zwingen würde, die Existenz von Ideen anzuerkennen. Denn das erachtet man als platonische Metaphysik, die man aus verschiedenen Gründen bekämpft. Unabhängig davon, welche Stellung man zur Frage nach dem Wesen der mathematischen Erkenntnis nimmt, sind sich alle darin einig, daß die Mathematik ein deduktives System, d. h. ein System von Sätzen ist, die mit Hilfe rein logischer deduktiver Operationen auf Grund eines Axiomensystems gewonnen werden. Von den deduktiv abgeleiteten Sätzen behauptet man nicht, daß wir, indem wir sie gewinnen, in einem Kausalzusammenhang mit ihren Gegenständen stehen. Hier scheint das Schließen aufgrund von Prämissen auszureichen. Beim ganzen Problem geht es dagegen darum, wie man die Axiome auffindet, die ex definitione nicht durch logische Operationen, sondern auf andere Weise gewonnen werden. Das Problem lautet also: Stehen wir, indem wir ein Axiom erfassen, in einem Kausalzusammenhang mit dem Gegenstand oder Sachverhalt, dessen Bestehen das betreffende Axiom feststellt? Um auf diese Frage eine deutliche Antwort zu gewinnen und zugleich einen wesentlichen Unterschied zwischen mathematischen und empirischen Wissenschaften beizubehalten, ohne daß man gezwungen ist, die Existenz idealer Gegenstände anzuerkennen, verneint man manche der weiter oben angegebenen Prämissen auf verschiedene Weise oder akzeptiert sie. So erhalten wir einige verschiedene Auffassungen mathematischer Erkenntnis, nämlich: I. Es wird manchmal behauptet, daß die Objekte mathematischer Forschung, ζ. B. mathematische Dreiecke, Zahlen und ihre Zusammenhänge, unendliche Mengen, Funktionen usw. nicht existieren würden, mithin auch nicht real seien. Das ist also die Verneinung der Prämisse 1 und die Anerkennung der Prämisse 2. Dann bieten sich zwei Möglichkeiten an: Entweder Α.: Wir gewinnen keine mathematische Erkenntnis, die Mathematik ist also keine Wissenschaft. Man sagt dann insbesondere, die Mathematik sei nur ein System von "Tautologien". Die Neupositivisten sagen in diesem Fall, daß [in der Mathematik] nur Formeln vorlägen, die zur Umbildung der einen Sätze in die anderen dienen würden. Man sagt auch, Mathematik sei gewissermaßen ein intellektuelles Spiel usw.

§18. Das Problem der Erkenntnis der Objekte der Mathematik

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Oder B.: Die Mathematik ist eine Wissenschaft, sie untersucht aber keine speziellen nichtexistierenden Objekte, sondern nur Zusammenhänge (Beziehungen) zwischen gewissen fiktiven Objekten. Das allgemeine Schema eines mathematischen Satzes nimmt hierbei die Gestalt: "wenn ρ, dann q" an. Das ganze Gedankengebäude einer mathematischen Theorie ist dann ein einziger Konditionalsatz, dessen Vordersatz ein Axiomensystem und den Nachsatz ein System der daraus folgenden Lehrsätze bildet. Das ist die sog. "hypothetische Interpretation der Mathematik". Damit ist gewöhnlich noch eine besondere Interpretation des Konditionalsatzes und speziell des Funktors "wenn - dann" verbunden, die unter dem Namen der "materialen Implikation" allgemein bekannt ist. II. Es gibt jedoch eine geradezu umgekehrte Auffassung mathematischer Objekte, man behauptet nämlich, daß sie existierten und real seien. Das ist also die Anerkennung der Prämisse 1 und die Verneinung der Prämisse 2. Bei dieser Voraussetzung sind wiederum zwei Auffassungsweisen der Mathematik möglich: C. die empiristische Interpretation der Mathematik und D. ihre psychologistische Interpretation. adC. Nach dieser Ansicht sind die Objekte mathematischer Forschung gewisse allgemeinste Aspekte oder Eigenschaften gewisser realer Gegenstände. In der Geometrie seien es also räumliche Eigenschaften materieller Körper (deren Gestalten), in der Arithmetik allgemeine Eigenschaften gewisser Mengen von realen Gegenständen, insbesondere wieder von Körpern. Man sagt dann, die Geometrie sei ein Teilgebiet der Physik und beziehe sich auf Eigenschaften des realen Raumes und der sich darin befindenden räumlichen Gebilde; man beruft sich auf die Tatsache, daß im altertümlichen Mesopotamien Zahlenoperationen an Ziegelchen durchgeführt wurden usw. Die realen Gegenstände würden aber gleichsam nur einen Ausgangspunkt bilden, von dem man sich später in gewissem Maße entferne, wenn man eine "Abstraktion" einzelner Eigenschaften von Körpern vornehme, eine Abstraktion, die zugleich eine Verallgemeinerung sei, und wenn man danach Beziehungen und Zusammenhänge zwischen diesen abstrahierten Eigenschaften, den ursprünglich konkreten Momenten der Dinge betrachte. Diesen Standpunkt scheint J. St. Mill zu vertreten, wenn er behauptet, daß die mathematischen Axiome letztlich "aus der Erfahrung" stammende Sätze seien. Sie seien gewisse "Verallgemeinerungen aus der Erfahrung". Diese Ansicht erschien aber

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//. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

vielfach in der Geschichte der Philosophie, angefangen mit Thomas von Aquin bis hin zu T. Kotarbmski heutzutage bei uns [in Polen], Welcher Art diese Abstraktion ist und wozu sie uns eigentlich führt, ist ein wesentliches Problem, wenn man beachtet, daß wir auch in streng empirischen Wissenschaften irgendwie durch "Abstraktion" zu sog. allgemeinen "Begriffen" gelangen, die wir unbedingt benötigen, um allgemeine Sätze zu erlangen. Verwischt sich also der Unterschied zwischen den empirischen, induktiven und den deduktiven Wissenschaften, oder gibt es verschiedene Formen des "Abstrahierens", von denen eine bewirkt, daß wir innerhalb der induktiven und empirischen Wissenschaften bleiben, die andere dagegen die Möglichkeit bietet, deduktive Wissenschaften zu bilden, von denen die am meisten entwickelte die Mathematik ist? ad D. Die psychologistische Interpretation der Mathematik besteht zuerst in der These, die Objekte der Mathematik seien "Begriffe" und keine Gegenstände. Sie vertritt nämlich den Standpunkt, Gegenstände seien immer individuell, Begriffe dagegen allgemein, die Mathematik lege aber allgemeine Sätze fest. Das war in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts, als infolge der Entwicklung der sog. empirischen und experimentellen Psychologie eine Welle des Psychologismus aufkam, in dem verschiedene logische Gebilde, insbesondere aber Begriffe als etwas Psychisches gedeutet wurden. Die Begriffe waren "unanschauliche Vorstellungen", und "Vorstellung" war der allgemeinste psychologische Terminus zur Bezeichnung eines Bewußtseinserlebnisses. Auf diese Weise wurden die Begriffe eine Art von Bewußtseinserlebnissen. Folglich sollte die Mathematik eine Wissenschaft sein, in der spezielle psychische Tatsachen oder allenfalls eine Art von psychischen Erzeugnissen zu behandeln sind. Das hatte auf den Gang der mathematischen Forschung selbst keinen Einfluß, es wurde dagegen ein Versuch unternommen, grundlegende arithmetische Begriffe mit Hilfe einer Analyse [im Rahmen] der deskriptiven Psychologie aufzuklären (Husserl, Philosophie der Arithmetik)101,

einer Analyse, die den Inhalt solcher Begriffe wie "Zahl",

"Menge", "Klasse" u. a. verdeutlichen sollte. Die Aufklärung dieser grundlegenden Begriffe sollte verständlich machen, womit sich die Mathematik

101

[Vgl. E. Husserl, Formale und transzendentale Logik, Halle 1929, S. 119, 120 (Husserliana XVII, hrsg. von P. Janssen, S. 140).]

§18. Das Problem der Erkenntnis der Objekte der Mathematik

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eigentlich beschäftigt. Dennoch ist die Mathematik nicht zur Psychologie geworden, sondern eine deduktive Wissenschaft geblieben. Man konnte aber sagen: Da die Bewußtseinserlebnisse etwas Reales sind, erfüllen die Objekte der Mathematik alle Bedingungen dafür, daß die allgemeine These vom Bestehen von Kausalzusammenhängen zwischen dem zu erkennenden Gegenstand und dem Erkennen [auf diese Objekte] angewendet werden darf. III. Dieser psychologistischen Interpretation der Mathematik stellte sich eine andere Richtung der Mathematik des XX. Jahrhunderts entgegen, die dieses Mal [auch] die Vorgehensweise der Mathematik selbst, wenigstens was ihre mathematischen Grundlagen anbelangt, bis zu einem gewissen Grad beeinflußte. Es ist die formalistische und zugleich letzten Endes physikalistische Interpretation der Mathematik. Sie zieht einen anderen Schluß aus der Verneinung der beiden ersten Prämissen. Die Objekte der Mathematik - wenn man darunter ζ. Β. geometrische Figuren oder Zahlen versteht - würden nicht existieren; die Mathematik aber, obwohl sie sich dadurch als eine "gegenstandslose" Wissenschaft herausstelle, beschäftige sich dennoch mit etwas, und das, womit sie sich beschäftige, seien nur Symbole oder mathematische Zeichen. Diese Zeichen seien aber nichts anderes als entsprechend gestaltete physische Gegenstände (ζ. B. Teilchen von Kreide an der Tafel, Sätze seien "Aufschriften" usw.). Die Mathematik sei, da sie nicht von den Gegenständen handle, eine Menge von Regeln der Zuordnung von mathematischen Symbolen zu anderen mathematischen Symbolen derselben Art. Denn diese Symbole würden nichts bezeichnen und seien - wie gesagt - selbst etwas real Existierendes. Hierher gehört auch die Konzeption der mathematischen "Variablen", die nichts anderes als eine Leerstelle sei, wo nach gewissen Regeln bestimmte Symbole eingesetzt werden dürften. Mit dieser Auffassung der Mathematik ging eine analoge Deutung von logischen Gebilden - Begriffen, Sätzen - einher, die also wieder als ein System von sinn- und gegenstandslosen Symbolen, von realen graphischen Gebilden verstanden wurden, die man nach gewissen Spielregeln gebraucht. Diese formalistisch-physikalistische Auffassung der Sprache, insbesondere der sog. formalisierten Sprache diente einerseits der Errichtung einer Reihe von Systemen der formalisierten Logik, andererseits aber auch [der Schaffung] einer Reihe von verschiedenen deduktiven Systemen der formalisierten mathematischen Disziplinen. Faktisch beschränkte

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

man sich hierbei gewöhnlich darauf, daß man ein System von formalisierten Axiomen festlegte (die als Axiome schlechthin bezeichnet wurden 102 ) und mit Hilfe gewisser Vorgehensnormen eine große Anzahl von aus diesen Axiomensystemen folgenden Lehrsätzen ableitete. 103 Diese verschiedenen Konzeptionen der Methode mathematischer Forschung würden für sich selbst eine gebührende kritische Beleuchtung erfordern. Das überschreitet jedoch den Rahmen der jetzt behandelten Problematik. Ich beschränke mich hier also darauf, die ihnen zugrunde liegenden Konzeptionen zu erwägen, die auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie entwickelt werden, und nachzuprüfen, ob diese Theorie dadurch irgendwelche stärkeren Grundlagen erwirbt oder ob sich [dadurch] im Gegenteil die Bedenken bezüglich der Richtigkeit ihrer Betrachtungsweise erkenntnistheoretischer Probleme vermehren. ad I. A. Dieser Standpunkt enthält - so hat es den Anschein - in seinen Voraussetzungen keinen Widerspruch, obwohl er - wie ich weiter unten nachzuweisen versuche - nicht als richtig anzusehen ist. Er erwächst aus den Schwierigkeiten, auf die der Mathematiker - ein im deduktiven Denken geübter Mensch - beim Versuch stößt, zu verstehen, auf welcher Grundlage die Wahrheit der Axiome beruht. Die große Anstrengung, welche die Mathematiker ungefähr in der Hälfte des XIX. Jahrhunderts unternahmen, um die mathematischen Grundbegriffe in Ordnung zu bringen (was sich angesichts des 101 Husserl sagte mir einmal, von mir danach gefragt, daß das nicht so sehr Axiome, sondern 1 Ol vielmehr "Axiomenformen" seien. Das alles entwickelte sich mit großer Dynamik nach dem ersten Weltkrieg, vor allem in Warschau, und hing mit einer nirgends niedergeschriebenen, skeptischen und zugleich ausgesprochen empiristischen Erkenntnistheorie zusammen, die mit einem radikalen Konventionalismus verbunden war. Es ist hier nicht der richtige Ort, auf Einzelheiten einzugehen. Es wäre jedoch sehr interessant, die Kulissen dieser ganzen intellektuellen Strömung in Polen und in der weiten Welt aufzudecken, die Kulissen, die gerade in den empiristischen Tendenzen einer im Grunde genommen psychophysiologischen Erkenntnistheorie liegen. Die Unkenntnis der wesentlichen Züge der wahrnehmungsmäßigen Erkenntnis bei gleichzeitiger Unfähigkeit, die grundlegenden Strukturen der Bewußtseinserlebnisse und deren Erkenntnisfunktionen herauszuarbeiten, ging hier einher mit einer seltenen Prahlerei angeblich großer "Strenge" und Wissenschaftlichkeit. Das gleiche wiederholte sich in einer außerordentlich ähnlichen Form bei den sog. "Wienern" und dann nach 1934, nachdem die wichtigsten Neupositivisten in die Vereinigten Staaten gezogen waren, in den angelsächsischen Ländern.

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Erscheinens viel Verlegenheit stiftender Antinomien als notwendig erwies) und damit auch die mathematischen Disziplinen, nämlich durch die Aufklärung dessen, welche Axiome ζ. B. der euklidischen Geometrie (und anderen deduktiven Systemen) zugrunde liegen und welche formalen Eigenschaften ein Axiomensystem kennzeichnen sollen - [diese Anstrengung] führte dazu, daß das Problem der Wahrheit der Axiome akut wurde. Indessen war eine gebührende Klärung dieser Frage zum einen durch die Tatsache erschwert, daß dieses Problem sich für Forscher stellte, die zwar große Meister im deduktiven Denken waren, aber jeder Übung bei der Suche nach intuitiven Grundlagen für Sätze entbehrten, die sich aus anderen Sätzen nicht ableiten lassen, für Forscher, die zugleich keine Erfahrung in erkenntnistheoretischen Betrachtungen hatten. Zum anderen war die Klärung dieser Frage durch den historischen Umstand erschwert, daß sich in der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts - nach dem Zusammensturz des deutschen Idealismus - eine große Welle des Skeptizismus bezüglich der Philosophie verbreitete und zugleich der Glaube, daß die Psychologie - sei es die experimentelle, sei es die deskriptive im Sinne Fr. Brentanos - u. a. auch in grundlegende Erkenntnisprobleme Licht bringen könne und daß auf diesem Gebiet die von den englischen Empiristen, namentlich von J. St. Mill vorgeschlagene Lösung am wahrscheinlichsten sei. Das hatte zur Folge, daß die an den axiomatischen Grundlagen mathematischer Disziplinen interessierten Mathematiker - unter der Annahme, daß Axiome sich ex definitione aus anderen Sätzen des Systems nicht ableiten lassen, und zugleich in der Überzeugung, daß die Wahrheit [irgendwelcher] Sätze nur durch die sinnliche Erfahrung gewährleistet werden könne (die Erfahrung, die von vornherein als Wirkung gewisser physischer Reize betrachtet wurde) und daß [somit] bei der Suche nach Erkenntnisgrundlagen für die Wahrheit der Axiome die sinnliche Erfahrung überhaupt nicht in Frage komme - sich vor die Tatsache gestellt sahen, daß eigentlich keine ersichtlichen Erkenntnisgrundlagen für die Annahme der Wahrheit der (z.B. geometrischen) Axiome vorliegen. Es hatte den Anschein, als gebe es keine vernünftigen Argumente, die dazu ausreichen würden, [irgendwelche] Axiome als wahr anzuerkennen, und es liege daher allein an einer freien Entscheidung des Mathematikers, wenn sie zum Ausgangspunkt für die Deduktion gewählt würden. In dieser Meinung wurden die Mathematiker auch durch die zunächst ganz erstaunliche und unvorhergesehene, dennoch aber unbestrittene Tatsa-

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che bestärkt, daß nichteuklidische Axiomensysteme der Geometrie erschienen, und zwar nicht nur der einen Geometrie von Lobatschewsky oder Bolyai, sondern später auch von Riemann und vielen anderen. Axiome wurden freie Vereinbarungen - was aber sollte durch diese Vereinbarungen festgesetzt werden? Tatsachen? Die durch die "ersten Sätze" bestimmten Sachverhalte? Es gibt jedoch keine Tatsachen, die jedoch sozusagen freien Vereinbarungen gehorchen. Die Mathematiker wollten aber bei ihrer empiristischen (aus der damaligen Atmosphäre übernommenen) Einstellung keine andere Wirklichkeit annehmen außer der sinnlich gegebenen, materiellen und eventuell noch der Wirklichkeit unserer Bewußtseinserlebnisse. Worauf sollten sich also die Vereinbarungen beziehen, mit denen wir es bei Axiomen zu tun hätten? Auf fiktive Gegenstände? Aber diese existieren doch nicht, können also auch durch unsere Festsetzungen nicht geschaffen werden. Also könnte es sich dabei nur um Vereinbarungen in bezug auf die von uns bewußt gebildete mathematische (geometrische) Sprache handeln. Eine Sprache bildet man durch das Definieren ihrer Namen. Sind also Axiome Definitionen? Mit Definitionen hätten wir jedoch neue Schwierigkeiten. Denn um ein definiendum zu bestimmen, muß man über ein definiens oder mehrere definientia verfügen. Diese müssen abermals definiert werden. Eine solche Prozedur kann man jedoch nicht ins Unendliche fortführen. Es müssen gewisse "erste" Termini, "ursprüngliche Begriffe" übrigbleiben, die sich nicht weiter definieren lassen. Wie kann man ihnen einen Sinn verleihen? Unter den empirischen Ausdrükken treffen wir doch ebenfalls solche "ersten" Termini an wie z.B. "weiß", "rot", "süß" o. ä. Dort wird jedoch diesen ursprünglichen Namen von sinnlichen Qualitäten ein Sinn - wie bekannt - durch "Erfahrung" verliehen. Welche ist aber die Erfahrung, die den ursprünglichen mathematischen Begriffen, wie sie in Axiomen vorkommen, einen Sinn verleihen könnte? - Gewiß, sagt man, gibt es keine solche Erfahrung; die Begriffe haben somit in sich gar keinen Sinn und können einen solchen erst dadurch erwerben, daß man sie in Axiomen in bestimmte Beziehungen zueinander bringt, sie nur als gewisse Operationsglieder behandelt, wenn gerade in Axiomen durch die zwischen ihnen (den ursprünglichen Termini) festgelegten Beziehungen Operationen bestimmt werden. Daher die Konzeption, Axiome seien gewisse "implizite Definitionen", ursprünglicher Termini und ein Axiomensystem sei nichts als ein System von gewissen unentbehrlichen, zugleich aber auch ausreichenden

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Definitionen der ursprünglichen Termini. Man konnte dabei auf dem Standpunkt beharren, diese Vereinbarungen seien ganz beliebig oder willkürlich, denn niemand zweifelte daran, daß verbale Definitionen (gewisser Namen) willkürliche Vereinbarungen (Konventionen) bezüglich der Bedeutungen der Wörter sind, deren wir uns in einer Sprache bedienen wollen. Nachdem man aber einmal die Hoffnung aufgegeben hatte, an eine besondere verbindende Erfahrung anzuknüpfen, nachdem man sich überzeugt hatte, daß immer neue Einfalle beim Schaffen von Axiomensystemen einen gewissen Erfolg haben, weil sie die Aussicht auf ganz neue und früher nicht vorausgesehene Theorien erschließen, war die Konzeption einer konventionalistischen und zugleich der Forschungsgegenstände entbehrenden Mathematik mindestens für eine Zeitlang siegreich. Da man keine Antwort darauf geben konnte, wie die Mathematik (und andere formale Theorien, u. a. verschiedene Systeme der zwei-, drei- und mehrwertigen Logik) eine Wissenschaft sein könne, und zwar eine von gewissermaßen höherem Erkenntniswert als andere Wissenschaften, so schien die einzig mögliche haltbare Ansicht diejenige zu sein, daß Mathematik so etwas wie ein Begriffsspiel, etwas wie ein Schachspiel sei und daß sie ihre Rolle erfülle, sofern sie denjenigen, die sie betreiben, eine gewisse intellektuelle Befriedigung gebe (von Lehrstühlen und dem Ruf großer "Wissenschaftlichkeit" abgesehen). Und daß es eigentlich außer Diskussion stehe, welche Axiomensysteme gebildet werden "sollen", wenn sie nur zu widerspruchsfreien deduktiven Systemen führen. Es war nur noch diese Einschränkung hinsichtlich der Widerspruchsfreiheit - außer gewissen Gründen, die, wie Kant sagte 104 , eher zur wissenschaftlichen "Eleganz" gehören - , die der Phantasie noch Zügel anlegte und uns zu einer Selektion zwischen gebildeten Systemen nötigte. In jedem solchen widerspruchsfreien System ließen sich wie man sagte - alle Probleme lösen, die in der Sprache dieses Systems formulierbar sind. Es zeigte sich jedoch bald, daß der Nachweis, daß ein Axiomensystem keinen Widerspruch einschließt bzw. zu keinem Widerspruch führt, nicht nur nicht leicht, sondern - schlimmer noch - offensichtlich aus prinzipiellen Gründen undurchführbar ist. Also [dachte man,] man müsse vielleicht das Postulat der Widerspruchsfreiheit des Systems aufgeben und interessante Systeme bilden, die ein Feld von unendlichen Konsequenzen er-

104

[Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Β VIII und Β XLIV.]

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öffnen, mit der Aussicht auf die Lösbarkeit aller Probleme. Und erst der Satz Gödels hat unter den Anhängern einer solchen Mathematikkonzeption Panik verbreitet. Denn ungeachtet der hochmütig verkündeten Parole von voller Freiheit und Eigenwertigkeit des "Spielens mit Begriffen" wollte man dennoch - den letztendlich gehegten Hoffnungen gemäß - eine Wissenschaft und nicht ein angenehmes intellektuelles Spiel treiben. Trotz aller laut ausgesprochenen Beteuerungen, daß es keine Erkenntnisgrundlagen gebe und geben könne, die uns zur Auswahl von [bestimmten] Axiomen berechtigen würden, trotz der offen ausgedrückten Verachtung für die sog. "Intuition", ließen sich doch die faktischen Begründer von neuen axiomatischen Systemen von irgendwelchen Erkenntnismotiven leiten, die sie dazu veranlaßten, gerade diese und nicht andere Axiome zu wählen. Bei allen verblüffenden, unerwarteten und unseren vorwissenschaftlichen, alltäglichen Meinungen widersprechenden Theoremen (ζ. B. in der Mengenlehre oder der Topologie) machte sich doch in dieser ganzen ungewöhnlichen intellektuellen Arbeit eine Richtlinie, eine spezifische Konsequenz bemerkbar, die ihrerseits davon zeugte, daß es nicht ein freies Spiel intellektueller Phantasie, nicht ein Begriffsspiel, sondern vielmehr ein Versuch war, unsere alltäglichen Intuitionen zu erweitern, den sprachliche Apparat ihnen anzupassen und die darin gemachten Einsichten dadurch zu erproben, daß man aus den in Sätze gefaßten Intuitionen in mühsamer Anstrengung Konsequenzen zog - [daß es dieser Versuch] war, der die moderne Mathematik leitete und ihr nicht nur unerwartete Erfolge, sondern auch eine neue Möglichkeit verschaffte, ihre Abstraktions- und Verallgemeinerungsleistung einen Schritt weiter zu bringen und dadurch ihre letzten Grundlagen einer Revision zu unterziehen. Was an dieser Konzeption der Mathematik zweifelhaft ist, ist ihr extremer Konventionalismus und der Verzicht darauf, Axiome für wahre Sätze zu halten. Dahinter versteckt sich der bezüglich der Erkenntnisgrundlagen der Mathematik skeptische Empirismus der psychophysiologischen Erkenntnistheorie. Darauf gehe ich jedoch bei der nächsten Mathematikkonzeption ein. ad I.B. Diese Lösung beseitigt nur scheinbar die Schwierigkeit. Die Konzeption selbst, der zufolge die Mathematik keinen einzigen kategorischen Satz enthalte und damit auch die Existenz keines der Objekte annehme, auf die sich ihre Sätze beziehen, schließt - ähnlich wie die vorige - keine Kontra-

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diktion oder Unmöglichkeit ein. Es unterliegt keinem Zweifel, daß jedes widerspruchsfreie mathematische System sich in Gestalt von Sätzen der Art "wenn ρ, dann q" allein aufschreiben läßt. Diese Konzeption beruht auf einer skeptischen Lösung des Problems der Wahrheitsgrundlagen der Axiome. Diese Lösung wiederum verbirgt hinter sich den empiristischen Standpunkt der psychophysiologischen Erkenntnistheorie, der die Möglichkeit aller von sinnlicher oder innerer Erfahrung unabhängigen Erkenntnis verneint. Es ist jedoch nicht möglich, die hypothetische Konzeption der Mathematik auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie als die einzig richtige anzuerkennen, ohne daß man weitere Voraussetzungen hinzunimmt, die entweder zu den schon angegebenen Voraussetzungen dieser Theorie im Widerspruch stehen oder in sich falsch sind. Nehmen wir für einen Augenblick an, daß die Objekte mathematischer Forschung (z.B. in der euklidischen Geometrie mathematische Dreiecke, Zahlen, Mengen, Funktionen) nicht existieren und damit auch nicht real sind. Was läßt sich dann von den Verhältnissen oder Zusammenhängen zwischen derartigen nichtexistierenden Objekten sagen? Die Festlegung solcher Verhältnisse soll Aufgabe der Mathematik sein. Existieren diese Verhältnisse? Sind sie wirklich? Oder existieren sie in anderer Weise? Und falls sie existieren, können sie zu Gliedern eines Kausalzusammenhangs werden? Daß man die Existenz ζ. B. geometrischer Figuren im euklidischen Raum verwirft, rührt daher, daß man die Möglichkeit der "Intuition" im Sinne Descartes' (eine andere kommt hier überhaupt nicht in Frage) in Abrede stellt. Descartes aber, der neben der Intuition auch die "Deduktion" als zweite grundlegende intellektuelle Erkenntnisfunktion annahm und ihre Rolle beim Auffinden von Zusammenhängen und Abhängigkeiten zwischen den in der Intuition gegebenen Gegenständen anerkannte, betonte zugleich, daß einzelne Schritte der Deduktion, d. h. die Auffindung einzelner Verhältnisse oder Zusammenhänge zwischen Gegenständen, selber in der Intuition vollzogen oder zur Intuition gebracht werden müßten und daß sie erst dann ihren unzweifelhaften Erkenntniswert bewahren würden. Wendet man das auf die hypothetische Konzeption der Mathematik an, dann ist zu fragen, auf welche Erkenntnistätigkeit sich die Mathematiker berufen, die behaupten, eine "Intuition" im Cartesischen Sinne sei unmöglich. Wären sie geneigt, zuzugeben, daß die "Intuition" von Zusammenhängen und Abhängigkeiten existiert oder (für uns) möglich ist? Das

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scheint unwahrscheinlich (auf jeden Fall kann ich auf keine solche Behauptung bei irgendeinem Mathematiker verweisen, der die hypothetische Konzeption der Mathematik vertritt). Diese Schwierigkeit scheint dabei noch um so größer, als es sich hier angeblich um Beziehungen oder Zusammenhänge zwischen Gegenständen handelt, die nicht existieren. Könnte man annehmen, daß solche Beziehungen nicht nur existieren, sondern sogar wirklich sind? Und mehr noch, daß sie Glieder eines neuen Zusammenhangs zwischen den Dingen ausmachen und auf die Nervenenden unserer Sinnesorgane einwirken können? Diese Annahme erscheint absurd und die Schwierigkeit noch größer, wenn man beachtet, daß es sich in der Mathematik nicht so sehr um Verhältnisse zwischen Dingen (Gegenständen), als vielmehr um Verhältnisse zwischen Verhältnissen handelt, weil es doch um das Folgen gewisser Sätze aus den Axiomen geht. Diese Sätze bestimmen gewisse Verhältnisse, und es ist nachzuweisen, daß zwischen den durch ein Axiomensystem bestimmten Verhältnissen und dem durch einen gegebenen Satz bestimmten Verhältnis das "Folgen", also-mit anderen Worten - das Verhältnis einer gewissen Seinsabhängigkeit besteht. Zwar glauben manche Philosophen, nämlich Meinong 105 und Twardowski 106 , für das Bestehen eines Verhältnisses R sei es nicht notwendig, daß die Glieder bestehen, die dieses Verhältnis bestimmen, doch sie würden wohl nicht sagen, diese Verhältnisse seien real. Das müßte man aber zugeben, wollte man die hypothetische Interpretation der Mathematik aufrechterhalten und zugleich an der These festhalten, daß nur reale (materielle oder psychische) Gegenstände - als prinzipiell in der "Erfahrung" gegeben - der Erkenntnis zugänglich sein könnten. Ist es nicht vielmehr so, daß das Verhältnis zwischen zwei Gegenständen G¡ und G2 in einem gegebenen Fall eben durch diese Gegenstände G1 und G2 und des näheren durch ihre entsprechenden Merkmale bestimmt ist? Und ist es nicht so, daß man, um zu erkennen, daß zwischen G¡ und G2 gerade das Verhältnis R besteht, sowohl die beiden Gegenstände als auch speziell ihre Merkmale kennen muß, die beim Verhältnis R gerade in Betracht kommen? Wenn wir diese Frage bejahen, müßte man sagen, daß die hypothetische Interpretation der Mathematik mit

105 [Vgl. A. Meinong, "Hume Studien II: Zur Relationstheorie", (Gesamtausgabe, Bd. II, Graz 1971, S. 1-183), S. 44 f., 85, 165.] 106 [Vgl. K. Twardowski, Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen, Wien 1894, S. 27-29.]

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ihrer Annahme der Nichtexistenz der Objekte mathematischer Forschung nicht haltbar ist. Wäre sie aber richtig, dann würde das nichts anderes bedeuten, als daß man zugeben soll, daß auch manche Erkenntnisse möglich sind, bei denen zwischen dem Erkenntnisgegenstand (in diesem Fall: den Verhältnissen zwischen den Verhältnissen zwischen Objekten mathematischer Forschung) und dem Erkennen bzw. dem dadurch erworbenen Wissen keine Kausalbeziehung vermitteln kann. In diesem Fall müßte eine der Hauptthesen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie wegfallen. Man muß jedoch folgendes vor Augen behalten: Für die vollständige Klärung der Sachlage wäre es außerdem nötig, die wesentliche semantische Struktur von Sätzen der Art "wenn p, dann q" aufzudecken und insbesondere die Frage beantworten zu können, ob das Akzeptieren eines solchen Satzes dem Akzeptieren des Satzes: "Es besteht zwischen Ρ und Q eine Relation R von der Art, daß der ganze [vorherige] Satz dadurch wahr ist" gleichkommt. Es ist nämlich bekannt, daß diejenigen Mathematiker bzw. Logiker, die für die hypothetische Interpretation der Mathematik eintreten, zugleich die These verfechten, ein Satz "wennp, dann q" sei eine sog. materiale Implikation, d. h. ein Satz, bei dem von einem Zusammenhang oder einer Abhängigkeit zwischen dem, was durch den Vordersatz ρ bestimmt ist, und dem, was durch den Nachsatz q bestimmt ist, nicht die Rede ist. Diese Reduktion von Konditionalsätzen auf materiale Implikationen verbirgt jedoch wieder die empiristische Überzeugung, daß von allen Zusammenhängen nur die kausalen bestünden. Man kann aber kaum annehmen, die Sätze "wennp, dann q" bezögen sich ausschließlich auf Fälle, in denen zwischen Ρ und Q ein Kausalzusammenhang stattfindet. Es empfiehlt sich also eher, zuzugeben, daß im konditionalen Urteil (der materialen Implikation) weder ein Zusammenhang noch eine Abhängigkeit zwischen ρ und q in Frage kommt. ad II. C. Der empiristische Standpunkt in der Frage nach dem Gegenstand der mathematischen Forschung läßt sich nicht halten, sofern man die wörtliche Verständnisweise von grundlegenden mathematischen Sätzen beibehält. Das heißt: Sofern wir nicht einer epistemologischen Theorie zuliebe den Sinn dieser Sätze so verändern, daß wir zwar der empiristischen Interpretation entsprechende Sätze erhalten, aber ganz andere als die, die in der Mathematik tatsächlich aufgestellt und bewiesen werden. Unter Beibehaltung des Sinnes

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dieser Sätze bieten sich dagegen die folgenden Einwände gegen die diskutierte Interpretation an: Es ist nicht wahr, daß der Forschungsgegenstand der euklidischen Geometrie gewisse Merkmale oder Aspekte von realen physischen Körpern sind. Die Empiristen sagen, die mehrmalige Betrachtung von materiellen Körpern führe zur abstrakten Erfassung mancher ihrer Merkmale, nämlich der rein räumlichen; sie verleihe den geometrischen Begriffen der Oberfläche, der Fläche, der Geraden, solcher Körper wie des Würfels o. ä. einen Inhalt. Diese Begriffe würden in den Sinn von geometrischen Axiomen und Lehrsätzen eingehen. Indessen erfüllt keiner der materiellen, sogar makroskopisch (geschweige denn in ihrer Mikrostruktur) betrachteten Gegenstände mit seinen räumlichen Merkmalen genau die Axiome und Lehrsätze der euklidischen Geometrie. Man spricht z. B. in der Geometrie über flache, zweidimensionale Figuren, etwa über mathematische Dreiecke. Kein realer Körper ist jedoch durch eine exakt flache Oberfläche begrenzt. Die "Festkörper" im Sinne der Physik, d. h. gewisse Verdichtungen von Atomen oder Molekülen, haben gar keine Oberfläche dieser Art. Darüber brauchen wir uns heutzutage nicht mehr auszulassen. Aber auch die makroskopisch betrachteten - mit bloßem Auge aus einer gewissen Entfernung gesehenen - Körper, z. B. ein ad hoc hergestelltes Modell eines Würfels, sogar mit auspolierten Wänden, besitzen keine vollkommen flachen Wände. Wir können - wenn nicht mit bloßem Auge, so jedenfalls mit den uns zur Verfügung stehenden Meßgeräten - ohne Mühe feststellen, in wie großem Maße beim gegebenen Körper z. B. Abweichungen von einer flachen Oberfläche der einzelnen Wände, von deren quadratischer Gestalt, von rechten Winkeln bei den Kanten oder den Scheitelwinkeln vorliegen. Kein tatsächlich gezeichnetes Dreieck besitzt solche Innenwinkel, daß deren Summe genau gleich 180° wäre. Keine gezeichnete Linie ist eine "Gerade" im Sinne der Geometrie; sie ist immer ein ziemlich dicker und krummer Haufen Graphit. Es ist noch niemandem gelungen, solche zwei Punkte zu zeichnen, daß sich durch sie eine und nur eine Gerade (Strecke) führen ließe, die - wie eines der Axiome verlangt - die kürzeste aller möglichen ist. Und zwar nicht deswegen nicht, weil "unser" Raum, wie man ihn nennt, d. h. der Raum unseres Sonnensystems, nicht euklidisch, sondern z.B. riemannisch mit einem bestimmten Krümmungsgrad wäre. Denn noch niemand hat empirisch die

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"Krümmung" "unseres" Raums festgestellt 107 , und man weiß nicht, ob dieser tatsächlich gekrümmt ist. 108 Der Grund dafür [, daß es niemandem gelungen ist,] sind einfach die Ungenauigkeiten in der Herstellung des gegebenen Körpers. 109 Kurz gesagt: Kein Satz der euklidischen (oder irgendeiner anderen) Geometrie bewahrheitet sich ganz genau in der "Erfahrung". Daher wären alle geometrischen Sätze in Anwendung auf die in der Erfahrung gegebenen physischen Dinge falsch, wollte man sie als empirische Beschreibung der realen Eigenschaften von Körpern verstehen. 110 Die in der makroskopischen Erfahrung gegebenen physischen Dinge sind nur in grober Annäherung in gewisser Hinsicht den räumlichen Gebilden der Geometrie ähnlich. Deswegen ist es nicht wahr, daß wir zu den Begriffen von Objekten der Geometrie durch Beobachtung realer materieller Körper und durch einfache "Verallgemeinerung" deren mit Hilfe der Beobachtung aufgefundener Merkmale gelangen. Das bedeutet nicht, daß man die räumlichen Merkmale von realen Körpern überhaupt nicht erkennen könne. Nachdem wir aber darüber eine gewisse Kenntnis erworben haben, müssen wir einen ganz anderen Erkenntnisakt einen Akt der Idealisation, einen Übergang von empirischen Begriffen zu strengen Grenzbegriffen vollziehen. In diesem Übergang entfernen wir uns deutlich und bewußt von empirischen Gegebenheiten, die aufhören, für uns die Rolle einer maßgebenden Information über die Wirklichkeit zu spielen, weil wir mit einem Akt mathematischer Intuition überhaupt über diese wahr-

107 Man hat nur empirisch festgestellt, daß Lichtstrahlen auf großen Entfernungen und unter besonderen Umständen (beim Durchqueren von starken magnetischen Feldern - in der Nähe großer Massen von Materie) einer Krümmung unterliegen, und man hat das in solchen Ausmaßen festgestellt, daß die Krümmung noch innerhalb der Grenzen des möglichen Beobachtungsfehlers liegt. Die Krümmung eines Lichtstrahls aber und die Krümmung des 10R Raumes sind doch nicht ein und dasselbe. Das ist bis jetzt nur eine mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothese. Es ist aber kennzeichnend, daß die Astronomen sogar bei sehr großen Entfernungen - bei Millionen Lichtjahren - nicht sehr geneigt sind, mit der nichteuklidischen Natur des Weltraums zu rechnen. 109

So wie es bis heute nicht gelungen ist, einen genauen Meterprototypen oder sogar [dazu noch] einen zweiten gleichen Prototypen herzustellen.

110

Das sah klar J. St. Mill, er hielt aber trotzdem an seiner empiristischen Interpretation der Mathematik fest. Vgl. sein System der deduktiven und induktiven Logik, [Buch II], Kap. V, § 1.

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nehmungsmäßig gegebene Wirklichkeit der Körper und des physischen (oder kosmischen) Raumes hinausgehen. Die Grundeigenschaften dieses neuen, idealisierten oder - wenn man will - idealen Raumes erfassen wir aber in einem Axiomensystem (ζ. B. dem der euklidischen Geometrie) und in einer Reihe von Definitionen sekundärer [geometrischer] Gebilde. Wenn wir schon ein System von Axiomen und grundlegenden Definitionen besitzen, leiten wir davon durch Deduktionen immer weitere Sätze ab, ohne uns auch im geringsten darum zu kümmern, ob sie in der Erfahrung bestätigt werden oder nicht. Wenn die Gegebenheiten der Erfahrung mit einem in der Geometrie schon bewiesenen Satz nicht übereinstimmen, verändern wir weder den Inhalt unserer geometrischen Sätze noch zweifeln wir an ihrer Wahrheit, sondern sagen, daß der gegebene Körper einfach nicht der [entsprechende] ideale geometrische Körper sei und sich von diesem in gewissen Grenzen soundso unterscheide. Mutatis mutandis läßt sich das Gesagte ebenso auf andere Teilgebiete der Mathematik übertragen, allein mit dem Unterschied, daß zwischen den in der Erfahrung gegebenen Gegenständen und den Objekten, die durch Sätze der betreffenden mathematischen Disziplin bestimmt sind, Unterschiede verschiedener Art und verschiedenen Grades bestehen, und zwar solche, die viel verblüffender sind als diejenigen in der euklidischen Geometrie. In vielen Teilbereichen der Mathematik, ζ. B. in der Mengenlehre oder der Topologie, kommt nicht einmal jemand auf die Idee, zu fragen, ob und gegebenenfalls inwiefern der fragliche Satz sich in der empirisch gegebenen Wirklichkeit "bewährt". Den realen Raum sieht man praktisch als kontinuierlich an. Hat aber jemand versucht, auch nur grundlegende Sätze über das Kontinuum an der Erfahrung zu "prüfen"? Die wirklichen materiellen Gegenstände besitzen dabei - sofern man den Erfahrungswissenschaften trauen kann - Gruppen von Merkmalen, welche die Objekte mathematischer Forschung nicht besitzen, wenn wir ihnen diejenigen und nur diejenigen Merkmale zuschreiben, die ihnen aufgrund mathematischer Sätze zukommen oder zukommen sollen. Als Beispiele können hier alle im eigentlichen Sinn verstandenen "physischen" oder "chemischen" Eigenschaften der Materie dienen, mithin die Eigenschaften chemischer Zusammensetzung oder chemischer Affinität, die energetischen Eigenschaften, diejenigen bisher nicht geklärten Eigenschaften der Materie, deren Folge z.B.

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Gravitations- oder Magnetfelder sind. Hätte also die Mathematik zu ihrem Forschungsobjekt wirklich reale Eigenschaften materieller Gegenstände, dann wäre es unverständlich, aus welchem Grund die mathematischen Sätze aus dem Bereich der physikalischen und chemischen Sätze ausgeschlossen wurden, und noch weniger verständlich, warum die Mathematik sich unabhängig von den Naturwissenschaften und viel früher als diese entwickelte. Erst im Zusammenhang mit Einsteins Relativitätstheorie stellte sich doch die Frage, ob der Weltraum euklidisch oder riemannisch ist, in einer Zeit, als die verschiedensten mathematischen "Geometrien" schon lange - wenn man so sagen darf - fertig waren. Und warum kann man eigentlich in der Mathematik nach Festlegung der Axiome alle weiteren Sätze deduktiv ableiten und streng beweisen, während in der Physik, auch wenn man sog. theoretische Physik betreibt, einzelne Theorien zwar deduktiv, aber im Ausgang von empirisch nahegelegten Hypothesen aufgebaut und - selbst wenn sie mathematisch einwandfrei sind - in dem Augenblick aufgegeben werden, in dem die Erfahrung Ergebnisse liefert, die mit Sätzen der gegebenen physikalischen Theorie nicht in Einklang stehen? Und warum ist in der Physik die Frage immer aktuell, ob die Erfahrung die betreffende Theorie bestätigen wird, während in der Mathematik dieses Problem überhaupt nicht existiert und niemand die Erfahrung danach fragt, ja selbst wenn es sich zeigt, daß in der Erfahrung Tatsachen auftreten, die der mathematischen Theorie nicht entsprechen, diese dadurch nicht im geringsten an Wert verliert? Würde die euklidische Geometrie aufhören, eine wertvolle wissenschaftliche Theorie zu sein, falls es sich herausstellte, daß der Weltraum faktisch riemannisch mit einem ganz bestimmten endlichen Krümmungsgrad ist? Es steht außer Frage, daß die Naturwissenschaft, insbesondere aber die Naturwissenschaft der Gegenwart, sich u. a. mit räumlichen Merkmalen von größeren oder kleineren materiellen Körpern sowie mit dem Raummedium selbst beschäftigt, in dem sich diese Körper befinden. Diese Probleme stellt sowohl die Physik als auch die Astronomie, und sie tut das u. a., obwohl nicht ausschließlich, unter dem Einfluß von vorhandenen mathematischen Theorien. Man kann sogar daran zweifeln, daß diese Probleme überhaupt gestellt worden wären, hätte es nicht verschiedene deduktive Systeme der Geometrie gegeben. Wie dem auch sei, diese Probleme sind anderer Natur als die

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mathematischen. Ja es sind Probleme, die, wenn überhaupt irgendeinmal, sich nur mit Hilfe empirischer Methoden lösen lassen. 111 Der empiristische Standpunkt beraubt uns der Möglichkeit zu erklären, warum die Ergebnisse mathematischer Untersuchungen, als Ergebnisse einer apriorischen Erkenntnis, sich in ihrem Erkenntniswert wesentlich von den Ergebnissen empirischer Wissenschaften unterscheiden, die von realen Gegenständen handeln. Wären z.B. die Axiome der Geometrie tatsächlich nichts anderes als induktive Verallgemeinerungen von Erfahrungsergebnissen, dann könnten sie - wie alle allgemeinen naturwissenschaftlichen Sätze, die auf Erfahrung beruhen - nur wahrscheinliche Hypothesen sein; hiermit müßten auch alle aus diesen Hypothesen folgenden Sätze [bloß] mehr oder weniger wahrscheinlich sein. Der Wahrscheinlichkeitsgrad dieser Sätze müßte sich mit der Zeit verändern, je nachdem, ob immer neue Erfahrungen sie bestätigen oder mit ihnen irgendwie kollidieren würden. Niemand wundert sich, wenn ein Körper die Eigenschaften des Würfels nicht erfüllt, und niemand verlangt, man solle [deswegen] die betreffenden Sätze der Geometrie in Zweifel ziehen oder aber ihnen nur statistische Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit zuschreiben. Sogar die ehrwürdigsten naturwissenschaftlichen, insbesondere physikalischen Hypothesen haben sich in unserer Zeit [entweder als zweifelhaft] oder als falsch herausgestellt (z. B. zweifelte bis 1920 niemand an der Wahrheit der Wellentheorie des Lichts, und nun hat uns der Effekt Comptons davon überzeugt, daß diese Theorie bestenfalls nur eine Hypothese ist, die sich unter ganz bestimmten Bedingungen bewährt, im allgemeinen aber sich nicht halten läßt). Hätte jemand in der Mitte des XIX. Jahrhunderts die These aufgestellt, man solle in der Physik das Kontinuitätsmodell von Prozessen und Energieumwandlungen aufgeben und den Begriff

' ' ' Manche Autoren (Poincaré und bei uns [in Polen] später K. Ajdukiewicz) haben behauptet, daß diese Probleme sich mit rein empirischen Mitteln nicht lösen ließen, sondern der Einführung gewisser Konventionen bedürften, was - streng genommen - eher den Gedanken nahelegen würde, daß sie von den apriorischen und insbesondere mathematischen Wissenschaften abhängig seien. Das würde auf ein geradezu umgekehrtes Verhältnis der beiden Arten von Wissenschaften hinweisen, als es die empiristische Interpretation der Mathematik behauptet. [Vgl. H. Poincaré, Science et méthode, Paris 1908; derselbe, La valeur de la science, Paris 1904; derselbe, La science et l'hypothèse, Paris 1902; derselbe, Les définitiones générales en mathématiques, Paris 1904; Κ. Ajdukiewicz, Ζ metodologii nauk dedukcyjnych.Lvióv/

1921]

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des Energiequants einführen, dann wäre er bestimmt als ein Ignorant erachtet worden - so stark glaubte man damals an die Kontinuität der Naturerscheinungen. Und wie sehr hat sich das heute verändert, obwohl defacto nur anstelle der einen Hypothesen andere aufgestellt worden sind und diese neuen angesichts des gegenwärtigen Bestands an Erfahrungen wahrscheinlicher erscheinen als die vorigen. In der Naturwissenschaft ist das der normale Lauf der Ereignisse. Neue Erfahrungsergebnisse modifizieren nicht nur den Inhalt von Sätzen, sondern auch deren Wahrscheinlichkeitscharakter. Es geht dabei nicht um Beobachtungsfehler oder um eine größere Meßgenauigkeit, die dem gegebenen Gesetz eine exaktere Gestalt sichern würde. Es handelt sich darum, daß - nach Ansicht der Naturwissenschaftler sowie der Methodologen der Naturwissenschaft - der Wahrscheinlichkeitsgrad eines gegebenen allgemeinen Satzes sich mit der Anzahl von Erfahrungen vergrößert, die ihn bestätigen. Es ist aber noch niemandem eingefallen [zu behaupten], daß, wenn derselbe Beweis eines Satzes mehrere Male (ζ. B. von verschiedenen Gelehrten, die voneinander nichts wissen) durchgeführt wird, dieser Satz dadurch irgendwie wahrscheinlicher werde. Und wenn eine einzige Person in dem Beweis einen logischen Fehler findet, dann bleibt dieser Satz unbewiesen, und man weiß nicht, wie seine Wahrheit zu beurteilen ist, es sei denn, man habe einen ihm widersprechenden Satz bewiesen. In diesem Fall aber reicht wieder dieser einzige Beweis aus, damit der fragliche Satz als falsch angesehen werden kann, und er ist dann mit Sicherheit falsch. Es läßt sich nicht leugnen, daß zwischen Sätzen der Mathematik und solchen der empirischen und insbesondere Naturwissenschaften [dieser] wesentliche Unterschied besteht und daß die empiristische Interpretation der Mathematik daher falsch scheint. 112 ad II D. Kaum anders ist es um die psychologistische Interpretation der Mathematik bestellt, die von den Mathematikern wohl nie ernsthaft vorgetragen wurde. Dennoch soll sie hier nicht übergangen werden. Der mathemati-

1 ι9 Die Tatsache, daß in den mathematischen Beweisen Fehler vorkommen, zeugt zwar davon, daß auch die apriorische Erkenntnis nicht ganz untrüglich ist und in manchen Fällen zu falschen Ergebnissen führen kann. Das heißt: Wir können nicht sicher sein, daß im Beweis nicht ein bisher verborgener Fehler steckt. Die Frage nach der subjektiven Sicherheit und die Frage nach einem Beweis, der bei wahren Voraussetzungen für die Wahrheit des zu beweisenden Satzes ausreicht, sind aber zwei verschiedene Fragen.

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sehe Psychologismus ist übrigens nur ein besonderer Fall des Psychologismus überhaupt, der gegen Ende des vorigen Jahrhunderts zuerst in der Logik (z. B. Chr. Sigwart) und danach in einer Reihe von anderen philosophischen Disziplinen herrschte. Er war u. a. in der Ästhetik (z. B. Th. Lipps), in der Rechtsphilosophie (Petrazycki), in der philosophischen Theorie der Literatur, wo er bis zu den dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts vorherrschte, schließlich auch in der Erkenntnistheorie vorhanden. Der Psychologismus ist eine der Formen des Empirismus und - obwohl es auf den ersten Blick anders scheint auch des Positivismus. Die psychologistische Interpretation der Mathematik setzt den Psychologismus in der Logik voraus; und sobald der letztere überwunden wird, verliert eigentlich auch sie ihre Grundlage. Denn es gibt zwei Quellen dieser Interpretation: 1. die Nichtunterscheidung des Gegenstands eines Begriffs vom Begriff selbst als einem logischen Gebilde (als ob es z. B. der Begriff des Dreiecks wäre, der drei Innenwinkel hat, deren Summe gleich 180° ist) und 2. die Ansicht, der Begriff sei etwas Psychisches (eine unanschauliche Vorstellung). Es ist nur noch eine weitere Folge, daß man den durch einen Aussagesatz bestimmten Sachverhalt von diesem Satz nicht unterscheidet und diesen Satz für etwas Psychisches hält usw. Diese Interpretation ist aber - sofern ich weiß - nie so weit gegangen, zu behaupten - wie man das konsequent hätte tun sollen - , daß die Objekte mathematischer Forschung, also Zahlen, Mengen, geometrische Figuren u.ä., selbst psychische Tatsachen ausmachen würden, die ebenso real seien wie physische Tatsachen. Wenn wir leugnen, daß die Objekte der Mathematik Begriffe sind, und wenn wir verneinen, daß Begriffe etwas Psychisches ausmachen, dann stürzt diese ganze Konzeption zusammen. Das mathematische Dreieck hat Eigenschaften und Teile - wie die erwähnten inneren Winkel, die vier speziellen Punkte 113 u.a. - die sein Begriff (als ein logisches Gebilde) nicht hat und nicht haben kann, wie auch der Begriff seinerseits Elemente und Eigenschaften besitzt, die seinen Gegenständen fremd sind. So hat z.B. jeder Begriff seinen Umfang und seinen Inhalt 114 , was auf die durch diesen Begriff 111 [Ingarden meint damit wohl den Mittelpunkt des Umkreises, den Schnittpunkt der Lote von den Ecken auf die Gegenseiten, den Schwerpunkt und den Mittelpunkt des Inkreises.] 114

Ein völliger Widersinn ist die in allen Lehrbüchern - auch in den angeblich so strengen wie denen der algebraischen Logik - wiederholte [Behauptung], daß der "Inhalt" eines (gegenständlichen) Begriffs die Gesamtheit der gemeinsamen Merkmale der unter den ge-

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bestimmten Gegenstände nicht zutrifft; ebenso sind [nur] Begriffe "allgemein" oder "speziell" und haben auch verschiedene Allgemeinheitsstufen. Wenn wir zugeben, daß ein allgemeiner Begriff (ζ. B. "ein Tisch") ein Begriff ist, der einen beliebigen Gegenstand aus der durch den Inhalt des Begriffs umgrenzten Klasse bezeichnet, ein spezieller Begriff dagegen ein solcher, dem ein bestimmtes Individuum aus der durch artmäßige (gattungsmäßige) Momente des Begriffsinhalts umgrenzten Klasse entspricht: dann müssen wir zugeben, daß sich von keinem mathematischen Dreieck sagen läßt, es habe eine größere oder kleinere Allgemeinheitsstufe und dergleichen mehr. Daß aber die Begriffe im logischen Sinne keine unanschaulichen Vorstellungen sind, darauf weist wieder die Tatsache hin, daß sie andere Eigenschaften besitzen, die diese Vorstellungen nicht besitzen (und umgekehrt). Die Begriffe als unanschauliche Vorstellungen haben ζ. B. eine bestimmte, sei es auch nur sehr kurze Dauer, in der Zeit ihrer Dauer weisen sie einen charakteristischen Verlauf auf, in dem Schwankungen ihrer Aktivität sowie unausbleibliche Schwankungen des Inhalts (der Intention), sei es auch bezüglich der größeren oder kleineren Deutlichkeit der Differenzierung, stattfinden usw. Das alles hat in bezug auf einen Begriff (ζ. B. den des mathematischen Dreiecks) keinen Sinn. Ein und derselbe Begriff im logischen Sinn wird viele Male (und zwar von einem oder von mehreren psychischen Subjekten) begriffen oder gedacht, kann somit mit diesem Denken nicht zusammenfallen. Der logische Begriff ist in manchen Fällen [selbst] ein möglicher Gegenstand des Begreifens oder Verstehens, wenn wir ζ. B. seinen Inhalt auseinanderlegen, oder er kann auch - wie Husserl sagt - ein "Durchgangsobjekt" sein 115 , wenn wir einen Gegenstand, z. B. ein mathematisches Dreieck oder irgendeinen realen Gegenstand unter dem Aspekt des betreffenden Begriffs erfassen. Es tritt dann entweder die besondere Erscheinung auf, daß der Begriff mit seinem

ebenen Begriff fallenden Gegenstände sei. Ich kann hier darauf nicht eingehen. Nach dem Krieg berührte diese Frage Jan Leszczyñski, ich habe aber meine Ansicht darüber schon lange vor dem Krieg vorgetragen, und als ich sie nach dem Krieg in Krakau wiederholte, hörte auch Dr. Leszczyñski diese Vorlesungen. [Vgl. Jan Leszczyñski, "O tresci nazw" (Vom Inhalt der Namen), Studia Logica, IX (1960), S. 133-156.] 15

[Vgl. E. Husserl, Philosophie der Arithmetik, Halle 1891; (Husserliana XII, hrsg. von. L. Eley).]

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11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

Gegenstand gleichsam zur Deckung kommt, oder es kommt auch umgekehrt eine Divergenz zwischen dem Inhalt des Begriffs und den Eigenschaften des Gegenstandes zutage, auf den der Begriff irrigerweise angewendet wurde. Zwischen Begriffen als unanschaulichen Vorstellungen bestehen reale Beziehungen, ζ. B. geht einer von ihnen einem anderen voran und beeinflußt, einmal vollzogen, auf charakteristische Weise Ausgestaltung und Verlauf des anderen. Zwischen zwei Begriffen im logischen Sinne bestehen u. a. bekannte Umfangsverhältnisse - sie überschneiden sich ihrem Umfang nach oder schließen einander aus usw. Das hat wiederum in bezug auf unanschauliche Vorstellungen als reale psychische Vorgänge keine Anwendung. Entfällt aber diese doppelte Identifizierung, so gibt es eigentlich keinen sachlichen Grund, zu behaupten, die Mathematik handle von besonderen Bewußtseinserlebnissen. A fortiori lassen sich gewisse mathematische Sachverhalte, die durch mathematische Sätze bestimmt sind, nicht mit diesen oder jenen Erlebnissen des Denkens dieser Sätze gleichsetzen. Sonst müßte man wohl den Inhalt dieser Sätze ändern. Anstatt ζ. B. zu sagen, daß die Summe der Innenwinkel des Dreiecks (in der euklidischen Geometrie) gleich 180° sei, müßte man etwa sagen, daß ein bestimmtes Erlebnis, der Gedanke an das Dreieck, sich assoziativ mit einem anderen Erlebnis, dem Gedanken an die Summe der Innenwinkel, und schließlich mit dem Gedanken an die Winkelgröße 180° verbinde. Der mathematische Satz läßt sich jedoch beweisen, insofern er aus dem euklidischen Axiomensystem folgt; der psychologische Satz dagegen, als ein streng empirischer, läßt sich überhaupt nicht beweisen. Wäre er dabei als Feststellung der individuellen Tatsache gemeint, daß bei jemandem einmal eine solche assoziative Verbindung stattgefunden hat, dann würde er sich schon durch seine Individualität allein vom allgemeinen mathematischen Satz deutlich abheben. Wenn er aber als ein allgemeiner Satz verstanden werden sollte, daß nämlich jeder Gedanke an das Dreieck sich mit einem anderen Gedanken usw. assoziativ verbinde, dann ist das ein falscher Satz. Die psychologistische Interpretation der Mathematik ist ein besonderer Fall ihrer empiristischen Interpretation. Es bleiben also für sie alle Einwände bestehen, die gegen diese aufgerollt worden sind. Sie läßt sich somit nicht halten.

§18. Das Problem der Erkenntnis der Objekte der Mathematik

211

III. Die sogenannte formalistische Konzeption der Mathematik geht mit der verwandten formalistischen Konzeption der Logik einher. Sie ergeben sich beide daraus, daß man die Existenz idealer Gegenstände verwirft und den Schwierigkeiten zu entgehen sucht, die infolge dieser Verwerfung für die Mathematik und die Logik auftauchen. Nachdem es gewiß geworden war, daß der Psychologismus nicht haltbar ist, wurde der Versuch unternommen, ihn durch den "Physikalismus" 116 zu ersetzen. Man begann diesmal mit der Logik bzw. mit gewissen metatheoretischen Behauptungen über logische Gebilde (die Sprache). Man fing an, statt von Sätzen oder Begriffen, von "Aufschriften" zu sprechen und diese Aufschriften aus realen Objekten zusammenzusetzen. Das konnten Häufchen von Kreide an der Tafel sein, es konnte sich jedoch ebensogut um einen Haufen Sand oder ein Pferd im Stall handeln. 117 Die "Bedeutung" der Worte wurde ausschließlich im Sinne eines Erlebnisses einer Person verstanden; man wußte aber, daß das der "Psychologismus" war, in den man nicht wieder zurücksinken sollte, man mußte also sagen, daß diese Wort-Aufschriften für sich ohne Bedeutung, daß sie sinnlos seien. Auf irgendwelche Weise mußte man aber diesen fehlenden Sinn doch wieder hineinbringen. Wo man eine "Definition" eines "Zeichens" geben konnte, lag wie es schien - keine besondere Schwierigkeit vor. Man mußte einfach dem gegebenen Zeichen einen Komplex von anderen Zeichen (Aufschriften, Häufchen Kreide oder Tintenfleck) zuordnen. Eine Schwierigkeit bereiteten die in den Axiomen vorkommenden ursprünglichen Begriffe. Dieses Problem wurde aber - wie ich bei der Besprechung [des Punktes] I A erwähnt habe mit dem Konzept impliziter "Definitionen" erledigt. Nur sollten jetzt alle in einem Axiom auftretenden "Zeichen" für sich selbst keinen Sinn haben, ein Sinn sollte sich also daraus ergeben, daß sinnlose Zeichen aneinander gereiht wurden. Ihre Aneinanderreihung sollte mit Hilfe der "Direktiven" erfolgen.

'

Dieser Terminus kam durch die Wiener Positivisten, besonders gegen 1930 in Mode. De facto wurde aber die physikalistische Interpretation der Logik und Mathematik schon gegen 1920 in den Kreisen der Warschauer Logiker betrieben - wie ich das persönlich feststellte, als ich 1919 für eine gewisse Zeit nach Warschau umzog.

117 Das ist keine Satire, sondern ein konkretes Beispiel, das mir einmal 1919 St. Lesniewski gab, indem er den Satz anführte: "Wenn" (geschrieben, d.h. Kreide an der Tafel) ein Haufen Sand (im Garten), "dann" (wieder Kreide an der Tafel) ein Pferd im Stall. Von den Häufchen Kreide oder Tinte schrieb man tatsächlich ganz offen in den dreißiger Jahren, in Erkenntnis vor 1934.

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11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

Wie diese Direktiven lauteten, konnte man letzten Endes dem System der nach gewissen Grundsätzen oder nach einer Ordnung nebeneinander gestellten Zeichen-Aufschriften "ablesen". Behilflich war hier der Umstand, daß die Logiker,

die

diese

physikalistische

Theorie

logischer

"Ausdrücke"

konstruierten, enthusiastische Anhänger der algebraischen Logik, d. h. der "Logistik" waren, die sich nicht nur dadurch auszeichnete, daß man sich darin der algebraischen Symbolik bediente und einen

"Kalkül"

logischer

"Ausdrücke" einführte, sondern darüber hinaus dadurch, daß in den algebraischen Logiken vielleicht zum ersten Mal die "logischen Konstanten" bemerkt und betont wurden, d. h. das, was man später "Funktoren", insbesondere "Wahrheitsfunktoren" nannte. Das waren jene Ausdrücke, die bei Aristoteles noch "synkategorematische" Begriffe genannt wurden und die - nach Aristoteles - im Gegensatz zu kategorematischen Ausdrücken (d. h. Namen) für sich nichts bedeuten und erst in Verbindung mit kategorematischen Ausdrücken eine Bedeutung erhalten. "Und", "wenn - dann", "entweder - oder" usw. - lauter sinnlose Zeichen - sollten dadurch eine Bedeutung erwerben, daß sie mit anderen [Zeichen] zu einem Ausdruck zusammengelegt wurden. So schien es nun, man könne aus lauter sinnlosen Aufschriften (unter Bewahrung einer gewissen Ordnung in einzelnen Ausdrücken) sinnvolle Axiome aufbauen. Und dadurch, daß dieselbe Wortaufschrift in verschiedenen Konfigurationen anderer Aufschriften-Worte vorkam, nahm dieses in verschiedenen Gruppierungen wiederkehrende Aufschrift-Zeichen den Charakter eines "Funktors" oder "Operators" an - ähnlich wie eine hölzerne Figur, die sich in einer fest bestimmten Weise auf dem Schachbrett bewegt, den Charakter einer Operationseinheit annimmt: dem "König", "Pferd" usw. 118 Wie man mit Schachfiguren spielt, indem man sie auf dem Schachbrett "bewegt", ebenso zeigten logische "Funktoren" gleichsam den Typus der logischen Operation an, die der gegebene Funktor in der gegebenen Aufschrift ausüben sollte. Nach der Festlegung der Sprachaxiome des gegebenen deduktiven Systems (später sagte man: eines "formalisierten" Systems, im Grunde genommen sollte aber jede Sprache ein derartiges System von sinnlosen Zeichen-Aufschriften sein, in dem gewisse Zeichen die Funktion der Operatoren ausüben)

118 K. Ajdukiewicz hat als erster in Polen diese Konzeption der Sprache in gewisser Analogie zum Schachspiel aufgestellt. Vgl. Ζ metodologii nauk dedukcyjnych, Lwów 1921.

§18. Das Problem der Erkenntnis der Objekte der Mathematik

213

bestand die weitere Arbeit des Mathematikers oder des mathematischen Logikers nur noch in der Bildung immer neuer "Ausdrücke" (zusammengesetzter Aufschriften); es reichte aus, die Ausdrücke gemäß den durch die Funktoren angezeigten Vorschriften aufzuschreiben. Sobald die Sprache des gegebenen Systems eine weitere "Formalisierung" erfahren hatte, die darin bestand, daß außer den logischen Funktoren als "logischen Konstanten" nur noch "Variablen" auftraten, die "Leerstellen" waren, von denen es galt, daß man dafür entweder beliebige oder speziell bestimmte "Ausdrücke" einsetzen durfte (darüber aber, welcher dieser Fälle vorlag, "informierte" ein dieser Leerstelle eigens vorangestellter Funktor mit dem Namen "Quantor"), wußte man schon ausreichend, wie man mit diesen Zeichen-Aufschriften operieren, d. h. welche komplexeren Ausdrücke man aufschreiben konnte und in welcher Reihenfolge. Die ganze Arbeit des Logikers bzw. Mathematikers beschränkte sich dann auf das Aufschreiben und Lesen der Aufschriften; man brauchte weder auf irgendwelche durch diese Symbole bestimmten Gegenstände Bezug zu nehmen noch Zusammenhänge zwischen irgendwelchen Gegenständen zu verstehen. Die mathematische Intuition wurde durch eine aufmerksame sinnliche Wahrnehmung und entsprechend gewählte Schreibbewegungen abgelöst bzw. sollte dadurch abgelöst werden. Das Erkennen von logischen oder mathematischen Formeln bestand ebenfalls im aufmerksamen sinnlichen Wahrnehmen der Aufschriften. Die Mathematik - dieser oder jener Disziplin - unterschied sich von dieser Art Logik nur dadurch, daß [in ihrem Rahmen] außer den logischen Konstanten noch andere Konstanten, nämlich die für die gegebene Disziplin eigentümlichen Funktoren erscheinen mußten. Diese wurden in den impliziten Definitions-Axiomen eingeführt, wobei man sich beim Festlegen dieser speziellen Axiomensysteme spezieller "Verfahrensdirektiven" bedienen mußte, um neue Funktoren der gegebenen Theorie einzuführen. Eigentlich sollte aber allein ein solches Nebeneinanderstellen des bereicherten Bestandes an Konstanten [dazu] ausreichen, daß man schon der "Form" der aufgeschriebenen Axiome "ablesen" (daraus ersehen) kann, in welchen Konfigurationen welche Schriftzeichen nacheinander aufgeschrieben werden dürfen. Das war eigentlich das [angestrebte] Ideal: nichts denken, nichts verstehen. Denn das Denken sei nicht untrüglich und führe zu Irrtümern, es handelte sich aber darum, immer neue Aufschriften gemäß der durch die Direktiven vorgeschriebenen Ordnung aufzuschreiben. Alles wurde me-

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

chanisiert. Es kam die Zeit, wo man angefangen hat, an Stelle des schreibenden oder lesenden "Logikers" oder "Mathematikers" die rechnenden und wie man heute sagt - "denkenden" Maschinen zu installieren, die so konstruiert sind, daß ein Irrtum kaum wahrscheinlich ist. Und alles wäre gut, wenn da nicht ein "Aber" wäre. Dieses besteht bei der formalisierten Logik oder den formalisierten deduktiven Systemen darin, daß man (wenigstens am Anfang) über Verfahrens"direktiven" verfügen muß, und bei den "denkenden" oder rechnenden Maschinen (abgesehen von rein technischen Problemen) darin, daß man das "einprogrammieren" muß, was die Maschine "rechnen" soll, d. h., daß die "Operationen" der Maschine und die durch sie zu lösenden Probleme verstanden und begrifflich festgelegt werden müssen. Hier reicht es nicht mehr aus, die "Zeichen" einfach sinnlich wahrzunehmen; man muß auch einen Sinn denken - einen echten Sinn und nicht nur eine Reihe von Aufschriften - , [und zwar den Sinn der] Verfahrensdirektiven, die das gegebene System von Funktoren (Konstanten) bestimmen. Mit anderen Worten, man muß die [entsprechenden] Probleme und ihre möglichen Lösungen verstehen, wirklich denken und erkennen, um der Maschine eine "Frage" stellen zu können. Die Logistiker verraten ein kennzeichnendes Desinteresse für jene Direktiven, dafür, auf welcher Erkenntnisgrundlage sie konstruiert werden können und, schlimmer noch, in welcher Sprache sie "aufgeschrieben" werden können oder müssen. Handelt es sich auch hier um eine Sprache, in der die einzelnen Aufschriften in Wahrheit nichts bedeuten, in der also mit einer Aufschrift kein (denkbarer und begreifbarer) Sinn verbunden ist, oder aber um eine wirkliche, sinnvolle Sprache? Handelt es sich um das letztere, so bedeutet das, daß dann die aufgestellte allgemeine These, jede "Sprache" sei aus entsprechend nebeneinander gereihten sinnlosen Zeichen aufgebaut und müsse aus solchen Zeichen aufgebaut sein, sich nicht halten läßt, weil die sinnvollen Direktiven dieser allgemeinen These nicht gehorchen. Oder aber man muß zugeben, daß auch die Direktiven "sinnlose Aufschriften" sind, dann aber werden wieder Direktiven zweiter Ordnung benötigt, damit die Direktiven der Sprache erster Ordnung konstruiert werden können. Auf diese Weise wird beim Bilden immer weiterer Metasprachen ein Weg zum regressus in infinitum geöffnet, ein Weg, der nie abgeschlossen werden kann, weil wir jedesmal, wenn wir ihn mit der Bildung der "letzten" (in einer Sprache η-ter Ordnung) Direktiven zum Abschluß zu bringen versu-

§18. Das Problem der Erkenntnis der Objekte der Mathematik

215

chen, anerkennen müssen, daß diese schon sinnvoll sind, was (beim Skeptizismus der Neupositivisten bezüglich der [Möglichkeit einer] Analyse einer Sprache, deren Sinn nicht in Denkerlebnissen besteht) auf eine Zuhilfenahme der unzuverlässigen Erlebnisse und Intuitionen des Mathematikers oder Logikers hinausläuft. Das wollte man aber gerade vermeiden, indem man sich auf die Vollkommenheit der sinnlichen "Zeichen"wahrnehmung und die Unfehlbarkeit der Bewegungen der die "Aufschriften" schreibenden Person bzw. später auf die Unfehlbarkeit der Bewegungen der "denkenden" Maschine verließ. Tatsächlich mußte man aber zur Festlegung der "Verfahrensdirektiven" schon gewisse Erkenntnisakte einsetzen, die entweder den speziellen Sinn logischer Operationen oder den Sinn der (z.B. algebraischen) Operationen innerhalb der gegebenen mathematischen Disziplin ermittelten. Auf diesem Weg wurde in die logischen oder mathematischen Ausdrücke stillschweigend und unbemerkt der Sinn eingeschmuggelt, von dem man sich lossprach und von dem man sagte, sein Verwenden oder Verstehen sei gar nicht erforderlich, um ein logisches oder deduktives System der gegebenen mathematischen Disziplin zu errichten. Das beschränkt sich zwar scheinbar darauf, daß ein Axiomensystem aufgebaut wurde; in Wahrheit schlich sich jedoch jener Sinn insgeheim in jede mathematische Formel des betreffenden Systems ein. Um sich mit Axiomen oder Thesen des Systems vertraut zu machen, brauchte man nicht nur das einfache Sehen der Aufschriften, sondern auch das Lesen, d. h. das Verstehen der betreffenden Thesen samt dem in diese Aufschriften eingeschmuggelten Sinn. Und indem man auf diese Weise die logischen oder mathematischen Formeln las, dachte man wieder an die durch die Axiome und Thesen des Systems bestimmten Gegenstände zurück, die man aus dem System "ausquartieren" wollte. Die Aufschriften wurden wieder Sätze, und als solche erhoben sie erneut Anspruch auf Wahrheit, d. h. darauf, daß die durch sie bestimmten Sachverhalte tatsächlich bestehen. Erst dann haben wir es mit mathematischen oder logischen Sätzen zu tun und können entscheiden, ob das gegebene formale System eine Anordnung von Zeichnungen ist, die sich wohl nur für eine Ausstellung abstrakter Malerei eignen würden, oder eine Mathematik, die zur Entdeckung irgendwelcher mathematischen Wahrheiten geführt hat. Und erst dann können wir auf nicht bloß formale Weise nachkontrollieren, ob ein solches System eine Wissenschaft ausmacht, die gewisse unabhängig von unseren Satz-Aufschriften bestehenden Sachverhal-

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

te entdeckt, oder ob ihm gar kein Komplex von Sachverhalten - bzw. korrelativ von Wahrheiten - entspricht. Angesichts dieser Lage sagt man jetzt: Nun haben wir ein "Modell" - eine Interpretation des Systems gefunden, und erst dann können wir uns von dessen Erkenntniswert überzeugen. Ohne diese Interpretation ist es nicht möglich, eine solche Nachkontrolle durchzuführen, wir geraten also wieder in die Situation zurück, in der wir uns am Anfang befanden: Wir haben es mit echten mathematischen (bzw. logischen) Sätzen zu tun und müssen fragen, worauf sich diese Sätze beziehen, welche Gegenstände und Sachverhalte durch diese Sätze bestimmt sind und in welcher Erkenntnisart wir ihre Erkenntnis gewinnen können. Und wir müssen entweder auf die schon besprochenen, aus dem Geiste des Empirismus geborenen Interpretationen der Mathematik zurückgreifen, die sich als unhaltbar herausgestellt haben, oder aber zugeben - jetzt haben wir keinen anderen Ausweg mehr - daß die Objekte der Mathematik (der Logik) nicht in der sinnlichen Wahrnehmung zur Erkenntnis kommen und daß ihr Erkennen nicht bei Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem zu erkennenden Gegenstand und dem Erkenntnisakt erfolgt. So müssen wir am Ende zum Ergebnis kommen, daß die These, jede Erkenntnis vollziehe sich als ein Kausalzusammenhang zwischen dem Gegenstand des Erkennens und dem Erkennen selbst, nicht haltbar ist. Für das Schreiben und Lesen sinnloser Formeln reicht die Gesichtswahrnehmung aus. Diese Systeme von sinnlosen Aufschriften, wenn tatsächlich nur als sinnlos "gelesen", machen aber gar keine Mathematik oder "Metalogik" aus, sondern nur einfach eine Menge von konsequent gebildeten Aufschriften, und es erfolgt in einem solchen formalisierten System keine Erkenntnis dessen, was sie bestimmen würden, wenn wir ihren Sinn zuließen. Genauso wie die "denkende" Maschine nichts erkennt, sondern sich nur dreht und eine sinnlose Aufschrift tippt, die erst von jemandem abgelesen werden muß, der ihren Sinn wiederherstellt und erst dann eine von der Maschine unabhängige "Wirklichkeit" entdeckt. So versagt auch dieser letzte Versuch, sich die Annahme der apriorischen mathematischen Erkenntnis irgendwie zu ersparen.

§19. Das Problem der Erkenntnis der eigenen psychischen

Erlebnisse

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§ 19. Das Problem der Erkenntnis der eigenen psychischen Erlebnisse auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie Die psychologistische Konzeption der Mathematik bzw. Logik wurde u. a. zu dem Zweck entwickelt, die Annahme idealer Gegenstände und deren "apriorischer" Erkenntnisweise zu vermeiden, zugleich aber die Mathematik nicht zu einer "gegenstandslosen" Wissenschaft zu machen. Wäre diese Interpretation der Mathematik wirklich akzeptabel, dann entstünde sogleich das Problem, auf welche Weise wir unsere eigenen psychischen "Zustände" - wie man gewöhnlich sagt - , d. h. unsere Bewußtseinserlebnisse (denn darum handelt es sich eigentlich in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie) erkennen. Es fragt sich auch, ob bei dieser Erkenntnis ebenfalls ein Kausalzusammenhang zwischen dem zu erkennenden Bewußtseinserlebnis und seinem Erkennen bzw. dem auf diesem Weg gewonnenen Erkenntnisergebnis besteht. Diese Frage stellt sich auch deswegen, weil die psychophysiologische Erkenntnistheorie selbst doch eine Psychologie der Erkenntniserlebnisse ist, die programmäßig noch durch eine Physiologie der Prozesse ergänzt werden muß, die sich bei den Erkenntniserlebnissen in unserem Organismus abspielen. Lassen wir zunächst die Schwierigkeit beiseite, wie diese physiologischen Prozesse erforscht werden sollen. In den Vordergrund rückt die Frage nach dem Erkennen der Erkenntniserlebnisse selbst, d. h. des Wahrnehmens, Sicherinnerns, Vergleichens, Denkens, Urteilens, Schließens usw. Sollen diese Erlebnisse "erkannt" werden, dann müssen sie alle - nach der Theorie, deren Grundlagen wir hier erwägen - in der "inneren Erfahrung", in der "Reflexion", in der "Introspektion" (und wie sonst die verschiedenen von den Psychologen gebrauchten Namen noch lauten mögen) erkannt werden. Von dieser inneren Erfahrung sagt eine der Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie, daß sie uns eine sichere und wahre Erkenntnis der zu erkennenden Bewußtseinserlebnisse liefere. Ohne diese Voraussetzung ist eigentlich die ganze so betriebene Erkenntnistheorie ohne Grundlagen. Es ist bekannt, welche Einwände gegen die "Reflexion" seit dem Positivismus Comtes gebracht werden und welch große Abwendung von der "introspektiven" Psychologie im XX. Jahrhundert in Gestalt von verschiedenen Richtungen - vom Behaviorismus bis zur Reflexologie und "objektiven Psychologie" bzw. zum Pawlowismus und Neubehaviorismus - erfolgte. Soll sich also die

218

II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

Psychophysiologie der Erkenntnis letzten Endes in eine Physiologie des Erkennens bzw. in eine physiologische Erkenntnistheorie verwandeln? Ohne uns zuerst auf das Problem einzulassen, wie es wäre, wenn man eine Physiologie der Erkenntnisprozesse tatsächlich betreiben könnte, bleiben wir bei der von der psychophysiologischen Erkenntnistheorie vertretenen Ansicht, daß es eine glaubwürdige innere Erfahrung von Bewußtseinserlebnissen gebe (zumal manche Psychologen eine solche Erfahrung zweifellos annehmen). Wie sie verlaufe, das möchte ich im Augenblick nicht erwägen. Ich will mich vielmehr auf die Problematik beschränken, die durch die folgenden zwei von der psychophysiologischen Erkenntnistheorie vertretenen Thesen aufgeworfen werden: 1. daß jedes Bewußtseinserlebnis durch einen physiologischen Prozeß im Nervensystem des Menschen bedingt sei; 2. daß zwischen dem Erkenntnisgegenstand und dem Erkennen ein Kausalzusammenhang (bzw. eine ganze Kette von solchen Zusammenhängen) bestehe. Wir dürfen aber dabei nicht vergessen, daß es sich in der von uns betrachteten Theorie nicht ausschließlich um "meine" (des Erkenntnistheoretikers) Erkenntniserlebnisse handelt, sondern überhaupt um menschliche Erlebnisse dieser Art, mithin auch um "fremde" Erlebnisse. Denn das bringt eine neue Komplikation in die ganze Problematik hinein. Wie ist es somit zunächst um "meine" Erkenntniserlebnisse bestellt? Um irgend etwas über sie aussagen zu können, muß ich sie vorerst vollziehen. So nehme ich ζ. B. eine Blumenvase auf dem Tisch, an dem ich schreibe, wahr, ich sehe die Schreibmaschine, höre das Geräusch ihrer Tasten, fühle die Kälte ihres metallenen Gehäuses usw. Wenn ich das tue, kann ich zugleich Urteile fällen, ζ. B. daß die Lettern der Maschine schon mit Tusche beschmutzt sind und die Schrift beginnt, sich zu verwischen. Ich unterbreche also das Schreiben und reinige die Lettern, worauf ich bald feststelle, daß die Schrift schon deutlicher und schärfer wird im Vergleich dazu, wie sie ein paar Zeilen früher war usw. Ich erlebe alle diese Wahrnehmungen und Urteile, indem ich sie aber erlebe, bin ich mit dem beschäftigt, worauf sich diese Erlebnisse beziehen und nicht mit diesen Erlebnissen selbst. Um zu wissen, wie sie beschaffen sind, wie sie verlaufen usw., muß ich meine Erkenntnistätigkeiten wiederholen, diesmal aber so, daß ich, wenn ich sie ausführe, zugleich - wie diese Theorie sagt - einen anderen wahrnehmungsmäßigen Erkenntnisakt vollziehe, der sich auf mein Sehen der Schreibmaschine oder der Blumen richtet.

§19. Das Problem der Erkenntnis der eigenen psychischen

Erlebnisse

219

Dieser andere Akt ist gerade jene "innere Erfahrung", von der die Psychologen sprechen. Sie ist nicht mehr ein Sehen oder Hören oder Urteilen über das, was ich gesehen habe, sondern ein in gewisser Hinsicht ganz anderer Akt (nämlich insofern, als er kein "sinnlicher" Akt zu sein scheint, bei dem meine Sinnesorgane wie das Auge, das Ohr usw. vermitteln), der aber zugleich meinem Sehen irgendwie verwandt und von meinem Urteilen verschieden ist. Ich "denke" nämlich nicht - wie ich das in dem Augenblick tue, in dem ich diese Worte schreibe - an mein Sehen oder mein Zuhören oder Hören, sondern ich verkehre gleichsam sehr nahe und intim mit dem sich in mir gerade vollziehenden Sehen: es ist mir - wie man manchmal sagt - direkt gegenwärtig, in dem höchsten Grade direkt, in dem das für mich überhaupt erreichbar ist. Wie dem aber auch sein mag und unabhängig davon, ob die [gewöhnlich] gegebenen Beschreibungen dieser Erfahrung richtig sind, ist das ein neuer Erkenntnisakt im Verhältnis zu dem, der "zum Bewußtsein gebracht", wahrgenommen wird. Daher muß dieser neue Erkenntnisakt - nach dem Argumentationsschema der psychophysiologischen Erkenntnistheorie - erstens eine Wirkung dessen sein, was seinen Gegenstand ausmacht, also meines Sehens der Schreibmaschine, und zweitens durch einen Prozeß in meinem Nervensystem bedingt sein, denn es gibt kein Bewußtseinserlebnis ohne eine solche physische Grundlage. Während beim Sehen der Schreibmaschine der seine Grundlage bildende physiologische Prozeß - wie die Psychophysiologen nach vielen Untersuchungen festgestellt haben - nach der Einwirkung des physischen Reizes einer Lichtwelle auf die Nervenenden im Auge beginnt, das sinnliche Organ des Sehens also bekannt ist, wissen wir bei der inneren Wahrnehmung unseres eigenen Sehens nicht, welche eigentlich das Organ und der Teil des Nervensystems sind, die in einen aktiven Zustand gebracht werden müssen, damit mein Akt der inneren Wahrnehmung erfolgt. Der Reiz ist hier wohl das Einwirken meines Sehens der Schreibmaschine auf das Nervensystem; ob aber das Erlebnis des Sehens selbst oder der meinem Sehen zugrunde liegende physiologische Prozeß oder beide Vorgänge auf dieses System einwirken, weiß man bisher nicht. Es ist irgendwie so, daß nicht in jedem Fall meines Sehens ein solcher Prozeß des Einwirkens des Sehens oder seines physiologischen Korrelats auf andere Teile des Nervensystems und auf meine innere Erfahrung stattfindet. Denn diese Erfahrung kommt nicht jedesmal zustande, nicht immer werde ich mir meines Sehens bewußt. Es muß also noch

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

ein [weiterer] unbekannter Faktor hinzutreten, damit dieser ganze komplizierte Prozeß in Gang kommt. Dieser Umstand bringt eine Schwierigkeit mit sich, die mit dem herkömmlichen Begriff des Kausalzusammenhangs verbunden ist. Man sagt nämlich, daß ein a dann und nur dann die Ursache von einem b ist, wenn sowohl a als auch jedes Element der Klasse von Tatsachen ¿4, zu der das gegebene a gehört (wenn eine solche Klasse A überhaupt da ist), die Existenz der Tatsache b bzw. eines beliebigen Elementes der Klasse B, zu der b gehört, "nach sich zieht". Infolgedessen müßte man sagen: Im Falle, daß eine Gesichtswahrnehmung X der Gegenstand einer inneren Erfahrung Y ist, bestünde zwischen X und Κ dann und nur dann ein Kausalzusammenhang, wenn jede Gesichtswahrnehmung einen auf sie gerichteten Akt innerer Erfahrung hervorrufen würde. Es ist aber eine Tatsache, daß die überwiegende Mehrheit unserer Gesichtswahrnehmungen sich so abspielt, daß kein Akt innerer Wahrnehmung entsteht - eher ausnahmsweise geschieht es anders. Bestenfalls bildet also die Gesichtswahrnehmung, auf die sich der Akt innerer Erfahrung richtet, eine sog. Teilursache von dieser; sie ist also keine hinreichende Bedingung für das Eintreten der Erfahrung, was sich darin bestätigt, daß uns etwas erregen muß, damit wir uns unseres Sehens bewußt werden - u. a. unser theoretisches Interesse bzw. ein besonderer Willensakt. Ich werde aber nicht erwägen, ob diese Vermutung richtig ist. Ich möchte nur fragen, wie sich die theoretische Situation darstellen würde, wenn wir auf den Erkenntnis wert unserer inneren Erfahrung (denn auf diesen kommt es uns hauptsächlich an) daraus folgern wollten, ob die Tätigkeit unseres Sehens der Schreibmaschine ihre Ursache ausmacht, auf die sich diese Erfahrung bezieht. Die Situation sieht nicht gut aus. Denn wenn das Erkenntniserlebnis nicht die Ursache des Erlebnisses ist, in dem es erkannt wird, dann kann uns dieses Erkennen keine Erkenntnis des zu erkennenden Erlebnisses vermitteln. Wenn es dagegen die Ursache der inneren Erfahrung ist und wenn das auf Grund eines entsprechenden physiologischen Prozesses in unserem Nervensystem so ist, dann fungiert dieser Prozeß - so wie in den übrigen Fällen (d. h. bei der äußeren Erfahrung) - als Transformator des objektiven Reizes, d.h. wir erkennen unser Erkenntniserlebnis anders, als es an sich ist. Sollte der in Frage kommende Kausalzusammenhang ohne Vermittlung eines physiologi-

§19. Das Problem der Erkenntnis der eigenen psychischen Erlebnisse

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sehen Prozesses erfolgen, dann wissen wir nicht, wie wir das in der inneren Erfahrung gewonnene Erkenntnisergebnis überhaupt beurteilen sollen. Der einzige Erkenntniszugang zu dem zu erkennenden Erlebnis ist - wie es scheint - diese innere Wahrnehmung, in dieser tritt jedoch das Erlebnis, das wir erkennen, gerade nur als das von uns erkannte auf; wie es aber an sich beschaffen ist, wenn es nicht erkannt wird, wissen wir nicht und können es nicht wissen. Als die Frage nach der "Objektivität" der sinnlichen Wahrnehmung behandelt wurde, hat man - nach der psychophysiologischen Erkenntnistheorie - auf physische Reize wie z.B. gewisse Lichtwellen verwiesen. Diese dienten gleichsam als Modell oder Informator darüber, wie das "Licht" an sich als physischer Prozeß beschaffen sei. Man konnte zwei "Lichter" miteinander konfrontieren: das Licht wie es "an sich" ist und das Licht wie es uns gegeben ist (d. h. von uns erkannt wird). Allerdings hat gerade dieses Verfahren zu den hier vorgebrachten Einwänden geführt. Immerhin war das aber wenigstens ein Weg, auf dem man des Problems Herr zu werden versuchte. Hier fehlt dieser Weg. Ich weiß also nicht, welchen Wert die innere Erfahrung hat, wenn dieser Wert auf dem aufgezeigten Weg beurteilt werden solle. Und außerdem, woher wissen wir denn, daß das erkannte Erlebnis (ζ. B. das Sehen der Schreibmaschine) die Ursache der darauf gerichteten inneren Erfahrung ist: Wenn wir nicht wissen, welchen Erkenntniswert diese Erfahrung hat (und erst recht, wenn sie uns täuscht), dann wissen wir nicht, ob das erkannte Erlebnis überhaupt existiert und so ist, wie es erkannt wird. Indem wir behaupten, es sei die Ursache der inneren Erfahrung, nehmen wir im voraus an, daß diese Erfahrung uns über ihren Gegenstand richtig informiert, während das doch erst mit Hilfe dieser Prozedur zu entscheiden ist. Wir begehen also den Fehler einer petitio prineipii, der uns übrigens nicht zum ersten Mal begegnet. Niemand anders und nichts anderes kann uns aber über das sich in uns abspielende Erlebnis des Sehens der Schreibmaschine belehren. Wir können uns hier nicht auf eine fremde Erfahrung berufen, wie das beim Durchführen von physischen Experimenten möglich zu sein schien. Nur auf Grund des gegebenen individuellen Aktes der inneren Erfahrung können wir also überhaupt Auskunft über unser Erlebnis des Sehens der Schreibmaschine usw. gewinnen. Mit Hilfe der Begriffsapparatur und der Forschungsmethoden und Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie läßt sich somit das für diese Theorie grundlegende Problem nicht positiv lösen.

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11. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

Zu erwägen bliebe noch das Problem der Erkenntnis fremder Erkenntnisund überhaupt Bewußtseinserlebnisse. Diejenigen jedoch, die glauben, daß andere irgendwelche Bewußtseinserlebnisse besitzen, leugnen - wie bekannt - im allgemeinen, daß diese Erlebnisse direkt (durch eine entsprechende Art von Erfahrung) erkannt werden könnten, und entwickeln verschiedene Theorien in der Art [der Theorie] des Schließens per analogiam (das bekanntlich unsicher und überhaupt undurchführbar ist 119 ) oder der "Einfühlung", die wenn sie überhaupt stattfindet - uns, nach der [diesbezüglichen] Theorie selbst, nicht zur Erkenntnis dessen führt, was sie vermeintlich erkennen soll. Wer aber als eine Methode [der Erkenntnis des Fremdpsychischen] die "objektive Methode", d.h. die Beobachtung fremder Verhaltensweisen, vorschlägt (wie Watson), behauptet damit gleichzeitig, es gebe keine Bewußtseinserlebnisse, sondern allein Bewegungen und Mienen des menschlichen Körpers. Er sollte also eigentlich ein Solipsist sein und aufhören, Abhandlungen für andere zu schreiben, denn ohne Bewußtseinserlebnisse ist niemand imstande, ihn zu verstehen. Er selber auch nicht! Wer schließlich aus dem oder jenem Grund behauptet, man könne und solle allein Physiologie der Erkenntnis betreiben, weil der ganze Erkenntnisprozeß nichts anderes sei als ein physiologischer Prozeß - diese oder jene Nervenreaktionen und dadurch verursachte Verhaltensweisen des Menschen gegenüber der ihn umgebenden Wirklichkeit - , für den existiert das, was die Erkenntnistheorie untersuchen könnte, überhaupt nicht, und seine Forschung kann allenfalls zweckmäßige Reaktionen des menschlichen Organismus auf die ihm erteilten äußeren oder inneren (endogenen) Reize betreffen. Dann verschwindet also das ganze Problem.

§20. Ergebnisse der Kritik der psychophysiologischen Erkenntnistheorie Ich fasse kurz die Ergebnisse der durchgeführten Diskussion zusammen. A.Die Bestimmung des Forschungsgebiets der psychophysiologischen Erkenntnistheorie ist im Verhältnis zur Problematik, die diese naturgemäß

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Vgl. meinen Aufsatz [Ingarden (1947)].

§ 20. Ergebnisse der Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

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behandelt, zu eng. Sie umfaßt nämlich nicht: a) die Erkenntnisbeziehung zwischen dem Erkenntnisgegenstand und dem Erkennen, b) die in Erkenntnistätigkeiten gewonnenen und auf gewisse Gegenstände bezogenen Erkenntnisergebnisse, c)die erkenntnistheoretischen Grundbegriffe (Kategorien) und d) die erkenntnistheoretischen Kriterien. 120 B. Von den drei wichtigsten Problemen (bzw. sogar den ganzen Gruppen von erkenntnistheoretischen Problemen) - a) das Objektivitätsproblem der menschlichen Erkenntnis der materiellen Welt, b) das Objektivitätsproblem der Erkenntnis der eigenen psychischen Zustände des Erkenntnissubjekts (des Menschen), c) das Objektivitätsproblem der Erkenntnis irrealer (insbesondere mathematischer oder logischer) Objekte - läßt sich im Rahmen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie keines lösen, ohne daß dabei eine positive oder negative petitio principii begangen wird. Es hat sich dabei herausgestellt, daß keine der vier bekannten Lösungen [des Problems] der Erkenntnis der äußeren (insbesondere materiellen) Welt frei von prinzipiellen Irrtümern ist. C. Die Fehler, die ich früher aufzuzeigen versucht habe, sind keine zufälligen Irrtümer, sondern ergeben sich unvermeidlich im Rahmen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie. Sie erwachsen nämlich aus einer prinzipiellen Diskrepanz zwischen den Bedingungen, die erfüllt sein müssen, wenn die Aufgabe der Erkenntnistheorie fehlerfrei ausgeführt werden soll, und den Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie. Jene Aufgabe ist die Lösung des Objektivitätsproblems jeder Erkenntnis einer beliebigen Art, d. h. die Bestimmung des Wahrheitswertes des im betrachteten Erkennen gewonnenen Erkenntnisergebnisses. Soll dieser Wert erst in der Folge von erkenntnistheoretischen Untersuchungen bestimmt oder ermittelt werden, so kann man darüber im Laufe dieser Untersuchungen weder positiv noch negativ - und zwar auch nicht implicite - irgend etwas präjudizieren. Sonst liegt nämlich eine petitio principii vor. Von dieser Bedingung kann man nicht

120 Die beiden letzten Punkte habe ich bisher nicht besprochen, denn ich werde mich damit noch in Zukunft beschäftigen müssen. Ich habe übrigens auch eine Reihe von anderen Fragen nicht besprochen, die auch bei anderen Auffassungen der Erkenntnistheorie erwogen werden müssen. Ich habe mich nur auf die Probleme beschränkt, die am deutlichsten die Unrichtigkeit der psychophysiologischen Erkenntnistheorie zeigen.

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//. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

ablassen. 121 Indessen schließen die (meist nur stillschweigend gemachten) Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie die Erfüllung dieser Bedingung aus. Auf den ersten Blick, wenn man die psychophysiologische Erkenntnistheorie einfach betreibt, ohne über ihre Voraussetzungen und Aufgaben nachzudenken, sieht man das vielleicht nicht ganz deutlich. Erst wenn man Einzeluntersuchungen über die Betrachtungsweise von einzelnen Problemen durchführt, stellt sich heraus, daß es so ist. Es empfiehlt sich, jene Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie, die zu einem Konflikt mit deren Zielen führen, noch einmal zusammenzustellen und ihre Abhängigkeiten zu umreißen. Es sind die folgenden: I. Psychische Prozesse und insbesondere bewußtseinsmäßige Erkenntnistätigkeiten sind eine Äußerung (Wirkung?) von physiologischen Prozessen, die sich im Organismus des sie ausführenden Menschen (psychophysischen Individuums) abspielen. II. Diese Tätigkeiten sind zugleich eine Äußerung des psychischen Charakters des erkennenden Menschen (der Person) und sind von ihm in ihrem Verlauf abhängig. III. Die Voraussetzungen I und II präsupponieren ihrerseits: 1. die Existenz des psychophysischen Individuums (des Menschen, der Person), 2. die Existenz des Organismus (Leibes), mit dem das gegebene psychische Subjekt - das Subjekt der Bewußtseinserlebnisse - verbunden ist. IV. Die Voraussetzung III 2 impliziert die Existenz der materiellen Welt, denn der menschliche Organismus wird von vornherein als Glied dieser Welt 12] Indem wir diese Bedingung aufstellen, verlangen wir von der Erkenntnistheorie, daß sie frei von logischen Fehlem sein soll. Man kann einwenden, daß wir mit diesem Postulat die Gültigkeit der logischen Gesetze - mithin der Gesetze der mittelbaren Erkenntnis - schon voraussetzen. Es sei also nicht wahr, daß wir keine Voraussetzungen in bezug auf die Erkenntnis überhaupt machen würden. Das muß man pro futuro im Auge behalten, weil wir dieses Vorgehen noch rechtfertigen müssen. Vorläufig kann man aber sagen, daß, wenn sich die psychophysiologische Erkenntnistheorie gewisser herkömmlicher Schluß- und Beeisarten bedient, sie sich um deren Korrektheit kümmern muß. Wollte jemand überhaupt mit der Anerkennung de iure der logischen Gesetze (der Korrektheit der Schlußfolgerungen) einhalten, bis diese einer Analyse unterzogen worden sind und ihre Rechtmäßigkeit nachgewiesen ist, dann sollte er sich auch des Schließens enthalten.

§ 20. Ergebnisse der Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

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begriffen, das in seinem Sein und Sosein von der Existenz und dem Zustand der Welt abhängt. Bemerkung: Eine analoge Voraussetzung in bezug auf die "Welt" der psychischen Wesen (der Menschen) wäre nur dann notwendig, wenn sich herausstellen würde, daß es zum Wesen der menschlichen Person gehört, daß sie isoliert, d. h. sola ipsa nicht existieren kann. Eine solche Voraussetzung sollte man aber auch dann annehmen, wenn diese Möglichkeit zwar nicht bestünde, wenn es aber zugleich der Fall wäre, daß der die Erkenntnisakte vollziehenden Person für die Erkenntnistheorie relevante Merkmale zukommen, die durch das Zusammenleben dieser Person mit anderen Menschen (eventuell allgemeiner - Erkenntnissubjekten) bedingt sind. Unvermeidlich ist dagegen die Setzung der Existenz von mehreren Personen für diejenigen, die - wie Schlick, Carnap und die meisten Neupositivisten 122 - im voraus annehmen, eine Erkenntnis sei ausschließlich das, was sich intersubjektiv überprüfen läßt. Auch diejenigen, die meinen, jede Erkenntnistätigkeit sei auf wesentliche Weise "sozial" bedingt, müssen diese Voraussetzung machen. V. Die Anerkennung der Voraussetzungen I, III und IV ist nur möglich, wenn wir die folgende Voraussetzung annehmen: Die Erkenntnisprozesse, mit denen wir Gegenstände der materiellen Welt zu erkennen glauben, mithin vor allem die äußere, speziell sinnliche Wahrnehmung, vermitteln uns eine echte Erkenntnis dieser Gegenstände sowohl hinsichtlich deren Existenz als auch hinsichtlich deren Beschaffenheit. VI. Durch die Anerkennung der Voraussetzung II nimmt man implicite an, daß die innere Erfahrung eine echte Erkenntnis der Existenz und der Eigenschaften des psychischen Subjekts (als Person und als Subjekt von Bewußtseinserlebnissen) und [der Eigenschaften] seiner Bewußtseinserlebnisse vermittelt.

197 Merkwürdigerweise hält aber gerade Carnap das Problem [der Erkenntnis] des Fremdpsychischen fur ganz sinnlos. Infolge dieser These sollte er zugeben, daß allein er selbst als Subjekt von Bewußtseinserlebnissen existiert, so daß von InterSubjektivität überhaupt keine Rede sein kann. Diese Inkonsequenz jedoch, wie viele andere, die er begeht, fällt diesem angeblich großen Logiker nicht auf. [Vgl. R. Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie, Berlin, Schlachtensee 1928; derselbe, "Psychologie in physikalischer Sprache", Erkenntnis, 3 (1932/33), S. 107-142.]

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

Wie ich schon angedeutet habe, darf man die beiden Voraussetzungen V und VI in der Erkenntnistheorie am Beginn oder im Laufe der Untersuchungen nicht unkritisch gelten lassen, weil: 1. erst die Ergebnisse dieser Untersuchungen die Frage entscheiden sollen, ob die Sinneswahrnehmung, die innere Erfahrung und die damit verbundenen weiteren Erkenntnistätigkeiten fähig sind, uns eine echte Erkenntnis zu liefern, und 2. die Annahme der beiden Voraussetzungen zur Begründung der positiven oder negativen Antwort auf die soeben genannten Fragen eine petitio principii ausmacht. D. Die Auffassung des Erkenntnisprozesses als eines realen psychischen Prozesses, der in Kausalzusammenhängen mit anderen psychischen, physiologischen und physischen realen Prozessen steht, gibt der erkenntnistheoretischen Problematik den Charakter kausal-genetischer Betrachtungen, im Unterschied zu Erwägungen, welche die Erkundung der Objektivität der in den Erkenntnisprozessen gewonnenen Erkenntnisergebnisse zur Aufgabe haben. Die zentrale Stellung der Betrachtungen über kausal-genetische Probleme geht gemeinhin mit der Nichtunterscheidung zwischen Erkenntnisbeziehung und Kausalzusammenhang einher, zum mindesten aber entscheidet sie im voraus, daß die Erkenntnisbeziehung zwischen Erkenntnisgegenstand und Erkennen nicht ohne einen Kausalzusammenhang zwischen den beiden stattfinden kann und, mehr noch, daß dieser Zusammenhang den Wahrheitswert des erlangten Erkenntnisergebnisses positiv oder negativ beeinflussen kann. Indessen kann erst eine sachliche erkenntnistheoretische Untersuchung zeigen, ob dem tatsächlich so ist. Die hier durchgeführte Erwägung legt vielmehr die Vermutung nahe, daß eine Kausalbeziehung zwischen Erkenntnisgegenstand und Erkennen für das Bestehen einer Erkenntnisbeziehung weder hinreichend noch notwendig sei. Zugleich aber liegt der Gedanke nahe, das für die Erkenntnisbeziehung wesentliche Moment liege woanders, nämlich darin, daß das Erkennen einen Gegenstand "betrifft" (sich darauf bezieht). Dieses besondere Moment des "Betreffens", "Sich-beziehens-auf", durch das der Erkenntnisgegenstand zunächst einmal bestimmt ist, kann erst jetzt, wenn das Interesse für den Kausalzusammenhang nicht mehr den Ton angibt, gebührend aufgehellt werden. Das sind die wichtigsten Ergebnisse, zu denen die bisherige Diskussion über die Konzeption der im Stil der Psychophysiologie betriebenen Erkenntnistheorie geführt hat. Jetzt müssen wir uns klar machen, was man an der

§ 20. Ergebnisse der Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

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Bestimmung des Forschungsgegenstands der Erkenntnistheorie und an der Art und Weise ihrer Untersuchungen ändern muß, um die oben aufgezeigten Schwierigkeiten zu vermeiden. Erwägen wir zuerst, was wir über Forschungsgegenstände der Erkenntnistheorie bzw. über andere mit ihnen verbundene Gegenstände nicht voraussetzen dürfen. Es wird dabei behilflich sein, sich an das Ziel bzw. die Aufgabenstellung der Erkenntnistheorie zu erinnern. Dieses Ziel ist natürlich die Beantwortung der Frage, die den Impuls zum Beginnen der Untersuchungen gibt, nämlich der Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Maße die Sinneswahrnehmung (und allgemeiner: eine beliebige Erkenntnisart) uns erlaubt, eine Erkenntnis sensu stricto in bezug auf den Gegenstand zu gewinnen, den sie betrifft. Die Klammerbemerkung deutet darauf hin, daß die Aufgabe der Erkenntnistheorie weiter zu verstehen ist, als das am Anfang den Anschein hatte. Analoge Objektivitätsprobleme entstehen nämlich in bezug auf die Erkenntnis irrealer Gegenstände, wie ζ. B. der Objekte der Mathematik oder Logik, und in bezug auf die Erkenntnis eigener oder fremder psychischer Prozesse sowie der Eigenschaften psychischer (bzw. psychophysischer) Subjekte. Es gibt aber auch zahlreiche und vielfältige Kulturgebilde, wie Kunstwerke, Werte, soziale Erzeugnisse, das positive Recht, gesellschaftliche und staatliche Institutionen usw. Sie spielen alle eine große Rolle im Leben des Menschen und der ganzen menschlichen Gesellschaften, wir widmen ihnen viel Aufmerksamkeit und bemühen uns, sie zu erkennen. Die Erkenntnistheorie soll in ihr Forschungsgebiet auch das Erkennen dieser Kulturgegenstände mit einbeziehen. Wenn wir beachten, daß die Erkenntnisergebnisse, die jeder von uns für sich selber erlangen kann, im Vergleich zu den in kollektiver wissenschaftlicher Arbeit erreichbaren Ergebnissen verhältnismäßig primitiv und unter heutigen Bedingungen sogar für die Bedürfnisse des Alltagslebens unzureichend sind, dann wird es klar, daß man die Frage nach der Objektivität aller dieser Erkenntnisweisen stellen soll, deren sich die gegenwärtigen Wissenschaften, und zwar sowohl die Natur- wie Geisteswissenschaften, wie schließlich die apriorischen Wissenschaften, [tatsächlich] bedienen oder bedienen können. Viele wissenschaftliche Ergebnisse sind nur durch koordinierte Arbeit von vielen Gelehrten erreichbar. Das setzt mindestens die Möglichkeit gegenseitiger Verständigung in der Forschungsarbeit voraus - sei es auf direkte Weise, sei es mit Hilfe der Sprache. Daher muß sowohl das Erken-

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

nen von Fremdpsychischem als auch das Verstehen einer gemeinsamen Sprache ebenso einer Untersuchung in der Erkenntnistheorie unterzogen werden. Letzten Endes ist es also die endgültige Aufgabe der Erkenntnistheorie, das Objektivitätsproblem menschlicher Erkenntnis jeder beliebigen Art - vorwissenschaftlicher wie wissenschaftlicher - zur Lösung zu bringen. Im jetzigen Stadium der Betrachtungen läßt sich noch nicht sagen, ob durch den Vorbehalt, es handle sich um Erkennen und Erkenntnis, die von Menschen gewonnen wird, die Aufgaben der Erkenntnistheorie nicht zu eng umschrieben worden sind oder ob die Lösung dieser Aufgabe nicht durch die vorherige Lösung anderer viel allgemeinerer Probleme bedingt ist. Denn im Augenblick kann man noch keine genaue und befriedigende Formulierung des Objektivitätsproblems geben. Sie hängt von der endgültigen Bestimmung des Forschungsgebietes der Erkenntnistheorie ab und wird mit verschiedenen Versionen dieser Bestimmung, die wir hier der Reihe nach zu besprechen haben, gewissen Modifikationen unterliegen. Vorläufig müssen wir uns mit der Formulierung zufriedengeben, die ich vorhin angeführt habe. Sie erlaubt uns, sei es auch auf provisorische Weise, die Bedingungen festzulegen, deren Erfüllung eine korrekte Lösung der Objektivitätsprobleme bedingt. Mit anderen Worten: Das in der Erkenntnistheorie zu erreichende Ziel schreibt eine Reihe von Postulaten vor, die erfüllt werden müssen und die für die Bestimmung des Forschungsgebietes der Erkenntnistheorie von Bedeutung sind. Sie gehen in verschiedene Richtungen. Ich gebe zunächst nur diejenigen an, deren Notwendigkeit auf Grund der bisherigen Diskussion sichtbar wird und die uns in die Lage versetzen, aus dem Untersuchungsbereich der psychophysiologischen Erkenntnistheorie herauszukommen und sie durch eine neue Auffassung der Erkenntnistheorie zu ersetzen, eine Auffassung, die übrigens auch nur eine provisorische Form darstellen soll und uns einen Übergang zu weiteren Auffassungen ermöglichen wird. Da die letztendliche Aufgabe der Erkenntnistheorie die Gewinnung einer Lösung des Objektivitätsproblems sämtlicher Erkenntnisergebnisse ist, müssen ihre Untersuchungen so geführt werden, daß nirgends in ihrem Verlauf auf mehr oder weniger versteckte Weise eine Lösung der Objektivitätsprobleme im voraus (ohne Untersuchung) angenommen wird. Die neue Bestimmung des Forschungsgebietes der Erkenntnistheorie muß daher so vollzogen werden, daß sie keine Voraussetzungen enthält, die auf versteckte Weise Ent-

§ 20. Ergebnisse der Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

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Scheidungen bezüglich der Objektivität der einzelnen Arten der menschlichen Erkenntnis, insbesondere bezüglich der Resultate der wissenschaftlichen Forschung mit sich bringen. Besonders nämlich gilt: 1. Man kann nicht die Gruppe derjenigen psychischen Prozesse als Forschungsgebiet der Erkenntnistheorie bestimmen, die Erscheinungen (Wirkungen) von mannigfaltigen, im psychophysischen Individuum (im Menschen) verlaufenden Prozessen ausmachen. 2. Man kann nicht das Bestehen eines Kausalzusammenhangs zwischen dem Erkenntnisgegenstand und dem subjektiven Erkenntnisprozeß annehmen, um irgendwelche erkenntnistheoretischen Behauptungen zu begründen, insbesondere Behauptungen, die eine Lösung des Objektivitätsproblems der untersuchten Erkenntnis ausmachen. Eo ipso kann man die Erkenntnistheorie nicht als eine kausal-genetische Wissenschaft betreiben, zumal nicht als eine solche, welche die Erkenntnis und Erkenntnisprozesse aus den in diesen Prozessen festgelegten Tatsachen ableitet. 3. Man darf in der Erkenntnistheorie - wie aus dem Postulat 1. folgt nicht irgendwelche Sätze von Einzelwissenschaften als Voraussetzungen der Erkenntnistheorie bzw. der Lösung der Objektivitätsprobleme annehmen. Dies besagt das - mehrfach schon aufgestellte - Postulat der "Unabhängigkeit der Erkenntnistheorie". 123 4. Das Gebiet der Erkenntnistheorie muß sowohl die subjektiven Erkenntnisprozesse und deren Subjekt als auch die Erkenntnisergebnisse umfassen. 5. Eine Bedingung für die Lösung der Objektivitätsprobleme ist die Aufklärung der erkenntnistheoretischen Grundbegriffe, der "Erkenntniskategorien", wie "Erkenntnisgegenstand", "Erkennen", "Erkenntnis", "Erkenntniswert" usw., sowie der möglichen Zusammenhänge zwischen ihnen. Diese Begriffe, einmal geklärt, werden gleichsam Werkzeuge zur Beurteilung des Wertes der untersuchten Erkenntnisse, mithin zur Lösung des Objektivitätsproblems liefern. 6. Die in der Erkenntnistheorie gewonnenen Ergebnisse müssen allgemein sein, d. h. auf allgemeine Weise von allen Erkenntnissen einer gewissen Art oder sogar von allen Erkenntnissen überhaupt sprechen.

ni Damit hängt aufs engste das Problem der von Husserl vorgeschlagenen sog. phänomenologischen Reduktion zusammen. Ich werde sie noch später besprechen.

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II. Kritik der psychophysiologischen

Erkenntnistheorie

7. Die in der Erkenntnistheorie gewonnenen Ergebnisse müssen definitiv sein, sie können also nicht durch Verallgemeinerung und unvollständige Induktion erlangt werden. Denn dann wären sie nur provisorisch und hätten den Charakter der je nach Forschungsstand in der gegebenen Epoche wechselnden Wahrscheinlichkeit. Eine Begründung der Unerläßlichkeit dieser Postulate ist schon in den durchgeführten Betrachtungen einbeschlossen.

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III.

Kapitel: Zweiter Bestimmungsversuch des Forschungsgebietes der Erkenntnistheorie. Die deskriptive Phänomenologie der Bewußtseinserlebnisse und deren Korrelate

§ 21. Schwierigkeiten bei der Neubestimmung des Forschungsgebietes der Erkenntnistheorie Wer sich die Unumgänglichkeit der von mir im vorigen Paragraphen aufgestellten Postulate, besonders aber der Postulate 1, 3 und 4 klar gemacht hat, muß zunächst zur Ansicht neigen, die Erkenntnistheorie sei überhaupt unmöglich. Denn so wie die in den einzelnen Postulaten beschlossenen Vorbehalte unentbehrlich scheinen, so scheint es zugleich, daß diese Postulate, im besonderen aber die Postulate 1 und 4, einander widersprechen. Aber auch die Erfüllung des Postulates 5 scheint unmöglich, falls das Postulat 1 erfüllt wird. Denn woher sollen wir Stoff zur Aufklärung des Begriffs der Erkenntniskategorien schöpfen, wenn uns jeder dafür - wie es scheint - unerläßliche Stoff entzogen wurde? In den Vordergrund tritt jedoch der scheinbar evidente Widerspruch zwischen den Postulaten 1 und 4. Wie kann man denn noch wird uns der Leser fragen - von "Erkenntnisprozessen" sprechen, wenn man darunter nicht [gewisse] psychische Prozesse verstehen darf? Können sich Erkenntnisprozesse in anderen Prozessen abspielen als in den psychischen? Ist es nicht notwendig, überall, wo von "Erkennen" die Rede sein soll, zugleich darauf Rücksicht zu nehmen, daß jemand, mithin - wie es evident scheint - ein psychisches Subjekt, erkennt und eine Erkenntnis gewinnt? Und außerdem, wie dürfen wir [berechtigterweise] die psychischen Prozesse nicht als Erscheinungen (oder sogar Wirkungen) des Lebens des psychophysischen Individuums betrachten, wenn sie es de facto sind? Besagt denn der Wortlaut des Objektivitätsproblems selbst nicht, daß es uns auf die Beurteilung des Wertes der Erkenntnis ankommt, die von uns Menschen, mithin einer Art von psychophysischen Individuen, gewonnen wird? Wie sollen wir endlich ins Forschungsgebiet der Erkenntnistheorie auch Erkenntnisgegenstände mit einbeziehen, wenn die Berücksichtigung z.B. der realen Welt als Komplexes

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111. Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

von manchen Erkenntnisgegenständen in der Erkenntnistheorie den Fehler einerpetitioprincipa nach sich zieht? Zeugt also die Unentbehrlichkeit dieser auf den ersten Blick so widersprüchlichen Postulate nicht am be.sten davon, daß das "Objektivitätsproblem" in sich offensichtlich einen Widersinn birgt und daher keine Lösung hat und haben kann, die Bemühungen aber, eine solche zu gewinnen, auf dem Verkennen des sich darin verbergenden Widersinns beruhen? Bedeutet das nicht, daß sobald wir diesen Widersinn aufgedeckt haben, die ganze Erkenntnistheorie eine überflüssige Schimäre wird? Wir werden im Laufe unserer Betrachtungen noch öfter auf derartige Bedenken und skeptische Schlüsse bezüglich der Möglichkeit der Erkenntnistheorie stoßen. Ich glaube jedoch, daß sich diese Bedenken hier wie auch sonst überwinden lassen und daß der Skeptizismus verfrüht ist. Die Schwierigkeiten, vor die wir uns hier gestellt sehen, ergeben sich nämlich aus gewissen Identifizierungen, die uns evident scheinen, obwohl sie nicht evident, ja geradezu falsch sind. Es handelt sich vor allem um die Identifizierung des Erkenntnisprozesses mit einem psychischen Prozeß, der eine Erscheinung (Wirkung) des Lebens des psychophysischen Individuums sei, und zweitens [um die Identifizierung] des Erkenntnissubjekts mit dem psychischen Subjekt (der menschlichen Person). Man setzt, wenn man diese Bedenken als etwas "Selbstverständliches" anmeldet, außerdem voraus, man könne über die Erkenntnisgegenstände von der Art materieller Gegenstände nur in der Weise sprechen, daß man unter Berufung auf die Objektivität der Sinneswahrnehmung ihre reale Existenz annehme und damit auch im voraus alles das entscheide, was erst erforscht werden soll (und analog über Gegenstände anderer Seinstypen). Wenn wir die Unrichtigkeit dieser Identifizierungen sowie der soeben angeführten Voraussetzung darlegen und zeigen, daß für eine Erkenntnisbeziehung zwischen dem Erkenntnisgegenstand und dem subjektiven Erkenntnisprozeß das Bestehen eines Kausalzusammenhangs nicht nötig ist, werden wir uns den Weg zu einer neuen Bestimmung des Forschungsgebietes der Erkenntnistheorie erschließen, [einer Bestimmung], die übrigens auch noch nicht endgültig sein wird.

§ 22. Erkenntnisakt und psychischer Prozeß

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§ 22. Der Erkenntnisakt und der psychische Prozeß als Erscheinung des Lebens des psychophysischen Individuums Nach dem Postulat 1 darf man nicht als Forschungsgebiet der Erkenntnistheorie die Klasse der psychischen Erkenntnisprozesse bestimmen, die Lebensäußerungen des psychophysischen Individuums (des Menschen) sind. Man darf das aber aus dem Grunde nicht, weil das implicite eine unkritische Vorentscheidung des positiven Wertes der Erkenntnisergebnisse nach sich zieht, die in den auf die wirkliche Welt bezüglichen Erkenntnisprozessen gewonnen werden.1 Wenn wir das aber nicht entscheiden dürfen, dürfen wir auch nicht das gleiche in umgekehrter Richtung tun, d. h. im voraus annehmen, daß die auf die wirkliche Welt bezüglichen Erkenntnisergebnisse falsch seien bzw. daß die wirkliche Welt nicht existiere. Die einzig richtige Verhaltensweise bei der Bestimmung des Forschungsgebietes der Erkenntnistheorie wie auch im Laufe ihrer Untersuchungen wird also sein: sich sowohl hinsichtlich der Existenz und der Beschaffenheit der wirklichen Welt (insbesondere der materiellen Dinge und der zu dieser Welt gehörenden Prozesse) als auch korrelativ hinsichtlich des Wertes der entsprechenden Erkenntnisse, d. h. in der Frage, ob sie uns nicht täuschen oder irreführen, des Urteils zu enthalten. Diese Urteilsenthaltung in den genannten Fragen betrifft selbstverständlich nur unsere Verhaltensweise im Rahmen erkenntnistheoretischer Erwägungen. Sie braucht gar keine Veränderung oder ein Aufgeben unserer Über-

tin der IV. Redaktion entspricht dem Fragment von "Nach dem Postulat 1" bis "gewonnen werden" der Text: "Nach dem Postulat 1 darf man als Forschungsgegenstand der Erkenntnistheorie nicht die psychischen Erkenntnisprozesse als Lebenserscheinungen psychophysischen

des realen

Individuums bestimmen. Denn die Annahme von derartigen Prozessen

entscheidet im voraus a) über den positiven Wert der Erkenntnisergebnisse, die sich auf die reale Welt (das psychophysische Individuum inklusive) beziehen, und b) Uber die Wahrheitseffizienz von entsprechenden Erkenntnisoperationen." Dazu in der Fußnote: "Mit dem Terminus 'Wahrheitseffizienz' (prawdziwoáciowa sprawnoác) einer Erkenntnisoperation bezeichne ich dasjenige Merkmal der Erkenntnisoperation, wodurch wir in dieser ein wahres Erkenntnisergebnis gewinnen. Man kann jedoch diesen Terminus auch in einer weiteren Bedeutung verstehen, in der er alle Merkmale der Erkenntnisoperation umfaßt, die diesen oder jenen Wahrheitswert des Erkenntnisergebnisses bedingen, d.h. nicht nur, daß es wahr ist, sondern auch, in welchem Maß es wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist, oder schließlich, [daß es] nicht wahr ist" (Ms. S. 149).]

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///. Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

Zeugungen nach sich zu ziehen, die wir im Alltagsleben zu Zwecken dieses Lebens unterhalten, und sie soll das auch nicht tun. Es gibt dafür keinen vernünftigen Grund. Für unsere erkenntnistheoretischen Betrachtungen aber bedeutet das nur, daß wir in den genannten Fragen keine anderen Urteile fallen sollen als geltende und verbindliche Sätze, die zu den Ausführungen (zum "Text") der Erkenntnistheorie gehören. "Sich des Urteils enthalten" mithin eine neutrale und unparteiische Haltung in den genannten Fragen einnehmen - heißt natürlich nicht den Inhalt der Sätze, die wir in den "Text" der erkenntnistheoretischen Betrachtungen nicht mehr einfügen, vergessen oder nicht mehr verstehen. Es heißt auch nicht, es solle so sein, als würden wir nicht mehr verstehen, wie die Gegenstände beschaffen seien, von denen die mit der Klausel der Ungültigkeit versehenen Sätze [etwas] aussagen, und insbesondere, wie die vermeintlich in der äußeren, materiellen Welt vorfindbaren Dinge und Prozesse beschaffen seien, gemäß den Überzeugungen und dem Inhalt der Sinneswahrnehmungen, in denen sie intendiert werden. Schließlich heißt es auch nicht: nicht mehr wissen und nicht mehr verstehen, was wir eigentlich meinen, wenn wir davon überzeugt sind, daß gewisse Sätze Behauptungssätze sind (und was es bedeutet, daß sie kategorische Urteile seien) und daß sie wahr oder falsch sind (bzw. sein sollen), und endlich, was wir meinen, wenn wir in der Wahrnehmung die Überzeugung hegen, daß sie uns richtig über das informiert, was nach ihr z. B. das Papier ist, auf dem ich diese Worte schreibe, und was es eigentlich bedeutet, daß etwas "Papier" ist. Im Gegenteil, wenn ich mich des Urteils enthalte, muß ich mir genau und voll dessen bewußt werden, was dieses Urteil aussagt und wie und worüber es dies aussagt, damit ich deutlich weiß, worüber, von welchen Sachverhalten man nicht weiß, ob sie bestehen oder nicht, auf welche Sachverhalte wir uns also nicht berufen dürfen bei der Begründung anderer Urteile, die wir fällen wollen. Es ist sehr wichtig, darüber ins klare zu kommen, was uns gleichsam übrig bleibt, wenn wir uns in gewissen Fragen des Urteils enthalten; das kann für uns gerade als Erkenntnistheoretiker von großer Bedeutung sein. Nachdem wir uns auf diese Weise in den genannten Fragen des Urteils enthalten haben, stellt sich jedoch die Frage, was wir im Rahmen der Erkenntnistheorie ohne Widerspruch tun können bzw. dürfen; insbesondere: ob wir Urteile über die Erkenntnistätigkeiten, über die Erkenntnisbeziehung, schließlich über die Erkenntnis selbst und über deren Wahrheitswert fällen

§ 22. Erkenntnisakt und psychischer

Prozeß

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können. Das wird nur möglich sein, wenn es sich herausstellt, daß es nicht notwendig ist, die Erkenntnisprozesse als Erscheinungen oder Wirkungen des Lebens des realen psychophysischen Individuums (des Menschen) zu begreifen. Es wird sich jedoch zeigen, daß diese Notwendigkeit tatsächlich nicht besteht. Sie besteht aber nicht deswegen nicht, weil es etwa in Wirklichkeit anders wäre - weil wir also behaupteten, die psychischen Erkenntnisprozesse, die sich in uns tatsächlich abspielen, seien keine Erscheinungen bzw. Wirkungen ζ. B. der in unserem Organismus verlaufenden physiologischen Prozesse. Vielmehr besteht die genannte Notwendigkeit deswegen nicht, weil es für das Bestehen einer Erkenntnisbeziehung zwischen dem Erkenntnisgegenstand und dem Erkennen gar nicht nötig ist, daß das Erkennen gerade eine der so beschaffenen Erscheinungen der im gegebenen Menschen ablaufenden psychophysischen Prozesse ist. Würden unsere Überzeugungen, daß die Erkenntniserlebnisse derartige Erscheinungen seien, aus den äußeren Wahrnehmungen erwachsen, die sich auf unseren eigenen Körper und andere uns umgebende Körper (Dinge) beziehen, dann würde es uns unsere Urteilsenthaltung in diesen Fragen verbieten, unsere Erkenntniserlebnisse als solche Erscheinungen anzuerkennen, ebenso wie sie als solche zu verneinen. Es handelt sich aber darum, ob wir, wenn wir das letztere weder behaupten noch bestreiten, Erkenntniserlebnisse (bzw. erlebnishafte Tätigkeiten dieser Art) in ihrem Aufbau, ihren Eigenschaften, ihrem Verlauf sowie in ihrer Funktion als Erkenntnistätigkeiten wie auch ihrer Effizienz beim Ausüben dieser Funktion untersuchen können. Und ob wir das tun können, wenn wir beachten, daß einer der beiden folgenden Fälle vorliegt: Entweder sind diese Tätigkeiten Erscheinungen der von ihnen verschiedenen - psychophysischen und physiologischen - realen Prozesse, oder sie sind es nicht. Es scheint, daß wenigstens für die Lösung der ersten Aufgabe, vor der wir stehen, nämlich für die Klarlegung, in welchen unserer Erkenntnistätigkeiten das Erkennen stattfindet usw., die Urteilsenthaltung hinsichtlich des eventuellen Erscheinungscharakters dieser Tätigkeiten kein Hindernis ist. Denn woher auch diese Tätigkeiten stammen und womit sie auch in einem Seinszusammenhang stehen mögen, sie sind doch an sich selbst irgendwie beschaffen; und wie sie beschaffen sind, kann man an ihnen selbst erkennen. Wir begegnen zwar der unter den Naturforschern, die überall nach Kausalzusammenhängen suchen, verbreiteten Ansicht, man könne erst dadurch, daß man

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III. Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

die Ursachen seines Zustande auffindet, erkennen, wie dieser Gegenstand beschaffen ist. Allein, um überhaupt nach der Ursache eines Sachverhalts fragen zu können, muß man zuerst diesen Sachverhalt selbst feststellen; zweitens muß man auch jenen Zustand oder jenes Ereignis kennen, das - nach [der Intention] der Untersuchung - seine Ursache sein soll. Die Aufgabe, den Komplex der Eigenschaften eines Dinges in einer bestimmten Situation aufzudekken und zu beschreiben, geht also der Suche nach der Ursache dieses Dinges voran. Und auch diese Suche selbst wird erst dann nötig, wenn an dem der direkten Erforschung zugänglichen Sachverhalt etwas unverständlich ist, was eine Erklärung erfordert, wenn also dieser Sachverhalt selbst die Frage nach seiner Ursache aufwirft. Dadurch, daß man diese Untersuchungen, die auf eine Beschreibung abzielen, nicht sorgfältig genug, oberflächlich und eilig erledigt, und vor allem dadurch, daß man sie unter der Suggestion durchführt, daß wir es mit der Wirkung irgendwelcher komplexen mannigfaltigen Ursachen zu tun hätten, kommt es dazu, daß wir, statt diesen als Wirkung gedeuteten Sachverhalt unvoreingenommen zu erforschen, ihn gleichsam im voraus als eine Resultante jener gewöhnlich nicht mehr gegenwärtigen kausalen Faktoren betrachten. Wir werden einerseits überempfindlich für das, was auf diesen Wirkungscharakter hindeuten kann, und andererseits übersehen wir das, was im gegebenen Sachverhalt einzigartig und neu ist. Wenn man bei der Untersuchung der Erkenntnistätigkeiten im voraus annimmt, daß nur diejenigen Momente am Erkennen, die als (sich vermittels eines physiologischen Prozesses in dem Erkenntniserlebnis selbst äußernde) Wirkungen eines physischen Reizes begriffen werden können, eine Chance haben, uns über den Erkenntnisgegenstand (d.h. in der Sprache dieser Problematik über den physischen "Reiz") Auskunft zu erteilen, und wenn man als solche [Wirkungen] jene "Sinnesempfindungen" ansieht: dann sucht man im Erkenntniserlebnis vor allem nach jenen "Empfindungen", und zwar in einer Gestalt, die es gestatten würde, sie von vornherein als solche aufzufassen, die dem vermeintlichen "physischen Reiz" deutlich zugeordnet sind. Seine anderen Momente dagegen entgehen entweder ganz der Aufmerksamkeit oder werden in ihrer Rolle nicht gebührend gewürdigt, wo nicht ganz mißverstanden. Wir sollen den Suggestionen dieser Art nicht erliegen, wenn wir in die Untersuchungen über unsere Erkenntnistätigkeiten eintreten. Und wir sollen vor

§ 22. Erkenntnisakt und psychischer

Prozeß

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allen Dingen versuchen, uns auf unvoreingenommene Weise klar zu werden, wie diese Tätigkeiten beschaffen sind, was sie sind, wie sie verlaufen, wie sie aufeinanderfolgen, wie sie sich eventuell in dieser Aufeinanderfolge verändern und vor allem ob und wodurch sie uns auf Gegenstände verweisen, ob und wodurch sie uns über diese Gegenstände irgendwelche Auskünfte erteilen, worin ihre Rolle und ihre gerade "erkenntnismäßige" Funktion besteht. Für das Erkennen als eines der Glieder der Erkenntnisbeziehung ist nur notwendig und zugleich wesentlich, daß es ein Bewußtseinserlebnis ist, das uns einen sozusagen "wissenden" Zugang zu etwas von ihm selbst Verschiedenem erschließt; daß es uns auf etwas "verweist"; daß es - mit anderen Worten einen Inhalt, eine Intention enthält, die sich auf dieses Etwas, diesen - ganz allgemein gesagt - "Gegenstand", eine Entität bezieht. Mit anderen Worten: Damit wir etwas vor uns haben, was den Namen "Erkennen" verdienen könnte, müssen wir bei uns selbst einen Bewußtseinsakt vorfinden, der uns (richtig oder falsch - darüber kann man zunächst noch gar nicht sprechen) über etwas informiert, was von diesem Akt irgendwie verschieden ist, mit Eigenschaften (Qualitäten) ausgestattet ist und in einem Aspekt seiner Existenz auftritt. Damit aber dieser Akt existieren kann, ist es auch erforderlich, daß er von einem Ich vollzogen wird - jenem Ich, das im Vollzug dieses Aktes gerade eine Kenntnis über etwas von ihm selbst und seinem Akt der Kenntnisgewinnung Verschiedenes gewinnt. Das alles ist im Aufbau des Erkenntnisaktes selbst, ζ. B. eines Aktes des Wahrnehmens, Sehens, Hörens, aber auch des Denkens, begründet. Um das festzustellen, braucht man auf nichts anderes Bezug zu nehmen. Es ist auch nicht nötig, irgendwoher irgendwelche Nebeninformationen, seien sie über das "Objekt", seien sie über das "Subjekt", zu erwerben - von dem ersteren ζ. B., daß es ein "physischer Reiz", ein Wellenvorgang usw. sei, von dem letzteren, daß es ein Mensch mit diesen oder anderen physischen und psychischen Eigenschaften sei. Das kann man einem bewußten Wahrnehmungsakt nicht ablesen, aber man braucht dies auch gar nicht zu tun. Der Akt selbst, sein "Inhalt", seine "Meinung" (sein "Sinn") sagt uns, worauf er sich "richtet" und wie er dieses gleichsam vorfindet, indem er zugleich "mir" darüber Auskunft gibt, mir, der ich diesen Akt vollziehe und ihn bewußt unterhalte. Und derselbe Akt des Sehens oder Hörens bestimmt mit seiner Struktur - als gerade "aus mir" herausquellend, von mir "vollzogen" - gerade "mich", aber nur als sein Vollzugssubjekt und zugleich als

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III. Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

denjenigen, der die ihm (durch seine Meinung) erteilte Information über dasjenige "empfangt", worauf der Akt sich richtet. Dieses Vollzugssubjekt des Aktes und zugleich derjenige, der im Vollzug des Aktes eine Information erhält, die er vorher nicht hatte - dieser und nur dieser jemand ist jenes Ich, von dem wir auch sagen, es sei das Subjekt einer Erkenntnistätigkeit, eines Wahrnehmungsaktes, eines Aktes des Sehens, des Hörens oder Fühlens, des Vermutens u. dgl. Wir brauchen nicht mehr, um uns klar zu machen, wie sich eine Erkenntnisbeziehung zwischen "mir", "meinem" Erkenntnisakt und etwas konstituiert, worauf der Akt sich bezieht und worüber er zugleich "mich" informiert (einem Erkenntnisgegenstand, mit anderen Worten). Wir brauchen uns weder darauf zu berufen, daß dieses Sehen oder Hören diese oder jene Wirkung von irgendeinem anderen Ding ausmache, das zugleich vom Sehen oder Hören prinzipiell verschieden sei, noch brauchen wir die Physik nach der "wahren Natur" des Lichtes zu fragen, noch uns auf die Psychophysiologie zu stützen, die behauptet, daß irgendwelche "Empfindungen" durch den aktiven Nervenvorgang hervorgebracht würden, der durch einen physiologischen Prozeß in den sog. "Rezeptoren" in Gang gesetzt werde. Das kann uns nur irreführen bei unserem Versuch, darüber ins klare zu kommen, was unser Sehen oder Hören oder schließlich unser Denken an etwas ist. Die Anhänger der psychophysiologischen Erkenntnistheorie werden uns wohl sagen, daß dieser Standpunkt - sofern sie ihn richtig verstünden - sich von ihrer Ansicht gar nicht unterscheide. Ist die Annahme von bewußten Erlebnissen, und zwar Erlebnissen eines Subjekts (gewöhnlich sagt man: des "reinen") nicht dasselbe wie die Annahme von psychischen Prozessen eines psychischen (und eo ipso natürlich psychophysischen) Individuums? Und setzt sie damit nicht die Annahme der Existenz der realen Welt voraus? Diese Frage muß verneint werden. Vom psychischen Individuum, das ich selbst bin, und von den sich darin abspielenden Prozessen, von den Eigenschaften und Veränderungen seines Charakters, von seinem Aufbau als menschliche Person war hier gar nicht die Rede. Im Gegenteil, es wurde unterstrichen, daß es sich nicht um dieses Subjekt handelt. Vom realen psychischen Subjekt, das jeder von uns für sich selbst ist, erfahren wir entweder von anderen Menschen, die uns darüber informieren, oder es erfahrt auch jeder von uns davon selbst, indem er gewisse besondere Erkenntnisakte, sog. "inne-

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re Wahrnehmungen" vollzieht. Sowohl die menschliche Person als auch ihr Charakter als schließlich die Veränderungen dieses Charakters im Laufe des Lebens des Menschen sind etwas, was - wie mich meine eigene innere Erfahrung lehrt - in sich keinen Bestandteil jenes Aktes selbst ausmacht, in dem ich "mich selbst" erkenne (im vorliegenden Fall also eines Aktes der inneren Wahrnehmung). Da ich jedoch von meiner Person und ihren Eigenschaften nichts behaupten will, als ob ich davon ausginge, die innere Wahrnehmung informiere mich wahr über sie selbst (was ich hier nicht tun möchte), sage ich genauer: Die innere Wahrnehmung ist es, die mir meine Person als etwas "darstellt", was mit seinen (nur vermeinten) Eigenschaften und überhaupt mit all dem, was sie nach dieser Wahrnehmung sein soll, über diese Wahrnehmung selbst und über eine eventuelle Mannigfaltigkeit von solchen Wahrnehmungen hinwegschreitet. Vielleicht existiert diese Person überhaupt nicht, vielleicht ist sie anders als sie mir - wie man gewöhnlich sagt - zu sein "scheint"; auf jeden Fall aber stellt sie mir meine Wahrnehmung nicht als irgendeinen ihrer Bestandteile, sondern als etwas von ihr Verschiedenes, im Verhältnis zu ihr anderes dar. Ähnlich geschieht es, wenn die äußere (sinnliche) Wahrnehmung mir ein "gesehenes Ding", z. B. die Schreibmaschine, mit der ich diese Worte schreibe, zeigt, indem sie mir dieses Ding als etwas darstellt, was sich außerhalb ihres vollen Inhalts befindet und was - vielleicht - gar nicht existiert, jedenfalls aber dargestellt, als über mein Sehen hinausgehend gezeigt wird. In beiden Fällen ist das Dargestellte oder sich mir Darstellende - wie wir uns ausdrücken - "transzendent" gegenüber den Erkenntnisakten, in denen es zur Gegebenheit kommt. Das heißt, das Sehen oder das innere Wahrnehmen selbst stellt mir das dar, worüber es mich im vorliegenden Fall informiert, daß es weder einen Bestandteil des Sehens (oder des inneren Wahrnehmens) noch irgendeines dessen unselbständiger Momente ausmache; ebensowenig ist aber auch das Sehen ein Bestandteil oder Moment dessen, worauf es sich bezieht. Das gesehene Ding und mein Sehen sind zwei Ganze, die außerhalb von einander bleiben und in diesem neuen Sinne im Verhältnis zueinander transzendent sind. 2

Es gibt viele Begriffe der Transzendenz, die oft miteinander verwechselt werden. Vgl. Der Streit um die Existenz der Welt [Ingarden (1964/65)], Bd. II/l, § 48.

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Ob das gleiche für die innere Wahrnehmung und meine Person gilt, ist eine Frage, die wir noch zu erwägen haben. Es ist nämlich nicht ausgeschlossen, daß meine Person zwar gegenüber dem Akt der inneren Wahrnehmung etwas Äußeres ist, jedoch dieser Akt nicht außerhalb meiner Person bleibt, sondern ihr irgendwie zugehört oder auch entstammt. Damit hängt ein für die jetzt entwickelte Auffassung der Erkenntnistheorie wichtiges Problem zusammen. Wir müssen also darauf noch zurückkommen. Zuerst sei aber noch eine andere Tatsache festgestellt bzw. eine Möglichkeit ausgeschlossen. Meine Person - genau so genommen, wie sie sich mir in der inneren Erfahrung, ζ. B. als mit einem bestimmten Charakter behaftet, darstellt - , gleichviel ob sie tatsächlich existiert oder nicht, ist jedenfalls kein Bewußtseinserlebnis von mir, ζ. B. keine meiner inneren Wahrnehmungen und nicht einmal deren Mannigfaltigkeit. 3 Sie ist vielmehr etwas, was nur in manchen meiner Erlebnisse zur Erscheinung kommt, oder auch etwas, worauf sich Akte der inneren Wahrnehmung beziehen. Sie zeigt sich mir als ein und dieselbe in vielen zeitlich voneinander getrennten Wahrnehmungen, kann somit mit irgendeiner von ihnen nicht identisch sein. Man kann allerdings sagen, daß diese Wahrnehmungen falsch seien, daß also die Person, genau so genommen, wie sie sich uns in der inneren Erfahrung darstellt, gar nicht existiere. Man kann sie aber weder mit einer einzelnen inneren Wahrnehmung noch mit einer Vielheit von solchen Wahrnehmungen gleichsetzen. Die Person wäre überhaupt keine Person mehr, sollte sie mit irgendeinem der Bewußtseinserlebnisse identisch sein. Das schließt ihre intendierte Struktur aus. Ebenso ist auch der Charakter "meiner" Person beziehungsweise seine einzelnen Züge wie Boshaftigkeit, Ängstlichkeit, Leidenschaftlichkeit, Hartnäckigkeit usw. - wenn so etwas wie "mein" sich mir darstellender Charakter und seine Züge überhaupt existieren soll - nicht der Charakter der dauernd wechselnden Erlebnisse. Auch die als Beispiele genannten Merkmale kommen weder Erlebnissen der inneren Wahrnehmung noch überhaupt irgendwelchen meiner Bewußtseinserlebnisse zu, noch können sie diesen zukom-

Von manchen Autoren, besonders unter den Psychologen, die die sog. "Psychologie ohne Seele" betrieben, wurde bekanntlich die Ansicht vertreten, daß die Person (oder die sog. menschliche Seele) nichts anderes sei als die Einheit des Bewußtseinsstroms. Diese Ansicht scheint mit den jedem von uns durch die innere Erfahrung gegebenen Informationen nicht übereinstimmend.

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men. Denn es sind dies allesamt Determinationen, die, auf Erlebnisse angewendet, einen völligen Widersinn ergeben. Weder der "Charakter" des Menschen selbst noch irgendein Charakterzug - ob nun so etwas existiert oder nicht - ist gleichzeitig irgendeines der Erkenntniserlebnisse oder deren Elemente. Zum Wesen des Charakters, so wie er uns erscheint 4 , gehört natürlich nicht, daß er ganz unveränderlich wäre. Es gehört aber dazu, daß er während einer verhältnismäßig längeren Zeitperiode konstant bleibt - so lange jedenfalls, daß es sich nicht um ein Erlebnis handeln könnte, das sich so lange entfalten würde. Niemand wird sagen, daß wer einmal ein Gefühl der starken Angst erlebt hat und diesem erlegen ist, "ängstlich" sei oder auch daß, wer einmal ohne deutliche, rationale Veranlassung auf einer Sache "hartnäckig beharrt hat", "hartnäckig" sei, zumal wenn er sich in anderen Fällen gerne durch fremde Argumente überzeugen läßt usw. Einen gewissen Grund, jemanden als hartnäckig anzusehen, bietet die Tatsache, daß er in den meisten Fällen auf seiner Ansicht oder seinen Entschlüssen beharrt, ohne fremden Ratschlägen oder Argumenten Folge zu leisten, nur weil er einen Entschluß nun einmal gefaßt hat. Es kann sich jedoch zeigen, daß jemand, der de facto hartnäckig ist, nie solche Erlebnisse des blinden Beharrens auf seiner Ansicht hatte, sondern immer von der rationalen Motivation seiner Entschlüsse überzeugt war. Er kann manchmal dermaßen durch und durch verlogen sein, daß er bei seiner Überzeugung, er sei nicht hartnäckig, sogar dann bliebe, wenn er auch seine innere Erfahrung getreu hören würde. Das alles wäre nicht möglich, wenn der Charakterzug der Hartnäckigkeit mit irgendeinem der Erlebnisse oder einem deren Momente identisch wäre.

Der Gehalt dessen, was uns "erscheint", bildet gerade das, was wir uns zum Bewußtsein bringen bzw. analytisch deutlich in den Griff bekommen können, wenn wir uns auch des Urteils enthalten, ob so etwas in Wahrheit existiert und tatsächlich so ist, wie es uns erscheint. Dieser deutlich erfaßte Gehalt läßt uns z.B. verstehen, wodurch sich das Erscheinende - falls es so existiert, wie es sein Gehalt gleichsam erfordert - , unterscheide, sei es von den Erlebnissen selbst, in denen es erscheint, sei es von irgendwelchen anderen "Gegenständen", in bezug auf deren Existenz wir uns auch des Urteils enthalten. Es bestehen hier besondere Gesetzmäßigkeiten innerhalb dessen, was nur vermeint oder, mit anderen Worten, bloß ein "Phänomen" ist und was erst dann als wirklich existierend anzusehen wäre, wenn uns die Erfahrung selbst, in der gerade solche Phänomene erscheinen, seine Existenz und eine derartige Beschaffenheit verbürgen würde, wie darauf die Erscheinungen hinweisen, durch die eine (vermeinte) Wirklichkeit sich uns kundgibt.

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Erkenntnistheorie

Würde aber jemand sagen: Alle diese inneren Erfahrungen informieren uns dermaßen irrig über die angebliche Existenz "unserer" ("meiner") Person und über deren verhältnismäßig dauerhaften Charakter, daß es nur tief verwurzelte Einbildungen sind, in Wahrheit aber nichts dergleichen existiert dann würden wir antworten: Desto besser für unsere Argumentation! Denn wenn es tatsächlich so wäre, dann würden wir mit der Annahme, daß unsere inneren Wahrnehmungen uns stets täuschen, zugleich annehmen, daß nur sie existieren und daß für ihre Existenz offensichtlich keine Person oder deren Charakter erforderlich ist. Wir sind somit nicht gezwungen, die Existenz von so etwas anzuerkennen oder davon auszugehen, daß unsere innere Erfahrung uns wahr informiert über eine psychische Wirklichkeit, die - nach unserem Opponenten - de facto nicht existiert. Wir wissen aber, als was jenes Etwas, das nicht existiert, gemäß unserer inneren Erfahrung gelten soll. Ähnlich verhält es sich, wenn es um reale, sich in unserem psychischen Leben (in unserer Seele) abspielende Prozesse geht, wie eine sich regende und verschiedene Phasen und Umwandlungen durchgehende Liebe oder ein sich immer tiefer in die Seele einfressender und immer boshafterer Haß gegen jemanden. Auch in diesem Fall muß man sagen, daß dergleichen Prozesse - als was immer sie sich auch in den Untersuchungen letzten Endes herausstellen mögen und einerlei, ob sie realiter existieren oder nicht - jedenfalls weder ein Erlebnis der inneren Wahrnehmung, die sie entdecken würde, noch überhaupt ein Bewußtseinserlebnis sind. Es kann sein, daß die Liebe, wie auch ihre einzelnen Phasen, in diesen oder anderen Bewußtseinserlebnissen in Erscheinung treten; ihre Schicksale und einzelnen Eigenschaften selbst sind jedoch keine Bewußtseinserlebnisse. Ein und dieselbe Liebe, die sich eine gewisse Zeitlang entwickelt, andauert, sich steigert oder verlöscht und wieder mit überwältigender Kraft die ganze Seele des Menschen ergreift (obwohl er sich dessen lange gar nicht "bewußt ist"), - die Seele in der die manchmal erst nach einem längeren Zeitraum eingetretenen Veränderungen zum Bewußtsein kommen, die nicht nur selbst keine Veränderungen der Erlebnisse sind, sondern auch mit diesen gar nicht verbunden zu sein brauchen - diese Liebe ist den Bewußtseinserlebnissen selbst gegenüberzustellen als etwas anderes, was sich bisweilen hinter den Erlebnissen "verbirgt" und bisweilen in ihnen offenbar wird. Nicht anders verhält es sich mit gewissen, durch das Erwachen der Liebe hervorgerufenen Veränderungen in der psychischen Struktur des Men-

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sehen, wie z.B. die plötzliche Aufweckung aller seiner "Geisteskräfte", die Steigerung seiner Aktivität und seiner Lebensfähigkeit (im Falle einer "glücklichen" Liebe) oder umgekehrt - deren Abstumpfung, Gleichgültigkeit, zu der schmerzhafte Liebesschicksale führen. Auch von diesen erfährt der betreffende Mensch nur in diesen oder jenen Erlebnissen. Es kann auch eine deutliche Divergenz zwischen dem Gehalt der Bewußtseinserlebnisse und dem bestehen, was im psychischen Leben des gegebenen Individuums realiter vor sich geht. So ist es bei den Fällen von "Verdrängung aus dem Bewußtsein" gewisser psychischer Tatsachen, in den Fällen unbewußter und unwillkürlicher Verlogenheit usw. Auch hier lassen sich also die realen Prozesse in der Seele des Menschen mit den Bewußtseinserlebnissen und speziell den inneren Wahrnehmungen (der Reflexion) nicht gleichsetzen. Das gleiche gilt für jene psychischen Prozesse, die - wie wir in unserem täglichen Leben überzeugt sind - deutlich mit physiologischen Prozessen zusammenhängen und das Gepräge der Alltäglichkeit tragen. Als Beispiel kann hier die ganze Sphäre von spezifisch sexuellen psychischen Prozessen in der Pubertätsperiode dienen, in der Periode, in der noch nicht von Liebe die Rede ist und nur gewisse Umwandlungen, die im Organismus eintreten, weitgehende Veränderungen des Charakters des Menschen verursachen. Damit hängt eine Reihe von mannigfachen psychischen Prozessen zusammen, die dem gegebenen Menschen im allgemeinen unbewußt sind und nur von Zeit zu Zeit ins Gebiet der Bewußtseinserlebnisse durchstoßen. Diese Prozesse verlaufen aber überwiegend ohne Anteil des Bewußtseins und sind sogar in vielen Fällen, wo sie schon nach ihrem Vollzug zum Bewußtsein des gegebenen Menschen kommen, für ihn unverständlich, fremd, gleichsam nicht von ihm selbst. Von diesen Prozessen gilt, daß sie - wenn sie überhaupt existieren keine Bewußtseinserlebnisse sind. Das psychische Individuum erlangt Kenntnis von ihnen entweder mit Hilfe innerer Wahrnehmungen (die meistens unabsichtlich zustande kommen) oder dadurch, daß es gewisse Momente verschiedener anderer Erlebnisse bemerkt, Momente, die gleichsam Spuren jener Prozesse sind. Man soll nicht meinen, es verhalte sich so ausschließlich mit psychischen Prozessen emotionaler Natur. Nicht anders ist es im Gebiet der "intellektuellen" oder, allgemeiner gesagt, erkenntnismäßigen Fähigkeiten des Menschen. Diese Fähigkeiten und die Veränderungen, denen sie unterliegen (ihre so oder

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anders verlaufende Entwicklung in der Jugend, ihr Aufblühen in reifen Jahren und ihr allmähliches Verschwinden im Alter), lassen sich nicht gleichsetzen mit den Bewußtseinserlebnissen, in denen sie gleichsam zu Wort kommen, die sie aber selbst nicht sind. Diese Erlebnisse sind höchstens Entladungen jener Fähigkeiten; ihr Verlauf und die in ihnen auftretenden besonderen Inhaltskomplexe lassen uns - manchmal nur mit Hilfe einer Folgerung - von diesen oder jenen Veränderungen in unseren Erkenntnisfähigkeiten Kenntnis erhalten. Diese Veränderungen, einmal vollzogen, können zum Gegenstand unseres Interesses werden; dann werden sie in der inneren Wahrnehmung als etwas vorgefunden, was in der Vergangenheit schon geschehen ist und nur eine Folge hinterlassen hat, eine Folge die actualiter bleibt und als solche in der inneren Erfahrung entdeckt wird. Sie haben - sofern sie überhaupt existieren - ihr eigenes Sein und ihre eigenen Schicksale, und nur eine bestimmte Form der Bewußtseinserlebnisse macht ihre bewußtseinsmäßige Spur aus. Man könnte hier die Beispiele vermehren und andere Gebiete des psychischen Lebens und der psychischen Strukturen des Menschen besprechen. Das würde jedoch nichts prinzipiell Neues mehr beifügen und an unserer Überzeugung nichts ändern, daß man das psychische Individuum selbst, seinen relativ dauerhaften Charakter sowie die sich darin abspielenden realen Prozesse den Bewußtseinserlebnissen als solchen gegenüberstellen soll.5 Hat jedoch die Annahme der Existenz der Bewußtseinserlebnisse nicht die Annahme der Existenz der Person und ihrer psychischen Prozesse zur

Ich vergesse nicht, daß innerhalb des psychischen Individuums verschiedene Unterscheidungen zwischen diversen Sphären der menschlichen Psyche durchzuführen sind, z.B. die Unterscheidung zwischen "Seele" und "Geist", wie das eine Reihe von Autoren der humanistischen Psychologie tun, die entweder von Dilthey oder von Max Scheler und anderen ausgehen. Vgl. H. Conrad-Martius, Metaphysische Gespräche [Halle 1921], Edith Stein, "Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften", Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische

Forschung, [5 (1922), S. 1-283],

M. Geiger, "Fragment über das Unbewußte", Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung [4 (1921), S. 1-137] usw. Auch die Autoren aber, die einen ganz anderen Standpunkt vertreten, kommen manchmal zu Ergebnissen, die uns veranlassen, das Gebiet der Bewußtseinserlebnisse selbst von der psychischen Sphäre zu unterscheiden. So z.B. H. Bergson oder auch S. Freud mit seiner Theorie des Unbewußten.

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Folge? 6 In der psychophysiologischen Erkenntnistheorie ist diese Frage gleichsam unabhängig von der Feststellung der Existenz der reinen Bewußtseinserlebnisse damit entschieden, daß die These von der Existenz der materiellen Welt und von meiner - als eines Menschen - Zugehörigkeit zu dieser Welt im voraus angenommen wird und daß die Bewußtseinserlebnisse von vornherein als gleichsam den physiologischen Prozessen entstammende betrachtet werden. Die Materialisten erkennen diese Erlebnisse ohne Zögern als eine Wirkung (oder gar "Funktion") des Gehirns an 7 , die anderen dagegen zögern aus verschiedenen Gründen, in diesem Fall einen Kausalzusammenhang bestehen zu lassen, und neigen nur dazu, den sog. psychophysischen "Parallelismus" zu akzeptieren. Aber sogar wenn dieser Parallelismus so zu verstehen wäre, daß die Existenz eines Gliedes von einem Paar von Ereignissen die Notwendigkeit der Existenz des anderen Gliedes nach sich ziehe (was allerdings nie ausdrücklich gesagt wurde), so geht doch die Ansicht, welche die Abhängigkeit der Existenz der Erlebnisse von physiologischen Funktionen des menschlichen Körpers behauptet, von der Feststellung der Existenz dieses Körpers aus; und erst daraus schließt sie auf die genetische Verbundenheit von psychischen Vorgängen mit körperlichen Prozessen, indem sie die ersteren als Erscheinungen der letzteren betrachtet. Nun kann dieser Weg, den Erscheinungscharakter der Bewußtseinserlebnisse zu begründen, hier nicht eingeschlagen werden. Würden wir den Standpunkt des psychophysischen Parallelismus einnehmen, so müßten wir ihn vor allem ergänzen durch die These von der gegenseitigen Seinsabhängigkeit der beiden einander zugeordneten Arten von Tatsachen: der psychischen und der physischen. Dann würde aus der Annahme der Existenz der Bewußtseinser-

Husserl, wenn er - übrigens für andere Zwecke - die "phänomenologische Reduktion" als generelle "Urteilsenthaltung" in bezug auf die ganze reale Welt mit seinem "Ich" als einem realen Menschen durchführt, erhält als ein phänomenologisches residuum den Strom der (eigenen) reinen Bewußtseinserlebnisse. Er behauptet aber zugleich, daß das reine Bewußtsein für seine Existenz kein anderes Ding erfordere (nulla re indiget ad existendum) [Ideen I, S. 92 (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 104)], mithin schreibt er dem "reinen" (zunächst eigenen) Bewußtsein das "absolute" Sein zu. Würden wir hier diesen Standpunkt annehmen, dann wäre die Frage nach der Zulässigkeit der rein phänomenologischen Betrachtung der Erkenntniserlebnisse definitiv erledigt. Es entstehen hier aber gewisse Schwierigkeiten, die ich bald besprechen werde. Was diese "Funktion des Gehirns" ist, das ist nicht gebührend geklärt.

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lebnisse, insbesondere der Erkenntniserlebnisse, die Annahme der Existenz der ihnen zugehörigen physischen, mithin speziell physiologischen Prozesse oder Ereignisse folgen. Diese Feststellung würde uns aber für sich alleine gar nicht darüber unterrichten, welches Ereignis oder welcher physiologische Prozeß dem gegebenen Erkenntniserlebnis entsprechen soll. Den Eigenschaften des Erkenntniserlebnisses allein kann man das nicht ablesen, besonders wenn dieser "physische" Prozeß kein aus dem Erkenntnisgegenstand hervorgehender Prozeß sein sollte, sondern nur ein ziemlich geheimnisvoller und seiner biochemischen Natur nach bisher nicht identifizierter physiologischer Prozeß im Nervensystem des Menschen. Auf welcher Grundlage dürften wir dann die gegenseitige Seinsabhängigkeit der Glieder der [Paare von] zueinander gehörenden Tatsachen behaupten, zumal uns nur ein Glied dieses Paares (das Bewußtseins-, insbesondere Erkenntniserlebnis) gegeben, das andere dagegen - und dies in jedem solchen eventuellen Paar - nur mutmaßlich erschlossen wäre? Angesichts dieser Situation scheint die These des psychophysischen Parallelismus in der Luft zu schweben, sofern wir uns nicht auf die äußere Erfahrung berufen dürfen. Bei diesem Vorbehalt müßte besonders der einzige Grund dafür, das zweite Glied des Paares mutmaßlich anzuerkennen (oder sogar zu wählen) - wenigstens erkenntnismäßig - im Bewußtseinserlebnis selbst liegen, dessen Existenz wir in der inneren Erfahrung feststellen. Anders gesagt, die Analyse des (erkenntnismäßigen) Bewußtseinserlebnisses selbst müßte ergeben, daß es nicht seinsselbständig (oder wenigstens nicht seinsunabhängig) 8 ist von den materiellen, insbesondere physiologischen Prozessen, die im Körper des erlebenden Menschen ablaufen. Die Begriffe der Seinsselbständigkeit bzw. Seinsunabhängigkeit, die ich im Streit um die Existenz der Welt eingeführt habe, sind existenzial-ontologische Begriffe, die wir auf dem Boden der deskriptiven Phänomenologie der Erkenntniserlebnisse (ähnlich übrigens wie im Rahmen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie) in unserer Diskussion nicht verwenden können. 9 Daher läßt sich die Frage, ob die bewußten (erkenntnismäßigen) Erlebnisse solchen Seinscharakter aufweisen, innerhalb der deskriptiven Phänomenologie der Erkenntniserlebnisse

8

Vgl. Der Streit [Ingarden (1964/65) Bd. I, §§ 14, 15],

9

Ich komme darauf bald zurück.

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Prozeß

nicht entscheiden. So viel können wir aber im Augenblick feststellen, daß das ein Verfahren wäre, das sich bei den hier aufgestellten Postulaten korrekt realisieren ließe; denn es würde die Objektivität der Erkenntnis der materiellen Welt und speziell der Erkenntnis vom Körper des die erkenntnistheoretischen Untersuchungen führenden Menschen, nicht voraussetzen. Es müßte nämlich die Erkenntniserlebnisse nicht als Erscheinungen oder Wirkungen von physiologischen oder sonstigen materiellen Prozessen auffassen, obwohl diese Frage vorläufig dahingestellt bliebe. Das Postulat 1 verbietet es uns, als Forschungsobjekt der Erkenntnistheorie psychische Erkenntnisprozesse zu wählen, die ohne weiteres als Erscheinungen des psychischen Lebens des psychophysischen Individuums betrachtet werden. Denn wir haben kein Recht, im voraus anzunehmen, daß die innere Wahrnehmung, deren Objekte diese Prozesse sind, uns transzendent wahre Ergebnisse verschafft. Aus diesem Verbot folgt das Postulat, daß wir uns im Laufe der erkenntnistheoretischen Betrachtungen völlige Zurückhaltung auferlegen sollen in bezug auf den Wert der durch die "innere Wahrnehmung" gelieferten Ergebnisse, wie auch zugleich in bezug auf die Existenz oder Nichtexistenz der Gegenstände dieser Wahrnehmung, d. h. der menschlichen Person sowie ihrer Zustände und Prozesse. Die soeben durchgeführten Erwägungen zeigen, daß uns mit dieser Zurückhaltung noch ein ganzes Gebiet der Bewußtseins- und speziell der Erkenntniserlebnisse übrig bleibt. Wir können somit diese zum Objekt der erkenntnistheoretischen

Untersuchungen

machen. Das Postulat 1 steht daher in keinem Widerspruch zum Postulat 4, beraubt uns also nicht des Untersuchungsstoffes, denn gerade in jenen besonderen Bewußtseinserlebnissen erfolgt das, was wir "Erkennen" nennen. Die Anhänger der psychophysiologischen Erkenntnistheorie können darauf antworten: Ausgezeichnet! Ist dem so, dann hat sich de facto nichts geändert. Denn auch uns, als wir von den erkenntnismäßigen "psychischen Prozessen" sprachen, ging es um nichts anderes als um manche der "Bewußtseinserlebnisse". Wir wollen uns eben mit diesen, besonders aber mit ihrem Inhalt beschäftigen. Und wenn wir auch von den Erkenntnis"vermögen", von den in ihnen eintretenden Veränderungen, von ihrer Abhängigkeit gegenüber diesen oder jenen Eigenschaften des Organismus und den sich darin abspielenden physiologischen Prozessen sprechen, so tun wir das zu Recht. Denn die psychischen Prozesse, d. h. in der zuletzt angenommenen Sprache die "Be-

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wußtseinserlebnisse", sind in Wahrheit davon abhängig, welche Vermögen oder Erkenntnisfähigkeiten das gegebene psychophysische Individuum (bzw. überhaupt die Menschen) auszeichnen; und die einen wie die anderen hängen in letzter Linie von Eigenschaften des Organismus und von physiologischen Prozessen ab, wenn wir ihre Abhängigkeit von physischen Prozessen der Außenwelt außer acht lassen. Und das ist der Fall, ob wir uns diese Zurückhaltung gegenüber den Ergebnissen der inneren Erfahrung auferlegen wollen oder nicht. Diese Zurückhaltung kann am tatsächlichen Sachverhalt nichts ändern. Ich antworte: Auf jeden Fall hat sich durch diese Zurückhaltung geändert, daß das Forschungsgebiet der Erkenntnistheorie, selbst wenn wir auch manche Bewußtseinserlebnisse dazuzählen, weder die psychischen Prozesse, die in den Bewußtseinserlebnissen nur in Erscheinung treten, noch Erkenntnisfähigkeiten, noch den Organismus des Menschen und die darin verlaufenden Prozesse usw. umfassen wird. All das kann in der Erkenntnistheorie - mit einem Vorbehalt - nur als eine besondere Gruppe von Erkenntnisgegenständen, nicht aber als am subjektiven Erkenntnisprozeß mitwirkende Faktoren in Betracht kommen; und auch dies allein dann, wenn es sich zeigt, daß es aus irgendwelchen speziellen Gründen ratsam wäre, sie ins Forschungsgebiet der Erkenntnistheorie einzuordnen. Man darf dabei nicht vergessen, daß derjenige, der sich bezüglich einer These des Urteils enthält, keineswegs behauptet, sie sei nicht wahr. Allein um diese Urteilsenthaltung handelt es sich aber beim Postulat, [das uns auffordert,] gegenüber den Ergebnissen transzendent gerichteter Erkenntnisse eine zurückhaltende Haltung einzunehmen. Daß man das Forschungsgebiet der Erkenntnistheorie vorläufig so bestimmt, ergibt sich aus der Intention, den Erkenntniswert der inneren Erfahrung nicht dogmatisch anzunehmen. Es scheint gar nicht evident, was die psychophysiologische Erkenntnistheorie ohne Bedenken annimmt, nämlich daß die Bewußtseinserlebnisse nur eine Begleiterscheinung der - unter Veränderungen der Eigenschaften der Erkenntnisvermögen verlaufenden - psychischen und physiologischen Prozesse darstellen, und zwar eine Erscheinung, die in ihrem Sein und Verlauf von jenen Prozessen ganz abhängig ist. Der anschauliche Charakter der Erlebnisse kann jedoch selbst darauf hinweisen, daß sie eine Erscheinung von etwas anderem, insbesondere der psychophysiologischen Prozesse sind und daß dies

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nicht nur etwas ist, was ihnen auf rein begriffliche Weise als ein relatives Merkmal zugeschrieben wird auf Grund der sinnlichen Beobachtungen, die von anderen Menschen, ζ. B. vom Arzt, vom Physiologen, vom experimentellen Psychologen usw. gemacht werden. Nachdem wir uns einmal die Zurückhaltung in bezug auf alle durch die äußere Sinneswahrnehmung aufgedeckten Tatsachen auferlegt haben, müssen wir uns auch bezüglich dessen des Urteils enthalten, ob jene Experten den anderen Menschen zu Recht diese oder jene Verhaltensweise zuschreiben, ja ob sie berechtigterweise folgern, daß diese Verhaltensweise das Vorhandensein und den Verlauf und besonders die Leistungsfähigkeit gewisser Bewußtseinserlebnisse dieser Menschen bedinge. Erst auf dieser Grundlage hätten wir das Recht, diesen Erlebnissen das relative Merkmal, eine "Erscheinung" von etwas zu sein, was selbst kein Bewußtseinserlebnis ist, zuzuschreiben. Es bleibt also nur ein einziger Weg übrig, nämlich in der eigenen immanenten Wahrnehmung nachzuprüfen, ob die Erkenntniserlebnisse selbst einen anschaulichen Charakter haben, [der darauf hinweist,] daß sie eine "Erscheinung" oder "Äußerung" von etwas ausmachen, was von ihnen verschieden, nicht-erlebnishaft ist - nämlich eine "Erscheinung" oder "Äußerung" von den psychischen Prozessen in unserer Seele oder den physiologischen Prozessen in unserem Körper. Diese Frage müßte auf Grund der Erfahrung und Analyse der eigenen Bewußtseins- und speziell Erkenntniserlebnisse, nicht aber unter Anlehnung an irgendwelche aus der Psychologie oder Naturwissenschaft übernommenen Sätze entschieden werden. Würde es sich aber zeigen, daß die in der immanenten Wahrnehmung gegebenen eigenen erkenntnismäßigen Bewußtseinserlebnisse wirklich als solche charakterisiert sind, die eine Erscheinung von etwas ausmachen, was selbst kein Erlebnis ist, dann würden sich folgende Fragen erheben: 1. Bestimmt dieser Charakter, "eine Erscheinung von etwas zu sein", überhaupt und eindeutig die Natur von jenem Etwas, dessen Erscheinung das gegebene Erlebnis sein soll - also ζ. B., ob es sich dabei um unseren Körper oder unsere Seele und ihre Eigenschaften handelt? 2. Ist dieser Charakter hinreichend für die Annahme, daß jenes Etwas tatsächlich existiert, so daß die Existenz der Erlebnisse mit diesem Charakter uns dazu veranlaßt, hiermit auch etwas anderes - unsere Seele oder unseren Körper - anzunehmen?

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3. Müßte die notwendige Annahme der Existenz unserer Seele oder unseres Körpers als das, wessen Erscheinung unsere Erkenntniserlebnisse sind, eine wesentliche Bedeutung für die Untersuchung der Erkenntniserlebnisse selbst mit ihren Eigenschaften und speziell mit ihren Erkenntnisleistungen haben? ad 1. Es scheint unwahrscheinlich, daß unsere Bewußtseins- und speziell Erkenntniserlebnisse, wenn wir auf sie ausschließlich die immanente Wahrnehmung richten, als "Erscheinungen von etwas anderem" gekennzeichnet sind und insbesondere daß sie jenen angeblich jenseits des Bewußtseins liegenden Faktor bestimmen, von dem sie abhängig sein sollen. Die Tatsachen, die uns manchmal auffallen, sind ζ. B. die Abschwächung der Aktivität oder Verminderung der Klarheit des Bewußtseins oder schließlich das Fehlen gewisser Tätigkeiten bzw. Fertigkeiten, wo wir sie eher erwarten. All das sind Fälle, wo etwas Unerwartetes oder Ungewöhnliches eintritt, dessen Eintreten uns - unter Berücksichtigung der innerhalb unserer Gedanken auftretenden Tatsachen - unverständlich vorkommt. Eine Folge davon ist nicht so sehr, daß sich ein positiver Charakter "einer Erscheinung von etwas, was jenseits des Bewußtseins liegt", einstellen würde, als vielmehr, daß wir auf gewisse Weise etwas außerhalb unserer Erlebnisse suchen, was eine Erklärung dafür gibt, warum die angeführten Tatsachen auftreten. Sogar wenn wir zugeben müßten, daß die Erkenntnisleistung der Erkenntniserlebnisse manchmal durch etwas beeinflußt wird, was sie steigert oder herabsetzt, was aber selbst kein Erlebnis ist, sind doch für die erkenntnistheoretischen Untersuchungen ausschließlich jene im Hinblick auf die Erkenntnisleistung unterschiedenen Spielarten von Erlebnissen selbst wichtig, sowie deren Rolle bei der Gewinnung von wertvollen Ergebnissen. Die Erlebnisse selbst zeigen uns die ihre Erkenntnisleistung bestimmenden Vorzüge und Fehler, und man braucht dazu keine jenseits des Bewußtseins liegenden Faktoren auszusuchen. Über die eventuelle Berücksichtigung dieser [Faktoren] hinaus geht jedoch das, was normalerweise in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie geschieht, wo die Meinung vertreten wird, man könne gar keine Untersuchung z.B. der Gesichtswahrnehmung durchführen, ohne deren anatomisch-physiologische Grundlage im Aufbau des Auges und überhaupt des Gesichtsorgans samt dessen Elementen im zentralen Nervensystem aufzudecken. Ohne die Erforschung der photochemischen und elektrischen Pro-

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zesse im Auge, in seiner Netzhaut und den leitenden Nerven lasse sich das Problem der Objektivität der Gesichtswahrnehmung gar nicht lösen. Das "Sehen" soll nach dieser Auffassung überhaupt in nichts anderem bestehen als in diesem physiko-physiologischen Prozeß. Abgesehen aber von dieser extremen Ansicht, bei der das Problem der Objektivität der Wahrnehmung überhaupt verschwindet, ist die Verfahrensweise, die sich auf das Gesichtsorgan und die darin ablaufenden Prozesse beruft, um auf dieser Grundlage den Erkenntniswert der Ergebnisse des Sehens zu beurteilen, - wie ich gezeigt habe - mit dem Fehler einer petitio principii behaftet und kann in der Erkenntnistheorie nicht verwendet werden. Die Frage, ob wir, wenn wir eine bunte, z.B. rote Kugel auf dem Tisch sehen, diese genau so wahrnehmen, wie sie an sich ist, oder aber uns dabei in einem Irrtum befinden, betrifft ein spezielles Verhältnis zwischen diesem Ding und dem Komplex von Daten unseres Sehens. Wir müssen diese Frage in der Erkenntnistheorie klären, ohne uns dabei auf physiko-physiologische Prozesse oder Tatsachen zu berufen, die gerade mit Hilfe dieses Sehens festzustellen wären. Auf welche Weise wir unter diesen Bedingungen ermitteln sollen, ob und inwiefern das soeben genannte Verhältnis besteht - das ist eben ein Problem, dessen Lösung schon in der jetzt betrachteten Konzeption der phänomenologischen Erkenntnistheorie selbst angegeben werden soll. Wenn es uns nicht gelingt, darzulegen, daß das möglich ist, werden wir diese Konzeption selbst verwerfen und entweder auf eine andere verweisen oder überhaupt auf den Versuch verzichten müssen, Wege der Erkenntnistheorie zu bestimmen. Im Augenblick bleibt diese Frage offen. ad 2 und 3. Da wir die These abgelehnt haben, daß die Erkenntniserlebnisse selbst ihrem Wesen nach als Erscheinungen psychophysischer Prozesse des Menschen charakterisiert seien und daß es nur in Fällen gewisser Abweichungen vom normalen Verlauf dieser Erlebnisse zweifelhaft werde, ob sie durch etwas bedingt sind, was selbst kein Bewußtseinserlebnis ist, dürfen wir nicht behaupten, daß diese Fälle eine hinreichende Grundlage für die Annahme der Existenz unseres Körpers und der sog. Seele abgeben. Dennoch können wir über die erwähnten Eigentümlichkeiten der Vollzugsweise der Erkenntnisakte nicht zur Tagesordnung übergehen und müssen darauf zur rechten Zeit zurückkommen.

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///. Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

§ 23. Das Erkenntnissubjekt und der erkennende Mensch Für das Bestehen 10 einer Erkenntnisbeziehung zwischen dem Erkenntnisgegenstand und dem Erkennen ist es nötig und hinreichend, daß das Erkennen ein besonderes Bewußtseinserlebnis ist, dessen Inhalt einen Gegenstand bestimmt und das von einem erkennenden Subjekt vollzogen wird. Nehmen wir an, die Anhänger der psychophysiologischen Erkenntnistheorie würden zugeben, daß das Erkennen sich in Bewußtseinserlebnissen vollzieht, die man nicht von vornherein als reale psychische Prozesse von realen Menschen oder Tieren auffassen soll, dann stellen sich die zugunsten dieser Ansicht vorgebrachten Argumente in dem Augenblick als wertlos heraus, in dem sich die Existenz des Erkenntnissubjekts als eine unentbehrliche Bedingung für das Bestehen der Erkenntnisbeziehung erweist. Denn was sonst kann - ihrer Meinung nach - der Ausdruck "Erkenntnissubjekt" bezeichnen als gerade einen realen Menschen bzw. eine menschliche Person? Nehmen wir aber die Existenz dieses realen Menschen als Erkenntnissubjekt an, dann nehmen wir wie es scheint - den positiven Erkenntniswert von Ergebnissen der äußeren wie der inneren Wahrnehmung vorweg. Wir befinden uns somit in derselben Situation wie die psychophysiologische Erkenntnistheorie, mithin in einer allem Anschein nach ausweglosen Situation. Das wäre aber nur dann der Fall, wenn der erkennende Mensch und das Erkenntnissubjekt immer absolut dasselbe wären. Wir müssen nun darlegen, daß diese Identität nicht besteht. Der erkennende Mensch, insbesondere die menschliche Person, ist vor allem einer der Erkenntnisgegenstände, obwohl er ohne Zweifel [auch] am Vollzug des Erkennens teilnehmen kann. Wie das geschieht oder geschehen kann, werden wir noch zu erklären haben. Momentan müssen wir uns aber klar machen, daß wir diese Situation nicht zu berücksichtigen brauchen, wenn wir das Erkennen selbst und seine Effizienz bei der Erkenntnisgewinnung betrachten. Der Mensch als psychophysisches Individuum kann entweder vom Erkenntnissubjekt, zu dem er tatsächlich (aber nicht dem Wesen dieses Subjekts nach) gehört, oder von anderen Erkenntnissubjekten erkannt werden. Im ersten Fall ist er, wenn es sich um seine Seele und in ihr verlaufende Prozesse [Die Übersetzung erfolgt nach der I. Redaktion. In den weiteren Redaktionen steht statt "Für das Bestehen" ("Dia zachodzenia") wohl irrtümlicherweise "Für das Erhalten" ("Dia zachowania").]

§ 23. Erkenntnissubjekt und erkennender Mensch

253

handelt, in der inneren Erfahrung gegeben und zugleich in der äußeren Wahrnehmung, was seinen eigenen Körper angeht. Er sieht einen Teil seines Körpers, berührt z.B. eine Hand mit der anderen, spürt dabei, daß seine linke Hand gerade etwas kälter ist als die rechte. Sein Gesicht sieht er allerdings nur in einer Spiegelung usw. Darüber hinaus verfügt er über eine Erfahrung, die ich die somatische nenne, wenn er z.B. die Lage seines Körpers und die Bewegung seiner Glieder empfindet, Herzschläge oder Kopfschmerzen verspürt. Er empfindet auch Hunger oder Sattheit, Durst u. dgl. Wenn er von anderen Menschen oder Tieren erkannt wird, ist er ihnen in der äußeren Wahrnehmung und den sich darauf aufbauenden besonderen Akten des Verstehens (gewöhnlich spricht man in diesem Fall von der "Einfühlung") gegeben. In all diesen Fällen ist der Mensch weder ein Bewußtseinserlebnis selbst noch ein Moment oder eine Eigenschaft eines solchen, sondern bleibt transzendent gegenüber den Akten, in denen er zur Erkenntnis kommt. All das trifft dagegen nicht auf das "reine" Erkenntnissubjekt zu, wie dieses zur Abhebung vom erkennenden Menschen genannt wird. Der Mensch und speziell die menschliche Person ist in den erwähnten Erkenntnisakten immer nur von einer bestimmten "Seite" her gegeben. Das heißt: Nur einige der Eigenschaften seines Körpers wie auch seiner Seele liegen im Bereich dessen, was unmittelbar und anschaulich, entweder in der inneren oder in der "somatischen" oder schließlich in der äußeren Wahrnehmung erfaßt wird. Seine übrigen Eigenschaften oder sogar Prozesse bleiben dagegen gleichsam hinter diesen im Schatten verborgen. Um sie zu erfassen, muß man entweder zu einem anderen Fall der den gegebenen Menschen betreffenden Erfahrungsakte übergehen - dann aber verschwinden die Eigenschaften, die sich früher gezeigt haben, aus dem Gesichtsfeld - oder aber sich des Schließens auf Tatsachen bedienen, die dann nicht mehr gegeben, sondern nur erschlossen sind. Es liegt hier etwas Ähnliches vor wie ζ. B. in der Gesichtswahrnehmung eines Dinges. Manchmal wird nur ein einziger Charakterzug anhand einer Handlung einer Person sichtbar, einer Handlung, die einen Einblick in die sich sonst hinter der Handlung verbergende Tiefe der menschlichen Person ermöglicht. Sowohl dann, wenn wir uns selbst als Person erkennen, wie auch, wenn wir einen anderen Menschen erkennen, steht das Erkennen der Person selbst, ihrer Zustände und der sich in ihr abspielenden Prozesse oder ihrer Handlungen in engem Zusammenhang mit dem

254

111. Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

Erkennen unseres oder eines fremden Körpers in der äußeren Wahrnehmung und trägt manchmal zum besseren Verständnis des Verhaltens der Person bei, manchmal aber erschwert es dieses wesentlich. Eine Rolle spielt hier auch die Weise, wie das, was eigentlich in der Seele des Menschen geschieht, aktiv gezeigt oder umgekehrt vor ihm selbst und vor anderen Leuten verheimlicht wird. Max Scheler sprach einst richtig von der "Intimitätssphäre" des Menschen 11 , die bei verschiedenen Personen in verschiedenen Situationen unterschiedlich ist, aber vielleicht nie ganz verschwindet. Sie ist nicht nur für die anderen, sondern auch für uns selbst vorhanden. Das, was in uns wirklich geschieht, was wesentliche Motive unseres Verhaltens oder der Tatsachen ausmacht, aus denen dieses manchmal ohne unsere Absicht hervorgeht, "gestehen wir nicht" - wie man mitunter sagt. Der Grad unserer "Aufrichtigkeit" gegenüber uns selbst und gegenüber anderen kann größer oder kleiner sein. Davon rühren nicht nur verschiedene "natürliche" Verdeckungen unseres Inneren, sondern auch die im Alltagsleben so genannten "Verlogenheiten", die zuweilen eine aufrichtige und ehrliche Handlungsweise unmöglich machen. Es muß ferner beachtet werden, daß damit verschiedene Fälle von Selbsttäuschungen oder Täuschungen und Irrtümern im Erkennen des anderen zusammenhängen, die mitunter die Erkenntnis sowohl der Natur des gegebenen Menschen als auch seines momentanen Zustande in großem Maße erschweren. 12 Man kann also sagen, daß die Erkenntnis des Menschen und speziell seiner Person beim Erleben von "Ansichten" oder Aspekten verschiedener Art gewonnen wird, die im Darstellen der Eigenschaften des Menschen mehr oder weniger effizient sind. 13

11

12

[Vgl. M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, (Gesammelte Werke, Bd. 2), S. 548 ff.] Interessante Betrachtungen dazu kann man in Max Schelers Aufsatz "Die Idole der Selbsterkenntnis" in seinem Buch Vom Umsturz der Werte [Abhandlungen und Aufsätze, 2 Aufl., Leipzig 1919; in M. Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 3, Bem und München 1972] finden. Natürlich liefern auch Freud und seine Schüler vieles aus diesem Gebiet, wenn auch ihre Beschreibungen und Vermutungen nicht immer glaubwürdig erscheinen. Schließlich muß hier auch die Arbeit M. Geigers mit dem Titel "Fragment über das Unbewußte" im Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische

Forschung, [4 (1921), S. 1-137] berücksich-

tigt werden. 13 Den Begriff der Ansicht, der ursprünglich in Anwendung auf die äußere Wahrnehmung gebildet wurde, habe ich schon in meinem Buch Das literarische Kunstwerk [Ingarden

§ 23. Erkenntnissubjekt

und erkennender

255

Mensch

Das alles gilt nicht für das Erkennen des reinen Erkenntnissubjekts, wenn es sich selbst erkennt. Dieses Erkennen erfolgt nicht durch das Erleben von Ansichten. Wenn das Subjekt sich selbst erkennt, verschwindet das Ich als Mensch, als psychophysisches Wesen völlig aus seinem Gesichtsfeld. Manche Autoren, wie Paul Natorp in Allgemeine

Psychologie

von 1912 14 ,

behaupten, das reine Subjekt könne nie sich selbst gegeben sein, mithin überhaupt erkannt werden. Denn wenn es einen Wahrnehmungs- oder Denkakt vollziehe und dabei versuche, sich selbst in einem Reflexionsakt direkt zu erfassen, würde es selbst zu einem Objekt und höre auf, das Subjekt des reflektierten Erlebnisses zu sein. Es versetze sich gleichsam in den gerade vollzogenen Reflexionsakt hinein und sei dann, als gerade diesen Akt vollziehendes, seinem Erkennen wieder unzugänglich. Daher ist das reine Subjekt nach Natorp nur eine unentbehrliche transzendentale Voraussetzung, nicht aber ein Seiendes, das im Reflexionsakt direkt gegeben wäre. 15 Das kann man aber nicht gelten lassen. Das reine Subjekt vollzieht bewußte Akte des Erkennens, Wahrnehmens, Denkens, Schließens, vielleicht auch andere, ζ. B. des Entscheidens von Fragen, die aus irgendwelchen Gründen strittig scheinen. Eins ist zuzugeben: daß nämlich mein Ich mir anders erscheint, wenn es einfach ein Erlebnis vollzieht, als wenn ich es in der Reflexion erfasse. Es hört auch dann nicht auf, das erlebende Ich zu sein, und zwar dasselbe, das etwas einfach erlebt und zugleich einen Reflexionsakt vollzieht. Dieser "Reflexions"akt - der sich übrigens noch unterschiedlich verstehen läßt, worauf ich aber im Moment nicht eingehen kann - ist sicher nicht die innere Wahrnehmung, in der mir meine eigene Person mit einem Charakterzug und in einer Lebensbetätigung gegeben ist. Das Ich, das reine Subjekt ist zwar weder ein Bewußtseinserlebnis noch ein Akt (ζ. B. des Wahrnehmens), noch

(1931a)] auf andere Erkenntnisgebiete, insbesondere auf das Gebiet des Psychischen erweitert. [Vgl. P. Natorp, Allgemeine Methode der Psychologie, '

Psychologie

nach kritischer

Methode,

1. Buch: Objekt

und

Tübingen 1912, S. 28-31.]

Eine Kritik dieses Standpunkts hat A. Reinach durchgeführt; vgl. seine ["Paul Natorps Allgemeine Psychologie", Reinach, Sämtliche

in: A. Reinach,] Gesammelte

Werke. Textkritische

Ausgabe

Schriften [Halle 1921], S. 356 f. [in A. in 2 Bänden, hrsg. von K. Schuhmann

und B. Smith, München 1989, Bd. 1, S. 316 f.]. Dort wurde auch eine Unterscheidung zwischen dem reinen Ich und der menschlichen Person durchgeführt.

256

///. Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

ein erlebter Inhalt (ζ. B. eines Gefühls), noch schließlich etwas Vermeintes, d. h. ein Gegenstand. Es ist aber dennoch im Verhältnis zu den Erlebnissen ebenso transzendent wie meine Person oder irgendwelche Züge oder Verhaltensweisen derselben. Die Bewußtseinserlebnisse bilden einen unaufhörlich veränderlichen Strom, ein Erlebnis geht unmerklich und ohne Lücken in ein weiteres über, und zwar auch dann, wenn es sich von diesem sowohl durch seine Vollzugsweise als auch durch seinen Inhalt unterscheidet. Das Ich wird aber nicht ein anderes, neues, so wie ein Erlebnis, das auf ein früheres folgt, neu und anders wird. Es bleibt ein und dasselbe gegenüber den mannigfaltigen Erlebnissen, denen es in ihrem Vollzug als Subjekt dient. Es ist aber auch kein Inhalt meiner Erlebnisse, der mein Bewußtsein ständig ausfüllen würde; es ist überhaupt kein "Inhalt" - wie dies ζ. B. eine von mir erlebte Ansicht des Dinges ist, das ich gerade wahrnehme (sehe). Die Erlebnisse sind auch nur deswegen meine, weil Ich sie vollziehe; sie nehmen dadurch den Charakter der - wie James sagt - "Intimität", "Vertrautheit" 16 an, dieses Ich reduziert sich aber nicht auf diesen Charakter. Man könnte vielmehr sagen, daß mit unserem Ich eine besondere Struktur unseres Erlebnisses, dessen - wenn man so sagen darf - "ErstePerson"-Form eng verbunden ist. Vermöge dieser Form offenbart sich das Ich als die ursprüngliche Quelle 17 , aus der das sich gerade vollziehende Erlebnis hervorquillt, insbesondere die Quelle von jedem Akt des Urteilens, Behauptens, Denkens an etwas sowie jedem Akt des Widerspruchs gegen etwas, der Entscheidung, Verteidigung, der Liebe oder des Hasses - jedem Akt also, der eine gewisse Tat und zugleich eine Entladung von unserem Ich ausmacht. Darin, wie das Ich mir gegeben ist oder in diesem Erlebnis einfach da ist, unterscheidet es sich von "mir" als Person, als Menschen, als gewissem psychophysischem Individuum. Während nämlich das Ich als Person oder ein bestimmter Mensch nur in einer Mannigfaltigkeit von Akten der inneren Wahrnehmung in Erscheinung tritt, und zwar jedesmal gleichsam in einer Ansicht, einer perspektivischen Verkürzung, ist das Ich selbst, im Original, ohne Vermittlung einer Ansicht oder Erscheinung einfach da in jedem Erlebnis, das gerade dadurch "mein" Erlebnis ist. Obwohl es über das sich aktuell

16

[Vgl. W. James, The principles of psychology, New York 1950, Bd. I, S. 226.] Husserl sagt: "Quellpunkt des Aktes".

§ 23. Erkenntnissubjekt und erkennender Mensch

257

vollziehende Erlebnis hinauswächst, indem es dessen Zeitgrenzen überschreitet, sowohl vor diesem Erlebnis als auch danach dieselbe Entität bleibt und zugleich selbst nichts Bewußtseinsmäßiges, kein Element oder Moment des Erlebnisses, sondern nur dasjenige ist, das, indem es [etwas] erlebt, sich dessen bewußt wird - trotzdem ist es sich selbst in seiner ursprünglichen Funktion, das Subjekt von Erlebnissen zu sein, sogar dann erkenntnismäßig zugänglich, wenn keine darauf gerichtete Reflexion stattfindet. In dieser und nur dieser Gestalt ist es für das Eintreten einer Erkenntnisbeziehung unentbehrlich und muß in den erkenntnistheoretischen Untersuchungen berücksichtigt werden. Was immer wir auch erleben, in jedem Fall müssen wir - um das, was sich in Form des Erlebnisses selbst andeutet, adäquat auszudrücken - sagen: ich nehme wahr, ich denke, mir gefällt das, ich freue mich, ich will usw. 18 Das reine Subjekt ist somit weder erschlossen noch in der inneren Wahrnehmung gegeben. Ebensowenig ist erschlossen - und braucht erschlossen zu werden - , daß die Bewußtseinserlebnisse durch das reine Subjekt vollzogen werden. Zum Wesen eines Erlebnisses gehört, daß es vom reinen Subjekt vollzogen wird, und zum Wesen des Subjekts, daß es Erlebnisse vollzieht, daß es sie erlebt. Die Grundstruktur und Seinsweise des reinen Subjekts liegt in diesem "Subjektsein" eingeschlossen, darin, daß es die Quelle eines sich aktuell vollziehenden Erlebnisses dieser oder jener Art ausmacht. Husserl 19 wie auch andere Erkenntnistheoretiker waren der Meinung, das reine Ich besitze keine anderen Eigenschaften, außer daß es das Vollzugssubjekt von Bewußtseinserlebnissen ist. Das ist jedoch eine Frage, die noch näher zu erwägen wäre. Gewiß kann man nicht eigentlich sagen, das reine Ich sei gut oder böse, leidenschaftlich oder besonnen, intelligent oder stumpf. Alle Bestimmungen dieser Art eignen sich dafür, einer menschlichen Person als gewisse Merkmale zugeschrieben zu werden. Darin wird ein Unterschied

1 Q

In manchen Sprachen ist dieses Explizieren des mitgegebenen Ich durch das Pronomen "ich" in jedem dieser Fälle unumgänglich. Im Polnischen drückt schon die Form des betimmten Verbs "myàlç", "radujç siç" jene aktive Anwesenheit des Ich in dieser ursprünglichen Tatsache aus. Vgl. meine Analyse der Bedeutung des bestimmten Verbs im Buch Das literarische Kunstwerk [Ingarden (1931a)], § 15. 19

Vgl. Husserl, Ideen I, S. 109 und 159 ff. [Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 123 und 178 ff.].

258

III. Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

zwischen Person und reinem Subjekt sichtbar. Ob jedoch daraus folgt, daß das reine Ich gar keine Eigenschaften besitze, außer daß es ein solches Subjekt ist, das scheint zweifelhaft, wenn wir beachten, daß das reine Subjekt die Bewußtseinsakte nicht in allen Fällen auf die gleiche Weise vollzieht. Manchmal verhält es sich in seinen Erlebnissen passiv, manchmal aktiv; bisweilen vollzieht es sie ganz schnell und ohne Mühe, bisweilen aber so, als ob es irgendwelche Widerstände überwinden müßte; einmal ist es konzentriert, ein anderes Mal kann es sich nicht konzentrieren; manchmal nimmt es nur wahr und manchmal fallt es dabei ein Urteil oder zieht eine Schlußfolgerung; bisweilen hält es eine streng neutrale Haltung ein, und bisweilen ist es emotional beteiligt, bewertet gewisse Tatsachen, die es vorfindet, und schätzt sie entweder hoch oder verurteilt sie usw., und all das geht nicht vorüber und kann nicht vorübergehen, ohne eine Spur an ihm selbst zu hinterlassen. Es bleibt dabei eine offene Frage (die ich hier nicht zu entscheiden brauche), ob die von ihm vollzogenen Erlebnisse Erkenntniserlebnisse sensu stricto sind oder ob es auch dann in Betracht kommt, wenn das Subjekt Akte der sittlichen Entscheidung vollzieht, z.B. die Verantwortung [für etwas] übernimmt oder sie ablehnt, sich für eine ethisch wertvolle Tat entschließt usw. Müßten die Funktionen des reinen Ich auch auf diese Fälle erweitert werden, dann wäre es unvermeidlich, ihm noch irgendwelche aus diesen Verhaltensweisen resultierenden Qualifikationen zuzuerkennen. 20 Hier, in den Betrachtungen, die eine Begründung der Möglichkeit der auf bestimmte Weise verstandenen Erkenntnistheorie zur Aufgabe haben, spielt jedoch die Frage nach der Funktion des reinen Subjekts im Bereich der nicht-erkenntnismäßigen Erlebnisse keine Rolle. Wichtig ist hier nur [zum einen], daß im ganzen Bereich der Erkenntniserlebnisse das reine Ich auftritt. Und zum anderen: Wenn ihm noch irgendwelche weiteren Merkmale zuzuschreiben sind, außer daß es das Vollzugssubjekt der Akte ist, kann sich die Entscheidung dieser Frage weder aus irgendwelchen von vornherein angenommenen Voraussetzungen noch aus den Erkenntnissen ergeben, die in bezug auf die menschliche Person, das psy20 In seinen späteren Werken - von der Formalen und transzendentalen

Logik [Halle 1929] an

- hat sich auch Husserl von diesem Standpunkt zurückgezogen, dafür aber den Begriff der sog. "Habitualität" eingeführt, der nicht deutlich genug ist. [Vgl. E. Husserl, Formale transzendentale S. 38, 248).]

und

Logik, Halle 1929, S. 30, 31, 214 (Husserliana XVII, hrsg. von P. Janssen,

§ 23. Erkenntnissubjekt

und erkennender

Mensch

259

chophysische Individuum und die reale Welt gewonnen worden sind, sondern sie muß durch die Struktur des Erlebnisses selbst und durch seine Vollzugsweise bestimmt sein. Die Probleme der Natur des reinen Subjekts und speziell seiner Erkenntnis zählen zu den schwierigsten Fragen der Erkenntnistheorie und der Philosophie überhaupt. Daher konnte manch eine Frage im vorangehenden nicht geklärt werden. Vorläufig muß es uns ausreichen, den oben umrissenen Unterschied zwischen dem reinen Subjekt und dem psychophysischen Individuum, insbesondere dem Menschen, festgehalten zu haben. Nachdem wir den letzteren und die in ihm verlaufenden Prozesse aus dem Bereich der Untersuchung ausgeschlossen haben, bleiben uns als unentbehrliche Elemente der erkenntnistheoretischen Forschung die Bewußtseinserlebnisse und das reine Subjekt übrig. Könnte man aber in der Erkenntnistheorie nicht ohne das reine Subjekt (das Ich) auskommen? Die Unentbehrlichkeit des reinen Ich für die Erkenntnis hat bereits Kant in der Kritik der reinen Vernunft und des näheren in der transzendentalen Deduktion der Kategorien behauptet. Einmal geschieht das implicite, wenn er sagt: "Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können". 21 Er verlangt das aber auch expressis verbis. Dazu zwingen ihn seine Voraussetzungen, die er übrigens nicht ausdrücklich bespricht, sondern von den englischen Empiristen (Locke und Hume) übernimmt, wie der Begriff der einfachen und der zusammengesetzten Idee, die Konzeption der kontinuierlichen Zeit als Mannigfaltigkeit von Momenten und die Konzeption der punktuellen Gegenwart. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, ursprüngliche "Synthesen" 22 anzunehmen, wie die Synthese der Apprehension, die Synthese der Reproduktion in der Einbildungskraft, die Synthese der Rekognition im Begriff. Das alles erfordert es, das Bewußtsein des Synthetisierens, die Einheit, die transzendentale Apperzeption und schließlich das Ich, das transzendentale Subjekt anzuerkennen. 23

21

Vgl. I.e. B . S . 131.

99 Die transzendentale Deduktion der Kategorien beginnt mit dem "Von der Möglichkeit einer Verbindung überhaupt" betitelten Paragraphen, I.e. S. 129. Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, Ausg. B, S. 132. In der Ausgabe Β spricht übrigens Kant nicht mehr von diesen drei Synthesen, die er in der Ausgabe A behandelt.

260

111. Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

Wenn wir aber die oben genannten Voraussetzungen mit Kant nicht teilen, dann entsteht die Frage, ob das reine Ich für die Erkenntnistheorie (bzw. für das Erkennen und die Erkenntnis selbst) unentbehrlich ist. Sind die Kontinuität der Dauer, die am deutlichsten H. Bergson dargelegt hat, und zudem eventuell noch die ursprüngliche Einheit des Bewußtseinsstroms nicht ausreichend, damit ein Erkennen sich vollzieht und eine Erkenntnis darin gewonnen wird? Zur Anerkennung dieser Unentbehrlichkeit bringt uns vor allem die ErstePerson-Form jedes Bewußtseinserlebnisses, die auf die ursprünglichste Weise die Notwendigkeit der Existenz des reinen Ich beim Vollzug jedes Erlebnisses nach sich zieht. Im besonderen wird das Erkennen immer von jemandem durchgeführt; ebenso wird auch jede Erkenntnis von jemandem erworben, wie sie schließlich immer auch

fiir

jemanden gewonnen wird, nämlich

für den Erkennenden und eventuell auch für andere. Aber auch umgekehrt: Das erkennende Ich könnte ohne Erkennen überhaupt nicht existieren. Das soll nicht schlechthin als eine Tautologie verstanden werden, die sich aus der Bedeutung des Ausdrucks "das erkennende Ich" ergäbe. Es ist [vielmehr] eine Einsicht in die letzte Natur des Ich, die uns feststellen läßt, daß diese Natur das Ich gleichsam dazu zwingt, eine Erkenntnis zu gewinnen, daß das Ich - wenn man so sagen darf - wissensbedürftig ist. Wenn dieses Bedürfnis nicht im Erkennen erfüllt würde, könnte das reine Ich sich überhaupt nicht verwirklichen, sich im Sein erhalten. Für die Positivisten mag das sehr "metaphysisch" klingen, gleichwohl drücken diese Worte die ursprünglichste Struktur des reinen Ich aus. Es ist auch etwas anderes, zu sagen, daß der Bewußtseinsstrom ursprüngliche Kontinuität aufweise, daß zwischen einem Erlebnis und einem anderen keine Lücken oder Unterbrechungen aufträten und daß alle seine Phasen nicht punktuell seien, als die Einheitlichkeit oder Einheit des Sinnes des Erkenntnisergebnisses zu behaupten. Dieser Sinn muß auch dann, wenn wir ihn in einem sich auf eine gewisse Zeitperiode erstreckenden Prozeß erreichen, in seiner Einheit erhalten und vom reinen Erkenntnis- und Erkennenssubjekt im Laufe immer neuer Gegenwarten und ungeachtet der fließenden Natur immer neuer Erkenntniserlebnisse erfaßt werden. Das reine Ich ist somit, indem es diese Funktion ausübt, für die Erhaltung eines identischen Sinnes des Erkenntnisergebnisses sowie für die Gewinnung neuer sekundärer Erkenntnisergebnisse auf dem Weg der synthetischen Denkoperationen

§ 24. Das Forschungsgebiet der deskriptiv-phänomenologischen

Erkenntnistheorie

261

unentbehrlich. Alle sozusagen höheren Erkenntnistätigkeiten sind unentbehrlich zur Gewinnung gewisser theoretischer Erkenntniszusammenhänge, ohne die kein systematisiertes Wissen zustande käme. Diese Tätigkeiten und ihre Ergebnisse müssen im Rahmen der Erkenntnistheorie einer Untersuchung unterzogen werden, und hierin muß auch das reine Ich mit berücksichtigt werden. Die Erkenntnistheorie kann also nicht darauf verzichten, das reine Subjekt in ihre Betrachtungen einzubeziehen.

§ 24. Die Bestimmung des Forschungsgebiets der deskriptiv-phänomenologischen Erkenntnistheorie und ihrer Methode Wenn wir die weiter oben aufgestellten Postulate erfüllen, erlegen wir uns in der Erkenntnistheorie vor allem bewußt und konsequent eine Zurückhaltung (Husserl spricht von der EPOCHE oder der phänomenologischen "Reduktion") in bezug auf alle Erkenntnisse auf, die sich auf Gegenstände beziehen, die gegenüber den zu diesen Erkenntnissen führenden Erkenntniserlebnissen transzendent und zugleich seinsautonom und von diesen Erlebnissen seinsunabhängig sind. Demgemäß gehören zu den Untersuchungsobjekten der phänomenologischen Erkenntnistheorie: a) das reine Erkenntnissubjekt (das Ich), b) die Erkenntnisakte und - allgemeiner - alle Erkenntniserlebnisse, c) die vermeinten Erkenntnisgegenstände, genau so genommen, wie sie durch eine entsprechende Mannigfaltigkeit von Bewußtseinsakten bestimmt sind, und nur als diesen Akten entsprechende "Phänomene", d) die Erkenntnisbeziehungen, die zwischen den Erkenntniserlebnissen und den vermeinten Erkenntnisgegenständen bestehen. Es hat sich dabei gezeigt, daß weder a) die Erkenntnisbeziehung eine Kausalbeziehung ist noch b) die erkenntnistheoretischen Probleme kausal-genetische Probleme sind, noch schließlich c) sich diese Probleme durch genetische Betrachtungen lösen lassen. Man muß somit eine andere, der genetischen Methode theoretisch vorgeordnete Forschungsmethode vorschlagen. Das ist die deskriptive Methode, die es zur Aufgabe hat, in der entsprechenden Erfahrung (direkten Erkenntnis) die anschaulich auftretenden charakteristischen Züge oder Eigenschaften des Forschungsgegenstandes aufzufinden und diesen zu

262

III. Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

"beschreiben", d. h. diese Züge anzugeben bzw. zu nennen und sie diesem Gegenstand in Sätzen zuzuschreiben, die keine in der Erfahrung nicht gegebenen oder nur aus dieser oder jener rein konzeptuellen Theorie folgenden Eigenschaften voraussetzen. Diese Methode vermeidet also alle rein begrifflichen Hypothesen oder Voraussetzungen; sie vermeidet auch - zumindest solange, bis die deskriptiven Erkenntnisergebnisse gewonnen werden - alle rein begrifflichen Gedankengänge oder Schlußfolgerungen, beschränkt sich somit auf Konstatierung und Beschreibung dessen, was in der entsprechenden Anschauung "unmittelbar" gegeben ist. 24 Die so verstandene phânomenôlogische Erkenntnistheorie ist - infolge der generellen Zurückhaltung betreffs aller Erkenntnisse, die sich auf transzendente Gegenstände beziehen - wenigstens bis zu einer bestimmten Phase ihrer Betrachtungen eine methodisch und radikal solipsistische Theorie. So ist es nämlich bis zum Augenblick, in dem wir zu zeigen vermögen, daß die Erkenntnis "fremder" psychischer Subjekte, insbesondere aber fremder Erkenntnissubjekte, "objektiv" und unbezweifelbar ist. Die so verstandene Erkenntnistheorie wird den grundsätzlichen Einwänden, die vorhin gegen die psychophysiologische Erkenntnistheorie aufgerollt wurden, insbesondere dem Einwand einer petitio principii, nicht ausgesetzt sein. Wie sich jedoch bald zeigen wird, ist auch sie von anderen prinzipiellen Einwänden nicht frei und muß in der Gestalt, in der sie zuletzt skizziert wurde, ebenfalls abgelehnt werden. Diese Einwände werden zugleich zeigen, daß den früher aufgestellten fünf Postulaten, in denen unentbehrliche Bedingungen für eine Erkenntnistheorie festgelegt werden, noch einige weitere anzuschließen sind, deren Berücksichtigung uns - wie es scheint - erst in die Lage versetzen wird, die endgültige Konzeption der Erkenntnistheorie zu formulieren.

Diese Methode hat für die Psychologie zuerst Franz Brentano vorgeschlagen. Sie wurde bei uns [in Polen] von K. Twardowski übernommen. Im Ausland hat sie u.a. E. Husserl auf Untersuchungen in verschiedenen Gebieten angewendet, vor allem in seinen Logischen Untersuchungen, Ideen I.

1900 (vgl. die Einleitung zur I. und II. Ausgabe) und später in den

§ 25. Einwände gegen die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

263

§ 2 5 . Einwände gegen die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie a) Der Einwand einer zu engen Bestimmung ihres Forschungsgebiets Einen ähnlichen Einwand habe ich schon gegen die psychophysiologische Erkenntnistheorie gerichtet. Er lautet wie folgt: Das Forschungsgebiet, das a) mein reines Ich, b) meine Erkenntnisergebnisse, c) Phänomene (in diesen Erlebnissen vermeinte Gegenstände) und d) Erkenntnisbeziehungen zwischen b) und c) umfaßt, ist zu eng umgrenzt, weil es [die folgenden Elemente] nicht mit einbezieht: 1. verschiedene von meinem reinen Subjekt in gewissen Erkenntniserlebnissen gewonnene Erkenntnisergebnisse, also vor allem kategorische oder Existenzialurteile (Sätze im logischen Sinne, Aussagen), und zwar einerlei, ob wir annehmen, daß diese Urteile in den entsprechenden Erkenntniserlebnissen nur entdeckt werden oder daß sie deren intentionale Erzeugnisse ausmachen; 2. die grundlegenden Kategorien oder Erkenntniswerte, die uns bekannt sein müssen, wenn wir in die Beurteilung des Wertes der in gewissen meiner Erkenntniserlebnisse von meinem reinen Ich gewonnenen Erkenntnis eintreten. Weder die Erkenntnisergebnisse (Urteile) noch die Kategorien und Erkenntniswerte sind Elemente, die oben ins Forschungsgebiet der so verstandenen Erkenntnistheorie eingeordnet wurden. Daß sie weder mein Ich noch die Gegenstände sind, deren Erkennen oder Erkenntnis in der Erkenntnistheorie zu betrachten ist, scheint evident und erfordert wohl keine nähere Begründung. Sind sie aber nicht etwas, was meinen Erkenntniserlebnissen selbst zugehört? Es liegt der Gedanke nahe - der ja von den Psychologisten mehrfach ausgesprochen wurde - , sie seien einfach gewisse konkrete Inhalte unserer (meiner) Denkakte: des Denkens gewisser Sätze oder Urteile. Schon bei der Besprechung der Einwände gegen die psychophysiologische Erkenntnistheorie habe ich jedoch festgestellt, daß dieser Versuch, das Erkenntnisergebnis (das Urteil) mit dem konkreten Inhalt eines oder mehrerer Erkenntniserlebnisse gleichzusetzen, nicht zu halten ist. Denn man kann, besonders in der Erkenntnistheorie, auf die Unveränderlichkeit des Inhalts (Sinngehalts) der Urteile

264

///. Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

(Sätze im logischen Sinne) im Gegensatz zur fließenden und vorübergehenden Natur von konkreten Inhalten der Erkenntniserlebnisse nicht verzichten. Dabei ist es egal, wie wir diesen Inhalt verstehen: ob als Inhalt der in einem denkmäßigen oder erfahrungsmäßigen (z.B. wahrnehmungmäßigen) Erkenntnisakt beschlossenen Meinung (Intention) selbst oder als ein beim Wahrnehmen eines Dinges passiv erlebtes Empfindungsdatum. Die von mir gedachten Urteile oder Sätze entstehen nicht erst mit meinem Denken; sie vergehen auch nicht mit diesem, als ob sie - wie die Erlebnisse selbst - in die Vergangenheit versänken, noch verändern sie sich während des Denkens von ihnen, das eine bestimmte, wenngleich nur sehr kurze Zeit dauern kann und dabei Veränderungen und verschiedene Schwankungen seines konkreten Inhalts erfährt. Urteile oder Sätze stellen sich als etwas dar, das über die Zeit, über unsere konkreten Erlebnisse erhaben, im Verhältnis zu diesen transzendent ist; und nur als solche können sie mit ihrem identisch selben Inhalt mehrere Male gedacht werden. Sie gehen also eo ipso über das oben abgesteckte Forschungsgebiet der "phänomenologischen" Erkenntnistheorie hinaus. Man kann es jedoch nicht unterlassen, sie in der Erkenntnistheorie mit zu berücksichtigen. Denn gerade sie bilden das Hauptthema des Interesses der Erkenntnistheorie, gerade um sie handelt es sich in erster Linie, wenn wir fragen, ob die in diesen oder jenen Erkenntniserlebnissen gewonnene Erkenntnis einen Wert besitze und wenn ja, welchen. Der identisch bleibende und unveränderliche Sinn, den sie in sich schließen - wobei zu diesem Sinn hier ebenfalls die Behauptungsfunktion des Urteils zu rechnen ist - soll in der Erkenntnistheorie unter einem besonderen Aspekt bewertet werden: nämlich im Hinblick darauf, in welcher Bedeutung und inwiefern diese Urteile "wahr" sind. Dafür müssen sie nicht nur in der erkenntnistheoretischen Untersuchung in ihrem identische bleibenden Sinn verstanden, sondern auch irgendwie (wenn das möglich ist - wie?) mit einem Gegenstand oder einer Wirklichkeit konfrontiert werden, die sie zu entdecken und zu "beurteilen" beanspruchen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß man von einem Erkenntnisergebnis auch dann sprechen kann, wenn es in Form eines Urteils noch nicht gefaßt worden ist. Es ist also nicht ausgeschlossen, daß ein Erkenntnisergebnis schon ein Resultat eines Wahrnehmungsvorgangs ist, das von uns in der Wahrnehmung selbst gedacht wurde, ehe wir es noch in ein entsprechend formuliertes Urteil zu fassen vermochten oder brauchten. Doch auch dann muß jenes vorprädikative,

§ 25. Einwände gegen die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

265

aus einer Wahrnehmung (oder einer Mannigfaltigkeit von Wahrnehmungen) herauswachsende Erkenntnisergebnis als ein festgelegter, unveränderlicher, identisch bleibender Sinn erfaßt werden, der von uns irgendwie verstanden wird. Und er muß schon als solcher irgendwie mit dem Gegenstand selbst konfrontiert werden, der von uns wahrgenommen wurde und sich uns in dieser Wahrnehmung darstellte. Auch in diesem Fall können wir also bei erkenntnistheoretischen Erwägungen auf die Berücksichtigung eines Erkenntnisergebnisses - nennen wir es "wahrnehmungsmäßiges" Erkenntnisergebnis - nicht verzichten und die Beurteilung seiner "Wahrheit" oder "Objektivität" nicht unterlassen. Wenn wir aber anerkennen, daß das Erkenntnisergebnis - sei es als ein Urteil, sei es als ein in einem Wahrnehmungsprozeß gewonnener und einen Gegenstand (Ding, Prozeß) bestimmender Sinn - gegenüber allen Prozessen, in denen es gedacht wird, transzendent bleibt, dann stoßen wir dadurch auf eine neue Schwierigkeit. Es entsteht nämlich [erstens] die Frage, auf welche Weise wir den vollen Inhalt des Satzes im logischen Sinne bzw. den vermeinten Sachverhalt erkennen (verstehen), und zweitens, welchen Erkenntniswert dieses Verstehen des Sinnes oder Inhalts des Satzes im logischen Sinne besitzt. Dürfen wir ohne kritische Durchprüfung des Verstehensaktes seinen positiven Wert annehmen oder gelten lassen, d. h. [die Tatsache], daß wir diesen Sinn richtig verstehen, oder allgemeiner gewendet, daß wir Sinne dieser Art überhaupt richtig verstehen können? Diese Frage ist jedenfalls durch die hier angegebene Bestimmung der deskriptiv-phänomenologischen Erkenntnistheorie nicht geklärt, und man weiß nicht, auf welche Weise sie im Rahmen der so konzipierten Erkenntnistheorie entschieden werden kann und insbesondere ob hier nicht die Gefahr eines regressus in infinitum droht. b) Der Einwand einer zu einseitigen Verstehensweise der Forschungsmethode der deskriptiv-phänomenologischen Erkenntnistheorie Es scheint, daß die für die so verstandene Erkenntnistheorie postulierte Verwendung ausschließlich der deskriptiven Methode nicht befriedigend ist. Denn was kann man mit Hilfe dieser Methode erreichen? Eine Beschreibung kann uns nur dann Wissen darüber verschaffen, welche anschaulich gegebenen Eigenschaften eines Dinges dieses charakterisieren, wenn wir die Ver-

266

III. Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

wendung von Hypothesen und kausal-genetischer Analyse vermeiden. Das kann uns in vielen Fällen befähigen, Beschaffenheit und Aufbau eines Gegenstandes (insbesondere eines Bewußtseinserlebnisses) anschaulich zu verstehen, sofern er überhaupt einer anschaulichen Erkenntnis zugänglich ist und in dieser seine Wesensnatur zeigt. Das kann gewiß als eine Vorbereitung ζ. B. für weitere genetische Untersuchungen dienen. Wir können nämlich dadurch eine Ausgangssituation festlegen, um die Frage zu stellen, was für Ursachen zu diesem anschaulichen Antlitz eines Gegenstandes beigetragen haben. Das scheint aber schon dann unbefriedigend, wenn es sich darum handelt, ob der anschaulich gegebene Komplex gewisser Züge (die für den gegebenen Gegenstand eventuell sogar kennzeichnend sind) uns immer auf hinreichende und genügend sichere Weise über dessen eigene Natur Aufschluß gibt. Es erhebt sich nämlich die Frage, ob diese Natur nicht vielleicht gerade versteckt und speziell durch seine anschaulich zugänglichen charakteristischen Züge verdeckt ist, ob also nicht in gewissen Fällen gerade dieses anschaulich erfaßbare und beschreibbare Antlitz des Gegenstandes uns den Erkenntniszugang zu dessen eigener origineller Natur abschneidet, ja schlimmer noch, uns dadurch irreführt, daß es uns Gegebenheiten vermittelt, die uns über dessen Natur falsch informieren. Dieses Problem ließe sich auf eine für die Problematik der psychophysiologischen Erkenntnistheorie günstige Weise lösen, wenn man festlegte, daß sie sich auf die Untersuchung solcher Entitäten beschränkt, die sich auf jenes - wie ich mich bildlich ausgedrückt habe - "anschauliche Antlitz" reduzieren, mithin kein verborgenes Inneres, keine durch dieses "Antlitz" verdeckte Natur haben und nichts als ein Bestand an anschaulich und unmittelbar gegebenen charakteristischen Zügen sind. Man könnte sagen, daß es sich gerade so und nicht anders mit "meinen" Erkenntniserlebnissen und mit meinem reinen Ich verhalte. Verhält es sich aber tatsächlich auch mit den Erkenntnisgegenständen so, nur so genommen, wie sie vermeint sind und das intentionale Korrelat einer Mannigfaltigkeit von Erkenntnisakten ausmachen? Und wie ist es mit den Beziehungen zwischen Erkenntnisakten und deren Gegenständen, und zwar Gegenständen, die seinsautonom und unabhängig von den Akten selbst sind? Dürfen wir im voraus annehmen, daß sich ihre ganze Natur in den anschaulich zugänglichen charakteristischen Zügen erschöpft? Daß die Aufdeckung ihrer Natur uns nicht dazu nötigt, irgendwelche rein gedanklichen

§ 25. Einwände gegen die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

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Hypothesen zu akzeptieren, die sich an der anschaulichen, unmittelbaren Erkenntnis nicht prüfen läßt? Es stellt sich aber noch eine andere - wie es scheint - wesentliche Frage. Worum handelt es sich nämlich letzten Endes in den erkenntnistheoretischen Untersuchungen? Geht es nur darum, in einer deskriptiven Untersuchung einzusehen, wie mein Erkennen verläuft, mit welchen anschaulichen Zügen mein erkenntnismäßiges Erleben und das, was darin als sein Gegenstand bestimmt ist, sich mir darstellt? Darum also, wie das tatsächlich vor sich geht? Es handelt sich ohne Zweifel darum und vielleicht sogar in erster Linie darum. Denn solange wir das nicht wissen, wissen wir im Grunde nicht, wovon die Rede ist, wenn das Erkennen, sein Gegenstand und dessen Erkenntnis zur Diskussion stehen. Das aber ist nur ein Anfang, eine Vorbereitung der Grundlagen für die Diskussion über die eigentliche und wichtigste, vielleicht einzig wichtige Frage. Dies ist nämlich die Frage, ob man beim Vollzug soundso gearteter Erkenntniserlebnisse, die sich auf durch sie soundso bestimmte Gegenstände beziehen, eine Erkenntnis dieser Gegenstände erlangt. Drehe ich mich dabei nicht ausschließlich in der Sphäre gleichsam meiner eigenen Einbildungen, die nur sonderbarerweise bei mir die Überzeugung erwecken, es seien keine Einbildungen, sondern eine autonome Wirklichkeit zeige sich uns in ihrem eigenen originalen Antlitz und die Originalität (Getreusein) dieses Antlitzes verbürge uns das sich gerade so abspielende Erkennen? Es handelt sich also, wie ich mich ausgedrückt habe, um die Ermittlung des wahren Wertes der auf diesem Weg gewonnenen Erkenntnis. Kann uns darüber ein deskriptiver Bericht über das tatsächlich vorkommende Erkenntniserlebnis belehren? Muß hier nicht eine ganz andere Forschungsmethode befolgt werden, die zu einer Beurteilung des Wertes des erlangten Erkenntnisergebnisses führen würde? Das wäre jedenfalls nicht möglich, ohne daß der Sinn dieses Wertes, d. h. vor allem die grundlegenden Erkenntniskategorien wie "Wahrheit" oder "Objektivität", "Begründung", "Wahrscheinlichkeit" usw. geklärt würden. Eine solche Klärung kann uns eine deskriptive Analyse der Erkenntniserlebnisse für sich allein nicht verschaffen. Solange wir aber diese Kategorien nicht kennen oder nicht verstehen, wissen wir eigentlich nicht, wonach wir fragen, wenn wir den Wert des gewonnenen Erkenntnisergebnisses zu beurteilen haben.

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III. Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

c) Kann die phänomenologische deskriptive Erkenntnistheorie eine Wissenschaft sein, die eine Kritik des Wertes aller wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnis möglich macht? Die deskriptive Phänomenologie aller früher aufgezählten Elemente des Forschungsgebiets der Erkenntnistheorie könnte uns Wissen über meine sich einmalig vollziehenden Erkenntniserlebnisse, deren vermeinte Gegenstände und über die in jedem einzelnen Fall von Erkennen vorliegenden Erkenntnisbeziehungen zwischen Erkenntniserlebnis und dessen Gegenstand vermitteln. Sie würde einen Bericht über das sich tatsächlich vollziehende Erlebnis erstatten und eine Anzahl von individuellen Sätzen über einzelne Erlebnisse liefern, die sich in ihrer Individualität nicht mehr ein zweites Mal wiederholen können. Sie wäre also eine Art Geschichtslehre von einmaligen, unwiederholbaren Tatsachen, doch das Wissen von diesen Tatsachen, wäre es auch noch so vollkommen und unzweifelhaft wäre, könnte uns nichts nützen, wenn es um meine künftigen Erkenntnisse und erst recht, wenn es um fremde Erkenntniserlebnisse und darin gewonnene Ergebnisse ginge. 25 Von der Erkenntnistheorie muß man verlangen, daß ihre Erkenntnisergebnisse, insbesondere ihre Sätze, streng allgemein sind, d. h. nicht nur auf all diejenigen Fälle des Erkennens zutreffen, die tatsächlich stattfinden, sondern auch für jene gelten, die grundsätzlich möglich sind, einerlei, von wem sie vollzogen werden. Sie müssen auch Allgemeingültigkeit für alle [entsprechend] qualifizierten Subjekte haben. Soll schließlich die Erkenntnistheorie eine abschließende und unbezweifelbare Beurteilung des Wertes aller möglichen Arten von Erkenntnissen abgeben, so müssen ihre Sätze - sowohl diejenigen, in denen diese Beurteilung ausgesprochen wird, als auch jene, auf denen diese Beurteilung beruht - entweder sich selbst auf eine direkte, absolut evidente Er-

Gewiß, auch die Aufdeckung der in einem solchen individuellen Fall vorliegenden Situation macht eine wichtige Aufgabe aus, wenn z.B. die Beobachtung ein Experiment betrifft und wenn wir prüfen wollen, ob gerade diese Beobachtung uns darüber richtig belehrt hat, was sich im gegebenen Experiment gerade abspielte. Es handelt sich in diesem Fall um die Kontrolle eines individuellen Erkennens. Die Untersuchungen solcher individuellen, tatsächlich vorkommenden Erkenntnisse gehören zu einem der Teilgebiete der Erkenntnistheorie (der epistemologischen Untersuchungen), das ich die Metaphysik nennen werde. Darüber später. Diesen Untersuchungen muß jedoch eine Vorbereitung vorangestellt werden, in der streng allgemeine erkenntnistheoretische Sätze festzulegen sind.

§ 25. Einwände gegen die deskriptiv-phänomenologische

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kenntnis stützen oder aber ebenfalls eine derartige Begründung besitzen, die nicht berechtigterweise bezweifelt werden kann. Kann die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie diesen verschiedenen Erfordernissen genügen, zumal wenn man beachtet, daß sie - wenigstens bis zu einem gewissen Zeitpunkt - auf das Erkennen ausschließlich meiner eigenen Erkenntniserlebnisse und der ihnen zugehörigen unentbehrlicher Faktoren beschränkt ist? Es melden sich hier verschiedene Bedenken an, deren Berücksichtigung uns dazu zwingen wird, diese bereits zweite Auffassung der Erkenntnistheorie zu verwerfen und durch eine weitere zu ersetzen, die schon eine wesentliche Modifikation dieser ausmacht. Zu betonen ist vor allem: Alle individuellen Sätze über verschiedene Erkenntniserlebnisse von mir und über die ihnen zugehörigen Faktoren stellen nur gewisse letzte Tatsachen fest. Sie mögen als ein Beitrag zur Geschichte der menschlichen Erkenntnis in sich selbst recht interessant sein. Sie haben jedoch gar keine Bedeutung für die Erkenntnistheorie, deren richtige Bestimmung wir hier suchen. Es wäre auch so, wenn sie den Charakter gewisser universeller, oder besser, pluraler Sätze hätten, der Art wie die Behauptung, daß viele Denkakte Roman Ingardens im Laufe seines Lebens soundso geartet waren oder auch daß unter seinen Sinneswahrnehmungen diejenigen Gesichtswahmehmungen den Ton angaben, in denen Farbqualitäten von Dingen deutlich hervortraten, während sich diese Gesichtswahmehmungen durch keine große Empfindlichkeit für verschiedene Sättigungen derselben Farben auszeichneten. Sätze dieser Art könnten eine Rolle bei der Charakterisierung der Erkenntnisfähigkeiten Roman Ingardens in einer Lebensperiode spielen (fügen wir ζ. B. hinzu, daß sich in seinem Alter die Deutlichkeit des Hervortretens der Qualitäten von Farben verminderte, während deren Sättigungen differenzierter wurden). Sie könnten eine Bedeutung beim Sammeln empirischer Daten für psychologische oder historische Untersuchungen haben, wären aber ohne Belang innerhalb der Erkenntnistheorie, wenn sie auch eine gewisse "Allgemeinheit" aufweisen würden. Die streng allgemeinen Sätze, die sich für die Erkenntnistheorie eignen, brauchen natürlich nicht alle den ganzen Bereich von Gegenständen zu betreffen, die ihrem Subjektsbegriff bei seinem größtmöglichen Umfang entsprechen würden. So könnten beispielsweise einige von ihnen etwas über jedes Erkenntniserlebnis aussagen, ζ. B. daß jedes solche Erlebnis ein intentio-

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III. Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

naler Akt sei, der das bestimme, worauf er sich beziehe. Die anderen [Sätze] würden dagegen an der Stelle des Subjekts Namen mit einem viel engeren Umfang haben. Sie würden ζ. B. etwas über einige Erkenntniserlebnisse aussagen, mal über Gesichtswahrnehmungen, mal über Gehörswahrnehmungen usw. In jedem dieser Sätze müßte aber - wenn er in die Erkenntnistheorie hineingehören sollte - etwas über jedes Erlebnis dieser Art ausgesagt werden oder dieses müßte auch auf jedes von ihnen angewendet werden können. Und dies [müßte] nicht nur über jedes von meinen Erlebnissen dieser Art [ausgesagt werden], sondern über jedes derjenigen Erlebnisse dieser Art, das ein beliebiges reines Subjekt haben kann. Man muß somit eine Weise auffinden, wie man berechtigterweise über den Bereich ausschließlich meiner Erkenntniserlebnisse (d. h. der Erlebnisse des reinen Subjekts, das gerade Erkenntnistheorie betreibt) hinausgehen kann. Auf der Basis der jetzt in Rede stehenden Konzeption der Erkenntnistheorie scheint das unmöglich. Denn wie immer auch die Erkenntnisart von fremden bewußten (und speziell erkenntnismäßigen) Erlebnissen sein mag 26 , es steht außer Zweifel, daß sie über den Strom "meiner" Bewußtseinserlebnisse hinausreichen. Jede ihre eventuelle Erkenntnis müßte also zu den transzendent gerichteten Erkenntnissen gehören, die wir nicht als glaubwürdig ansehen dürfen, ohne ihre Struktur und ihren Verlauf durchgeprüft zu haben. Die in diesen Erkenntnissen gewonnenen Ergebnisse müssen wir wenigstens vorläufig mir der Klausel erkenntnismäßiger Zurückhaltung versehen, bis wir eine Methode auffinden, ihren Erkenntniswert nachzuweisen. Wie könnte jedoch eine solche Methode auf dem Boden der phänomenologischen deskriptiven Erkenntnistheorie ausfindig gemacht werden? Wir würden auch kein zufriedenstellendes Ergebnis erreichen, wenn wir versuchten, allgemeine Sätze über Erkenntniserlebnisse überhaupt oder über eine bestimmte Spezies derselben auf dem Weg der sog. induktiven Verallgemeinerung zu erlangen, von der - wenigstens einer verbreiteten Meinung nach - die Naturwissenschaften Gebrauch machen. Gleichgültig aber, ob sie 9 Es gibt bekanntlich viele verschiedene Theorien zu diesem Thema, wie die Theorie des Schließens per analogiam, die Theorie der (übrigens sehr unterschiedlich begriffenen) "Einfühlung", die Theorie der Nachahmung usw. Ziemlich populär ist auch die Behauptung, man könne die fremden Bewußtseinserlebnisse gar nicht erkennen. Keine dieser Theorien ist auf befriedigende Weise ausgearbeitet. Ich werde noch darauf zurückkehren.

§ 25. Einwände gegen die deskriptiv-phänomenologische

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sich tatsächlich solcher Verallgemeinerung bedienen und tatsächlich mit dem Sammeln von individuellen Sätzen beginnen, ist für uns die Ansicht nicht ohne Bedeutung, daß ein derartiges Verfahren zwar zu allgemeinen Sätzen führe, daß aber diese, sofern sie den ganzen Umfang ihres Subjektbegriffs umfassen, über die Grenzen der in der Erfahrung wirklich überprüften individuellen Tatsachen immer hinausgingen. Die auf diesem Weg erlangten Ergebnisse berechtigen uns nicht zu dieser Überschreitung. Folglich sind Sätze dieser Art nicht hinlänglich begründet. Nicht überzeugend ist auch die manchmal ausgesprochene Behauptung, daß sie "nur wahrscheinlich" und nicht "wahr" seien und daß ihre Wahrscheinlichkeit in dem Maße steige, wie sich der Bereich der in der Erfahrung überprüften Tatsachen vergrößere. Die neuerdings unternommenen Versuche, die mit Hilfe unvollständiger Induktion gewonnenen allgemeinen Sätze zu "rechtfertigen", haben bis jetzt zu keinen schlüssigen Resultaten geführt. Wir haben kein Recht, alle diese Thesen von der induktiven Genese der allgemeinen Sätze oder von deren steigender Wahrscheinlichkeit anzunehmen, denn wir würden dadurch das hier aufgestellte Postulat übertreten, [das uns gebietet,] gegenüber den Erkenntnissen, die sich auf transzendente, ursprünglich in der Sinneswahrnehmung zur Gegebenheit kommende Gegenstände beziehen, eine streng zurückhaltende Haltung einzunehmen. Auch wenn es in derartigen Sätzen um die Eigenschaften von Bewußtseinserlebnissen ginge, von denen einige gelegentlich in den "immanenten" Wahrnehmungen gegeben wären, so bliebe doch die überwiegende Mehrheit von allen ζ. B. Gesichtswahrnehmungen außer Reichweite meiner effektiven immanenten Wahrnehmung. In diesem Sinne würden also diese Sätze auf transzendente Gegenstände gehen. Die Bedenken, die bei uns die angeführten Ansichten über die empirische und induktive Genese der allgemeinen Sätze erwecken, gebieten es uns aber, bei der Bestimmung einer solchen Konzeption der Erkenntnistheorie, die selbst empirisch-induktive Methoden befolgen sollte, mit Vorsicht vorzugehen. Sätze mit einem wechselnden Wahrscheinlichkeitsgrad würden sich jedenfalls als Grundthesen der Erkenntnistheorie nicht eignen. Und wenn in bezug auf die Erkenntniserlebnisse nur allgemeine Sätze dieser Art gewonnen werden könnten, dann wäre Erkenntnistheorie - ob die phänomenologisch-deskriptive oder eine andere - nicht möglich.

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III. Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

Man muß dabei beachten, daß diejenigen Sätze über meine Erkenntniserlebnisse, die einen unzweifelhaften Erkenntniswert (eine Begründung) besitzen, sich ausschließlich auf das von mir aktuell vollzogene Erlebnis beziehen können, das im Augenblick, in dem ich diesen Satz ausspreche, mir - wie Husserl sagt - in der immanenten Wahrnehmung gegeben ist. Es sind dies also immer individuelle Sätze. Wenn ich aber etwas kategorisch über viele meiner Erlebnisse einer gewissen Art, z. B. über meine Gesichtswahrnehmungen, behaupten will, muß diese Behauptung auch diejenigen Erlebnisse von mir mit umfassen, die schon vergangen sind oder sich erst in der Zukunft abspielen sollen. Ich muß mich also auf die Wiedererinnerung oder auf die Voraussicht berufen. Wie immer aber auch dieses Sicherinnern an meine vergangenen (und das Voraussehen der künftigen) Erlebnisse verlaufen mag und welchen Wert auch immer die darin gewonnene Erkenntnis besitzt, gehört doch mein vergangenes Erlebnis, insofern es wirklich mein Erlebnis ist, zwar zu demselben Bewußtseinsstrom wie mein gerade aktuelles Erlebnis, geht jedoch wieder über den vollen Gehalt des letzteren hinaus und ist daher gegenüber der aktuell vollzogenen Erinnerung transzendent. Seine in dieser Erinnerung gewonnene Erkenntnis muß somit im Rahmen der phänomenologischen Erkenntnistheorie mit der Klausel erkenntnismäßiger Zurückhaltung versehen werden, wenigstens solange der Erkenntniswert der Erinnerung eigener Erlebnisse nicht ermittelt wird. Das gleiche gilt für das Voraussehen meiner Erlebnisse. Eine induktive Begründung der allgemeinen Sätze über meine Erlebnisse läßt sich also auf der Basis der Erkenntnistheorie von dem in Rede stehenden Typus nicht bewerkstelligen. Denn man kann nie feststellen, ob meine jetzige (visuelle) Wahrnehmung in einer bestimmten Hinsicht gleich ist wie irgendeine der vergangenen Wahrnehmungen derselben Art. Nicht einmal die Identität der gegebenen Art läßt sich von diesem Standpunkt aus nachweisen. Zum Schluß: Sogar die Behauptung selbst, daß alle allgemeinen Sätze von empirisch-induktivem Charakter den oder jenen Wahrscheinlichkeitsgrad haben, müßte, um sich für die Erkenntnistheorie zu eignen, unbedingte, vollendete Allgemeinheit und absolute Sicherheit, nicht aber nur eine größere oder kleinere Wahrscheinlichkeit aufweisen. Man müßte jedenfalls nach einer anderen Methode der Gewinnung von streng allgemeinen Sätzen Umschau halten, [nach einer Methode,] die die wirkliche Wahrheit dieser Sätze

§ 25. Einwände gegen die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

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gewährleisten könnte. Es wäre auch nicht möglich, sich in der Erkenntnistheorie allgemeiner Sätze zu bedienen, deren Subjekte Begriffe (Namen) mit einem im Laufe der Forschung variierenden Anwendungsumfang wären, die diese Variabilität ihres Umfangs nie loswerden könnten. Es scheint aber, daß in den empirischen Untersuchungen, die aus dem Sammeln und Zusammenstellen von in den Sinneswahrnehmungen gewonnenen Ergebnissen bestehen, der Umfang des Subjektsbegriffs der empirischen allgemeinen Sätze mit der Erweiterung der Klasse von den in der Wahrnehmung dieser Art wirklich gegebenen und überprüften Fällen auch eine Ausweitung erfährt; oder daß er umgekehrt - dadurch enger wird, daß eine Klasse von Gegenständen, die anfänglich für ein und dieselbe Art gehalten wurde, in zwei Klassen zerfällt, die zwei verschiedenen Arten entsprechen. Will man das bestätigen, so genügt es, sich in dieser Angelegenheit Auskünfte aus der Geschichte von einzelnen Erfahrungswissenschaften einzuholen, um von derartigen Umfangsverschiebungen der einzelnen Allgemeinbegriffe zu erfahren, die in diesen Wissenschaften in verschiedenen Zeitperioden verwendet wurden. Damit hängt noch eine Gefahr zusammen, die, wenn sie im Bereich der erkenntnistheoretischen, und zwar gemäß der Methode der deskriptiven Phänomenologie "meiner" einzelnen Erkenntniserlebnisse geführten Untersuchungen tatsächlich auftauchen sollte, die Möglichkeit einer prinzipiell einwandfreien Erkenntnistheorie ebenfalls wesentlich in Frage stellen würde. Es handelt sich nämlich um die Gefahr der Unschärfe der Umfangsgrenzen von Allgemeinbegriffen, der Unschärfe, die nicht an der Mangelhaftigkeit der Sprachgebilde (der allgemeinen Namen) selbst liegt, sondern im Charakter der (sinnlichen) Erfahrung und in den Eigenschaften der darin gegebenen Gegenstände begründet ist. Bei zahlreichen, wenn nicht allen Qualitäten, die an den uns sinnlich präsentierten Gegenständen auftreten und eine Grundlage dafür abgeben, Gegenstände einer Art von solchen einer anderen Art abzugrenzen, liegen nämlich kontinuierliche Übergänge von einer Qualität zu einer anderen vor, so daß es unmöglich ist, die Verschiedenheit der einen Qualität von der anderen scharf festzulegen, wenn eine rein qualitative Betrachtungsweise der gegebenen Gegenstände beibehalten werden soll. Es wird im allgemeinen die Meinung vertreten, man müsse in diesem Fall eine Erkenntnis heranziehen, die auf quantitative Unterschiede zwischen Gegenständen Rücksicht nimmt. Dann stellt sich aber die Schwierigkeit ein - die übrigens

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111. Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

gewöhnlich ignoriert wird - , wie sich die qualitativen Gegebenheiten streng und scharf den quantitativen zuordnen lassen. Es fragt sich auch, ob diese Feststellung der quantitativen Unterschiede nicht notwendig auf den qualitativen Unterschieden zwischen Gegenständen basieren muß. Es scheint also, daß ein Versuch, auf empirischem Weg Allgemeinbegriffe mit scharfen Umfangsgrenzen zu bilden, besondere Schwierigkeiten bereitet, die in die erkenntnistheoretischen Betrachtungen jenes spezielle Charakteristikum von empirischen allgemeinen Urteilen hineintragen müßte, das einen prinzipiellen und schwerlich behebbaren Fehler dieser Betrachtungen ausmachen würde. In dieser Situation stellt sich die deskriptive phänomenologische Erkenntnistheorie als unfähig heraus, uns Erkenntnisergebnisse der Art zu liefern, die wir von ihr fordern sollen. Man muß somit eine anders bestimmte Erkenntnistheorie suchen. Zur Verwerfung der schon besprochenen Konzeption hat uns der Umstand veranlaßt, daß man in der Erkenntnistheorie auf die Gewinnung von streng allgemeinen Sätzen über ihre Forschungsgegenstände nicht verzichten kann, von Sätzen, die völlig begründet und nicht bloß wahrscheinlich sind, wie sie im Ausgang von individuellen Beschreibungen einzelner Erkenntniserlebnisse und unter Verwendung der Methode der unvollständigen Induktion gewonnen werden könnten. Wenn es uns gelingt, einen anderen Weg ausfindig zu machen, auf dem streng allgemeine Sätze über Forschungsgegenstände der Erkenntnistheorie voll begründet werden könnten, dürfen wir darauf hoffen, über die Schwierigkeiten, die uns hier entgegengetreten sind, hinwegzukommen. Dann werden wir aber das Forschungsgebiet der Erkenntnistheorie anders umgrenzen müssen.

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IV.

Kapitel: Die Erkenntnistheorie als die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

§ 26. Das Problem der "eidetischen" Erkenntnis und ihrer Verwendung in der Erkenntnistheorie Die neue Bestimmung der Erkenntnistheorie muß sowohl die Resultate der Diskussion berücksichtigen, die über die psychophysiologische Erkenntnistheorie geführt wurde, als auch die Fehler ausräumen, die bei der deskriptivphänomenologischen Erkenntnistheorie herausgekommen sind. Man muß also bei diesem neuen Bestimmungsversuch die Unentbehrlichkeit der phänomenologischen EPOCHE, d. h. der erkenntnismäßigen Zurückhaltung angesichts aller im transzendenten Erkennen gewonnenen Erkenntnisse1 anerkennen und darüber hinaus das Postulat erfüllen, das sich aus der Notwendigkeit ergibt, den wissenschaftlichen Charakter der Erkenntnistheorie zu erhalten, sowie aus der Funktion, die sie gegenüber allen übrigen Forschungsdisziplinen und insbesondere gegenüber den Einzelwissenschaften ausüben soll. Man muß schließlich ihr Forschungsgebiet in einer Weise abstecken, daß alle Elemente mit einbezogen sind, die überhaupt für die Erörterung des Problems der "Objektivität" der Erkenntnis unentbehrlich sind. Wie kann man ihr Forschungsgebiet derart abgrenzen, daß man in ihrem Rahmen streng allgemeine Sätze über Erkennen und Erkenntnisergebnisse gewinnen kann, Sätze, die es uns zugleich erlauben würden, auf unbezweifelbare Weise mit den Mitteln der Erkenntnistheorie selbst ihren Erkenntniswert (Wahrheit, Objektivität) zu beurteilen, ohne uns auf irgendeine andere Forschungdisziplin berufen zu müssen und zugleich ohne logische Fehler, insbesondere den Fehler einer petitio principii zu begehen? Ein solcher Versuch wurde tatsächlich von E. Husserl unternommen, als er in seinen Ideen zu einer reinen Phänomenologie (1913) die Idee einer reinen transzendentalen Phänomenologie der Erkenntnis darlegte. Husserl bringt übrigens in diesem Werk keine Idee der Erkenntnistheorie vor und setzt es sich auch nicht zum Dieses Postulat müssen wir vielleicht noch genauer fassen.

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse

und deren Korrelate

Ziel, eine solche zu realisieren, als ob er fürchtete, diesen in Mißkredit geratenen Namen zu gebrauchen. Er bemüht sich, eine reine, transzendentale Phänomenologie zu bestimmen und zu realisieren, und läßt sich dabei vom Gedanken leiten, eine einzigartige Seinsregion, das reine Bewußtsein zu entdecken, deren Erforschung er als die Grundaufgabe der Philosophie ansieht. Tatsächlich betrifft jedoch - ungeachtet dieser theoretischen Absichten - die überwiegende Mehrheit seiner Betrachtungen die erkenntnismäßigen Bewußtseinserlebnisse sowie ihre Funktion und Erkenntnisleistung. Er hat auch das Wissen über diese Erlebnisse im Vergleich zu all dem, was darüber früher behauptet worden war, weit vorwärtsgebracht, und es unterliegt keinem Zweifel, daß seine analytischen Untersuchungen letzten Endes darauf abzielen, die Probleme zu klären, die sich um die Frage nach der "Objektivität" der Erkenntnis und deren spezieller Arten angehäuft haben. Wenn er Betrachtungen über das "reine" transzendentale Bewußtsein ankündigt, läßt Husserl zwei Typen ihrer Untersuchung zu: 1. Untersuchungen über einzelne individuelle Erlebnisse, die er als "Irrealitäten" bezeichnet 2 , 2. Untersuchungen über deren "Wesen", die in der "eidetischen" Erkenntnis oder - wie er sich auch ausdrückt - in der "Wesensschau" durchgeführt werden; letztere bezeichnet er öfter mit dem Terminus "Erkenntnisse

a priori".

Diese zweite Erkenntnis-

weise soll in der reinen und transzendentalen Phänomenologie verwendet werden. Sie soll der empirischen, aposteriorischen Erkenntnis gegenüber-

Vgl. Husserl, Ideen I, S. 4 - 5 [(Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 6-7)]. An Stelle der älteren Gegenüberstellung von "Realem" und "Idealem" führt Husserl zwei andere Unterscheidungen ein: a) die Unterscheidung "Tatsache" - "Wesen" und b) die Unterscheidung zwischen "Realem" und "Irrealem". Im letzteren Fall handelt es sich um eine Differenzierung innerhalb des zeitlich bestimmten individuellen Seins. Dabei wird das reine Bewußtsein als ein Seiendes betrachtet, das individuell und zeitlich bestimmt, aber irreal ist - keinen Bestandteil der realen Welt ausmacht. Die Bestandteile der realen Welt sind ebenfalls individuell und zeitlich bestimmt, zugleich aber in der transzendenten Erkenntnis geeben. Die reinen Bewußtseinserlebnisse können dagegen entweder als "singulare Einzelheiten" immanent gegeben sein und in ihrer Zeitlichkeit und Faktizität aufgefaßt werden, oder sie können in ihrem "Wesen", d.h. in der Art der "eidetischen" Erkenntnis betrachtet werden. Husserl fügt aber hinzu: "Inwiefern jedoch transzendentale Phänomene als singulare Fakta einer Forschung zugänglich sind, und welche Beziehung eine solche Tatsachenforschung zur Idee der Metaphysik haben mag, das wird erst in der abschliessenden Reihe von Untersuchungen seine Erwägung finden können." L.c. S. 5 [Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 7].

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

III

gestellt werden, die sich einfach auf gewisse individuelle Gegenstände in deren voller zufälliger Ausstattung zu beziehen hat. Alle diese Termini denen noch der von Husserl anfänglich verwendete Terminus "Ideation" hinzuzufügen ist 3 - kamen Husserl eindeutig und genügend informativ vor. Husserl distanzierte sich auch nicht ausdrücklich genug vom herkömmlichen, seit Kant aber mit einer speziellen Bedeutung behafteten Terminus "Erkenntnis a priori".4 Dieser Umstand hat zu vielen Mißverständnissen und Angriffen auf Husserls Standpunkt in dieser Frage Anlaß gegeben. Deswegen müssen wir, obwohl wir die Kantische Auffassung der Erkenntnis a priori hier nicht benutzen können, sie, wenn auch nur in aller Kürze, besprechen. Andererseits scheint auch das, was Husserl zur "eidetischen" Erkenntnis und zum "Wesen" des Gegenstandes gesagt hat, unzureichend zu sein und erfordert eine kritische Beleuchtung und Ergänzung. a) Die Erkenntnis a priori bei Kant und die Erkenntnis a priori nach Husserl Kants Gegenüberstellung von Erkenntnis a priori und Erkenntnis a posteriori soll zwar dem Unterschied zwischen den "Wissenschaften der Vernunft" mathematischer Art und den "empirischen" Wissenschaften von den Naturtatsachen entsprechen; sie hängt aber gleichzeitig zusammen mit einer besonderen Theorie von verschiedenen Erkenntnisvermögen des "Gemüts", wie Sinnlichkeit, Verstand und Vernunft, und von den durch diese Vermögen ausgeübten Funktionen, mit einer Theorie also, die im Grunde eine genetische Theorie ist, obwohl Kant das vielleicht nicht zugeben würde. Im Hinblick auf diese Theorie kann ich hier in meinen Betrachtungen über die Erkenntnisweise, die in der Erkenntnistheorie anzuwenden wäre, Kants Verständnis der "Erkenntnis a priori" nicht annehmen. Ich werde mich vielmehr bemühen, dieses Verständ-

Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. II, Unters. V und VI passim. Auch "ideierende Abstraktion", "kategoriale Anschauung", "allgemeine Anschauung". Er sagt zwar in den Ideen I, daß sein Begriff "Wesensschau" sich vom überlieferten Begriff "a priori" unterscheide, erklärt aber nicht, worin dieser Unterschied besteht. Denn er präzisiert weder den Kantischen Begriff a priori, noch gibt er den Grund an, warum er sich dieses Terminus nicht bedienen will, noch schließlich - schlimmer noch - legt er klar genug seinen eigenen Begriff der "Wesensschau" dar. Darüber werde ich noch sprechen. [Vgl. E. Husserl, Ideen I, S. 6 (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 8).]

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

nis dem Begriff der Erkenntnis des "Wesens des Gegenstandes" sowie der eidetischen Erkenntnis der Wesenheiten und Ideen gegenüberzustellen. Kants Theorie hängt dabei mit einer besonderen Betrachtungsweise der erkenntnistheoretischen Probleme zusammen, die man gewöhnlich als "transzendentale Methode" bezeichnet. Nach Kant selbst soll sein Standpunkt vielmehr durch diese Methode gekennzeichnet sein als durch den erwähnten genetischen Aspekt, der sich aber letztlich dennoch aufdrängt, wenn wir Kants Betrachtungen bis zu Ende durchdenken. In diesem letzten Aspekt stellt sich auch diese Theorie als zweideutig heraus. Es gibt in der Kritik der reinen Vernunft viele Stellen, die daraufhinzuweisen scheinen, daß Kants Rede voñ den grundlegenden Erkenntnisvermögen sich auf den Menschen und nur auf den Menschen bezieht, der von anderen möglichen Erkenntnissubjekten unterschieden wird. 5 Es liegen aber in der Kritik der reinen Vernunft auch Äußerungen vor, in deren Licht Kant danach zu streben scheint, einen Komplex von verschiedenen Faktoren in der Erkenntnis jedes Erkenntnissubjekts überhaupt herauszuarbeiten. Das versuchen speziell die Neukantianer der Marburger Schule (vor allem Hermann Cohen und Paul Natorp) zu begreifen und zu belegen. Im ersten, sozusagen anthropologischen Verständnis gehöre es zur Natur des Menschen im allgemeinen, daß in seiner Erkenntnis zwei Formen der Anschauung bzw. der Sinnlichkeit, Zeit und Raum 6 und dazu noch eine bestimmte Anzahl (zwölf) von ursprünglichen Formen der Verstandestätigkeit, sog. Kategorien, angewendet würden (oder werden müßten). Im zweiten, sozusagen erkenntnistheoretischen, transzendentalen Verständnis gehöre es zur Natur jedes Erkenntnissubjekts überhaupt, ebensogut des Menschen wie irgendeines anderen Vernunftwesens, Gottes usw., daß in seiner Erkenntnis die genannten Anschauungsformen und Kategorien als ursprüngliche, reine "Verstandesbegriffe" angewendet werden müßten. 7 Eben darum, weil diese Eine solche Deutung der Kritik der reinen Vernunft versuchte - übrigens nicht als einziger - M. Heidegger in seinem Buch Kant und das Problem der Metaphysik [Bonn 1929] zu begründen. Kant drückt sich tatsächlich auf diese Weise aus: Raum und Zeit. Es scheint, daß diese beiden Gruppen von "Formen" in jeder Erkenntnis verwendet werden müssen. Wenn wir z.B. ein Ding im Raum wahrnehmen, dann nehmen wir es in den Kategorien und auch in der Zeit wahr, obwohl Kant für diesen Fall ausdrücklich betont, daß das letztere nur mittelbar geschehe, nämlich dadurch, daß sich jede Wahrnehmung als unsere "Vorstellung" ipso facto in der Zeit befinde. Anders sollte es aber vielleicht in der Geome-

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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Formen letztlich zur Natur des Menschen bzw. des Erkenntnissubjekts gehören, würden sie Notwendigkeit und allgemeine Gültigkeit aufweisen und böten die Möglichkeit von Erkenntnissen, die für jeden Fall der Erkenntnis (des Menschen oder jeder Erkenntnis überhaupt) gelten würden. Sie sollen uns somit - wenigstens nach Kant - in unserer Erkenntnis über die bloß "empirischen", durch Induktion gewonnenen und daher auch nur mehr oder weniger wahrscheinlichen Sätze hinausführen und uns in die Lage versetzen, unbedingt allgemeine und absolut sichere (wahre) Sätze zu erlangen. Die Konzeption der Erkenntnis "a priori" sollte die Unterscheidung der "apriorischen", insbesondere mathematischen Wissenschaften von den "empirischen" Wissenschaften festigen. Sie sollte auch zugleich die Grenzen der möglichen apriorischen Erkenntnis abstecken und vor der Überschreitung dieser Grenzen warnen, die - nach Kant - in der herkömmlichen Metaphysik vorkommt. Daher trägt Kants Werk den Titel: Die Kritik der reinen Vernunft. Die apriorischen Formen waren aufjeden Fall (d. h. bei jeder möglichen Interpretation der Kantischen Konzeption des Apriori) ausschließlich mit der Natur des Menschen (oder jedes möglichen Erkenntnissubjekts) verbunden. Sie waren somit - wie es aus Kants Behauptungen hervorzugehen scheint - in keiner Weise mit der Natur der Dinge verbunden, wie sie an sich sind, unabhängig davon, ob sie erkannt werden oder nicht. In diesem Punkt läßt Kants Standpunkt wieder zwei mögliche Interpretationen zu: entweder eine agnostisch-epistemologische oder, wenn man so sagen darf, eine metaphysische. Nach der ersten läßt sich nicht entscheiden, ob die Anschauungsformen und Kategorien den Dingen an sich innewohnen oder nicht, weil wir die Dinge immer unter ihrem Aspekt erkennen müßten und uns von ihrer Verwendung nicht befreien könnten. Nach der zweiten Interpretation sollen die Anschauungsformen und Kategorien den Dingen an sich fremd sein, so daß diese weder räumlich noch zeitlich sind, noch unter den Katego-

trie sein, wo das Auftreten z.B. der geometrischen Figuren in der Zeit nicht in Betracht käe. Die Form der Zeit findet dagegen - wie Kant ausdrücklich bemerkt - ihre Anwendung in der Arithmetik. Die Zeit ist dabei offensichtlich als ein homogenes lineares Kontinuum verstanden, mithin als die physikalische Zeit, von der Bergson später sagen wird, daß sie nichts anderes sei als l'espace, d.h. der Raum. Das ist aber eine andere Frage, auf die wir noch später einmal zurückkommen werden.

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

rien stehen, obwohl sie in der Erkenntnis immer unter ihrem Aspekt auftreten. Die unvermeidliche Verwendung der Anschauungsformen und Kategorien in der Erkenntnis prägt somit den Dingen an sich eine Form auf, die ihnen nicht zukommt. Dadurch werden die Dinge in gewissem Maße verfälscht, obwohl wir nie abschätzen können, wie weit diese Verfälschung reicht. Solange wir die Anschauungsformen und Kategorien verwenden, erlangen wir nur "Erscheinungen", mithin die Dinge, so wie sie sich uns, den Erkenntnissubjekten, darstellen. Unsere Erkenntnis ist notwendigerweise innerhalb der Erscheinungswelt eingeschlossen. Über die Dinge an sich (egal, ob es sich um die Dinge der materiellen Welt oder um die menschlichen Seelen oder ζ. B. um Gott handelt) dürfen wir nichts aussagen. Tun wir das aber trotzdem, dann verfallen wir in Irrtümer, insbesondere in Widersprüche, die sich - wie Kant nachweist-bei näherem Betrachten als Paralogismen herausstellen, weil das, worüber wir [etwas] prädizieren, einmal im Sinne eines Dinges an sich, das andere Mal im Sinne einer Erscheinung auftritt. Wenn wir aber nur innerhalb der Grenzen der "Erscheinungs"welt bleiben, gewinnen wir die Möglichkeit notwendiger und allgemeingültiger Erkenntnis, wie sie z.B. in der reinen Mathematik und der sog. reinen Naturwissenschaft vorliegt, als den Wissenschaften a priori, die die theoretische Grundlage für die empirische Naturwissenschaft abgeben. Wenn wir dagegen versuchen, etwas über Dinge an sich zu behaupten, ergibt sich eine irrtümliche Metaphysik, die zu verwerfen ist. Es ist ziemlich schwierig zu sagen, welche Motive Kant veranlaßt haben, die Theorie der Erkenntnis a priori aufzubauen. Man wiederholt gewöhnlich Kants Andeutung, daß es David Hume war, der ihn "aus dem dogmatischen Schlummer" erweckt habe. Und gewiß hat Kants Lektüre von Humes Untersuchungen hier eine Rolle gespielt. Es ist jedoch wichtiger, sich über die Überzeugungen klar zu werden, die dieser Konzeption zugrunde liegen, Überzeugungen, die Kant zwar zu ihrer Begründung nicht anführt, die sich aber zwischen den Zeilen seiner Ausführungen ablesen lassen. Es sind die folgenden: 1. Es besteht ein prinzipieller Unterschied zwischen den Erfahrungswissenschaften, die ihre Sätze aus den individuellen Sinneswahrnehmungen schöpfen, und den Wissenschaften a priori, d. h. der Mathematik und der theoretischen Naturwissenschaft (z. B. der theoretischen Physik).

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

281

2. Die ersteren Wissenschaften liefern individuelle und allgemeine Sätze (Verallgemeinerungen), die aber immer nur wahrscheinlich sind und durch unvollständige Induktion gewonnen werden; die letzteren liefern uns dagegen streng allgemeine, unbedingt sichere und begründete Sätze. 8 3. Den eigentlich empirischen Faktor in der Erfahrungserkenntnis bilden die sog. "Empfindungen", die infolge der Affektion des Erkenntnissubjekts durch Dinge entstehen ("Dinge affizieren uns" steht gleich am Anfang der Kritik der reinen Vernunft). Eine Erkenntnis, bei der eine solche sinnliche Affektion nicht nötig ist, wie ζ. B. die mathematische Erkenntnis, kommt hingegen ohne Sinneswahrnehmungen aus. An der Erfahrung haben aber die Anschauungsformen und Kategorien teil, die jedoch nicht aus der Erfahrung, d. h. nicht aus der Affektion durch Dinge an sich stammen. Daß die kategorialen Formen (wenigstens einige) "nicht der Erfahrung entstammen" (so wie bei Hume die "impressions" - bei Kant eventuell die "Empfindungen"), darüber war sich Hume im klaren; er leitete sie aber aus der Gewöhnung ab und leugnete ihren Erkenntniswert. Kant dagegen anerkannte sie als apriorische, zum Wesen des Erkenntnissubjekts gehörende Formen und fügte ihnen noch die Anschauungsformen - Zeit und Raum - hinzu, woran Hume gar nicht gedacht hatte. Die sog. "Empfindungen" sind in jedem Fall der Wahrnehmung anders, als eine Resultante der Begegnung der Dinge mit dem Menschen (dem menschlichen Körper). Sie tragen zur Erfahrung die Elemente veränderlicher Eindrücke bei, die einander ähnlich, aber niemals gleich sind. Daher können die auf der Erfahrung beruhenden allgemeinen Sätze nur durch induktive Verallgemeinerung gewonnen werden. Demgegenüber sind die Sätze, die sich auf die apriorischen Elemente der Erkenntnis beziehen - als von der Affektion durch Dinge (an sich) unabhängig - bei allen Erkenntnissubjekten und in jedem Fall der Erkenntnis streng identisch, mithin allgemeingültig. Und da sie durch die Natur des Erkenntnissubjekts (und nicht durch den variablen Gegenstand) bedingt sind, sind sie zugleich auch "notwendig", gleichsam durch die Natur des Subjekts aufgezwungen. Schon Husserl hat in seinen Vorlesungen bemerkt, daß die beiden genannten Merkmale der Erkenntnis a priori (z. B. der mathematischen Erkenntnis)

Kant verwendet zwei Termini: "allgemeingültig" und "notwendig" bzw. "apodiktisch". Was sie bei ihm bedeuten, darauf werde ich noch zurückkommen.

282

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

von Kant bezüglich des Erkenntnissubjekts subjektivistisch (nicht objektivistisch) und bezüglich der subjektiven Bedingungen des Entstehens eines Erkenntnisprozesses psychogenetisch verstanden wurden. Anstatt die Allgemeingültigkeit auf den Gegenstand, auf jedes S (ζ. Β. auf jedes Dreieck) zu beziehen, hat sie Kant auf das Subjekt bezogen: Für jedes Erkenntnissubjekt (jeden Menschen) gelte [der Satz], daß S ρ ist, weil das Subjekt "vor aller Erfahrung" - wie Kant sich mehrfach ausdrückt - durch seine eigene Natur, nicht aber durch die Unvermeidlichkeit des objektiven Zusammenhanges zwischen 5 undp, dazu gezwungen sei, [diesen Satz anzuerkennen]. Daß aber ein Urteil "apodiktisch" sei, heißt für Kant, daß es "mit dem Bewußtsein seiner Notwendigkeit verbunden" [vgl. S. 74] ist, wobei diese Notwendigkeit soviel bedeutet wie das "Genötigtsein"9 durch die dem Menschen angeborenen Anschauungsformen und reinen Verstandesbegriffe - "Kategorien". 4. Diese kategorialen Formen sind auch zum Vollzug jeder Erkenntnis unentbehrlich. Denn die "Empfindungen" selbst und alles, was auch immer schlechthin gegeben ist bzw. vorgefunden wird, bilden immer eine Mannigfaltigkeit von zusammenhangslosen Elementen, die durch die ursprünglichen Arten der Synthese miteinander verbunden werden müssen. Und diese Arten der ursprünglichen Synthese (ohne welche gar keine Erkenntnis vorliegt) sind nichts anderes als die Kategorien, wie sie aus der in Form einer Tafel geordneten Vielheit der Urteile (Sätze) abgeleitet sind und genau deren grundlegenden Arten entsprechen. Daher zwölf Arten der Urteile und zwölf (ist das richtig?) Kategorien. Scheint auch die ganze Gegenüberstellung von Erfahrungserkenntnis und apriorischer Erkenntnis aus gewissen, mit der transzendentalen Methode (worauf ich noch zurückkomme) zusammenhängenden Gründen einen anderen Charakter zu haben, so wird sie doch prinzipiell im Sinne der psychophysiologischen Erkenntnistheorie durchgeführt. 10 Die Ansicht über die verschiedenen Erkenntnisse (des Menschen) leitet man aus zwei Fällen ab, in denen der Mensch durch das zu erkennende Ding (an sich) ursächlich bedingt

y

[Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 196, 197 (Β 241, 242).] Das System der "Vermögen" des Gemüts hat Kant bekanntlich der Psychologie Tetens' entnommen, der die Konzeption verschiedener grundlegender psychischer "Vermögen" eingeführt hat (man spricht von Tetens' "Vermögenspsychologie"). [Vgl. J. H. Tetens, Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwicklung, Leipzig 1777.]

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

283

ist: Einmal "affiziert" das Ding den Menschen und ruft bei ihm immer neue "Empfindungen" hervor (genau dasselbe behaupten die Empiristen, ζ. B. John Locke - ideas of sensation), das andere Mal fehlt diese Affektion und über den Verlauf des Erkennens entscheidet die menschliche Natur selbst. In beiden Fällen setzt man die Existenz des Dinges an sich und des Erkenntnissubjekts (des Menschen) voraus. Nur deswegen kann sich Kant auf die Tatsache der Affektion des Erkenntnissubjektes durch das Ding ("Dinge affizieren uns") berufen. 11 Nur dadurch, daß der reale Kontakt zwischen dem Objekt und dem Subjekt der Erkenntnis im Falle der mathematischen Erkenntnis abgebrochen wird, ist eine völlig autonome, mithin apriorische Erkenntnis möglich. Diese Erkenntnis bezieht sich jedoch, kann man sagen, nur auf ihre eigenen Erkenntnisstrukturen: Es sind nämlich die Kategorien, die auf den Anschauungsformen - der Zeit und dem Raum - beruhen. Deswegen erkennt Kant bei den Menschen nur das formale Apriori an; jede dem Menschen zugängliche "Materie" der Erkenntnis kann sich nur aus einer Affektion durch das Ding, mithin a posteriori ergeben; a priori ist sie aber unzugänglich. Nur ein intellectus infinitus könnte eine solche Materie ohne Affektion durch die existierenden Dinge erlangen und hätte dann eine material-apriorische Erkenntnis. Wie man sieht, ist die Gegenüberstellung der beiden Arten der menschlichen Erkenntnis - a priori und a posteriori - durch das kausal aufgefaßte Verhältnis zwischen dem Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis bestimmt; die beiden Begriffe zeigen einen ausgeprägt genetisch-psychologischen Aspekt. Die Neukantianer der Marburger Schule würden zwar ausdrücklich sagen, das sei eine psychologistische Deutung der Theorie Kants und man müsse sich vielmehr nur an die sogenannte transzendentale Methode halten. Diese Methode wird von Kant tatsächlich entwickelt, aber die psychologisch-genetische Betrachtungsweise des Problems "a priori - a posteriori" zeichnet sich an vielen Stellen der Kritik deutlich ab. Kant unterscheidet in der transzendentalen Ästhetik zwei Arten der Erörterung (expositio) einer Sache: die metaphysische und die transzendentale: "Ich verstehe aber unter Erörterung (expositio) die deutliche (wenngleich nicht ausführliche) Vorstellung dessen, was zu einem Begriffe gehört; metaphysisch aber ist die Erörterung, wenn sie

11

[So in der V. Redaktion, S. 253. In Ingarden (1970) S. 251 ist der Sinn der beiden letzten Sätze offensichtlich entstellt.]

284

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

dasjenige enthält, was den Begriff, als a priori gegeben, darstellt." [A 23] "Ich verstehe unter einer transzendentalen

Erörterung

die Erklärung eines

Begriffs, als eines Prinzips, woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann. Zu dieser Absicht wird erfordert, 1)daß wirklich dergleichen Erkenntnisse aus dem gegebenen Begriffe herfließen, 2) daß diese Erkenntnisse nur unter der Voraussetzung einer gegebenen Erklärungsart dieses Begriffs möglich sind." [B 40] Transzendental ist somit der Nachweis, daß ζ. B. der Begriff des Raumes (nicht der Raum selbst) das Erklärungsprinzip der Möglichkeit (anderer) synthetischer Erkenntnisse a priori - z . B . der Geometrie - ausmacht. Anders gesagt: Die Einsicht, daß der Raum eine apriorische Anschauungsform ist, erlaubt es uns, einzusehen, daß die geometrische Erkenntnis als eine synthetische a priori möglich ist. Man muß aber wissen: 1) daß die geometrische Erkenntnis "synthetisch a priori" ist; das muß eigens nachgewiesen werden. 2) Man muß wissen: α) was eine Form der Anschauung a priori ist, [und zwar] ß) gerade in bezug auf die Form des Raumes. Man setzt also die Erkenntnis von α uhd β voraus - als Erkenntnis welcher Art - a priori? Folgen die geometrischen Begriffe in einer hinreichenden und notwendigen Weise aus dem (transzendentalen) Begriff des Raumes als einer Anschauungsform oder aus den Grundzügen des Raumes selbst (den geometrischen Axiomen)? Worin besteht aber die transzendentale Betrachtungsweise dieser Frage? Das hängt mit zwei Problemen zusammen, die sich in bezug auf die Anschauungsformen und Kategorien stellen: 1. Das erste Problem betrifft sozusagen die Ableitung der Existenz der beiden "apriorischen Formen" oder - wie Kant sagen würde - die Deduktion der Kategorien und Anschauungsformen. 2. Das zweite Problem ist das Problem der Erkenntnis, was sie sind: einerseits die Zeit selbst und der Raum selbst als Formen der Anschauung, andererseits die einzelnen Kategorien und ihr System. In bezug auf Raum und Zeit wurde eine solche Erklärung in einigen Sätzen in der transzendentalen Ästhetik [B 41 (73)] gegeben. Das System [der Kategorien] wurde aus der sog. Tafel der Urteile abgeleitet, und eben diese Ableitung scheint Kant als "metaphysische" Genese der Kategorien zu bezeichnen. Darüber aber, welches die einzelnen kategorialen Formen sind, hat Kant eigentlich nichts gesagt (er sagt, das gehöre eher zur "Eleganz" der

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

285

Theorie) 12 , und auch über ihre Erkenntnis finden wir bei ihm keine Informationen. Nach Kants Auffassung kann sich die Erkenntnis der Kategorien und Anschauungsformen nur entweder auf empirische Weise (a posteriori) oder a priori vollziehen. Dabei können die Kategorien - obwohl Kant das ausdrücklich nicht tut - auf zweifache Weise gedeutet werden: entweder als Operationen kategorialer Formung der durch die Sinne gelieferten Materie der Erkenntnis - also, wenn es sich um einen äußeren Sinn handelt, der sog. Empfindungen - oder als kategoriale Strukturen selbst, wie "Substanz" und "Akzidenz", "Kausalität" (bzw. kausale Abhängigkeit), "Einheit", "Vielheit", "Allheit" usw. Wie es scheint, nimmt jedoch Kant nicht an, daß alle diese gegenständlichen Formen (bereits projiziert auf die Materie) a posteriori erkannt werden, denn dann müßten die Ergebnisse ihrer Erkenntnis den gleichen Erkenntniswert haben wie jede "Erfahrungs"erkenntnis (die transzendentale Philosophie wäre also empirisch). Ist dem so [, wie es Kant annimmt], dann sollten sie a priori erkannt werden, mithin neben der Mathematik und der mathematischen Naturwissenschaft noch einen anderen Zweig der apriorischen Wissenschaften ausmachen. Die Operationen der kategorialen formalen Gestaltung sind dabei, so hat es den Anschein, gewisse bewußte Erkenntnistätigkeiten des Erkenntnissubjekts. Sie fallen, scheint es, unter den "inneren Sinn", sie müßten daher in der Zeit als der Anschauungsform des inneren Sinnes erkannt werden. Sie könnten wohl auch nicht ohne kategoriale Formung, d. h. anders als in diesen Kategorien, erkannt werden. Kann man somit verlangen, daß die Erkenntnis dieser Operationen der kategorialen "Formung" und eventuell die Erkenntnis der Zeit eine Erkenntnis dieser [Formen] als Dinge an sich, d. h. so wie sie an sich selbst sind, liefere? Soll man nicht zugeben, daß sie uns nur eine neue Mannigfaltigkeit von "Erscheinungen" vermittelt, so daß wir weder über die Kategorien selbst noch über die Zeit selbst etwas behaupten dürfen? Dasselbe läßt sich in bezug auf alle Eigenschaften des Menschen als eines Erkenntnissubjekts sagen, also ζ. B. in bezug darauf, daß man in ihm "Sinnlichkeit", "Verstand", "Vernunft" als "besondere Vermögen des Menschen" unterscheiden soll und außerdem "die praktische Vernunft", "Willen" usw.

12

[Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 82, 83 (Β 108, 109), wo aber das Wort "Eleganz" von Kant nicht gebraucht wird.]

286

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

Kant stellt übrigens ausdrücklich fest, daß wir, wenn wir uns selbst durch den inneren Sinn erkennen, uns nur als eine Erscheinung, nicht als ein Ding an sich erlangen. Wäre dem aber so, dann würde Kants transzendentale Erkenntnistheorie keine wertvolleren Ergebnisse verschaffen als ζ. B. die Psychologie der Erkenntnis. Sollte sie aber irgendwie vollkommenere Ergebnisse liefern, dann müßte sie eine Theorie mathematischer Art sein oder aber sich von der Verwendung der Kategorien und Anschauungsformen befreien. Das scheint jedoch nach Kants Auffassung ausgeschlossen, denn dann wären die Kategorien keine notwendigen Formen unserer Erkenntnis mehr. Sind sie in diesem Fall im Kantischen Sinne a priori? Suchen wir eine Erfahrung, oder allgemeiner, eine Erkenntnis, in der die Kategorien selbst uns gegeben wären, dann könnten wir sagen, daß Kant selbst auf eine solche Erkenntnis in der sog. "transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe" (d. h. Kategorien) in der 2. Ausgabe der Kritik hinweist. Er sagt dort nämlich: "Das 'Ich denke' muß alle meine Vorstellungen begleiten können" [Β 131 ]. Dieses "Ich denke", das stark an Descartes' cogito erinnert, nennt Kant "reine" oder ursprüngliche Apperzeption oder auch "Selbstbewußtsein"; dieses macht eine unentbehrliche letzte Bedingung dafür aus, daß ich mir jeder Vorstellung bewußt bin, daß sie für mich existiert. Nun scheint diese ursprüngliche, transzendentale Apperzeption dasjenige zu sein, wodurch wir das Bewußtsein (die Vorstellung?) der Kategorien als Operationen der begrifflichen Formung erlangen, der Formung, der jede Materie unterliegt, die uns dadurch geliefert wird, daß irgend etwas unser Gemüt affiziert. Entgegen unseren Erwartungen sagt jedoch Kant in der "transzendentalen Deduktion der Kategorien" in der Ausgabe Β der Kritik der reinen Vernunft gar nicht, daß dieses "Ich denke" uns die Kenntnis (Entdeckung) der Kategorien verschaffe; nicht aus diesem "Ich denke" ist sie abgeleitet: Die Kategorien werden in dieser transzendentalen Deduktion als bereits entdeckt betrachtet 13 (mit Hilfe der Tafel der Urteile), es handelt sich hier aber darum,

13 Diese Entdeckung scheint Kant im Auge zu haben, wenn er von der "metaphysischen Deuktion der Kategorien" spricht. Er sagt nämlich: "In der metaphysischen Deduktion wurde der Ursprung der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige Zusammentreffung mit den allgemeinen logischen Funktionen des Denkens dargetan, in der transzendentalen aber die Möglichkeit derselben als Erkenntnisse a priori von Gegenständen einer Anschauung überhaupt (§ 20,21) dargestellt." [B § 26, S. 159]

§ 26. Die "eidetische " Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

287

wie eine gewisse Anzahl von ihnen (Kant zählt doch zwölf Kategorien auf, obwohl sie streng genommen nicht alle formale Begriffe bzw. reine Grundformen des Erkenntnisobjekts sind) in einer bestimmten Auswahl bei der Erkenntnis eines uns anschaulich (natürlich in den Anschauungsformen) gegebenen Gegenstandes angewendet werden müssen. Sie müssen dabei in bestimmter Weise miteinander verbunden in einer speziellen Synthese auftreten. Nach Kant kann aber nichts in der Erkenntnis als miteinander verbunden auftreten, ohne daß es durch eine synthetische Verstandestätigkeit verbunden wird. Die ursprüngliche transzendentale Apperzeption, dieses "Ich denke", vollzieht eben diese ursprüngliche, transzendentale Synthese aus den vielen Kategorien, die zur kategorialen Formung eines Gegenstandes dienen. Darin besteht und darauf beschränkt sich die ursprünglichste und grundlegende Funktion der transzendentalen reinen Apperzeption, dieses "Ich denke", gegenüber den Kategorien bzw. gegenüber deren Erkenntnisleistung. Sie verschafft dagegen dem (die Erkenntnistheorie, mithin Kants transzendentale Philosophie betreibenden) Erkenntnissubjekt kein Wissen über die Kategorien oder Anschauungsformen selbst. Über diese erfahren wir bei Kant aus der transzendentalen Erörterung von Zeit und Raum als apriorischen Anschauungsformen, die alle empirische Anschauung bedingen. Auch diese, übrigens rein begriffliche Erörterung belehrt uns jedoch nicht über Zeit und Raum selbst, darüber, was das eigentlich ist (außer daß es eine apriorische Form der reinen Anschauung sei). Wir müssen vielmehr, wenn wir Kants Ausführungen lesen, irgendwie im voraus, von uns selbst her wissen, was die Zeit ist und was der Raum ist. Nicht anders verhält es sich bei der metaphysischen Ableitung (Deduktion) der Kategorien im Rekurs auf die Tafel der Urteile bzw. auf das Verständnis dieser Urteile. Streng genommen sind diese nur Aussagefunktionen, in denen die logischen Konstanten (Funktoren und Quantoren) u. a. den Kategorien entsprechen. Diese Aussagefunktionen setzt Kant als dem Leser bereits bekannt voraus und gibt für sie keine analytische Erklärung. Es wird bei ihm auch nicht klargelegt, welchen Sinn die Funktoren und Quantoren besitzen und worin das Verstehen der logischen Konstanten in den Urteilen eigentlich besteht. Was für ein Erkenntnisakt ist ein solches Verstehen, und was für einen Wert hat es? Ist es eine empirische oder apriorische Denkerkenntnis;

288

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

erlaubt uns diese Erkenntnis, die ursprünglichen Urteilsfunktionen als ein Ding an sich oder nur als besondere "Erscheinungen" zu begreifen? So wurden die letzten Grundlagen für das Erklären, Verstehen oder Erkennen der Anschauungsformen und Kategorien und deren Synthese bei Kant, und zwar auch in der transzendentalen Deduktion der Kategorien, nicht geklärt. Die ganze genetische oder transzendentale Konzeption der apriorischen Anschauungsformen und Kategorien erklärt uns also nicht viel, außer daß diese insgesamt auf irgendwelche Weise eine unentbehrliche Bedingung der Möglichkeit der menschlichen Erkenntnis ausmachen. Es ist in seinen Erkenntnisgrundlagen auch nicht begründet, warum diese Konzeption angenommen werden kann oder soll. Gewiß ist dabei, daß weder Husserl noch andere

Phänomenologen

mit

der

"eidetischen"

oder

"apriorischen"

Erkenntnis die Kantische Konzeption des Apriori meinen, als die Konzeption von gewissen (dem Erkenntnissubjekt überhaupt oder dem erkennenden Menschen) angeborenen und daher notwendigen Formen anschaulicher Erkenntnis der Gegenstände oder deren begrifflicher Bestimmung. Im Gegenteil, wenn sie [das Apriori] als etwas Notwendiges bei einer gewissen Erkenntnisweise mancher Gegenstände anerkennen, so bringen sie es nicht mit dieser oder jener Eigentümlichkeit des Erkenntnissubjekts, sondern mit gewissen speziellen Zügen des entsprechend gewählten Erkenntnisobjekts in Verbindung. Warum wurde aber von Husserl zur Bezeichnung der "eidetischen" Erkenntnis trotz allem der Terminus a priori verwendet, der doch die Verwandtschaft seiner Konzeption mit der Theorie Kants nahelegt? Nun finden sich unter Kants Ausführungen zur apriorischen Erkenntnis eine Reihe von Behauptungen, die diese Erkenntnis ganz unabhängig von der ganzen genetischen oder anthropologischen Theorie des Kantischen Apriori charakterisieren. Diese Behauptungen sind es, die eine gewisse Verwandtschaft der beiden verschiedenen Auffassungen des Apriori 14 ausmachen. Wir müssen uns somit jetzt ihnen zuwenden.

Der Terminus "a priori" wurde übrigens nicht erst von Kant geprägt. Er begegnet uns bei einer Reihe von früheren Philosophen, und zwar sowohl bei den Rationalisten (z.B. Leibniz) wie bei den Empiristen (z.B. Hume). Nur der besondere Inhalt dieses Begriffs wurde ihm von Kant in der oben besprochenen Theorie verliehen. Es gibt übrigens viele Züge des Kantischen Apriori, die wir schon in der früheren philosophischen Literatur finden. Zu

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

289

Es heißt also bei Kant: Eine Erkenntnis ist a priori, wenn sie "unabhängig" von der "Erfahrung" ist. Es handelt sich dabei sowohl um die äußere, sinnliche als auch um die innere Erfahrung (den sog. inneren Sinn). Im Ausdruck "unabhängig von der Erfahrung" verflechten sich bei Kant zwei verschiedene Bedeutungen, die von ihm nicht deutlich unterschieden werden. In der ersten Bedeutung bezeichnet dieser Ausdruck etwas, was "vor aller Erfahrung" [besteht], also nicht durch die Erfahrung hervorgerufen wird, nicht ihre Folge (Wirkung) ist. Wäre es möglich, dieses "vor" im zeitlichen Sinn von "früher" zu verstehen? Denn die "Zeit" besteht doch nur innerhalb der Erscheinungswelt, der eben die apriorischen Formen zugrunde liegen. Diese Formen bringen sie gewissermaßen erst hervor. Etwas, was "vor" dieser Welt existieren sollte, hat im zeitlichen Sinn gar keine Anwendung. Es scheint aber zugleich, daß man nicht zugeben kann, daß dieses "vor" der Erfahrung nur innerhalb der Erscheinungswelt gelten sollte, nicht aber in bezug auf das Erkenntnissubjekt an sich, d. h. auf das Erkenntnissubjekt, wie es [selbst] ist, egal ob und wie es erkannt wird. Um zu verstehen, was bei Kant "vor der Erfahrung" bedeutet, könnte man versuchen, darauf Rücksicht zu nehmen, daß die "Erfahrung" nach Kants Auffassung zwei heterogene Bestandteile enthält: a) eine Mannigfaltigkeit von "Empfindungen" (heute würden wir genauer "Empfindungsdaten" sagen) und b) ein System von apriorischen Formen - Zeit, Raum und Kategorien. Die Empfindungsdaten, die nach Kants eigener These der "Affektion" des Subjekts durch (physische) Dinge entstammen, bilden gleichsam den "Inhalt" der Erfahrung, die Anschauungsformen und Kategorien dagegen gleichsam die Form; genauer: [die Empfindungsdaten] den Inhalt bzw. die Materie der "Erscheinung" und deren Form. Die beiden Bestandteile sind unentbehrlich, damit eine "Erfahrung" vorliegt. Die Erfahrung ist etwas - wenn man so sagen darf - Abgeleitetes oder Sekundäres gegenüber diesen Bestandteilen, die im Verhältnis zu ihr gleichsam ursprünglicher sind. Die apriorische Form bzw. die apriorische "Formung" ist dabei unabhängig von der Materie (von der Mannigfaltigkeit der Empfindungsdaten), d. h., sie wird durch diese nicht erzeugt. Sie ist ihrer Natur nach etwas Ursprüngliches, das sich, wenn

nennen sind hier die folgenden Namen: Descartes (ideae innatae). Locke, Hobbes, Hume und unter den Rationalisten Leibniz, Ch. Wolff, Tetens und Lambert.

290

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

eine Vielheit oder Mannigfaltigkeit von Empfindungsdaten erscheint, nur aktualisiert. In der zweiten Bedeutung besagt der Ausdruck "unabhängig von der Erfahrung" allein, daß die Erkenntnis a priori in ihrem Erkenntniswert gegenüber dem Erkenntniswert der Erfahrung autonom ist, [so daß] ihr Wert eine eigene Eigenschaft der Erkenntnis (des Urteils) a priori ist und mit dem Wert der Erfahrung (des Erfahrungsergebnisses) weder variiert noch durch diesen bestimmt wird. Das erste Verständnis der "Unabhängigkeit" der Erkenntnis a priori von der Erfahrung hängt mit dem genetischen Aspekt der Kantischen Konzeption der Erkenntnis a priori und deren Rolle im Aufbau der Erfahrung zusammen. Dieser Aspekt kommt bei der phänomenologischen Konzeption der eidetischen Erkenntnis gar nicht in Frage. Die Unabhängigkeit der apriorischen Erkenntnis von der Erfahrung in der zweiten der hier unterschiedenen Bedeutungen ist dagegen ein Charakteristikum, das der "apriorischen" ("eidetischen", "Wesens"erkenntnis) ebenfalls von Husserl und seinen Schülern oder Mitarbeitern zugeschrieben wird. Dieser Punkt wäre somit den beiden Konzeptionen gemeinsam und würde verständlich machen, warum Husserl - trotz bestehender Unterschiede - die "eidetische" Erkenntnis als Erkenntnis a priori bezeichnet. Die Unterschiede greifen jedoch tiefer. Bei Kant hat dasjenige, was in der Erkenntnis oder in der ihr entsprechenden Erscheinungswelt "apriorischer" Natur ist, zugleich einen rein formalen Charakter. Nicht nur sind Zeit und Raum Anschauungsformen, auch die Kategorien, d. h. die reinen Verstandesbegriffe sind ein formaler Faktor - eine begriffliche Formung oder eine reine Form der Erscheinungen bzw. der Erscheinungswelt. Daher müßte es sich auch bei der reinen apriorischen, insbesondere der mathematischen Erkenntnis um eine rein formale, die reinen Formen gewisser Gegenstände betreffende Erkenntnis handeln. So wurde wohl Kants Standpunkt bezüglich der Erkenntnis a priori auch längere Zeit von allen verstanden. Hier erheben sich aber neue Bedenken. Es scheint vor allem, daß der Begriff der "Form" bei Kant nicht eindeutig verwendet wird. 15

'5

Man sieht das erst deutlich, wenn man die Unterscheidung vieler gewöhnlich miteinander verwechselter Begriffe der "Form" durchführt, die ich im VIII. Kap. des Streites [Ingarden (1964/65), Bd. II/l] durchgeführt habe. Auch Kant gibt übrigens eine Reihe von Bedeutungen des Gegensatzes "Materie-Form" an (vgl. Kritik der reinen Vernunft, Β 322-24). Ich kann hier darauf nicht eingehen und muß den Leser auf den zitierten Text verweisen.

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

291

Man könnte sagen, daß dieser Begriff einfach durch die Angabe aller apriorischen Faktoren in der Erkenntnis festgelegt ist, so daß er die Anschauungsformen, Raum und Zeit, und alle Kategorien umfaßt, so wie sie in der Tafel der Kategorien in der Kritik der reinen Vernunft aufgeführt sind. Bei näherer Analyse zeigt sich jedoch, daß diese Kategorien keine einheitliche Gruppe ausmachen. Kant hat sie aus der Tafel des Urteils abgeleitet, in der Überzeugung, in dieser Tafel alle Arten der Urteile bzw. der Prädikation berücksichtigt zu haben. Damit hat er aber zu den Kategorien auch die sog. Kategorien der "Modalität" gerechnet, wodurch ihnen auch verschiedene Seinsweisen zugerechnet wurden, die doch nicht als "Formen" des Seienden bezeichnet werden können. Was die übrigen Kategorien betrifft, so sind sie entweder selbst eine "Form" im strengen Sinne oder haben als ihre Grundlage gewisse ursprüngliche, unreduzierbare gegenständliche Formen, wie "Einheit" (nota bene in verschiedenen möglichen Bedeutungen) oder "Vielheit". Ungeachtet aber dieser Mehrdeutigkeit des Begriffs "Form" 16 , oder anders: sogar bei dessen so weitem Verständnis, wie man es festlegen würde, wenn man sowohl alle Kantischen Kategorien als auch die beiden Anschauungs"formen" einbeziehen wollte - würde dieser Begriff gewisse Grenzen bestimmen, die alle Fälle der Erkenntnis a priori im Verständnis Kants in sich fassen müßten. Alle diese Fälle kommen auch in Betracht, wenn Husserl und andere Phänomenologen vom Erkennen bzw. von der Erkenntnis a priori oder "eidetischen" Erkenntnis sprechen. Mit anderen Worten: Alle durch den Begriff der Kantischen Kategorien und den Begriff der Anschauungsformen bestimmten "Gegenstände" zeichnen sich dadurch aus, daß sie eine eidetische (apriorische) Erkenntnis im Verständnis der Phänomenologen zulassen. Zu den Aufgaben der eidetischen Erkenntnis, so wie sie von den Phänomenologen bestimmt werden, würde es u. a. gehören, die "Formen" zu erklären und

Man könnte bezweifeln, daß z.B. die "Räumlichkeit" - oder gar der "Raum" - ein streng formales Moment sei. Auf jeden Fall gibt es unter den mathematischen Wissenschaften solche Disziplinen, die einen im engeren und strengeren Sinne "formalen" Charakter besitzen, wie z.B. die Theorie der Strukturen oder die theoretische Arithmetik. Auch die Zeit läßt sich kaum als eine "Form" des Seienden bezeichnen. Sonst müßte man sagen, sie gehöre zur Seinsweise mancher Gegenstände, und dann wäre nur die zeitliche Anordnung einer gewissen Mannigfaltigkeit von Ereignissen und Prozessen etwas, dessen mögliche Form erforscht werden müßte.

292

¡V. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse

und deren Korrelate

zu veranschaulichen, die dem Begriff der Kategorien entsprechen (ausgenommen die Gruppe der Kategorien der Modalität, die sich auf die Seins weise beziehen 17 ) und die bei Kant ungeklärt bleiben. Nur wären zwei Gruppen von Untersuchungen zu unterscheiden: 1. die Untersuchungen, in denen die kategoriale Form selbst geklärt werden soll, und 2. die Untersuchungen, die sich auf die bereits geformten kategorialen Gegenständlichkeiten richten, die also die kategoriale Form dieser Gegenständlichkeiten betreffen. Diese Form konstituieren sozusagen verschiedene ursprüngliche kategoriale Formen, d.h. Formen, die den einzelnen Begriffen der Kategorien entsprechen. Würden wir berücksichtigen, daß die euklidische Geometrie nur einen möglichen Fall einer rein formalen "Geometrie" bildet, dann müßten die Untersuchungen zu den einzelnen nichteuklidischen Geometrien und weiter die Untersuchungen verschiedener möglichen Typen von n-dimensionalen "Räumen" über das Gebiet hinausgehen, das Kant der "apriorischen" Erkenntnis in seinem Sinn zugeteilt hat. Denn Kant war an den damaligen Forschungsstand der Mathematik gebunden und sah weder die Möglichkeit verschiedener nichteuklidischer Geometrien noch verschiedener formalisierter deduktiver Theorien. Die Phänomenologen postulieren aber eine viel weiter gehende Erweiterung des Gegenstandsgebietes der möglichen "eidetischen" Erkenntnis, indem sie - wie ζ. B. Max Scheler - vom sog. "materialen Apriori" sprechen. Mehr noch, sie scheinen gerade in diesen Gebieten, in denen - nach ihrer Meinung - eine material-"apriorische" (eidetische) Erkenntnis möglich sein soll, die Hauptaufgabe der eidetischen Forschung zu sehen. Denn das, was sie mit dem "Wesen" eines Dinges meinen, ist gerade in erster Linie etwas von dessen "materialer", "qualitativer" Ausstattung, insbesondere aber [etwas, was] nur einige der Elemente dieser Ausstattung bildet. Rein formale eidetische Analysen sind, wenn sie überhaupt in Frage kommen, hier nicht ausreichend. Diese materiale Ausstattung z. B. von physischen Dingen ist natürlich in der sinnlichen Erfahrung gegeben. Daher hat Kant von seinem Standpunkt hinsichtlich der "Erkenntnis" a priori aus die Möglichkeit aller nichtempirischen, nicht-"aposteriorischen" Erkenntnisse in bezug auf irgend etwas innerhalb

"

Auch diese Seinsweisen lassen sich in der eidetischen Erkenntnis herausarbeiten. Ich habe sie aber von den übrigen Kantischen Kategorien gerade deswegen unterschieden, weil sie nicht grundlegende Formen des Gegenstandes bzw. des Seienden Uberhaupt, sondern Seinsweisen sind.

§ 26. Die "eidetische " Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

293

dieser Ausstattung selbstverständlich a limine verworfen. Er wußte nicht, daß in diesem Bereich auch gewisse notwendige Zusammenhänge zwischen Elementen dieser Ausstattung bestehen können, die sich in der "eidetischen" Erkenntnis entdecken lassen. Die phänomenologische Forschung hat gezeigt, daß es gerade in diesem Bereich möglich ist, notwendige Zusammenhänge dieser Art zwischen den in der qualitativen Ausstattung der Dinge auftretenden Qualitäten aufzufinden. So wurden z.B. eidetische Forschungen durchgeführt über die Farben und zwischen ihnen bestehenden Abhängigkeiten, über die Eigenschaften der Töne oder Lautgebilde höherer Ordnung, z.B. ganzer Musikwerke. Auch im Bereich dessen, was uns im täglichen Leben in der sog. "inneren Erfahrung" gegeben ist, treten mögliche Objekte der "eidetischen" Erkenntnis auf, z.B. das Wesen des Bewußtseinserlebnisses überhaupt, das Wesen der sinnlichen Wahrnehmung, das Wesen des Willensaktes, der Entscheidung usw. Ebenso lassen sich nach Ansicht der Phänomenologen die Untersuchungen über Werte verschiedener Art, ζ. B. über die sittlichen, die ästhetischen Werte und die Nützlichkeitswerte in der eidetischen Einstellung auf ihr Wesen durchführen. Der Grundcharakter der "eidetischen" Erkenntnis (der "Wesens"erkenntnis), der es erlaubt, sie gegen die "empirische" Erkenntnis abzugrenzen, muß somit anders als bei Kant sein, wenn dieser Erkenntnis ein so weiter Bereich ihrer möglichen Gegenstände zugewiesen werden kann. Nach Kant vollzieht sich die Erkenntnis ausschließlich in den Urteilen; nur unter den Urteilen soll man also die "apriorische" Erkenntnis suchen. Alle "analytischen" Urteile sind nach Kant a priori. Er unterscheidet aber bekanntlich auch eine Gruppe von synthetischen Urteilen a priori. Es handelt sich dabei um solche in den Urteilen kulminierenden Denkoperationen, die über die Sphäre der reinen Begriffe hinausgreifen, also nicht mehr rein gedanklich sind, sondern an die Anschauung anknüpfen. Wäre alle Anschauung bei Kant empirischer Natur, dann dürfte es keine synthetischen Urteile "a priori" geben. Außer der empirischen, aposteriorischen Anschauung erkennt jedoch Kant noch die Existenz einer Anschauung a priori und speziell die Existenz der apriorischen Anschauungsformen an. Die synthetischen Urteile, die in ihrer Synthese auf der Anschauung a priori der Zeit und des Raumes beruhen, sind a priori. Das versucht Kant an Beispielen aus der Arithmetik und Geometrie zu zeigen. Jede andere Anschauung ist nach Kant (bei uns Menschen) apo-

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

steriorischer Herkunft, folglich sind - wie er folgert - die übrigen synthetischen Urteile, die über die Anschauung der Zeit und des Raumes hinausreichen, Urteile a

posteriori,18

Hätte seine Theorie des Apriori nicht einen genetischen Aspekt gehabt, dann hätte Kant vielleicht entdeckt, daß diese Notwendigkeit und Allgemeinheit der [in dieser Weise] gewonnenen Erkenntnisse nicht im Subjekt, sondern im Objekt der Erkenntnis fundiert ist, darin, welche Qualitäten in diesem Objekt auftreten und was sie ihrerseits verlangen, wenn es sich um das Zusammenbestehen verschiedener Qualitäten in demselben Objekt, d. h. um die Seinszusammenhänge zwischen den Qualitäten (und zugleich Bestimmtheiten gewisser Gegenstände) handelt. Die Phänomenologen knüpfen in ihrer Konzeption der "eidetischen" Erkenntnis a priori nicht an diesen genetischen Aspekt der Kantischen Theorie an. Sie versperren sich daher nicht den Weg dazu, anzuerkennen, daß sogar innerhalb der Auswahl derjenigen Qualitäten, von denen wir durch die sinnliche Wahrnehmung oder eine andere Art der Erfahrung das Wissen erlangen, notwendige Zusammenhänge zwischen qualitativen Bestimmtheiten der Gegenstände auftreten können. Die Notwendigkeit des Zusammenbestehens gewisser Qualitäten liegt darin, wie sie an sich selbst sind. Und erst diese in

ι fi Damit hängt ein besonderes Verständnis von analytischen und synthetischen Urteilen zusammen, das zahlreiche, einander widerstreitende Interpretationen veranlaßt hat. Auch Husserl beschäftigte sich in seinen Vorlesungen zur Logik mit dieser Frage. Beschränken wir uns auf die kategorischen Urteile, dann können wir sagen, daß in jedem solchen Urteil eine gewisse Synthese stattfindet: S ist ρ, ρ wird mit S verbunden. "Analytisch" wären dann diejenigen der ρ mit S synthetisierenden Urteile, in denen der Inhalt des Begriffs S sich dadurch auszeichnet, daß er in sich auch das Moment ρ einschließt. Eine synthetische Verknüpfung von ρ mit S ist also in diesem Fall zugelassen und zugleich erfordert, gerade deswegen, weil ρ im Inhalt des Begriffs S enthalten ist. In anderen Fällen dagegen enthält der Begriff S in seinem Inhalt nicht den Begriff p. Wenn wir somit dem durch S bezeichneten Objekt ρ trotzdem zu Recht zuschreiben, dann können wir nicht durch die Begriffe S und ρ allein, sondern müssen durch irgendwelche Anschauungsdaten dazu berechtigt sein. Wer die Anschauung a priori verwirft, für den gibt es nur synthetische Urteile a posteriori. Wer die apriorische Anschauung der Formen Zeit und Raum annimmt, läßt apriorische synthetische Urteile in einem engen Bereich zu. Wer die "apriorische" Natur der Anschauungsdaten und der zwischen ihnen bestehenden Notwendigkeitszusammenhänge auf manche "Materien" der Erkenntnisgegenstände erweitert, der anerkennt eine viel weitere Klasse von apriorischen "synthetischen" Urteilen - wie das eben die Phänomenologen tun.

§ 26. Die "eidetische " Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

295

der Natur der betreffenden Qualitäten fundierte Notwendigkeit hat zur Folge, daß, wo immer mindestens eine dieser Qualitäten auftritt, auch eine andere, mit ihr notwendig verbundene bestehen muß. Diese Allgemeinheit bedeutet nicht die allgemeine, für alle Erkenntnissubjekte, eventuell für alle Menschen bestehende Möglichkeit, derartige notwendige Zusammenhänge aufzufinden (und braucht sie nicht zu bedeuten). Sie braucht auch nicht zu bedeuten, daß das Bestehen derartiger Zusammenhänge durch alle Subjekte allgemein anerkannt werden kann. Die Erkenntnissubjekte (Menschen) können sich in ihrer psychophysischen Konstitution und ihren Erkenntnisfähigkeiten voneinander unterscheiden. Sie können sich somit durch verschiedene Empfänglichkeiten für gewisse Erfahrungsgegebenheiten auszeichnen (einen versperrten oder geöffneten Erkenntnisweg zu gewissen Gegebenheiten und zwischen ihnen bestehenden Zusammenhängen haben). Das hat aber keinen Einfluß darauf, ob im gemeinsamen Auftreten (oder eventuell in der Aufeinanderfolge) gewisser Qualitäten oder Gruppen von Qualitäten ein notwendiger Zusammenhang besteht. So werden auch die mathematischen Sätze nicht dadurch wahr, daß sie von allen Menschen als solche anerkannt werden (was übrigens gar nicht der Fall ist, denn die überwiegende Mehrheit der Menschen kennt diese Sätze nicht und könnte sie nicht einsehen, auch wenn sie darüber unterrichtet würde). Auch werden diese Sätze nicht dadurch falsch, daß viele Menschen sie überhaupt nicht verstehen, geschweige denn als wahr anerkennen können. Nicht anders verhält es sich mit den Sätzen z.B. über die Verwandtschaft zwischen Farben oder darüber, daß es wohl qualitative Übergänge (durch minimale Unterschiede) zwischen Farben verschiedener Qualitäten gibt, aber keinen Übergang durch minimale Verwandtschaft zwischen irgendeiner Farbe und ζ. B. einer Geschmacksqualität oder irgendeiner Laut- oder Tonqualität. Und wenn es auch blinde Menschen gibt, denen die Farben in ihrer spezifischen Natur überhaupt nicht erkenntnismäßig zugänglich sind, so gilt es doch, daß es keine Farben geben kann, die in keiner Weise räumlich (ihrer Ausdehnung nach) bestimmt, d. h. radikal ausdehnungslos wären; oder korrelativ: daß jede Farbe in irgendeiner Weise zwei- oder dreidimensional ausgedehnt ist, wobei es dahingestellt bleiben kann, ob eine (konkrete) eindimensionale Farbe möglich ist, d. h. ob eine Farbe exakt als Linie (ohne jedwede Dicke) existieren kann. Wenn man manchmal von sich windenden farbigen Linien spricht, so ist das - wie es scheint - nur eine Annäherung in dem Sinn,

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

daß diese sich windenden farbigen Linien alle nur ganz schmale Farbstreifen sind. Sätze solcher Art zogen die Phänomenologen mehrfach in Betracht, wenn sie von der "eidetischen" Erkenntnis sprachen. Sie folgten darin den alten Tendenzen und den platonischen Traditionen, ohne Piatons Theorie der "Ideen" in seiner Formulierung zu teilen. Wenn sie aber solche Sätze aussprachen, beriefen sie sich weder darauf, daß sie von allen Menschen tatsächlich für wahr gehalten würden, noch forderten sie, daß alle das tun sollten. Sie behaupteten auch nicht, daß solche Sätze ohne Hilfe des Gesichtssinnes, also der sinnlichen Wahrnehmung besonderer Art, gewonnen oder daß sie "sofort", "auf den ersten Blick" entdeckt würden. Denn sie wußten, daß man nicht selten viele Bemühungen braucht, um an einem vorhandenen empirischen Material die entsprechenden Qualitäten erschauen, eindeutig erfassen zu können und zu erkennen, daß sie von ihrer Natur aus miteinander zusammenhängen oder sich gegenseitig ausschließen, wie im Falle, daß ζ. B. jemand versuchte nachzuweisen, daß die Gestalt eines Würfels (als eine besondere Gestaltqualität aus dem Gebiet der geometrischen Formen) sich mit der "Farbe" eines Klavierklanges bestimmter Höhe zu einem Ganzen vereinigen könne. Er würde sich dann überzeugen, daß das unmöglich ist, obwohl es stimmt, daß man ein Klavier mit der Gestalt eines Würfels konstruieren könnte. Natürlich verschafft die Auffindung derartiger Erkenntnisse für sich allein noch keine "eidetische" Erkenntnis. Dennoch ist diese Art von Erkenntnis wie sie in gewissen Fällen gleichsam im Rahmen oder auf Grund des durch die sinnliche oder innere (oder noch andere) Erfahrung gelieferten Stoffes gewonnen wird - von der empirischen Erkenntnis prinzipiell verschieden. Und wenn man sie einmal erreicht hat, ist sie in dem Sinne zuverlässig, daß sie ein "objektives", streng allgemeines (für alle Gegenstände derselben Art [geltendes]), "notwendiges" Erkenntnisergebnis liefert. Man kann aber weder behaupten, daß es in allen bisher unternommenen Versuchen tatsächlich gelungen sei, eine "eidetische" Erkenntnis zu erlangen, noch daß es gelungen sei, die "eidetische" Erkenntnis im allgemeinen so zu bestimmen, daß ihre besondere Natur geklärt würde. Man muß daher dieses Problem noch einmal in An-

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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griff nehmen, in Anknüpfung an das, was wir dazu bei Husserl finden.19 Wir können aber dieses ganze Problem nicht klären, ohne auch das mit in Betracht zu ziehen, worauf die "eidetische" Erkenntnis sich beziehen kann, d. h. die "Idee" und das "Wesen". Richtig scheint [nämlich] das von den Phänomenologen aufgestellte Prinzip, wonach- zwischen der Art und Weise einer Erkenntnis und den Eigenschaften oder der Struktur des darin zu Erkennenden eine gewisse Korrelation obwaltet. Nicht alles, was immer es auch sein mag, kann durch jedes beliebige Erkennen erkannt werden. Man kann z. B. weder Farben hören noch Töne schmecken (so wie man Gerichte schmeckt), noch den im Satz des Pythagoras festgestellten Sachverhalt riechen. Die Erkenntnis ist ein Werkzeug, das dem entsprechend anzupassen ist, wozu es gebraucht werden soll. b) Worauf kann sich die "eidetische" Erkenntnis beziehen? Der Terminus "eidetische" Erkenntnis (auch der Terminus "Ideation") trat [zum ersten Mal] bei Husserl im II. Band der Logischen

Untersuchungen20

auf, der Terminus "Wesensschau" dagegen erschien literarisch erst in seinen Ideen I, insbesondere im I. Abschnitt des I. Bandes. Das prinzipielle Problem der Logischen Untersuchungen bildete die Frage nach der Möglichkeit der theoretischen Logik, die im allgemeinsten Sinne als Wissenschaftslehre begriffen und der psychologistischen Logik gegenübergestellt wurde, deren Kritik Husserl im I. Band der Logischen Untersuchungen (1900) durchführte. Die Logik - vor allem als Theorie der logischen Gebilde, Sätze (Urteile), Satzzusammenhänge in der Art des Syllogismus, der wissenschaftlichen Theorie u. dgl. - konnte nicht als empirische Wissenschaft von individuellen Fällen des Urteilens und Schließens als Tätigkeiten psychischer Subjekte aufgefaßt werden. Sie wurde von Husserl nach dem Muster der Wissenschaften mathematischer Art konzipiert. Sie schien nur unter der Bedingung möglich

Äußerungen über Wesensschau begegnen wir mehrfach in den Schriften Max Schelers, besonders in seinem Buch [Der] Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik [Gesammelte Werke, Band 2, Bern und München 1966]; sie werden gewöhnlich in ziemlich autoritativer Form ausgesprochen, sind aber wenig überzeugend. Sie betreffen übrigens in erster Linie das Problem der Möglichkeit der Werterkenntnis. 9Ω Diese Probleme werden hauptsächlich in den Untersuchungen II, V und VI dieses Werkes besprochen.

298

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse

und deren Korrelate

zu sein, daß eine nichtempirische, nicht auf Einzeltatsachen (individuelle Tatsachen) gehende, mithin - wie es die philosophische Tradition nahelegte apriorische Erkenntnis existiert bzw. möglich ist. Und diesen Terminus verwendet auch Husserl im I. Band seines Werkes; erst im II. Band erscheint der Terminus "eidetisch", im Zusammenhang damit, daß in der II. Untersuchung die Frage nach der Erkenntnis auftaucht, die sich auf die Spezies und überhaupt auf so etwas wie das

EIDOS

bei Piaton bezieht. Man mußte somit

zunächst die Widerstände von seiten der englischen Empiristen überwinden. Daher wird in der II. Untersuchung das Problem erörtert, ob sich alle Erkenntnis wirklich auf individuelle Gegenstände (Einzelobjekte) bezieht und insbesondere ob man [immer] mit einer solchen Erkenntnis beginnen muß, um nachher erst durch "Abstraktion" und Verallgemeinerung zu (approximativ) allgemeinen Urteilen gelangen zu können, oder - im Gegenteil - ob die Erkenntnis in gewissen Fällen irgendwie allgemeine Entitäten betreffen kann, die erstmals Piaton im Auge hatte, wenn er vom EIDOS sprach. Die von Husserl durchgeführte Diskussion führte zum Ergebnis, daß es uns tatsächlich in gewissen Fällen der Erkenntnis oder des Erkennens nicht etwa um ein weißes Hemd oder um ein (eindeutig bestimmtes) weißes Pferd geht, ja nicht einmal um das Weiß dieses Hemdes oder das Weiß des Fells dieses Pferdes, sondern vielmehr um das Weiß überhaupt, d. h. das Weiß, im Hinblick auf welches das Hemd wie das Pferd ebenso "weiß" sein können. Das, im Hinblick worauf zwei oder mehrere Dinge hinsichtlich einer gewissen Eigenschaft einander genau "gleich" sind, macht - nach Ansicht Husserls - jene Spezies aus. Sie unterscheidet sich deutlich, oder besser, ist etwas Verschiedenes von den konkreten Bestimmtheiten (Merkmalen, Eigenschaften) gewisser individueller Gegenstände, die in einer Hinsicht "gleich" sind. Zugleich ist sie etwas, wovon man nicht sinnvoll sagen kann, es fange in dem Augenblick an zu existieren, in dem in der Wirklichkeit gewisse weiße oder andere "solche" Gegenstände erscheinen, oder es höre auf zu existieren, wenn alle diese in gewisser Hinsicht gleichen Gegenstände verschwinden. Demgemäß können die Spezies nicht als Entitäten angesehen werden, die sich in der Zeit befinden und solche Veränderungen erfahren, welche z.B. ein weißes Hemd erfährt, wenn es mit der Zeit unter dem Einfluß der Umstände, in denen es sich befindet, gelblich oder grau wird. Diese Tatsache bildet für manche Forscher einen zureichenden Grund zur Feststellung, daß jenes "Weiß" für sich außerhalb

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

299

oder über der Zeit existiere, für andere dagegen zur Behauptung, es existiere überhaupt nicht, denn "existieren" bedeute soviel wie "in derZeit sein", zeitlich sein und dieser oder jener Veränderung unterliegen. Man sagt dann von den Spezies, daß derartige Entitäten nur "gedacht" seien - daß sie ens rationis ausmachten, wie man einst zu behaupten pflegte, ohne daß man dabei genau erklärte, was das bedeuten soll. Husserl beschäftigt sich nicht näher mit der Frage, auf welche Weise die Spezies existiert (er distanziert sich nur vom platonischen "Realismus", d. h. vom Standpunkt, wonach die Spezies irgendwie vollkommener existiere als die realen Gegenstände). Es ist dagegen für ihn wesentlich, daß sie im Verhältnis zu individuellen Bestimmtheiten der individuellen, insbesondere realen Gegenstände etwas eigenartig anderes ist. Er versucht auch nachzuweisen, daß man sie durch "Abstraktion" in dem Verständnis, das bei den englischen Empiristen, vor allem bei Locke zugrunde gelegt wird, nicht erreichen kann. Bei Locke werden bekanntlich drei verschiedene Begriffe - die der sog. einfachen Idee, der abstrakten Idee und der allgemeinen Idee - letztlich miteinander auf Grund dessen gleichgesetzt, daß man sie alle durch "Abstraktion" erlange. "Abstrahieren" heißt aber bei ihm soviel wie: gewisse Ideen von einer zusammengesetzten Idee "abtrennen" bzw. andere einfache Ideen, die Bestandteile der gegebenen zusammengesetzten Idee sind, "weglassen". Konkret hätten wir es nur mit zusammengesetzten Ideen zu tun, und erst durch dieses "Abtrennen" oder "Weglassen" würden wir zu einer einfachen und zugleich allgemeinen Idee gelangen. Bei Berkeley wird bekanntlich diese Möglichkeit der Abstraktion im Sinn jenes "Abtrennens" oder "Weglassens" geleugnet; es gibt [bei ihm] auch weder abstrakte Ideen noch allgemeine Ideen in dem Sinn, den Locke festlegen wollte. Die Allgemeinheit wird zur allgemeinen Anwendbarkeit eines "Begriffs" oder "Zeichens" als Repräsentant auf viele individuelle Ideen, die konkret und zusammengesetzt sind, mithin auf Dinge, deren esse est percipi. Sowohl das Zeichen (eine Idee) als auch das Bezeichnete, Repräsentierte sei stets individuell; "allgemein" im Sinn der mehrmaligen Verwendung sei die Funktion der Repräsentation. Berkeley verwendet übrigens einen anderen Begriff der "Abstraktion", die nicht als "Abtrennen" oder "Weglassen", sondern als "Hervorheben" eines unselbständigen, "unabtrennbaren" Momentes im Ganzen

300

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

eines Dinges (z.B. des Momentes der Dreieckigkeit im Ganzen eines bestimmten Dreiecks) verstanden wird. 21 Husserl teilt bis zu einem gewissen Grad Berkeleys Ansicht und versucht zu zeigen, daß man zu einer Spezies (z. B. zum Weiß, im Hinblick auf welches zwei Gegenstände gleich "weiß" sind) weder durch die "Abstraktion" als Abtrennen, "Weglassen" anderer Bestimmtheiten des gegebenen Dinges noch als das "Hervorheben" unselbständiger Momente in einem konkreten Ganzen gelangen kann. In beiden Fällen gelange man höchstens zum individuellen Weiß des gegebenen Dinges, des gegebenen Hemdes oder des Fells des gegebenen Pferdes, nie aber zu dem, im Hinblick worauf zwei "Weißheiten" in zwei verschiedenen Dingen "gleich" sind. Er hält es jedoch für möglich, zu diesem "Weiß" zu gelangen, und den Akt seines Meinens oder "Sehens" nennt er "Ideation" (was übrigens nicht viel sagt). Er bemüht sich auch, an Beispielen zu zeigen, daß es möglich ist, einen derartigen Akt der "Ideation" zu vollziehen und dann gerade dieses Weiß als solches (als Spezies), nicht in konkretisierter, individualisierter Gestalt als Bestimmtheit gewisser individueller Gegenstände, zu meinen. Der Akt der "Ideation" sei auch etwas ganz anderes als das Vermeinen einer Qualität, die "hervorgehoben" wird und eine individuelle Bestimmung eines individuellen Gegenstandes ausmacht. Die bei den englischen Empiristen (von Locke bis hin zu Hume und den modernen Humeanern) unternommenen Versuche, nachzuweisen, daß so etwas wie jene Qualität des Weißes (als Spezies) nicht existiert, sind - nach Husserl - mit einem Widerspruch behaftet. Denn indem sie die diese Spezies leugnende Behauptung begründeten, würden sie implicite oder tacite diese Spezies voraussetzen. Diesen Einwand richtet Husserl speziell gegen die Theorie Humes, der die Identität der Spezies auf "Ähnlichkeitskreise" zurückführt, indem er behauptet, daß es nur viele einander in gewisser Hinsicht ähnliche Gegenstände gebe, nicht aber eine Spezies. Denn es gibt - nach Husserl - viele "Ähnlichkeitskreise" eines Gegenstandes im Verhältnis zu anderen, wie übrigens Hume selbst zugibt. Wenn wir aber diese Kreise einander gegenüberstellen wollen, um denjenigen auszuwählen, im Hinblick auf welchen der gegebene Gegenstand im Verhältnis zu den Gegenständen des entsprechenden Kreises "ähnlich" ist, können wir nicht umhin, anzuerkennen, daß jeder solche Ähnlichkeitskreis durch eine Spezies

21

Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen [Bd.] II, II. Untersuchung, § 20.

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

301

bestimmt ist. Könnte der Einwand der Widersprüchlichkeit gegen jede mögliche Theorie gerichtet werden, die einerseits so etwas wie jenes "Weiß" überhaupt und andererseits jene "Ideation", von der Husserl in den Logischen Untersuchungen spricht, in Abrede stellt, dann hätten wir tatsächlich einen Beweis dafür, daß beides unvermeidlich anzunehmen ist. Man weiß aber nicht, ob Husserls Ausführungen, die ausdrücklich gegen bestimmte Theorien der genannten englischen Empiristen gerichtet sind, sich verallgemeinern und gegen alle möglichen Negationen der Spezies und der "Ideation" geltend machen lassen. Bevor ich aber auf die Frage eingehe, worin jene "Ideation" besteht, möchte ich klären, ob die später bei Husserl vorkommenden Begriffe "Wesen" und "Wesensschau" sich mit der Spezies (z. B. mit jenem Weiß oder Rot) bzw. mit der Ideation einfach gleichsetzen lassen, wie das Husserls Äußerungen in Ideen I nahelegen. Es stellen sich hier verschiedene Bedenken ein. Zunächst weisen alle Beispiele, deren sich Husserl in den Logischen Untersuchungen bedient, um zu zeigen, daß es so etwas wie "Ideation" gibt, letzten Endes immer auf eine Qualität hin. Diese Qualität mag eine primäre oder eine sekundäre sein, sie wird aber immer nur für sich betrachtet, ohne daß man die Frage erwägt, ob eine konkrete "Weißheit" nicht vielleicht immer einem Ding zukommen müsse, ob es also nicht unzulässig sei, sie nur "für sich selbst" und unter Abstraktion von allen Fällen zu betrachten, in denen sie einem Ding anhaftet. Gewiß kommt es Husserl in den Logischen Untersuchungen auf mögliche Gegenstände der "Ideation" an, die über den Bereich dessen, was jene Spezies ist, hinausgehen. Es geht ihm also speziell um die Objekte von Untersuchungen der Mathematik (insbesondere der Geometrie: das Dreieck das ist eiir Beispiel Berkeleys) und vor allem um die "Bedeutungen", die in den logischen Gebilden solcher Art wie "Sätze" oder Begriffe beschlossen sein sollen. Denn die ganze Betrachtung über die Spezies dient doch Husserl dazu, darzulegen, daß die Gegenstände der Logik, d. h. Sätze oder deren Bedeutungen, nicht etwas Konkretes und Individuelles sind, was in Denkakten beschlossen wäre, sondern den gedachten Sinn in specie ausmachen. Als Beispiele dienen hier nicht nur vollständige Sätze, sondern auch die Bedeutungen von Namen und verschiedenen logischen Funktoren (logischen Konstanten), wie "alle", "ein", "manche", "einige", "wenn - dann" usw. Husserl sieht sie zu Recht als etwas an, was in logischen Gebilden eine große Rolle spielt und was

302

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

wir zugleich weder unter den Gegebenheiten der sinnlichen Wahrnehmung noch einer anderen Erfahrung finden können. In ihrem Fall kann man sich nicht (wie das bei der Spezies "Weiß" möglich ist) auf die unselbständigen Momente der individuellen Dinge berufen, die uns in der Wahrnehmung gegeben sind. Und die Identität ihres Sinnes in vielen logischen Gebilden verwehrt es uns auch, sie unter den konkreten Sinngehalten der Denkakte zu suchen. Sie sind somit etwas ebenso Allgemeines wie die "Weißheit überhaupt". Daher spricht hier Husserl von "allgemeinen Gegenständen" und "Allgemeinvorstellungen". Zur Stützung seiner These, daß die Bedeutungen (Sinne) etwas Spezifisches (Gegenstände in specie) seien, beruft sich Husserl letzten Endes auf gewisse einfache Qualitäten, wie Weiß, Rot, Bitterkeit oder Dreieckigkeit (als eine "Gestalt"). In seiner Auseinandersetzung mit Berkeley knüpft er an das Beispiel des "Dreiecks" an und behauptet, daß "das Dreieck", so wie es in der Mathematik betrachtet wird, gegenüber einem individuellen "Kreidedreieck", das weder exakt flach ist noch gerade, eindimensionale Seiten hat, etwas wesentlich anderes sei. 22 Zugleich spricht er vom Dreieck schlechthin als etwas, was durch "Dreieckigkeit" konstituiert ist. Hiermit verweist er auf eine einfache "Qualität" (Gestalt) in specie, die für sich betrachtet wird und etwas anderes ist als eine individuelle Bestimmtheit eines konkreten, individuellen Dreiecks, nämlich etwas, was sowohl von der Funktion des einem Ding Zukommens als auch von der Seinsindividualität, wie sie die Bestimmtheiten (insbesondere Merkmale) von Einzeldingen kennzeichnen, gleichsam befreit ist. Danach überträgt er nur - wenn man so sagen darf - den Fall einfacher Qualitäten auf andere von ihm untersuchte allgemeine "Gegenstände". Er bemerkt dabei anscheinend keinen prinzipiellen Unterschied zwischen einem in der euklidischen Geometrie in jeder Hinsicht eindeutig bestimmten Dreieck (z. B. einem von zwei kongruenten Dreiecken), mithin einem "individuellen" Dreieck im Bereich der "allgemeinen" Gegenstände, und dem "Dreieck überhaupt", das beliebige Seiten und Winkel haben kann, wenn nur die Summe seiner zwei Seiten größer ist als seine dritte Seite. Er verwirft zwar jenes absurde Dreieck Lockes, das zugleich gleichseitig und nicht-gleichseitig, rechtwinklig und nicht-rechtwinklig sein soll, führt jedoch an dessen Stelle - als "Dreieck überhaupt" - nichts anderes ein. Er

22

[Vgl. Husserl, Logische Untersuchungen Bd. II, II. Untersuchung, §§ 20, 30.]

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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spricht nur manchmal vom Begriff des Dreiecks, aber dieser Begriff selbst ist doch nicht das "Dreieck": Er kann sich wohl unter den logischen Gebilden finden, nicht aber unter den Objekten der Mathematik, d. h. den Objekten, die allgemeinen mathematischen Begriffen entsprechen. 23 Die Frage nach einem prinzipiellen Unterschied zwischen einem in der euklidischen Geometrie betrachteten "individuellen" Dreieck (in Husserls Sprache - einem Dreieck in specie) und dem Dreieck "überhaupt" wurde bei Husserl nicht endgültig geklärt, obwohl er diese Objekte miteinander nicht gleichsetzte. Ein ähnlicher Unterschied besteht z.B. zwischen der Zahl "drei" und einer [entsprechenden] Zahl aus einer Reihe der natürlichen Zahlen. Husserl gebraucht in den Logischen Untersuchungen außer dem Terminus "Spezies" auch den Terminus "Wesen", er erklärt aber nicht, wie sich diese Termini (bzw. ihre Gegenstände) zueinander verhalten. Er spricht dabei mitunter vom "Wesen der Spezies", und zwar derart, als sei damit etwas ähnliches gemeint, wie wenn man vom "Wesen des Menschen" oder "Wesen des materiellen Dinges" spricht. Es fragt sich jedoch, ob der Begriff "Wesen", auf die Spezies angewendet, gegenüber dem auf die individuellen und speziell realen Objekte angewandten "Wesens"begriff nicht verallgemeinert wird. Und außerdem, ob eine solche Verallgemeinerung zulässig ist, ob also - mit anderen Worten - eine Spezies ein "Wesen" in demselben Sinne haben kann, in dem dies bei individuellen Gegenständen möglich ist. Das hängt natürlich davon ab, wie Husserl das "Wesen" von etwas bestimmt oder wenigstens umschreibt. 24 In den Logischen Untersuchungen gibt er keine solche Bestimmung oder Umschreibung. Erst in den Ideen I finden wir eine Reihe von Erläuterungen, die aber - wie wir bald sehen werden - einander nicht äquivalent zu sein scheinen.

Man kann aber Husserl nicht unterstellen, daß er die allgemeinen mathematischen Begriffe mit ihren gegenständlichen Korrelaten einfach verwechselt habe. Die Mathematiker sagen bis heute nicht selten, die Mathematik beschäftige sich mit "Begriffen". Husserl würde das bestimmt nicht sagen. Man muß aber immerhin fragen, was es ist, das in der (euklidischen) Geometrie dem Begriff "Dreieck überhaupt" entspricht. 24

Was die Spezies betrifft, so wird sie formal als die Hinsicht bestimmt, in bezug worauf zwei individuelle Gegenstände gleich sind, außerdem durch Beispiele solcher Art wie das Weiß oder eine Gestalt (z.B. die Kugeligkeit) und schließlich durch die Feststellung, daß sie ein Allgemeines (Nichtindividuelles) sei.

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

Die erste führt Husserl bei seiner Betrachtung der individuellen (insbesondere realen) Gegenstände ein. Alles, was in der Zeit und im Raum real existiert und sich in einem bestimmten Augenblick an einem bestimmten Ort befindet, könnte sich - nach Husserl 25 - "seinem Wesen nach" an jedem anderen Ort und an jeder anderen Zeitstelle befinden. Desgleichen sagt Husserl, daß es "sich ändern könnte, während es faktisch ungeändert ist, oder sich in anderer Weise ändern könnte, als wie es sich faktisch verändert. Individuelles Sein jeder Art ist (...) zufällig. Es ist so, es könnte seinem Wesen nach anders sein." 26 Es unterliege zwar gewissen allgemeinen Gesetzen (physikalischen Gesetzen, Naturgesetzen), aber zu seinem Wesen gehöre, daß auch diese Gesetze "zufällig" seien. [Ferner sagt Husserl,] "daß es zum Sinn jedes Zufälligen gehört, eben ein Wesen, und somit ein rein zu fassendes Eidos zu haben, und dieses steht nun unter Wesens-Wahrheiten verschiedener Alllgemeinheitsstufe". 27 Das ist eben die erste Erläuterung des "Wesens" von einem individuellen (realen) Objekt (Gegenstand einer möglichen Erfahrung). Ob die angeführten Behauptungen Husserls wahr sind, mag einstweilen dahingestellt bleiben. Wir möchten zunächst erwägen, wie sich im Lichte dieser Erläuterung das "Wesen" des individuellen Gegenstandes darstellt. Wenn sich ein materielles Ding in einem gewissen Augenblick an einem bestimmten Ort befindet und sich nicht ändert, dann bildet sowohl [der Umstand], daß es sich im gegebenen Augenblick an diesem Ort befindet, als auch, daß es sich nicht ändert, einen Sachverhalt [innerhalb] dieses Dinges, und zwar einen "zufälligen" Sachverhalt, der als solcher nicht zu seinem Wesen gehört. Das "Wesen" eines Einzeldinges ist somit etwas in diesem Ding, was keine darin bestehenden, aber zufälligen Sachverhalte (oder - wenn es jemand kürzer sagen will - Merkmale) umfaßt. Zu diesem "Wesen" gehören nur manche (die nicht-zufälligen) Merkmale des Dinges. Das Wesen des Dinges erschöpft somit nicht die Gesamtheit seiner Bestimmungen. Das entspricht auch Husserls späterer Behauptung, das Wesen eines individuellen Gegenstandes sei ein "Bestand an wesentlichen Prädikabilien, die ihm zukommen müssen (...), damit ihm andere, sekundäre, relative Bestimmungen zukommen können". 28 25

[Ideen I, S. 8, 9 (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 12).]

26

[Ideen I, S. 9 (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 12).]

27

[Ideen I, S. 9 (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 12).]

28

[Ideen I, S. 9 (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 12-13).]

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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Es wird dabei gesagt, daß dieser Gegenstand als "Seiender, wie er in sich selbst ist" 29 betrachtet werden soll. Dabei ist aber nicht von einem speziell ausgewählten individuellen Ding, sondern von einem beliebigen bzw. von jedem Ding die Rede. Jedes Ding hat ein solches "eigenes" Wesen. Einerseits sagt man von den Dingen, daß sie "an und für sich" 30 ein solches Wesen hätten, andererseits aber auch, daß dieses Wesen - als "Wesen" für alle [entsprechenden] Einzeldinge - irgendwie ein und dasselbe sei. 31 Dementsprechend sagt auch Husserl später, daß jenes Wesen, das im gegebenen Ding "selbst" enthalten ist - in diesem Sinn also "sein" Wesen bildet - ebenso individuell wie das Ding selbst und im Verhältnis zu diesem unselbständig (unabtrennbar) sei und daß es nur eine faktische Vereinzelung des "Wesens" ausmache, dem mögliche Individuen entsprechen. Im Ding selbst ist somit nur eine "Vereinzelung" des Wesens enthalten, das sich selbst außerhalb dieses Dinges befindet und für viele mögliche Individuen ein und dasselbe ist. Das Wesen selbst ist also nicht vereinzelt, sondern allgemein, und es ist der Vielheit der Dinge, in denen seine individuellen Einzelfälle auftreten, nur "zugeordnet" (es entspricht ihnen nur). In zweifachem Sinn kann man also von einem "Wesen" sagen, es sei das "eigene" Wesen eines Einzeldinges ("sein" Wesen): Erstens kann das bedeuten, daß in dem Ding selbst eine "Vereinzelung" des "Wesens" als eines Allgemeinen enthalten ist, zweitens aber, daß das Wesen insofern das Wesen "dieses Dinges" ist, als es diesem Ding dadurch zugehört, daß dieses eine Vereinzelung jenes allgemeinen Wesens enthält. Dabei umfaßt - um das noch einmal zu betonen - dasjenige, was vom "Wesen" in einem Einzelding vereinzelt wird (und darin enthalten ist), nur einen Bestand derjenigen Merkmale (Sachverhalte) des Dinges, die für dieses nicht zufällig und insofern notwendig sind, als sie eine unentbehrliche Bedingung dafür ausmachen, daß ihm zufällige, sekundäre, relative Bestimmungen

29

[Ideen I, S. 9 (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 13).]

30

[Vgl. Ideen I, S. 9 (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 13).]

•1 1

Vgl.: "Der (selbst eidetische) Zusammenhang, welcher zwischen individuellem Gegenstand und Wesen statthat, wonach jedem individuellen Gegenstand ein Wesensbestand als sein Wesen, wie umgekehrt jedem Wesen mögliche Individuen entsprechen, die seine faktischen Vereinzelungen wären, begründet eine entsprechende Aufeinanderbeziehung von Tatsachenwissenschaften und Wesenswissenschaften". L.c. S. 16 [Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 20].

306

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

zukommen können. Das so verstandene Wesen der Einzeldinge hat mit der in den Logischen Untersuchungen betrachteten Spezies gemeinsam, daß es nicht individuell, sondern allgemein ist und vielen individuellen Gegenständen entspricht, so wie die Spezies vielen individuellen Qualitäten entspricht, die den individuellen Gegenständen zukommen. Zugleich unterscheidet es sich aber von der Spezies - scheint es - dadurch, daß während die Spezies als einfache Qualitäten erschienen, das "Wesen" in dem jetzt in Rede stehenden Verständnis ein Komplex (eine zusammengehörende Vielheit) von "Prädikabilien" zu sein scheint, die sich einem Ding mit Recht zuschreiben lassen. Der Umkreis oder die Auswahl dieser Bestimmungen ist zunächst - scheint es nur dadurch bestimmt, daß sie in dem Ding unentbehrlich für das sein sollen, was darin "zufällig", "sekundär", "relativ" ist (wobei es nicht klar ist, ob diese drei Termini ein und dasselbe oder auch drei verschiedene, aber hier in gleichem Maße in Betracht kommende, "mögliche" Kategorien von "Merkmalen" des Einzeldinges bedeuten). Es ist an den angeführten Stellen der Ideen I nicht einmal gesagt, daß diese einzelnen "Prädikabilien" - wie ich soeben erwähnt habe - "zueinander gehören". Sie bilden aber alle insgesamt sogar in ihrer Zusammenfassung betrachtet - etwas, was in diesem Ding unselbständig, unabtrennbar ist. "Unabtrennbar" wovon aber? Wohl nicht von diesen zufälligen sekundären Bestimmungen, denn diese könnten doch gerade wegfallen oder durch andere derselben Art ersetzt werden. Ist also dieser ganze Komplex der "wesentlichen" Bestimmungen unabtrennbar vom Ding selbst? Das scheint eher unverständlich, denn dann würde wohl vom Ding nichts mehr übrigbleiben. Es liegen also nur drei Möglichkeiten vor: Entweder ist dieser Komplex der "wesentlichen" Bestimmungen unabtrennbar von etwas Besonderem in diesem Ding (was eventuell auch diesem Komplex zugehört), oder die einzelnen Bestandteile dieses Komplexes der "wesentlichen" Bestimmungen lassen sich voneinander nicht trennen, sondern gehören notwendig zueinander, oder aber dieser ganze Komplex muß noch durch etwas anderes ergänzt werden, was zu dem (vereinzelten) Wesen selbst zwar nicht mehr gehört, was jedoch (im Ganzen) vom Ding nicht wegfallen kann. Beim Klarlegen dieser Frage können für uns Husserls andere Behauptungen über das "Wesen" instruktiv sein. Wir lesen nämlich in den Ideen I, daß der Bestand an wesentlichen Prädikabilien von Husserl vor allem als "Eigenart" bezeichnet wird, die jeder individuelle Gegenstand, jedes Dies

§ 26. Die "eidetische " Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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da! (TODETI) "als 'in sich selbst' soundso beschaffener" 32 besitzt. Dieser Ausdruck: '"in sich selbst' soundso beschaffener" heißt nur soviel, daß man dabei alles außer Betracht lassen muß, a) was sich außerhalb des gegebenen Dinges befindet und b) was durch die Umgebung des gegebenen Dinges, mitbedingt ist, also wieder durch etwas, was sich außerhalb seiner, aber in irgendeinem Verhältnis oder einer Beziehung zu ihm befindet. Diese "Eigenart" selbst ist jedoch nicht näher erläutert, außer daß sie mit dem schon besprochenen "Bestand an wesentlichen Prädikabilien" gleichgesetzt wird. Dadurch wird also die Frage nicht erledigt. Die Behauptung: "Alles zum Wesen des Individuums Gehörige kann auch ein anderes Individuum haben" (I.e. S. 9) 33 bestätigt nur, daß das "Wesen" (des Individuums) von vornherein als ein Allgemeines verstanden wird, das sich außerhalb der gegebenen individuellen Gegenstände befindet und diesen nur entspricht, und zugleich als etwas, was in diesen Individuen die gleichen "Vereinzelungen" findet, was also in seinen Komponenten so geartet ist, daß seine Einzelfälle in materialer (inhaltlicher, qualitativer) Hinsicht einander gleich sind und sich nur durch die jeweils andere Existenz, Individualität voneinander unterscheiden. Diese Tatsache legt die Vermutung nahe, daß das "Wesen" (des Individuums) in Husserls Verständnis nie so etwas wie die haeeeeitas bei Duns Scotus ist. Es ist also nicht so, daß es durch seine qualitative Einzigkeit (wie die socratitas bei Duns Scotus) nur eine einzige Vereinzelung zuließe. 34 Das macht es aber nicht verständlich, wovon dieser Bestand an "wesentlichen Prädikabilien" unabtrennbar sein soll. Als Hinweis kann uns jedoch noch eine andere Behauptung über das "Wesen" (von etwas, einem Individuum) dienen, nämlich: "Zunächst bezeichnete Wesen das im selbsteigenen Sein eines Individuum als sein Was Vorfindliche. Jedes solche Was kann aber 'in Idee gesetzt werden'". "Das Erschaute ist dann das entsprechende reine Wesen oder Eidos, sei es die ober-

32

[Ideen I, S. 9 (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 12).]

34

Weder in Husserls Schriften noch in meinen Gesprächen mit ihm habe ich je eine Äußerung

[Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 13.] gehört, in der er zu Scotus' Konzeption der haeeeeitas Stellung genommen hätte. Ich kann also nicht sagen, ob Husserl diese Möglichkeit überhaupt ausschließt oder ob er nur keine Gelegenheit hatte, sich mit dieser Frage zu beschäftigen. Auf jeden Fall kommt die haeeeeitas bei dem hier besprochenen Verständnis des "Wesens" nicht in Betracht.

308

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

ste Kategorie, sei es eine Besonderung derselben, bis herab zur vollen Konkretion".35 Das Was eines Dinges ist nicht mehr ein Bestand an gewissen (insbesondere wesentlichen) Bestimmungen, sondern ein einziges (ursprüngliches oder sekundäres) qualitatives Moment, das im (individuellen) Ding eine derart besondere und bedeutsame Rolle spielt, daß es entweder dessen eigene Natur oder wenigstens ein in dieser Natur enthaltenes, unselbständiges, aber zugleich allgemeines Moment derselben bildet. Wenn wir die Frage: "Was ist das?" stellen und [zugleich] auf ein Ding oder einen Prozeß zeigen, bitten wir, daß das Ding seiner Natur nach bestimmt werde. Wir antworten dann: "Das ist (ein) Schreibtisch" oder "Das ist (ein) Möbel (ein Wohngegenstand)" usw., "Das ist (ein) Quadrat", "Das ist (ein) Parallelogramm", "Das ist (ein) Viereck" usw. In jedem dieser Fälle ziehen wir eine Qualität heran ("Quadratheit", "Parallelogrammheit", "Viereckigkeit"), um den gegebenen Gegenstand sub specie - wie wir uns ausdrücken - dieser Qualität zu erfassen, die das Ding "konstituiert" und eben darüber entscheidet, was es ist. Dieses Erfassen eines Dinges sub specie soll bedeuten, daß das entsprechende Ding unter einem Aspekt, mit einem Gepräge auftritt, das ihm nicht [nur] "zukommt", ihm nicht nur "zufällt", sondern vielmehr dieses Etwas bildet, es zu einem Ding "einer bestimmten Art" oder zu einem einzelnen Individuum "in seiner Art" macht. Ein solches qualitatives Moment mit der Rolle des "Konstituierens", des "Bildens" des Gegenstandes nennen wir dessen "Natur".36 Schon Aristoteles hat dieses Moment aus der Gesamtheit der Bestimmungen des Seienden herausgehoben, indem er es Ή bzw. Ή EINAI (Was oder Was-Sein) nannte und ihm POION einai, d.h. "Wie-Sein" (z.B. Hölzern-Sein, Schwer-Sein, HartSein usw.) gegenüberstellte. Was zu POION einai gehört, sind die Merkmale, das einem Ding Zukommende (symbebekos). Wenn wir von einem Ding sagen, daß sein Was durch die "Quadratheit" konstituiert wird, geben wir seine Natur an. Wenn wir aber von demselben Objekt sagen, es sei ein Parallelogramm, weisen wir auf ein unselbständiges Moment hin, das in dem, was seine Quadratheit ausmacht, gleichsam enthalten ist, das aber für sich allein - ohne Parallelogrammheit und Rechtwinkligkeit - den betreffenden

35

[Ideen I, S. 10 (Husserliana ΙΙΙ/1, hrsg. von K. Schuhmann, S. 13).]

36

[Vgl. Ingarden (1964/65), Bd. II/l, §§ 39,40.]

§ 26. Die "eidetische " Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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Gegenstand nicht konstituieren kann, nicht [wirklich] seine volle Natur ausmacht, sondern nur als eine solche betrachtet werden kann. Ich spreche in diesem Fall von der "Quasi-Natur" des Gegenstandes. 37 Dann aber sagen wir gewöhnlich nicht: "Dies da ist (ein) Parallelogramm", sondern: "Dies da ist ein Parallelogramm [unter den Parallelogrammen]", "Dies da ist ein Viereck [unter den Vierecken]" oder schließlich: "Dies da ist eine geometrische Figur [unter den geometrischen Figuren]" 38 und weisen damit jedesmal auf eine immer allgemeinere Qualität hin, bis auf die - wie sich Husserl ausdrückt "oberste Kategorie". 39 Und entweder beziehen wir diese Bestimmungen auf ein Individuum bzw. unterscheiden in einem Individuum (einem Einzelding) derartige "Qualitäten" (und dann weisen wir auf etwas hin, das im Gegenstand enthalten und ebenso individuell ist wie er selbst); oder wir gehen dazu über, sie als etwas Ideales und Allgemeines zu erfassen (Husserl sagt: "in Idee gesetzt"), und dann haben wir es mit einer reinen Spezies zu tun, deren Vereinzelungen die Quasi-Natur von vielen individuellen Gegenständen bilden oder auch in ihre [echte] Natur als deren unselbständiges Moment eingehen können. Husserl spricht - gemäß der zuletzt angeführten Behauptung - auch in diesem Fall vom "reinen Wesen". Diese Auffassung des "Wesens" (von etwas) unterscheidet sich aber erheblich von deijenigen, die ich auf Grund von Husserls früher angeführten Äußerungen zu explizieren versuchte. Hier handelt es sich offensichtlich um dasselbe, was in den Logischen Spezies oder

EIDOS

Untersuchungen

genannt wurde: um eine Wesenheit - oder genauer - um

nur einige solche Wesenheiten, die dazu geeignet sind, das Was eines Einzeldinges (sein τι) zu bilden. Eine solche Wesenheit wird dabei - wenn man berücksichtigt, daß sie das Was des Dinges (sein τι) bildet - nicht mehr in ihrer reinen Qualität betrachtet, sondern in der Funktion des Natur-Seins, des Was-Bildens, die sie gegenüber dem betreffenden Ding ausübt. Sie bildet aber - gemäß der vorigen Bestimmung - nicht selbst das "Wesen" eines Ein-

37

[Vgl. Ingarden (1964/65), Bd. II/l, S. 82 f.]

IO

[Vgl. Ingarden (1964/65), Bd. II/l, S. 79 f. Ingarden geht es hier um einen im Deutschen nur schwer artikulierbaren Unterschied zwischen Urteilen, in denen ein Gegenstand direkt in seiner konstitutiven Natur charakterisiert wird, und solchen, nach Ingardens Auffassung von den ersteren wohl zu unterscheidenden Urteilen, die ihren Gegenstand in eine bestimmte Klasse einordnen.] 39

[Vgl. Ideen I (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann), §§ 15, 16.]

310

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

zeldinges, sondern sie gehört nur zu jenem Wesen, innerhalb dessen sie die besondere Rolle des "Konstituierens" dieses Gegenstandes spielt. Neben ihr müssen aber noch andere, zu diesem Wesen gehörende Beschaffenheiten auftreten, die - als dazu gehörende - "wesentliche" Beschaffenheiten heißen und die Materie von [wesentlichen] Merkmalen [des Gegenstandes] ausmachen. Sie alle bilden erst diesen Bestand an wesentlichen Prädikabilien, die einem individuellen Gegenstand eigen sein müssen, damit ihm andere, sekundäre, relative Bestimmungen zukommen können. Fragen wir nun, was am Gegenstand sein "Wesen" bestimmt, welche die Beschaffenheiten sind, die "mit Notwendigkeit" dem Wesen des gegebenen individuellen Gegenstandes zuzurechnen sind, dann können wir - was Husserl nicht mehr tut - antworten, daß es jenes Was des Gegenstandes (d. h. seine Natur) ist, das (mindestens in gewissen Fällen) darüber entscheidet. Mit Rücksicht darauf, was den gegebenen individuellen Gegenstand ausmacht, muß zu seinem Wesen eine bestimmte Anzahl von wesentlichen Merkmalen gehören. Diese Merkmale treten in diesem Gegenstand auf und müssen darin auftreten, solange er er selbst bleibt, d. h. unter allen Veränderungen, denen er eventuell unterliegt, sein Was (Ή), seine (individuelle) Natur bewahrt. Demgegenüber können die anderen, zufälligen und sekundären, relativen Merkmale unter Bewahrung des Wesens des Gegenstandes - falls er überhaupt veränderlich ist - Veränderungen erfahren. Dabei kann in allen Fällen zweierlei unterschieden werden: einerseits das ideale und allgemeine "reine Wesen", dem die möglichen individuellen Gegenstände zugeordnet sind, die in sich eine "Vereinzelung" dieses "reinen Wesens" tragen, und andererseits das in dem gegebenen Gegenstand vereinzelte und darin enthaltene Wesen in Konkretion. So kommen wir auf Grund unserer Analyse von Husserls Erklärungen über das "Wesen" (von etwas) 40 zur Überzeugung, daß die folgenden Unterscheidungen gemacht werden müssen:

Husserl bedient sich oft des Terminus "Wesen", ohne "Wesen von etwas" oder "Wesen einer Sache" hinzuzufügen. Streng genommen kann jedoch das vereinzelte "Wesen" nur ein Wesen von etwas, und zwar von einem bestimmten individuellen Gegenstand sein, in dem es enthalten ist; es kann von diesem Gegenstand nicht abgetrennt oder losgelöst werden. Nur das "reine Wesen" als ein ideales und allgemeines ens kann etwas für sich sein; und wenn man sagt, es sei Wesen von etwas, dann heißt das nur, daß es den Elementen der Mannigfaltigkeit derjenigen Gegenstände zugeordnet ist, in denen seine Vereinzelung auf-

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

311

1. Die "reine Spezies", d.h. die reine ideale Qualität nur für sich genommen, ohne Berücksichtigung der Form, in der ihre Vereinzelung eventuell in einem individuellen Gegenstand auftritt, sei es als sein Was (Ή) - die "konstitutive Natur", sei es als ein Bestandteil seines

POION EINAI

- seiner [qua-

litativen] Ausstattung, wobei sie im ersten Fall in der Form der "Natur" oder in der Funktion der "Konstituierung" des Gegenstandes, im zweiten Fall in der Form des dem Gegenstand als sein Merkmal "Zukommens"

(SYMBEBEKOS)

steht. 2. Die "reine Natur" oder das "reine Merkmal" (Eigenschaft),

(SYMBEBE-

KOS - accidens), d. h. die reine Qualität in ihrem idealen und allgemeinen Charakter, aber schon in der Form der "Natur" oder des "Merkmals" (genauer: des "Merkmal-Seins", des "Einem-Gegenstand-Zukommens") genommen. 3. "Reines Wesen" als Bestand an "wesentlichen" Bestimmungen, die durch die reine Natur des gegebenen Gegenstandes mit Notwendigkeit determiniert werden und mitsamt dieser Natur ein innerlich zusammenhängendes Ganzes bilden, das für alle individuellen Gegenstände, die einem solchen Wesen zugeordnet sind, notwendig ist. Das "reine Wesen" in diesem Verständnis ist ein Ideales, Allgemeines, das außerhalb des Seinsbereichs aller ihm zugeordneten individuellen Gegenstände (Dinge) verbleibt. Die Vereinzelung eines "reinen Wesens" 41 in einem individuellen Gegenstand nenne ich schlechthin dessen "Wesen" (wie sich bald zeigen wird, ist das noch nicht das volle Wesen des Gegenstandes). Die Gegenstände, die in sich eine Vereinzelung des "reinen Wesens" tragen, das im Gehalt einer Idee auftritt, sind dieser Idee "zugeordnet". Man sagt auch, daß sie unter diese Idee "fallen". Das "Wesen" erschöpft jedoch nicht die volle "materiale" Ausstattung des Gegenstandes. 42 Um diese zu gewinnen, muß man das Wesen des Gegenstandes um

tritt. Und dadurch ist es indirekt "ihr" Wesen oder das Wesen jedes von ihnen, wenn sie überhaupt existieren. 41

Ich drücke mich so aus, indem ich vorläufig Husserls Terminologie aus den Ideen I verwende.

42

Die Ausdrücke "Materie" ("material") und "Form" ("formal") verwende ich hier im Sinne von der "Materie I" und der "Form I", wie sie von mir im Streit um die Existenz der Welt [Ingarden (1964/65), Bd. II/l] (VIII. Kap.) bestimmt wurden. Ich kann mich hier mit dieser Sache nicht näher beschäftigen.

312

TV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

dessen sekundäre, eventuell relative Merkmale ergänzen, die nicht aus seinem Wesen folgen, obwohl es sie zuläßt. Damit diese Merkmale im Gegenstand aktuell auftreten, ist noch die Existenz anderer Gegenstände erforderlich, die entsprechend ausgestattet sind und zum betrachteten Gegenstand in einem entsprechenden Verhältnis stehen. Die Existenz dieser anderen Gegenstände, und zwar unter den für das aktuelle Auftreten jener relativen Merkmale erforderlichen Bedingungen, ist aber im Hinblick auf das Wesen des gegebenen Gegenstandes, in manchen Fällen wenigstens, zufällig. Daher sind dann auch jene relativen Merkmale selbst für den gegebenen Gegenstand "zufällig", wenn auch nicht ganz beliebig. Andererseits können diese "zufälligen" Merkmale in ihrer Gesamtheit weder einfach wegfallen noch überhaupt fehlen. Verschwinden sie aus irgendwelchen Gründen aus dem Bereich des Gegenstandes, dann werden sie sofort durch andere abgelöst, die gegenüber dem Wesen dieses Gegenstandes gleichermaßen "zufällig", mithin durch etwas mitbedingt sind, was nicht zum gegebenen Gegenstand gehört. Daß bestimmte "zufällige" Merkmale dieser Art dem gegebenen Gegenstand aktuell zukommen, kann verschiedene Gründe haben. Wenn der Gegenstand real ist, kann das dadurch verursacht werden, daß in seinen Bereich die Wirkung eines anderen realen Gegenstandes eindringt, dessen Ausstattung in Verbundenheit mit der Ausstattung (insbesondere mit dem Wesen) des gegebenen Gegenstandes und mit dem Eintreten eines bestimmten Verhältnisses zwischen den beiden Gegenständen eine hinreichende Bedingung dafür abgibt, daß im gegebenen Gegenstand ein bestimmtes "sekundäres" Merkmal auftritt. Es können aber auch andere Gründe dafür vorliegen, auf die ich noch zurückkommen werde. Zuerst aber noch eine Bemerkung bezüglich des "Wesens" des individuellen Gegenstandes. Es ist sehr wichtig, daß bei der soeben besprochenen Auffassung des "Wesens" des individuellen Gegenstandes das Ganze seiner Ausstattung zweierlei enthält: 1. dieses Wesen, das zwar einen Teil dieser Ausstattung, aber keinen selbständigen Teil davon ausmacht, und 2. eine gewisse Auswahl aus seinen "sekundären" (insbesondere "relativen") Merkmalen, die jedoch vom Wesen des Gegenstandes nicht ganz unabhängig sind. Denn dieses Wesen ist durch das entsprechende "reine Wesen" so bestimmt, daß es, wenn es im gegebenen Gegenstand vereinzelt sein soll, zugleich auch erfordert, daß diesem bestimmte Arten von "sekundären" Merkmalen zukommen, es selbst aber dar-

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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über nicht mehr entscheidet, welche dieser Arten von Merkmalen diesem Gegenstand aktuell zukommen. Das Zukommen eines dieser Merkmale tritt ein, nachdem die schon angegebenen ergänzenden Bedingungen erfüllt worden sind. Dieser besondere Aufbau des individuellen Gegenstandes gehört natürlich auch zu seinem "Wesen" und stellt darin einen formalen Zug dar, der diesen Typus unter allen individuellen Gegenständen überhaupt auszeichnet. 43 Das Wesen des Gegenstandes ist somit in diesem Fall nicht rein material, sondern enthält gewisse formale Momente. Dabei können diese "sekundären" Merkmale noch verschiedener Art sein. Manchmal kann es sich hierbei um relative Merkmale sensu stricto handeln. Das ist ζ. B. bei den individuellen Gegenständen der euklidischen Geometrie der Fall. Die Fläche eines gleichseitigen Dreiecks mit der Seite a ist kleiner als die Fläche eines Quadrats mit der Seite a, aber die Fläche dieses Quadrats ist wieder kleiner als die Fläche eines regelmäßigen Sechsecks mit der Seite a\

In anderen Fäl-

len, z. B. bei den materiellen (physischen) Dingen, können außer den relativen Merkmalen sensu stricto auch noch die "erworbenen" oder, wie ich mich ausdrücke, "äußerlich bedingten" Merkmale auftreten. So ist z. B. die Gestalt eines Steinblocks, der mit einem Meißel behauen wurde, ein erworbenes Merkmal von diesem Steinblock. Sie kommt dem Gegenstand eine Zeitlang zu, indem sie nur derartige Veränderungen erfährt wie z.B. die Änderung seines [des Steinblocks] Volumens unter dem Einfluß von Temperaturschwankungen. Ein weiteres Beispiel: Die Gestalt des Wassers in einem Krug in einem bestimmten Gravitationsfeld und bei einem bestimmten Luftdruck ändert sich sofort, wenn der Krug sich neigt und das Wasser sich daraus ergießt. Daß das Wasser im gegebenen Augenblick diese Gestalt besitzt, liegt

Wie es sich also zeigt, ist der hier festgelegte Begriff des "Wesens" des individuellen Geenstandes noch nicht ganz allgemein. Er bezieht sich nicht auf alle möglichen individuellen Gegenstände, sondern stellt einen von mehreren verschiedenen Begriffen dar, die auf Gegenstände verschiedener formaler Typen Anwendung finden. Darin liegt ein prinzipieller Unterschied des hier besprochenen Begriffs des "Wesens" des Gegenstandes gegenüber allen Begriffen, die bisher von anderen Autoren dargestellt wurden. Ich habe diesen Begriff im 2. Band meines Buches Der Streit um die Existenz der Welt (Kap. XIV in polnischer Ausgabe [Ingarden (1947/48)] und Kap. XIII in deutscher Ausgabe [Ingarden (1964/65), Bd. II/l]) eingeführt. Dort werden auch andere Begriffe des "Wesens" von etwas angegeben.

314

[V. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

nicht an seinem Wesen, sondern an den Bedingungen, die ihm durch das Gefäß aufgezwungen werden und dadurch, daß das Wasser sich im Gefäß befindet. Dagegen gehört [die Tatsache], daß das Wasser überhaupt eine Gestalt annehmen muß, und zwar eine nicht-eigene Gestalt, zu seinem Wesen, bzw. es folgt aus der Natur einer Flüssigkeit, die sich in einem bestimmten Temperaturbereich befindet. Die Gegenstände von der Art jenes Steinblocks oder des Wassers zeichnen sich auch noch dadurch aus, daß ihre Gesamtausstattung von ihrer Umgebung (den anderen sich in derselben Seinssphäre befindenden Gegenständen) nicht unabhängig ist, sondern daß sie, wenigstens was manche ihrer Merkmale (Eigenschaften) betrifft, gerade seinsabhängig ist. Das ist auch einer ihrer Wesenszüge. So umfaßt ihr volles Wesen eine gewisse Auswahl von (oben schon angegebenen) "materialen" Bestimmungen, nämlich das Moment der Natur samt der dazu gehörenden Gruppe der mit der Natur notwendig verbundenen Eigenschaften, darüber hinaus gewisse Formzüge des Gegenstandes und sogar eine bestimmte Seinsweise. Der Zusammenhang des materialen Wesens des Gegenstandes dieser Art mit dessen Form geht über den hier angedeuteten Zug des ZusammengesetztSeins aus dem "Wesen" und einer Auswahl von "sekundären" oder zufälligen Merkmalen hinaus. Denn z.B. je nachdem, was zur Materie der Natur des Gegenstandes gehört, ist dieser entweder ein "Ding" - ein Stein, ein Berg, die Erde usw. - und besitzt dann die Form eines "in der Zeit verharrenden Gegenstandes"; oder er ist ζ. B. die Bewegung des Wassers in einem Fluß, und dann ist er ein "Prozeß", was mit seiner anderen Form sowie anderen Seinsweise usw. einhergeht. Nicht immer aber - was bisher nicht beachtet wurde - muß die Natur des individuellen Gegenstandes derart sein, daß sie ein so kompliziertes Wesen von ihm zur Konsequenz hat, wie ich es soeben umrissen habe. Die Form dieses Wesens kann auch viel lockerer sein, und zwar noch auf verschiedene Weise, oder auch viel geschlossener. Ich kann aber hier darauf nicht eingehen. Wichtig ist in diesem Augenblick etwas anderes, was uns die oben angegebene Unterscheidung 44 um ein viertes Glied ergänzen läßt. Wenn wir nämlich den Aufbau des Wesens des Gegenstandes erwägen und uns dessen be-

44

[Vgl. weiter oben, S. 311.]

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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wußt werden, daß alle Eigentümlichkeiten dieses Aufbaus davon abhängen, welches "reine Wesen" - wie ich mich bisher gemäß der Terminologie Husserls ausgedrückt habe - dem Wesen des Gegenstandes entspricht, dann leuchtet uns ein, daß dieses "reine Wesen" nur einen Bestandteil eines anderen Ganzen ausmacht, das zum gegebenen individuellen Gegenstand zwar im Verhältnis des Entsprechens steht, über diesen Bestandteil aber irgendwie hinausgeht und zugleich einer ganzen Gruppe von individuellen Gegenständen angehört, wobei es zu diesen Gegenständen im gleichen Verhältnis steht, das uns begegnet ist, als wir das Wesen eines Gegenstandes gesucht haben und von diesem zum "reinen Wesen" übergegangen sind. Dieses neue Ganze zeichnet sich gerade dadurch aus, daß es in einem solchen Verhältnis nicht nur zu einem, sondern zu mehreren - ausgewählten - individuellen Gegenständen stehen kann. Es unterliegt keinem Zweifel, daß man dieses Ganze seit Piaton mehrfach im Auge hatte, indem man sich verschiedener Termini, wie "Idee", "Begriff' usw., bediente. Denn daß es weder die Spezies im Sinne der idealen Qualität noch (wie ich mich hier ausgedrückt habe) das "materiale reine Wesen" ist, das scheint sicher. Ich habe mich - sofern ich weiß - als erster bemüht, den Aufbau dieses Gebildes klarzulegen, das ich "Idee" genannt habe. 4. Die allgemeine Idee und die besondere Idee. Als Beispiele von Ideen können uns solche Gebilde wie das "Dreieck überhaupt", das "Parallelogramm überhaupt", aber auch der "Mensch überhaupt", das "materielle (physische) Ding überhaupt" oder das "Bewußtseinserlebnis überhaupt" dienen. Hierzu gehören auch die formalen Ideen, wie der "Gegenstand überhaupt", der "Prozeß überhaupt" usw. Ich vergesse nicht den bekannten Fehler, den Locke begangen hat, indem er vom "Dreieck überhaupt" gesprochen hat. Das unten Gesagte soll es uns gerade erlauben, seinem Fehler zu entgehen. Jede "Idee" zeichnet sich vor allem durch ihren - wie ich mich ausgedrückt habe - doppelseitigen Aufbau aus. Sie besitzt einerseits eine Struktur qua idea, andererseits einen "Gehalt", durch den zwei Ideen sich primär voneinander unterscheiden, während sie meistens 45 die gleiche allgemeine Struktur aufweisen. Es lassen sich auch - im Hinblick auf ihren anders aufgebauten "Meistens" und nicht immer, denn es scheint, daß es auch verschiedene Typen von Ideen gibt, die sich voneinander gerade durch gewisse Einzelzüge ihres Aufbaus unterscheiden. Das ist aber ein Punkt, den ich hier nicht näher besprechen kann.

316

IV. Die Phänomenologie des "Wesens " der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

Gehalt - verschiedene Typen von Ideen unterscheiden. Im Gehalt jeder Idee tritt eine Vielzahl von Elementen auf, und zwar Elemente von zwei verschiedenen Typen. Es sind nämlich sog. "Konstanten" und "Veränderliche" der Ideengehalte. Man kann das leicht an geometrischen Beispielen zeigen, bei welchen wir über strenge Definitionen und über eine gewisse Anzahl von präzisierten Sätzen verfügen. Zu den Gehaltskonstanten der Idee "Parallelogramm überhaupt" (in der euklidischen Geometrie) gehört die Parallelogrammheit, die Parallelität der gegenüberliegenden Seiten, die Gleichheit der gegenüberliegenden Seiten, die Gleichheit der gegenüberliegenden Winkel usw. Daraus folgt eine Reihe von weiteren Konstanten, wie ζ. B. das Vorhandensein zweier sich halbierender Diagonalen. Zu den "Veränderlichen" [dieser Idee] gehört es, daß jede der Seiten irgendeine absolute Länge besitzt, wobei nur die Gleichheit der gegenüberliegenden Seiten erhalten sein muß. Auch die Innenwinkel haben irgendeine Größe, wobei die Variabilität ihrer Größe durch das Gesetz beschränkt ist, wonach die Summe dieser Winkel ständig gleich 360° ist. Man könnte auch sagen: Diese Veränderliche bedeutet soviel wie die Möglichkeit, daß ein Innenwinkel in einem in jeder [übrigen] Hinsicht bestimmten Parallelogramm einen der durch die Konstanten zugelassenen Werte annimmt. Viel schwieriger wäre es, auch nur einige Bestandteile des Gehaltes einer solchen Idee wie der "Mensch überhaupt" oder der "Organismus überhaupt" anzugeben. 46 Aber auch hier kann man beispielsweise darauf hinweisen, daß zu den Konstanten des Gehaltes der Idee des "Menschen überhaupt" gehört, daß der Mensch ein lebendiges und zugleich sterbliches Wesen ist, das Lungen und ein Blutsystem besitzt, daß er bei normalem Funktionieren des Zentralnervensystems ein Bewußtsein besitzt usw. Eine Veränderliche des Ideengehaltes des Menschen bildet dagegen z.B. irgendeine, innerhalb gewisser Grenzen schwankende Körpertemperatur, irgendeine Haar- oder Hautfarbe, irgendeine Stufe der intellektuellen Entwicklung, irgendeine Konzentrationsfähigkeit, irgendeine Empfindlichkeit im Bereich des Gesichts- und Tastsinnes oder irgendeine Unterscheidungsgabe in bezug auf Töne. Dabei ist in jedem dieser Beispiele von "Veränderlichen" der Bereich dieser "Veränderlichkeit" begrenzt, und auch die

Man könnte auch traditionell von der "Idee des Menschen überhaupt", "Idee des Dreiecks überhaupt" usw. sprechen.

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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Grenzen dieses Bereiches können oft "veränderliche" - oder genauer "irgendwelche" Grenzen sein. Sprechen wir von der "Veränderlichkeit", so handelt es sich gar nicht darum, daß die genannten Eigenschaften oder Eigentümlichkeiten eines Menschen sich im Laufe seines Lebens verändern, sondern vielmehr darum, daß sie bei den einzelnen Menschen in verschiedenen Modifikationen auftreten können - bei dem einen diese, bei einem anderen andere. So ist ζ. B. der Wuchs bei jedem einzelnen Menschen in gewisser Weise eindeutig bestimmt, und erst als so bestimmter unterliegt er in größerem oder kleinerem Maße Veränderungen. Verschiedene Menschen haben aber oft einen verschiedenen Wuchs. Die "Veränderliche" tritt im Ideengehalt in dem Sinne auf, daß sie die Möglichkeit des Zukommens verschiedener Spezialfälle, die Möglichkeit der Verschiedenheit bestimmter Arten von Determinationen ist, die den unter diese Idee "fallenden" Gegenständen zukommen. Im Ideengehalt treten vor allem "materiale" Veränderliche und Konstanten auf, d. h. diejenigen Veränderlichen und Konstanten, welche die Materie gewisser Bestimmungen der unter die betreffende Idee fallenden Gegenstände bestimmen, daneben aber auch "formale" und "existenziale" Veränderliche und Konstanten. Es bestehen zwischen ihnen gewisse Zuordnungen und Abhängigkeiten. So gehört z. B. zu der Konstanten, welche die Materie der Natur des Gegenstandes (oder die zu dieser Natur gehörenden Qualitäten) bestimmt, die konstante Form der Natur, nicht aber die Form des Merkmals oder der Eigenschaft. Es bestehen auch Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen Konstanten und Veränderlichen und unter Konstanten selbst usw. Man kann somit sagen, daß sich die Gehalte von zwei verschiedenen Ideen voneinander nicht nur dadurch unterscheiden, daß sie einfach andere Konstanten und Veränderliche beinhalten, sondern auch dadurch, daß sich die Beziehungen und Zusammenhänge zwischen ihren Elementen anders gestalten. Dieses System der Beziehungen und Zusammenhänge zwischen Bestandteilen des Ideengehalts entscheidet über eine gewisse Eigenstruktur der gegebenen Idee qua idea. Es fällt außerdem auf, daß, während im Gehalt einer Idee eine Veränderliche vorkommt, in einer anderen Idee an ihre Stelle eine Konstante tritt oder auch eine Reihe von Ideen vorliegen, in denen diese Veränderliche durch verschiedene Konstanten ersetzt wird, die Spezialfälle dieser Veränderlichen darstellen. So tritt ζ. Β. im Gehalt der Idee des Vierecks die Veränderliche: "mit irgendeiner Anzahl von Paaren paralleler Seiten" auf.

318

IV. Die Phänomenologie

des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse

und deren

Korrelate

Die entsprechenden [weniger allgemeinen] Ideen beinhalten aber die Konstanten: "mit einem Paar paralleler Seiten", "mit zwei Paaren paralleler Seiten" und "mit keinem Paar paralleler Seiten", bei derselben Konstanten: "Viereckigkeit". So zeigt es sich, daß es gleichsam Familien von Ideen gibt, die zueinander in bestimmten Beziehungen stehen. Auf diese Weise sagen wir z.B., daß die Ideen "Parallelogramm", "Trapez", "Trapezoid" der Idee des "Vierecks" untergeordnet sind und daß diesen Ideen gewisse Mengen von individuellen Gegenständen (obwohl nicht Einzelgegenständen) entsprechen, die Teilmengen der Menge der "Vierecke" ausmachen. Streng genommen sind es entweder bestimmte Parallelogramme oder bestimmte Trapeze oder bestimmte Trapezoide, die nur unter dem Aspekt des Viereck-Seins erfaßt werden (d. h. in ihrer Natur das Moment der Viereckigkeit einschließen). Individuelle Vierecke, die z. B. nur Vierecke, aber weder bestimmte Parallelogramme noch bestimmte Trapeze usw. wären, gibt es überhaupt nicht. Ebensowenig gibt es "Parallelogramme", die nicht z. B. hinsichtlich ihrer Seitenlänge bestimmte Quadrate oder hinsichtlich ihrer absoluten Seitenlänge bestimmte Rhomben mit einem bestimmten Innenwinkel usw. wären. Es existieren dagegen die Ideen "das Viereck überhaupt", "das Parallelogramm überhaupt" usw. Wir sehen jetzt einen prinzipiellen Unterschied zwischen den Ideen und den Einzelgegenständen oder wenigstens den individuellen Gegenständen (wie in der Geometrie): Während im Ideengehalt neben Konstanten immer irgendwelche Veränderlichen (gewöhnlich materiale Veränderliche, zum mindesten aber die Veränderliche der Individualität - wie im Gehalt der Idee des gleichseitigen Dreiecks mit hinsichtlich ihrer absoluten Länge bestimmten Seiten) auftreten müssen, können in den Einzelgegenständen 47 keine Veränderlichen in dem Sinne vorkommen, den ich hier für den Gehalt der Idee

Strenggenommen gibt es keine anderen "Gegenstände" - im Sinne selbständiger Subjekte von Merkmalen, mit diesen Merkmalen zusammen genommen - außer den Einzelgegenständen, so daß wir die Bestimmung "Einzel" weglassen und nur von "Gegenständen" sprechen können. Füge ich diese Bestimmung hinzu, dann tue ich das deswegen, weil man die realen "Erkenntnisgegenstände" von den [individuellen] idealen Gegenständen (in specie), wie den kongruenten Dreiecken, unterscheiden muß. Von beiden kann man sagen, daß sie in jeder Hinsicht eindeutig bestimmt sind; die ersteren sind aber annähernd Vereinzelungen der letzteren.

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

319

festgelegt habe. Wenn in der Idee keine "materiale" Veränderliche, sondern allein die Veränderliche der "Individualität" auftritt, dann bezeichnen wir diese Idee als eine besondere. Tritt dagegen sogar nur eine einzelne materiale Veränderliche hinzu, dann sprechen wir von allgemeinen Ideen. 48 Jede Idee aber, auch eine besondere, ist zugleich "allgemein" in einem anderen Sinn, nämlich insofern, als ihr immer eine endliche oder unendliche Anzahl von Gegenständen entspricht, die unter sie fallen. Einer allgemeinen Idee entspricht eine endliche oder unendliche Menge von unter sie fallenden Gegenständen. So hat z.B. die Idee des "regelmäßigen Vielflächners überhaupt" fünf Klassen von "regelmäßigen Vielflächnern": den Vierflächern, Würfeln usw. zu ihrem gegenständlichen Korrelat. Solange wir den Standpunkt vertreten, daß jede ideale Qualität (deren Konkretisierungen, nicht aber Vereinzelungen Konstanten von Ideengehalten ausmachen) immer "solcher Art" sei, daß ihre Vereinzelungen die Bestimmtheiten (genauer: die Materie der Natur oder eines Merkmals) von vielen verschiedenen Gegenständen bilden können, daß es aber keine sozusagen "individuenhaften" und zugleich individualisierenden Qualitäten gebe, für die Duns Scotus den Namen haecceitas - wie z.B. socratitas - geprägt hat, so lange ist jede Idee in dem soeben umrissenen Sinn "allgemein". Ob haecceitates existieren und insbesondere ob man dann auch die Existenz von "individuenhaften" Ideen annehmen müßte, das möchte ich hier offen lassen. Die Idee des Sokrates müßte jedenfalls keine Veränderliche, nicht einmal die der Individualität beinhalten, so daß sie gar keine Idee mehr wäre; und wenn sie eine solche Veränderliche enthielte, dann würde haecceitas eine Vielheit von "Sokratessen" bestimmen, in diesem Fall wäre sie aber wohl keine "individuenhafte" und "individualisierende" Qualität. Diese Frage brauchen wir hier nicht zu entscheiden. Unter den allgemeinen (materiale Veränderliche enthaltenden) Ideen müssen noch "exakte" und "unexakte" Ideen voneinander abgegrenzt werden. 49 Sie unterscheiden sich durch ihre Struktur bzw. durch den Aufbau ihrer Gehalte. In den exakten Ideen bildet nämlich die Konstante der "Natur" der unter die gegebene Idee fallenden möglichen Gegenstände eine (konkretisierte) Gestaltqualität, die es erfordert, daß in demselben Gegenstand mit ihr

48

[Vgl. Ingarden (1964/65), Bd. II/l, § 51.]

49

[Vgl. Ingarden ( 1925a), S. 266.]

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

auch eine eindeutig bestimmte Auswahl (Komplexion) von materialen Konstanten zusammen auftritt, welche die Materie seiner Merkmale bildet, und zwar eine solche Auswahl, daß sie der Materie der Natur dieses Gegenstandes gleichsam äquivalent ist. "Äquivalent ist", d. h. eine unentbehrliche und ausreichende Bedingung für das Auftreten dieser Natur in einem Gegenstand bildet. Es ist hier von den "möglichen" unter die betreffende Idee fallenden Gegenständen die Rede, denn keine Idee enthält in ihrem Gehalt eine Konstante, welche die faktische Existenz dieser Gegenstände determinieren würde. Die Idee bildet also keine hinreichende Bedingung für die Existenz der unter sie fallenden Gegenstände, sie ist dagegen deren notwendige Bedingung. Nicht in jedem Ideengehalt besteht diese "Äquivalenz" zwischen der Konstanten der Natur und dem Komplex von konstanten Merkmalen der unter diese Idee fallenden Gegenstände. In den Fällen, wo das nicht vorliegt, spreche ich von "unexakten" Ideen, die sich noch in einige Typen differenzieren (ähnlich wie es einige Typen vom Wesen des Gegenstandes gibt). Ich kann jedoch auf diese Details nicht eingehen. Denn bedeutsam sind für uns in diesem Zusammenhang zwei Fragen: erstens, auf welche Weise die Erkenntnis derjenigen Ideengehalte gewonnen werden kann, die in den erkenntnistheoretischen Überlegungen in Betracht kommen; zweitens, wie das wirkliche Wesen oder wenigstens die Natur der Bewußtseinserlebnisse erkannt werden kann, in denen sich das Erkennen gewisser Gegenstände abspielt und eventuell deren [effektive] Erkenntnis zustande kommt. Die Antwort auf die erste Frage ist unumgänglich, weil die Erkenntnis der Gehalte der allgemeinen Ideen des Erkenntniserlebnisses überhaupt und diejenige seiner möglichen Typen sowie der allgemeinen Ideen deren Korrelate (der Gegenstände der Erkenntnis) uns eine gewisse Anzahl von Begriffen und allgemeinen Sätzen liefern kann, die für die Erkenntnistheorie unentbehrlich sind und deren Fehlen wir in der rein deskriptiven phänomenologischen Erkenntnistheorie festgestellt haben. Es besteht dabei wenigstens die Hoffnung, daß die eventuell mögliche Erkenntnis der entsprechenden Ideengehalte uns Begriffe und allgemeine Sätze vermittelt, die mit ihrem Erkenntniswert die empirischen, durch die unvollständige Induktion gewonnenen Begriffe übertreffen werden, d.h. mit anderen Worten, daß sie uns die Erkenntnis a priori im phänomenologischen Verständnis verschafft. Die Erkenntnis der Ideen und speziell deren Gehalte

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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sowie die Erkenntnis der idealen Qualitäten werden wir - sofern sie überhaupt möglich ist - die Erkenntnis a priori sensu stricto nennen. Die Erkenntnis der Forschungsgegenstände der Mathematik ist nichts anderes als die Erkenntnis der Gehalte von (exakten) Ideen einer speziellen Gruppe, [die Erkenntnis], deren Ergebnisse in Sätze über die unter diese Ideen fallenden möglichen Gegenstände umformuliert werden können. Dagegen ist die Erkenntnis des "Wesens" der individuellen Gegenstände - ζ. B. der einzelnen Menschen, der einzelnen Erlebnisse usw. - nicht mehr sensu stricto a priori. Und es bleibt offen, ob und wie diese Erkenntnis gewonnen werden kann. Wenn wir jedoch die Erkenntnis der Ideengehalte von Erkenntniserlebnissen vollbracht haben und dadurch über gewisse Begriffe verfügen, können wir diese zum einen als Leitfaden verwenden, um unter den konkret vollzogenen Bewußtseinsakten gerade diejenigen Erlebnisse ausfindig zu machen, die beim Erkennen der Gegenstände von Wichtigkeit sind. Zum anderen werden es uns diese Begriffe erlauben, in diesen Gegenständen diejenigen Momente ihrer Materie und Form auszusuchen, die zu ihrem (exakten) Wesen gehören. Aber auch wenn wir schon über diese Vorbereitungsmittel verfügten, hätten wir noch eine andere Frage zu entscheiden, nämlich die Frage, ob gewisse von uns (im täglichen und im wissenschaftlichen Leben wie auch in der Erkenntnistheorie selbst) faktisch verwendeten Erkenntnisse tatsächlich (wirklich) ein Wesen besitzen, das es ihnen erlaubt (oder - im Gegenteil - verwehrt), eine Erkenntnis dieser oder jener Art zu gewinnen; ob wir somit bei ihrer Verwendung auf Ausschlag gebende Weise feststellen können, daß ein von uns gewonnenes Erkenntnisergebnis den oder jenen Wahrheitswert besitzt. Insbesondere betrifft das auch die in der Erkenntnistheorie selbst gewonnenen Erkenntnisse. Denn erst dann könnten wir wissen, ob die an sie gerichteten Forderungen überhaupt verwirklicht werden können bzw. ob die Erkenntnisse der Erkenntnisse tatsächlich gewonnen worden sind. Es steht vor uns eine Erkenntnisaufgabe solcher zweifachen Art. Denn es handelt sich zum einen um die Errichtung einer allgemeinen Erkenntnistheorie, die noch nicht vorentscheiden soll, ob und inwiefern wir Menschen über Erkenntnisfähigkeiten verfügen, die wertvolle Erkenntnisergebnisse liefern. Und zum anderen müssen wir darüber ins klare kommen, ob und inwiefern wir gerade über diese Fähigkeiten verfügen und ob ihre wirkliche Verwendung uns tatsächlich zu den erkenntnismäßig wertvollen Ergebnissen geführt hat. Ich werde mich in

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

Zukunft bemühen, diese zwei ganz verschiedenen Problemgruppen bzw. Aufgaben zu klären. Schon jetzt muß aber angedeutet werden, welche zwei ganz verschiedenen Erkenntnistypen für uns in Betracht kommen - für uns, die wir die Möglichkeit einer sinnvollen und von prinzipiellen Irrtümern freien Erkenntnistheorie erwägen. Bei den beiden Erkenntnistypen - d. h. bei der Erforschung der Gehalte von allgemeinen Ideen wie auch bei der Auffindung des Wesens der individuellen Gegenstände - müssen wir uns auch der Erkenntnis von idealen Qualitäten und zwischen ihnen bestehenden Seinszusammenhängen bedienen, denn erst diese Erkenntnis kann uns eine Lösung der beiden schon genannten Erkenntnisaufgaben verschaffen. Natürlich kommt dabei auch das Erkennen und die Erkenntnis der entsprechenden reinen Formen und ihren Zusammenhanges mit entsprechenden reinen Qualitäten (reinen Spezies) ins Spiel, damit wir auch die reinen Naturen und die rein möglichen Merkmale gewisser Gegenstände ermitteln können. Man kann auch das Problem der Erkenntnis der Idee der Existenz und verschiedener Seinsweisen nicht übergehen. Denn beim Erkennen von Dingen, Prozessen oder Ereignissen handelt es sich nicht nur darum, welche Dinge, Prozesse oder Ereignisse existieren bzw. eintreten. Es geht auch darum, daß sie tatsächlich soundso existieren, was ebenfalls auf charakteristische Weise erkannt werden muß. Das sind also die Aufgaben, vor denen wir jetzt stehen. c) Die Erkenntnis der idealen Qualitäten (reinen Spezies) In der sinnlichen Wahrnehmung, aber auch in anderen Arten von äußeren und inneren Wahrnehmungen, sind uns verschiedene mit Qualitäten ausgestattete Gegenstände gegeben. Im einzelnen sehen wir ζ. B. rote, grüne, glatte, rauhe, weiche und harte, kugelige oder würfelige, klingende (wie trockenes Holz oder Glas) physische Dinge. Wir können unsere Aufmerksamkeit gerade auf ihre qualitative Ausstattung richten, auf die Farbe eines Blattes von einem Kastanienbaum, auf seine Gestalt, auf die Weichheit, den Geruch, den es besitzt oder ausströmt usw. Es ist ζ. B. "grün", und zwar mit dem Grün einer ganz bestimmten Nuance, "Qualität", Sättigung und Helligkeit. Diese drei Züge des Grüns unterscheiden wir schon in einer sekundären Einstellung. Wenn wir einfach auf das Blatt schauen und seine "Farbe" beachten, sehen wir sein Grün in jenen schon angegebenen Bestimmungen als ein Ganzes, das sozusagen eine Einheit ausmacht. Und man bedarf erst einer speziellen

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Operation, um in diesem Ganzen einer konkreten Farbe ζ. B. ihre "Qualität" und außerdem ihre Sättigung zu unterscheiden. Wenn wir diese verschiedenen Erkenntnisoperationen in bezug auf das gegebene Blatt und sein Grün (die Grünheit?) der Reihe nach ausüben, bringen wir es dazu, daß jedes Mal etwas ein wenig anderes (und zugleich Besondereres und Unselbständigeres) in den Vordergrund dessen tritt, worauf wir schauen. Dieses Blatt verschwindet aber nicht ganz aus unserem Gesichtsfeld, obwohl es vielleicht ein bißchen weniger deutlich wird und zugleich etwas wird, worauf sich unser Blick und unser Interesse nicht mehr in diesem Maße richten. Was der Reihe nach - wie ich mich ausgedrückt habe - "in den Vordergrund" tritt, ist nichts anderes als eine "Qualität", die mehr oder weniger unselbständig ist, mit anderen Qualitäten zu einem Ganzen verschwimmt, aber immer noch "diese da" und ebenso individuell ist wie das gesehene Ding. Sie bildet seine Bestimmung, sie kommt ihm zu, und eben damit steht sie in der Form des diesem Ding "Zukommens", "Zufallens", des Bestimmens dieses Dinges, und in dieser Form unterscheiden wir sie im Ganzen des Dinges. Wir können jedoch in unserem Unterscheiden und in unserer Konzentration auf das, was wir unterscheiden, noch weiter gehen und in dieser zukommenden Farbe (dem Grün und insbesondere seiner "Qualität" oder seiner "Sättigung") die Farbe selbst (bzw. ihre Qualität oder ihre Sättigung) erschauen. Wenn wir auch gegenüber dem Auftreten dieser Qualität in der Form des "Zukommens" machtlos sind und diese Form aus unserem Blickfeld nicht wegschaffen können, weil sich das eine von dem anderen nicht abtrennen oder gar durch Unterscheiden selbst so herausheben läßt, daß das eine gleichsam neben das andere rückt, so können wir uns doch [erstens] einen prinzipiellen Unterschied zwischen der Farbe selbst und ihrem einem Ding Zukommen zum Bewußtsein bringen. Zweitens können wir unser Unterscheiden so lenken, daß wir uns auf das "Grün" selbst, seine Qualität, seine Sättigung und schließlich darauf konzentrieren, wie es selbst ist, ohne gleichsam zu bestätigen, daß hier und jetzt in unserem Gesichtsfeld ein Individuelles auftritt. Wir gelangen dann zu einer "reinen" Qualität, zum reinen Grün und insbesondere zurreinen "Qualität" dieses Grüns oder zu seiner (bis zu einem gewissen Grad oder in einer Weise) reinen Sättigung. Wir erschauen dann das, was Husserl "reine Spezies" nannte, und vollziehen den Erfassungs- oder Unterschei-

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

dungsakt, der in den Logischen Untersuchungen "Ideation" hieß. 50 Zwei Züge dieser besonderen Art von Erkenntnis sind herauszustellen: erstens, daß sie in einem anschaulichen Kontakt mit jener Spezies besteht und zweitens, daß sie beim gleichzeitigen Vollzug eines Aktes des schlichten Sehens eintritt, das gleichsam einen Grundakt bildet, den wir nicht aufhören weiterhin zu vollziehen (weiterhin zu schauen oder weiterhin zu sehen). Er wird so vollzogen, daß er uns erlaubt, auf seiner Grundlage und bis zu einem gewissen Grad in seinem Bereich einen weiteren und ihm gegenüber in gewissem Maße unselbständigen Akt zu vollziehen, nämlich einen solchen des "Unterscheidens" eines Einzelzuges am Ganzen des Dinges, das nach wie vor im Blickfeld bleibt, sowie des "Pointierens", des Vermeinens dieses Einzelzuges in der Weise, daß er das eigentliche, hauptsächliche Thema einer Meinung wird. Das ist aber nur eine Operation, die es uns erleichtert, die Eigenart der unterschiedenen Qualität zu erfassen, uns ihrer bewußt zu werden, um sie als eine gewisse Sonderbarkeit für sich als gegeben zu haben, ohne aber dabei all das aus den Augen zu verlieren, auf dessen Grundlage sie auftritt. Vieles von dem, vor dessen Hintergrund sie erscheint, kann sich im Laufe unseres Unterscheidens und Erfassens ändern, kann fluktuieren, sie dagegen läßt sich als ein besonderes constans erfassen. Angesichts der Tatsache, daß diese Erfassung einer reinen Qualität, d.h. die "Ideation", auf der Basis einer sinnlichen Dingwahrnehmung erfolgt, sagt Husserl von ihr, sie sei in der sinnlichen Wahrnehmung "fundiert". Sie ist gegenüber dieser Wahrnehmung in dem Sinne unselbständig, daß sie ohne diese nicht stattfinden kann (die Konsequenzen davon werde ich bald besprechen). Zugleich ist sie jedoch von dieser Wahrnehmung in dem Sinne unabhängig, daß alles, was mit der Spezies im konkreten Gesichtsfeld zusammen auftritt, für uns nicht nur den Charakter dessen verliert, was wir gerade zum Thema unseres Meinens und anschaulichen Erfassens machen, und nur im Charakter dessen erscheint, was uns irgendwie - ohne unseren Willen - gegenwärtig ist, was jedoch von uns in keiner Weise festgestellt wird. Wenn wir eine ideale Qualität (reine Spezies) in einem Akt der Ideation erfassen und uns ihre Eigenart, das, was sie ist, zum Bewußtsein bringen, dann

50

[Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, chung.]

Bd. II/l (Husserliana XIX/1), II. Untersu-

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kommen wir zugleich zur unerschütterlichen Überzeugung, daß es dergleichen wie diese Qualität gibt. Dieses "es gibt" soll keineswegs bedeuten, daß dieses Blatt da in Wirklichkeit "grün ist", noch daß in der realen Welt ein grünes Blatt vorkommt. Dieses "es gibt" heißt auch nicht, daß so etwas wie diese Grünnuance - wie man manchmal sagt - "möglich" ist. Denn darüber, ob es möglich ist, daß Blätter in diesem Grün innerhalb der realen Welt und als deren Glied existieren, wird damit gerade nichts ausgesagt. Wir haben nicht einmal ein Interesse dafür. Und wenn wir das feststellen wollten, müßten wir dieses besondere Unterscheiden der reinen Qualität auf der Grundlage des wahrgenommenen Ganzen unterlassen und uns allein dem Wahrnehmen selbst und dem Betrachten der Bedingungen zuwenden, die erfüllt sein müssen, nicht nur damit das Grün dieses Blattes gesehen werden (zusammen mit dem Blatt als ein Phänomen erscheinen) kann, sondern auch damit dieses Blatt und das, was ihm zukommt, unabhängig von meiner Wahrnehmung oder der Wahrnehmung von wem auch immer existieren kann. Wenn wir aber an der reinen Qualität in specie selbst interessiert sind, daran, wie sie ohne Rücksicht auf alles andere ist, dann müssen wir zwar immer noch einen Akt des Sehens vollziehen, aber wir pflichten demjenigen, was in unserem Wahrnehmungsfeld erscheint (wie z.B. dieses grüne Blatt) nicht mehr bei, daß es existiert und auch dann existiert, wenn wir nicht darauf schauen, daß es nur durch seine eigene physische Umgebung bedingt ist, nicht aber durch meine Anwesenheit und die in mir stattfindende Wahrnehmung. Das alles bleibt beim Vollzug eines Aktes der "Ideation" einfach außerhalb unserer Interessensphäre, und wir vollziehen auch keinen Akt der Existenzsetzung von all dem. Auch wenn wir gleichsam gewohnheitsmäßig weiterhin die Überzeugung von der wirklichen Existenz des Blattes und seiner Umgebung unterhalten, tun wir das sozusagen nicht "zentral", nicht aktiv. Sie ist eventuell einfach nach wie vor im Bereich unseres Bewußtseins vorhanden, aber wir machen von ihr keinen Gebrauch. Wir benötigen sie gar nicht. Sie könnte somit im Prinzip als Überzeugung verschwinden, und an unserem Akt der Erfassung einer in ihrer Eigenart unterschiedenen reinen Qualität, an unserer Einsicht, daß es so etwas wie diese Qualität "gibt", würde sich nichts ändern. Denn diese Entscheidung ist von der von uns eventuell unterhaltenen Überzeugung (oder dem Urteil) von der wirklichen Existenz des Dinges, an dem jene Qualität in specie erscheint, gar nicht abhängig. Diese Qualität bil-

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

det nämlich weder die Materie eines der Merkmale dieses Dinges noch ist sie in ihrem Sein individuell. Nur das aktuelle Eintreten eines Aktes der "Ideation" selbst ist realiter durch das Eintreten einer entsprechenden Sinneswahrnehmung (ζ. B. des grünen Blattes) bedingt. Das in dieser Wahrnehmung eventuell beschlossene Moment der (in Husserls Sprache) "Seins-Setzung" motiviert jedoch nicht die Feststellung der Existenz der idealen Qualität und hat darauf überhaupt keinen Einfluß. Mehr noch: Sofern Husserl ausdrücklich und richtig bemerkt, könnte diese individuelle Sinneswahrnehmung (das Sehen) des Blattes durch irgendeinen anderen Akt der Wahrnehmung oder sogar der imaginativen Vorstellung z.B. eines grünen Blattes ersetzt werden: Wenn nur ein anschauliches Phänomen dieses Blattes und des lebhaft und anschaulich genug vorgestellten Grüns mit bestimmter Qualität und Sättigung erscheint, wird sich der Ideationsakt vollziehen können. Vom Grad der Lebhaftigkeit dieser Anschauung, von der ausreichenden Deutlichkeit des Erscheinens des Grüns hängt es ab, ob der Akt der Unterscheidung und Erfassung der idealen Qualität einer bestimmten Grünnuance selbst genügend klar und präzise ausgerichtet ist. Es gelingt dies nicht immer, da die Wahrnehmungs- oder Imaginationsakte, die der Ideation zugrunde liegen, auf verschiedene Weise verlaufen können, die für das deutliche, genügend lebhafte Phänomen des Grüns selbst günstig oder ungünstig sind. Mit Rücksicht auf diese Bedingung müssen wir Husserls Standpunkt zustimmen, wenn er sagt, daß die Akte der "Ideation" bzw. der "kategorialen Anschauung" 51 in entsprechenden perzeptiven oder imaginativen Erlebnissen "fundiert" seien. Das Eintreten dieser Erlebnisse kann aber von weiteren realen Bedingungen abhängen, unter welchen sich das Subjekt befindet, das derartige Akte vollzieht. Das hat jedoch nur darauf einen Einfluß, ob es uns im gegebenen Augenblick gelingt, einen Ideationsakt zu vollziehen, nicht aber darauf, ob die darin erfolgende Erkenntnis einer idealen Qualität uns ein wertvolles (objektives) Ergebnis liefert oder nicht. Der Ideationsakt ist in dieser Hinsicht unabhängig von der Grundlage, auf der er sich vollzieht. Mehr noch, die Erfassung einer idealen Qualität erfordert weder Bestätigung noch Ergänzung durch andere, auf dieselbe Qualität bezogene Akte, wie es z. B.

5

'

Vgl. Logische Untersuchungen, Bd. II, VI. Untersuchung.

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schon bei den der Ideation eventuell zugrunde liegenden Sinneswahrnehmungen der Fall ist. Der Ideationsakt ist, einmal vollzogen, autonom in seiner Fähigkeit, die in ihm erfaßte ideale Qualität zur anschaulichen Gegebenheit zu bringen. Denn das in diesem Akt Gegebene - gerade jene ideale Qualität - hat, im Gegensatz ζ. B. zum in der visuellen Wahrnehmung gegebenen grünen Blatt, weder eine "andere" noch eine "Rück"seite wie das gesehene Ding. Ebensowenig hat diese Qualität ein Inneres, das sie in sich verbergen würde, wie das ζ. B. die Farbe des Blattes tut als sein Merkmal, hinter dem eventuell das so oder anders bestimmte, aber zugleich unsichtbare Innere des Blattes existiert. Die Grünqualität ist uns nicht so "einseitig" gegeben wie das Blatt selbst. Sie braucht also nicht von einem anderen Gesichtspunkt aus und in dieser oder jener perspektivischen Verkürzung gegeben zu sein, und das Wissen über sie wird durch andere Wahrnehmungen weder bestätigt noch in Frage gestellt, wie es bei den [verschiedenen] Wahrnehmungen desselben Blattes der Fall ist. Denn es geht gar nicht darum, ob das gegebene Blatt - das als Hintergrund oder als Grundlage der sich uns kundgebenden reinen Qualität dient - in Wahrheit grün oder ζ. B. rötlichgrün ist oder gar eine ganz andere Farbe hat. Wenn wir dies ermitteln wollten, müßten wir das gegebene Blatt einer allseitigen und eventuell unter verschiedenen Bedingungen stattfindenden Wahrnehmung unterziehen. Wir würden dann vielleicht zur Feststellung kommen, daß das Blatt uns nur in einem bestimmten Augenblick, bei einer gewissen Beleuchtung grün "erschienen ist", in Wahrheit aber schon vergilbt ist und kein gesättigtes Grün hat. Wenn wir ζ. B. beim Einkauf eines Stoffes für einen Anzug oder einer Krawatte feststellen wollen, welche Farbe diese Stoffbahn oder diese Krawatte besitzt, bitten wir den Verkäufer, daß er sie uns vor den Laden - wie wir uns ausdrücken - "ans volle Licht" bringe. Die Damen, wenn sie Stoff für ein Abendkleid kaufen, möchten sich ihn - umgekehrt - bei solchem Licht anschauen, wie sie es im Saal erwarten. Denn es ist ihnen daran gelegen, daß das Kleid bei "Abendlicht", bei "künstlichem"

Licht

(beim Licht

der

Luminiszenz- oder Quecksilberdampflampen usw.) "gut aussieht". Es ist ihnen egal, welche Farbe der gegebene Stoff tatsächlich besitzt; wichtig für sie ist vielmehr, daß eine gewisse Farbqualität erscheint, einerlei ob sie dem gegebenen Kleid wirklich zukommt. Diese Farbe, ihre besondere Qualität,

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die in der Perception realisiert wird, kann eine Grundlage für andere Farbphänomene oder auch - unter anderen Umständen - ein Träger von gewissen ästhetisch wertvollen Qualitäten werden, die nur als reine Qualitäten im Gesichtsfeld auftreten sollen, mögen sie realiter einem Ding zukommen oder nicht. Die im Ideationsakt gegebene ideale Qualität - abgesehen davon, welche Farbe in Wirklichkeit das Ding besitzt, auf dessen Grundlage sie in concreto erscheint - ist uns somit gleichsam in ihrer Seinsfülle gegeben. Nichts von ihr ist verdeckt oder nur zu vermuten; es kann auch nichts ergänzt werden, was sie irgendwie anders darstellen könnte. Die konkrete Farbe eines Seidenstückes, das - wie man sagt - in diesem oder jenem Licht schillert, ist nie adäquat gegeben. Sie erscheint in verschiedenen Ansichten und in dieser oder jener perspektivischen Verkürzung, mit veränderlicher Beleuchtung und verschiedenen [anderen] Farben, die gleichzeitig im Gesichtsfeld auftreten (der gleichzeitige Kontrast). Die reine ideale Qualität ist uns [dagegen] nicht durch "Ansichten" gegeben. Alle Umstände, unter denen sie erfaßt wird, bedingen nur, ob sie überhaupt erscheint oder nicht. Wir müssen uns zwar diese Bedingungen verschaffen, aber das bedeutet nicht, daß die Vorbereitungsschritte zu ihrer Verwirklichung, also ζ. B. eine Reihe von Gesichtswahrnehmungen desselben Stoffes für einen Anzug, das im Akte "Sehens" der gegebenen reinen Qualität gewonnene Ergebnis derart motivieren, daß sie dieses Ergebnis erkenntnismäßig bekräftigen oder - im Gegenteil - es entkräften, in Zweifel ziehen. Der Akt der Erfassung einer reinen Qualität ist somit - wie oben gesagt - autonom, selbstgenügsam und selbst verantwortlich dafür, daß in ihm gerade jene und keine andere Qualität gegeben ist, die in ihrer ganzen Fülle vorgeführt wird. Man ist vielleicht versucht, hier von der Gegenüberstellung "immanent transzendent" Gebrauch zu machen, die wir verwenden, indem wir sagen, daß die äußere Sinneswahrnehmung transzendent gerichtet und das darin gegebene Ding im Verhältnis zur Wahrnehmung selbst "transzendent" ist. Unser eigenes Erlebnis, das aktuell vollzogen und im Akt der sogenannten "Reflexion" erfaßt wird, sei dagegen "immanent" im Verhältnis zu diesem Reflexionsakt. Wäre es nicht angebracht, zu sagen, daß die ideale Qualität, im Gegensatz zu dem in der Wahrnehmung gegebenen Ding und dessen Farbe "immanent" gegeben sei?

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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Es gibt jedoch bekanntlich viele verschiedene "Transzendenz"begriffe 52 , die auf den (z.B. visuell) wahrgenommenen Gegenstand (das wahrgenommene Ding) anwendbar sind und die sich nicht mehr alle auf die uns in einem Ideationsakt gegebene reine ideale Qualität anwenden lassen. Soll das Wort "transzendent" die Tatsache bedeuten, daß der gegebene Gegenstand kein Element oder Moment des Sehaktes bildet, in dem er gegeben ist, und daß auch - umgekehrt - dieser Akt mit jenem Gegenstand kein "gemeinsames" Moment hat, dann können wir die Bezeichnung "transzendent" sowohl auf das wahrgenommene Ding im Verhältnis zur Wahrnehmung als auch auf die reine ideale Qualität in ihrem Verhältnis zum Ideationsakt, in dem sie zur Erscheinung kommt, anwenden. Diese Qualität ist somit kein reeller Bestandteil des Ideationsaktes, sie bildet im Verhältnis zu diesem ein anderes, völlig äußeres Ganzes. Es wäre also ein großer Irrtum, wollte man behaupten - wie das vielleicht manche in der sensualistischen Psychologie erzogenen, sogenannten "kritischen Realisten" sagen würden - , daß die reine ideale Qualität "subjektiv" sei, weil sie "ganz einfach" unsere "Empfindung", einen Bestandteil unseres Erlebnisses darstelle. Ebensowenig, wie sie ein Bestandteil oder eine Eigenschaft des gesehenen grünen Blattes ist, ist sie ein Bestandteil oder Moment der [dem Ideationsakt] zugrunde liegenden Wahrnehmung bzw. des Ideationsaktes selbst, der seinerseits ebenfalls kein Moment der reinen Qualität "Grün" ist. Wollten wir aber unter "transzendent" nur verstehen, daß ζ. B. das gesehene Ding mit seinen verschiedenen Seiten und seiner qualitativen Ausstattung (seinen Eigenschaften) stets über das hinausgeht, was in der jeweiligen Wahrnehmung tatsächlich zur Gegebenheit gebracht wird, dann müßten wir sagen, daß die reine ideale Qualität gegenüber dem Ideationsakt, in dem sie erfaßt wurde, in diesem Sinne nicht "transzendent" ist. Sie ist nie teilweise, einseitig, nur von außen her oder auch in dieser oder jener Ansichtsverkürzung gegeben. Daraus ergibt sich, daß sie, einmal erfaßt, keine weiteren Akte der Erfassung in der Ideation erfordert, in denen unser Wissen davon vollständiger oder sicherer würde. Die in der Ideation gewonnene Erkenntnis ist in ihrem Wahrheitswert selbstgenügsam und von allen anderen Akten der Ideation oder der sinnlichen Erfahrung unabhängig. Das bedeutet, daß diese Erfahrung, dadurch daß sie das Erkenntnissubjekt über das faktische

52

[Vgl. Ingarden (1964/65), Bd. H/1, § 48.]

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¡V. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

Auftreten der entsprechenden Qualität an einem realen Gegenstand informiert, keine Begründung des im Ideationsakt gewonnenen Ergebnisses liefert. Dieses Ergebnis erfordert auch keine Ideationsakte anderer Erkenntnissubjekte, die es gleichsam erhärten oder - im Gegenteil - in Frage stellen könnten. Die von Seiten einiger Kreise gestellten Postulate, man solle jedes Erkenntnisergebnis durch Erkenntnisse nachprüfen und bestätigen, die in anderen, und zwar von anderen Erkenntnissubjekten vollzogenen Erkenntnisakten gewonnen werden (insbesondere das Postulat der sogenannten Intersubjektivität, von dessen Erfüllung die Objektivität des gewonnenen Erkenntnisergebnisses oder - mit anderen Worten - dessen Wahrheit abhängen soll), finden in diesem Fall einfach keine Anwendung. Es gibt keinen Grund, sie zu erheben, denn gerade die Gründe, die bei den Akten der sinnlichen Erfahrung vorliegen, sind in bezug auf die Erkenntnis von reinen idealen Qualitäten in der Ideation nicht vorhanden. Das bedeutet nicht, daß die reine ideale Qualität im Ideationsakt nur einem einzigen Erkenntnissubjekt gegeben sein könne. Das bedeutet nur, daß die in fremden Ideationsakten gewonnenen Erkenntnisergebnisse den Erkenntniswert des in meinem Ideationsakt gewonnenen Ergebnisses weder zu begründen brauchen noch ihn tatsächlich begründen. Ebensowenig erhöhen meine eigenen nachträglichen Ideationsakte, in denen nur dieselbe ideale Qualität zur Gegebenheit kommt 53 , den Erkenntniswert meines aktuellen Ideationsaktes. Das geschieht aber deswegen [nicht], weil die Ideation selbst eine solche Ergänzung weder erfordert noch überhaupt zuläßt. Anders verhält es sich ζ. B. bei der sinnlichen (äußeren) Wahrnehmung. Die wahrgenommenen Dinge unterscheiden sich in ihrer Struktur prinzipiell von den reinen idealen Qualitäten. 54 Die materiellen Dinge sind gerade als solche gemeint, die M

Die Feststellung, daß dies in einem gewissen Fall tatsächlich vorliegt, stützt sich auf Akte der Erinnerung, was gewisse neue Probleme und Schwierigkeiten mit sich bringt. Das gehört aber nicht mehr zur Untersuchung des Erkenntnisweites der Ideation selbst. Das ist vielmehr eine Frage der Erkenntnistheorie selbst, auf die wir eventuell noch später eingehen werden. Sie stellt sich bei allen Erkenntnisergebnissen, die notwendigerweise in einer Vielheit von Erkenntnisakten gewonnen werden, also vor allem bei der äußeren, sinnlichen Wahrnehmung. 54

Ich sage weder von den einen noch von den anderen, wie sie in Wirklichkeit an sich sind. Ich behaupte nur, daß sie gerade so im Wahmehmungs- bzw. Ideationsakt gemeint sind, daß diese Akte sie uns in solchen und nicht anderen Strukturen zeigen. Das dürfen wir aber

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vielseitig sind und ein undurchsichtiges (mit wenigen Ausnahmen für die Gesichtswahrnehmung 55 ) Inneres haben. Das bedeutet allerdings nicht, daß die Gesichtswahrnehmung gar keine Informationen über das Innere des gegebenen Dinges erteilt. Wir sehen - wie W. Schapp richtig bemerkt hat 56 - die "stofflichen" Eigenschaften der Dinge, wie etwa daß sie aus Holz oder aus Ziegel, aus Seide oder aus Wolle sind, was man oft an ihrem äußeren Aussehen oder an ihrem Verhalten sieht. Eine Flagge aus Tuch flattert anders als eine aus Blech usw. Gleichwohl kann es sich im weiteren Verlauf der Wahrnehmung - z.B. an einem anderen Verhalten des gegebenen Dinges oder wenn man es durchschneidet - herausstellen, daß die uns durch die Wahrnehmung erteilten Informationen über sein Inneres falsch waren oder auch, im Gegenteil, daß sie sich bestätigen. Das ändert aber in beiden Fällen nichts daran, daß nach dem Durchschneiden des gegebenen Dinges immer noch das Innere der beiden auf diese Weise entstandenen Dinge bestehen bleibt, von denen wir in der Wahrnehmung nur auf Grund ihrer äußeren Erscheinungen Informationen erhalten, und zwar Informationen, die unvollständig und unsicher sind. In Wahrnehmungen anderer Art, wie etwa Gehörs-, Tast- oder Geschmackswahrnehmungen, ist das Innere der gegebenen Dinge nach wie vor

behaupten, ohne die Rechtmäßigkeit der beiden Erkenntnisakte stillschweigend vorauszusetzen. 55

Wenn ich von der "Gesichtswahrnehmung" spreche, nenne ich sie nicht deswegen so, weil sie - wie uns die Anatomen und Psychophysiologen sagen - durch den physischen Geichtssinn hervorgerufen werden, denn darüber habe ich im Augenblick kein Recht, etwas positiv oder negativ zu behaupten. Ich kann aber, ohne Überschreitung des Bereiches der Wahrnehmungerlebnisse selbst, sie als solche abgrenzen, die sich durch einen besonderen Verlauf und besondere Gegebenheiten auszeichnen und sich dadurch von anderen Arten von Wahrnehmungen, z.B. den "Gehörs"- "Tast"- oder "Geschmackswahrnehmungen", abheben. Diese unterscheide ich auch artmäßig voneinander auf Grund ihrer Bewußtseinsvorgänge und der Art der Gegebenheiten, die in ihnen oder vielmehr durch sie erscheinen. Jemand könnte sagen, daß ich, wenn ich das tue, schon eine deskriptiv-eidetische Erkenntnistheorie betreibe, zu der ich doch erst Wege suche, um ihre Möglichkeit nachzuweisen. Ich vergesse das nicht und werde noch auf den möglichen Einwand zurückkommen, der gegen ein solches Vorgehen gerichtet werden kann. Vgl. Wilhelm Schapp, Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, [Halle] 1910 [S. 20-26],

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

da, und wir gewinnen darüber entweder gar keine (anschaulichen) Informationen oder erhalten sie auf eine sehr fragmentarische und unzuverlässige Weise. So erfahren wir beispielsweise von den Geräuschen im Inneren der Lunge oder des Herzens eines Kranken durch Abhorchen (daraus ziehen wir allerdings diese oder jene Schlußfolgerungen, das ist aber eine andere Sache), beim Abklopfen ζ. B. von Dingen aus Holz hören wir diese oder jene "Klopfgeräusche", laute und volle oder stille und "dumpfe", woraus wir wieder (mit größerem oder kleinerem Risiko) folgern können, daß das gegebene Ding leere Hohlräume enthält oder auch daß es ausgefüllt und eben "hölzern" ist. Man kann durch Abklopfen - an einem dumpfen, stumpfen Klang - die Lage und die Umrisse der Leber eines Kranken bestimmen usw. Ebenso können wir durch Tastwahrnehmung die Gestalt eines nicht gesehenen Dinges sowie dessen Weiche oder Härte ertasten, also von gewissen Eigentümlichkeiten des Inneren des gegebenen Dinges anschaulich erfahren. 57 Die auf diesem Weg mit Hilfe verschiedenartiger Wahrnehmungen gewonnenen Informationen sind aber derart, daß sie selbst einer "Prüfung" an den Wahrnehmungen bedürfen, die uns auf eine viel anschaulichere und direktere Weise das Innere der gegebenen Dinge zeigen und diese Informationen entweder bestätigen oder auch deren Falschheit nachweisen würden. Immer sagt uns die Wahrnehmung selbst, daß die darin anschaulich gemeinten Eigenschaften und Seiten des Dinges über den Bereich der reell gegebenen Eigenschaften hinausgehen und immer das Einschieichen von falschen oder wenigstens wahrnehmungsmäßig nicht geprüften Informationen ermöglichen. Die Wahrnehmungen desselben Erkenntnissubjekts wie auch anderer Subjekte können somit die Funktion der Ergänzung der schon erworbenen Kenntnisse über Dinge ausüben oder zur Beseitigung der im bisherigen Wahrnehmen begangenen Irrtümer beitragen. In diesem Fall ist also die Bestätigung und eventuelle Berichtigung der gewonnenen Wahrnehmungsergebnisse durch andere Wahrnehmungssubjekte möglich und nötig. Ob man im Rekurs auf immer neue - eigene und fremde - Wahrnehmungen desselben Gegenstands ein volles oder mindestens vollständigeres Wissen über dasselbe wahrgenom-

en D. Katz hat in seinem Buch Der Aufbau der Tastwelt [Leipzig 1924 (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Erg. Bd. 11)] viele derartige Phänomene der Tastwahrnehmung aufgewiesen.

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mene Ding erlangen und dessen endgültige Sicherung durchführen kann, bleibt eine offene Frage. Diese Behauptungen über die äußere Wahrnehmung und die darin gewonnenen Ergebnisse erlauben es uns, uns zum Bewußtsein zu bringen, wie anders es sich damit bei der Erkenntnis von reinen idealen Qualitäten in der Ideation verhält. Sie stellt die erste in unseren Betrachtungen aufgefundene sichere, adäquate und generelle Erkenntnis dar, natürlich stets unter der Voraussetzung, daß die Ideation sich realisiert hat, d. h. daß es dem Erkennenden tatsächlich gelungen ist, die gegebene Qualität anschaulich zu erfassen. Das gelingt aber - wie es scheint - nicht immer, denn diese Erfassung ist dadurch bedingt, wie die der Ideation zugrunde liegende Sinneswahrnehmung bzw. Phantasievorstellung beschaffen ist: ob sie die gegebene Qualität zur Erscheinung bringt und ob sie das deutlich genug tut. Hier liegt somit noch eine mögliche Quelle des Zweifels daran, ob wir im vorliegenden Fall über eine ideale Qualität eine effektive Erkenntnis gewonnen haben. 58 Worauf es uns aber in unserem Zusammenhang ankommen muß, ist nicht die Frage, ob die Ideation in einem konkreten Fall zustande gekommen ist, sondern ob es im Falle ihrer Gewinnung möglich ist, eine volle, autonome, selbstgenügsame und sichere Erkenntnis der idealen Qualität zu erzielen. Wichtig ist dabei nicht, daß der Ideationsakt das Moment der Seinssetzung der gegebenen Qualität einschließt, sondern daß er in seinem Inhalt die gegebene Qualität in ihrer Eigenart zeigt, daß er - mit anderen Worten - unser Bedürfnis danach befriedigt, zu wissen, wie diese Qualität ist. Ihre strukturelle Transzendenz gegenüber dem Ideationsakt, in dem sie gegeben ist, schließt zwar nicht aus, daß es, wenn die Ideation nicht vollzogen wird, trotz des Eintretens des gegebenen Aktes möglich ist, daß sie selbst nicht existiert. Daß" sie aber im Ideationsakt "persönlich" erscheint, ist ein ausreichender Grund, um festzustellen, daß gerade diese Qualität möglich ist. Und nur darauf kann es uns in unseren Betrachtungen über die Möglichkeit und die charakteristischen

CO

Will man also sicherer eine Ideation erlangen, dann soll man sich nicht - wie das die Gegner der sogenannten Erkenntnis a priori zu behaupten pflegen - von der Erfahrung loslösen, sondern, im Gegenteil, die Wahrnehmungsfähigkeit vervollkommnen, und zwar nicht, um eine größere Sicherheit der darin gewonnenen Ergebnisse zu erreichen, sondern damit allerlei Qualitäten und Determinationen des Wahrnehmungsgegenstandes deutlicher zur Erscheinung kommen.

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Züge der eidetischen Erkenntnis in deren spezieller Gestalt der Ideation ankommen: daß sie uns nämlich ideale Qualitäten in deren origineller Eigenart darstellen kann. Denn das ist gleichsam der erste Schritt zur Anerkennung der Möglichkeit von streng allgemeinen Erkenntnissen: Was immer für eine ideale Qualität gilt, die in einem Ideationsakt effektiv gegeben ist, trifft auch auf die konkreten Einzelfalle dieser Qualität zu. Denn nichts von einer solchen Qualität ist verborgen oder verheimlicht oder in seiner Ansicht irgendwie entstellt, und wenn sie sich überhaupt irgendwo vereinzelt, muß sie sich in der ganzen Fülle ihrer Natur enthüllen bzw. verwirklichen. Es erheben sich natürlich im Augenblick viele weitere Fragen in bezug auf die Möglichkeit und den Anwendungsbereich der Erkenntnis von idealen Qualitäten in der philosophischen Forschung und insbesondere in der Erkenntnistheorie. Das sind jedoch Probleme, deren Behandlung wir noch zurückstellen können. Aus der Tatsache, daß die Ideation in einer äußeren oder inneren Wahrnehmung oder sogar in einer Phantasievorstellung "fundiert" ist, ergibt sich noch eine andere Konsequenz. Sie betrifft den Bereich der reinen idealen Qualitäten, die der menschlichen Erkenntnis a priori in dem hier festgelegten Sinne tatsächlich zugänglich sind. Dieser Bereich ist nämlich durch den Bereich der möglichen sinnlichen oder inneren Wahrnehmungen eingeschränkt, die dem gegebenen Erkenntnissubjekt zugänglich sind: Nur diejenigen reinen idealen Qualitäten können vom Erkenntnissubjekt in der Ideation entdeckt und erfaßt werden, welche die äußere oder innere Wahrnehmung, über die das Subjekt verfügt, in concreto und in individuo zeigen kann. Es ist nicht ausgeschlossen, daß in komplexen Erlebnissen der Art z. B. des ästhetischen Erlebnisses oder der Werterfahrung, die außer den sinnlichen Wahrnehmungen (Phantasievorstellungen) auch gewisse Emotionen und Gefühle zur Grundlage haben, noch andere Einzelfälle von Qualitäten originell erscheinen können, die in der sinnlichen Wahrnehmung selbst nicht gegeben sind oder gar es nicht sein können. Wäre es so, dann würde sich der Bereich der in den Ideationsakten zugänglichen idealen Qualitäten beträchtlich erweitern. Auch in diesem Fall wäre er aber durch den Bereich der ursprünglichen Erfahrungen, die für das gegebene Erkenntnissubjekt erreichbar sind, eingeschränkt, wie kompliziert diese auch immer wären. Von der eventuellen Beschränktheit unserer menschlichen Erkenntnis können wir Kenntnis erhalten, ohne daß wir

§ 26. Die "eidetische " Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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uns auf das empirische, naturwissenschaftliche Wissen vom Menschen und insbesondere - wie man gewöhnlich sagt, wenn man diese Beschränktheit feststellt - auf die Anatomie und die Physiologie des Menschen berufen, [wir können somit davon Kenntnis erhalten], ohne daß wir das Prinzip überschreiten, das es uns verwehrt, in der Erkenntnistheorie transzendent gerichtete Erkenntnisse in Anspruch zu nehmen. Wie weit dieser Bereich ist, können wir einfach erkunden, indem wir einfach feststellen, welche sinnlichen und inneren Wahrnehmungen oder anderen Formen der ursprünglichen (ζ. B. ästhetischen oder moralischen) Erfahrung in unserem Bewußtseinsstrom überhaupt vorkommen. Ob aber noch irgendwelche anderen, bei uns tatsächlich nicht vorkommenden Erfahrungsformen in Frage kämen, das können wir offen lassen. Der Bestand an idealen Qualitäten, die uns in der eidetischen Erkenntnis, in der Ideation, zugänglich sind, bildet - wie es scheint - eine gewisse Auswahl aus allen möglichen idealen Qualitäten, von denen wir teilweise gar keine Erkenntnis besitzen. Ob und wie wir von diesen Qualitäten auch nur indirekt Kenntnis erlangen können, ist eine Frage der Erkenntnistheorie selbst. Es scheint jedoch, daß der Bereich der uns zugänglichen idealen Qualitäten dafür ausreichen wird, daß wir mit Hilfe des darüber gewonnenen Wissens die Erkenntnistheorie betreiben können. Inwieweit das der Fall ist, bleibt im Augenblick noch zu erwägen. Auf jeden Fall werden wir uns aber in unseren erkenntnistheoretischen Betrachtungen nur innerhalb der Grenzen bewegen können, innerhalb deren es die uns in der Ideation erfaßbaren reinen idealen Qualitäten ermöglichen werden. Dies kann eine gewisse Begrenztheit des Forschungsbereiches der von uns betriebenen Erkenntnistheorie nach sich ziehen. Das ist aber noch ein entferntes Problem. Zunächst müssen wir andere, naheliegende Probleme erwägen. Zuerst einmal, ob alle Qualitäten, die in sinnlichen und inneren Wahrnehmungen zur Erscheinung kommen, mithin der Ideation zugänglich zu sein scheinen, so "durchsichtig" und so adäquat gegeben sind wie ζ. B. visuelle Farbqualitäten oder auch Ton- oder Geschmacksqualitäten usw. Dieser Zweifel erhebt sich in bezug auf die dreidimensionalen räumlichen Formen. Er besteht nicht bei wenigstens manchen zweidimensionalen, nicht übermäßig komplizierten räumlichen Formen, wie etwa der Dreieckigkeit, Kugelförmigkeit, Quadratförmigkeit und überhaupt den Formen von regelmäßigen Vielecken, der Geradheit einer euklidischen Linie, der (euklidischen) Parallelität, den Formen

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

von Kurven zweiter Ordnung, von Sinusoiden usw. Aber sogar schon bei verhältnismäßig wenig komplizierten Formen von Körpern, wie der Kugelförmigkeit, Würfelförmigkeit, den Formen von regelmäßigen Vielflächnern, den Rotationsflächen u. dgl., entsteht die Frage, ob hier nicht etwas ähnliches mitspielt wie bei Wahrnehmungen physischer Dinge, daß nämlich diese Formen "vielseitig", undurchsichtig, in perspektivischen Verkürzungen gegeben sind, daß sie sich als Ganzes auf einmal, in einem Akt, nicht erfassen lassen. Sind sie also gegenüber dem Ideationsakt nicht in dem Sinne transzendent, daß sie - wie es bei den visuellen Dingen und Wahrnehmungen der Fall ist den Bereich dessen, was [in diesem Ideationsakt] effektiv und direkt gegeben sein kann, notwendig überschreiten? Wäre also ihre autonome und adäquate Erkenntnis nicht unmöglich? Diese Frage ist um so wichtiger, als die Erkenntnis dieser räumlichen Formen der als eine "apriorische" Wissenschaft geltenden euklidischen Stereometrie doch auf anschauliche Weise zugrunde liegen soll. Man muß dabei zwei Punkte berücksichtigen. Ich habe hier, Husserl folgend, betont, daß Akte der Ideation reiner Qualitäten in Akten der äußeren oder inneren Erfahrung fundiert sind, und ich habe versucht zu zeigen, wie auf Grund von Gegebenheiten dieser Erfahrung aus konkretem Anschauungsmaterial die reine Qualität selbst "herausgeschält" wird. Ich habe dabei vorläufig die Rolle der anderen Erkenntnistätigkeiten außer Betracht gelassen, die uns bei der Ideation dazu verhelfen können, die Qualitäten zu präzisieren oder besser gesagt - zu einer scharfen qualitativen Grenze überzugehen, wodurch wir die Qualität in ihrer eindeutig bestimmten Gestalt erst gewinnen. Das hat eine große Bedeutung, wenn wir die letzten analytischen Grundlagen für die Untersuchung gewisser Gebiete von reinen Qualitäten schaffen. So können wir z.B. vom Kontinuum der Farbqualitäten ausgehen, die uns im kontinuierlichen spectrum aller Farben unter Bewahrung "derselben" Helligkeit und Sättigung gegeben sind (zugänglich gemacht werden). 59 Nun können wir,



Ich vergesse natürlich nicht, daß den einzelnen Farbqualitäten eine für die gegebene "Qualität" der Farbe spezifische Helligkeit eigen ist, die bei der reinen gelben Farbe am höchsten, bei der reinen roten Farbe niedriger, bei der reinen blauen noch niedriger ist usw. Alle diese Farben können aber z.B. im sogenannten "vollen" Sonnenlicht oder in einem Licht mit kleinerer Intensität gegeben sein, und dann ändert sich ihre Helligkeit in allen Fällen auf entsprechende Weise.

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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indem wir das ganze Kontinuum gleichsam durchlaufen, etwa eine Grünnuance berücksichtigen, zunächst aber so, daß dadurch gleichsam ein Streifen in diesem Kontinuum bestimmt ist. Dieser Streifen ist mit einander sehr ähnlichen Grünnuancen ausgefüllt. Dennoch ist es nicht eine Grünqualität, sondern wiederum ein Kontinuum von Nuancen, die so unmerklich ineinander übergehen, daß man zwischen ihnen keine scharfe Grenzen ziehen kann. Wir können jedoch weitergehen und versuchen, nicht so sehr mit unserem Auge (unserem Blick), als vielmehr mit unserer Intention zu einer Grenze zu gelangen - zu der Farbe, die wir im scharfen Schnitt durch die Reihe von qualitativen Abschattungen des Grüns [gegeben] hätten. Der in diesem Fall zustande kommende Ideationsakt ist von einer besonderen Art: Er bestimmt einen Grenzfall der Qualität ganz scharf, nicht mehr eine "Phase" (wenn man so sagen darf: eine Vielheit von qualitativen Nuancen), sondern eine exakte Stelle im Kontinuum der Farbqualitäten. Diese Verschärfung oder Präzisierung der Qualität geschieht nicht mehr durch das "Sehen" allein. Sie wird vielmehr durch den wenn man so sagen darf - gedanklichen Übergang zu der Grenze, gerade durch jene - wie ich mich ausgedrückt habe - "Intention" möglich gemacht, die sowohl diese qualitative "Stelle" im Kontinuum der Farben bestimmt als auch alle eng verwandten Qualitäten von dieser abhebt. Man kann ihr den Charakter eines Aktes der Anschauung (der "Intuition" in der Sprache Descartes') nicht abstreiten, zugleich schließt sie aber ein Moment der präzisierenden Meinung, der Intention ein, ein Moment, das die absolute Schärfe der Bestimmung der betreffenden Qualität erst einmal schafft. 60 Diese intentionale "Verschärfung" ist aber nur dadurch möglich, daß gleichzeitig ein Akt des Sehens, der Intuition vollzogen wird, der es erlaubt, schon eine absolut einfache Qualität (im vorliegenden Fall eine Farbqualität) zu erfassen, die zugleich eine Grenze, eine Stelle im Kontinuum ausmacht. In jedem qualitativen Kontinuum, das wir erzeugen können, ist eine solche Verschärfung einerseits der Ideation, andererseits der gegebenen idealen Qualität möglich. Dieser Typus "scharfer Ideation" begegnet uns in allen Fällen, wo wir es mit Kontinuen anderer Art zu tun haben, bei denen im üblichen, engen Sinne des Wortes "Qualität"61 keine Qualitäten mehr vorliegen. Wenn wir im tägli60 61

Nicht alle Ideationsakte sind dieser Art. Im umgangssprachlichen Sinne dieses Wortes ist "Qualität" auf die Qualitäten der Sinnesdaten beschränkt. Diese Bedeutung wird aber in der Umgangssprache auch auf die sekun-

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IV. Die Phänomenologie

des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse

und deren

Korrelate

chen Leben die farbigen und zugleich so oder anders gestalteten Dinge wahrnehmen, haben wir es mit farbigen Dingoberflächen zu tun, manchmal mit Teilen des konkret gegebenen dreidimensionalen Raumes, die mit einer Farbe ausgefüllt sind - wie ζ. B. die Farbe weißen Weines im Glas. Rote Dreiecke, blaue gleichmäßige Streifen, grüne Kreise usw. treten in unserem Gesichtsfeld als besondere Ganze auf, wobei man sie ebensogut "rotes Dreieck" wie "dreieckiges Rot" nennen kann. Der Übergang von einer Bezeichnung oder Auffassung zu der anderen zieht gewisse Veränderungen im anschaulichen Ganzen nach sich, denn einmal wird das Moment des Rotes, das andere Mal die Dreieckigkeit hervorgehoben und zugleich strukturell als Grundmoment aufgefaßt. Wir können uns aber auf dieses Ganze so einstellen, daß wir keiner dieser "Qualitäten" die besondere Funktion des "Subjekts von Merkmalen" verleihen und beide in ihrem rein qualitativen Charakter erfassen. Dann fällt es uns auf, daß das Wort "Qualität" sich in diesem Fall sowohl für das "Rot" (oder die "Rotheit") als auch für die "Dreieckigkeit", die "Quadratheit" usw. eignet. Ja wir können uns auf diese Dreieckigkeit so einstellen, daß die Tatsache, daß sie im vorliegenden Fall nur eben eine "Randerscheinung" eines solchen Rots bzw. einer solchen vollen Farbe bildet, diese Dreieckigkeit auf keine besondere Weise differenziert, daß es also geschehen könnte, daß diese rote Farbe - mit Hilfe eines besonderen Apparates oder Prozesses - durch verschiedene Abschattungen der Orangefarbigkeit allmählich ins reine Gelb überginge, diese "Dreieckigkeit" aber unverändert bliebe. Wenn wir diese Dreieckigkeit trotz Änderung der Farbe unverändert behalten, leuchtet uns ein, daß sie, wenn sie auch in concreto immer die Dreieckigkeit einer Farbe und eventuell noch einer anderen, ζ. B. haptischen Qualität darstellt, dennoch nie die Dreieckigkeit eines Tones oder überhaupt eines Klanggebildes oder eines Geschmacks- oder Wärmegebildes usw. werden kann. Es scheint also auf den ersten Blick, daß die Verbindung der Dreieckigkeit (oder einer anderen räumlichen "Qualität", einer Gestalt) mit gewissen anderen Qualitäten besonders innig ist, so daß "Dreieckigkeit", "Quadratheit", "Kreisförmigkeit" sich in keiner eigentlichen sinnlichen Anschauung von visuellen oder hapti-

dären Sinnesdaten sowie die Daten des emotionalen Lebens erweitert. Hier muß man jedoch viel weiter in eine andere Richtung gehen.

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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sehen Qualitäten abtrennen läßt. Indessen geht die zulässige Variabilität der letzteren bei Beibehaltung einer exakt gleichen oder sogar derselben "Gestalt" so weit, daß es möglich ist, sich auf die Gestalt "selbst", auf die "Randerscheinung" einer visuellen Qualität, also ζ. B. auf die Dreieckigkeit "selbst", die Quadratheit selbst, die Kreisförmigkeit selbst zu konzentrieren und auf diese Weise eine Ideation der räumlichen "Qualität" zu erreichen. Wenn sie auf reine Weise erfaßt wird, können wir sagen, daß jene Dreieckigkeit selbst keine visuelle Qualität - also z.B. nicht eine gezeichnete Umrißlinie im Gegensatz zu einer haptisch gegebenen Dreieckigkeit - , sondern eine reine räumliche Qualität darstellt, die von der Beimischung und sozusagen Hineindeutung dieser oder jener sinnlichen Qualität frei ist. Wenn wir auch diese rein räumlichen Gestalten mit dem Wort "Qualität" mit umfassen, erweitern wir die übliche Bedeutung dieses Wortes auf eine - meines Erachtens - zulässige Weise. Denn auch bei diesen Gestalten kann man mit Recht fragen, wie sie sind. Sie sind auch "anschaulich" in der Ideation gegeben, was z.B. dadurch belegt wird, daß Kant, um zu betonen, daß sie gegeben und nicht nur gedacht sind, den Begriff der "reinen Anschauung" (im Unterschied zu den Kategorien als reinen Verstandesbegriffen) eingeführt hat. Daher bilden auch die rein räumlichen "Qualitäten" die Grundlage für jede geometrische Intuition, obwohl man noch einen weiteren Schritt machen muß, um auf dieser Grundlage die Geometrie als eine mathematische, und zwar deduktive Disziplin aufbauen zu können. Man muß nämlich noch eine Intention vollziehen, die mit der rein intuitiven Anschaulichkeit der gegebenen räumlichen Qualität in engem Zusammenhang steht und sozusagen deren "Grenzcharakter" scharf präzisiert. Man muß also eine Meinung vollziehen, die ζ. B. die "Geradheit" der euklidischen Linie in einem bestimmten Sinne idealisiert oder radikalisiert, so daß wir erst dann einen Einblick in diese besondere "Geradheit" gewinnen, die nur im euklidischen Typus des Raumes auftreten kann. Ebenso muß man mit seinem Meinen die Einsicht in die (wenn man so sagen darf) "Eindimensionalität" dieser Linie radikalisieren, d. h. [die Einsicht], daß sie nur eine Länge besitzt (sich "in die Länge" erstreckt), aber jeder "Breite" oder "Dicke" radikal entbehrt, während alle als anschauliches Modell dienenden Zeichnungen einer Geraden oder einer Krummen eben diese "Dicke" oder "Breite" besitzen und nur der Versuch, diese Dicke zu annullieren, uns im Grenzfall einen Einblick in diese radikale Eindimensionalität der Linie ver-

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

schafft. Dasselbe gilt z. B. für die "Flachheit" der Oberfläche eines zweidimensionalen Raumgebildes, das einer dritten Dimension und zugleich jeder "Ausbauchung" in irgendeinem seiner Punkte oder zweidimensional ausgedehnten Teile radikal entbehrt, d. ti. [für die "Flachheit"] einer "Räche". Wir vergegenwärtigen uns diese spezifische Qualität der "Fläche", indem wir uns vorstellen, daß eine auf ihr liegende (oder genauer: in sie eingeschmolzene) Gerade sich um einen ihrer Punkte dreht und sich in keinem ihrer Punkte gleichsam über die Fläche hinausbeugt, in der sie sich dreht. Wenn es uns gelingt, den Flächen-Charakter (oder die Flachheit) dieser Fläche zu erfassen, dann geschieht das nicht auf rein gedankliche Weise (durch blindes Vermeinen). Es geschieht das vielmehr durch eine Einsicht oder einen Einblick, zugleich aber auch durch das Meinen jener radikalen Flachheit in allen Richtungen, der Flachheit, die es der Geraden erlaubt, sich mit all ihren Punkten in die Fläche, auf der sie - wie man gewöhnlich sagt - "liegt", einzuschmelzen, zugleich aber sich zu drehen, ohne sich mit einem ihrer Punkte über diese Fläche hinauszubeugen. Ich glaube, daß wir eine solche exakte eidetische Grenzintuition der euklidischen Fläche erreichen können, wenn wir auch nicht in der Lage sind, die euklidische "Gerade" oder die streng zweidimensionale euklidische "Fläche" rein begrifflich zu definieren. Ich wäre geneigt zu sagen, daß wir auf ähnliche Weise die "Parallelität" zweier oder mehrerer euklidischer Geraden einsehen können, die auf derselben Fläche liegen, und daß die Einsicht in diese spezifische "scharfe" oder "strenge" Parallelität die Möglichkeit ausschließt, daß sich solche zwei Geraden, wenn auch nur in der sog. "Unendlichkeit", "schneiden". Daher das Axiom des Euklid. Und wenn es sich zeigt, daß man es ablehnen und dennoch ein widerspruchsfreies geometrisches System aufbauen kann, dann bedeutet das nichts anderes, als daß man von der Geradheit der euklidischen Geraden gedanklich oder intuitiv abgeht und sie durch eine Art (geschlossene oder offene) Krumme (im euklidischen Sinne) ersetzt, von der man zugleich voraussetzt, daß sie in einem neuen Sinne zu einer anderen [Linie] von gleicher Art parallel ist, d. h. in diesem Fall, mit dieser keinen gemeinsamen Punkt hat. Es unterliegt keinem Zweifel, daß man das denken kann. Ob man auch eine eidetische Einsicht (eidetische Intuition) in eine solche nichteuklidische "Gerade" gewinnen kann, möchte ich offen lassen. Wenn es sich aber zeigte, daß man das erreichen kann, dann würde ein solcher Intuitionsakt ebenfalls diesen

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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spezifischen, zweifachen Charakter aufweisen - [den Charakter] einer Einsicht, die durch ein gedankliches Meinen präzisiert wird - , und er wäre nicht, wie manche vielleicht sagen würden, einfach eine sinnliche Vorstellung einer individuellen Gestalt eines Dinges. Ebenso verhält es sich mit der Erfassung jener "Dreieckigkeit" in der eidetischen Intuition. Die "Intention", die sie präzisiert, kann in manchen Fällen solcher eidetischen Einsichten der Art sein, daß sie sich in eine Reihe von miteinander verbundenen Sinngehalten entfalten (explizieren) oder - wie man gewöhnlich sagt - sich definieren läßt. Manchmal ist das aber gerade ausgeschlossen; sie ist dann eine absolut einfache Meinung, die sich mit keinem zusammengesetzten Sinn gleichsetzen oder sich als diesem äquivalent setzten läßt. 62 In beiden Fällen muß man sich aber vor Augen halten, daß die Rolle dieses Intentionsfaktors in der Ideation (der eidetischen Intuition) nicht darin besteht, die gegebene räumliche Gestalt (ζ. B. die Geradheit der euklidischen Geraden) erst aufzuklären und zu bestimmen, sondern nur darin, zur Feststellung dieses "Grenzcharakters" jener Qualität beizutragen, die durch das anschauliche, intuitive Moment des Aktes der eidetischen Intuition enthüllt oder zur Gegebenheit gebracht wird. Daher

Wenn man aus der (euklidischen oder anderen) Geometrie alle intuitiven Gegebenheiten beseitigt, dann bleibt als das sprachliche Korrelat jenes Intentionsmomentes nur noch ein bestimmtes Wort übrig, das für sich zu wenig informativ ist, um uns zu sagen, worum es sich im vorliegenden Fall handelt. Die mathematischen Formalisten des XX. Jahrhunderts, die in der "Intuition" eine Quelle möglicher Vieldeutigkeit und Vagheit gesehen haben, haben bekanntlich postuliert, daß man die sog. "ursprünglichen (ersten) Begriffe" sowohl von diesem Moment der eidetischen Anschauung als auch von dem mit dieser verbundenen rein gedanklichen Sinn befreien und damit diese Begriffe als solche betrachten soll, die keinen Sinn besitzen und einen solchen erst durch die "impliziten Definitionen" im Rahmen eines formalisierten Axiomensystems annehmen. Die ursprünglichen Begriffe werden dann zu "Operations"begriffen, d.h. zu Begriffen, die eine Funktion innerhalb eines Axiomensystems ausüben. Wir haben es dann mit einem deduktiven System zu tun, das allgemeiner ist als z.B. die deduktiv aufgebaute euklidische Geometrie. Dann kann aber die Frage entstehen, ob wir es noch mit einem geometrischen System zu tun haben oder vielleicht schon mit einem System, das im Verhältnis zu jeder, euklidischen oder nichteuklidischen, Geometrie viel allgemeiner ist. Das ist indes eine Frage, die wir hier nicht zu erörtern brauchen. Es ist nur interessant, ob ein dermaßen radikal formalisiertes deduktives System ein Gefüge von rein gedanklichen Bedeutungen bildet, das selbstgenügsam und selbständig gegenüber den deduktiven Systemen wäre, in denen der Sinn sogar der ursprünglichen Termini durch die Gegebenheiten der entsprechenden eidetischen Intuitionen mitbestimmt ist.

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

kann auch dieses Intentionsmoment der Ideation von ihrem Anschauungsmoment nicht losgetrennt, nicht verselbständigt werden, wenn die Ideation eine ursprüngliche oder - wie man auch sagen kann - absolut einfache räumliche Qualität betrifft. Es gibt jedoch Ideationsakte, die derart "verschärft", "zur Grenze gebracht" sind, daß die durch sie bestimmten Qualitäten nicht so ursprünglich, sondern - wenn man so sagen darf - abgeleitet oder synthetisch sind, und dann lassen sich diese "definieren". 63 Das heißt: Wir können dann einen Komplex von ursprünglichen, einfachen oder auch "einfacheren" Qualitäten angeben, der, wenn er auftritt, jener gegebenen "abgeleiteten" Qualität gleichsam äquivalent ist. So ist es z.B. mit den Qualitäten "Dreieckigkeit", "Kugelförmigkeit" oder "Kreisförmigkeit". Man kann - anders gesagt - mit Hilfe eines Komplexes von ursprünglichen Qualitäten ein Gebilde oder eine Gestalt "konstruieren", in dem - oder besser - an dem die gegebene nichtursprüngliche, abgeleitete Qualität erscheint. So ist es ζ. Β. im Falle der "Quadratheit". Man kann auf diesem Weg zu "Qualitäten" räumlicher Natur wie etwa der "Form des regelmäßigen Zwanzigflächners" gelangen. Zuerst aber noch ein anderer Punkt, der für das Problem der Funktion und der Arten der "Ideation" von Wichtigkeit ist. Es handelt sich darum, daß uns in der Ideation sehr oft ein qualitatives Ganzes gegeben ist, das gleichsam eine "Verschmelzung" von mehreren verschiedenen Qualitäten bildet, die sich in concreto von den übrigen nicht lostrennen lassen, mithin - wie ich mich ausdrücke - "unselbständig" sind. So ist es ζ. B. mit jener Gegebenheit der Ideation, in der uns eine Farbe erscheint, etwa eine grüne Farbe mit einer eindeutig bestimmten "Qualität" (im engen, in der Farbentheorie angenommenen Sinne des Wortes), "Helligkeit", "Sättigung", "Raumgestalt" 64 , "Ausdehnung" (ζ. B. einer, welche die Fläche eines Quadrates mit einer bestimmten Seitenlänge bedeckt) usw. Jede dieser un-

63

[Vgl. Ingarden (1925a), § 24.]

64

In den von D. Katz und H. Hofmann durchgeführten Untersuchungen über die Farben wurden die "Oberflächenfarben", die "Raumfarben" und die sog. "Flächenfarben", wie etwa die Farbe des reinen Himmels, unterschieden. Die konkreten Farben müssen in einer dieser drei Gestalten auftreten. [Vgl. D. Katz, Die Erscheinungsweisen der Farben und ihre Beeinflussung durch die individuelle Erfahrung, Leipzig 1911 (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Erg. Bd. 7); H. Hoffmann, "Untersuchungen über den Empfindungsbegriff', Archiv fir die gesamte Psychologie, Bd. XXVI (1913), Hft. 1.]

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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selbständigen Qualitäten läßt sich in der Ideation für sich selbst erfassen (ohne daß die übrigen Qualitäten aus dem Gesichtsfeld verschwinden). Wir können uns somit z.B. klarmachen, welche Sättigung im gegebenen Fall vorliegt. Nun zeigt es sich aber, daß wir Mittel besitzen, um in der Ideation verschiedene Fälle einer Farbe mit derselben "Qualität" (einer eindeutig bestimmten Rotnuance), aber einer jeweils anderen Helligkeit oder Sättigung zur Gegebenheit zu bringen. Entweder in imaginatione oder auch in perceptione (oder genauer: auf Grund einer Perzeption) können wir einige der Momente, die in der konkreten Farbe zusammen auftreten, einer Variation unterziehen, während wir eines ihrer Momente, z.B. die "Qualität" der Farbe, unverändert behalten. Diese "Variation" kann dabei entweder sozusagen "sprunghaft" eintreten oder auch durch Durchlaufen des ganzen eventuell möglichen Kontinuums von Veränderungen, ζ. B. der "Helligkeit". Es kann sich dann zeigen, daß ζ. B. die Farb"qualität" in der konkreten Farbe zwar gegenüber der "Helligkeit" und "Sättigung" seinsunselbständig, zugleich aber material - ihrer Qualität nach - von den Veränderungen der Helligkeit und der Sättigung unabhängig ist: Die Farbe ist genau von derselben Nuance, obwohl die Helligkeit und die Sättigung sich verändern. So wird auch diese Situation gewöhnlich beschrieben. Es kann sich aber auch zeigen, daß sich die Sache anders verhält, daß nämlich die Variabilität der "Helligkeit" nicht ganz beliebig (nicht ganz frei) ist, weil es beim Erscheinen von extremen Fällen der Helligkeit (sehr schwacher oder sehr starker) zumindest fragwürdig werden kann, ob die Identität der "Qualität" (Nuance) der Farbe streng bewahrt wird oder ob sie auch einer Modifikation erliegt, und zwar nicht nur in dem Sinne, daß mit der Helligkeit sich zugleich auch die sog. Sättigung ändert, sondern auch in dem Sinne, daß auch die Farbqualität selbst einer Modifikation unterliegt. Ich möchte hier diese Frage nicht entscheiden, bin jedoch der Ansicht, daß sie noch genauer erörtert werden soll. Wesentlich ist hier nur ein erkenntnistheoretischer Aspekt: Die Erforschung dieser Art von Abhängigkeit oder Unabhängigkeit zwischen reinen Qualitäten innerhalb eines phänomenalen Ganzen rechne ich zum Gebiet der "eidetischen" Untersuchungen, genauer: zum Gebiet der Untersuchungen, die mit Hilfe der "Ideation" in bezug auf ideale Qualitäten durchgeführt werden. Solche Probleme hinsichtlich der Zusammenhänge, der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit und der möglichen unabhängigen Variabilität zwischen Qualitäten gibt es sehr viele. Sie sind vor

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

allem mit der Frage verbunden, ob und welche reinen Qualitäten in einem Anschauungsfeld zusammen auftreten können oder eventuell müssen, besonders als unselbständige Momente eines qualitativen Ganzen, wo die Vielheit von miteinander "verflochtenen" Qualitäten bewirkt, daß sie nicht mehr reine Qualitäten sind, sondern in gewisse kategoriale Formen eingehen, die es ihnen erlauben, ein gegenständliches Ganzes zu konstituieren. Das alles und insbesondere diese Möglichkeit der Konstituierung von gegenständlichen Ganzen gehört zum Gebiet der "eidetischen" Forschung, die sich mit Hilfe der "Ideation" vollzieht. Gehen wir beispielsweise von gewissen Fragen aus, die vielleicht manch einem Leser lächerlich vorkommen werden, die aber dennoch den Anfang der Untersuchungen über reine Qualitäten ausmachen. Nehmen wir eine Farbe - etwa eine, die in einem frischen grünenden Wintergetreide erscheint: ein lebhaftes, gesättigtes Grün. Fragen wir, ob sie ein qualitatives Ganzes ζ. B. mit der Säure einer guten (nicht bitteren) Zitrone bilden könne. Gewiß, wir können gleichzeitig dieses schön grüne Wintergetreide wahrnehmen und den Geschmack der Zitrone schmecken, d. h. beide Qualitäten, eine Gesichts- und eine Geschmacksqualität, insbesondere aber jenes lebhafte Grün und die Säure, im Feld unserer simultanen Erfahrung haben. Aber auch wenn sie gleichzeitig erscheinen, schließen sie sich nicht zu einem Ganzen zusammen. Gewiß, würde jemand sagen, ihre Lokalisierung ist jeweils anders, und es scheint unmöglich, sie sozusagen so zu "situieren", daß sie sich beide in demselben Erfahrungsfeld finden. Könnte es damit so sein, wie mit jenem rechteckigen Rot und dem roten Rechteck? Könnte man zu Recht sagen, daß wir im Gesichtsfeld ein saures (wie eine Zitrone) Grün oder auch eine grüne Säure haben? Qualitäten dieser Art scheinen "non-composable" zu einem Ganzen. Ähnlich scheint es, daß ζ. B. die Farbe Rot, so wie sie etwa in der polnischen Fahne auftritt, sich mit der Qualität (sagen wir mit der sog. "Farbe") eines Geigentons mit der Höhe eines A zu einem qualitativen Ganzen nicht derart vereinigen kann, daß es einen guten Sinn hätte, zu sagen, dieser Ton sei in seiner Farbe rot oder auch dieses Rot klinge wie ein Geigenton. Es fällt uns sogar irgendwie schwierig, das im Deutschen auch nur auszudrücken. Und es scheint, daß dies unmöglich ist. Und zwar nicht deswegen - wie vielleicht die Psychophysiologen behaupten würden - , weil wir derartige "Qualitäten" durch ein anderes Sinnesorgan empfingen und weil sie in ganz verschiedenen Räumen - dem visuellen und dem akustischen (wenn

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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ein solcher überhaupt existiert) - lokalisiert wären. Und ebensowenig deswegen, weil wir uns daran "gewöhnt" hätten, sie irgendwie getrennt voneinander zu empfangen, auch wenn sie gleichzeitig auftreten. Der Grund ist vielmehr ausschließlich der, daß diese Qualitäten an sich selbst so sind und daß man deutlich sieht, daß sie derart sind, daß sie sich zu einem Ganzen miteinander nicht "vereinigen", nicht "verschmelzen" können, so wie sich die Nuance einer Farbe und deren Sättigung und Helligkeit miteinander verbinden. Hier stoßen wir nun auf einen anderen Fall "eidetischer", in der Ideation entdeckter nicht nur Unabhängigkeit, sondern geradezu Fremdheit von zwei Qualitäten im Verhältnis zueinander. Vielleicht werden wir jedoch hier auf einen Widerspruch der Musiker oder auch nur der Musikhörer stoßen, die sich für die Existenz der sog. "audition colorée" aussprechen und sagen, gewisse Töne oder Tonkomplexe seien zugleich farbig im strengen Sinne des Wortes. Es handelt sich hier nicht nur darum, daß es "helle" oder "dunkle" (hohe und niedrige) Töne gibt. Es gebe auch Töne oder - genauer gesagt - musikalische Gebilde, Melodien und Akkordkomplexe, die auf verschiedene Weise farbig, ζ. B. violett, braun (wie Bronze) oder silbern seien. Dabei sagen zugleich diejenigen, die das behaupten, es gebe eben Töne und musikalische Gebilde (Melodien), die eine Färbung hätten, und es sei nicht nur eine Farbe mit einem musikalischen Gebilde als eine gleichzeitige Erscheinung assoziiert. Man könnte sagen, daß diese Farbe am musikalischen Gebilde gleichsam haftet (ζ. B. eine Melodie als eine bewegliche goldige Linie) und infolgedessen mit diesem eine gemeinsame Lokalisierung hat, sofern die Rede vom akustischen Raum und einer Lokalisierung in diesem Raum überhaupt zulässig ist. 65 Trotz der Aspekte einer engen Verbindung des musikalischen Gebildes mit der Farbe, einer Verbindung, die zumindest in manchen wenigen Fällen phänomenal auftritt, ist es zweifelhaft, ob sie auf ausreichende Weise in den Eigenschaften von Tönen bzw. vom mu-

Ich muß sagen, daß mir gewisse Fälle der audition colorée aus meiner eigenen Erfahrung bekannt sind und daß die im Text gegebene Beschreibung der Verbindung einer Farbe mit einer Melodie meiner Erfahrung entspricht. Das sind aber ziemlich seltene Fälle, und nicht immer kehren sie bei demselben Werk wieder. Es scheint also, daß das Auftreten der audition colorée durch das musikalische Gebilde selbst noch nicht hinreichend bedingt ist, sondern von irgendwelchen weiteren Bedingungen abhängt. Vielleicht spielt dabei die Interpretationsweise des gegebenen Werkes oder der musikalischen Phrase eine große Rolle.

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IV. Die Phänomenologie

des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse

und deren

Korrelate

sikalischen Gebilde selbst fundiert ist oder ob jene Erscheinungen für diese eher zufällig sind. Es ist vor allem - sofern ich weiß - keine Rede davon, daß ζ. Β. ein besonderer Ton mit einer bestimmten Höhe und Farbe (d. h. einer solcher, der etwa einem bestimmten Klavier entlockt wurde) farbig, ζ. B. grün oder blau wäre. 66 Es handelt sich - wie es scheint - ausschließlich um bestimmte musikalische Gebilde, ζ. B. eine Melodie, die mit der Geige vorgetragen wird. Man kann dann diese Melodie als eine bewegliche und zugleich farbige, z.B. goldige Linie oder vielmehr als einen sich schlingenden farbigen Streifen "sehen".67 Meistens tritt die Erscheinung der audition colorée bei ganzen musikalischen Werken oder deren ziemlich komplizierten Fragmenten von ihnen auf. Es handelt sich dann nicht um das strenge Verschmelzen einer Farbe mit einem Klang, sondern vielmehr gleichsam um das Sichniederschlagen der Farbe auf das ganze musikalische Gebilde. Es ist dabei gar nicht so, daß ein Fragment des Werkes oder sogar eine isolierte Melodie immer (bei jedem Anhören) in einer bestimmten, jedesmal gleichen Weise farbig wäre. Bisweilen erscheint die Farbe nur einmal, und bei weiteren Anhörungen ist

66

Ich habe das persönlich auch nicht erfahren.

f\7 Ich habe solche Erscheinungen bei manchen Klavierwerken (Präludien) Debussys erlebt. Sie sind mir auch in manchen Fragmenten von Strawinskis Feuervogel

erschienen, als ich

ihn zum ersten Mal hörte, auch in Fragmenten von Bachs Brandenburgischen manchen Partien des II. Aktes in Wagners Siegfried

Konzerten,

in

usw. Man könnte fragen, ob die

Erscheinung der audition colorée sich nicht hinter gewissen Fragmenten von Disneys Filmschauspiel Phantasia

(das ich 1948 in London sah) verbirgt, nämlich in dem Teil dieses

Films, wo bei einzelnen Phrasen einiger Instrumente zugleich bewegte Farbflecke auf dem Bildschirm gezeigt werden, bei verschiedenen Instrumenten jeweils verschiedene. Auch bei Bachs Toccata, die vom New Yorker Orchester Stokowskis aufgeführt wird, erscheinen auf dem Bildschirm bewegte Farbflecke, die von Disney ohne Zweifel speziell gewählt, eventuell gemalt wurden. Auf jeden Fall bietet jedoch dieses Schauspiel selbst nicht die Erscheinung der audition colorée, denn die Tongebilde verschmelzen hier nicht zu einem qualitativen Ganzen mit dem, was im Film gezeigt wird. Es ist vielmehr eine farbige Illustration gewisser Tongebilde. Man kann nur vermuten, daß Disney sie so gewählt hat, um seine Erlebnisse der audition colorée wiederzugeben. Eine große Rolle spielt dabei außer der Farbe auch die Bewegung der farbigen Gestalten. Diese Bewegung, und zwar oft die von sich im dreidimensionalen Vorstellungsraum entfaltenden Flächen, erscheint bei mir sehr oft auch dann beim Musikhören, wenn eine sichtbare Färbung des musikalischen Gebildes auftritt, am häufigsten aber ohne audition

colorée.

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung

in der Erkenntnistheorie

347

die gegebene Melodie schon farblos, rein klanglich. 68 Bisweilen geschieht es jedoch, daß dieselbe Farbe des Werkes mehrmals zur Erscheinung gelangt. Die von mir mehrfach festgestellte Tatsache, daß nicht bei jedem Anhören eines musikalischen Gebildes dessen Farbe erscheint, zeugt jedoch meines Erachtens davon, daß in diesem Fall kein notwendiger und strenger Zusammenhang zwischen dem Ton (oder Tonkomplex) und der Farbe besteht und daß die Quelle des Auftretens der audition colorée in einem Phänomen zu suchen ist, das außer dem gegebenen Tongebilde als dessen Begleiterscheinung auftritt, die vielleicht durch die Einwirkung des gegebenen Tongebildes auf den Hörer hervorgerufen wird. Es scheint endlich, daß sogar in den Fällen, wo es zu einer deutlichen Erscheinung der audition colorée kommt (und zwar in dem strengen Sinne, daß eine z.B. mit dem Cello vorgetragene Melodie als eine sichtbare Erscheinung einer beweglichen Linie in einer bestimmten Weise farbig ist) wenigstens nach meinen persönlichen Erfahrungen ein charakteristischer Unterschied besteht zwischen der Anschauung der gehörten Töne (bzw. der ganzen Melodie als einer Gestalt) und deren besonderer Farbe. Indem sie sich in einer Vielheit von aufeinanderfolgenden Tönen entwickelt, tritt die Melodie in einer für Wahrnehmungsgegebenheiten charakteristischen Anschauung mit einer besonderen Lebhaftigkeit und sozusagen mit einer Sättigung und direkten Gegenwärtigkeit auf. Dagegen wird die Farbe der gegebenen Melodie, obwohl auf deren "Linie" selbst niedergeschlagen, nicht mit einer solchen Anschaulichkeit, Konkretheit und Lebhaftigkeit gesehen, mit der wir z.B. gleichzeitig das farbige Instrument oder die den Bogen führende Hand des Virtuosen sehen. Man ist versucht, zu sagen, daß die Färbung der beweglichen "Linie" eher in der Anschauungsart erscheint, die für die visuelle Vorstellung kennzeichnend ist. 69 Das ist aber auch nicht genau, weil anschauliche Vorstellungsdaten sich

68

In meinen Erfahrungen tritt nur das einleitende (und danach einige Male wiederkehrende) melodische Motiv der Symphonischen

Variationen

C. Francks in einer sehr spezifischen

Färbung auf, die ich kaum beschreiben kann. Ich würde sagen, daß es seladongrün ist, und zwar bei mehreren Anhörungen. 69

Mit der Verschiedenheit der beiden Anschauungtypen hat sich H. Conrad-Martius in ihrer Arbeit beschäftigt. [Vgl. H. Conrad-Martius, "Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt", Jahrbuch (1916), S. 366.]

flir

Philosophie

und phänomenologische

Forschung,

3

348

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

in keiner Weise mit anschaulichen Wahrnehmungsdaten verbinden. Sie sind auch im visuellen oder akustischen Wahrnehmungsraum nicht lokalisiert. Indessen ist die Farbe einer Melodie trotz allem mit der Melodie als einem Tongebilde gleichsam verschmolzen. Sie scheint gegenüber der Tongrundlage etwas Sekundäres zu sein, und zwar solcherweise, daß sie diese Lebhaftigkeit und Konkretheit von Wahrnehmungsgegebenheiten nicht mehr erreicht. Wo die gesehene Farbe und das gehörte Tongebilde in derselben wahrnehmungsmäßigen Anschauungsart auftreten, verbinden sie sich nie zu einem qualitativen Ganzen, sondern sind zwei getrennte Qualitäten oder zwei getrennte Komplexe von verschiedenartigen Qualitäten. Es ist ferner beachtenswert, daß man - sofern ich weiß - nie festgestellt hat, daß sich eine Farbe mit einem Ton oder Tongebilde verbände, daß ζ. B. die grüne Farbe soundso klänge oder daß die gelbe Farbe auf die Weise klänge wie ζ. B. die mittleren Töne auf dem Cello. Das kann am besten davon zeugen, daß nicht die Farbe sich mit einem Ton oder Tonkomplex "verbindet" oder diesen bestimmt, sondern höchstens der Tonkomplex sich irgendwie mit der Farbe verbindet. Dieses asymmetrische Verhältnis und die relativ große Seltenheit der audition colorée weist eher darauf hin, daß wir in diesem Fall keinen notwendigen Zusammenhang von entsprechenden idealen Qualitäten vor uns haben - was meiner Behauptung widersprechen würde - , sondern nur als eine empirische und im Grunde unverständliche Tatsache feststellen müssen, daß es unter besonderen, nicht geklärten Umständen zu diesen soeben geschilderten Erscheinungen des gleichzeitigen Auftretens von artmäßig verschiedenen Qualitäten in einem rein qualitativen Komplex kommt. Dieser ganze Fall legt es nahe, daß ein besonderer, noch nicht geklärter Unterschied besteht zwischen dem "eidetischen" Auffinden von Zusammenhängen (oder von Verhältnissen des gegenseitigen Ausschließens) unter Qualitäten verschiedener Art und dem "empirischen" Feststellen des Vorhandenseins gewisser individueller Erscheinungen, in denen ein solches Verbinden von heterogenen Qualitäten zustande zu kommen scheint. Wir müssen uns aber folgendes klarmachen: Sobald wir uns dem Problem des notwendigen, einigermaßen in den Qualitäten selbst fundierten "Sichverbindens", "Sichvereinens" von verschiedenen und verschiedenartigen Qualitäten in einem Ganzen, sei es rein qualitativer, sei es gegenständlicher Natur zuwenden, gehen wir schon von der einfachen "Ideation", die uns eine ideale

§ 26. Die "eidetische " Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

349

Qualität in specie zeigt, zu einer anderen Form "eidetischer" Erkenntnis über, die sich zwar dieser Ideation gleichsam bedient (diese ist gleichsam ein Bestandteil dieser Erkenntnis), aber darüber wesentlich hinausgeht. Während die "Ideation" in dem hier analysierten Sinne als so etwas wie die "Intuition" von "einfachen Naturen" angesehen werden könnte, die einst Descartes vorschwebte, scheint der jetzt betrachtete Fall der "eidetischen" Erkenntnis gleichsam etwas Mittleres zwischen Descartes' "Intuition" und der von ihm angenommenen "Deduktion" 70 zu sein. Einerseits ist es noch keine "Deduktion", d. h. eine Operation des Übergehens von einer intuitiven Gegebenheit zu einer anderen oder auch von einem intuitiv gegebenen Qualitätenkomplex zu einem anderen, ebenso intuitiven Komplex. Des Übergehens dabei, dessen Richtung durch den ersten Komplex bestimmt ist und daher auch die Intuition des Zusammenhangs (eben des "Folgens") zwischen ihnen [den Komplexen] ermöglicht. Andererseits ist aber die jetzt untersuchte Erkenntnisoperation auch keine reine "Intuition" (Ideation) einer einfachen idealen Qualität mehr, sondern umfaßt sowohl die Intuition einzelner "einfacher Naturen" Descartes' (idealer Qualitäten) als auch eine mit der Ideation selbst eng verbundene Denkoperation, die einen Versuch darstellt, eine der mehreren zugleich gegebenen Qualitäten, ζ. B. die Qualität A, einer "Variation" zu unterziehen. Dieser Versuch wird dabei [erstens] in der Absicht unternommen, zu sehen, ob diese Variation gelingt; zweitens gilt es herauszufinden, ob trotz dieser Variation eine andere Qualität Β unverändert bleibt und stets mit einem der Einzelfälle der Qualität von der ArtA, die der "Variations"probe unterzogen wird, in Verbindung steht, oder aber ob diese Qualität einer charakteristischen Variation (von der Art Β) unterliegt oder endlich die Variation der Qualität von der Art A einfach das Ausbleiben der Qualität Β innerhalb des gegebenen Qualitätenkomplexes mit sich bringt. Dann wird die Qualität Β einfach durch eine Qualität einer ganz anderen Art, z.B. der Art C abgelöst. Die beiden Verhaltensweisen des Subjekts: die Tätigkeit des Sehens (gleichsam die eines sich nicht verändernden Betrachtens) und die Tätigkeit der "Variation" - einer besonderen "Operation" des Subjekts - bilden einen Komplex von zueinander gehörenden Verhaltensweisen des Erkenntnissubjekts. Dabei müssen die 70 Vgl. Descartes, Regulae ad directionem ingenti [/ Regeln zur Ausrichtung der Erkenntniskraft, kritisch revidiert, übers, und hrsg. von Heinrich Springmeyer, Lüder Gäbe, Hans Günter Zekl, Hamburg 1973.]

350

IV. Die Phänomenologie

des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse

und deren

Korrelate

durch "Variation" 71 gewonnenen Resultate wieder im "Sehen", in der eidetischen Intuition bestätigt werden. Die Operation der "Variation" besteht darin, daß wir, ausgehend von einer idealen Qualität, ζ. B. der "Helligkeit" einer Farbe oder der "Höhe" eines Tones, versuchen, von einer bestimmten Qualität einer Art, also ζ. B. von einer bestimmten Tonhöhe, zu anderen Qualitäten derselben Art fortzuschreiten und diese sozusagen auf einen gegebenen qualitativen Komplex anzuwenden. Dieses Vorgehen ist dann und nur dann möglich, wenn eine Qualität j einen Spezialfall einer Gattung von Qualitäten J ausmacht, die viele Spezialfälle zuläßt. Korrelativ: Die Operation der "Variation" läßt sich dann und nur dann durchführen, wenn sich im gegebenen qualitativen Komplex, in dem u. a. die Qualität j auftritt, durch eine spezifische "abstrahierende" Ideation ein gattungsmäßiges Moment J erschauen läßt, so daß die Reihe der verschiedenen Q u a l i t ä t e n j n , j m , j r . . . direkt als eine "Abwandlung" (Variation) der Gattung J aufgefaßt werden kann und nicht als eine Serie von sehr verschiedenen Momenten, die keine Abwandlungen von ein und demselben Etwas ausmachen. Und erst dadurch, daß im Ideationsakt jenes Gattungsmoment J erschaut wird, das sich durch eine besondere qualitative Unselbständigkeit auszeichnet und eine Ergänzung in "gattungsmäßigen Abwandlungen" erfordert, wird es möglich, die "Variation" durchzuführen. Wir gewinnen dann in der Intuition "irgendeine Länge" ζ. B. einer Seite eines Dreiecks oder "irgendeine Helligkeit" einer Farbe oder "irgendeine Sättigung" einer Farbnuance usw. und können den oben beschriebenen Versuch unternehmen, nachzuprüfen, ob z.B. das Variieren der Helligkeit einer Farbe eine Änderung der "Qualität" dieser Farbe nach sich zieht oder nicht. Nicht alle idealen Qualitäten sind aber derart, daß es für sie eine Gattung gibt, die viele Spezialfälle zuläßt. So hat ζ. B. die Qualität der (euklidischen)

71 Der von mir hier verwendete Terminus "Variation" wurde von Husserl nach 1925 eingeführt. In der Literatur wurde der Terminus "Variation" bei Husserl erst in Erfahrung Urteil [Untersuchungen

zur Genealogie

und

der Logik, Prag 1939] verwendet. Husserl scheint

ihn im Zusammenhang mit dem Begriff des "veränderlichen Ideengehaltes" eingeführt zu haben, den ich in meiner Abhandlung "Essentiale Fragen" (1925) [Ingarden (1925a)] festlegte.

[Der Terminus

transzendentalen 255) auf.]

"Variation"

tritt bei

Husserl

schon

in der

Formalen

und

Logik, Halle 1929, S. 219 (Husserliana XVII, hrsg. von P. Janssen, S.

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

351

Geradheit der Linie - wie es auf den ersten Blick scheint - keine übergeordnete Gattung der linearen "Geradheiten", für die sie einen Spezialfall darstellen würde. Wenn wir dagegen von der "Gestalt" (dem Umriß) einer Linie 72 ausgingen, welche die übergeordnete Gattung für die einzelnen Liniengestalten bilden würde, unter denen verschiedene zu einem Kreis mit entsprechend langem Radius gehörenden "Krümmungen" aufträten, dann fände sich darunter die "Geradheit" der Linie, die dem Kreis mit einem unendlichen Radius zugehören würde. Die "Gerade" würde also einen Grenzfall der "Krummen" mit verschiedenen Krümmungsradien ausmachen bzw. sich als ein solcher auffassen lassen. Bei allen endlichen, auch sehr großen Radien des Kreises wären die entsprechenden Bogen "Krumme", nicht "Geraden", auch wenn sie sich der Geraden beliebig annähern würden. Wenn wir es aber mit einer Qualität zu tun haben, die einen Spezialfall einer Gattung bildet, deren konstitutives Moment wir zu unterscheiden und zu erfassen vermögen, dann ist dieser "Übergang" von einem Spezialfall zu anderen derselben Gattung im Prinzip möglich, und danach kann man eine Variation dieser Gattung vollziehen, die alle darunter fallenden Spezialfälle umfaßt. Wie kann man das aber effektiv durchführen und nicht nur davon als einer gleichsam entworfenen Operation sprechen? 73 Welchen Anteil kann dabei Erfahrung oder Ideation haben, und welches ist der Anteil der reinen Denkoperation? Es kann damit unterschiedlich sein, je nach der Gattung der Qualitäten und je nachdem, welche Spezialfälle dieser Gattung möglich sind. Meines Erachtens erleichtert sich Husserl die Aufgabe oder vielmehr unterschätzt die Schwierigkeiten und Gefahren, die uns bei dieser Variation entgegentreten können. Er schlägt vor allem vor, man solle diese Operation in freier Phantasie ausgehend von einer konkreten Wahrnehmung eines Gegen-

72 Manche sind vielleicht der Meinung, daß die "Gestalt" der Linie eine aus einer konkreten Linie abstrahierte ideale Qualität ausmache, die sich mit einem Ideationsakt erfassen lasse; die anderen würden dagegen in diesem Fall lieber nur von einem allgemeinen "Begriff' sprechen, unter den die einzelnen "Gestalten" der Linie fallen würden. Ich möchte hier dieses Problem nicht entscheiden. Um einen solchen "Entwurf" der Operation der "Variation" handelt es sich im Grunde bei Husserl in seinem Buch Erfahrung und Urteil [Untersuchungen Prag 1939], Vgl. I.e. S. 407.

zur Genealogie

der

Logik,

352

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

standes oder derjenigen einer Eigenschaft desselben durchführen. 74 Zugleich seien die Gegebenheiten dieser Wahrnehmung nicht als Tatsachen zu betrachten, sondern lediglich als eine Möglichkeit, die am gegebenen, nur als Beispiel dienenden Gegenstand illustriert werde. Dementsprechend müsse die im Wahmehmungsakt beschlossene Überzeugung vom wirklichen Sein des Gegenstandes suspendiert werden. Gerade dieser Schritt garantiere der Operation der Variation die volle Beliebigkeit, damit wir - anders gesagt nicht durch die Überzeugung beschränkt seien, man könne Qualitäten einer Art nur im Bereich der uns in der Erfahrung gegebenen Tatsachen variieren. Diese Variation solle in der Phantasie durchgeführt werden, wobei an dem in der Wahrnehmung gegebenen Gegenstand ein Moment fixiert wird, das als Ausgangspunkt der ganzen Operation dient. Dieses fixierte Moment kann dabei entweder beliebig gewählt werden, oder es wird aus irgendwelchen Gründen in Betracht gezogen, die für den diese Operation übenden Forscher von Wichtigkeit sind. Der Grund dafür kann z.B. in einem schon gewonnenen Einblick in den Aufbau der Ausstattung des gegebenen Gegenstandes liegen und in der Einsicht, daß das zu "fixierende" Moment eine besonders wichtige Rolle in dieser Ausstattung spielt. Husserl äußert sich nicht deutlich in dieser Frage. Da er aber für die ganze Operation die vollständige Beliebigkeit und Unabhängigkeit von der Erfahrung verlangt, könnte man vermuten, daß auch schon diese Einsicht in die Rolle des zu fixierenden Momentes in der Ausstattung des als Ausgangspunkt der ganzen Operation dienenden Gegenstandes nach ihm als eine Bindung durch die Erfahrung angesehen werden müsse, so daß dieses zu fixierende Moment ganz beliebig, gleichsam aufs Geratewohl auszuwählen wäre. Man könnte letzten Endes verschiedene Momente der Ausstattung des Gegenstandes, von dem man ausgeht, der Reihe nach in Betracht ziehen und nachprüfen, ob das zur Fixierung gewählte Moment bei ganz freiem Variieren eines anderen, ebenso beliebig gewählten Momentes

Vielleicht geht es dabei Husserl nicht um eine beliebige Eigenschaft des Dinges, sondern um dessen Natur oder ein darin enthaltenes abstraktes Moment. Husserl spricht zwar manchmal (besonders in den Ideen I) vom "Was" des Gegenstandes, als ob es sich um dessen Natur handelte, er spricht aber dabei zugleich vom "Wesen" des Gegenstandes. Andererseits hat sich Husserl nie deutlich darüber geäußert, ob er geneigt wäre, unter den Bestimmtheiten des Gegenstandes seine Natur zu unterscheiden und sie seinen Merkmalen oder Eigenschaften gegenüberzustellen.

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

353

unverändert bleibt. Wenn es sich zeigte, daß dies nicht der Fall ist, bliebe noch zu entscheiden, ob man den Variabilitätsbereich des variierten Momentes einschränken oder auf die Konstanz des fixierten Momentes verzichten und annehmen solle, daß auch dieses variiert werden kann. Diese Entscheidung liegt jedoch nicht einfach in unserem Belieben bzw. darin, im ganzen Verfahren diese Beliebigkeit zu behalten. Sie hängt vielmehr davon ab, ob es sich zeigt, daß wir eine Änderung des fixierten Momentes nicht gestatten dürfen. Das heißt: ob dieses in dem zum Ausgangspunkt der Operation gewählten Gegenstand nicht eine solche Rolle spielt, daß sein Variieren zur Vernichtung dieses Gegenstandes führt (zu dem, was Husserl bildlich "Explosion" des Gegenstandes nannte). 75 Da aber sowohl das "Fixieren" des Momentes A als auch das Variieren des Momentes B, deren Verhältnis von Abhängigkeit oder Unabhängigkeit wir auf diesem Weg ermitteln sollen, sich nach Husserl nicht nur in voller Beliebigkeit, sondern auch in der Phantasie (in der imaginativen Vorstellung) und unabhängig von der Wahrnehmung bzw. überhaupt von der Erfahrung vollziehen soll, ist es fragwürdig, ob man auf diesem Weg feststellen kann, daß die Variabilität des Momentes Β ganz unbegrenzt ist, weil das Moment A in jedem Fall unverändert bleibt, oder daß sie begrenzt ist, weil bei manchen Spezialfällen des Momentes Β das Moment A eine Veränderung erfährt. Es scheint, daß wir uns, wenn wir diese ganze Operation der völligen Beliebigkeit in der Phantasie überlassen, nicht nur der Mittel berauben, zu ermitteln, welches Verhältnis zwischen Λ und Β besteht, sondern auch, daß wir dadurch Fehler riskieren, und überdies solche, die man auf diesem Weg nicht mit Sicherheit aufspüren kann. Würde jemand ζ. B. als das "fixierte" Moment die Gestalt des regelmäßigen Vielflächners nehmen und versuchen, die Anzahl der Flächen in der Phantasie ganz beliebig zu variieren, dann hätte er bekanntlich nicht nur empirische Schwierigkeiten damit, sich die Gestalten solcher Vielflächner mit beliebiger Anzahl von Flächen [anschaulich] vorzustellen; er würde sich auch bemühen, etwas zu vollbringen, wovon bewiesen wurde, daß es unmöglich ist, weil es solcher regelmäßigen Vielflächner nur fünf gibt und bei jeder anderen Anzahl von Flächen ein Widerspruch entsteht. Das einfache beliebige Fixieren der "Regelmäßigkeit

75

[Vgl. E. Husserl, Ideen I, S. 287 ff., 317 (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 320 ff., 353)].

354

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

des Vielflächners" und das ebenso beliebige Variieren der Anzahl seiner Flächen - und zwar in der Phantasie - führt in diesem Fall zu gar keinem bzw. zu einem falschen Ergebnis. Das erkennen wir aber nicht durch die von Husserl empfohlenen Erkenntnisoperationen, sondern aufgrund eines mathematischen Beweises. Wie wird es jedoch sein, wenn wir als das Exempel, mit dem wir die Operation der "Variation" beginnen sollen, einfach ein uns in der Gesichtswahrnehmung gegebenes Stück Stein - als Beispiel eines materiellen Dinges - nehmen und über seine mögliche "Gestalt" nachdenken, indem wir diese ganz frei als "irgendwelche" variieren? Und [wie wäre es.] wenn wir das in freier Phantasie täten, ohne uns auf die Erfahrung zu stützen? Die zeitgenössische Physik lehrt, daß dieses gesehene Stück Stein streng genommen gar keine bestimmte Gestalt besitzt, und zwar in dem Sinne, von dem wir aufgrund der Gesichtswahrnehmung (mit bloßen oder sogar "bewaffneten" Augen) in einem verhältnismäßig engen Temperaturbereich sprechen können. Denn es ist bekanntlich durch keine Oberfläche begrenzt, die seine "Gestalt" bestimmen würde, ebensowenig wie etwa ein Bienenschwarm durch eine solche begrenzt ist. Von der makroskopischen Wahrnehmung materieller Dinge als einer exemplarischen Möglichkeit ausgehend, halten wir vielleicht an der Behauptung fest, daß jeder materielle räumliche Gegenstand eine eindeutig bestimmte Gestalt hat oder haben muß, daß seine Grenzen von allen Seiten "scharf sind oder sein müssen. Berücksichtigen wir aber die Quantenmechanik und das Prinzip Heisenbergs - als eine Möglichkeit und nicht als Tatsache - , dann müssen wir mit der Möglichkeit rechnen, daß in den räumlichen Mikrostrukturen vielleicht keine solche scharfe Raumabgrenzung von physischen Dingen besteht (oder wenigstens, daß es nicht möglich ist, auch nur in gewissen Fällen ihre scharfe Messung durchzuführen). Auf Grund der freien Phantasie allein, von Beispielen wahrgenommener Dinge ausgehend und nur fixierend, daß sie materiell sind, können wir dann in bezug auf Elementarteilchen überhaupt nicht zur Entscheidung kommen, wie ihre scharf bestimmte Gestalt ist. Und wenn wir versuchen, diese Gestalt frei zu "variieren", begehen w i r - e s scheint-einen Irrtum, auf jeden Fall aber setzen wir eine Möglichkeit voraus, ohne ihre Bedingungen in Betracht zu ziehen. Es ist interessant, zu bemerken, daß auch Husserl, wenn er diese Ausführungen von mir lesen würde, dagegen wohl nicht protestieren könnte, daß ich gewisse Behauptungen der zeitgenössischen Physik oder Mikrophysik heran-

355

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

ziehe. Denn ich setze nicht deren Ergebnisse voraus, sondern rechne nur mit der Möglichkeit, daß es so ist oder sein kann, wie es die heutige Physik lehrt. Außerdem weist Husserl selbst darauf hin, daß man nicht bei einer einzigen Dingwahrnehmung stehen bleiben darf, sondern daß man, um sich einen Ausgangspunkt zur "Variation" zu verschaffen, eine ganze Mannigfaltigkeit von wirklichen oder möglichen Wahrnehmungen, mithin wohl auch deren Folgen zu berücksichtigen hat. Er warnt zugleich, daß man dabei auf große Schwierigkeiten stoßen könne. 76 Schon der Ausgangspunkt zur Operation der "Variation" erfordert also nicht bloß die Beachtung einer exemplarischen Möglichkeit anhand einer Wahrnehmung, die sozusagen in rohem Zustand betrachtet wird, sondern vielmehr eine Rücksichtnahme auf viele verschiedene Wahrnehmungen und eine Analyse der darin schon gewonnenen Daten im Hinblick auf die Rolle, welche die einzelnen Momente im Aufbau der Ausstattung des als Exempel genommenen Gegenstandes spielen. Die Bedeutung der Erfahrung für die Möglichkeit, eine eidetische Erkenntnis zu erreichen und speziell die Zusammenhänge der Abhängigkeit oder der, in einem kleineren oder größeren Bereich bestehenden, Unabhängigkeit zwischen verschiedenen Momenten der Ausstattung eines Gegenstandes zu ermitteln, scheint also wichtiger, als man sie nach Husserls einleitenden Bemerkungen einschätzen könnte. Insbesondere kann die Operation der Variation von Qualitäten einer Art nicht ganz frei sein und nur in der Phantasie verlaufen. Sie muß sich vielmehr innerhalb der Grenzen halten, die durch die Fixierung gewisser konstitutiver Merkmale des Gegenstandes bestimmt sind. Der konstitutive Charakter dieser Merkmale sollte dabei auf Grund einer Analyse des Materials aufgeklärt werden, das - sei es auch nur als Möglichkeiten - durch die Erfahrung herbeigeschafft wird. Dann stellt sich aber wieder die Frage, ob und in welchem Maße die Ergebnisse der eidetischen Erkenntnis in bezug auf Zu-

Vgl. Husserl, Erfahrung

und Urteil [Untersuchungen

zur Genealogie

der Logik,

Prag

1939], S. 437 f., besonders in § 93 den Abschnitt "Die Methode der Herstellung des zu variierenden Exempels". Husserl geht es zwar hier um ein weiteres Problem, nämlich um die Gewinnung einer eidetischen Erkenntnis der - wie Husserl sagt - "obersten Gattung" einer Region (in meiner Auffassung: der obersten Idee, die ein Seinsgebiet bestimmt). Die "Variation" ist aber eine Operation, die zu weiteren "eidetischen" Erkenntnissen führt, und schon hier tauchen Schwierigkeiten auf, von denen auch Husserl im angeführten Paragraphen spricht, aber daraus - wie es scheint - die notwendigen Konsequenzen nicht zieht.

356

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

sammenhänge und Abhängigkeiten zwischen idealen Qualitäten von der Erfahrung unabhängig oder - im Gegenteil - durch diese irgendwie bedingt sein können. Zu diesem Zweck möchte ich noch verschiedene Arten von idealen Qualitäten besprechen, die der Operation der "Variation" unterzogen werden. Den Begriff der idealen "Qualität" werde ich dabei in einem gegenüber dem geläufigen Gebrauch dieses Wortes sehr erweiterten Sinn nehmen, so weit, daß sein Umfang sich mit demjenigen des Begriffs der "Materie I" (natürlich der Materie I in specie) deckt, wie sie allen Bestimmheiten (Ausstattungen) der individuellen Gegenstände zukommt. 77 Es scheint, daß die Operation der Variation am einfachsten durchgeführt werden kann, wenn die Gattung der gegebenen Serie von Qualitäten gestattet, daß zwischen diesen Qualitäten Größenverhältnisse bestehen, und wenn die Vielheit dieser "Größen" ein Kontinuum bildet. Dann können wir ζ. B. sagen, daß jede beliebige Seitenlänge eines (euklidischen) Quadrates größer Null für die Erhaltung der Gestalt "Quadratheit" zulässig ist, daß jede absolute Länge der Seiten eines Dreiecks ohne Verlust seiner "Dreieckigkeit" auftreten kann, sofern nur das Gesetz eingehalten wird, wonach a + b größer als c sein muß. Aber auch dieses Gesetz läßt sich nicht einfach durch Fixierung der Gestalt der Dreieckigkeit und ganz freie Variierung der absoluten Seitenlänge entdecken, sondern man bedarf dazu einer anderen Erkenntnisoperation. Man muß nämlich die eidetische Einsicht gewinnen, daß wenn a + b - c ist, a + b sich mit c deckt, so daß dann überhaupt kein Vieleck, sondern nur eine Strecke einer Geraden vorliegt. Ähnlich müssen alle drei Seiten endlich sein, denn wenn zwei von ihnen [in diesem Beispiel: a und b\ unendliche Strahlen wären, dann müßten sie, von einem Ende der Strecke c ausgehend, (in der euklidischen Geometrie) entweder parallel sein und sich nicht schneiden, oder sie würden mit c zwei stumpfe Winkel bilden und ebenfalls kein Dreieck aufbauen. Auch hier muß man sich also noch auf andere Sachverhalte berufen, nicht nur auf die "Dreieckigkeit" als Konstante und auf die freie Variabilität der absoluten Seitenlänge. Eine andere Schwierigkeit stellt sich ein, wenn es sich z.B. um Farben handelt. In einer beliebig als Exempel genommenen Farbe lassen sich ein paar

77

Vgl. Der Streit [Ingarden (1964/65)], Bd. II/1, Kap. VII.

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

357

verschiedene Momente, sagen wir "ursprüngliche" ideale Qualitäten, unterscheiden, wie "Buntheit", "Nuance" (sog. "Farbqualität"), Helligkeit, Sättigung, Ausdehnung, Gestalt, Auftretensweise (als sog. Oberflächenfarbe, Raumfarbe oder Flächenfarbe) usw. Nehmen wir an, wir gehen vom Moment "Buntheit" (im Gegensatz zu "neutralen" Farben) als dem fixierten Moment aus, das zugleich die Gattung für alle Nuancen (Farbqualitäten) bildet. Würde jemand sagen, daß wir diese Farbqualität (Nuance) auf ganz beliebige Weise variieren sollen, dann müßte man vor allem antworten, daß wir zwar - ohne Zuhilfenahme der visuellen (menschlichen) Erfahrung - die Variable "Farbe mit irgendeiner Nuance" bilden können, aber auf dieser Grundlage allein nicht zu entscheiden vermögen, welche Nuancen überhaupt in Frage kommen. Es ist gar nicht selbstverständlich, daß es ζ. B. gerade vier "Grund"nuancen - Rot, Gelb, Blau und Grün - geben soll und nicht ζ. B. nur zwei (wie das für Dichromatopen "selbstverständlich" ist); ebensowenig ist es selbstverständlich, daß innerhalb jeder dieser Grundnuancen abermals weitere Nuancen möglich sind, so daß sich letzten Endes ein ganzes Kontinuum von Farb"qualitäten" entfalten läßt. Auf Grund der "Variation" allein kann man nicht entdecken, daß es auch ζ. B. zwischen Rot und Gelb "Übergänge" gibt. Und es ist auch gar nicht evident (wie es in der eidetischen Erkenntnis der reinen idealen Qualitäten sein sollte), daß es außer den vier Grundnuancen keine anderen gibt (ζ. B. solche, die den Röntgenstrahlen oder Strahlen mit einer noch kleineren Wellenlänge entsprechen könnten). Bei der ganzen kontinuierlichen Anordnung von Farbnuancen im Kontinuum scheint das Vorhandensein eines solchen Kontinuums der Nuancen vom Gesichtspunkt der fixierten konstanten "Buntheit" aus zufällig zu sein. Und man kann nicht, um gerade eine [bestimmte] Nuance aus diesem Kontinuum zu erhalten, die "Buntheit" einfach frei "variieren", sondern man muß die "normale" menschliche Erfahrung zu Hilfe rufen; eben diese bietet uns einen Bereich von "Möglichkeiten" dar und macht auch unsere Phantasie möglich. Ebenso, wenn wir erwägen, ob und welche Abhängigkeit (schon innerhalb des Sonnenspektrums) zwischen irgendeiner Nuance und ζ. B. einer fixierten Farbhelligkeit oder - umgekehrt - zwischen einer gewählten, fixierten Nuance als " Konstante" und irgendeiner Helligkeit besteht, dann können wir uns auch nicht damit begnügen, die Frage einfach in der Phantasie (in der imaginativen Vorstellung) unter Fixierung eines der genannten Faktoren und ganz freier Variie-

358

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

rung des anderen zu erwägen. Wir müssen auf die "Erfahrung" im Sinne der wahrnehmungsmäßigen Erkenntnistätigkeit, die uns Farbqualitäten oder-helligkeiten zugänglich macht, Rücksicht nehmen, um uns davon zu überzeugen, ob die genannten Faktoren (Momente) der Farbe voneinander ganz unabhängig oder auf besondere Weise abhängig sind. Es zeigt sich ζ . B.: Wenn wir eine konstante "Helligkeit" wählen, können von allen Farbnuancen innerhalb des Kontinuums des Sonnenspektrums nur manche mit der fixierten Helligkeit zusammen auftreten, für andere dagegen ist eine solche Helligkeit durchaus ausgeschlossen - sie können nicht so hell sein. Und umgekehrt: Wenn wir eine bestimmte Nuance ζ. B. des Rots fixieren und versuchen, die Helligkeit (mit Hilfe entsprechender technischer Mittel) zu verändern, kann sich wiederum zeigen, daß dieses Verändern der Helligkeit (sogar in der Phantasievorstellung) nicht ganz beliebig ist; soll diese Nuance erhalten bleiben, dann müssen gewisse Helligkeiten ausgeschlossen werden ( z . B . eine extrem schwache Helligkeit, bei der das Rot in den Bereich der "neutralen" Farben rückt und im Grenzfall zu "Schwarz" oder überhaupt zu "Dunkelheit" wird, d. h. aus dem Gesichtsfeld verschwindet). Man würde sagen: Angenommen, daß uns das gelungen ist, haben wir doch damit den Typus der Abhängigkeit zwischen der gewählten Rotnuance und der veränderlichen

Helligkeit

gefunden. W i r haben also eine "eidetische" Erkenntnis in der Sphäre der reinen idealen Qualitäten, eine eidetische Einsicht in einen Notwendigkeitszusammenhang zwischen den gewählten Qualitäten. Es kann nicht so sein, daß die Helligkeit sich unbegrenzt verringert und die Rotnuance dabei nie eine Veränderung erfährt. Es kommt dabei auch das in Frage, was wir Sättigung der Farbe nennen. Auch diese hängt mit einer gewissen Auswahl von Helligkeiten zusammen. Es scheint, daß "Qualität" (Nuance), Helligkeit und Sättigung der Farbe im Verhältnis zueinander in dem Sinne unselbständig sind, daß es keine Farbe mit einer Nuance, aber ohne jedwede Helligkeit und ohne jedwede Sättigung gibt und - umgekehrt - keine Sättigung ohne jedwede Farbnuance und ohne jedwede Helligkeit und schließlich auch keine Farbhelligkeit für sich allein ohne jedwede Nuance und ohne jedwede Sättigung gibt. Es müssen immer eine Nuance, eine Helligkeit und eine Sättigung zusammen auftreten, aber nicht jedesmal ganz beliebige, sondern immer in einer von uns, den Erkennenden, unabhängigen Auswahl. Wenn diese Auswahl erhalten ist, dann verschmelzen sozusagen diese drei unselbständigen

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

359

Farbmomente miteinander auf eine besondere Weise, bilden insgesamt eine Farbe, ein synthetisches qualitatives Ganzes und nicht drei, die nur [unverbunden] nebeneinander auftreten. Sie lassen sich zwar durch eine entsprechende Einstellung der Ideation in diesem Ganzen unterscheiden, sie lassen sich jedoch voneinander nicht scharf trennen. Und erst dieses eine Ganze besitzt weitere Bestimmtheiten, ζ. B. eine Ausdehnung mit dieser oder jener Gestalt und dieser oder jener Raumcharakterisierung - es ist z.B. eine Oberflächenfarbe oder eine Raumfarbe. In ein und demselben Teil der Oberfläche treten dann alle Farbmomente - Helligkeit, Qualität und Sättigung - als ein spezifisches qualitatives Ganzes auf. Wenn dagegen eine "Farbqualität" sich mit einer gewählten Helligkeit nicht verträgt, so daß wir sagen, diese Nuance könne keine so große Helligkeit haben, dann kann man zwischen ihnen weder dieses "Verschmelzen" zu einem Ganzen zustande bringen noch sie ohne Verschmelzen sozusagen an einer Stelle der Ausdehnung unterbringen, noch schließlich sie nebeneinander (gleichsam streifenweise) - eine reine Nuance ohne Helligkeit und eine reine Helligkeit (der Farbe) ohne Nuance - piazieren. 78 So sind die besonderen "Beziehungen" oder Zusammenhänge zwischen der Nuance einer Farbe, ihrer Qualität und ihrer Sättigung, die sich in einer ganzen Reihe von Ideationsakten als zwischen den "reinen idealen Qualitäten" bestehende entdecken lassen. Wir hätten aber diese Ergebnisse nicht gewonnen, wenn wir keine Gesichtswahrnehmung von Farben bzw. farbigen Dingen zur Verfügung gehabt hätten. Dies letztere ist freilich nicht notwendig, denn wir könnten diese Ergebnisse auch ohne Berücksichtigung der wahrgenommenen Dinge erlangen. Es wäre dagegen nicht möglich, sie nur dadurch zu erlangen, daß man von der Perzeption einer konkreten Farbe ausginge und sich bemühte, alle möglichen Farbnuancen in vielen Akten der freien Phantasie zu durchlaufen, die in keiner Weise an die Erfahrung anknüpften. Diese ganze Spannweite von möglichen Nuancen, Helligkeiten und Sättigungen wird uns erst durch die sich konkret abspielenden, möglichst vielfältigen (menschlichen) Gesichtswahrnehmungen zugänglich gemacht. Jede dieser Wahrnehmungen liefert uns aber (außer diesem Zugänglichma78

Die "Helligkeit" der Farbe muß natürlich von der "Helligkeit" (Intensität) des Lichtes unterschieden werden, das eventuell eine farbige Körperoberfläche beleuchtet. Die beiden Helligkeiten muß man auch vom Weiß unterscheiden, mit dem sie oft verwechselt werden.

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

chen) auch Informationen darüber, daß hier soundso beschaffene, soundso gefärbte physische Dinge (oder auch nur durch einen Projektor geworfene Lichter) sind, und erhebt zugleich den Anspruch auf die im Wahrnehmungsakt beschlossene Feststellung, daß diese Dinge wirklich soundso gefärbt sind (solche Farben besitzen). Von dieser für jede Sinneswahrnehmung wesentlichen Information und der darin involvierten Überzeugung machen wir keinen Gebrauch, wenn wir alle diese Meinungen ausschalten und damit auch die eidetische Erkenntnis von der Wahrnehmung und ihren zuletzt genannten Ergebnissen unabhängig machen. Wir nutzen nur den Umstand, daß uns die Wahrnehmung die Qualitäten und deren Koinzidenzen zugänglich macht, und wir verschaffen uns in der eidetischen Einstellung die Einsicht in diese Qualitäten und in die Art und Weise, wie sie zu einem Ganzen verschmelzen und sich zugleich gegenseitig modifizieren. Wir erfassen dann gleichsam an diesen Qualitäten selbst ihre notwendigen Zusammenhänge kraft der Unselbständigkeit von jeder von ihnen oder auch kraft der Tatsache, daß sie sich im Rahmen eines qualitativen Ganzen durch das spezifische Anderssein jeder von ihnen in einer Abwandlung gegenseitig ausschließen. All diese Ergebnisse könnten wir nicht gewinnen, wenn wir nur Akte der Gesichtswahrnehmung gewisser farbiger Dinge vollzögen. Wir könnten dann auf deren Grundlage nur feststellen, was im gegebenen individuellen Fall, in diesem gesehenen farbigen Ding da und in diesen daran erscheinenden Farben da vorliegt. Unter Heranziehung anderer Wahrnehmungen würden wir wiederum nur feststellen, was in einer Reihe von anderen gleichermaßen individuellen Fällen vorliegt, wir könnten somit nur einen pluralen Satz über die Tatsachen aussprechen, die innerhalb dieser Menge von durchgeprüften Fällen bestehen, nie aber einen streng generellen Satz über alle möglichen Fälle von Zusammenhängen und Abhängigkeiten oder Unabhängigkeitsbeziehungen zwischen den reinen idealen Qualitäten dieser obersten Gattung. Erst dadurch, daß wir auf der Grundlage der uns in der Wahrnehmung offenbarten Qualitäten in den Ideationsakten die reinen idealen Qualitäten erschauen, verschaffen wir uns die Möglichkeit, die möglichen Zusammenhänge zwischen ihnen, ihr gemeinsames Auftreten, Verschmelzen oder gegenseitiges Sichausschließen oder endlich die Veränderungen in einer Mannigfaltigkeit von Abwandlungen, die von den Veränderungen in einer anderen Mannigfaltigkeit von Abwandlungen einer anderen idealen Qualität funktionell abhängig sind, in

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

361

concreto zu betrachten. Natürlich können wir dadurch, daß wir in der Wahrnehmung verschiedene Fälle von Komplexen oder Verbänden von Qualitäten vorfinden und [darunter] extrem differierende Komplexe aussuchen, die Möglichkeit gewinnen, uns eine eidetische Einsicht in diese Zusammenhänge und Abhängigkeiten zu verschaffen, und ansonsten kann das für uns unmöglich sein. Diese Wahrnehmungen selbst nützen uns aber nichts mehr, außer daß sie die Anzahl von gewissen Tatsachen vermehren. Erst wenn wir uns bemühen, uns von diesen Tatsachen unabhängig zu machen, sie nicht so sehr als Tatsachen, sondern vielmehr als an diesen Tatsachen illustrierte Möglichkeiten zu betrachten, wenn wir eine Ideation vollziehen und bei der Übersicht der uns an den Tatsachen gezeigten Möglichkeiten die Operation der Variation bei einer fixierten Konstanten durchführen, [erst dann] treten wir über das hinaus, was uns die empirische Farberkenntnis liefert, und gewinnen eine eidetische Erkenntnis, und zwar nicht nur in bezug auf einzelne ideale Qualitäten, sondern auch in bezug auf ihre Komplexe oder Verbindungen zu qualitativen Ganzen und auf ihre mögliche Konkretisation in den individuellen Gegenständen. Die gewonnenen Ergebnisse können wir danach in allgemeine Urteile sensu stricto fassen. Ähnliche Probleme können wir an Beispielen von Tönen oder Klängen und deren Eigentümlichkeiten oder auch irgendwelcher anderen Qualitäten im weiten Sinne des Wortes erwägen. Auf diesem Weg können wir eidetische Erkenntnisse, [Erkenntnisse] a priori, gewinnen, die von der Erfahrung verschieden sind, wenn sie auch die darin dargebotenen Qualitäten benutzen, und die zugleich nicht von den in der Erfahrung beschlossenen Setzungen der individuellen Tatsachen abhängen. So zeigt sich das Anderssein und die Beziehung zwischen diesen zwei verschiedenen Erkennens- und Erkenntnisweisen. Wenn Kant die Erkenntnis a priori und a posteriori einander gegenübergestellt hat, konnte er über die zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge nicht ins klare kommen. Denn er hat sie derweise gegeneinander abgegrenzt, daß die Erkenntnis a posteriori seiner Meinung nach - immer durch "Affektion" des Erkenntnissubjektes durch die Dinge an sich gewonnen wird, wohingegen die Erkenntnis a priori auch ohne diese Affektion - gleichsam vor der Erfahrung - möglich sein solle, weil sie sich aus der Natur des Erkenntnissubjektes ergebe, das in sich die Formen der Anschauung und des Verstandes (Kategorien) gewissermaßen bereits vorbereitet trage, mit deren Hilfe es die ihm einzig und allein durch

362

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

Affektion der Dinge herbeigeschaffte Erkenntnis"materie" "forme". Diese "Formung" mache zugleich die "Richtung der Möglichkeit" der Erfahrung aus, in der die sogenannten "Erscheinungen" und nicht nur Mannigfaltigkeiten von "Empfindungen" gegeben seien, und in diesem Sinne seien die Formen a priori "vor" der Erfahrung. Deswegen sah Kant bereits jedes Bewußtsein von der Eigenart der in der Wahrnehmung gegebenen Qualitäten als a posteriori an und mußte die Erkenntnis a priori auf die rein formale Erkenntnis beschränken. Da er aber in allen Erkenntnisgebieten apriorische Grundlagen für eine entsprechende Theorie besitzen wollte, stellte er z.B. seinen kategorischen Imperativ in der Ethik als ein rein formales Postulat auf, und nicht anders behandelte er die formalen Prinzipien der Ästhetik in der Kritik des "Geschmacks" (der sog. "Urteilskraft"). Hätte er - anstatt am Dogma von den verschiedenen Erkenntnisvermögen und den ihnen innewohnenden rein subjektiven "Formen" festzuhalten und zugleich am Dogma, wonach über die Erkenntnisrolle der Wahrnehmung der Umstand entscheide, daß diese durch "Affektion" des Subjektes durch die Dinge (an sich) hervorgerufen wird - sich vielmehr darum bemüht, eine immanente Analyse des Wahrnehmungserlebnisses und des Erlebnisses von der Erkenntnis der reinen idealen Qualitäten durchzuführen und zu ermitteln, worin die Erkenntnisleistung dieser Tätigkeiten besteht, dann hätte er entdecken können, daß in den Wahrnehmungen das Moment der Überzeugung vom faktischen Wirklichsein der wahrgenommenen Dinge beschlossen ist und daß diese Akte daher die Funktion der Setzung dieses Wirklichseins ausüben, während in den Akten der "Ideation" diese Funktion fehlt. Damit hätte er auch entdecken können, daß man in dieser Situation den Unterschied zwischen den beiden Erkenntnisweisen anders festlegen muß und daß es keinen Grund gibt, die Erkenntnis a priori ausschließlich auf formale Erkenntnisse zu beschränken, weil dadurch, daß wir den durch die Wahrnehmung geöffneten Zugang zu den darin gezeigten Qualitäten benutzen, der Erkenntniswert der in der Ideation gewonnenen Erkenntnisergebnisse von den Seinsetzungen, wie sie für die empirische Erkenntnis charakteristisch sind, noch gar nicht abhängig wird. d) Analyse der Erkenntnis der Ideengehalte Unsere Betrachtungen über die eidetische Erkenntnis der Qualitäten und deren Zusammenhänge muß aber noch um eine Analyse der Erkenntnis der

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

363

Ideengehalte ergänzt werden. Von der Klarlegung dieser Sache hängt es nämlich ab, ob wir die jetzt betrachtete Konzeption der Erkenntnistheorie (nota bene bei einer wesentlichen Modifikation oder Präzisierung derselben) als eine fehlerfreie anerkennen können. Bei der Betrachtung der Erkenntnis der Ideengehalte handelt es sich wieder um einen Übergang vom Erfahrungswissen über einen individuellen Gegenstand, über ein materielles Ding, über ein faktisches Wesen von der Art wie "der Mensch", über so etwas wie die flache Figur der euklidischen Geometrie, der Vielflächner, der Rotationskörper usw. Von besonderem Interesse ist für uns der Übergang von der individuellen Erkenntnis eines sich gerade abspielenden Erlebnisses von uns, ζ. B. einer Gesichtswahrnehmung, zur Erkenntnis des Gehaltes der allgemeinen Idee des Bewußtseinserlebnisses überhaupt oder der Idee der äußeren Wahrnehmung überhaupt usw. Versuchen wir, diese Sache von zwei verschiedenen Seiten zu betrachten: von der Erkenntnis eines uns ζ. B. in der Erfahrung gegebenen individuellen Gegenstandes her und von der Entdeckung des Gehaltes einer Idee in ihrem allgemeinen Aufbau her, den ich hier schon skizziert habe. 79 Die nächstliegende Aufgabe ist hier die, sich klar darüber zu werden, welche Bestandteile überhaupt im Gehalt einer Idee auftreten und insbesondere welche deren materiale, formale und existenziale Konstanten sind und, wenn es eine allgemeine Idee ist, welche Veränderlichen sich in diesem Gehalt befinden. Dabei ist der Name, den man gewöhnlich bei den Untersuchungen über den Gehalt einer Idee angibt, in der Regel einer, der sie unter dem Aspekt einer materialen Konstanten auffaßt, die mit der formalen Konstanten der "Natur" der unter die gegebene Idee fallenden Gegenstände verbunden ist. Wenn wir z. B. die Frage stellen, was das (euklidische) Parallelogramm ist, verweisen wir auf den Gehalt der allgemeinen Idee "Parallelogramm", wobei wir eo ipso annehmen, daß die "Parallelogrammheit" als die besondere Gestalt einer geometrischen Figur zugleich ein in der Natur gewisser Figuren liegendes qualitatives Moment ist. Diese Annahme entscheidet nun zugleich, daß es noch andere materiale Konstanten im Gehalt der vorliegenden Idee gibt, die in gewissen formalen Verhältnissen zu dieser grundlegenden Konstanten stehen und daher anderen formalen Konstanten des Gehaltes derselben Idee zugehören.

79

[Vgl. weiterobenS. 315.]

364

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

Diese Konstante der Natur macht zugleich aus, welche materialen und eventuell formalen Veränderlichen in demselben Ideengehalt auftreten können. So kann ζ. B. die "Anzahl der Seiten" keine Veränderliche dieses Gehaltes sein, weil die Parallelogrammheit, d. h. das Vorhandensein von zwei Paar paralleler Seiten, diese Anzahl auf vier festlegt. Dagegen macht ζ. B. das Verhältnis der Diagonalen im Parallelogramm eine Veränderliche dieses Ideengehaltes aus. Es ist leicht ersichtlich, daß dieser Veränderlichen eine andere Veränderliche dieses Gehaltes gleichsam zugehört, nämlich das Verhältnis der inneren benachbarten Winkel des Parallelogramms zueinander. Je nachdem, wie sich das zweite Verhältnis verändert, verändert sich entsprechend auch das erste und umgekehrt. Die beiden Veränderlichen sind dagegen unabhängig von der Veränderlichen "irgendeine absolute Länge der einander gegenüberliegenden Seiten des Parallelogramms", insofern als es auf das Verhältnis der benachbarten Winkel oder auch das Verhältnis der Längen der Diagonalen zueinander keinen Einfluß hat, wenn die einander gegenüberliegenden Seiten ihrer absoluten Länge nach größer oder kleiner werden. Ähnliche Probleme der Abhängigkeit oder Unabhängigkeit zwischen Veränderlichen im Gehalt dieser Idee können sich auf eine Reihe von anderen Veränderlichen beziehen. Es bestehen auch Zusammenhänge zwischen Konstanten des Ideengehaltes: Wenn die oberste Konstante des Gehaltes der Idee "Parallelogramm" eben die "Parallelogrammheit" ist, dann treten im Gehalt derselben Idee noch andere Konstanten auf, bzw. sie müssen darin auftreten. Eine solche Konstante ist ζ. B. das Vorhandensein von zwei und nur zwei Diagonalen, deren gegenseitige Halbierung, die Summe der Innenwinkel, die gleich 360° ist, die Gleichheit der einander gegenüberliegenden Innenwinkel, die Gleichheit der einander gegenüberliegenden Seiten. Alle diese Konstanten gehören zueinander, und wenn eine von ihnen im Gehalt einer Idee auftritt, dann finden sich darin auch alle anderen. In der euklidischen Geometrie wird ein Beweis dafür erbracht, daß diese Zusammenhänge zwischen den Konstanten der Idee zu Recht bestehen. Dieser Beweis geht natürlich schon über die rein eidetische Intuition hinaus und erfolgt mit Hilfe entsprechender Denkoperationen. Nichtsdestoweniger ist der Sinn der einzelnen Konstanten entweder eine einfache ideale Qualität, die sich in der intuitiven Ideation erfassen läßt, oder er bildet im Verhältnis zu diesen Konstanten ein sekundäres Ganzes, so daß er sich mit ihrer Hilfe konstruieren oder - korrelativ ausgedrückt - defi-

S 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

365

nieren läßt. In der Definition müssen die letzten definientia die Namen von einfachen idealen Qualitäten darstellen, deren primitive, grundlegende Zusammenhänge in den Axiomen der betreffenden Theorie festgelegt werden. Die ganze euklidische Geometrie ist nichts anderes als die Analyse der Gehalte einer Gruppe von Ideen, die zum Teil zur Feststellung der Axiome dieser Geometrie, zum Teil aber zu einer Reihe von Sätzen führt, die aus diesen Axiomen folgen. Beachtenswert ist dabei, daß die Arbeit der Forscher vor allem auf die Feststellung der Zusammenhänge zwischen konstanten Gehalten einer Gruppe von Ideen abzielt, während die Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen veränderlichen Gehalten der entsprechenden Ideen verhältnismäßig wenig Interesse auf sich ziehen. Es wurde ζ. B. untersucht, in welchen Dreiecken alle besonderen Punkte 80 sich decken, oder [es wurde festgestellt], daß sie in den gleichschenkligen Dreiecken alle auf einer Linie, nämlich auf der Höhe des Dreiecks liegen; es wurde aber - soweit ich weiß - nicht untersucht, wie die besonderen Punkte in verschiedenen möglichen Dreiecken auf der Fläche des Dreiecks verstreut sein können usw. Diese Ideengehalte und ihre Verhältnisse sind aber alle seit alters bearbeitet. Hinter den entdeckten Sätzen stehen viele Jahre Forschung, die mit Hilfe intuitiver Ideationen und deduktiver Operationen geführt wurde. Und heute sind wir uns im allgemeinen dessen nicht mehr bewußt, welche Erkenntniswege die ganzen Generationen von Forschern gingen, die auch nur die euklidische Geometrie oder Arithmetik aufgebaut haben, und wie sich diese Wege seit der Zeit veränderten, als es Descartes gelang, durch Einführung der Koordinatensysteme und durch Zuordnung von Zahlen oder ganzen Gruppen von Zahlen zu Raumpunkten die ursprünglichen eidetischen Intuitionen durch Denkoperationen und Beweise vieler allgemeiner Sätze zu stützen. Ja man ist sich heute im allgemeinen dessen nicht mehr bewußt, in wie großem Maße die Errungenschaften der Mathematik letzten Endes auf eidetischen Einsichten in die ursprünglichen Zusammenhänge zwischen idealen Qualitäten beruhen, und es ist bekanntlich Mode, die Rolle und Bedeutsamkeit der eidetischen Erkenntnis in der Ideation von ursprünglichen idealen Qualitäten in Abrede zu stellen. Man versucht, die ganze mathematische Erkenntnis dadurch auf konventionell errichtete formale deduktive Systeme zurückzuführen, daß man

80

[Vgl. weiter oben, S. 208, Anm. 113.]

366

IV. Die Phänomenologie

des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse

und deren

Korrelate

auf angeblich konventionelle Weise ein Axiomensystem festlegt und formal verstandene und mechanisierte Operationen des "Deduzierens" durchführt, welche die angeblich fehlbare "Intuition" ersetzen sollen. 81 Es kam jedoch der Augenblick, wo die Untersuchungen über die "formalisierten" Systeme letztlich und unerwartet zur Überzeugung geführt haben, daß man die Korrektheit, Widerspruchsfreiheit usw. dieser Systeme nur dadurch nachweisen kann, daß man zu einer "Interpretation" derselben greift oder zu einem "Modell", in dem wir nicht mehr konventionell gebildete "Axiomenformen" als willkürlich gewählte "oberste Voraussetzungen" vor uns haben, sondern tatsächlich Axiome als Sätze, die durch ursprüngliche, letzte eidetische Einsichten (insights) in notwendige Zusammenhänge zwischen entsprechend gewählten "einfachen Naturen", wie Descartes sagen würde, oder "reinen idealen Qualitäten" in specie, wie sich Husserl ausdrückte, gewonnen werden. Selbstverständlich ist das Problem der Grundlegung der Mathematik - in den heutzutage so vielfältigen Gestalten ihrer neuen Disziplinen - mit diesen Bemerkungen noch nicht erledigt. Man müßte alle mathematischen Theorien, bis auf die modernsten, wie die Strukturentheorie oder die Kategorientheorie (von den früher entwickelten die Mengenlehre oder die Topologie), verfolgen, um zu befinden, in welchem Maße, in welchen Punkten die Grundlagen dieser unzweifelhaft deduktiven Theorien in intuitiven, eidetischen Einsichten der Ideation liegen und inwiefern sie ihre Erfolge vielmehr der Q1 In der Mathematik des XX. Jahrhunderts gehörte es jahrzentelang zum guten Ton für einen auf sein Ansehen bedachten Mathematiker, über die "Intuition" mit Verachtung und oft mit Hohn zu sprechen. Man hat dabei nie versucht, sich klar zu machen, was eigentlich jene "Intuition" ist. Im Laufe der Zeit wurden darunter immer häufiger nur gewisse "in den Sinn kommende", nicht durchdachte und nicht durchanalysierte "Einfalle" oder auch ein willkürliches Dafürhalten verstanden. Auf jeden Fall war damit eine unreife und unvollendete Tätigkeit gemeint, mit der gewisse Ersatzobjekte oder -Sachverhalte vorgestellt werden, oder das Operieren mit undurchdachten Metaphern, die die anschauliche Vorstellung der eigentlichen Forschungsobjekte angeblich erleichtern. Bei all dem hat man sich darum bemüht, die "Ideation" im echten Sinne des Wortes zu gewinnen; und man hat nicht versucht nachzuprüfen, was man erreichen kann und wie man es erreichen kann, wenn man sich in Wahrheit zu einer echten eidetischen Ideation aufrafft, solcher Art wie diejenige, von der zu Beginn der neuzeitlichen Philosophie Descartes in Regulae ad directionem [Vgl. R. Descartes, Regulae ad directionem

ingenii / Regeln zur Ausrichtung

ingenii sprach. der

Erkennt-

niskrafi, kritisch revidiert, übers, und hrsg. von Heinrich Springmeyer, Lüder Gäbe, Hans Günter Zekl, Hamburg 1973.]

§ 26. Die "eidetische"

Erkenntnis

und ihre Verwendung

in der Erkenntnistheorie

367

Leistungsfähigkeit des formalen Apparates, der logischen Rechnung verdanken. Daß man das nicht getan hat, erklärt sich zum Teil aus dem prinzipiell skeptischen Standpunkt der positivistisch eingestellten Mathematiker, die im Grunde keine philosophische und insbesondere keine erkenntnistheoretische Vorbereitung haben, zum Teil aber liegt es an sachlichen Schwierigkeiten, auf die hier der Epistemologe oder der Methodologe als Nichtmathematiker stößt, wenn er sich vornimmt, über diese Fragen ins klare zu kommen. Das kann jedoch die Erkenntnistheoretiker der Pflicht nicht entbinden, wenigstens im ersten Umriß den Weg vorzuzeichnen, auf dem diese schwierigen Probleme zur Lösung gelangen können. Während aber die Analyse der Gehalte mancher von den Mathematikern schon längst bearbeiteten Ideen in ihrem allgemeinen Typus verhältnismäßig leicht erscheinen kann, so muß sich diese Aufgabe ohne Zweifel als sehr schwierig herausstellen, wenn es sich um das Problem handelt, ob und wie der Gehalt der allgemeinen Ideen entdeckt werden kann, unter welche die Gegenstände fallen, die in individuo in der äußeren, sinnlichen Wahrnehmung gegeben sind oder z. B. in derjenigen Erfahrung, die wir im Verkehr mit Kunstwerken gewinnen. Man schlägt hier gewöhnlich nicht so sehr das Verfahren vor, das in den Naturwissenschaften tatsächlich verwendet wurde, als vielmehr ein solches, wie es von verschiedenen empiristisch ausgerichteten Psychologen oder Erkenntnistheoretikern dargestellt wurde - von solchen Psychologen und Erkenntnistheoretikern wie John Locke oder die philosophierenden Naturforscher des XX. Jahrhunderts, die schon ihre eigene Wissenschaft von vornherein in der positivistischen Interpretation des XIX. Jahrhunderts betreiben und glauben, das sei ein rein "wissenschaftliches" Verfahren. Nun spricht man hier gewöhnlich nicht von den "Ideen", die man für einen platonisch-mittelalterlichen Aberglauben hält, sondern von allgemeinen "Begriffen", die im Laufe der "Erfahrung", d. h. der wissenschaftlichen wahrnehmungsmäßigen Beobachtung allmählich gebildet werden, indem man die möglichen Einflüsse aller vorgefaßten Meinungen und insbesondere all dessen, was einer "Intuition" oder "Erkenntnis a priori" verdächtigt werden könnte, möglichst sorgfältig ausschaltet. Man nimmt nämlich - nach dieser Auffassung - Dinge (Tiere, Menschen, Naturprozesse) aufmerksam wahr, wobei man besondere Aufmerksamkeit auf sog. "gemeinsame Merkmale", d. h. oft wiederkehrende Eigenschaften richtet und sodann auf solche, die in jedem der

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

- angeblich zu einer schon festgelegten Art von Dingen gehörenden - Gegenstände vorkommen. Man beachtet kaum die Merkmale, die von Fall zu Fall verschieden sind. Danach stellt man eine Liste von allen jenen "gemeinsamen Merkmalen" zusammen und bildet - nach einer klassischen Formel aus den Lehrbüchern 82 - aus deren Gesamtheit den sog. "Inhalt" eines Allgemeinbegriffs, nämlich des Begriffs der diese gemeinsamen Merkmale besitzenden Gegenstände. In diesen Inhalt nimmt man die Merkmale nicht auf, die nur bei manchen derjenigen Gegenstände vorkommen, die zu der auf diese Weise entstandenen Klasse gehören. Der so gebildete Allgemeinbegriff ändert im einzelnen seinen Inhalt in dem Maße, wie immer weitere Erfahrungen über immer neue Exemplare der "gleichen" Gegenstände gesammelt werden: Einige Merkmale, die in einer Untersuchungsphase zum "Inhalt" dieses Begriffs gehören, werden beseitigt, wenn neue Erfahrungen zeigen, daß sie sich nicht in allen der durchforschten Fälle vorfinden. Der so gewonnene allgemeine Begriff ist also das Ergebnis eines im Grunde genommen zufälligen Verlaufs der Erfahrung, wobei man überhaupt die Frage außer acht läßt, ob zwischen den als gemeinsam anerkannten Merkmalen eventuell irgendwelche Zusammenhänge bestehen, wie auch die Frage, ob diese im Aufbau der untersuchten Gegenstände eine besondere Rolle spielen. Manchmal gibt man auch das Postulat auf, demgemäß zum Inhalt des Begriffs nur die in jedem der untersuchten Gegenstände auftretenden Merkmale gerechnet werden sollen; und man rechnet dann auch die Merkmale dazu, die in den gegebenen Gegenständen nur "vorwiegend" erscheinen, indem man sich - je nach der erforderten Genauigkeitstufe - auf 80% oder 90% der beobachteten Fälle beschränkt. Der so gebildete Allgemeinbegriff ist das Resultat einer statistischen Operation, der je nach den praktischen oder theoretischen Bedürfnissen verschiedene Genauigkeitserfordernisse gestellt werden. Nach der damit verbundenen Auffassung ist der Gegenstand (insbesondere das physische Ding) eine Klasse von Merkmalen (Elementen) 83 , unter denen es keine gibt, die [irgendwie] ausgezeichnet wären oder in dieser Klasse eine besondere Rolle spielten. Es gebe somit keine gattungsmäßigen

oder artmäßigen

Merkmale

im

eigentlichen, strengen Sinne des Wortes. Wenn man von so etwas wie "Gat82 Q-3

Diese Formel ist übrigens absurd, aber ich kann mich hier damit nicht beschäftigen. Das zieht sich von Lockes Konzept des "Bündels von Ideen" oder der "zusammengesetzten Idee" über Hume bis hin zu Machs "Komplex von Elementen".

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

369

tung" spricht, handle es sich dabei nur um die "Gesamtheit der gemeinsamen Merkmalen", die ein Gegenstand mit anderen zu derselben Klasse 84 gehörenden Gegenständen teilt; diese Gesamtheit sei aber eine verschiedene, je nachdem, zu welcher Klasse der gegebene Gegenstand gerechnet werde. Der Gegenstand könne aber einer beliebigen, für praktische oder theoretische Zwecke geeigneten Klasse zugerechnet werden. Und auch diese Klassen würden nach Belieben geschaffen, so wie es jemandem im vorliegenden Fall angebracht oder praktisch vorkomme. Unter den gemeinsamen Merkmalen der Gegenstände pn, die zu einer Klasse Κ gehören (oder strenggenommen nur gerechnet werden), finde sich jedoch noch ein [anderes] Merkmal, nämlich das Merkmal "Zugehörigkeit zur Klasse K". Sowohl die Aussonderung einer Vielheit von "gemeinsamen Merkmalen" als auch dieses Merkmals der "Zugehörigkeit zur Klasse K" sei aber eine rein begriffliche Entscheidung, die im Gegenstand selbst durch nichts begründet werde, was man u. a. daran sehe, daß je nach unserem Willen, den Gegenstand G in diese oder jene Klasse einzuordnen, eine andere Auswahl von Merkmalen zur Gruppe von "gemeinsamen Merkmalen" werde, während am Gegenstand selbst sich dadurch nichts ändere. Man kann hier noch eine Konzeption nicht übergehen, die seit vielen Jahrzehnten unter Logistikern und logistisch ausgebildeten Mathematikern vertreten wird, nämlich die Konzeption, der zufolge das, was hier den Namen "Merkmal" trägt, nichts anderes als eine Klasse sei, wobei für diejenigen, welche die sog. Typentheorie B. Russells anerkennen, das Merkmal = die Klasse zu einem höheren Typus gehört als das Objekt, dem dieses Merkmal zukommt. So bilde der Gegenstand, der selbst eine Menge oder Klasse von Merkmalen sei, eine Klasse von Klassen gewisser Elemente, und die Klasse, zu der er selbst gehört (oder genauer: gerechnet wird), wäre eine Klasse von Klassen von Klassen gewisser Elemente. 85 Alle diese Klassen sind übrigens

84

Strenggenommen ist diese Klasse bei diesem Verfahren durch jene "Gesamtheit der gemeinsamen Merkmale" bestimmt.

85

Was diese Elemente sind, deren Klasse ein "Merkmal" des Gegenstandes G sei, ist nicht klar. Ich werde das hier nicht zu ergründen versuchen, denn diese ganze Konzeption ist ganz sinnlos und kann sich unter ihren Anhängern nur deswegen so lange erhalten, weil sie nie bis zu Ende durchdacht wurde und weil ihre Anhänger nie versuchten, die kategoriale Form des Gegenstandes bzw. des Merkmals herauszuarbeiten.

370

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

ein Denkerzeugnis unserer Begriffsoperationen und werden auch programmmäßig als ein solches betrachtet. In den Gegenständen selbst (die von diesem Standpunkt aus strenggenommen gar nicht existieren) sind sie nicht vorfindbar. Es gebe nur "Elemente", und alle "Komplexe" oder "Klassen" würden nur zu Zwecken der Denkökonomie, wie Mach sagte, oder zu anderen praktischen Zwecken gedanklich erzeugt. Diese gedankliche Erzeugung sei aber eine Bildung von Fiktionen, die in Wahrheit überhaupt nicht existierten. Bei diesem extremen Atomismus hinsichtlich dessen, was existiert, gibt es natürlich keinen Raum für "Ideen", deren Gehalt wir erkennen sollten. Nicht nur seien sie selbst aus altersgrauen Zeiten stammende Fiktionen, die vom heutigen, "wissenschaftlichen" Gesichtspunkt aus als veraltet zu verwerfen seien; mehr noch, auch wenn sie auf irgendwelche Weise, sogar nur als entia rationis, existierten, würde ihnen in der wirklichen Welt nichts entsprechen. So ist es um diese schöne Theorie von den Allgemeinbegriffen und vom Aufbau der Dinge bestellt, die auch noch heute so viele Anhänger hat und als die höchste Blüte der Wissenschaftlichkeit und Präzision gilt. Sie soll zugleich ein Ertrag der Befreiung der "Wissenschaft" von allen "fiktiven Objekten" sein. Die Vertreter der Einzelwissenschaften, seien sie Naturforscher oder Mathematiker, neigen dazu, diese Theorie anzunehmen oder sich dazu bekennen, aber sozusagen nur in der "Theorie", in der sogenannten - wie sie manchmal sagen - "Philosophie" (die sie selbst wohl vor allem deswegen für die einzig "wissenschaftliche" halten, weil einer ihrer Begründer ein, philosophierender zwar, aber immerhin Physiker war). Wenn wir aber genauer betrachten, wie die faktischen Untersuchungen in den einzelnen Wissenschaften, speziell den Naturwissenschaften, insbesondere sogar in der Physik, aber in noch höherem Grade auf dem Gebiet der Biologie und der einzelnen biologischen Wissenschaften, vor sich gehen, dann entdecken wir, vielleicht sogar mit gewisser Verwunderung, daß diese Theorie in der Forschungspraxis gar nicht angewendet wird, daß man bei der Untersuchung der Pflanzen oder Tiere, in der Anthropologie, in der Erdkunde usw. Nachforschungen über all das anstellt, was die Theorie von den "Elementen" und "Komplexen" als Fiktionen verwirft: über die Gattungen und Arten der untersuchten Dinge. Wir bemerken, daß man in den Dingen die Merkmale unterscheidet, die ihre Art bestimmen und in ihnen selbst eine ganz andere Rolle spielen als verschiedene individuelle oder zufällige Merkmale, die auf das Eintreten irgendwel-

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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eher zufälligen Umstände zurückgehen. Wir stellen fest, daß man im Aufbau der Pflanzen wie auch der Tiere nach irgendwelchen für die betrachtete Art wesentlichen Merkmalen sucht, die in ihnen selbst enthalten sind und sich in der Untersuchung nur dann unterscheiden lassen, wenn wir auf unsere eigenen willkürlichen Denkentscheidungen verzichten und wenn es uns gelingt, sie im wirklichen Aufbau des gegebenen Tieres oder in dessen Verhalten aufzuspüren. Es zeigt sich auch, daß sie gewissen wesentlichen Merkmalen in der Umgebung zugeordnet sind, in der das Tier lebt, der Umgebung, die es bis zu einem gewissen Grad selbst für sich wählt, weil es darin eben eine Art Ergänzung seiner eigenen Natur findet. Verfolgen wirz. B. die anatomischen Untersuchungen über einzellige Organismen wie auch über "Vielzeller", in denen viele Milliarden Zellen verschiedener Art leben, so liegt es nicht an der Denkentscheidung des Forschers, was zu einem solchen Ein- oder Vielzeller gehört, wie dessen Grenzen bestimmt sind, wie er sich von anderen Organismen unterscheidet und sich sozusagen aus der Umgebung aussondert, in der er sich befindet und entwickelt. Im Gegenteil, der Forscher muß sich den Befunden von sorgfältigen Beobachtungen der sich äußerlich kundgebenden Eigenschaften und denen von der Analyse des Aufbaus des gegebenen Gegenstandes unterwerfen, wie endlich den Ergebnissen, zu denen die Beobachtung dessen Verhaltensweisen unter verschiedenen Umständen und der innerhalb des Gegenstandes verlaufenden Prozesse führt. In all diesen Fällen zeigt sich, daß es ζ. B. im tierischen Organismus dieses oder jenes Typus fast keinen solchen Teil (kein solches Organ) oder keine solche Eigenschaft gibt, die mit anderen Teilen oder Merkmalen und meistens mit dem ganzen Rest des Organismus nicht in manchmal sehr engen Zusammenhängen oder Abhängigkeiten stünde. Es zeichnet sich dabei sehr deutlich eine Hierarchie ihrer Wichtigkeit und der Reichweite ihrer Einflüsse auf andere Teile (Merkmale) oder auf den übrigen Organismus ab. Die Untersuchungen sind eben dem Zweck gewidmet, diese unterschiedliche Bedeutsamkeit der einzelnen Teile oder Eigenschaften für das Dasein und Leben des gegebenen Organismus zu erkunden. Nirgends entscheidet hier der willkürliche Beschluß des Forschers, der nach der angeführten Theorie den Unterschied der für das Ganze des gegebenen Gegenstandes bedeutsameren Eigenschaften und Teile [zu den übrigen] stiften soll. Es zeigt sich auch, daß diese unterschiedliche Bedeutsamkeit des gegebenen Merkmals oder Teils u. a. darin besteht, daß von dessen Vorhan-

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

densein oder den darin stattfindenden Veränderungen eine größere (als sonst) Anzahl von Veränderungen oder gewissen Sachverhalten abhängt. Es stellt sich mehrfach im Laufe der Untersuchung heraus, daß gewisse Merkmale oder Teile des Gegenstandes überhaupt nicht wegfallen oder auch nur eine Änderung erfahren können, sofern der gegebene Gegenstand (Organismus) fortbestehen soll, während andere - im Gegenteil - sich in großem Maße verändern können, ohne daß dadurch größere Störungen in seinen Eigenschaften und seinem Verhalten verursacht werden. Es wird auch offenkundig, daß die ersteren darüber entscheiden, daß der gegebene Gegenstand Exemplar einer bestimmten Gattung ist, daß er insbesondere z.B. ein Tier und nicht eine Pflanze oder daß er ein Mensch ist. Und das bleibt eben trotz den Interessen des Forschers bestehen oder trotzdem, daß der gegebene Organismus (das Exemplar) anfänglich in diese oder jene Gruppe (Klasse) von Gegenständen eingeordnet wurde. Es entscheidet darüber nicht nur der Komplex von morphologischen Merkmalen, sondern des öfteren auch die zunächst verborgenen Eigenschaften der einzelnen Teile oder Prozesse oder auch verschiedene genetische Faktoren, bis hin zum Aufbau der Chromosomen usw. Im Laufe der Untersuchung unterliegt die anfängliche Einteilung z.B. der Tiere in diese oder jene Gruppen, in Gattungen, Arten, Ordnungen usw. nicht selten einer Revision. Denn erst die tieferen Nachforschungen bringen die sich zunächst nicht zeigenden morphologischen und genetischen Verwandtschaften zutage. Im Laufe dieser Nachforschungen gibt es aber immer weniger Platz für willkürliche Beschlüsse des Forschers und immer mehr Tatbestände, deren Zusammenhänge der Forscher mitunter entgegen seinen eigenen Interessen und der "Denkökonomie" gelten lassen muß. Manchmal stellt sich auch eine besondere Tatsache ein: Es kommen nämlich "Grenzfälle" vor, die sich gleichsam jedem Versuch entziehen, sie in eine von zwei schon abgegrenzten Gruppen oder Gattungen einzugliedern, weil sie einerseits eine Auswahl von Eigentümlichkeiten der einen dieser Gruppen, andererseits aber eine Eigenschaft besitzen, mit Rücksicht auf welche sie eben der anderen der abgegrenzten Gruppen (Gattungen) zuzurechnen wären. So ist oder war es mit dem Schnabeltier, das aus gewissen Gründen als ein Säugetier und aus anderen als ein Vogel erschien. Daß die Einordnung [in einem solchen Grenzfall] so und nicht anders ausfällt, liegt weder an willkürlicher "Klassen"bildung noch an irgendwelchen auffallenden äußeren Merkmalen, sondern an tieferen Eigen-

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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schaften, die in der betreffenden Frage maßgebend sein können. 86 Ähnlich verhält es sich z.B. mit der Abgrenzung des ganzen Gebietes der Lebewesen wie man manchmal sagt - des Reichs des Lebens: Die neuen Untersuchungen oder Entdeckungen zwingen uns dazu, die bis zu einer gewissen Zeit abgesteckten Grenzen zu verschieben. So ist es ζ. B. mit dem Fall der Viren, deren Zugehörigkeit zu den Lebewesen längere Zeit strittig war und es vielleicht noch heute ist. Und wenn wir erwarten, daß dieser Streit eines Tages ausgetragen wird, so kann das wiederum nicht durch eine willkürliche Denkentscheidung der Forscher geschehen, sondern deswegen, weil in dieser Frage gewisse von den Denkoperationen der Forscher unabhängige Tatsachen den Ausschlag geben werden, Tatsachen, die uns entweder dazu veranlassen, die Viren im Hinblick auf eine Eigentümlichkeit zu den Lebewesen zu rechnen (oder die entgegengesetzte Lösung zu akzeptieren) oder es uns auch erlauben, das allgemeine "Wesen" des Lebens oder der Lebewesen mit Rücksicht auf einen neuen Einzelzug genauer zu bestimmen als das vorher möglich war; und erst danach kann eine entsprechende Präzisierung des "Begriffs" dieser Forschungsgegenstände erfolgen. Jemand könnte sagen: ich hätte mir hier ein bequemes Beispiel gewählt, das gegen die diskutierten Theorien über die Bildung von "Klassen" und über die Form des Gegenstandes als einer Klasse von Klassen usw. zu sprechen scheine; die Situation stelle sich aber ganz anders dar, wenn wir uns der Welt der "unbelebten" materiellen Dinge zuwenden, die in der Physik und Chemie untersucht werden. Indessen sollte auch schon ein flüchtiger Überblick über die Geschichte der atomistischen Auffassung der Struktur der Materie seit ihrem ersten Vorfahren Demokrit bis zu den neusten Entwicklungen der Kernphysik die Anhänger der fraglichen Theorie davon überzeugen, wie wenig sie den Tatsachen gerecht wird. Sind auch im zeitgenössischen Wissensbestand der mathematischen Physik Theorien vorhanden, deren Grad an konzeptueller Freiheit auf den ersten Blick ziemlich hoch erscheint, so ist doch bekannt, daß diese Theorien nicht so sehr infolge neuer wissenschaftlicher Moden, als vielmehr unter dem Druck der in der experimentellen Physik getroffenen Entscheidungen zusammenbrechen oder beträchtliche Modifikationen erfahren.

Im Fall des Schnabeltieres war angeblich die Erforschung des Aufbaus des Eies entscheidend.

374

IV. Die Phänomenologie

des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse

und deren

Korrelate

Die unerwarteten Ergebnisse von Experimenten - solchen wie den Versuchen Michelsons oder Comptons - haben zu wahren Umbrüchen in der Theorie, zum Zusammenbruch der scheinbar bestens begründeten Konzeptionen geführt. Der ganze Forschungsverlauf dürfte auf einen sehr geschlossenen Aufbau der Atome von einzelnen Typen, der Atomkerne usw., hinweisen. Und die Kräfte, die bei der Spaltung mancher Atome aufgewendet werden müssen, sowie die ungeheuren Energien, die ζ. B. bei der Umbildung der Atome eines "Elements" in die eines anderen ausgelöst werden, zeugen wohl am besten davon, daß in der unbelebten Natur mindestens im gleichen Maße wie in der belebten Welt spezifische, innerlich ungeheuer geschlossene Strukturen von einzelnen Gegenstandstypen vorhanden oder - vorsichtiger gesagt - auf Grund der Entwicklung der Theorie vermeint sind. Diese Strukturen muß man nur entdecken und ihnen alle Theorien anpassen, wenn diese das genau wiedergeben sollen, was unbekümmert um alle willkürlichen Definitionen und gedanklichen Konzeptionen in der Wirklichkeit immanent verkörpert zu sein scheint. In dieser Welt tritt also, wie es scheint, die gleiche Struktur unter den [verschiedenen] Eigenschaften und Teilen materieller Gebilde auf - angefangen bei den Elementarteilchen bis zu Kristallen oder anders beschaffenen Festkörpern. 87 Im Aufbau der Atome bei einzelnen Elementen (oder deren Isotopen) zeichnet sich eine gewisse (bei jedem Element andere) Gruppe von Eigentümlichkeiten ab, welche die "Gattung" der gegebenen Atome bestimmt und nicht von der definitorischen Willkür des Forschers abhängt, sondern in einer angemessenen Serie von Beobachtungen und Experimenten entdeckt werden muß. Sowohl in der Welt der Mikrophysik wie auch der Makrophysik gibt es Gruppen von verschiedenen Typen von Abhängigkeiten neben den Eigenschaften und Prozessen, die voneinander unabhängig und für den gegebenen Typus von Dingen oder Mikrostrukturen irrelevant sind, wenn sie auch von diesen zugelassen werden. Wenn wir so über die in der Naturwissenschaft entdeckten Tatsachen nachdenken, und zwar nicht nur über die eigentümlichen Strukturen in der biologischen Welt sowie in der Welt der Physikochemie, sondern auch dar87 Darüber, wie es sich damit in der Quantenmechanik verhält, wage ich nichts zu behaupten. Auch hier geht aber - nach meinem Wissen - die Haupttendenz der Versuche der Theoriebildung dahin, eine Konzeption zu schaffen, die sich in den experimentellen Ergebnissen "bestätigt" oder - wie man sagt - mit der Erfahrung "übereinstimmt".

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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über, daß den beiden "Welten" im Grunde eine Welt entspricht, die so sonderbar aufgebaut ist, daß man darin die belebte und die unbelebte Natur unterscheiden und zugleich den letzten Zusammenhang zwischen ihnen aufweisen und feststellen kann, welche von ihnen die grundlegende ist und welche im Verhältnis zu dieser einen besonderen Überbau und eine Organisation höherer Ordnung bildet, [wenn wir darüber nachdenken,] dann fällt uns eine strukturelle Analogie auf zwischen dem Aufbau der durch die Naturwissenschaften untersuchten Gegenstände - so wie sie in diesen Wissenschaften tatsächlich vermeint sind - und dem Aufbau der Ideengehalte: In beiden Fällen haben wir es einerseits mit einem Bestand an "Konstanten" in den Ideengehalten und sich stets wiederholenden Eigenschaften in den Dingen zu tun, andererseits mit einem Bestand an "Veränderlichen" in den Ideengehalten und denjenigen Eigenschaften in den Dingen, die sich nicht immer wiederholen, sondern nur in verschiedenen einzelnen Exemplaren derselben Gattung erscheinen. Außerdem treten in beiden Fällen Abhängigkeiten zwischen den Konstanten bzw. den Veränderlichen auf. Mehr noch, treten wir an die Untersuchung gewisser in der Wahrnehmung gegebener Gegenstände heran, dann erweisen sie sich nach den Daten dieser Wahrnehmung immer als kategorial geformt. Sie bilden Subjekte gewisser Eigenschaften oder sich in ihnen abspielender Prozesse und treten mit einer qualitativ bestimmten Natur auf, die auf kennzeichnende Weise das Ganze des gegebenen Gegenstandes prägt. Was uns in der Wahrnehmung auffällt, ist gewöhnlich nicht das Gepräge der streng individuellen Natur des gegebenen Dinges, Tieres oder Menschen, sondern vielmehr nur ein in dieser Natur enthaltenes art- oder gattungsmäßiges Moment. Wir sehen in der Regel diesen oder jenen Hund oder Berg, diese oder jene Katze, dieses oder jenes Feld usw., und erst ein längerer, direkter Erkenntnisverkehr mit dem gegebenen Gegenstand erlaubt es uns, diesen unter dem Aspekt seiner individuellen Natur zu sehen, die wir übrigens gewöhnlich nicht begrifflich zu bestimmen vermögen und die wir nur mit einem Eigennamen belegen. Wir sehen dann somit z. B. "Jock" oder "Dingo", "Mont Blanc" oder einen derartig kollektiven und zugleich individuellen Gegenstand wie die "Alpen", und erst dieser so aufgefaßte reale Gegenstand tritt mit einer Auswahl seiner Eigenschaften oder Merkmale auf. Mit ihm geschieht eventuell etwas, oder er verhält sich in bestimmter Weise, und in ihm bemerken wir in einer Reihe von Wahrnehmungen, daß zwischen seinen Eigen-

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

Schäften bzw. Prozessen, an denen er teilnimmt, und dem, was in ihm selbst geschieht usw., verschiedene Abhängigkeiten bestehen. Wenn es uns gelingt, in einem solchen Gegenstand diese verschiedenen Merkmale oder Eigenschaften zu unterscheiden und wenn uns speziell diejenigen Eigenschaften sichtbar werden, die mit seiner Natur zusammen auftreten und mit ihr irgendwie besonders innig verbunden sind, dann können wir uns danach - auf Grund von Wahrnehmungsgegebenheiten - auf die entsprechenden idealen Qualitäten einstellen und, wie gesagt, deren Zusammenhänge und Abhängigkeiten entdecken. Wir können insbesondere in einem Ideationsakt von der im vorliegenden Fall konkret auftretenden Natur des gegebenen Gegenstandes zu ihrer Auffassung in specie übergehen und uns zugleich in einem analogen eidetischen Akt die Form der Natur und die des Gegenstandes als Subjekt von Merkmalen klar machen sowie endlich die Form der Eigenschaft in specie, in der seine einzelnen Bestimmtheiten auftreten, und besonders die Form ihrer speziellen Zugehörigkeit zur Natur (oder eines gattungsmäßigen Momentes der Natur). Wenn wir das alles erwägen, treten wir schon in die Untersuchung des Gehaltes einer allgemeinen Idee ein. Wir nutzen dabei nur die von uns in der Erfahrung vorgefundenen Tatsachen (oder eventuell auch diejenigen, die aus diesen erschlossenen werden), und zwar so, daß sie - wie ich vorhin erwähnt habe - nur als gewisse uns durch die Erfahrung vor Augen gestellte Möglichkeiten betrachtet werden, in denen alle zutage gebrachten materialen und formalen Momente uns schon in der Ideation als "reine ideale Qualitäten" zugänglich sind und in ihren Zusammenhängen und Abhängigkeiten als Ideengehalte, und zwar in der eidetischen Einstellung, analysiert werden können. Es kann sein, daß die in der Erfahrung (in der gewöhnlichen Wahrnehmung, in der wissenschaftlichen Beobachtung oder schließlich im Denkexperiment unter Verwendung angemessener Denkoperationen) gegebenen Gegenstände gar nicht existieren und gar nicht diejenigen sind, als welche sie in diesen empirischen, auch in den Einzelwissenschaften verwendeten Erkenntnistätigkeiten anerkannt werden. Es ist insbesondere nicht ausgeschlossen, daß ihre wahre (wirkliche) Natur und das damit verbundene Wesen ganz anders sind, als sie sich im Laufe des wissenschaftlichen Erkenntnisverfahrens rechtmäßig ausgewiesen haben. Darüber können wir im Rahmen der eidetischen Analyse des entsprechend entdeckten Gehaltes einer allgemeinen Idee auf keine Weise präjudizieren. Wir können aber eines machen: ohne Rücksicht auf die

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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Wahrheit der Befunde der wissenschaftlichen Forschung eine eidetische Erkenntnis der entsprechenden Ideengehalte vollziehen; und [wenn wir das tun], sind die damit gewonnenen Ergebnisse von den Ergebnissen der empirischen wissenschaftlichen Erkenntnis völlig unabhängig. Gewiß, wenn es uns auch schon gelungen ist, die Analyse des Gehaltes einer Idee durchzuführen und Abhängigkeiten zwischen seinen Bestandteilen auszusuchen, bedeutet das noch keineswegs, daß wir dadurch das empirische Wissen über die Gegenstände, die wir als Ausgangspunkt zu den eidetischen Analysen genommen haben, vertieft oder bereichert haben. Und wir haben noch keine Kenntnis vom faktischen Wesen dieser Gegenstände erlangt. Wir wissen nur so viel, daß wir in dem Fall, wo ihre individuellen Naturen oder die darin enthaltenen art- oder gattungsmäßigen Momente in Wahrheit gerade so sind, wie sich das in den entsprechenden von uns untersuchten Ideen andeutet, das Recht haben - wenn wie die Abhängigkeit eines Bestandes an Eigenschaftsmomenten von dieser Natur (bzw. vom entsprechenden in ihr enthaltenen Moment) entdekken - , zu behaupten, daß zum Wesen der individuellen Gegenstände, die unter die gegebene Idee fallen, gerade dieser bestimmte Bestand an Eigenschaften gehört. Aus dem ganzen Material, das uns die Erfahrungswissenschaften herbeigeschafft haben, könnten wir dann berechtigterweise diejenigen Eigenschaften wählen, von denen wir auf Grund der Analyse der Ideengehalte wissen, daß sie dieser bestimmten Natur (bzw. diesem bestimmten in ihr enthaltenen Moment) zugehören. Wir dürfen dann von diesen Eigenschaften behaupten, daß sie zusammen mit der Natur das Wesen der gegebenen Gegenstände oder des gegebenen Gegenstandes bilden (oder wenigstens, daß sie zu diesem Wesen gehören). Die Ausführung dieses Erkenntnisaktes wäre nur eine Deutung des uns durch die empirischen wissenschaftlichen Untersuchungen gelieferten Stoffes, eine Deutung, die ohne Zweifel über das hinausginge, was wir in den Wissenschaften selbst gewinnen können. Vielleicht wäre das auch eine Bereicherung des uns durch diese Wissenschaften gelieferten Wissens, weil die Analyse des Gehaltes einer Idee uns die Notwendigkeit gewisser Zusammenhänge zwischen Bestimmtheiten der unter diese Idee fallenden Gegenstände nachweist. Diese Zusammenhänge in ihrem Notwendigkeitscharakter lassen sich im Rahmen einer rein empirischen Erkenntnis nicht entdecken. Es ist schlußendlich nicht ausgeschlossen, daß uns die Analyse des Gehaltes einer Idee in die Lage versetzt, eine Konstante (eventuell eine Ver-

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

änderliche samt ihren Variabilitätsgrenzen) zu entdecken, die in der bisherigen empirischen Erkenntnis des entsprechenden Gegenstandes (oder auch einer ganzen Art von solchen Gegenständen) noch nicht entdeckt wurde. Wir wären dann verpflichtet, entweder in einer unmittelbaren, vervollkommneten Erfahrung oder auch auf dem Weg einer Folgerung die entsprechende Eigenschaft oder den Teil oder ζ. B. den entsprechenden im Gegenstand ablaufenden Prozeß aufzufinden, der dieser entdeckten Konstanten (oder Veränderlichen) des Ideengehaltes entspräche. Solange wir aber nicht vermöchten, so etwas mit den Mitteln empirischer Erkenntnis aufzufinden, so lange hätten wir auch kein Recht, innerhalb der empirischen Forschung diese eventuelle Bereicherung des Wissens über deren Gegenstand zur Kenntnis zu nehmen. Es würde sich dann zeigen, daß es in Wirklichkeit einfach keinen Gegenstand gibt, welcher der von uns untersuchten Idee genau entspräche. Es muß nachdrücklich betont werden, daß diese ganze eventuelle Erforschung des faktischen Wesens der Gegenstände, die ursprünglich in der empirischen, insbesondere wissenschaftlichen Erkenntnis erkannt werden, keine eidetische Erkenntnis von Ideengehalten mehr ist. Sie ist aber auch keine einfache empirische Erkenntnis innerhalb einer Wissenschaft mehr, sondern reicht sowohl mit ihrem Problembereich als auch mit ihren Erkenntnismitteln über die beiden hier unterschiedenen Forschungsgebiete hinaus und bildet nur eine Anwendung von Resultaten der eidetischen Erkenntnis auf die entsprechenden individuellen Gegenstände, die sich eventuell erfahrungsmäßig aufweisen lassen. Man kann auch ohne besondere Betrachtungen nicht sagen, diese Rückwendung (von der Analyse der Ideengehalte) zu den individuellen Gegenständen sei eine einfache Rückkehr zu genau derselben empirischen Erkenntnisart, deren sich die einzelnen Erfahrungswissenschaften bedienen. Denn es ist nicht ausgeschlossen, daß dieser Rückgriff auf die Tatsachen auch die Verwendung einer ganz neuen Art der Tatsachenerkenntnis erfordert eine spezielle Art von Erfahrung, in der die Tatsachen sich in ihrer ganzen Notwendigkeit und Unbezweifelbarkeit zeigen würden, wie sie in der einfachen empirischen Erkenntnis nicht verlangt werden kann. Dieses Aufdecken des faktischen Wesens der individuellen, insbesondere realen Gegenstände ist keine Aufgabe der Erfahrungswissenschaften mehr. Es ist eine Aufgabe der Metaphysik, die nur dann möglich ist, wenn es gelingt, nachzuweisen, daß sie sich einer Erfahrung bedienen kann, die vollkommener ist als die sinnliche

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Erfahrung des Menschen, oder wenigstens, daß sie die letztere Erfahrung für eine spezielle Deutung der darin entdeckten Tatsachen mit Hilfe der Ergebnisse dereidetischen Erkenntnis von Ideengehalten verwerten kann. Während wir in der letzteren Erkenntnis gewisse streng allgemeine Sätze gewinnen, die über die Existenz der unter diese Idee fallenden individuellen (insbesondere realen) Gegenstände in keiner Weise präjudizieren, so könnten wir in der eventuellen metaphysischen Betrachtung einzelne Wesenssätze über gewisse tatsächlich existierende Gegenstände gewinnen und eventuell auch allgemeine Sätze, die in diesen Gegenständen gewisse allgemeine generische oder spezifische Eigenschaften feststellen würden, wie sie vorher in der eidetischen Analyse der Ideengehalte aufgefunden wurden. Man muß aber noch auf das Problem des Verhältnisses zwischen der empirischen Erkenntnis, die in den Einzelwissenschaften gewonnen wird, und der eidetischen Erkenntnis der Ideengehalte zurückgreifen. Es bleiben hier alle Einwände in Kraft, die ich oben in bezug auf das Verhältnis zwischen der eidetischen Erkenntnis der reinen idealen Qualitäten oder deren Zusammenhänge und der auf Grund der (insbesondere sinnlichen) Erfahrung gewonnenen Erkenntnis geltend gemacht habe. Die Erkenntnis der Ideengehalte kann sich innerhalb der Erkenntnis der reinen idealen Qualitäten (in einem weiten Sinne, wie das oben angedeutet wurde) und der Sätze, die aus den gewonnenen Feststellungen über die Zusammenhänge zwischen den idealen Qualitäten folgen, nur in dem Bereich bewegen, der für uns Menschen zugänglich ist. Mittelbar ist aber der Bereich der eidetischen Forschung über Ideengehalte beschränkt durch den Bereich der uns in der Erfahrung zugänglichen Qualitäten (Bestimmtheiten aller Art), und der Fortschritt in der Analyse der Ideengehalte geht mit der Vervollkommnung der Forschungmethoden der empirischen Erkenntnis einher (ζ. B. mit der Einführung von Meßgeräten, durch die wir einen Zugang zu den Tatsachen gewinnen, die über den Bereich der unmittelbar beobachtbaren Qualitäten und Sachverhalte hinausgehen). Die Analyse der Gehalte der Ideen von Gegenständen der Art wie diejenigen, die wir in individuo in der äußeren Sinneswahrnehmung vorfinden, wirft aber noch ein weiteres Problem auf, das eine besondere Erläuterung verlangt und das bei der Frage nach der Erkenntnis der idealen Qualitäten im Ideationsakt nicht aufgetreten ist.

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse

und deren Korrelate

Sowohl die idealen Qualitäten selbst als auch die sichtbaren Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen ihnen zeigen sich in der Ideation in der ganzen Fülle ihrer selbst bzw. ihres Seins, in der Fülle dessen, was sie sind. Sie haben weder verborgene oder auch nur vorübergehend verdeckte Seiten noch ein unzugängliches "Inneres". Sie lassen sich in einem Intuitionsakt erfassen, einerlei, ob sie letzte, absolut einfache Qualitäten sind oder solche wie sog. "Gestalten", die auf der Grundlage eines Qualitätenkomplexes erscheinen. Anders, wenn es sich um die in der Erfahrung gegebenen realen Gegenstände, insbesondere die materiellen Dinge und die sich in ihnen abspielenden Prozesse handelt. Wie schon gesagt und wie uns seit den diesbezüglichen Analysen Husserls wohl bekannt ist, stellen sich uns Dinge in der Erfahrung als solche dar, die in einem Wahrnehmungsakt nur einseitig gegeben sein können, wobei ihre Rückseite verdeckt, nur mitgegeben ist. Außerdem ist auch ihr Inneres verdeckt, das lediglich - und auch dies nicht immer - in den Gegebenheiten in Erscheinung tritt, die uns die "Vorderseite" darstellen. Der Übergang zu weiteren Wahrnehmungen enthüllt uns zwar die (frühere) Rückseite, die jetzt die Vorderseite wird, zugleich wird aber die früher gesehene Seite verdeckt und ist nur noch mitgegeben, wobei das Innere sich indirekt und teilweise in neu gegebenen Eigenschaften kundgeben kann, sich aber nie - ausgenommen natürlich bei völlig durchsichtigen Dingen - ganz enthüllen läßt. Das empirische Dingwissen ist somit immer nur partiell, sogar nachdem wir sehr viele Wahrnehmungen und Beobachtungen durchgeführt haben. Es ist dabei immer möglich, daß ein sukzessiv von vielen Seiten besehenes Ding sich während dieses Besehens verändert, und zwar so, daß sich dies in den neuen Wahrnehmungen gar nicht zu verraten braucht. An dieser Situation wird prinzipiell nichts geändert, wenn verschiedene Wahrnehmungsarten verwendet werden und wenn das gegebene Ding unter verschiedenen Bedingungen und in seinen verschiedenen Lagen beobachtet wird. 88 Das erworbene

QQ

Man hat mich darauf aufmerksam gemacht, daß ein materielles Ding gleichzeitig von verschiedenen Seiten her betrachtet werden kann, nämlich mit Hilfe von Spiegeln. Damit wir aber anerkennen können, daß das Ding so ist, wie es im Spiegel gesehen wird, miißten wir schon die Existenz des Spiegels und [die Geltung] der physikalischen Reflexionsgesetze annehmen, was wir hier nicht tun dürfen. Man kann endlich ein und dasselbe Ding von verschiedenen Seiten her betrachten, wenn das einige Personen gleichzeitig machen; dies

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Wissen bereichert sich zwar [dadurch] und seine Teile ergänzen sich gegenseitig, es wird aber nie erschöpfend noch absolut sicher. Das bringt eine Beschränkung unserer Einsicht in den Gehalt der entsprechenden Idee mit sich (früher hätte man eher gesagt: es beschränkt unsere Möglichkeit, den betreffenden Allgemeinbegriff zu bilden 89 ). Das eidetische Wissen, das wir durch Analyse des Gehaltes einer Idee erwerben können, ist in seinem Bereich durch die Auswahl der "Qualitäten" bedingt, die in der bisherigen Erfahrung zur Erscheinung gekommen sind: Wir können die und nur die Konstanten und Veränderlichen eidetisch erfassen, deren individuelle Korrelate im Laufe der schon vollzogenen und überhaupt für uns als Menschen möglichen Wahrnehmungen erschienen sind. Ebensowenig, wie wir wahrnehmungsmäßig ein erschöpfendes, vollständiges Wissen über einen individuellen Gegenstand erreichen können, wie wir die ganze Auswahl von "gemeinsamen" Eigenschaften oder auf deren Grundlage erscheinenden Gesetzmäßigkeiten besitzen können, ebensowenig können wir ein eidetisches Wissen über den ganzen Gehalt der entsprechenden allgemeinen Idee gewinnen. Infolgedessen ist auch unser Wissen über die Abhängigkeiten unter den Konstanten und zwischen diesen und den Veränderlichen nicht nur beschränkt; es ist auch in dem Sinne unvollständig, daß wir nicht wissen, ob zwischen den Konstanten und Veränderlichen nicht neue Abhängigkeiten auftreten werden, die erst dann erscheinen, wenn wir einen weiteren Zugang zu den Konstanten gewinnen, zu denen der bisherige Verlauf der Erfahrung uns noch nicht hingeführt hat. Deswegen spricht Husserl von den "transzendenten" Wesen 90 , was bei ihm bekanntlich auch die Gehalte der allgemeinen Ideen mit umfaßt, und betont, daß unser Wissen über diese Wesen begrenzt und irgendwie anders geartet sei im Vergleich zum Wissen über die von ihm so genannten "immanenten" Wesen. Husserl wird sich jedoch nicht genügend klar darüber, worin der Unterschied in der Erkenntnis der beiderseitigen Wesen liegt. Wir können somit

bringt jedoch weitere Komplikationen der Problemlage mit sich. Ich werde noch später darauf eingehen. QQ

Das ist natürlich auch von meinem Gesichtspunkt aus richtig, nur daß ich allgemeine Ideen mit Begriffen, die Sprachgebilde sind, nicht gleichsetze. 90

[Vgl. Husserl, Ideen I, S. 114, 116 (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 128, 131).]

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

diese Behauptungen von ihm nicht einfach übernehmen, zumal sein Begriff der "Immanenz" - wie man dem Text der Ideen I entnehmen könnte - viel enger ist als der Begriff, der alle Gegenstände der eidetischen Erkenntnis der reinen idealen Qualitäten umfassen und zugleich einen Gegensatz zum soeben erwähnten Begriff der "Transzendenz" (in meiner Terminologie der "strukturellen Transzendenz") 91 bilden würde. Auf jeden Fall unterscheidet sich die eidetische Erkenntnis der Gehalte der Ideen, unter welche die individuellen realen und insbesondere materiellen Gegenstände fallen, prinzipiell von der eidetischen Erkenntnis der reinen idealen Qualitäten und deren Zusammenhänge und notwendigen Abhängigkeiten. Die Erkenntnis der Ideengehalte erfolgt in einer Mannigfaltigkeit von eidetischen Akten und erschöpft nicht den vollen Gehalt der Ideen. Sie läßt immer einen Horizont von weiteren möglichen Konstanten und Veränderlichen, die zur Zeit der Erkenntnis noch nicht zugänglich sind, und erst ihr weiterer Verlauf kann diesen Mangel beseitigen. Dieser Vorbehalt gilt jedoch - wie es scheint - nicht für die Erkenntnis des Gehaltes aller Ideen. In welchem Bereich er gilt, hängt davon ab, ob die Erfahrung, auf deren Grundlage uns die entsprechenden idealen Qualitäten erscheinen, sich auf gewisse Gegenstände bezieht, die gegenüber dieser Erfahrung strukturell transzendent sind, oder auch auf gewisse immanente Gegenstände und insbesondere auf die sich aktuell abspielenden und der immanenten Wahrnehmung zugänglichen Bewußtseinserlebnisse. Das ist aber gerade das Gebiet, das für uns speziell in Betracht kommt, wenn wir das allgemeine eidetische Wissen über die Erkenntniserlebnisse suchen. Wir müssen uns somit jetzt diesem Thema zuwenden, mit der Erkenntnisweise der Ideen der transzendenten Gegenstände dagegen können wir uns im Augenblick nicht beschäftigen. Ich habe mich im vorigen Kapitel bemüht, darzulegen, daß eine rein deskriptive Erkenntnis der Erkenntniserlebnisse selbst und deren Korrelate in der Erkenntnistheorie auch dann nicht ausreichen kann, wenn diese [Erlebnisse und deren Korrelate] sich - wie Husserl postuliert - in der immanenten Wahrnehmung erkennen lassen. Ich möchte hier nicht wiederholen, was Husserl über die immanente Wahrnehmung unserer "eigenen" Erlebnisse behauptet hat (obwohl man nicht sagen kann, daß alles, was zur Beschreibung dieser

91

[Vgl. Ingarden (1964/65), Bd. II/l § 48.]

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Wahrnehmungen gehören würde, in den von ihm veröffentlichten Arbeiten befriedigend ist). Wichtig ist im Augenblick nur, daß die Gründe, warum Husserl die immanenten Wahrnehmungen unserer eigenen Bewußtseinserlebnisse in Betracht gezogen hat, ganz anderer Natur sind als diejenigen, mit Rücksicht auf welche diese Wahrnehmungen in der Erkenntnistheorie in Betracht kommen können. Husserl kommt es nämlich darauf an, eine solche Art und Weise der Erkenntnis des Seienden und insbesondere der Bewußtseinserlebnisse zu finden, die erstens nicht den Zweifel lassen würde, die auf diese Weise erkannten Gegenstände könnten nicht existieren, obwohl sie erkannt werden; und zweitens [kommt es Husserl darauf an], daß diese Gegenstände nach der Durchführung der phänomenologischen

EPOCHE

nicht in deren Be-

reich fallen, daß also auch nach der Durchführung dieser Reduktion dennoch irgendwelche auf diese Gegenstände bezogenen wissenschaftlichen Untersuchungen möglich sind. Deswegen beruft sich Husserl auf die immanente Wahrnehmung unserer eigenen Erlebnisse, weil sie seiner Meinung nach - im Unterschied schon z.B. zur Erinnerung unserer eigenen Erlebnisse oder zu allen transzendent auf die Gegenstände der realen Welt gerichteten Erkenntnisse - die Existenz des Erlebnisses verbürgt, auf das sie sich selbst richtet. Als ein Argument zugunsten seiner These bringt er vor, daß die immanente Wahrnehmung und das Erlebnis, auf das sie gerichtet ist, "eine unvermittelte Einheit" 92 bilden, weil das erste in dem zweiten fundiert und - fügen wir hinzu - im Verhältnis zu diesem seinsunselbständig ist. Auf diese Weise entdeckt Husserl ein Gebiet des individuellen Seins: das reine transzendentale Bewußtsein, ein "absolutes" Sein, das nicht mehr bezweifelbar, ja nach Husserls Meinung geradezu solcherart ist, daß es widersinnig wäre, es noch zu bezweifeln. 93 Diesem letzten Seinsgebiet stellt Husserl danach das Sein von allem Transzendenten, insbesondere die reale Welt, gegenüber. Es ist jedoch beachtenswert, daß Husserl, nachdem er diesen letzten, sozusagen metaphysischen Ausgangspunkt schon gewonnen hat 94 , die immanente Wahrnehmung selbst nicht mehr benutzt und alle seine Untersuchungen über das reine Bewußtsein

92

[Vgl. Husserl, Ideen I, S. 68 (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 85).] Husserl sprach von diesem Widersinn mehrfach in seinen Vorlesungen, die ich in den Jahren 1912 - 1914 in Göttingen hörte. Er war hierin nicht der erste; es seien schon nur solche Namen wie Descartes oder Fichte genannt. Wie es damit bei Kant war, darüber kann man diskutieren.

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse

und deren Korrelate

mit Hilfe der eidetischen Erkenntnis (oder - wie er auch sagt - in der "Wesensschau") durchführt. Denn nur auf diese Weise kann er die Wissenschaft vom reinen transzendentalen Bewußtsein als "strenge Wissenschaft" betreiben, von der er auch das ganze eidetische Wissen über die Welt und alle anderen Seinsgebiete ableiten kann. Diese ganze Problematik kommt für uns hier nicht in Frage. Denn es ist nicht die Aufgabe dieser Betrachtungen, eine Theorie von diesem oder jenem Seienden zu schaffen oder ζ. B. eine andere, nichtidealistische Theorie der wirklichen Welt zu entwickeln; es ist nur ihre Aufgabe, einen Weg zu finden, auf dem die Möglichkeit einer fehlerfreien Erkenntnistheorie nachgewiesen werden könnte. Das kann man nicht dadurch erreichen, daß man die unbezweifelbare Existenz der Erkenntniserlebnisse feststellt, sondern einzig und allein dadurch, daß man die Weise entdeckt, wie ein unbezweifelbares streng allgemeines Wissen über die Gehalte der Ideen der Erkenntniserlebnisse überhaupt und deren verschiedener möglicher Besonderungen erreicht werden könnte. Die immanente Wahrnehmung der eigenen Erlebnisse des Erkenntnistheoretikers kommt für uns nur deswegen in Betracht, weil sie uns als Grundlage dienen kann, auf der die Durchführung einer eidetischen Erkenntnis dieser Ideengehalte - wie wir erwarten - möglich sein wird. Es handelt sich also darum, ob die "immanente" Erkenntnis fähig ist, uns an einem konkreten Beispiel all diese Eigenschaften eines beliebigen Erkenntniserlebnisses sowie seinen formalen Aufbau zu zeigen, die - in einem Ideationsakt erfaßt - uns einen Zugang zu den konstanten und veränderlichen Gehalten der Idee der Erkenntnis überhaupt eröffnen würden.95 Es ist vor allem zu bemerken, daß viele Leser von Husserls Ideen I auf Grund seiner Ausführungen über die immanente Wahrnehmung zur Überzeugung gekommen sind, er schreibe dieser Wahrnehmung nicht nur den Vorzug zu, daß die Existenz des darin gegebenen Bewußtseinserlebnisses unbezweifelbar sei, sondern darüber hinaus, daß sie von diesem Erlebnis auch hinsichtlich dessen eine unbezweifelbare Erkenntnis liefere, welche seiner Eigen-

nc Ob der einzige und unumgängliche Weg dazu, einen Zugang zum Gehalt dieser Ideen zu gewinnen, die immanente Wahrnehmung sein kann, ist eine Frage, auf die ich noch zurückkommen werde. Einstweilen ziehe ich diesen Weg in Betracht, weil er - wie es scheint - nützlich sein kann und uns Informationen über Erkenntniserlebnisse liefern kann, die auf einem anderen Weg vielleicht nicht so leicht erreichbar wären.

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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Schäften und welche Struktur in ihm gezeigt bzw. ihm zugewiesen werden.96 Es fragt sich jedoch, ob eine solche Interpretation des Husserlschen Standpunkts in dieser Frage nicht zu weit geht. Auf jeden Fall hat Husserl dagegen in einem unserer Gespräche97 eine deutliche Verwahrung eingelegt. Er sagte nämlich, dies sei eine zu weit gehende Behauptung. In der immanenten Wahrnehmung, z. B. einer äußeren Wahrnehmung eines Dinges, solle man - ähnlich wie bei der äußeren Wahrnehmung - zweierlei unterscheiden: den zentral und sozusagen im vollen Licht erfaßten Teil des Perzeptionsfeldes und dessen Peripherie oder Horizont, in dem das Gegebene nur noch gleichsam im Halblicht, nur halb deutlich, oder sogar in einer gewissen Verwischung und gewissermaßen auch Verkürzung gegeben sei. Die These von der Unbezweifelbarkeit der immanenten Wahrnehmung wäre also so einzuschränken, daß sie nur jene Zentralzone des Perzeptionsfeldes umfaßt. Das dagegen, was sich gleichsam an der Peripherie dieses Feldes andeutet, sollte unter die Klausel der möglichen

EPOCHE

fallen. Wenn ich mich nicht irre, würde aus den von

Husserl damals ausgesprochenen Bemerkungen folgen, daß auch in diesem mit voller Klarheit und Deutlichkeit gegebenen Zentralteil das ganz unbezweifelbar Gegebene nicht so sehr z. B. im konkreten individuellen Inhalt des Erlebnisses, als vielmehr in dessen allgemeinen, genetischen oder strukturellen Eigenschaften liegt. 98

96

Ich war persönlich auf Grund meiner Lektüre der Ideen I ebenfalls dieser Ansicht.

97 Sofern ich mich erinnere, fand dieses Gespräch während meines Aufenthalts in Freiburg im Herbst 1927 statt, obwohl ich nicht ausschließe, daß das erst 1934 passiert ist, als ich Husserl nach dem philosophischen Kongreß in Prag besuchte. Auf jeden Fall erinnere ich mich ganz genau an dieses Gespräch, denn das ist mir damals sehr aufgefallen. Husserl stellte dann vor allem fest, daß er in seinen Ausführungen über - wenn ich so sagen darf - die Deformation des reinen Bewußtseins in den Ideen I zu weit gegangen sei, indem er angenommen habe, es sei eine solche Abwandlung desselben möglich, in der sich keine Sinneinheiten konstituierten, sondern alles ständig "explodierte", so daß keine individuellen, in entsprechenden Mannigfaltigkeiten von Wahrnehmungen konstituierten und sich in diesen als identische Seinseinheiten erhaltenden Dinge gegeben wären. Jetzt (d.h. in der Zeit meines Gesprächs mit ihm) - erklärte Husserl - sei er viel vorsichtiger. Damit hängt auch diese QQ Verwahrung zusammen, von der im Text die Rede ist. Ich weiß nicht, ob sich in Husserls Schriften, die nach seinem Tode veröffentlicht wurden, eine Betrachtung findet, die auf dieses ganze Problem mehr Licht werfen würde. Ich kann aber jetzt diese 12 Bände nicht durchsuchen. Ich bin auch nicht in der Lage, Husserls einst ausgesprochene Bemerkungen wörtlich anzuführen, bin jedoch überzeugt, daß ich den Sinn

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IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

Ich notiere hier diese Ansicht Husserls, denn was wir in der Erkenntnistheorie speziell aufklären wollen, sind vor allem gerade diese generischen und strukturellen Eigenschaften, die für jedes Erkenntniserlebnis überhaupt oder für einzelne Spezies desselben charakteristisch sind. Ob aber hier noch irgendwelche Zweifelsfragen entstehen, darauf werde ich später eingehen. Man muß jedoch zuerst die Frage erörtern, ob die Bewußtseinserlebnisse überhaupt - bzw. die ihnen entsprechenden Ideengehalte - von demselben formalen Typus sind wie die Gegenstände (insbesondere die materiellen Dinge), die in der äußeren Wahrnehmung zur Gegebenheit kommen. Die letzteren sind strukturell transzendent gegenüber der Wahrnehmung und daher auch immer nur einseitig und teilweise, nie aber vollständig und ohne perspektivische Verkürzungen gegeben. Wenn ich von diesen in der äußeren Wahrnehmung gegebenen Dingen gesprochen habe, habe ich sie immer genau so genommen, wie sie uns in den Wahrnehmungen selbst gegeben sind, nie aber habe ich von ihnen selbst gesprochen, unabhängig davon, in welcher Gestalt sie in der Erfahrung auftreten. So will ich auch jetzt nichts über die Bewußtseinserlebnisse überhaupt behaupten, wie sie beschaffen wären, wenn sie unserer Erkenntnis in der immanenten Wahrnehmung gar nicht zugänglich wären, sondern ich möchte von ihnen nur als von solchen sprechen, als welche sie sich uns in dieser Wahrnehmung darstellen. Diese Einstellung eingenommen, muß ich feststellen, daß die prinzipielle Verschiedenheit der transzendenten Dinge von den Bewußtseinserlebnissen gerade darin liegt, daß die letzteren nicht "vielseitig" sind, daß sie weder eine "Rückseite" noch ein "Inneres" besitzen, daß - mit anderen Worten - die Struktur des wahrgenommenen Dinges sich für die Beschreibung des Bewußtseinserlebnisses gar nicht eignet. Als ein erster Vergleich liegt es nahe, zu sagen, die Erlebnisse seien gleichsam die "Oberfläche" selbst, die "Vorderseite" selbst, die hinter sich nichts anderes mehr berge, was, zu demselben Erlebnis gehörend, dessen "Inneres" wäre. Die Rede von der "Vorderseite" und der "äußeren Oberflä-

seiner Sätze getreu rekonstruiere. Leider habe ich den Inhalt meiner Gespräche mit Husserl nie sofort aufgeschrieben, ich war immer zu sehr sachlich interessiert, um Husserl sozusagen als eine historische Gestalt zu behandeln, über die ich noch einmal schreiben würde. Dieser Gespräche mit Husserl hatte ich viele, ich erinnere mich vor allem an diejenigen, die mich frappiert haben.

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

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che" scheint aber, streng genommen, ganz unpassend. Denn eine "Oberfläche" ist gerade nur eine obere Grenze von etwas, was sie selbst nur begrenzt. Es ist aber eine Grenze, die ohne das, was sie "bedeckt", gleichsam nichts ist, und zwar sogar dann, wenn sie mehr oder weniger durchsichtig ist und gerade das sichtbar macht, wovon sie nur ein unselbständiges "Gesicht" darstellt, oder auch das verdeckt, was eine Grundlage für ihr "Oberfläche"-Sein abgibt, was ihr die Existenz verleiht. Dagegen ist das für sich "reine" Bewußtseinserlebnis nichts dergleichen, es sei denn, es wird nicht in seiner reinen Gestalt genommen, sondern von uns in der "inneren" Erfahrung als eine Erscheinung der Person eines Menschen (oder eines anderen bewußten Wesens) und seines Lebens aufgefaßt. Aber gerade all das, was uns die "innere" Erfahrung zugänglich macht und wovon das Erlebnis selbst nur eine Äußerung oder Erscheinung ist, wurde in dem Augenblick ausgeschaltet, wo wir uns entschlossen haben, die Einstellung der EPOCHE gegenüber allen transzendent gerichteten Erkenntniserlebnissen einzunehmen, um in weiteren Untersuchungen den Fehler einer petitio principii zu vermeiden. Es ist uns dann das Bewußtseinserlebnis selbst in seiner eigenen, uns gerade in der immanenten Wahrnehmung erfaßbaren Natur zurückgeblieben. Und dann ist es nicht "etwas von etwas" - ens entis - sondern eine Erscheinung, ein Phänomen selbst, ohne jedwede Tiefe, sogar ohne daß es "die uns zugewandte Seite von etwas" wäre, ohne daß es ein "Inneres" verdeckte oder enthüllte, in dem sich in diesem Fall entweder unser Leib oder die darin lebende Seele befinden könnte. Das alles sind Transzendenzen. Nach der Durchführung der EPOCHE ist dagegen das geblieben, was wir für Untersuchungen über die Erkenntnis brauchen. Das bedeutet nicht, daß diese Transzendenzen überhaupt aus dem Gesichtsfeld verschwunden wären. Sie sind eventuell nur durch einige Momente des Erlebnisses selbst bestimmt. Als gerade nur so bestimmte, erscheinende Transzendenzen, die unter der Klausel der EPOCHE verbleiben, sind sie etwas, worauf wir uns als auf ein Seiendes nicht berufen dürfen. Das Bewußtseinserlebnis selbst aber, sobald wir darauf in der immanenten Wahrnehmung unsere Aufmerksamkeit lenken, bietet uns die ganze Fülle seiner eigenen Bestimmtheiten dar, ohne uns etwas von sich zu verbergen. Seine Bestimmtheiten können in ihrer spezifischen "Qualität" als besondere ideale Qualitäten in der Ideation erfaßt werden, ohne daß die faktische Existenz des gegebenen Erlebnisses vorausgesetzt (oder mindestens zur Kenntnis

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¡V. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

genommen) wird, auch wenn dieses sich uns in dieser Wahrnehmung tatsächlich als existierend darstellt. Die Feststellung seiner Existenz" haben wir nicht nötig, solange es uns nur darauf ankommt, die idealen Qualitäten selbst und in weiterer Folge den Gehalt der allgemeinen Idee des bewußten und speziell erkenntnismäßigen Erlebnisses aufzudecken. Die Gegebenheiten einer einzelnen immanenten Wahrnehmung können uns den zentralen Kern von Qualitäten aufdecken, welche die Konstanten im Gehalt dieser Idee sind. Erst wenn wir viele immanente Wahrnehmungen von vielen verschiedenen Erlebnissen gewonnen haben, können wir uns aber darüber Klarheit verschaffen, welches der Erlebnismomente, das zunächst in fixierter Gestalt auftritt, im Laufe anderer Erlebnisse eine Veränderung erfährt und daher nicht eine Konstante, sondern eine Veränderliche im Gehalt der entsprechenden allgemeinen Idee bestimmt. Dadurch, daß uns in den immanenten Wahrnehmungen viele verschiedene Erlebnisse zugänglich gemacht werden, können wir uns auch in der Einstellung der Ideation die Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen verschiedenen "Qualitäten" klar machen, wie sie in den untersuchten Bewußtseinserlebnissen (insbesondere Erkenntniserlebnissen) auftreten. Das vollständige Wissen über den Gehalt der Idee einer Art von Erlebnissen können wir in der eidetischen Einstellung erst gewinnen, nachdem uns die immanente Wahrnehmung ausreichendes Material dafür geliefert hat. Die Erkenntnis des Gehaltes ζ. B. der allgemeinen Idee des Erkenntniserlebnisses überhaupt erfolgt nicht einfach auf Grund eines Aktes der immanenten Wahrnehmung. Sie ist ohne Zweifel ziemlich kompliziert. Um das zu zeigen, wären weitere, speziellere Betrachtungen erforderlich. Man muß aber einstweilen betonen, daß die Komplikationen, die hier auftauchen und möglicherweise einer Aufklärung bedürfen, damit der Erkenntniswert des ganzen Prozesses ermittelt werden kann, mit den Komplikationen, die in der äußeren Wahrnehmung materieller Dinge eintreten, nichts zu tun haben. Im letzteren Fall rühren diese Komplikationen und die damit verbundenen Schwierigkeiten daher, daß in jeder dieser Wahrnehmungen eine andere Seite desselben Dinges, mit anderen Bestimmungen und einem anderen Bestand an seinen verdeckten vermeinten Qualifikationen zur Darstellung kommt.

QQ

.

Die für Husserl im Problemzusammenhang der Aufdeckung eines absoluten Seins so wichtig ist!

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

389

Nichts dergleichen liegt bei der Feststellung ζ. B. des Gehaltes der allgemeinen Idee des Erkenntniserlebnisses überhaupt vor. Denn es ist - wie ich schon erwähnt habe - nicht so, daß sich uns in den einzelnen immanenten Wahrnehmungen, die als Grundlage für die eidetische Erkenntnis dienen, [jedesmal] eine andere Seite desselben Erlebnisses zeigen würde (das in diesem Fall, wenn es sich schon einmal vollzogen hat, vergeht und in einer weiteren immanenten Wahrnehmung nicht mehr zugänglich sein kann). Es ist vielmehr so, daß wir zentral nur andere individuelle Erkenntniserlebnisse erfassen, in denen nur gewisse, sich im Ausgangserlebnis abzeichnende Züge durch andere Züge abgelöst werden. So zeigt sich, daß nicht jedes Erkenntniserlebnis jene Züge besitzt oder sie besitzen muß. Mit anderen Worten: [Die Tatsache], daß sich in verschiedenen Wahrnehmungen diese unterschiedlichen Bestimmungen der Erlebnisse zeigen, wobei ein Kernbestand an deren gleichen Zügen beibehalten wird, erlaubt es uns, einzusehen, daß nur manche Bestandteile des Gehaltes der Idee des Erkenntniserlebnisses "Veränderliche" ausmachen, die anderen hingegen "konstante" und für ein solches Erlebnis unentbehrliche Bestandteile sind. Wenn wir das weitere Material der Erfahrungsgrundlage durchlaufen, können wir nicht - wie das in der äußeren Wahrnehmung der materiellen Dinge geschieht oder geschehen kann - auf ganz neue Konstanten oder Veränderliche im Gehalt dieser Idee stoßen. Die gewisse Vorläufigkeit der Ergebnisse der Untersuchungen über den Gehalt der Idee des (erkenntnismäßigen) Bewußtseinserlebnisses ist also von einer anderen Art, als das bei den eidetischen Untersuchungen über den Gehalt der Idee der materiellen Dinge der Fall ist. Sie besteht nur darin, daß manche der in der bisherigen Erfahrung präsentierten konstanten Bestimmungen von Erkenntnisakten sich auf Grund der weiteren Erfahrung als veränderlich erweisen können, so daß im Gehalt der entsprechenden Idee manche bereits als konstant Angenommene sich eventuell als Veränderliche herausstellen werden. Das bedeutet aber nur, daß es sich zeigen wird, daß man zum Gehalt einer allgemeineren Idee gelangen kann, d. h. daß das bisherige Ergebnis sich verallgemeinern läßt. So wird es allerdings sein, wenn wir uns nicht damit begnügen, die Operation der "Variation" - wie das Husserl zuläßt - auf Grund einer Phantasievorstellung durchzuführen, sondern vielmehr darauf bestehen, daß anhand des Materials, das auf Grund einer immanenten Wahrnehmung eines Erkenntniserlebnisses einer Art (einer besonderen Spezies) gewonnen wurde, verschiedene Mög-

390

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

lichkeiten veranschaulicht werden. Ich sehe aber in diesem Umstand keine prinzipielle Schwierigkeit für die Erkenntnistheorie. Die Notwendigkeit, sich beim Aufdecken des Gehaltes der allgemeinen Idee des Erkenntniserlebnisses überhaupt (oder einer besonderen Spezies desselben) vieler verschiedener immanenter Wahrnehmungen als Grundlage für Akte der eidetischen Erkenntnis zu bedienen, bringt es mit sich, daß uns als diese Grundlage nicht nur die aktuellen (sich gerade abspielenden) immanenten Wahrnehmungen dienen müssen, sondern auch die Wahrnehmungen, die sich schon früher vollzogen und zur Aufdeckung des Gehaltes der entsprechenden allgemeinen Idee geführt haben. Diese vergangenen Wahrnehmungen oder vielmehr ihr Erkenntnisergebnis muß irgendwie aktualisiert (in die Gegenwart gerufen) werden, damit der jetzt erfaßte Gehalt der untersuchten Idee mit dem Gehalt derjenigen identifiziert werden kann, die in den schon vergangenen Akten der eidetischen Erkenntnis aufgedeckt wurde. Zu diesem Zweck muß man sich entweder einen schon vergangenen Akt der eidetischen Erkenntnis des Gehaltes der gegebenen Idee in Erinnerung rufen oder anerkennen, daß der Sinn des darin gewonnenen Erkenntnisergebnisses sich in jeder beliebigen späteren Gegenwart vergegenwärtigen (aktualisieren) läßt, ohne daß wir die Erinnerung der vergangenen Erkenntnisakte selbst einzusetzen brauchen. Im ersteren Fall stellt sich die Frage bezüglich der Verläßlichkeit oder Unzuverlässigkeit der Erinnerung an die vergangenen Erkenntniserlebnisse und bezüglich der Verläßlichkeit der Synthese zwischen dem auf dem skizzierten Weg herbeigerufenen Ergebnis, das den Gehalt der untersuchten Idee festlegt, und dem aktuell gegebenen Ergebnis einer sich gerade vollziehenden Erfassung des Gehaltes derselben Idee (derselben, sofern diese Synthese, sich effektiv vollziehend, zur Identifizierung des früher untersuchten Ideengehaltes mit dem jetzt erfaßten führt). 100 Anders gesagt: Unter den eidetischen (im vorliegenden Fall den Gehalt der Ideen von Erkenntniserlebnissen betreffenden) Erkenntnissen müssen zwei prinzipiell verschiedene Fälle unterschieden werden: a) Erkenntnisse (Erkenntnisergebnisse), die in

100

Anders gesagt: [Zur] Wiedererkennung des jetzt erfaßten Ideengehaltes als derselbe wie der früher erfaßte. Es können schließlich Fälle vorkommen, wo wir uns mit dem jetzt erfaßten Ideengehalt begnügen und schon nur von diesem aussagen können, daß er so und so ist. Auch dann aber vermeinen wir, daß das gewonnene Ergebnis für diese Idee endgültig ist und in der Zukunft wiederholt werden kann.

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

391

einem Akt der Ideation (der eidetischen Erkenntnis) gewonnen werden, und b) Erkenntnisse, die sich im endgültigen Erkennen bei der Durchführung der Identifizierung [der Akte miteinander] auch im Rahmen eines Aktes der eidetischen Erkenntnis abspielen, die aber zugleich mit Hilfe der Erinnerung entweder auf frühere Akte der eidetischen Erkenntnis rekurrieren oder wenigsten das in den früheren Akten gewonnene Erkenntnisergebnis reaktivieren, auf jeden Fall also ein in diesem Sinne synthetisches Resultat von vielen eidetischen Erkenntnissen (und diesen zugrunde liegenden immanenten Wahrnehmungen) darstellen. Man könnte versuchen zu behaupten, im ersten Fall liege eine eidetische Erkenntnis vor, die durch einen gerade aktuellen Akt der eidetischen Erkenntnis gewonnen und daher auch keinen Bedenken ausgesetzt sei, die aus der eventuell drohenden Unzuverlässigkeit der Akte der Erinnerung bzw. Reaktivierung von früher gewonnenen Erkenntnisergebnissen flößen. Im zweiten Fall dagegen handle es sich um eine eidetische Erkenntnis, deren Ergebnis gerade durch einen gewissen Vorbehalt eingeschränkt sei, nämlich durch den Vorbehalt, daß die Erinnerung bzw. die Reaktivierung von früher gewonnenen Ergebnissen und endlich auch die actualiter vollzogene Identifizierung der Ideengehalte miteinander auf korrekte Weise durchgeführt worden sein muß (d. h. daß bei keiner dieser Operationen Fehler begangen werden dürfen). Im Grunde genommen läuft jedoch auch der erste Fall auf den zweiten hinaus. Denn ein Erkenntnisergebnis, das sich auf den Gehalt einer Idee bezieht, hat für uns nur dann eine Bedeutung, wenn es sozusagen eine bleibende Errungenschaft darstellt, d. h. eine solche, die, einmal erworben, uns in jeder beliebigen späteren Zeit dienen und mehrmals als identisch dieselbe reaktualisiert werden kann. Dieses Ergebnis verweist also immer als auf seine begründende Basis - auf viele vergangene Akte eidetischer Erkenntnis zurück, unter nachträglicher Identifizierung des vergangenen Sinnes des Erkenntnisergebnisses mit dem aktuellen. Im zweiten Fall kommt jedoch der zusätzliche Umstand hinzu, daß dieses Erkenntnisergebnis selbst ursprünglich mit Hilfe vieler Akte eidetischer Erkenntnis der Ideengehalte gewonnen wird, während im ersten Fall dieses Ergebnis schon nach dem Vollziehen eines solchen Aktes gleichsam fertig da ist. Ich vergesse nicht die soeben berührten Probleme - die Probleme, die übrigens bei allen Erkenntnissen, mithin nicht nur bei den eidetischen (insbesondere bei der Ideation), sondern ebenso bei den empirischen Erkenntnissen

392

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

bestehen. Das sind aber Probleme, bei denen es auf die Klarlegung ankommt, welchen Erkenntniswert die Erkenntnisergebnisse überhaupt haben können, in Ansehung der Tatsache, daß sie - wenn wir sie in einer Theorie verwerten oder in der Praxis anwenden sollen - strenggenommen immer einen Rückgriff auf frühere Erkenntnisakte und deren Ergebnisse erfordern. 101 In den jetzigen Betrachtungen handelt es sich aber lediglich um die Frage, ob es eine Erkenntnis der Erkenntniserlebnisse und darin gewonnenen Ergebnisse gibt, die zu streng allgemeinen (d. h. nicht nur induktiv allgemeinen, statistisch gewonnenen) Resultaten führt. Ich glaube, auf diese Frage eine positive Antwort erarbeitet zu haben. Diese Antwort entspricht - meiner Meinung nach - den wesentlichen Tendenzen der analogen Betrachtungen E. Husserls, wenn er versucht, die Möglichkeit einer "eidetischen" Phänomenologie des reinen Bewußtseins nachzuweisen. Nur beschränke ich hier [erstens] meine Erwägungen ausschließlich auf die Aufklärung der Möglichkeit der eidetischen Erkenntnis des Gehaltes der Ideen der Erkenntniserlebnisse. Zweitens unterscheide ich diesen Fall deutlich von dem Erkennen und der Erkenntnis des Wesens der einzelnen, sich individuell abspielenden Erkenntniserlebnisse als gewisser endgültiger, individueller Wesenstatsachen, die sich nie wiedelholen und nur ein einziges Mal der direkten Erkenntnis zugänglich sein können. Das stimmt mit der hier konsequent durchgeführten Gegenüberstellung des Gehaltes der allgemeinen Ideen und des Wesens der individuellen Gegenstände überein. Demgemäß unterscheide ich also: a) die Ontologie der grundlegenden allgemeinen Erkenntnisideen und b) die angewandte Erkenntnistheorie oder - wenn man so sagen kann - die Metaphysik der Erkenntnis, worauf ich noch zurückkommen werde. 102 Wenn ich hier nur die Möglichkeit erwäge, die erkenntnistheoretischen Untersuchungen in einer Weise zu organisieren, die es gestatten würde, prinzipielle methodische Fehler zu vermeiden, habe ich keine Absicht, hier die spezielle Problematik zu entwickeln, an deren Lösung diese Theorie arbeiten sollte. 103 Man muß jedoch, wenn auch nur flüchtig, diese Teilgebiete oder

101

Ich werde auf dieses Problem noch zurückkommen.

102 Vgl. Die Stellung der Erkenntnistheorie im System der Philosophie [Ingarden (1925b), auch ι m in Ingarden (1994), S. 227-309], Ich bin übrigens der Ansicht, daß diese Problematik zur Problematik der Analyse des reinen Bewußtseins gehört, die Husserl in den Ideen I entwickelte, nur mit dem Unterschied, daß

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

393

Forschungsrichtungen von ihr erwähnen, bei denen Bedenken auftauchen können, ob die hier aufgewiesene Möglichkeit, in der Erkenntnistheorie die eidetischen Untersuchungen über den Gehalt der grundlegenden Erkenntnisideen zu verwenden, nicht auf irgendwelche Schwierigkeiten stoßen werde. Die Erkenntnistheorie muß mit ihrer Forschung nicht nur die Erkenntniserlebnisse (Akte) selbst und deren verschiedene mögliche Typen umfassen, sondern auch auf irgendwelche Weise die Erkenntnisgegenstände, Erkenntniskategorien und Erkenntnisergebnisse mit einbeziehen. Bisher war nur von den Erkenntnisakten die Rede, zu denen uns die immanente Wahrnehmung einen Zugang eröffnen und grundlegendes Material für die eidetische Erkenntnis des Gehaltes der Erkenntnisideen herbeischaffen kann. Wie kann man jedoch das Postulat erfüllen, demnach die [erkenntnistheoretischen] Untersuchungen sich auch auf die Erkenntnisgegenstände erstrecken sollen, wenn diese - wovon wir unsere Leser wohl schon überzeugt haben - unter die Klausel der Ausschaltung aller unserer Überzeugungen von ihrem Sein und Sosein (bzw. unter die Klausel der Ausschaltung der Gültigkeit der betreffenden Erkenntnisergebnisse) fallen sollen? 104 Wir dürfen uns wenigstens bis zu

sie bei ihm dazu dient, das Gebiet des reinen Bewußtseins als ein besonderes Seinsgebiet darzustellen, was für die Erkenntnistheorie keine Bedeutung hat. Wenn er die einzelnen Probleme entwickelt, gibt Husserl oftmals deren Lösungen an, in bezug auf welche ich mir hier eine weitgehende Zurückhaltung auferlegen möchte. Dieses Postulat, das ich für die Erkenntnistheorie anerkannt habe und das Husserl für die Forschungen der "reinen" Phänomenologie überhaupt als ein Mittel zur Aufschließung des Gebietes des reinen transzendentalen Bewußtseins aufgestellt hat, stößt gewöhnlich bei den Gegnern auf den lebhaftesten Widerstand und wird meistens als eine Abwendung von der Wirklichkeit, als ein angeblich schizoidales Symptom usw. verstanden. Einmal abgesehen davon, ob und in welchem Maße dieses Postulat in der Forschung anderer Disziplinen der Philosophie gerechtfertigt ist, ist es für die Erkenntnistheorie insofern unentbehrlich, als seine Ablehnung die Gefahr einer petitio principii mit sich bringt und seine richtig verstandene Befolgung die Hoffnung erweckt, diese Gefahr vermeiden zu können. Es hat übrigens mit der "Abwendung von der Wirklichkeit" oder irgendwelcher schizoidalen Haltung nichts zu tun. Wenn wir auf den ganzen philosophischen Wissenserwerb im XX. Jahrhundert schauen, fällt es uns auf, daß gerade die Phänomenologen einen solchen Bestand an Wissen von der "Wirklichkeit" zu erwerben vermochten, dessen sich andere Richtungen der Philosophie nicht rühmen können. Die Behauptungen Uber gewisse Gegenstände nicht benützen und sie in seinen eigenen Untersuchungen nicht voraussetzen heißt nicht - wie mir jemand

394

IV. Die Phänomenologie

des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse

und deren

Korrelate

einer gewissen Zeit auf keine, sogar sachlich und formal bestens begründeten Behauptungen über diese Gegenstände berufen, wie auch auf keine Behauptungen, die irgendwie positiv über das Wahrsein irgendwelcher der Behauptungen über die Gegenstände derjenigen Erkenntnis entscheiden, die in der Erkenntnistheorie zu untersuchen sind und deren Wahrheitswert darin zu beurteilen ist. Was bleibt uns jedoch, nachdem wir die erkenntnistheoretische

EPOCHE

durchgeführt haben? Sind es tatsächlich nur die Erkenntnisakte selbst, allein das Denken, Wahrnehmen, Behaupten, Zweifeln, Verneinen, Vergleichen, Entgegenstellen usw.? Überlegen wir. Angenommen, ich sehe jetzt vor mir eine Schreibmaschine, ein Blatt Papier, auf dem nach dem Anschlagen gewisser Tasten Umrisse von schwarzen Druckbuchstaben erscheinen. Das Sehen, Hören, Berühren, Empfinden der Kühle und der Gestalt der einzelnen Tasten beim Anfühlen, das Lesen der einzelnen Wörter usw. - das ist eine Reihe von Wahrnehmungsakten, die ich vollziehe. Infolge dieser Akte ist mir die Schreibmaschine selbst sowie das Blatt Papier, der Tisch, auf dem die Schreibmaschine steht, usw. gegenwärtig. Und ich bin - ohne darüber speziell nachzudenken - überzeugt, daß sich diese gesehenen Gegenstände in dem mich umgebenden Raum befinden, daß sie darin da sind und bleiben werden, wenn ich aufhöre zu schreiben und ins andere Zimmer übergehe, um mir das Bett zum Schlafen vorzubereiten. Daß die Dinge - sie selbst - gegenwärtig sind, das ist nicht gleichsam nur von mir gedacht: Sie selbst in allen ihren Qualifikationen, der Gestalt, der Farbe, der Härte, der Kühle, dem Sichbewegen und gleichzeitigen Hervorbringen des charakteristischen Geräusches der gegen die Schreibwalze schlagenden Metallettern - das alles erscheint mir "in seiner eigenen Person", im Original 105 , leibhaftig und in erfüllten Qualitäten, obwohl ich die ganze Schreibmaschine - ihre Rückseite, ihr Inneres usw. nicht sehe. Wenn ich meine Überzeugung suspendiere, daß diese Schreibmaschine und dieses Blatt Papier in Wahrheit existieren, dann ändert sich zwar

unlängst unterstellt hat - diese Behauptungen in Zweifel ziehen oder gar sie verwerfen und Behauptungen über die Nichtexistenz ihrer Gegenstände aufstellen. Vgl. dazu Husserl, Ideen I, § 31, S. 54 [Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 63], Diese Ausdrucksweise haben mehrfach Husserl und viele seiner Schüler, vor allem W. Schapp in Beiträge zur Phänomenologie

der Wahrnehmung

[Halle 1910], verwendet.

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

395

die Weise, wie ich mit der Schreibmaschine verkehre, etwas ändert sich in der Art, wie ich auf sie schaue und sie sehe, aber ihre Gestalt, ihre Farben, ihre Lage im Raum usw. zeigen sich mir so wie früher in deren ganzer konkreter Fülle. Ich verliere nichts von der Lebhaftigkeit der Farben, von der Deutlichkeit verschiedener Einzelheiten ihres Aufbaus, nicht einmal von dem oben geschilderten Charakter der Selbstgegebenheit im Original, "in der eigenen Person"; nur macht das alles auf mich einen "anderen Eindruck". Infolge der Suspendierung unserer Überzeugungen hat sich mein Verhalten dem gegenüber verändert, was mir in der Wahrnehmung gegeben ist: Indem ich diese [neue] Haltung einnehme, beziehe ich mich nicht auf die wirkliche Schreibmaschine und ihre wirkliche Umgebung, sondern nur auf den in der Wahrnehmung vermeinten Gegenstand, auf den - wenn man so sagen darf - nur vermeintlich existierenden Gegenstand, der, in der vollen Konkretheit seiner äußerlich zugänglichen Eigenschaften auftretend, für sich sozusagen das reale, von mir unabhängige, autonome Sein beansprucht. Dieser Anspruch macht sich gerade im anschaulichen Charakter der Seinsautonomie bemerkbar, die den in der Wahrnehmung dargestellten Gegenstand kennzeichnet und vom Perzeptor fordert, anerkannt zu werden. Ich kann diesem Anspruch auf das autonome oder faktische Sein nicht folgen, seine Richtigkeit oder Rechtfertigung in Zweifel ziehen, ihn sogar als ungerechtfertigt zurückweisen; ich kann aber nicht leugnen, daß ich den Sinn dieses Anspruchs auf das autonome Sein (der Forderung, [als solches] anerkannt zu werden) mir zum Bewußtsein bringen und - mehr noch - richtig verstehen kann oder sogar muß. Mit anderen Worten: Ich kann und muß diesen Charakter des autonomen Seins erfassen und verstehen, denn das bildet eine unentbehrliche Grundlage für alles Bezweifeln und Verwerfen der Existenz des Wahrgenommenen. Sogar nur schon um die neutrale Haltung der Urteilsenthaltung einzunehmen, muß man sowohl den Sinn dessen verstehen, was wir dem wahrgenommenen Ding zuschreiben, als auch, daß wir dies tatsächlich tun. Man soll jedoch nicht meinen, daß ich bei diesen Behauptungen gemäß der sog. "transzendentalen Methode" verfahre. Diese besteht darin, daß man um zu verstehen, wie ein gewisses Erkenntnisergebnis mit einem bestimmten Charakter (in dem hier betrachteten Fall [ist das] der anschauliche Charakter des autonomen Seins des wahrgenommenen Dinges, bei Kant dagegen die allgemeine Gültigkeit und apodiktische Natur der mathematischen Urteile)

396

IV. Die Phänomenologie

des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse

und deren

Korrelate

möglich ist - nur anzunehmen braucht, daß das Erkenntnissubjekt gewisse Erkenntnisfähigkeiten besitzt (bei Kant: die synthetische Erkenntnis a priori und die Bedingungen ihrer Möglichkeit: die apriorischen Anschauungsformen Raum und Zeit sowie die Kategorien). Nein, es handelt sich nicht um die Annahme dieser Art dogmatischer Voraussetzung. Ich möchte hier positiv behaupten, daß es möglich ist, den Sinn zu verstehen, in dem das wahrgenommene Ding das autonome Sein beansprucht, und zugleich, daß ein solches "Beanspruchen" im Inhalt des wahrgenommenen Gegenstandes tatsächlich auftritt. Eben dieser Anspruch bildet einen Ausgangspunkt zur Entfaltung der ganzen Problematik, ob und inwiefern diese Forderung, dem Gegenstand dieses [autonome] Sein zuzusprechen, innerhalb der Wahrnehmung selbst begründet ist und auf welche Weise es sich nachweisen ließe, daß die Entscheidung dieser Frage möglich ist. Die persönliche Selbstgegebenheit des Dinges im Original als ein eigentümlicher Charakter dieses vermeinten Gegenstandes tritt durch die Konkretheit und besondere Lebhaftigkeit der Anschaulichkeit hervor, mit der das Ding und seine Ausstattung sich in der Wahrnehmung zeigen, der Lebhaftigkeit, die ganz einzigartig ist und diese Anschaulichkeit auf prinzipielle Weise sogar von der lebhaftesten Anschauung der Gegenstände in der Phantasie unterscheidet. 106 Wir können diesen vermeinten, vermeintlich existierenden Gegenstand beschreiben und uns zum Bewußtsein bringen, als wie beschaffen er in der Wahrnehmung betrachtet oder angesehen wird. Diese Beschreibung, die - wie die Phänomenologen sagen - den Sinn des wahrgenommenen Gegenstandes als solchen expliziert, kann man so durchführen, daß man den [zu beschreibenden] Sinn in der ganzen Individualität des gegebenen Gegenstandes erfaßt, sie kann aber ebenfalls in der eidetischen Einstellung durchgeführt werden. Im letzteren Fall bezieht sie sich nur auf die allgemeine Struktur in specie des in einer Art von Wahrnehmung gegebenen oder vermeinten Gegenstandes. Insbesondere kann sie sich auf den existenzialen Charakter in specie beziehen, mit welchem solche Gegenstände gegeben sind, sie kann

H. Conrad-Martius hat diese wahrnehmungsmäßige Anschaulichkeit "unverdeckte Anschaulichkeit" genannt, im Gegensatz zu der "verdeckten" Anschaulichkeit, so wie sie für die Phantasievorstellung kennzeichnend ist. Vgl. H. Conrad-Martius, "Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt", Jahrbuch für Philosophie sche Forschung,

3 [(1916), S. 366].

und

phänomenologi-

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

397

sich auch auf die qualitative Ausstattung eines möglichen Gegenstandes sowie auf dessen Form beziehen. Diese auf Grund der individuellen Wahrnehmungen in specie gewonnene Beschreibung kann uns sozusagen Stoff zur Analyse des Gehalts der Idee des wahrgenommenen Gegenstandes bzw., bei weiterer Verallgemeinerung, des Erkenntnisgegenstandes überhaupt liefern. Die analytische Verdeutlichung des Sinnes des wahrgenommenen Gegenstandes überhaupt kann aber gleichzeitig und eng verbunden mit der analytischen Verdeutlichung (in individuo und in specie) der Weise durchgeführt werden, wie jener wahrgenommene Gegenstand dem wahrnehmenden Subjekt gegeben ist bzw. diesem gegeben sein kann. Denn sowohl der Charakter der Existenz (insbesondere der realen Existenz) und ihre effektive Natur als auch der Charakter der Selbstgegebenheit des wahrgenommenen Gegenstandes tritt in der Wahrnehmung dadurch zutage, daß dieser Gegenstand uns in konkreten Ansichten gegeben ist, die das Subjekt während der Wahrnehmung erlebt (Husserl sprach zuerst von "Aspekten", dann von "Abschattungen"). Wir sehen Dinge in "Ansichten", anders gesagt: in perspektivischen Verkürzungen, wenn es sich um die Erscheinung der "Gestalt" eines Dinges handelt, oder in verschiedenen "Abschattungen", wenn es um die Erscheinung der Farbe eines Dinges geht. 107 Die der von uns während des Wahrnehmens erlebten

107 So ist uns z. B. eine gleichmäßig rote Kugel (mit einer bestimmten Rotnuance) in der Gesichtswahrnehmung auf die Weise gegeben, daß wir eine Mannigfaltigkeit von verschiedenen, oft ineinander übergehenden Rotschattierungen erleben - die helleren auf dem Teil der Oberfläche, der der "Lichtquelle" zugewendet ist, die dunkleren auf dem Teil, der von der Lichtquelle abgewendet ist, mit mannigfachen verschiedenfarbigen Reflexen je nach den Farben der Umgebung, des Hintergrunds usw. Durch diese verschiedenen Abschattungen leuchtet gleichsam dieselbe Farbe hindurch, die uns als die einheitliche Färbung der Oberfläche der Kugel erscheint, und zugleich tritt die besondere Erscheinung des "Schattens" und/'Lichtes" oder der "Beleuchtung" der einheitlich gefärbten Kugel auf. Wenn wir diese Mannigfaltigkeit von verschiedenen Abschattungen erleben, sehen wir auch die einheitliche Färbung nicht einer uns zugewandten Fläche, sondern einer in unserer Richtung konvexen kugeligen Oberfläche. Auf diese Weise bewirkt diese Vielheit von Abschattungen nicht nur, daß eine bestimmte Farbe eines Dinges (der Kugel) erscheint, sondern sie bietet uns auch die Gestalt dieses Dinges - die Kugeligkeit - dar. Die in der von uns erlebten visuellen Ansicht auftretende größere Lebhaftigkeit der Farbe und größere Deutlichkeit der Lokalisierung der durch die Farbe zur Erscheinung gebrachten Oberfläche sowie die größere Schärfe der Umrisse erwecken den Eindruck einer größeren Nähe im Verhältnis zum Zuschauer, wobei natürlich die Größe des (kreisförmigen) Farbfleckes vor dem Hinter-

398

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate

Ansicht zugrunde liegenden, sich in der unverhüllten Anschaulichkeit ausbreitenden Qualitäten (die von den Psychologen so genannten sinnlichen Qualitäten) bewirken, daß als ein Wahrnehmungsdatum jene hier schon erwähnte Selbstgegebenheit des wahrgenommenen Dinges, dessen Realitätscharakter, auftritt. Wir können hier die Einzelheiten der (visuellen) Ansichten, deren Erleben bewirkt, daß uns ein materielles Ding gegeben ist, nicht weiter beschreiben. Die Hauptsache ist, daß man während des Wahrnehmens darauf aufmerksam werden kann, welchen Gehalt und welche Struktur die Ansicht besitzt, die wir gewöhnlich auf wenig bewußte Weise erleben. Indem wir darauf unsere Aufmerksamkeit richten, können wir uns gleichzeitig in die Einstellung auf das wahrgenommene Ding gleichsam zurückversetzen und uns zum Bewußtsein bringen, wie die von uns eben erlebte Ansicht es uns erlaubt, im wahrgenommenen Ding gerade diese und nicht andere seiner Merkmale oder Eigenschaften zu erblicken. Wir können uns auf diese Weise die Art der Funktion klar machen, die bestimmte Einzelheiten des Gehaltes der Ansicht ausüben, indem sie bestimmte Merkmale des wahrgenommenen Dinges zur Erscheinung bringen. Wir können uns das in concreto an einem Einzelfall (der eben erlebten Ansicht und des wahrgenommenen gegebenen Dinges bzw. dessen Eigenschaft) vor Augen führen, wir können das aber auch in der eidetischen Einstellung auf den allgemeinen Aufbau der erlebten Ansicht vollziehen und ihre Funktion, nämlich eine bestimmte Art von gegenständlicher Qualität des wahrgenommenen Gegenstandes zur Erscheinung zu bringen, in specie erfassen. Wir können schließlich nicht nur einen Akt des Sehens, des Wahrnehmens des gegebenen Dinges (der Schreibmaschine, der roten Kugel usw.) einfach vollziehen und eine Ansicht erleben, sondern auch den von uns vollzogenen Wahrnehmungsakt mit einem bestimmten Meinungsinhalt sowie die besondere Funktion des Erlebens der Ansicht in der immanenten Wahrnehmung reflexiv erfassen. Auf diese Weise kommen wir dazu, daß wir uns die

grund des Gesichtsfeldes eine entscheidende Rolle spielt. Je größer der Teil des Hintergrunds ist, der durch diesen kreisförmigen Fleck - mit einer beträchtlichen Schärfe des Umrisses und Deutlichkeit der durch die Farbe (die Mannigfaltigkeit von Abschattungen) gezeigten Oberfläche - bedeckt ist, desto deutlicher tritt in der Wahrnehmung die uns gegebene Nähe (für den Zuschauer) der sich darstellenden Kugel hervor usw.

§ 26. Die "eidetische" Erkenntnis und ihre Verwendung in der Erkenntnistheorie

399

ganze Wahrnehmungssituation (insbesondere die Situation des Sehens eines materiellen realen Dinges) zum Bewußtsein bringen (sie mit unserem Bewußtsein umgreifen), d. h. den Akt, das Erleben, die erlebte Ansicht und schließlich das intendierte wahrgenommene Ding als ein besonderes Phänomen, als eine mit anschaulichen Qualitäten ausgefüllte Erscheinung, die uns gleichsam selbst sagt, als was für ein Ding wir das ansehen sollen, was wir wahrnehmen. Wir können dies sowohl in der Einstellung auf diese einmalige Wahrnehmungssituation tun als auch die eidetische Einstellung einnehmen und die Wahrnehmungssituation einer bestimmten Art überhaupt in ihrer besonderen Struktur und ihrem Verlauf in specie erfassen. Wir können dabei im Laufe der Untersuchung unser Interesse und unsere Forschungsakte das eine Mal auf eine, ein anderes Mal auf eine andere dieser drei Forschungsrichtungen konzentrieren: auf den Akt, auf die Ansicht (ihren Gehalt und ihre Funktion) und auf den Gegenstandssinn (das Phänomen). Schließlich können wir uns bemühen, zu entdecken, welche funktionellen Abhängigkeiten oder Unabhängigkeiten zwischen diesen drei Faktoren der Wahrnehmungssituation bestehen. Dadurch können wir auf Grund einer individuellen Dingwahrnehmung, die in der immanenten Wahrnehmung erfaßt wird, unter bewußter Berücksichtigung des Gegenstandssinnes und der Ansicht, in welchen der Gegenstand gegeben ist, eine eidetische Erfassung der ganzen Wahrnehmungssituation in deren ganzem kompliziertem Aufbau und Verlauf durchführen und auf diese Weise einen Ausgangspunkt zur Analyse des Gehaltes der Idee der Sinneswahrnehmung (oder einer anderen Erkenntnis) gewinnen. Ich kann hier auf Einzelheiten der sich damit eröffnenden Probleme nicht eingehen. Das würde die Durchführung eines Teils der Betrachtungen der Erkenntnistheorie selbst erfordern, zu der wir hier nur einen Weg suchen. Hier reicht es vorläufig aus, daß es uns - wie ich glaube - gelungen ist, auf diesen Weg und auf die Weise hinzuweisen, wie man unter Verwendung der eidetischen Erkenntnis der Gehalte von Erkenntnisideen auf Grund der immanenten Wahrnehmung der Erkenntnisakte und unter gleichzeitiger bewußter Berücksichtigung der ganzen Erkenntnis- und insbesondere Wahrnehmungssituation über die einfache deskriptive Phänomenologie der Erkenntniserlebnisse hinausgehen kann. Eine wesentliche Ergänzung, nämlich wie man das Problem der Objektivität einer Erkenntnis stellen kann und soll, wenn man

400

IV. Die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse

und deren Korrelate

nur über eine eidetische Analyse des Gegenstandssinnes verfügt bzw. über eine Analyse eines solchen Sinnes in concreto, werde ich erst liefern können, nachdem ich noch gewisse andere Punkte besprochen habe. Das hier gewonnene Ergebnis beseitigt nämlich nicht - wie sich bald zeigen wird - alle Schwierigkeiten und Gefahren, auf die wir bei der Realisierung der Erkenntnistheorie stoßen. Ich werde bald dazu übergehen. Hier muß ich aber noch einmal einen Einwand deutlich zurückweisen, der so oft gegen alle diejenigen vorgebracht wurde, die versucht haben, die Möglichkeit einer anderen Art des Erkennens und der Erkenntnis zu befürworten als allein die sog. empirische Erkenntnis. Wenn wir [nämlich] hier auf die Möglichkeit der eidetischen Erkenntnis der Gehalte von verschiedenen (mehr oder weniger allgemeinen) Erkenntnisideen hinweisen, fordern wir weder dazu auf, irgendeine "Erkenntnis a priori", die "vor aller Erfahrung" käme, zustande zu bringen noch alle Ergebnisse der empirischen Erkenntnis welcher Art auch immer a limine zu verwerfen, noch schließlich jede Erfahrungsgewinnung in einem beliebigen Seinsgebiet aufzugeben. Wir fordern damit vielmehr dazu auf, im Gegenteil alle Arten von Erfahrung zu gewinnen und zu vervollkommnen (zu verfeinern, aufzuklären und zu vertiefen) und den dadurch gelieferten Erkenntnisstoff dafür zu verwerten, um 1) die Überzeugungen von der sog. Wahrheit oder "Objektivität" der Ergebnisse der Erfahrung zu suspendieren (und zwar bis zu einer gewissen Zeit) und 2) um eine neue (im Verhältnis zur Erfahrung) Erkenntnisweise aufzunehmen, deren Natur ich hier aufzudecken versucht habe, indem ich nur gewisse Gedanken Husserls zu diesem Thema entwickelt und vielleicht präzisiert habe (auf andere Probleme im Zusammenhang mit Husserls "Wesensschau" in Anwendung auf die Erkenntnistheorie werde ich noch zurückkommen). 108

1 QO

[In der polnischen Ausgabe folgte hier der Absatz: "Von den Schwierigkeiten, die wir noch bewältigen müssen, drängt sich zunächst noch einmal der mögliche Einwand des Fehlers einer petitio principii in der Erkenntnistheorie auf. Um diesen Einwand zu erwägen, werde ich mich meiner früheren Abhandlung zu diesem Thema bedienen, die - wie ich glaube ihre Gültigkeit noch bewahrt hat und nur wenige kleine Verbesserungen erfordert." Vgl. dazu Einleitung, S. XVI, Anm. 9.]

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Herausgegeben von Rolf Fieguth und Guido Küng

Band 7.2

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Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie 2. Teil: Ergänzende Texte Herausgegeben und übersetzt VWodzimierz Galewicz

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ingarden, Roman: Gesammelte Werke / Roman Ingarden. Hrsg. von Rolf Fieguth und Guido Küng. -Tübingen : Niemeyer. NE: Fieguth, Rolf [Hrsg.]; Ingarden, Roman: [Sammlung] Bd. 7. Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie / hrsg. und übers, von Wtodzimierz Galewicz. Teil 2. Ergänzende Teile. - 1996 NE: Galewicz, Wtodzimierz [Hrsg.] ISBN 3 - 4 8 4 - 6 4 1 0 7 - X ® Max Niemeyer Verlag GmbH Et Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Weihert-Druck, Darmstadt Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Roman Ingarden, Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie Inhalt des 1. Halbbandes Vorwort Einleitung des Herausgebers

.

XI XIII

§ 1. Einleitende Bemerkungen § 2. Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Gebietes der Erkenntnistheorie

3

Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie 1. Teil: Das Werk

I. Die psychophysiologische Erkenntnistheorie § 3. Einführung in das Problem § 4. Die vorepistemologischen Überzeugungen und die Geburt des Erkenntnisproblems § 5. Das Untersuchungsobjekt und das Ziel der psychophysiologischen Erkenntnistheorie § 6. Die Voraussetzungen der psychophysiologischen Erkenntnistheorie

6 21 21 25 35 40

II. Kritik der psychophysiologischen Erkenntnistheorie 48 § 7. Einige Einwände gegen die Bestimmung ihres Forschungsgebietes 48 § 8. Das Problem der Erkenntnis der Dinge der materiellen Welt auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie... 57 § 9. Die Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung des vollständigen Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie 69 § 10. Eine allgemeine Charakterisierung der Weisen, wie auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie die Lösung des Objektivitätsproblems der sinnlichen Wahrnehmung begründet wird 78

VI

Inhaltsverzeichnis

§11. Die Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie § 12. Kritik der Begründung des kritischen erkenntnistheoretischen Realismus auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie § 13. Der Übergang zum erkenntnistheoretischen Idealismus § 14. Der Standpunkt des erkenntnistheoretischen Idealismus und seine Begründung auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie. Kritik § 15. Der realistische Skeptizismus und seine Kritik § 16. Die pragmatistische Lösung des Problems der Objektivität der Wahrnehmung (allgemeiner: der Erkenntnis) und ihre Kritik § 17. Erkenntnisbeziehung und Kausalzusammenhang § 18. Das Problem von der Erkenntnis der Objekte der Mathematik auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie. § 19. Das Problem der Erkenntnis der eigenen psychischen Erlebnisse auf dem Boden der psychophysiologischen

79

90 149

151 156

158 175 189

Erkenntnistheorie 217 § 20. Ergebnisse der Kritik der psychophysiologischen Erkenntnistheorie 222 III. Zweiter Bestimmungsversuch des Forschungsgebietes der Erkenntnistheorie. Die deskriptive Phänomenologie der Bewußtseinseriebnisse und deren Korrelate 231 § 21. Schwierigkeiten bei der neuen Bestimmung des Forschungsgebietes der Erkenntnistheorie 231 § 22. Der Erkenntnisakt und der psychische Prozeß als Erscheinung des Lebens des psychophysischen Individuums 233 § 23. Das Erkenntnissubjekt und der erkennende Mensch 252 § 24. Die Bestimmung des Forschungsgebiets der deskriptivphänomenologischen Erkenntnistheorie und ihrer Methode 261 § 25. Einwände gegen die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie 263

Inhaltsverzeichnis

VII

a) Der Einwand einer zu engen Bestimmung ihres Forschungsgebiets 263 b) Der Einwand einer zu einseitigen Verstehensweise der Forschungsmethode der deskriptiv-phänomenologischen Erkenntnistheorie 265 c) Kann die phänomenologische deskriptive Erkenntnistheorie eine Wissenschaft sein, die eine Kritik des Wertes aller wissenschaftlichen und philosophischen Erkenntnis möglich macht? 268 IV. Die Erkenntnistheorie als die Phänomenologie des "Wesens" der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate 275 § 26. Das Problem der "eidetischen" Erkenntnis und ihrer Verwendung in der Erkenntnistheorie 275 a) Die Erkenntnis a priori bei Kant und die Erkenntnis a priori nach Husserl 277 b) Worauf kann sich die "eidetische" Erkenntnis beziehen? 297 c) Die Erkenntnis der idealen Qualitäten (reinen Spezies) 322 d) Analyse der Erkenntnis der Ideengehalte 362

Vili

Inhaltsverzeichnis

Roman Ingarden, Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie Inhalt des 2. Halbbandes Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie 2. Teil: Ergänzende Texte I. Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie. Unvollendete Fortsetzung des ersten Teils (1971) Ingardens Gliederungsentwurf für den 2. Teil Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie, 2. Teil § 29. Verschiedene Gruppen von Problemen der Ontologie der Erkenntnis § 30. Die Erkenntniskategorien II. Ergänzende Texte aus früheren Redaktionen A. Fortsetzungsteil der 1. Redaktion (1926) § 9. Das Verhältnis zwischen dem Erkennen und dem Erkenntnisgegenstand § 10. Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der erkenntnismäßigen Bewußtseinserlebnisse. Die Gruppen von Problemen

403 405 405 443

461 461

484

B. 2. Teil der Redaktion II/III (1931^16?) 540 IV. Kapitel: Die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie und ihre Kritik 540 § 20. Die Bestimmung des Forschungsgegenstandes und der Methode dieser Theorie 540 § 21. Einwände gegen die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie 541 V. Kapitel: Die apriorisch-phänomenologische Erkenntnistheorie... 556 § 22. Über die apriorische Erkenntnis, die Ideen und das Wesen des Gegenstandes 556 § 23. [die Erkenntnistheorie als Phänomenologie des Wesens der Erkenntnisbeziehungen sowie deren Elemente und die Erkenntnistheorie als Ontologie der Erkenntnisideen] 586

Inhaltsverzeichnis

IX

§ 24. Die Kritik der Erkenntnistheorie als phänomenologischer Theorie des Wesens der Erkenntnisbeziehungen und deren Elemente 588 § 25. Die Erkenntnistheorie als Ontologie der Erkenntnisideen. Die reine Erkenntnistheorie und die Metaphysik der Erkenntnis (die angewandte Erkenntnistheorie) 592 § 26. Das Problem der Objektivität der sinnlichen Wahrnehmung auf dem Boden der phänomenologischen angewandten Theorie der Wesenserkenntnis 597 C. Kleinere Fragmente 619 Aus der II. Redaktion (1932-38) 619 Fragment 1: [Zur Erkenntnis des eigenen Leibes] 619 Aus der IV. Redaktion (1947/48) 636 Fragment 2: § 17. Die Postulate, die bei einem neuen Bestimmungsversuch des Gegenstandes der Erkenntnistheorie zu erfüllen sind.. 636 Fragment 3: [Die innere Erfahrung und die immanente Erfahrung] 638 Fragment 4: § 20. Das reine Subjekt und das psychophysische Individuum (insbesondere die menschliche Person) 649 Fragment 5: [Die Notwendigkeit der phänomenologischen Reduktion in der Erkenntnistheorie] 654 Anhang 1. Quellenangaben und editorische Richtlinien 2. Literaturverzeichnis 3. Personenregister

657 663 667

Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie 2. Teil: Ergänzende Texte

403

I. Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie Unvollendete Fortsetzung des ersten Teils (1971) 1 Ingardens Gliederungsentwurf für den 2. Teil § 29. Verschiedene Gruppen von Problemen der Ontologie der Erkenntnis a)

Analyse des Gehalts der allgemeinsten obersten Erkenntnisidee

b) Analyse des Gehalts von einigen weniger allgemeinen Erkenntnisideen, an Beispielen; 1. im Hinblick auf das Erkenntnissubjekt, 2. im Hinblick auf den Erkenntnisgegenstand, 3. im Hinblick auf die Erkenntnisweise usw. Ist es eine reine Analyse oder hat daran ein empirischer Faktor teil? § 30. Erkenntniskategorien in Gegenüberstellung zu Seinskategorien a)

das Erkenntnissubjekt in Gegenüberstellung zum Subjekt von Merkmalen, zum Subjekt des Handelns usw.

b) der Erkenntnisgegenstand in Gegenüberstellung zum "Seienden" c)

Erkenntnisakt und Erkenntnisoperation

d) Erkenntniserzeugnis - Erkenntnisergebnis e)

Erkenntniswert

f)

"Erkenntnis" - Wahrheit? - "Objektivität" ?

g) Adäquatheit - Vollständigkeit - Unvollständigkeit h) Transzendenz - Immanenz i)

Sicherheit - Unsicherheit - Wahrscheinlichkeit

§ 3 1 . Angewandte Erkenntnistheorie in bezug auf einen faktisch gegebenen Gegenstand - Erkenntnis"kritik" - eidetische Erforschung des Wesens vom tatsächlich vollzogenen Erkennen. Allgemeine Formulierung der Probleme. Ausgewählte Beispiele zur Illustrierung der Problematik. § 32. Von der Idee der "Objektivität" a) ontisch, b) epistemologisch § 33. Die Formulierungsweise des Objektivitätsproblems (epistemologisch betrachtet) § 34. Das Problem der Kriterien der Objektivität. Das Problem der Konstitution

[Der vorliegende Text der unvollendeten Fortsetzung des 1. Teils von Zur Grundlegung stützt sich auf das im Ingarden-Archiv in Krakau aufbewahrte Manuskript, das auch die Grundlage für die polnische Ausgabe in Ingarden (1995) abgegeben hat.]

404

Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie, 2. Teil

§ 35. Erkenntnisakte in der konkreten qualitativen Zeit. Der Erkenntnisakt im ursprünglichen Sichabspielen (Ur-Impression bei Husserl). Die Teilnahme der Erinnerung sowie des Voraussehens am Erkenntnisprozeß. Das Problem der Identität des Erkenntnisaktes und des Erkenntnisergebnisses im Laufe der Zeit (über-zeitlich?). Die Möglichkeit, das Wesen des sich faktisch abspielenden Erkennens (der Erkenntnisoperationen) trotz des Vergehens in der Zeit eidetisch zu erkennen § 36. Das Problem der Intersubjektivität, die Gültigkeit der Erkenntnis für andere, die Teilnahme von vielen Subjekten am Erkennen (die sog. "gesellschaftliche" Erkenntnis?). Die Erkenntnis des Fremdpsychischen im Zusammenhang mit der Möglichkeit der Intersubjektivität der erkenntnistheoretischen Erkenntnisse § 37. Abschluß. Was ungeklärt und zweifelhaft geblieben ist und eine Nachprüfung erfordert

Probleme der Ontologie der Erkenntnis

405

Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie 2. Teil

§29. Verschiedene Gruppen von Problemen der Ontologie der Erkenntnis Die beiden in die vorliegenden Betrachtungen eingefügten Aufsätze 2 haben drei Resultate erbracht, die für die weiteren Untersuchungen von Wichtigkeit sind: 1) Es hat sich die prinzipielle Möglichkeit eröffnet, die Gefahr einer petitio principii in der Erkenntnistheorie abzuwenden, 2) die reine Erkenntnistheorie wurde von weiteren erkenntnistheoretischen Problemen abgegrenzt, 3) es wurde die Stellung der Erkenntnistheorie gegenüber den übrigen philosophischen Disziplinen und gegenüber den Einzelwissenschaften bestimmt. Dadurch wurde die ziemlich allgemein verbreitete Behauptung in Zweifel gezogen, die Aufgabe der Erkenntnistheorie sei die Begründung der Erkenntnisergebnisse aller übrigen Wissenschaften; in Wirklichkeit kommt es nur auf die Ermittlung ihres Erkenntniswertes an, was zwar in gewissen Fällen eine größere Sicherheit dieser Ergebnisse verschaffen, aber ihren Wert, z. B. die Wahrheit, nicht vervollkommnen kann. Das erlaubt es uns, gewisse Gefahren aus dem Wege zu räumen, denen die (übrigens entsprechend verstandene) Erkenntnistheorie ausgesetzt wäre, wenn sie sich gerade jene "Begründung" aller anderen Wissenschaften zur Aufgabe machen würde. Ich komme darauf noch weiter unten zurück. Jetzt muß man aber noch eine Reihe von Fragen erörtern, die uns entgegentreten, nachdem wir schon einen Einblick in die Problematik und die Aufgaben der reinen Erkenntnistheorie als Ontologie der Erkenntnis sowie in die Möglichkeit ihres Betreibens gewonnen haben, nämlich dadurch, daß wir den Sinn und die Möglichkeit der eidetischen Erkenntnis von Ideengehalten aufgewiesen haben. Es gilt hier vor allem, darauf aufmerksam zu machen, daß

[Es handelt sich hier wohl um die Aufsätze: "Über die Gefahr einer petitio principii in der Erkenntnistheorie" (vgl. Ingarden 1921a) und "Über die Stellung der Erkenntnistheorie im System der Philosophie" (vgl. Ingarden 1925b), die Ingarden eine Zeitlang als Paragraphen 27 und 28 der von ihm geplanten Ausgabe aufnehmen wollte; vgl. dazu die Einleitung des Herausgebers, S. XVI.]

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Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie, 2. Teil

innerhalb der Ontologie der Erkenntnis selbst drei Gruppen von Problemen sich herausheben, deren Verschiedenartigkeit gewisse Unterschiede in ihrem Erkenntnischarakter oder in ihrer Lösungsweise nach sich zieht. Auf eine zentrale Gruppe von Problemen der reinen Erkenntnistheorie deutet die Frage, welchen Gehalt die allgemeinste oder, wie ich mich im vorigen Paragraphen ausgedrückt habe, "oberste"3 Erkenntnisidee4 besitzt. Diese Idee - die sich weder als die Idee der Erkenntnis noch als die des Erkennens [adäquat] charakterisieren läßt, weil zu ihrem Gehalt beide Aspekte gehören bestimmt den weitesten Bereich aller (zunächst vage gesagt) Erkenntnis"komplexe", deren Elemente, die verschiedene Stufen von Allgemeinheit aufweisen, noch sehr unterschiedlich sein können. Diese "Komplexe" sind vor allem dadurch gekennzeichnet, daß sie sich dann bilden, wenn zwischen ihren Bestandteilen eine spezielle Beziehung eintritt, die ich "Begegnung" nenne. Es handelt sich dabei um eine Begegnung von mindestens zwei Elementen, von denen eines ein bewußtes Subjekt5 sein muß und das andere irgend etwas sein kann. Daß das Subjekt einfach ein bewußtes ist, reicht aber noch nicht aus dafür, daß es ein etwas erkennendes Subjekt sein kann. Sein Bewußtsein muß dazu - wie man sich oft ausdrückt - "offen" sein, und zwar

[Ingarden beruft sich hier auf seine Abhandlung Über die Stellung der Erkenntnistheorie im System der Philosophie, wo er der Erkenntnistheorie die Aufgabe zuweist, "den Gehalt der allgemeinen regionalen Idee der Erkenntnis überhaupt zu erforschen" (S. 4). Er knüpft dabei an die polnische Fassung dieser Abhandlung an, in der dem Husserlschen Terminus "regionale Idee" (vgl. die nächste Anmerkung) der Ausdruck "naczelna idea" (oberste Idee) entspricht.] Husserl verwendete bekanntlich den Terminus "regionale" (d.h. eine Region bestimmende) Idee. [Vgl. E. Husserl, Ideen I, S. 19 ff. (Husserliana Π/1, hrsg. von K. Schuhmann, S. 23 ff.).] Ich möchte dadurch betonen, daß, wenn an die Stelle des bewußten Subjekts eine Maschine gesetzt würde, die gewisse Tatsachen registriert oder sogar deren logische Konsequenzen ableitet, diese Maschine dann trotzdem kein Erkenntnissubjekt wäre. Und weder würde das, was sich in dieser Maschine abspielte, ein Erkennen ausmachen, noch wäre das, was sie z.B. in Form von mit Zeichnungen oder Löchern versehenen Papierstreifen - liefern könnte, eine Erkenntnis sensu stricto. Es wäre dann nur ein physischer Prozeß vorhanden, der eine Folge des Zusammentreffens gewisser Dinge, Prozesse oder Ereignisse mit jener registrierenden Maschine ausmachen würde, und jener perforierte Papierstreifen wäre nur ein physisches Ding, das Wirkungsspuren von den in der Maschine verlaufenden physischen Prozessen tragen würde.

Probleme der Ontologie der Erkenntnis

407

nicht allein, wie man gewöhnlich sagt, für seine eigenen "Inhalte", sondern auch für etwas anderes. Das Subjekt muß gleichsam einen Zugang zu etwas besitzen, was von ihm selbst und seinen Erlebnissen verschieden ist. Und bei der Gewinnung dieses Zugangs kommt gerade die "Begegnung" des Subjekts mit etwas anderem zustande. Man kann vielleicht besser verstehen, worum es sich dabei handelt, daß man das Bewußtsein als "offen" für etwas beschreibt, wenn man zum Kontrast eine Ansicht heranzieht, die für mehrere Jahre im Denken der Erkenntnistheoretiker herrschend wurde, und zwar sowohl deijenigen, die von den englischen Empiristen (Locke, Berkeley, Hume) herkamen, als auch der Rationalisten im Stile von Leibniz, die von der "fensterlosen Monade" sprachen. Von den ersteren wurde ein breit vertretener Satz aufgestellt, der im Deutschen manchmal als "Satz des Bewußtseins" bezeichnet wird. Dieser besagt, das bewußte Subjekt sei gleichsam eingeschlossen im Käfig seines eigenen Bewußtseins, das als "Ideen", d. h. als gewisse "Inhalte" verstanden wurde. Allein diese - wie man behauptete - könnten "perzipiert" werden, und zu dem, was ein Ding selbst oder z. B. ein anderer Mensch sei, könnten wir nie vordringen. Der Protest Thomas Reids 6 , der betonte, daß uns nicht unsere "Ideen", sondern die Dinge gegeben sind, sollte gerade diese von vielen Erkenntnistheoretikern oder auch Psychologen vertretene "Überzeugung" vom Eingeschlossensein des Subjekts in der Sphäre seiner eigenen "Ideen" (eine Überzeugung, an die im Alltagsleben und in der täglichen Praxis sonst niemand glaubt und die einem nicht einmal in den Sinn kommt) überwinden. Die These, wonach das Erkenntnissubjekt "offen" sein soll, stellt sich sowohl der Konzeption der "fensterlosen Monade" 7 als auch jenem "Satz des Bewußtseins" entgegen. Sie besagt, daß das Erkenntnissubjekt als solches einen unmittelbaren Zugang zu Entitäten besitze, die von ihm selbst (von seinem Ich) verschieden seien. Sogar die Vertreter der Theorie vom Eingeschlossensein des Subjekts in der Sphäre seiner eigenen "Ideen" ("Inhalte") gestehen ihm ja eine "Offenheit" oder Empfänglichkeit für etwas von seinem eigenen Ich Verschiedenem zu. Es sei nämlich für seine eigenen "Ideen" ("Inhalte") "offen". Würde dem Subjekt sogar solche "Offenheit" aberkannt, könnte dieses nicht einmal seine eigenen Ideen erkennen; es könnte überhaupt 6

[Vgl. Thomas Reid, Essays on the intellectual powers of man, Edinbourgh 1785.]

7

[Vgl. E. Husserl, Méditationes Cartésiennes: introduction à la phénoménologie Gabrielle Peifferet Emmanuel Lévinas), Paris 1931, § 33.]

(trad, par

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Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie, 2. Teil

kein Erkenntnissubjekt sein. Daß es das aber kann, wird von niemandem verneint. Den hier erwähnten Erkenntnistheoretikern geht es also nicht darum, dem bewußten Subjektjede "Offenheit" abzustreiten, sondern nur darum, diese "Offenheit" auf seine eigenen "Inhalte" zu beschränken. Die These von der so gearteten "fensterlosen Monade" hat jedoch gar keine Begründung. Eines ist sicher: Soll das Erkenntnissubjekt irgend etwas anderes als sich selbst und seine eigenen "Ideen" erkennen, dann muß ihm jene "Offenheit" für alle Entitäten zuerkannt werden, die zu Gegenständen seines Erkennens und der von ihm gewonnenen Erkenntnis werden sollen. Erst dann kann das zustande kommen, was ich hier die erkenntnismäßige "Begegnung" genannt habe. Diese "Begegnung" soll - in allen ihren möglichen Spielarten - derart sein, daß sich darin das realisiert, was ich früher "Erkenntnisbeziehung" genannt habe und näher aufzuklären versuchte.8 Eines der Glieder dieser Beziehung muß ein Subjekt mit "offenem" Bewußtsein sein; dieses Subjekt darf zudem nicht ganz beliebig qualifiziert und irgendwie existierend sein, sondern es muß solcherart sein, daß es sich gegenüber dem zweiten Glied der Beziehung auf eine besondere Weise verhalten kann. Diese Besonderheit besteht darin, daß in seinem Bewußtseinsverhalten zwei verschiedene Faktoren auftreten müssen, die auf den ersten Blick einander entgegengesetzt sind, bei näherem Hinsehen aber sich ergänzen und zueinander in Abhängigkeit stehen. Einer der beiden ist ein scheinbar passives, "rezeptives" Verhalten, der andere dagegen ein "aktives". Diese Aktivität wie diese Rezeptivität sind jedoch von einer besonderen Art. Das erste [Verhalten] besteht im "Empfinden von etwas" und im Verstehen des Empfundenen; das zweite darin, daß einem Gegenstand eine Eigenschaft oder eine Struktur und zugleich eine Seinsweise zugeschrieben wird. Dieses "aktive" einem Gegenstand Zuschreiben von etwas muß aber, wenn es zu einer Erkenntnis dieses Gegenstandes kommen soll, dergestalt sein, daß es das eigene Sein und Sosein dieses Gegenstandes in keiner Weise antastet, und jenes "Rezipieren", "Empfinden" darf diesem Gegenstand nichts entziehen. Sollen also die beiden Tätigkeiten des Subjekts ihre eigentliche Funktion ausüben, dann können sie ins Sein und Sosein des Gegenstandes, auf den sie sich beziehen, keine Störung bringen.

Vgl. oben § [17. Die Erkenntnisbeziehung und der Kausalzusammenhang],

Probleme der Ontologie der Erkenntnis

409

Dennoch erwirbt gleichsam das empfindende Subjekt etwas vom Gegenstand, den es empfindet oder versteht. Es erwirbt ein Wissen davon, wobei dieses Erwerben gerade im Empfinden erfolgt und dieses "Wissen" im Besitzen einer Art von "Kenntnis" über das Sein und die Eigenschaften dieses Gegenstandes besteht. Das Subjekt muß [diese Kenntnis] verstehen, muß sich dessen bewußt sein, was es vom Gegenstand im Empfinden erfahren hat, damit es dem Gegenstand, von dem es dieses Wissen geschöpft hat, das und nur das zuschreibt, was es von ihm erfahren hat. Auf diese Weise verfahrend, wird das Subjekt, ungeachtet seiner Aktivität, am Sein und Sosein des Gegenstandes weder etwas ändern noch etwas hinzutun, noch etwas von dem, was es schon gewonnen hat, auslassen. Das "Zuschreiben" erfüllt dann und nur dann seine eigentliche Funktion, wenn das dem Gegenstand Zugeschriebene genau dasselbe ist, was ihm selbst innewohnt, ihn charakterisiert und in ihm gerade in dem Sinne existiert, in dem es ihm zugeschrieben wird. Wenn das gelingt, dann wird im komplexen Prozeß des Empfindens und Zuschreibens ein gewisses Erkenntnisergebnis (ein "Wissen") gewonnen, das eine (zumindest partielle) "Erkenntnis" des Gegenstandes ausmacht, mit dem eine Begegnung stattgefunden hat. Die Funktion, einem Gegenstand etwas zuzuschreiben, ist an sich nicht solcherart, daß es immer gelingen müßte, [dadurch] eine Erkenntnis zu gewinnen. Sie kann dem Gegenstand gerade etwas zuschreiben, was ihm völlig fremd ist und was ihm, einmal ihm zugeschrieben, ebenfalls nur scheinbar einen Zug verleiht, der aber dem Gegenstand selbst gar nicht zukommt, obwohl er ihm zugewiesen wird. Diese Gefahr liegt besonders dann vor, wenn das Zuschreiben sich ohne Zusammenhang (oder auch ohne vollen Zusammenhang) mit dem abspielt, was das Subjekt vom gegebenen Gegenstand empfunden und was es daran oder davon auf Grund dieses Empfindens verstanden hat. Wenn dieser Zusammenhang erhalten bleibt, besteht die Möglichkeit, daß das Zuschreiben gerade auf die gekennzeichnete Weise erfolgt. Dann ist das aber auch nicht notwendig, denn man weiß nicht, ob das Empfinden, "Rezipieren" von etwas am Gegenstand sich auf das beschränkt, was der Gegenstand selbst dem Subjekt von sich zu empfinden erlaubt, oder ob in

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Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie, 2. Teil

diesem Empfinden etwas vom Gegenstand eine Verfälschung erfährt. 9 Man weiß auch nicht, ob das, was das Subjekt vom Gegenstand empfunden hat, richtig verstanden wird und überhaupt in welchem Verhältnis diese beiden verschiedenen Seiten der Rezeptivität zueinander [tatsächlich] stehen oder stehen können. Wenn verschiedene Bestandteile dieser komplizierten Verhaltensweise des Subjekts miteinander verknüpft und durch die Tendenz motiviert sind, sich dem Gegenstand anzupassen, wenn das ganze Verhalten in gleichsam zyklischer Weise verläuft, d. h. im Empfinden vom Gegenstand ausgeht und über das Verstehen und Zuschreiben zu diesem zurückkehrt, um ihm genau das zuzuschreiben, was ihm zukommt: dann kulminiert die ganze Begegnung des Subjekts mit dem Objekt in einem Wissen, von dem wir sagen, daß das Subjekt [hiermit] eine "Erkenntnis" des gegebenen Objekts gewonnen habe. Man könnte sagen, daß in der Erkenntnisbeziehung zwischen dem Subjekt und dem Objekt ein gewisser Dialog vonstatten geht, nur daß eines der beiden, nämlich das Objekt, dem Subjekt nichts aktiv sagt, sondern ihm nur erlaubt, sozusagen eine Kenntnis von sich selbst zu nehmen, und das andere, nämlich das Subjekt, diesem Objekt solcherweise antwortet, daß es ihm das und nur das zuschreibt, was es von ihm rezeptiv zu verstehen vermochte. Wenn wir uns auf diese Weise bemühen, darüber ins klare zu kommen, was in einer Erkenntnisbegegnung stattfindet, dann stoßen wir sofort auf eine Komplikation im Verhalten des Subjekts, dem Verhalten, an dem - wie es scheint - auch die hier aufgezählten Faktoren notwendig teilnehmen müssen. Ihr Vorhandensein bildet also eine Konstante im Gehalt der Idee der Erkenntnisbegegnung. Man sieht zugleich, daß sowohl diese einzelnen Bestandteile des Verhaltens des Subjekts als auch ihre gegenseitigen Verhältnisse sich noch unterschiedlich gestalten können. Das alles macht somit im Gehalt dieEs ist Uberhaupt eine schwierige Frage, wie man das entdecken und eventuell berichtigen könnte. Man kann aber diese Möglichkeit nicht im voraus dadurch ausschließen, daß man einfach erklärt, daß das "Empfinden" kein rein rezeptives Empfinden mehr wäre, wenn es zugleich eine Verfälschung ausmachen würde. Man müßte entweder außer einem echten Empfinden vielleicht ein verfälschendes (transformierendes) Empfinden annehmen oder auch eine noch andere Form von "rezeptivem" Erkenntnisverhalten des Subjekts, die - wie das z.B. alle psychophysiologischen Theorien der "Sinnesempfindungen" lehren - eine Form der Transformierung der gegenständlichen "Reize" in die im Empfinden auftretenden Qualitäten wäre.

Probleme der Ontologie der Erkenntnis

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ser Idee gewisse Veränderliche aus, deren Veränderlichkeitsbereich und [gegenseitige] Verhältnisse noch einer eidetischen Aufklärung bedürfen. Man kann aber die Frage stellen, ob im Gehalt der Idee des Erkenntnissubjekts nicht noch irgendwelche weiteren Veränderlichen und Konstanten auftreten, die zu beachten und aufzuklären wären. Insbesondere kann man sich fragen, ob in der allgemeinen Idee des Erkenntnissubjekts eine Konstante auftritt, [die bestimmt,] daß von ihm ausschließlich mannigfaltige Erkenntniserlebnisse vollzogen werden können, oder ob außer derartigen Erlebnissen noch solche ganz anderer Art - und gegebenenfalls welcher - vorkommen können oder müssen. Es kommen also z. B. emotionale Erlebnisse, Gefühle, Wünsche oder Aversionen wie auch vielfältige Willensakte in Frage. Es handelt sich aber nicht darum, ob im ersten Fall das Erkenntnissubjekt dadurch gleichsam ärmer gemacht würde, daß es keine anderen Bewußtseinsakte vollzöge. Es geht vielmehr darum, ob es - der Möglichkeit beraubt, sie zu vollziehen infolgedessen nicht in seinen Erkenntnistätigkeiten irgendwie eingeschränkt wäre, oder mehr noch, ob diese Tätigkeiten (oder mindestens manche von ihnen) dadurch nicht überhaupt verhindert würden. Wir können z. B. nicht im voraus ausschließen, daß sich wenigstens einige Erkenntnisakte lediglich auf Grund einer entsprechend gearteten Gemütsbewegung vollziehen können. Diese kann prinzipiell entweder in dem Sinne eine positive Bedeutung haben, daß sie den Vollzug des betreffenden Erkenntnisaktes überhaupt erst möglich macht (wie das z. B. manche behaupten, wenn es sich um die Werterkenntnis handelt); oder sie kann auch insofern eine negative Bedeutung besitzen, als sie zwar deutlich zum Vollzug des Erkenntnisaktes beiträgt, gleichzeitig aber bewirkt, daß dieses Erkennen gewissen durch die Gemütsbewegung verursachten Täuschungen verfällt (wie das auch manche Erkenntnistheoretiker aus dem Kreise der naturwissenschaftlich orientierten Empiristen behaupten). Es gibt auch viele strittige Fragen beim Erkennen mancher Gegenstände; beispielsweise können genauso starke Argumente für wie gegen die Anerkennung des sittlichen Wertes einer Handlung sprechen. Und dann muß man sich nicht nur dazu aufraffen, nach neuen Erkenntnisergebnissen zu suchen, sondern auch dazu, eine solche strittige Frage irgendeinmal zu entscheiden. Dieses Sichaufraffen, die Entscheidung zu treffen und ein Urteil darüber zu fällen, wie es sich mit einer Sache letztendlich verhält, ist eine Erkenntnishandlung, zugleich aber auch ein Willensakt, ein Entschluß. Wäre das Erkenntnis-

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Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie, 2. Teil

Subjekt der Willensakte (bzw. der Möglichkeit, diese zu fassen) überhaupt beraubt, dann wäre auch eine Entscheidung einer [solchen] Erkenntnisfrage nicht möglich. Folglich ist auch die Frage, ob das Erkenntnissubjekt [der Möglichkeit] des Ausführens von verschiedenen ihrer Natur nach nicht-erkenntnismäßigen Akten entbehren könne, nicht ohne weiteres durch Erfahrung zu entscheiden. Sie erfordert vielmehr eine eidetische Erforschung des Wesens (der allgemeinen Idee) von Erkenntnisakten und ihren möglichen Typen, in Hinsicht darauf, ob sie von Akten anderer Art ganz unabhängig sind oder - im Gegenteil - wenigstens in gewissen Fällen den Vollzug der letzteren verlangen. Erst eine genauere Erwägung des ganzen Problems könnte uns darüber Aufschluß geben, ob sich dieses durch Analyse des Gehaltes der allgemeinsten Idee der Erkenntnisbegegnung allein entscheiden läßt oder erst durch Analyse des Gehaltes speziellerer Ideen, ζ. B. unter Berücksichtigung dessen, daß eine Konstante, welche die Natur besonderer Erkenntnisakte (wie etwa Akte der Werterkenntnis) betrifft, zusammen mit der Veränderlichen auftreten muß, die darin besteht, daß das Erkenntnissubjekt irgendein Gefühlserlebnis einer bestimmten Art besitzt. Hier bleibe das als eine eidetische Frage [dahingestellt]. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß eine Reihe von anderen Veränderlichen im Gehalt der obersten allgemeinen Erkenntnisidee (der Erkenntnisbegegnung) auftreten muß. Eine solche Veränderliche ist z.B., welche Arten von Erkenntnistätigkeiten durch das Erkenntnissubjekt vollzogen werden können. Nur für ein in keiner Weise eingeschränktes Erkenntnissubjekt könnten alle möglichen Erkenntnisarten (sowohl diejenigen, die beispielsweise der Mensch vollziehen kann, als auch die, die etwa von intelligenten Wesen eines viel höheren Typus realisiert werden könnten) im Bereich seiner Fähigkeiten liegen. Vielleicht sollten wir annehmen, daß im Gehalt der obersten Erkenntnisidee gerade die Veränderliche auftritt, daß das Erkenntnissubjekt überhaupt beliebige mögliche Arten von Erkenntnisakten vollziehen kann. Dieser Idee wären dagegen die Ideen untergeordnet, in deren Gehalt eine Konstante aufträte, die eindeutig diejenigen Arten von Erkenntnisakten (die Anzahl und die Auswahl dieser) bestimmt, die für einen gegebenen Typus von Erkenntnissubjekt erreichbar wären. So könnten wir z.B. einen gewissen Typus von Erkenntnissubjekt dadurch bestimmen, daß zu den für ein solches erreichbaren Erkenntnisakten sowohl Akte der Erfahrung (der direkten Er-

Probleme der Ontologie der Erkenntnis

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kenntnis) als auch solche der denkmäßigen Erkenntnis gehören. Demgegenüber würde sich eine anderer Grundtypus von Erkenntnissubjekt dadurch auszeichnen, daß ihm nur die Erfahrungs-, nicht aber die Denkakte zugänglich wären; oder auch umgekehrt, es hätte - als Möglichkeit - beliebige Akte der Denkerkenntnis, aber keine Akte der Erfahrung zur Verfügung. Das sind im Augenblick nur mögliche Beispiele, bei denen es noch zu erwägen wäre, ob die beiden letztgenannten Typen von Erkenntnissubjekten nicht bloß als Grenzfälle oder als gedankliche Fiktionen des Erkenntnistheoretikers, sondern auch im Hinblick auf die Eigenschaften der Erfahrungsakte einerseits und der rein intellektuellen Akte andererseits möglich wären. Es könnte sich ja bei näherer Analyse zeigen, daß keine Akte rein intellektueller Erkenntnis ohne den vorgängigen Vollzug von Akten entsprechender Erfahrung vollzogen werden können. Diesen Standpunkt vertreten z. B. alle Empiristen, die Locke oder Hume folgen. Sie überlegen sich aber nicht, mit welchem Recht sie eigentlich derartige Thesen aussprechen. Denn wenn sie das nur aufgrund der Tatsache behaupten, daß sie noch niemals einen Denkakt hatten, der sich auf ein Objekt bezogen hätte, das ihnen in der entsprechenden Art von Erfahrung noch nie gegeben war: dann ist das eine bloß empirische Feststellung, die sogar im Fall ihrer strengen Gültigkeit - d.h., wenn man nachweisen könnte, daß jemand in seinem Leben tatsächlich nur Denkakte hatte, die auf früher in der Erfahrung gegebene Gegenstände bezogen waren - für die Erkenntnistheorie keine Bedeutung hätte. Denn aus der Konstatierung einer solchen Tatsache würde nicht ganz allgemein folgen, daß es tatsächlich nicht möglich ist, einen Akt zu vollziehen, dem beim gegebenen Erkenntnissubjekt kein entsprechender Erfahrungsakt vorangegangen wäre. Um zu einem solchen Resultat zu gelangen, müßte man eben - wie ich hier vorschlage eine eidetische Analyse des Gehalts der allgemeinen Idee des Erkenntnissubjekts durchführen, insbesondere aber eine eidetische Einsicht in die notwendige Struktur des Denkaktes einerseits und des Erfahrungsaktes andererseits gewinnen. Diese Strukturen würden es uns gestatten, das mögliche unabhängige Auftreten von Akten einer Art ohne das vorangehende Auftreten von solchen einer anderen Art (z.B. ohne Erfahrung eines entsprechend beschaffenen Gegenstandes) vorauszusehen, oder sie würden umgekehrt in diesem Fall auf das Vorliegen gewisser auffindbarer allgemeiner Abhängigkeiten hinweisen. Man könnte beispielsweise damit rechnen, daß keine Akte

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Zur Grundlegung

der Erkenntnistheorie,

2. Teil

"reiner Erfahrung" vorkommen können, ohne daß irgendwelche Denkakte erscheinen. Es würde sich hierbei nicht nur darum handeln, daß etwa das Sehen eines Dinges notwendig von Akten des Denkens an das wahrgenommene Ding begleitet sein muß (ζ. B. vom Gedanken, daß ein mit einer Auswahl von vielen gesättigten Farben ausgestattetes Ding sich durch eine Fülle von qualitativen Bestimmungen auszeichnet, im Gegensatz zu einem solchen, das in dieser Hinsicht ziemlich ärmlich ausgestattet ist). Denn jemand könnte doch die Frage stellen, ob es ζ. B. nicht in allen Fällen des Erkennens eines Dinges in vielen aufeinanderfolgenden Akten der Erfahrung (etwa des Sehens) unentbehrlich sei, sich des Gesehenen gewissermaßen bewußt zu werden. Und [er könnte daraufhindeuten], daß dieses "Bewußtwerden" kein schlichtes Sehen mehr darstelle, sondern gleichsam eine gedankliche Zusammenfassung des im bezüglichen Sehen gewonnenen Ergebnisses. Ja, würden die Akte des Sehens desselben Dinges in gewissen Zeitabständen aufeinanderfolgen, dann müßte das erste Sehen eine Denkspur hinterlassen, die etwa die Qualitäten des gesehenen Dinges bestimmen würde. Diese Denkspur müßte man zur Verfügung haben, um beim Herantreten an ein weiteres Sehen desselben Dinges, dieses sofort gerade als dasselbe sehen zu können, ζ. B. als meine alte treue Schreibmaschine, die mir weiterhin bei der Arbeit nützlich sein wird. Die gleichsam berichtenden Akte würden als Bindeglieder zwischen verschiedenen Akten der Erfahrung desselben Dinges benötigt, eines Dinges, das eventuell während der Zeit, in der die Erfahrungsakte aufeinanderfolgen, gewisse Veränderungen erfährt. Ohne diese Akte wäre keine einheitliche Erfahrung ein und desselben Dinges unter vielen verschiedenen Aspekten möglich. Solche Fragen müßten in der eidetischen Einstellung erwogen werden, damit man den Gehalt betreffender Ideen festlegen könnte, nicht nur was das Vorhandensein gewisser Veränderlicher betrifft, sondern auch hinsichtlich der Abhängigkeiten zwischen diesen Veränderlichen (bzw. zwischen den Qualitäten, welche die einzelnen Werte dieser Veränderlichen ausmachen). Wenn wir aber schon entdeckt hätten, daß jedes Erkenntnissubjekt im Bereich seiner Erkenntniserlebnisse sowohl Erfahrungsakte als auch Denkakte haben muß, dann würden weitere Fragen auftauchen, ζ. B. der Art, ob man anerkennen soll, daß es viele verschiedene mögliche Typen der sog. Erfahrung gebe oder vielmehr daß nur eine einzige Form der Erfahrungsakte vor-

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handen sei (wie z. B. A. Comte behauptete) 10 , so daß im Gehalt der Idee der Erkenntnisbegegnung nur die Konstante "Erfahrung" enthalten wäre, die als eine Gehaltskonstante in allen spezielleren Erkenntnisideen aufträte. Da ich im Moment die mögliche Problematik der Erkenntnisontologie nur in großen Zügen umreiße, schwebt mir allein - als eine bloß wahrscheinliche Vermutung - der Gedanke vor, man müsse damit rechnen, daß viele Grundarten der sogenannten "Erfahrung" zu unterscheiden sind, wie verschiedene Arten sinnlicher Erfahrung, die innere Erfahrung ("Introspektion"), die Erfahrung des Fremdpsychischen, die Werterfahrung usw. Ist dem wirklich so, dann müßten wir im Gehalt der obersten Erkenntnisidee die Veränderliche "ein mit irgendeiner Anzahl von Erfahrungsarten ausgestattetes Subjekt" annehmen und außerdem eventuell weitere Veränderliche innerhalb dieser Arten, z. B. innerhalb der sinnlichen Erfahrung irgendwelche visuellen Wahrnehmungen oder irgendwelche Tast- oder Gehörswahrnehmungen usw. Erst im Gehalt der weniger allgemeinen Erkenntnisideen fände sich die Konstante "mit soundso vielen (z. B. 10) Erfahrungsarten", während die Veränderlichen die Erfahrungen innerhalb der einzelnen Typen der sinnlichen Erfahrung beträfen. Dabei würde sich auch die Möglichkeit der Existenz von allgemeinen Erkenntnisideen eröffnen, in denen Veränderliche ganz anderer Erfahrungen erscheinen würden als diejenigen, die wir Menschen kennen, beispielsweise Erfahrungen, die von verschiedenen uns bekannten Arten von Tieren gewonnen werden, bei denen wir die Existenz oder die Möglichkeit von irgendwelcher anderer Erfahrungstypen als der uns bekannten vermuten können. Ähnliche Probleme erheben sich in bezug auf andere Gehaltskonstanten der obersten Erkenntnisidee und auf die mit diesen verbundenen Veränderlichen. Im besonderen handelt es sich um die Konstante oder genauer: um den konstanten Faktor der Veränderlichen "ein Erkenntnisgegenstand", der das zweite Hauptglied in der "Erkenntnisbegegnung" ausmacht. Diese Konstante ist ebenfalls mit einer Anzahl von Veränderlichen verknüpft. Der "Erkenntnisgegenstand" muß zuerst von dem, was einfach existiert, von allem Seienden ohne Rücksicht auf dessen Seins weise, unterschieden werden. Gewiß, auf irgendeine Weise existiert auch das, was erkannt wird, mithin ein Gegenstand in einer engen Wortbedeutung. Es liegt jedoch nicht an seiner bloßen Exi-

10

[Vgl. A. Comte, Cours de philosophie positive, 4 Vol., Paris 1830-1839.]

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Stenz, daß er ein "Gegenstand" ist und als solcher erkannt wird. Sein Merkmal, "Gegenstand" (ob-iectum) zu sein, hängt damit zusammen, daß er gerade "erkannt" wird. Daß er aber erkannt wird, besteht vor allem darin, daß das bewußte Subjekt, indem es sich auf diesen Gegenstand bezieht, darin mit irgendeinem seiner Akte auf etwas trifft, was bei diesem Subjekt ein Interesse erweckt und was dieses Interesse zugleich dadurch befriedigen kann, daß es ihm gewisse Gegebenheiten - seine eigenen, [ihn selbst] charakterisierenden Qualitäten - darbietet. Indem der Gegenstand diese Qualitäten enthüllt, sie dem Subjekt zur Erscheinung bringt, wird er für das Erkenntnissubjekt eine Quelle, aus der dieses im Empfinden gewisse Kenntnisse davon schöpft, wie jener beschaffen ist, wie er sich eventuell verändert, wie er sich verhält sowie daß er existiert und wie er existiert. Darin liegt eine Konstante eingeschlossen, die sich eng mit der Konstanten "Erkenntnisgegenstand" verbindet und im Gehalt der Idee der "Erkenntnisbegegnung" auftritt, nämlich die, daß der Erkenntnisgegenstand "ohne Maske", wenigstens teilweise "enthüllt" ist. Oder dasselbe negativ ausgedrückt: daß er von seiner Natur aus gegenüber einem beliebigen (oder in gewissen Fällen einem entsprechend qualifizierten) Erkenntnissubjekt sich selbst - seine Existenz und Beschaffenheit - nicht völlig verbirgt, sondern daß sich seine Determinationen (wenigstens in einer gewissen Auswahl) so nach außen zeigen, daß er dadurch einem Erkenntnissubjekt, das [entsprechende] Akte des Erfassens und Verstehens vollzieht, zugänglich sein kann. Mit anderen Worten: Ein "Ding an sich", das von seiner Natur aus in jeder Hinsicht unerkennbar wäre, weil sich seine Determinationen in keiner Weise einem Erkenntnissubjekt enthüllen würden, könnte überhaupt kein Gegenstand der Erkenntnis irgendeines Subjektes sein. Ob das schon bedeutet, daß ein solches Ding überhaupt nicht existieren kann, soll man nicht im voraus entscheiden. Es wäre jedoch in diesem Fall gewiß keine Erkenntnisgrundlage vorhanden, die irgend jemanden dazu berechtigen könnte, die Existenz eines solchen Dinges anzuerkennen. Man kann also mit Sicherheit feststellen, daß etwas, was ein Erkermtnisgegenstand sein soll, in seinen Qualifikationen wenigstens teilweise so geartet sein muß, daß sich diese - wenn nicht jedem beliebigen Erkenntnissubjekt, so jedenfalls manchen Subjekten - zeigen können. Welche Qualifikationen des Gegenstandes so sein können, ist ein Problem, das ich hier nicht lösen kann. Man weiß auch nicht, ob sich die Behauptung begründen ließe, daß bei jedem Erkennt-

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nisgegenstand wenigstens einige seiner Qualifikationen jedem beliebigen Erkenntnissubjekt erkenntnismäßig zugänglich seien, egal welche Erkenntnisfähigkeiten dieses Subjekt besitzt. Wenn man das Problem in möglichst allgemeiner Weise behandelt, muß man damit rechnen, daß auf der Seite des Erkenntnissubjekts die Reichweite der diesem Subjekt zukommenden Fähigkeit des Empfindens und Verstehens und auf der Seite des Gegenstandes der Bereich seiner Qualifikationen (Merkmale), die den Gegenstand dem Subjekt zeigen, eine Veränderliche des Gehaltes der Idee ["Erkenntnisbegegnung"] ausmacht. Man muß auch mit der Möglichkeit rechnen, daß die beiden Veränderlichen keinen unbegrenzten Veränderlichkeitsbereich haben, ja daß es hier noch eine weitere Veränderliche gibt, nämlich diejenige, die die Ausdehnung betrifft, in der die Bereiche der beiden Veränderlichen - der Empfindlichkeit des Erkenntnissubjekts für eine Auswahl von den Erkenntnisgegenstand zeigenden Merkmalen einerseits und der Zugänglichkeit von Merkmalen des Gegenstandes für das Erkenntnissubjekt andererseits - einander entsprechen. Der Gegenstand kann aber - außer daß er dasjenige ist, worauf sich das Subjekt bezieht, das ihm dieses oder jenes Sosein und eventuell Sein zuschreibt, d. h., außer daß er genau so genommen wird, wie er durch eine der Konstanten im Gehalt der allgemeinsten Idee der Erkenntnisbegegnung bestimmt ist - im übrigen "ein beliebiger", ein so oder anders beschaffener sein. Er kann autonom oder heteronom existieren, in seinem Sein unabhängig oder, im Gegenteil, von einem anderen Gegenstand seinsabhängig sein. 11 Auch seiner Form nach kann er unterschiedlich beschaffen sein. Er kann ein selbständiges Ganzes für sich bilden oder auch nur etwas Unselbständiges gegenüber einem anderen Gegenstand ausmachen. Er kann so oder anders strukturell gestaltet sein. Er kann ein Ding (ein in der Zeit verharrender Gegenstand) oder ein Prozeß sein, der für sein Stattfinden immer ein Seinsfundament in einem oder sogar mehreren Gegenständen (Dingen) erfordert, oder schließlich nur ein momentanes Ereignis, mit dem ein Prozeß beginnt oder zu Ende geht oder sich mit einem anderen Prozeß oder Zustand kreuzt. Er kann schließlich qualitativ, "material" so oder anders bestimmt sein. Er kann z. B. etwas Physisches oder etwas Psychisches sein oder weder das eine noch das andere, wie es z. B. bei einer Zahl oder einer Menge von beliebigen Ele-

11

[Vgl. Ingarden (1925a), S. 265; Ingarden (1964/65), Bd. I, §§ 12, 14, 15.]

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menten der Fall ist. Unter diesen verschiedenen Aspekten kann er also beliebig sein; d. h.: Unter all diesen Aspekten treten im Gehalt der Idee des Erkenntnisgegenstandes bzw. in einer Gehaltskonstanten der Idee der Erkenntnisbegegnung entsprechende "Veränderliche" auf, die sich mit der Konstanten "Erkenntnisgegenstand" verbinden. Ich gebe hier keine vollständige Analyse der Idee der Erkenntnisbegegnung, die Gegenstand und Grenzen einer Erkenntnistheorie in ihrem streng ontologischen Teil bestimmen würde, einer Theorie, deren Wege ich hier vorzuzeichnen versuche und deren Möglichkeit (prinzipielle Freiheit von methodologischen Fehlern) ich erwäge, ohne daß ich es mir anmaße, diese schon aufgewiesen zu haben. Im Augenblick handelt es sich lediglich darum, in großen Zügen eine ganze Gruppe von Betrachtungen anzudeuten, die sich auf den Gehalt der allgemeinsten, "regionalen" Erkenntnisidee sowie einer Reihe von spezielleren, dieser untergeordneten Ideen richten würden. Diese Gruppe soll einen ontologischen Kern der reinen Erkenntnistheorie ausmachen, einen Kern [aber], dessen Bearbeitung sicherlich nicht nur eine Einleitung in diese Theorie ist. Es ist das gewiß eines ihrer schwierigsten Teilgebiete. Und es ist eher zu erwarten, daß es methodologisch leichter sein wird, die reine Erkenntnistheorie mit Hilfe der Analyse von viel spezielleren Erkenntnisideen zu entwickeln, nur daß man diese allgemeinste Idee nicht aus dem Gesichtsfeld verlieren soll. Das kann uns vor der Gefahr bewahren, daß wir bei der Untersuchung des Gehaltes einer dieser viel spezielleren Ideen in eine Einseitigkeit geraten und uns vorstellen, daß die Bestandteile des Gehalts dieser Idee, die darin als Konstanten auftreten, immer Konstanten sein müßten und daß keine Erkenntnisideen möglich seien, in denen diese Konstanten durch Veränderliche abgelöst werden, die noch verschiedene Veränderlichkeitsbereiche haben. Ich werde versuchen, beispielsweise auf manche weniger allgemeine Erkenntnisideen hinzuweisen, deren Analyse auch eine Aufgabe der Ontologie der Erkenntnis in deren spezielleren Teilbereichen ausmachen muß. Wir werden einen Übergang dazu finden, indem wir einzelne "Werte" (Konstanten) noch einer weiteren Veränderlichen suchen, die in der allgemeinsten Erkenntnisidee auftritt, und der Frage nachgehen, welche Gestalt dann die reale Erkenntnisbeziehung zwischen dem einen Erkenntnisakt vollziehenden Subjekt und dem Objekt annimmt, auf das dieser Akt bezogen ist. Wir können das tun,

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indem wir z.B. von den Veränderlichen ausgehen, die sich mit der Konstanten "Erkenntnissubjekt" verbinden. Anstatt also vom Erkennen eines ganz beliebigen Erkenntnissubjekts zu sprechen, können wir - ähnlich wie das Kant in der Kritik der reinen Vernunft (im Gegensatz zur transzendentalen Philosophie der Neukantianer der Marburger Prägung) gemacht hat - ein Erkenntnissubjekt betrachten, das etwa von einem Menschen realisiert werden kann. Ohne uns hier für die Kantische Konzeption der "apriorischen" Anschauungsformen und grundlegenden Verstandesbegriffe, d. h. der Kategorien, auszusprechen, können wir annehmen, daß das menschliche Erkenntnissubjekt dadurch gekennzeichnet ist, daß im Gehalt der Idee, unter die es fällt, eine Konstante auftritt, die bestimmt, daß die Empfindlichkeit seiner Rezeptivität begrenzt ist oder daß diese je nach den Eigenschaften des Gegenstandes, aus dem das Subjekt sein Wissen schöpft, nur noch in verschiedenem Grad leistungsfähig ist. Als Beispiel könnte man die Möglichkeit erwägen, daß das (menschliche) Erkenntnissubjekt besonders für räumliche Merkmale des Erkenntnisgegenstandes empfindlich ist, nicht aber (oder wenigstens nicht in gleichem Maße) für dessen Zeitlichkeit und Veränderlichkeit. Infolgedessen macht sich in seinem Erkennen einerseits eine gewisse Überbetonung der räumlichen Züge von Gegenständen, andererseits das Übersehen (oder gleichsam Verwischen) der Zeitlichkeit bemerkbar. Daraus ergibt sich sein einigermaßen statisches Weltbild (wie bei der intellektuellen Erkenntnis nach Bergson). Oder auch umgekehrt: Es liegt eine Überempfindlichkeit für Dauer und Vergehen vor, dagegen eine verminderte Empfindlichkeit für räumliche Züge des Gegenstandes (wie z. B. nach Bergsons Konzeption der intuitiven Erkenntnis). Man kann aber auch den Gehalt der Idee eines Erkenntnissubjekts in Betracht ziehen, die als eine "Konstante" die Notwendigkeit beinhaltet, daß sich dieses Subjekt beim Erkennen der sog. "Anschauungsformen", Zeitlichkeit und Räumlichkeit, bedient, egal ob diesen im autonomen Sein analoge Eigenschaften entsprechen, sowie daß es ein System von Verstandesbegriffen, Kategorien, verwendet, abermals egal ob diese Formen in einer Wirklichkeit auftreten oder nicht. Auf diese Weise könnten wir einerseits einen "Erkenntnisgegenstand" mit einer besonderen formalen Struktur und andererseits ein autonomes Sein haben, das von formalen Strukturen frei und daher in dieser

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Hinsicht und unter diesen Bedingungen 12 dem Erkennen unzugänglich wäre. Zum Gehalt der Idee des Erkenntnissubjektes dieser Art würde gehören, daß seine Rezeptivität durch die Anschauungsformen, Zeitlichkeit und Räumlichkeit, modifiziert ist, das dem Gegenstand Zuschreiben von Eigenschaften hingegen durch die subjektive Notwendigkeit der Verwendung von Kategorien. Man könnte aber auch zu einer Idee des Erkenntnissubjekts übergehen, in der als ein konstanter Gehalt die subjektive Notwendigkeit auftritt, allein die kategorialen Formen zu verwenden, während die Rezeptivität sowohl Räumlichkeit wie auch Zeitlichkeit als Eigenschaften dessen berücksichtigen muß, was ein zu erkennendes autonomes Sein ausmacht. Die Rezeptivität könnte aber auf nur einige Qualitäten des zu erkennenden Gegenstandes beschränkt sein, während andere Qualitäten gewissermaßen übersehen würden, für das Erkenntnissubjekt dieser Art unzugänglich wären. Das Konzept eines solchen Erkenntnissubjekts ist keineswegs eine von mir gebildete Phantasie. Es schwebt all denjenigen vor, die z.B. behaupten, daß der Mensch jene angeblichen "fünf Sinne" besitze und daß nur die diesen Sinnen zugehörigen Qualitäten als Qualifikationen in den Gegenständen der menschlichen Erkenntnis aufträten, mögen den an sich seienden Dingen noch irgendwelche anderen Qualitäten zukommen oder nicht. Viel weiter - in Richtung auf die Beschränkung der Erkenntnisfähigkeiten des Erkenntnissubjektes, das der Mensch sein kann - gehen diejenigen, die (übrigens auf einer ganz anderen Erkenntnisgrundlage!) behaupten, daß der Mensch die sinnlichen Qualitäten der wahrgenommenen Dinge nicht empfange, sondern sie - aus gewissen von diesen Autoren angeführten Gründen - durch seine besondere Erkenntnisart gleichsam fingiere, während sie den wirklichen Dingen in deren eigenem Sein und Sosein völlig fremd seien. Würden wir behaupten, daß das kein - ζ. B. physiologisch bedingter - Zufall sei, sondern daß dies zum Wesen von Erkenntnissubjekten dieser Art gehöre, dann müßten wir anerkennen, daß eine Idee von einem Subjekt dieser Art existiert, in deren Gehalt eine Konstante auftritt, die gerade seine (wenigstens im Bereich seiner Rezeptivität vorkommende) Fähigkeit bestimmt, "die Wirklichkeit zu verfälschen". Es könnte 12 Diese Bedingungen könnten bloß faktisch bestehen, mithin prinzipiell behebbar sein. Dann bliebe noch die Frage, ob sie sich als notwendig im eidetischen Sinne erweisen müßten, wie das wohl Kant behauptete. Das scheint aber gerade zweifelhaft und sollte einer kritischen eidetischen Betrachtung unterzogen werden.

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sich dabei entweder um eine nicht mehr behebbare Verfälschung des Erkennens handeln, oder es könnte auch eine Auffassung der Sinnes"daten" erfolgen, die uns befähigen würde, diese Verfälschung irgendwie zu überwinden und zu den wirklichen Eigenschaften der in der Erfahrung gegebenen Dinge vorzustoßen. Das ist ein Gedanke, der sowohl den sog. "kritischen Realisten" innerhalb der psychophysiologischen Erkenntnistheorie, als auch den unter ihrem Einfluß stehenden Naturwissenschaftlern, insbesondere Physikern, vorschwebt. Wir haben uns weiter oben davon überzeugt, daß die Weise, wie dieser Gedanke in der psychophysiologischen Erkenntnistheorie realisiert wird, zu unvermeidlichen formalen Fehlern führt. Daraus folgt aber keineswegs, daß es nicht möglich ist, durch eine immanente Analyse der Erkenntnisakte und der Gesamtheit der ihnen entsprechenden Gegebenheiten sowie unter Berücksichtigung der ganzen Mannigfaltigkeit der miteinander auf unterschiedlichste Weise verbundenen Erfahrungsgegebenheiten, dagegen ohne unberechtigte Bezugnahme auf die Dinge selbst nachzuweisen, daß uns die Komplexe von Gegebenheiten für sich allein zum Schluß veranlassen, deren Auftreten unter den Wahrnehmungsgegebenheiten führe zur Bestimmung von weiteren Eigenschaften der wahrgenommenen Dinge, die sich nicht in ihrer eigenen Gestalt zeigen würden, die aber dermaßen eindeutig bestimmt seien, daß sie sich zum einen von diesen Dingen aussagen ließen und zum anderen durch ihre Art das Auftreten der gegebenen "Sinnesqualitäten" in den Wahrnehmungen verständlich machen würden. Damit wir das in einer erkenntnistheoretischen Betrachtung nachweisen und dabei die Fehler der psychophysiologischen Erkenntnistheorie vermeiden können, müssen wir natürlich noch einen weiten Weg zurücklegen. Um diesen Weg genauer zu verfolgen, müßte man vor allem eindringliche Analysen von wahrnehmungsmäßigen Erkenntnisweisen der materiellen Dinge durchführen. Diese Aufgabe ist aber, trotz zahlreichen Versuchen, die von verschiedenen Autoren und von verschiedenen Gesichtspunkten aus unternommen wurden, bisher noch nicht befriedigend gelöst worden, und sie wird oft in ganz oberflächlicher Weise und mit einer fast kindlichen Naivität in Angriff genommen. Es wäre dazu auch eine spezielle Formulierung von Ausgangsfragen nötig, eine Formulierung, über die wir im Augenblick noch nicht verfügen. Bei dieser Sachlage können wir nur sagen, daß eine Idee der Erkenntnis (bzw. des Erkenntnissubjekts) nicht absurd scheint, die u. a. Veränderliche einschließen

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würde, die gewisse sozusagen illusorische Wahrnehmungsgegebenheiten betreffen, und zwar solche, die nicht zufällig, sondern bis zu einem gewissen Grad notwendig wären. Sie könnten entweder durch gewisse Eigenschaften der Wahrnehmung selbst verursacht werden, oder ihr angeblich illusorischer Charakter ließe sich dadurch beseitigen, daß sie in anderen der Erfahrung zugänglichen Eigenschaften der Dinge fundiert wären. Die hier angebrachten Bemerkungen sollen nur darauf aufmerksam machen, wie sich verschiedene mögliche Spezifikationen der Idee des Erkenntnissubjekts (bzw. seiner Erkenntnisfunktionen) auf den ersten Blick andeuten, und sie sollten die Bahnen der möglichen Problematik der Erkenntnisontologie aufzeigen. Dieser Hinweis auf verschiedene mögliche Modifikationen der Idee des Subjekts sowie des Objekts der Erkenntnis eröffnet noch eine andere Perspektive der Untersuchungen über Gehalte von Erkenntnisideen, nämlich über diverse mögliche Formen der Erkenntnisbeziehung zwischen dem Subjekt und dem Objekt, einer Beziehung, die durch verschiedenartige Akte bzw. ganze Komplexe von Erkenntnisoperationen realisiert wird. So spricht man ζ. B. oft - in verschiedenen, voneinander nicht scharf genug abgegrenzten Bedeutungen - von dem sog. "unmittelbaren" und - im Gegensatz dazu - dem "mittelbaren" Erkennen von Gegenständen. Diese Gegenüberstellung ist wichtig, denn wir begegnen manchmal der Ansicht, das "unmittelbare" Erkennen führe zu Ergebnissen, die nicht nur "wahr" ("objektiv"), sondern auch sicher oder gar - wie manche beteuern - unbezweifelbar seien. Ohne vorläufig zu diesen bewertenden Ansichten Stellung zu nehmen, versuchen wir vorerst, die oft vieldeutig gebrauchte Rede von der "Unmittelbarkeit" eines Erkennens oder einer Erkenntnis zu differenzieren. Als "unmittelbar" wird manchmal ganz allgemein das anschauliche Erkennen im Gegensatz zum unanschaulichen, rein begrifflichen bezeichnet. Diese Anschaulichkeit wird gewöhnlich auf den Spezialfall der "Anschaulichkeit" der Wahrnehmung, und zwar der äußeren (sinnlichen) Wahrnehmung beschränkt. Manchmal aber erweitert man diesen Begriff ebenso auf die "innere" Wahrnehmung (man spricht auch von der "Reflexion", "Introspektion" usw.). Warum jedoch diese Beschränkung auf die perzeptive Anschauung eingeführt wird, ist nicht klar, weil diese "Anschauung" - außer im Kreis der Phänomenologen, die sich (wie insbesondere H. Conrad-Martius) mit dieser Frage mehrfach auseinandergesetzt haben - im allgemeinen gar

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nicht analytisch herausgehoben und gegen die imaginative Anschauung deutlich abgegrenzt wird. Jedenfalls sind bei dieser Verständnisweise der "Unmittelbarkeit" die bloßen Denkakte gerade deswegen nicht einbegriffen, weil sie nicht "anschaulich" seien. Einen anderen Hinweis darauf, wie die "Unmittelbarkeit" zu verstehen ist, liefert die Behauptung, daß z.B. in der äußeren Wahrnehmung die Dinge selbst im Original 13 "zur Gegebenheit gebracht" würden, während in der imaginativen Vorstellung, zumindest einer gewissen Art 14 , die Gegenstände nur vermittels eines anschaulichen Repräsentanten (eines Phantasmas) zur Gegebenheit kämen und nicht mit dem Charakter der Selbstgegenwart aufträten. Im ersten Fall liege ein "unmittelbares" Erkennen, im zweiten Fall ein "mittelbares" Erkennen vor. Das bedeute aber nicht, daß nur in der sinnlichen, äußeren Wahrnehmung eine "unmittelbare" Erkenntnis zustande komme, denn wir gewinnen eine solche auch in der inneren Wahrnehmung (der Reflexion) und vielleicht noch in anderen Fällen, wie etwa im Erkennen des Fremdpsychischen, mancher Kunstwerke, z. B. Musikwerke usw. Es ist dabei zu betonen, daß mit der Rede von der Selbstgegenwart, der "unmittelbaren" Gegebenheit der Dinge in der Wahrnehmung, nicht notwendig gemeint ist, es müsse dann sichere reale Gegenwart eines Dinges statthaben, das vom wahrnehmenden Subjekt und von der Wahrnehmung seinsunabhängig ist. 15 Denn es ist nicht ausgeschlossen, daß im ersten Fall die Wahrnehmung gerade völlig illusorisch (eine Halluzination) ist und daß trotzdem das Phänomen der Selbstgegenwart, des Sich-im-Original-Darstellens des gegebenen Gegenstands zur Erscheinung kommt. Eben dieses Phänomen entscheidet aber macht es aus, daß in der äußeren (sinnlichen) Wahrnehmung eine "unmittelbare" Erkenntnis stattfindet. Ein solches Phänomen der Selbstgegenwart fehlt dagegen in einer auch noch so lebhaften imaginativen (z. B. visuellen) Vor11 An diese "Unmittelbarkeit" dachte wahrscheinlich Thomas Reid, wenn er betonte, daß uns Dinge und nicht "Ideen" gegeben seien; leider hat er sie analytisch nicht herausgehoben. 14

Vgl. H. Conrad-Martius, "Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt", Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 3 (1916), S. [366].

15

Eine andere als die hier besprochene Verständnis weise der "Unmittelbarkeit" der Erkenntnis liegt in der unter den Naturwissenschaftlern weit verbreiteten, wenn auch naiv angenommenen Überzeugung, die "Unmittelbarkeit" der Erkenntnis sei dann und nur dann vorhanden, wenn zwischen dem Erkenntnisgegenstand und dem erkennenden Subjekt ein Kausalzusammenhang oder eine ganze Kette von solchen Zusammenhängen besteht.

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Stellung, in der nur ein (ζ. B. visuelles) Phantasma erscheint, dessen wir uns übrigens nicht deutlich bewußt werden, obwohl wir uns durch dieses Phänomen hindurch, eine unanschauliche Intention vollziehend, auf einen Gegenstand beziehen, der anschaulich und nicht bloß begrifflich vorgestellt wird. Manche Autoren sind aber geneigt, den Begriff des "unmittelbaren" Erkennens noch viel mehr einzuengen, und zwar auf die immanente Wahrnehmung allein oder vielleicht sogar auf das "Durchleben", insbesondere die Intuition des Durchlebens. Sie sagen nämlich, in der äußeren Wahrnehmung sei das Ding, das z.B. gesehen wird, freilich im Original gegeben und selbstgegenwärtig, dies sei aber nur dadurch so, daß wir eine bestimmte (ζ. B. visuelle) Ansicht dieses Dinges erleben, deren wir uns zwar im Laufe des Wahrnehmens nicht bewußt werden, die wir aber dennoch erleben; ohne dieses Erleben käme das Sehen des Dinges "im Original" überhaupt nicht zustande. Ja vom Gehalt dieser Ansicht und von der Weise ihres Erlebens hänge es ab, was für ein Ding uns in der Wahrnehmung zur Gegebenheit kommt; im besonderen hänge davon auch sein Charakter der Selbstgegenwart ab. Die Funktion einer wahrnehmungsmäßigen Ansicht bestehe eben darin, daß sie uns das Ding in seiner Beschaffenheit und mit dem Charakter der Realität und Selbstgegenwart darbiete. Ein anschauliches Phantasma in einer imaginativen Vorstellung besitze nicht diese Fähigkeit, obwohl es uns ebenfalls auf das vorgestellte Ding verweise und uns dieses in gewissem Maße zur Anschauung bringe. Nun sagt man, daß es in der (immanenten) Wahrnehmung der eigenen Erlebnisse wie auch im Durchleben der Bewußtseinsakte keine Ansichten gebe, die uns diese [Erlebnisse] erst darstellen würden. Diese Erlebnisse seien "direkt", "unmittelbar" (in einer neuen Wortbedeutung) gegeben oder würden so erlebt. Schon in der inneren Wahrnehmung, in der ein realer Zustand oder ein psychischer Prozeß von mir zur Gegebenheit gelangt, treffen wir wieder die Vermittlung

von

verschiedenen anschaulichen Erlebnissen (gleichsam Ansichten) an und sind nicht direkt, "unmittelbar" mit unseren Zuständen selbst konfrontiert bzw. mit den psychischen Eigenschaften unserer Seele oder von uns selbst als Menschen, die eine "Seele" und einen Körper besitzen. Auch wenn uns fremde psychische Tatsachen (ζ. B. die Freude einer anderen Person) gegeben sind, ist das nur deswegen so, weil wir eine Ansicht des Körpers eines anderen Menschen und seines Verhaltens erleben. Jemand könnte sogar sagen, daß uns

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durch die erlebten Ansichten nur der fremde Körper gegeben sei, wohingegen wir den fremden psychischen Zustand nur denkmäßig ermitteln würden, d. h. nur sehr mittelbar davon erfahren würden, was in der Psyche einer fremden Person vor sich geht. Manche würden überhaupt leugnen, daß uns in diesem Fall etwas gegeben ist. Ihrer Meinung nach können wir von einem Fremdpsychischen nur durch eine Schlußfolgerung, und zwar eine unsichere, Kenntnis erhalten. Es geht aber nicht darum, wer in diesen einzelnen Fragen recht hat, sondern nur darum, welche Bedeutungen der "Unmittelbarkeit" der Erkenntnis dabei in Betracht gezogen werden. Nachdem ich diese Bedeutungen in jedem der unterschiedenen Fälle präzisiert habe, muß ich bemerken, daß in jedem dieser Fälle eine andere Erkenntnisbeziehung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem Erkenntnisgegenstand besteht und daß sie sich alle von dem Fall unterscheiden, wo überhaupt weder von Anschaulichkeit noch von den Ansichten, noch von der Selbstgegenwart des Gegenstandes die Rede sein kann, weil es dort nur zu einem Denkakt kommt, der durch die darin beschlossene Intention den gedachten Gegenstand in seinem Sosein und Seinscharakter bestimmt und dies gewissermaßen "blind" tut, sofern er nicht einmal eine imaginative Vorstellung dieses Gegenstandes vermittelt (Husserl hat in diesem Fall von einem "signitiven" Akt gesprochen) 16 . Es ist dann nicht einmal nötig, daß sich in unserem Bewußtsein eine imaginative Vorstellung oder die visuelle Gestalt eines Wortes in einer Sprache findet; es genügt ein bloßes Denken, wie wenn wir an jemanden denken, dessen Name uns entfallen ist. Haben wir dagegen zugleich das Bewußtsein eines Wortes in einer bestimmten Sprache, dann bildet die Wahrnehmung dieses Wortes oder seine aktuell gedachte Bedeutung jenes Bindeglied, das es uns erlaubt, an einen für uns ganz abwesenden Gegenstand zu denken, der manchmal solcherart ist, daß wir ihn uns gar nicht vorstellen können. All diese verschiedenen erkenntnismäßigen Bezugsweisen auf den Erkenntnisgegenstand können in individuo in der deskriptiven Psychologie (oder der Phänomenologie der Erkenntniserlebnisse) untersucht werden. Für den Gang unserer Betrachtungen ist aber die Feststellung wichtig, daß wir auf

[Vgl. E.Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. II/2 (Husserliana XIX/2), Untersuchung VI, §§ 14-15).]

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der Grundlage derartiger psychologischer oder phänomenologischer Untersuchungen die eidetische Einstellung einnehmen und zum Gehalt einer entsprechenden Idee übergehen können. Wir können diesen Ideengehalt einer eidetischen Analyse unterziehen und uns auf diese Weise Ausgangsmaterial verschaffen für allgemeine eidetische Sätze über verschiedene Konstanten und Veränderliche, die entweder in der allgemeinen obersten Erkenntnisidee oder in den darunter fallenden spezielleren Ideen auftreten, ζ. B. in der Idee des Erkenntnissubjekts einer bestimmten Art, der Idee des Erkenntnisgegenstandes überhaupt oder einer bestimmten Art oder schließlich in den Ideen von verschiedenen möglichen Typen der Erkenntnisbegegnung bzw. -beziehung. Erst die Erforschung von Konstanten und Veränderlichen dieser verschiedenartigen Ideen kann uns einen Ausgangspunkt zur Entfaltung der Problematik des Erkenntniswertes von gewonnenen Erkenntnisergebnissen liefern, einer Problematik, die wir im Moment noch nicht behandeln können. Schon bei der eidetischen Betrachtung von verschiedenen möglichen Typen der (in diversen Bedeutungen "unmittelbaren" oder "mittelbaren") Erkenntnisbeziehung muß man aber damit rechnen, daß die in den verschiedenen Typen der Erkenntnisbeziehung gewonnenen Erkenntnisergebnisse jener Betrachtung diese oder jene Form ihrer Begründung verdanken können, die nicht so sehr über ihre "Wahrheit" (bzw. "Falschheit") entscheidet als vielmehr über den Grad oder die Tiefe ihrer Sicherheit. Das hängt übrigens auch mit der Frage nach dem Erkenntniswert des Erkenntnisergebnisses zusammen. Denn es scheint, daß dasjenige Ergebnis einen höheren Wert besitzt, das nicht nur "wahr", sondern auch "sicherer", d.h. besser "begründet" ist. Auch das gehört allerdings im Moment zu einer weiteren Perspektive von Betrachtungen, die wir jedoch nicht aus den Augen verlieren sollen. Sprechen wir aber vom "Erkenntnisergebnis", das mitunter gleichsam direkt aus dem (wahrnehmungsmäßigen oder denkmäßigen) Erkenntnisprozeß herauswächst und mitunter, wenn wir es uns zum Bewußtsein bringen oder einer kritischen Nachprüfung unterziehen möchten, selbst zu einem Erkenntnisgegenstand wird - so kann hier das Problem des Anteils der Sprache am Erkennen und speziell an der Mitteilung von Erkenntnisergebnissen sowie das Problem ihrer Rolle und ihres Einflusses auf die Gestalt und den Wahrheitswert dieser Ergebnisse nicht übergangen werden. Wir können leider an dieser Stelle nicht eine allgemeine Sprachtheorie heranziehen, obwohl es vie-

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le verschiedene Theorien oder auch nur Konzeptionen der Sprache gibt und obwohl es sehr angebracht wäre, sie zu erwägen und zu ihnen Stellung zu nehmen. 17 Wir müssen uns hier mit ganz knappen Bemerkungen zu diesem Thema begnügen, um uns einen Einblick ins Problem des Anteils und der Rolle der Sprache beim Erkennen und bei der Erkenntnis selbst zu verschaffen. Das ist besonders deswegen wichtig, weil es Autoren gibt, die der Ansicht sind, jedes Erkennen bzw. jede Erkenntnis sei "sprachlich", und die eine "außersprachliche" Erkenntnis für schlechtweg unmöglich halten. Ohne diese, übrigens schwierige Frage zu entscheiden, können wir zugeben, daß wir mindestens in den meisten Fällen des Erkennens gewisse Sprachausdrücke verwenden, und zwar entweder in Gestalt der Namen der Dinge bzw. Prozesse, die uns gleichzeitig in einer bestimmten, z.B. sinnlichen, Wahrnehmung gegeben sind, oder in Gestalt von Verba finita oder [verbalen] Wendungen und ganzen Sätzen. Wenn ich ein Ding (wie etwa die Schreibmaschine, mit der ich schreibe) sehe, dann sehe ich sie nicht nur, sondern benenne sie auch oft zugleich mit Hilfe eines entsprechenden Wortes, z. B. "eine Schreibmaschine" (manchmal "meine Schreibmaschine" usw.). Dieses effektive Benennen kommt aber tatsächlich verhältnismäßig selten vor. Wenn ich z. B. eine Straße entlang von meiner Wohnung zur Universität gehe, spreche ich ja nicht die ganze Zeit, nenne nicht nacheinander Hunderte von Dingen, die ich wahrnehme (Häuser, die Straße selbst, Menschen, Bäume usw.). Das würde mich doch sehr stören. Wenn mich jemand fragt, was ich eigentlich sehe, habe ich in der Regel eine geeignete Antwort "zur Hand". Interessanterweise ist aber diese Antwort, auch wenn sie richtig ist, sehr vage (nicht nur allgemein), z.B.: "Ich habe eine Frau getroffen" oder "Ich habe zwei Kinder über die Straße laufen sehen". Auch das geschieht jedoch gewöhnlich im nachhinein. Meistens denke ich, wenn ich etwas - zumal "beiläufig" - sehe, entweder gar kein Wort oder habe ein solches bloß "im Hinterkopf', ohne es ausdrücklich zur Bezeichnung dieses Dinges zu gebrauchen. Dieses Vorhandensein für das Bewußtsein der betreffenden Namen während des Wahrnehmens und manchmal allein schon die Bereitschaft, sie zu besitzen, ist jedoch für das Wahrnehmungserkennen und erst recht für das Wiedererkennen eines 17

Ich habe meinerseits versucht, gewisse Umrisse des Aufbaus von Sprachgebilden, insbesondere des Satzes und seiner funktionalen Bestandteile darzustellen (vgl. Das Kunstwerk [Ingarden (1931a)], Kap. V).

literarische

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Gegenstandes in dessen gattungsmäßiger Natur nicht ohne Belang. In jedem Namen läßt sich, wie bekannt, zweierlei unterscheiden: a) ein bestimmter, für eine Sprache oder in einer Sprache typischer Laut, ζ. B. "Haus", "Fahrbahn", "Schnee", b) die Bedeutung dieses Namens, die sich auf einen von ihm verschiedenen Gegenstand - eben ein Haus, eine Fahrbahn usw. - bezieht und zugleich diesen Gegenstand in einer Hinsicht mehr oder weniger reichhaltig bestimmt. Dieser "Laut" erscheint als ein anschauliches Gebilde, als ein typischer Laut oder eine visuelle Gestalt bzw. - wie manche sagen - eine Aufschrift. Der letztere Ausdruck ist allerdings nicht besonders glücklich, denn eine Aufschrift wäre uns - auch nur in der Vorstellung - auf einer Unterlage (auf einem Blatt Papier, an einer Tafel oder dergleichen) gegeben, was normalerweise gar nicht der Fall ist. Es ist vielmehr einfach so, daß uns die graphische Gestalt eines "sprachlichen Zeichens" selbst in der Vorstellung vorschwebt, oder - häufiger - so, als wenn wir den typischen Laut des gegebenen Wortes hörten. Die an diesen "Laut" geknüpfte Bedeutung ist hingegen nichts Anschauliches; sie ist vielmehr eine Vermeinung von etwas. Wenn wir ein Wort einfach gebrauchen, um etwas zu benennen, erleben wir einen Akt des (rein begrifflichen, unanschaulichen) Meinens und stellen uns meist zugleich das betreffende "Wort" (den Wortlaut) vor. Beide Faktoren des Wortes können uns dabei sozusagen mit sehr verschiedenen Graden von Lebhaftigkeit gegeben sein. Am häufigsten tritt der Laut des Wortes gleichsam in den Vordergrund, seine Bedeutung dagegen bringen wir uns, indem wir sie einfach denken, nur nebenher zum Bewußtsein. Manchmal tritt das eine wie das andere ziemlich deutlich hervor, und nur ausnahmsweise rückt die Bedeutung selbst an die erste Stelle, während der Wortlaut (gleichsam nur in einer verkümmerten Form, die aber die Fähigkeit hat, das Denken der Bedeutung zu aktualisieren) ganz am Rande bleibt. Manchmal schließlich tritt nur die Bedeutung sehr lebendig hervor. Das geschieht, wenn wir vergessen haben, wie das gegebene Ding oder die gegebene Person "heißt", wobei wir aber an die Bedeutung selbst erinnern, sie uns - oder sogar viele verschiedene charakteristische Bestimmungen des fraglichen Gegenstandes - uns sehr lebhaft denken können und nur auf den "Namen" selbst nicht "kommen", ihn nicht aktualisieren können. Es kommt mir hier besonders darauf an, daß diese bei der Wahrnehmung erscheinenden (einfachen oder zusammengesetzten) Namen ihrer Bedeutung

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nach am häufigsten "Gattungsnamen", d. h. allgemeine Namen sind, die sich nur durch ihr gemeinsames Auftreten mit der Wahrnehmung auf das gerade wahrgenommene Ding beziehen. 18 Nur die Eigennamen, wie etwa "Warschau", sind nicht so sehr allgemein, als vielmehr vieldeutig (in den Vereinigten Staaten gibt es mehrere Städte, die diesen Namen tragen). Infolgedessen ist eine Beschreibung oder auch nur eine Bezeichnung der einzelnen Dinge oder Prozesse unter Verwendung von auch noch so komplexen Namen, sofern diese nicht einen Eigennamen enthalten, immer inadäquat, d. h. allgemein. Sie bestimmt durch ihren (materialen) Inhalt lediglich eine Auswahl von "allgemeinen" Eigenschaften, die für die Art dieser Dinge vielleicht charakteristisch ist, die aber die Individualität des gegebenen Dinges nie wiedergibt. Nur die Verwendung eines solchen Namens bewirkt durch einen entsprechend gerichteten und festgelegten Richtungsfaktor, daß der Name sich auf das gegebene Ding und nur darauf bezieht. Ein in einen zusammengesetzten Namen eingefügter Eigenname spielt de facto die Rolle eines eindeutig festgelegten Richtungsfaktors. Man soll aber den Fall nicht ausschließen, daß ein Eigenname durch eine entsprechende Gebrauchsweise in der Praxis des unmittelbaren Umgangs mit einer Person, eine Bedeutung angenommen hat, welche die individuelle Natur der gegebenen Person bestimmt (vielleicht [die individuelle Natur] im Sinne einer haecceitas - ein Begriff, der bekanntlich von Duns Scotus geprägt wurde); und in diesem Fall wird dieser Eigenname zu einem individuellen Namen. Das ist jedoch ein sehr seltener Fall. 19

ι ft Unter Berufung auf die Analyse der Bedeutung der Namen, die ich im Buch Das literarische Kunstwerk [vgl. § 15] durchgeführt habe, kann ich sagen, daß der [intentionale] Richtungsfaktor eines solchen allgemeinen Namens, der darin, wenn der Name mit keinem Kontext verbunden ist, in potentieller und "variabler" Gestalt auftritt, hier aktualisiert und eindeutig auf das gegebene Ding gerichtet wird. '9

Es gibt eine beachtenswerte Gewohnheit, seinen Freunden (oder Familienangehörigen) außer amtlichen Namen speziell für die gegebene Person geschaffene Namen zu geben, gerade in der Absicht, daß dieser Name wirklich "ihr eigener" sei. Im langen Umgang mit einer solchen Person zeichnet sich deutlich ihre individuelle Natur ab, und der Eigenname nimmt eine Bedeutung an, die auf diese Natur gleichsam hinweist. Ein solcher Eigenname ist dann mehr als ein bloßer Richtungsfaktor, und wenn er zur Beschreibung der gegebenen Person verwendet wird, führt er zu einer streng individuellen Beschreibung, die zugleich eine Reihe von allgemeinen (gemeinsamen) Merkmalen der gegebenen Person angibt.

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Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie, 2. Teil

Eine weitere Folge der Anwendung allgemeiner Namen solcher Art auf individuelle Gegenstände - und zwar immer desselben Namens auf denselben Gegenstand - ist, daß in der Wahrnehmung dieses Gegenstandes die durch den materialen Inhalt des betreffenden Namens bestimmten Merkmale sich allmählich abzeichnen oder sogar herausheben und im Laufe der Zeit gleichsam ein Aspekt werden, unter dem das gegebene Ding nachher (gewohnheitsmäßig) wahrgenommen wird. Manchmal nehmen diese sich in der ganzen Ausstattung des Dinges auszeichnenden Merkmale den Charakter von etwas an, was in diesem Ding besonders bedeutsam ist, und sie beginnen, als sein Wesen oder auch nur seine Natur zu gelten, während andere Merkmale in den Hintergrund treten und, da sie eine untergeordnete Rolle spielen, nachher nicht selten übersehen werden. Unter dem Einfluß der Sprache, der wir uns im täglichen Leben bedienen, bildet sich gleichsam eine schematische Perzeptionsweise der uns umgebenden Welt heraus, besonders der Dinge, die unserer nächsten, stets in unserem Wahrnehmungsfeld auftretenden Umgebung angehören. Die gebräuchliche Art und Weise, die uns umgebenden Dinge wahrzunehmen, wird somit durch die Umgangssprache modifiziert. Wie weit diese Modifizierung reicht und ob es wahr ist, daß jede Wahrnehmung - wie man gelegentlich hört - nur mit dieser Modifizierung durch die Sprache möglich ist, die sich nicht beseitigen läßt: das ist eine Frage für sich, die ich hier nicht entscheiden möchte. Genau genommen ist diese Frage noch viel komplizierter, weil sich im Laufe des wahrnehmungsmäßigen Umgangs mit einem Ding der Einfluß beträchtlich vermindert, den die Bedeutung des Namens auf die Gestalt hat, in der dieses Ding in der Wahrnehmung erscheint. Wie ich im Buch Das literarische Kunstwerk zu zeigen versuchte, muß man den vollen materialen Inhalt eines Namens in einer bestimmten Sprache von manchen in einem bestimmten Gebrauch aktualisierten Bestandteilen des Namens - im Gegensatz zu seinen bloß potentiellen Bestandteilen - unterscheiden. 20 In der sprachlichen Praxis und bei der Wahrnehmung eines Dinges wird uns nicht der volle materiale Inhalt des Namens bewußt, sondern eben eine Auswahl seiner aktualisierten Bestandteile, die ihrerseits dadurch aktualisiert wird, daß gewisse Eigenschaften des Dinges im Lauf der Wahrnehmung gerade in den Vorder-

en

Vgl. Das literarische Kunstwerk, § 16.

Probleme der Ontologie der Erkenntnis

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grund treten. So haben wir es hier nicht mit einem einseitigen Einfluß des materialen Inhalts des Namens auf den Gehalt von Wahrnehmungsgegebenheiten zu tun, sondern mit ihrer reziproken oder wechselseitigen Beeinflussung: Die Wahrnehmung verursacht die Aktualisierung von entsprechenden Bestandteilen des materialen Inhalts und umgekehrt. Dieser Prozeß hängt auch noch vom Verlauf der Erfahrung und vom Interesse des wahrnehmenden Subjekts ab, wie auch gewissermaßen von seiner Sprachfertigkeit. Ich bespreche hier nur einen der möglichen Fälle! Dieses ganze Problem erfordert viele ins Detail gehende Untersuchungen und wird gewiß nicht erledigt mit dem manchmal ausgesprochenen, gleichsam ein für allemal getroffenen Dekret, daß eine solche - wenn man so sagen darf - "Verbalisierung" der Erfahrung vorliegen müsse und daß infolgedessen die Untersuchungen über die (nicht nur äußere) Erfahrung mit sprachlichen Analysen einzusetzen hätten. Das fordern, ohne tiefere Begründung, die Positivisten bzw. die Vertreter der sog. "analytischen Philosophie" 21 . Vielleicht perzipieren sie selbst die sie umgebende Welt nur unter einem solchen aufgeprägten sprachlichen Aspekt und sind nicht mehr fähig, ihrer Umgebung - wie man sagt - "unbefangen gegenüberzutreten", eine reine, von sprachlichen Zutaten befreite Erfahrung der sie umgebenden Welt zu gewinnen. Schlimmer ist, daß ihre Untersuchungen sich oft auf einleitende Analysen gewisser gebräuchlicher Redewendungen beschränken, ohne zu dem zu gelangen, was letztlich zu untersuchen ist. Ihre ganze Erkenntnisbeziehung zu den realen Gegenständen der uns umgebenden Welt ist somit durch eine spezifische Vagheit, aufgezwungene Begriffsschemen sowie eine Dämpfung von Lebhaftigkeit und Intensität der Erfahrung gekennzeichnet und führt nicht zur Erfassung der persönlichen Selbstgegenwart der wahrgenommenen Dinge. Von diesem den Dingen aufgeprägten Aspekt muß man sich erst freimachen, um wieder fähig zu sein, Dinge und Menschen in ihrer originären lebendigen Gestalt mit einem deutlichen individuellen Zug wahrzunehmen. Es ist jedoch wahr, daß die ständige Verwendung gewisser Redewendungen in bezug auf dieselben Gegenstände sich auf deren Wahrnehmung nachteilig auswirkt. 91 Dieser Name ist sehr allgemein und deckt im Grunde sehr verschiedene Ansichten. Das erlaubt aber den Vertretern von einzelnen Spielarten dieser "Philosophie", Offensiv- und Defensivbündnisse gegenüber anderen philosophischen Richtungen zu schließen. Es ist immer leichter, scharenweise zu gehen als einzeln.

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Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie,

2. Teil

Das besteht insbesondere darin, daß wir viele Dinge im Hinblick auf Funktionen benennen, die sie in unserem praktischen Leben ausüben, zumal wenn es sich um Geräte oder Werkzeuge handelt, die wir gebrauchen. Demgemäß sprechen wir von "Lampen", "Häusern", "Fahrzeugen", "Straßen", "Büchern" usw. und nicht von diesen oder jenen physischen Körpern, die eine bestimmte Gestalt besitzen. Von diesen verschiedenen Einflüssen der Sprache auf die Erfahrung kann man sich aber befreien. Und diese Befreiung bringt mit sich nicht nur eine Auffrischung unserer Sichtweise der Welt, sondern auch eine Revision der vorgefundenen Sprache. Das Problem des Zusammenhangs von Erfahrung und Sprache ist noch mit einer weiteren Meinung verknüpft, die uns manchmal begegnet. Die Sprache ist ein Erzeugnis menschlicher Genialität, das für die Verständigung der Menschen untereinander geschaffen wurde. Nach ihrem eigenen Grundanliegen ist also die Sprache ein und dieselbe für viele, obwohl unzweifelhaft viele von uns gewissermaßen auf dem Hintergrund dieser vielen Menschen gemeinsamen Sprache ihre individuelle, intime Sprache bilden, in der sie verschiedene Dinge und Tatsachen auf ihre eigene Weise benennen. Gleichwohl ist die Sprache kraft ihrer ursprünglichen Funktion im Prinzip "gemeinsam" (KOINE,

wie die Griechen sagten). Wenn wir hier die schwierige Frage auslas-

sen, wie die Formung einer Sprache oder mehrerer Sprachen möglich ist, wie ζ. B. ein Kind eine den Älteren gemeinsame Sprache erlernen muß und nach einer gewissen Zeit seine individuelle, wenn auch noch so primitive Sprache in diese letztlich dem Kind und den Älteren, mit denen es verkehrt, gemeinsame Sprache einfügt - dann lassen wir auch eine erste Bedeutung dieser "Gemeinsamkeit" aus, eine Bedeutung, die sich schwerlich belegen läßt. Man sagt nämlich, die Sprache sei ein Erzeugnis einer schon vorhandenen menschlichen (oder tierischen) Gemeinschaft, andererseits scheint sie aber diese Gemeinschaft gewissermaßen erst möglich zu machen. Es bleiben jedoch noch weitere Bedeutungen der "Gemeinsamkeit" der Sprache übrig, nämlich: daß sie immer von einer Vielheit von Menschen (Tieren ?) verstanden wird, mithin "gemeinsam" im Verstehen und "gemeinsam" im Besitzen für eine Vielheit von Menschen, [daß sie also] ein und dieselbe ist, bei allen individuellen Abweichungen in den Bedeutungen einzelner Wörter und im Wortbestand, den die einzelnen Mitglieder der Sprachgemeinschaft gleichsam vor ihrem Hintergrund gebrauchen. Schließlich ist sie "gemeinsam" im Hinblick auf die

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gleichen Redeweisen, sowohl was die syntaktischen Funktionen als auch die gebrauchten Wendungen als endlich den Bestand an typischen Wortlauten angeht. Bei all dem ist die gemeinsame Sprache eines (obwohl nicht das einzige) 22 der Mittel zur Verständigung und zur Schaffung einer Art Einheit (Verbundenheit) zwischen Menschen. Dadurch ermöglicht sie das Zusammenwirken von Menschen sowie (was für uns besonders wichtig ist!) ihr gemeinsames Erkennen derselben Gegenstände. Diese zwischenmenschliche Einheit (die einmal nur zwei Leute, ein anderes Mal eine Familie, dann wieder eine ganze Gesellschaft umfaßt) bildet sich auf verschiedenen Ebenen, vor allem auf der Ebene des emotionalen Zusammenlebens und der gemeinsamen praktischen Bedürfnisse und Interessen, nicht weniger aber auf der sprachlichen Ebene heraus. Durch die Identität des Sinnes (der Bedeutung) einer ungeheuren Anzahl von Wörtern und Wendungen (bei prinzipiell zweitrangigen Unterschieden im Verständnis gewisser Ausdrücke) hat die Verwendung einer Sprache zur Folge, daß die Inhalte der Denkakte vieler Menschen, die über denselben Wortschatz und dieselben syntaktischen Formen verfügen, gleich oder sehr ähnlich sind. Ungeachtet der Individualität dieser Akte und ihrer Bedeutungskomponenten ist ihr Sinn (der Inhalt ihrer Meinungen) genau der gleiche. Es zeichnet sich also eine gewisse Gleichförmigkeit von diversen Kulturinhalten in verschiedenen Lebensbereichen ab. Sie findet vor allem im Bereich intellektueller Inhalte statt, daraus resultiert aber auch eine gewisse Ähnlichkeit emotionaler Inhalte, besonders in der Art des Empfindens und emotionalen Reagierens auf die Ereignisse, die in der die gegebene menschliche Gemeinschaft umgebenden Welt eintreten, schließlich auch eine Verwandtschaft in der Weise des Wollens und Begehrens. Diese u. a. durch eine gemeinsame Sprache bedingte Gleichheit oder Verwandtschaft ist wahrscheinlich das, was manche "gesellschaftliches Bewußtsein" nennen. Dieser Terminus ist mißverständlich, weil jedes Bewußtsein, das sich in der Zeit entwickelt, individuell ist, d. h. sich mit seinen konkreten Akten und Inhalten immer innerhalb eines psychischen Individuums (eines Ich) vollzieht. Es gibt kein Erlebnis, keinen Bewußtseinsakt, der als ein und 99

Es gibt viele zwischenmenschliche Situationen, in denen wir uns "ohne Worte" verständigen, in denen Worte nicht nur nicht notwendig sind, sondern sogar, auch wenn man sie gebrauchte, zu einer besseren Verständigung nicht ausreichen würden.

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Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie, 2. Teil

derselbe einen Teil zweier verschiedener Bewußtseinsströme ausmachen würde. Jede zwei Bewußtseinsströme sind in ihrem ganzen Seinsbereich im Verhältnis zueinander strukturell transzendent. Es gibt also weder solche Erlebnisse noch einen Bewußtseinsstrom, der ein und derselbe und zugleich ein Teil von vielen, derselben Gemeinschaft angehörenden Individuen wäre. In diesem Sinne gibt es somit kein "gesellschaftliches Bewußtsein". In den vielen einander strukturell transzendenten Bewußtseinsströmen können sich jedoch Akte mit einem gleichen oder verwandten Meinungsinhalt, mit einer gleichen Empfindungsweise, mit dem gleichen Objekt einer Liebe oder einer intellektuellen Tätigkeit vollziehen. Eine der Quellen dieser Gleichheit der vermeinten Inhalte ist gerade die gemeinsame Sprache, in welcher die Mitglieder einer sprachlichen und sonstigen Gemeinschaft sprechen und denken. Aber auch umgekehrt: Diese Sprache ist in ihren verschiedenen Merkmalen auch durch die psychischen Eigenschaften der Menschen und durch deren Art und Weise bedingt, sich auf die Welt zu beziehen, sie zu perzipieren und auf sie einzuwirken. Die Einwirkung ist hier also beiderseitig: Das Zusammenleben und speziell das Zusammenwirken von vielen Menschen in derselben Welt und die bis zu einem gewissen Umfang ähnlichen Bedürfnisse dieses Zusammenlebens tragen zur Bildung einer gemeinsamen Sprache bei, und diese gemeinsame Sprache trägt ihrerseits zur Festigung zwischenmenschlicher Bindungen in derselben Gesellschaft bei. Wie in anderen Fragen soll man auch hier nicht übertreiben und nicht behaupten (wie wir das manchmal hören), daß überhaupt alles im bewußten Leben des Menschen durch die Sprache vereinheitlicht, typisiert sei, und umgekehrt, daß sich in der gemeinsamen Sprache alles in diesem Leben ausdrücken oder dadurch bestimmen lasse. De facto verhält es sich anders: Die gemeinsame Sprache gibt nur das wieder, was durchschnittlich, alltäglich, typisch und zugleich oberflächlich ist. Zwar verwischt sie die untypischen, außergewöhnlichen, einmaligen Erscheinungen im bewußten Leben des Menschen nicht, die in der Größenordnung des Gedankens oder Gefühls das übertreffen, was "alle Tage" und "bei allen" geschieht; sie ist aber auch nicht imstande, diese überdurchschnittlichen Phänomene zu beherrschen und wiederzugeben. Für deren Wiedergabe muß man eine spezielle, dichterische oder begriffliche Sprache bilden, um auch noch bis zu einem gewissen Grade dasjenige darzustellen, was außerordentlich und zugleich tief, sublim, unwiederholbar ist. Nicht alles

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im Menschen und seinem Bewußtsein ist "gesellschaftlich". Und nur deswegen können menschliche Gesellschaften Veränderungen erfahren, sich entwickeln und das hervorbringen, was die gegebene Gesellschaft überholt, weil nur eine gewisse Schicht des Durchschnittlichen und Alltäglichen durch die "Alltags"sprache beherrscht und typisiert ist, während das wesentlich geistige und speziell emotionale Leben von Individuen in seiner Eigenart von Einflüssen der Umgangssprache unberührt bleibt. Die Eigentümlichkeit einer Volkssprache führt eine Trennung herbei oder trägt wenigstens zur Vertiefung einer Trennung zwischen zwei menschlichen Gesellschaften bei, indem sie oft die Verständigung zwischen ihnen unmöglich macht, besonders in Sachen, die an sich über den Bereich der durch diese Sprachen beherrschten Tatsachen hinausgehen, über die aber eine Verständigung gewonnen werden könnte, wenn z. B. eine dieser Sprachen in die andere "übersetzbar" wäre. Das sind alles Tatsachen, die im Gebiet dessen stattfinden, was man Sprechen und Gespräch (parole) nennen kann; außerdem spielt dabei auch das Besitzen einer gemeinsamen Sprache (langue) selbst eine große Rolle. 23 Es gibt aber noch einen dritten Sprachkomplex, nämlich Sprachgebilde, schriftliche Gebilde, literarische Werke verschiedenster Form, die, "niedergeschrieben", von da an "fixiert" und in einer -prinzipiell - identischen Gestalt vielen Mitgliedern derselben Sprachgemeinschaft zugänglich sind. Sie bilden ihrerseits einen neuen Faktor, der die Schaffung einer größeren Geschlossenheit dieser Gemeinschaft begünstigt. Diese Gemeinschaft besitzt eine gemeinsame Literatur bzw. ein Schrifttum und damit auch einen, wenn auch noch so sehr differenzierten und reichhaltigen, Komplex von Kunstwerken sowie künstlerischen und ästhetischen Werten. Der Umstand, daß sich mit diesen Werken viele Menschen bekannt machen, stellt eine Bindung zwischen diesen her, festigt ihre Einheit, ihre Gemeinsamkeit, obwohl er zugleich dazu beiträgt, daß man über das, was schon "abgegriffen", "trivial", typisiert und in gewissem Sinne tot ist, hinauswächst. Unter diesen Werken finden sich u. a. wissenschaftliche Werke verschiedener Art oder wenigstens Werke, die mannigfaltigen Erkenntnistätigkeiten vieler Menschen entstammen und nach ihrem

Λ-1

[Vgl. F. de Saussure, Cours de linguistique générale (Pubi, par Charles Bally et Albert Sechehaye avec la collaboration de Albert Riedlinger), Lausanne, Paris 1916.]

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Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie, 2. Teil

Entstehen dazu dienen, weitere Erkenntnisse von denselben oder anderen, doch miteinander in Verbindung stehenden Erkenntnissubjekten zu gewinnen. Ich spreche über all diese Tatsachen zunächst unter Berufung auf verschiedene Erfahrungen in bezug auf sprachliche Tatsachen und Erzeugnisse. Ich bin jedoch der Meinung, daß man auf Grund einer ganz speziellen Erfahrung, in der diese Tatsachen und Erzeugnisse uns gegeben sind (was diese Erfahrung ist, das wurde bisher noch nicht gebührend erforscht!), eine entsprechende eidetische Erkenntnis der Sprache, ihrer Erzeugnisse und ihrer Gebrauchsweise im konkreten Leben von Individuen und ganzen menschlichen Gesellschaften gewinnen kann. Eine solche eidetische Forschung muß innerhalb der Erkenntnistheorie in allen Fragen unternommen werden, in denen die Sprache die eine oder andere Rolle beim Erkennen spielt. Vergegenwärtigen wir uns zuerst auch nur vorbereitend die Rolle, die der sprachliche Umgang der Menschen miteinander sowie Funktionen der Sprache und ihrer Gebilde beim Erkennen und bei der Erkenntnis spielen. Das ist eine wesentliche Frage, an der wir hier bisher nicht gerührt haben. Diese Rolle ist sowohl positiv, da sie viele Vorteile bringt, als auch negativ, sofern sie dem Erkennen viele Schäden zufügt. Die Sprache modifiziert das Erkenntnissubjekt wie auch seine Verhaltensweisen wie schließlich die Erkenntnisbeziehung, die Art von "Begegnung" des Erkennenden mit dem Gegenstand, wodurch sie manchmal das Gewinnen einer Erkenntnis in großem Maße erschwert und deren Mitteilung entstellt. Wir beschränken uns hier nur auf ein paar Punkte. Als ein Mittel der Verständigung und des Zusammenwirkens von vielen Personen miteinander macht die (schon vorhandene, vorgefundene) Sprache eine erkenntnismäßige Zusammenarbeit an denselben Erkenntnisgegenständen dadurch möglich, daß sie Auskünfte über Gegenstände erteilt, die dem Erkenntnissubjekt im gegebenen Moment (oder überhaupt) nicht gegenwärtig sind. Nicht gegenwärtig im gegebenen Moment sind in der Regel Dinge und Prozesse, die man prinzipiell wahrnehmen kann; außerdem gibt es aber viele Erkenntnisgegenstände, die sich überhaupt nicht wahrnehmen lassen, z.B. mathematische Funktionen oder längst vergangene historische Tatsachen. Die Sprachgebilde machen es uns möglich, uns mit fremden Erkenntnisergebnissen bekannt zu machen, die sich auf solche "nicht gegenwärtigen" Ge-

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genstände beziehen, und somit deren Erkenntnis voranzubringen, oder sie erlauben auch, diese Erkenntnisergebnisse nur zu kontrollieren, z. B. dadurch, daß wir nachprüfen, ob in einer Theorie keine logischen oder faktischen Fehler vorkommen. Die neu gewonnenen Ergebnisse können ihrerseits wieder denjenigen [Subjekten] sprachlich mitgeteilt werden, die sich schon mit der Erkenntnis gewisser Gegenstände beschäftigt haben, und von diesen [Subjekten] ebenfalls einer Kontrolle unterzogen werden, oder sie können auch als Ausgangspunkt zu weiteren Untersuchungen dienen. Vor allem können dadurch bei verschiedenen Erkenntnissubjekten diverse, wahrnehmungsmäßige oder begriffliche Forschungsakte stattfinden, die bei einem einzelnen Forscher aus verschiedenen psychologischen Gründen und wegen gewisser äußerer Umständen vielleicht nicht zustande kommen könnten. Viele verschiedene Personen erkennen immer wieder etwas Neues in demselben. Die sprachlich gefaßten Erkenntnisergebnisse, die man einander mitteilt, ermöglichen nicht nur eine größere "Offenheit" des Bewußtseins des Erkenntnissubjekts für einen umfangreicheren Komplex von Tatsachen, sie verschärfen nicht nur seine Wahrnehmungs- und Denkfähigkeit, sondern sie verändern auch bis zu einem gewissen Grad die Struktur des Erkenntnissubjekts: Von einer rein individuellen, einmaligen in eine, die für die Mitgliedschaft in einer Gruppe oder auch nur einer verstreuten Menge von Individuen charakteristisch ist. Manche würden vielleicht sagen, daß sich auf diese Weise ein neues, überindividuelles, "soziales" Erkenntnissubjekt etabiliere, und danach vermutlich hinzufügen, daß es überhaupt keine anderen Erkenntnissubjekte gebe als solche "sozialen", daß in einem erkennenden Individuum, einer Einzelperson, nichts geschehen oder entstehen könne, was nicht gleich sozialer Provenienz wäre. Das ist aber wieder eine Übertreibung, die übrigens eine schwer nachprüfbare Metaphysik verbirgt, und zwar eine, die manchmal von Theoretikern betrieben wird, die aller Metaphysik sehr feindlich gesinnt sind. Vorsichtig kann man aber feststellen, daß wir dank der Möglichkeit, Erkenntnisergebnisse in ein Gewand sprachlicher Gebilde zu kleiden (ich übersehe nicht die Grenzen dieser Möglichkeit und werde noch darauf zurückkehren) und sie beim Erkennen verschiedener anderer Gegenstände zu verwenden - nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als wissenschaftliche "M/farbeiter" - Teilnehmer eines Erkenntnisprozesses sind. Dieser Prozeß spielt sich zwar immer innerhalb einer ihre individuellen Erkenntnisakte vollziehenden Einzelper-

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son ab, doch er verläuft zugleich nicht nur einfach unter Teilnahme von vielen Erkenntnissubjekten, sondern [diese Erkenntnissubjekte] werden gewissermaßen mit fremden Gedanken, Ideen angesteckt. Die Erkenntnisakte eines Erkenntnissubjekts werden unter (beabsichtigter oder unbeabsichtigter, bewußter oder unbewußter bzw. nur bis zu einem geringen Grade bewußter) Rücksichtnahme auf die fremden Erkenntnisakte vollzogen, auf Akte, die vergangen, in der Zeit und im Raum weit entfernt sind, die aber durch ihr sprachlich gefaßtes Erkenntnisergebnis den Ablauf des sich im gegebenen Subjekt abspielenden Erkenntnisprozesses dennoch modifizieren. Bisweilen nützt das, ja versetzt uns das in die Lage, nicht nur ein fremdes Erkenntnisergebnis passiv zu übernehmen, sondern auch ein ganz neues Ergebnis zu erlangen. Bisweilen wird jedoch die Gewinnung eines neuen Erkenntnisergebnisses dadurch schwieriger oder gar unmöglich, wenn [diese Rücksichtsnahme] zu einem bloß automatisierten, passiven Wiederholen fremder "Gedanken" führt. Sowohl daraus, daß der Verlauf eines individuellen Erkenntnisprozesses oder die Vollzugsweise von einzelnen Erkenntnisakten modifiziert wird, wie auch daraus, daß es ein Mitglied einer Vielheit von miteinander kommunizierenden Erkenntnissubjekten ist und sich als solcher fühlt, ergibt sich, daß die Struktur des erkennenden Subjekts eine andere ist, als wenn es seine Erkenntnisakte in völliger Isolation und ohne jedwedes Wissen von anderen Erkenntnissubjekten vollziehen würde. Diese Art von Struktur des Erkenntnissubjekts scheint im wirklichen Verlauf menschlichen Erkennens vorherrschend zu sein. Das schließt jedoch nicht aus, daß ein Erkenntnissubjekt, das völlig isoliert wäre, Erkenntnisakte sowohl in bezug auf Gegenstände der es umgebenden Welt vollziehen könnte als auch in bezug auf Gegenstände, die dieser Welt nicht angehören, ihm aber dennoch erkenntnismäßig zugänglich sind. Die anfänglich skizzierte Analyse mindestens mancher Elemente im Bereich der allgemeinsten Idee der Erkenntnisbegegnung soll also modifiziert bzw. dadurch ergänzt werden, daß das Erkenntnissubjekt in zwei sich voneinander abhebenden formalen Strukturen auftreten und über zwei verschiedene Typen von möglichen Akten und erst recht von komplexen Erkenntnisprozessen verfügen kann: über einen Typus, der für ein sozusagen individuell existierendes Erkenntnissubjekt charakteristisch ist, und über einen, der ein zu einer Gemeinschaft von Erkenntnissubjekten gehörendes Subjekt kennzeichnet.

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Es versteht sich von selbst, daß diese neue Problemperspektive die Erkenntnistheorie vor eine Menge von Problemen stellt, die nicht wie bisher in Gestalt von gewissen empirisch angegebenen Beispielen, sondern in der eidetischen Einstellung zu betrachten sind. Diese betrifft zum einen den Gehalt der allgemeinen Idee der "gemeinsamen" Sprache und deren Gebilde, d. h. der Sprache als eines Gebildes, das von vornherein "intersubjektiv" ist bzw. ebenso wenn es von bewußten Subjekten, insbesondere Erkenntnissubjekten, gebraucht wird wie auch wenn wir ihre allgemeine Idee einer analytischen Untersuchung unterziehen, als ein Objekt theoretischer Forschung - intersubjektiv zugänglich ist. Eidetisch ist auch zu erwägen die Beziehung der Sprache zum Erkennen verschiedener außersprachlicher Gegenstände und speziell auch zu den - ohne Hilfe der Sprache wie auch mit ihrer Hilfe gewonnenen - Ergebnissen dieser Erkenntnis. Schließlich muß man auch die Beziehung der beim Erkennen verwendeten Sprache zu rein denkmäßigen Erkenntnisprozessen erwägen. Auf den ersten Blick scheint es, daß Sprachgebilde ein Mittel darstellen, Ergebnisse der in reinen Denkoperationen gewonnenen Erkenntnis zu "fixieren", zumal wenn diese Ergebnisse "niedergeschrieben" werden. Am wichtigsten und zugleich vielleicht am schwierigsten ist die Aufgabe, den Gehalt der Idee von vielen verschiedenen erkennenden oder allgemeiner - bewußten Erkenntnissubjekten (Monaden) analytisch-eidetisch zu erforschen, die so aufgebaut sind, daß sie über mögliche Akte der gegenseitigen Verständigung und speziell der Erkenntnis von fremden Bewußtseinserlebnisssen, besonders Erkenntniserlebnissen, verfügen. Die theoretische Sachlage, deren Betrachtung zur Erarbeitung einer Idee (eines Begriffs) einer von vielen Erkenntnissubjekten betriebenen und zugleich für diese vielen Erkenntnissubjekte [geltenden] Erkenntnistheorie führen soll, kompliziert sich schon innerhalb der Ontologie des reinen Erkennens selbst erheblich. Trotzdem können wir weder diese Problematik a limine verwerfen noch im voraus befinden, daß ihre Realisierung nicht möglich sei. Es scheint nur, daß man, um eine letzte Erkenntnisgrundlage für die Schaffung einer derartigen Erkenntnistheorie zu finden, nicht sozusagen auf einen Schlag, sofort verfahren kann, sondern daß man dies in verschiedenen aufeinanderfolgenden Schritten vollbringen muß: Zuerst muß man dies für ein einziges, "mein" Erkenntnissubjekt [durchführen], danach erst für viele und schließlich für alle möglichen Erkenntnissubjekte, und zwar vieler verschiedener Arten. Einst-

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Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie, 2. Teil

weilen hat sich die Situation im Verhältnis zu den früher angestellten Erwägungen insofern verändert, als wir bei der Rede von den Erkenntnisakten eines einzelnen Subjekts nicht vergessen dürfen, daß sowohl der Verlauf dieser Akte als auch ihr Intentionsinhalt durch das von diesem Subjekt eventuell unterhaltene (zunächst nicht erforschte) Wissen von anderen möglichen Erkenntnissubjekten und durch die "gemeinsame" Sprache modifiziert werden kann (obwohl nicht notwendigerweise muß). Indem ich hier die Problematik der Erkenntnisontologie umreiße und das Problem der möglichen Sprache (bzw. ihrer Gebilde) sowie ihrer Teilnahme am Erwerben und Fixieren von Erkenntnis berühre, kann ich die Frage nicht übergehen, auf welche Weise Sprachgebilde oder die Sprache selbst (als ein System oder eine Mannigfaltigkeit von bedeutungsvollen Wörtern oder gewissen syntaktischen Operationen und Ausdrucksweisen) die Gestalt der "Begegnung" des erkennenden Subjekts mit dem Gegenstand und speziell die Gestalt der Erkenntnisbeziehung zwischen diesen [Gliedern] beeinflussen. Wie ich schon erwähnt habe, übt das Vorhandensein einer (vorgefundenen) Sprache einen Einfluß auf den Verlauf der Erfahrung (insbesondere der äußeren Wahrnehmung) selbst aus, so daß es für ein Subjekt, das über eine (vorgefundene) Sprache verfügt, - wie manche behaupten - nicht mehr möglich sei, eine "reine", durch die Sprache auf keine Weise modifizierte Erfahrung zu gewinnen. Es scheint jedoch durchaus möglich zu sein, diese Modifizierung sowohl zu verstärken, als auch sie dermaßen abzuschwächen, daß man - im Grenzfall - reine Erfahrung erlangt.24 Die Tatsache, daß das Erkenntnissub-

24

Das scheint in dem Fall möglich, wo in der gegebenen Sprache noch kein Wort vorhanden ist, das sich auf einen bestimmten Gegenstand beziehen würde, insbesondere kein Name, der eine Benennung oder Bezeichnung dieses Gegenstands sein könnte. Eine solche "vorsprachliche" Erfahrung scheint möglich (von manchen wird das bestritten), fuhrt aber in der Regel zu Bemühungen, geeignete sprachliche Mittel zu finden, die den zunächst in der reinen Erfahrung erkannten Gegenstand in ein sprachliches Schema, unter einen "Begriff' bringen. Die Tatsache, daß diese Bemühungen manchmal scheitern, weil wir am Ende zugeben müssen, daB es uns zwar gelungen ist, den gegebenen Gegenstand (oder seine Idee) zu erschauen, daß wir es aber weder vermochten, [dafür] einen passenden Namen zu finden oder zu prägen noch einen Satz zu bilden, der als seine Bestimmung dienen könnte, [diese Tatsache] scheint am besten dafür zu sprechen, daß eine solche reine "vorsprachliche" Erfahrung möglich ist. Jedenfalls verfügen wir aber Uber eine Idee einer solchen Erfahrung und können ihren Gehalt in der eidetischen Einstellung verdeutlichen.

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jekt über eine vorgefundene oder im Laufe des Erkennens neu gebildete oder umgebildete Sprache verfügt, eröffnet die Möglichkeit einer ganz anderen Erkenntnisbeziehung des erkennenden Subjekts zum Erkenntnisgegenstand als diejenige, die bei der reinen Erfahrung vorliegt. Sie könnte als "rein sprachliche" oder "rein denkmäßige" Beziehung bezeichnet werden. Man könnte in diesem Fall vielleicht schwerlich sagen, es komme hier zu einer "Begegnung" des erkennenden Subjekts mit dem Erkenntnisobjekt. Es ist dies eine Beziehung, bei der das erkennende Subjekt keinen anschaulichen und speziell erfahrungsmäßigen (im umfassenden Sinne des Wortes) Kontakt zum Erkenntnisgegenstand hat und sich dennoch auf diesen nicht nur durch seine Denkakte bezieht, sondern ihn auch erkennt. Die Betonung, daß dies rein denkmäßige oder rein sprachliche Akte seien, setzt dabei gar nicht voraus, daß sie sich vor aller empirischen Erfahrung oder vor der eidetischen Intuition vollziehen müssen. Es handelt sich nur darum, daß sich im Laufe eines solchen rein denkmäßigen oder rein sprachlichen Sichbeziehens auf den Erkenntnisgegenstand kein Akt der Erfahrung (im weiten Sinne des Wortes) abspielen soll, der diesen Gegenstand beträfe. Die Erkenntnisontologie soll erst entscheiden, ob eine rein denkmäßige Erkenntnis eines Gegenstands möglich wäre, wenn das Erkenntnissubjekt über keine vorgefundene Sprache verfügen würde. Auf jeden Fall kann man aber wohl zugeben, daß das Verfügen über eine, sei es auch nur verhältnismäßig arme Sprache die Ausführung von rein denkmäßigen Erkenntnisoperationen, z.B. komplizierten Schlußfolgerungen, Beweisen mathematischer Sätze usw. immens erleichtert. Der Umfang und die Reichweite dieser Operationen erweitern sich dadurch erheblich, daß wir eine angemessen entwickelte Sprache besitzen. Die Tatsache aber, daß es möglich ist, die sprachlich gefaßten Erkenntnisergebnisse "aufzuschreiben", ist bei der Durchführung von rein denkmäßigen Erkenntnisoperationen ebenfalls sehr hilfreich. Diese Behauptung erfordert keine Begründung. Bei all diesen scheinbar segensreichen Vorteilen, die sich aus der Möglichkeit der Verwendung der Sprache in der Erkenntnis ergeben, bringt doch die Sprache ebenfalls eine wesentliche Gefahr mit sich, welche die Gewinnung einer echten Erkenntnis gewisser Gegenstände bedroht. Denn die Sprache befreit das Subjekt vom ständigen Bedürfnis, mit dem Erkenntnisgegenstand erfahrungsmäßig zu verkehren, und gerade diese Möglichkeit, die

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Erfahrungserkenntnis vom Gegenstand gleichsam abzutrennen, hat zugleich zur Folge, daß wir, die Erkenntnis des Gegenstandes fortführend, uns auf einen bloß sprachlichen Bezug auf diesen, auf das Operieren mit bloßen Wörtern und Sätzen beschränken, indem wir - um es kraß zu formulieren "blind" über Farben sprechen. In den Fällen, wo es sich um Gegenstände handelt, von denen sich das Wissen in ein deduktives System fassen läßt, das auf echten Axiomen beruht (d. h. auf solchen, die in der eidetischen Intuition und nicht durch eine einfache, blind angewendete Konvention gewonnen werden), können neue Behauptungen - trotz dieser Erkenntnisdistanz zum Forschungsgegenstand - letztlich aus dem System der Axiome abgeleitet werden, die u. a. Sachverhalte betreffen können, die sich nicht direkt in der eidetischen Intuition erfassen lassen. Die deduktive Ableitung jener Behauptungen aus den Axiomen macht also den einzig möglichen Weg zu ihrer Gewinnung aus. Nicht immer gestatten es uns jedoch Erkenntnisgegenstände, sie in ein Gebiet einzugliedern, das sich in ein formales deduktives System fassen läßt. In solchen Fällen [wo dies nicht möglich ist] kann eine rein sprachliche Beziehung des Subjekts zum Gegenstand der Erkenntnis - sowohl wenn es sich um Erfahrungserkenntnis (in dieser oder jener engen Wortbedeutung) als auch wenn es sich um eidetische Erkenntnis handelt - nur mit Hilfe einer schon ausgebildeten, ziemlich reichen Umgangssprache gewonnen werden. Dann ist aber auch das Erkennen von verschiedenen Gefahren bedroht, in erster Linie durch Vieldeutigkeiten der Umgangssprache, [sodann] durch die Unklarheit und den Schematismus von verwendeten Namen oder Wendungen, [fernerhin] dadurch, daß es sich völlig falscher Sätze bedient, die jedweder Grundlage in der Erfahrung wie in der eidetischen Intuition entbehren. Ohne Zuhilfenahme einer entsprechenden Art von unmittelbarer Erkenntnis kann man dann weder begangene Fehler richtigstellen noch die dem Erkennen dienende Sprache verfeinern, d. h. sie präzisieren, neue Wendungen finden und schließlich sich von schematischen Äußerungen befreien, die nur den Schein von Wissen erwecken, ohne daß dieses tatsächlich gewonnen und vertieft würde. Ein bloß sprachlicher Bezug auf Gegenstände liegt vielen Veröffentlichungen zugrunde, die äußerliche Züge von Wissenschaftlichkeit tragen, in Wahrheit aber nur die Unfähigkeit des Autors vertuschen, eine echte, aus einer Quelle geschöpfte Erkenntnis zu gewinnen.

Die

Erkenntniskategorien

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Diese Quelle kann nur entweder eine entsprechende Art von Erfahrung oder die eidetische Intuition sein.

§ 30. Die Erkenntniskategorien Die Analyse des Gehalts der obersten Erkenntnisidee und einer Reihe von darunter fallenden spezielleren Ideen, eine Analyse, deren verschiedene Richtungen ich im vorigen Paragraphen vorzuzeichnen versuchte, soll uns zur Festlegung einer Reihe von erkenntnistheoretischen Grundbegriffen und insbesondere von Erkenntniskategorien führen. Wir müssen jetzt, wenn auch nur in groben Zügen, die Frage erörtern, welche grundlegenden Erkenntnisbegriffe, d.h. Erkenntniskategorien, sich abgrenzen lassen als eine gesonderte Gruppe, die verschiedenen Formen der Erkenntnisbeziehung und deren möglichen Gliedern (insbesondere [der Form] der Begegnung des erkennenden Subjekts mit dem Erkenntnisgegenstand) zugehört. Was die Kategorien anbelangt, deren System Kant in der Kritik der reinen Vernunft aufzustellen versuchte, so sind sie - obwohl Kant sie aus einem System von Urteilen (mithin Gebilden zweifellos erkenntnismäßiger Natur) ableitet und mit den Weisen in Verbindung bringt, wie man einem Gegenstand ein Prädikat beilegen kann dennoch gegenständliche 25 , oder besser, Seinskategorien, grundlegende Formen des Seienden wie auch grundlegende Arten des Seins selbst bzw. ihre Begriffe. Hier dagegen handelt es sich um Grundbegriffe, die mit der Erkennt«isbegegnung verknüpft sind, d.h. sich entweder auf die Glieder dieser Begegnung beziehen oder auf das, was sich in der Begegnung selbst vollzieht (was sie selbst ist) oder schließlich auf das, was das Ergebnis oder Erzeugnis dieser Begegnung ausmacht. Gewiß ist alles, was wir soeben aufgezählt haben und gleich ausführlicher beschreiben werden, entweder auch irgendwie seiend in der Zeit des Eintretens der Erkenntnisbegegnung, oder es wird bei deren Eintreten als Seiendes vorausgesetzt, oder es wird schließlich in dieser Begegnung selbst ein Seiendes. Es soll aber hier nicht in seinem Sein, sondern unter dem Aspekt betrachtet werden, wie es beschaffen ist und welche Rolle

Ich lasse hier natürlich außer Betracht, daß Kant sie als sog. apriorische Formen deutete, die seiner Meinung nach den Dingen an sich vom Erkenntnissubjekt aufgeprägt werden.

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es in der Erkenntnisbeziehung eines Subjekts zu einem Seienden spielt. Unter diesem Aspekt soll es auch dem Seienden gegenübergestellt werden, das dem Erkennen unterliegt oder schon erkannt worden ist und das in diesem Erkennen vorzugsweise daraufhin erfaßt wird, wie es beschaffen ist, wobei es sich aber auch darum handelt, daß es wirklich soundso beschaffen ist, und somit auch, daß es so oder anders existiert. Als grundlegende Elemente der "Erkenntnisbegegnung" sind die folgenden Entitäten anzusehen, deren Begriffe (und korrelativ Ideen, eventuell konstante Gehalte der allgemeinsten Erkenntnisidee) Erkenntniskategorien ausmachen: a) das erkennende Subjekt, b) der Gegenstand des Erkennens bzw. der Erkenntnis, c) das Erkennen, d. h. der Erkenntnisakt oder die Erkenntnisoperation, d) die Erkenntnisbeziehung zwischen dem Subjekt, das den Erkenntnisakt vollzieht, und dem Gegenstand des Aktes, e) das Erzeugnis des Erkennens, d. h. das Erkenntnisergebnis und ein Spezialfall von diesem: die Erkenntnis. Außerdem gibt es eine Reihe von sozusagen "abstrakten" Grundbegriffen der Erkenntnistheorie, die gewisse Züge oder Momente sei es der Erkenntnisbeziehung, sei es des Erkenntnisergebnisses betreffen. Man könnte in diesem Fall auch von sekundären Erkenntniskategorien sprechen, dies könnte indes mißverstanden werden. Was die mit der Erkenntnisbeziehung verbundenen Kategorien anbelangt, so kommen hier die zwei einander entgegengesetzten Kategorien "Transzendenz" und "Immanenz" in Frage, es gilt aber noch ein paar Transzendenzkategorien unterscheiden. An das Erkenntnisergebnis dagegen knüpfen sich Kategorien seiner verschiedenen Werte, die so oder anders herausgestellt werden, je nachdem, welcher Aspekt des Erkenntnisergebnisses in Betracht kommt. In jedem Fall können wir einen positiven und einen negativen Wert eines Erkenntnisergebnisses einander gegenüberstellen, nämlich: a) Wahrheit oder "Objektivität" und Falschheit (NichtObjektivität), b) Adäquatheit (Vollständigkeit) und Inadäquatheit (Unvollständigkeit), c) Sicherheit und Unsicherheit (Wahrscheinlichkeit), d) Widerspruchsfreiheit und Widersprüchlichkeit, e) Geschlossenheit und Zusammenhangslosigkeit des Aufbaus eines Komplexes von Erkenntnisergebnissen. Man behauptet gewöhnlich, Kategorien (ζ. B. gegenständliche oder Seinskategorien) zeichneten sich dadurch aus, daß sie sich nicht "definieren" ließen, weil sie etwas schlechthin Einfaches, irgendwelche letzten Elemente

Die

Erkenntniskategorien

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von zusammengesetzten Inhalten oder letzte Momente von gewissen synthetischen Formen oder Strukturen seien. Nun, indem ich hier im Zusammenhang mit dem Problem der Erkenntniskategorien nur eine Auswahl von möglichen Themen angebe, die in der Erkenntnistheorie zu behandeln sind, setze ich gar nicht voraus, daß die Erkenntniskategorien in ihrem Wesen letztlich einfach sind und sich nicht "definieren" lassen. Es kommt mir auf eine "Erklärung" im Sinne von "Aufklärung" der hier in Betracht kommenden erkenntnistheoretischen Begriffe an. Es kann sein, daß wir bei der Ausführung dieser Aufgabe auf Bestandteile des Inhalts [dieser Kategorien] stoßen werden, die sich nicht definieren lassen, oder daß diese Kategorien selbst sich als schlechthin einfach, undefinierbar erweisen werden. Auch im letzteren Fall müssen wir uns aber bemühen, zu verstehen, was sie in ihrem letzten Wesen sind. Die Aufklärung von Erkenntniskategorien ist keine leichte Aufgabe, die sich mit einer kurzen Überlegung erledigen ließe. Sie stellt übrigens eine der Hauptaufgaben der Erkenntnistheorie dar. Hier gilt es allein, die Problematik selbst zu umreißen sowie einleitende und ganz vorläufige Bestimmungsvorschläge in bezug auf den Inhalt der grundlegenden Erkenntniskategorien zu machen. Das Erkenntnissubjekt ist das sog. "reine Ich", das Erkenntnisakte vollzieht - im Unterschied zum Menschen (oder einem anderen bewußten Lebewesen). Dabei soll weder positiv noch negativ die Frage entschieden werden, ob das "reine Ich" in irgendwelchem Seinszusammenhang mit dem Menschen steht oder nicht, ob ζ. B. eine Bedingung seiner Existenz ein realer Mensch ist, ob die vom reinen Ich vollzogenen Akte zugleich Akte eines Menschen sind, ob diese Akte und das reine Ich selbst nur ein Abstraktum von konkreten Bewußtseinsakten eines Menschen sind oder - wie es z.B. die transzendentalen Idealisten wollen - das reine Ich und dessen "reine Erkenntnisakte" eine Bedingung für die Existenz des Menschen und seiner Bewußtseinsakte sind und der Mensch selbst schon einen der Gegenstände der Erkenntnis ausmacht, und zwar einen, der in seinem Sein durch reine Erkenntnisakte des reinen Ich bedingt ist. Das alles sind Fragen, die man erst in der Ontologie der Erkenntnis, aufgrund von ontischen Konsequenzen gewisser Entscheidungen der Epistemologie, überhaupt korrekt formulieren und lösen könnte. Für die Erkenntnistheorie ist nur wichtig, daß der reale Mensch als bewußtes, auf irgendeine Weise beseeltes Wesen außerhalb des

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Bereichs dessen verbleibt, was nach dem Vollzug der epistemologischen EPOCHE

das Forschungsfeld der Erkenntnistheorie ausmacht. Der Mensch

fällt unter die Klausel der dem philosophierenden Subjekt auferlegten Urteilsenthaltung; seine Idee kann [somit] mit der des reinen Erkenntnissubjekts nur kontrastiert werden. In der Erkenntnistheorie ist das "Ich" nur ein Vollzugssubjekt von bewußten Erkenntnisakten, das auch zusammengesetzte Erkenntnisoperationen ausführt, sich auf gewisse Gegenstände bezogene Erkenntnisergebnisse zum Bewußtsein bringt und zugleich durch dieses Zum-Bewußtsein-Bringen für die Fixierung und Setzung jener Ergebnisse verantwortlich ist. Das bedeutet aber nicht, daß das "reine Ich" - wie Husserl in einer Periode behauptete - [aller] Merkmale, aller Bestimmungen beraubt wäre. Im Gegenteil, [seine] Vollzugsweise von Akten selbst, seine Funktionen bei der Ausführung von zusammengesetzten Operationen, seine erkenntnismäßigen Entscheidungen usw. bestimmen - wie ich schon früher erwähnt habe - eine Auswahl von Determinationen des reinen Ich und seine möglichen gattungsmäßigen Differenzen. Jetzt komme ich darauf deswegen noch einmal zurück, weil der Sinnunterschied hervorzuheben ist zwischen dem "Subjekt von Erkenntnisakten und anderen Bewußtseinsakten" und dem "Subjekt von Merkmalen, von diesen oder jenen

Determinationen".

Andererseits muß davon auch das Subjekt einer Handlung im Sinne einer realen Tätigkeit innerhalb der realen Welt oder einer kreativen Tätigkeit im Sinne des Schaffens von Kulturgebilden, z.B. Kunstwerken, unterschieden werden. Das Subjekt-von-Merkmalen-(Bestimmtheiten)-Sein ist eine rein formale Struktur, die für jeden Gegenstand (jede selbständige Entität) kennzeichnend ist. Es scheint, daß der erste Unterschied deutlich und verständlich ist. Man kann sich hingegen fragen, ob einer und gegebenenfalls welcher Unterschied zwischen Handlungssubjekt und Erkenntnissubjekt besteht. In beiden Fällen macht sich, scheint es, eine gewisse Aktivität des Subjekts bemerkbar. Es ist der Autor einer Tätigkeit, indem es in gewisser Weise auf etwas aus seiner Umgebung einwirkt, beispielsweise mit einer Maschine schreibt, also Bewegungen der Tastatur und mittelbar Änderungen auf dem Papier verursacht. Es scheint, daß im Falle des Erkennens derselben Schreibmaschine keine derartige "Tätigkeit" vorliegt, die darin bestünde, daß an der Schreibmaschine Änderungen hervorgerufen würden, wenn diese Tätigkeit ausschließlich in einem Akt der bewußten Wahrnehmung,

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insbesondere des Sehens, besteht. Die Maschine ist uns als ein physischer Gegenstand gegeben, der autonom und unabhängig von meiner Wahrnehmung existiert. Der bewußte Akt des Sehens ist in diesem Fall völlig machtlos, weil diese Maschine - wie sich H. Conrad-Martius ausdrückte gegenüber meinem Sehakt "real transzendent" ist. 26 Sie selbst ist als real transzendent (in ihren Eigenschaften unempfindlich dafür, daß sich mein Sehen vollzieht) vermeint. Zugleich scheint mein Sehakt seinem Wesen nach ihr gegenüber machtlos zu sein, ja es gehört zu seiner Intention, daß er durch seinen Vollzug in ihr keine Veränderungen hervorrufen soll. Es liegt in seiner Intention oder vielmehr in der Intention des wahrnehmenden Ich, jenen Akt so auszuführen, daß er den Gegenstand, auf den er sich bezieht, in keiner Weise antastet, [den Gegenstand,] den er nur zu erforschen, dergestalt aufzudecken versucht, wie dieser selbst ist, unabhängig davon, daß der Sehakt stattfindet. In meinem Bewegen der Tasten in gewisser Weise und in einer gewissen Reihenfolge liegt dagegen die Intention, die Absicht, in der Maschine gerade die vorausgesehenen Veränderungen hervorzurufen. Man kann dabei daran zweifeln, daß irgendeine meiner Tätigkeiten dieser Art ohne Teilnahme meines Körpers, ohne Handbewegungen usw. ausgeführt werden könnte. Man kann aber auch an der These zweifeln, daß sich mein Sehen ohne jedwede physische Handlung, wie die Beteiligung der Augen, das Hinwenden des Kopfes in eine entsprechende Richtung, die Beleuchtung der Maschine usw., vollziehen könnte. Das ist aber nicht das Sehen selbst, d. h. ein bewußter Akt des Schauens und Erblickens von Eigenschaften der Maschine. Ob sich dabei ein physiologischer oder physischer Prozeß (ζ. B. eine elektrische Strömung) abspielt, muß hier - angesichts der Urteilsenthaltung in bezug auf alle transzendenten Gegenstände - außer Betracht bleiben. Aber welche Prozesse dieser Art auch immer sich abspielen sollten, ihre Rolle könnte nur darin bestehen, daß sie den Vollzug des Sehaktes unter günstigen Umständen effektiv ermöglichen würden. Zugleich müßte [dabei] jede Veränderung im gesehenen Ding vermieden werden, denn dadurch könnte das Ding anders gesehen werden als es an sich selbst ist. Wenn man die eigentümlichen Eigenschaften des reinen wahrnehmenden Ich klarlegt, ist nur wichtig, daß es gegenüber den

[Vgl. H. Conrad-Martius, "Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt", Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische

Forschung, 3 (1916), S. 439].

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eventuellen Prozessen im Leibe des gegebenen Menschen in keiner Weise die Funktion des Subjekts erfüllt; demgegenüber "subjiziert" es der Vollzugsweise der Wahrnehmung, z.B. der Beachtung dieser oder jener Einzelheit des gesehenen Dinges. Es scheint somit, daß man einen wesentlichen Unterschied zwischen reinem erkennendem Ich und handelndem Ich gelten lassen soll. Ist jedoch das erkennende Ich, auch wenn es das gesehene Ding (die Maschine) nicht erzeugt, nicht dennoch produktiv? 27 In der Tat, im reinen Akt der Wahrnehmung, insbesondere des Sehens, kommt es zur "Erzeugung" von etwas, was jedoch kein Bestandteil oder Moment des Dinges ist, das ich in der Wahrnehmung erkenne: Dieses Etwas habe ich gerade "Erkenntnisergebnis" genannt. Es ist ein Sinn, der dem Gegenstand in einer Wahrnehmung oder aufgrund einer solchen etwas zuschreibt. Dieser Sinn kann in Worte gefaßt werden, wobei er entweder eine Namensbedeutung oder einen Satzsinn bildet, der dies oder jenes z.B. über meine Schreibmaschine aussagt. Dieser Sinn wird gleichsam automatisch dadurch erzeugt, daß ein Wahrnehmungsakt oder ein darauf aufgebauter Akt des Prädizierens und Urteilens über das gegebene Ding vollzogen wird. Ich habe gesagt, daß er gleichsam automatisch entsteht. Ich will damit nur sagen, daß der Vollzug von entsprechenden Akten selbst gerade deswegen, weil diese eine bestimmte Intention miteinschließen (d. h. bestimmte "Intentions"akte darstellen) - diesen Sinn erzeugt, so daß es weder erforderlich ist, daß sie darauf abzielen, diesen Sinn zu erzeugen, noch daß sie sich bemühen, ihn auf entsprechende Weise zu gestalten, obwohl auch dies

η Die transzendentalen Idealisten würden sagen, es sei eine wesentliche Funktion des Sehens, daß es [darin] zur "intentionalen" Erzeugung des gesehenen Dinges komme, das ohne diese Erzeugung überhaupt nicht existieren würde und das nur deswegen so sei, wie es ist, weil der Akt des Sehens es so und nicht anders bestimmt habe. Ich antworte darauf: Ich behaupte hier nichts von meiner realen Schreibmaschine, denn ich habe mich des Urteils darüber enthalten; ich weiß aber, daß sie als eine von meinem Sehakt vorgefundene vermeint ist. Ich vollziehe dabei diesen Akt mit der Absicht, daß diese Maschine weder erzeugt noch in irgendeiner Hinsicht verändert wird. Wenn ich dagegen einen Akt ausführe, in dem ich - in bloßen Gedanken oder in der Phantasie - einen Romanhelden fingiere, dann vollzieht das imaginierende Ich in seiner Intention einen produktiven Akt, einen Akt, der diesen Helden nach künstlerischen Absichten gestaltet und ihn in seinem Sein und Sosein von meinem schöpferischen Willen abhängig macht. Das reine Ich ist hier nicht bloß ein erkennendes Ich, sondern ein Ich, das etwas erzeugt, was erst in einem sekundären Akt, z.B. im Laufe des Lesens eines schon "zu Ende geschriebenen" Romans, erkannt werden kann.

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bei einer gewissen Vollzugsweise der Wahrnehmung und des Urteilens über das wahrgenommene Ding möglich ist. Dann wird aber schon der Sehakt selbst in seinem Verlauf so gelenkt, daß ich mich bemühe, im wahrgenommenen Ding gerade gewisse Einzelzüge dieses Dinges aufzudecken, zu sehen, wie es in einer bestimmten Hinsicht beschaffen ist. Ich bemühe mich, den erzeugten Sinn, der schon im Sehen, aber auch im Urteilen dem Ding zugewiesen wird, daran anzupassen, wie dieses Ding sich mir zeigt. Ich versuche, mich beim Betrachten des Dinges so einzustellen, daß ich darin das und nur das "erschaue", was ihm zukommt. Und eben für das Erzeugen des Sinnes des Erkenntnisergebnisses, für dessen Gestaltung ist das erkennende Ich verantwortlich; ja es muß gerade deswegen die Verantwortung dafür übernehmen, wie sein Erkennen verläuft und was daraus fließt oder hervorwächst, weil es dieser besonderen Tätigkeit von ihm auf bewußte und - wenn man so sagen darf - "lenkende" Weise als Subjekt dient. Das Erkennen des reinen Ich kann sich nicht so vollziehen, daß wir dabei gedankenlos, träge verfahren, ohne ständig Zeugen unserer eigenen Erkenntnisakte zu bleiben. Dieses Ich übt eben die Funktion des Subjekts dieser Akte in der Weise aus, daß es sie wachsam vollzieht und über sie herrscht, so daß sie nicht bloß automatisch, passiv, unbewußt in ihm geschehen, sondern durch dieses Ich wissentlich bewirkt, ausgeführt werden. Natürlich kann sich das Erkennen eines Dinges auch so abspielen, daß es sich dies gleichsam nebenbei vollzieht, ohne daß der Verlauf [dieses Erkennens] vom erkennenden Ich kontrolliert wird, während dieses am ganzen Prozeß nicht interessiert ist. Das bleibt aber auf die so gewonnenen Ergebnisse nicht ohne Einfluß. Die Verantwortung für eine solch sorglose, sich um die Richtigkeit der gewonnenen Ergebnisse nicht kümmernde Verhaltensweise des erkennenden Ich fällt indes auf dieses selbst. Diese Bemerkungen erschöpfen selbstverständlich den Inhalt des kategorialen Begriffes des reinen Erkenntnissubjekts nicht, der für unsere Zwecke natürlich ein eidetischer Begriff sein muß. Sie sollen nur einen Weg aufzeigen, den die weitere Forschung gehen soll, und den Leser für die Probleme sensibilisieren, die sich hier eröffnen. In den durchgeführten Betrachtungen habe ich schon einige Einzelzüge sowohl der Idee des zu erkennenden Gegenstandes als auch [der Idee] der Erkenntnisbeziehung zwischen dem Erkenntnissubjekt und dem Gegenstand des erkenntnismäßigen Verhaltens dieses Subjekts dargelegt. Ich glaube, daß

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es im Moment nicht nötig ist, den bisherigen Ausführungen noch weitere anzuschließen. Ich möchte dagegen noch einige Worte den Erkenntniskategorien widmen, die ich oben als "abstrakt" bezeichnet habe. Ich habe schon früher ein Paar von einander entgegengesetzten erkenntnistheoretischen Grundbegriffen erwähnt, die gewisse Züge der Erkenntnisbeziehung, d. h. eines transzendenten bzw. immanenten Gerichtetseins des Erkenntnisaktes auf den Gegenstand, oder - wenn man will - die zwei Formen der Beziehung des Gegenstands zu diesem Akt betreffen. Jetzt müssen wir noch verschiedene mögliche Typen der Transzendenz 28 zusammenstellen und sie mit der Immanenz in einer speziellen Bedeutung kontrastieren. 1. Strukturelle Transzendenz in abgeschwächter Gestalt. Ein Gegenstand ist dem Erkenntnisakt gegenüber [auf diese Weise] transzendent, wenn keine seiner Eigenschaften oder kein (z.B. formales) Moment eine Eigenschaft oder ein Moment des Bewußtseinsaktes (Erkenntnisaktes) bildet, in dem es gegeben oder vermeint ist, und umgekehrt, wenn keine Eigenschaft oder kein Moment des Aktes seine Eigenschaft oder ein Moment des in ihm vermeinten Gegenstandes ist. Es handelt sich dabei um den "Gegenstand" in genau der Gestalt 29 , in der er vermeint ist, und nicht als ein dogmatisch vorausgesetztes Seiendes. Dieses Seiende dürfen wir hier weder annehmen noch uns auf seine Eigenschaften, seine Struktur und seine Existenz berufen. Das ist eine schwächere Form der strukturellen Transzendenz. In diesem Sinne ist z.B. der "äußere" seinsautonome Gegenstand, wie etwa jedes vermeinte materielle Ding im Verhältnis zur Gesichtswahrnehmung, "transzendent", ebenso aber der Gegenstand einer sog. immanenten Wahrnehmung dieser Wahrnehmung gegenüber, obwohl die beiden Erlebnisse in diesem Fall ein einheitliches umfassendes Ganzes bilden, und zwar eines, in dem das in der "immanenten" Wahrnehmung gegebene Erlebnis eine unentbehrliche 28

Eine Zusammenstellung dieser Begriffe habe ich einst im Streit um die Existenz der Welt [Ingarden (1964/65), Bd. II/l, § 48, S. 224-229] durchgeführt. Hier wiederhole ich sie nur, damit der Leser diese Begriffe nicht anderswo zu suchen braucht. [Der angeführte Text ist 29 hier aber teilweise modifiziert und erweitert.] Die "Gestalt" bedeutet hier die volle Ausstattung des Gegenstandes, seine volle Form und Seinsweise, in der er auftritt (vermeint wird). Diese Vermeinung kann [manchmal] in einem Erkenntnisakt, manchmal als ein synthetisches Ergebnis einer ganzen Mannigfaltigkeit von miteinander verbundenen und sich einander entsprechend motivierenden Erkenntnisakten gewonnen werden.

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Seinsgrundlage für diese Wahrnehmung abgibt. Trotzdem sind es zwei Erlebnisse, zwei Subjekte von Eigenschaften, jedes mit seinem eigenen Bestand an Merkmalen, seiner eigenen Natur und Seinsweise. Das Durchleben hingegen und der durchlebte Bewußtseinsakt stehen nicht in einer Beziehung struktureller Transzendenz in abgeschwächter Gestalt zueinander. In diesem Fall haben wir es nämlich nur mit einem Bewußtseinserlebnis, ζ. Β. dem durchlebten Akt einer Sinneswahrnehmung, zu tun. 2. Strukturelle Transzendenz in stärkerer Gestalt findet dann statt, wenn nicht nur keine Eigenschaft und kein Moment eines Gegenstandes 30 eine Eigenschaft oder ein Moment des Aktes oder der Akte bildet, in denen der Gegenstand gegeben (oder gedacht) ist, sondern wenn er außerdem dem Akt gegenüber ein zweites getrenntes Ganzes in einem absoluten Sinn darstellt. In diesem Sinn ist der seinsautonome physische Gegenstand gegenüber dem Erkenntnisakt transzendent, wenn er in diesem Akt gegeben oder durch ihn gedacht ist. Transzendent [in diesem Sinn] ist aber auch ein beliebiger seinsheteronomer, rein intentionaler Gegenstand, z.B. eine beliebige in einem literarischen Kunstwerk dargestellte Gestalt im Verhältnis zu den vom Leser vollzogenen Akten, in denen er sie versteht und sie sich ausmalt. Auch ein Dichter, wenn er eine solche Gestalt in schöpferischen dichterischen Akten fingiert, erzeugt etwas, was diesen Akten gegenüber strukturell transzendent im stärkeren Sinn ist. Die Gegenstände, die gegenüber den Erkenntnisakten in diesem Sinne transzendent sind, sind zugleich im Verhältnis zu diesen seinsselbständig, obwohl sie - sofern sie rein intentionale Gegenstände darstellen - von den Akten, in denen sie intentional erzeugt wurden, seinsabhängig sind. 3. Radikale Transzendenz gegenüber den betreffenden Erkenntnisakten weist ein Gegenstand auf, wenn diese Akte weder durch die Tatsache ihres Vollzuges noch durch irgendein Moment ihres Intentionsinhalts in ihm irgendeine Veränderung hervorrufen können. In diesem Sinne ist ein seinsautonomer physischer Gegenstand (ein materielles Ding) gegenüber dem ihn in Unter einem "Moment eines Gegenstandes" verstehe ich z.B. einen unselbständigen Zug der Form des Gegenstandes, also etwas, was sich am Gegenstand unterscheiden läßt, was aber weder einen Teil (ein Stück) noch eine Eigenschaft dieses Gegenstandes ausmacht. Auch eine Qualität, welche die Materie einer Eigenschaft des Gegenstandes bildet, kann als Beispiel dafür dienen, was ich ein "Moment eines Gegenstandes" nenne.

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betreffenden Erkenntnisakt transzendent. Die radikale Transzendenz ergibt sich aus dem Wesen des gegebenen Gegenstandes wie auch dem des Erkenntnisaktes selbst. Man kann dagegen daran zweifeln, daß diese Transzendenz bei den Gegenständen stattfindet, die real, aber zugleich psychisch und bewußt (empfindlich dafür, daß sie aktuell erkannt werden, oder allgemeiner dafür, daß sie Gegenstände von fremden Bewußtseinsakten ausmachen) sind, wie auch bei manchen Bewußtseinsakten, ζ. B. Akten des Gefühls oder des (fremden) Willens. Dagegen weist der rein intentionale Gegenstand im Verhältnis zum ihn erzeugenden schöpferischen Akt dichterischer Phantasie oder sogar zu den [betreffenden] rein denkmäßigen Akten nicht die radikale Transzendenz auf. Denn er liegt dann im Wirkungskreis dieser Akte. 4. Transzendenz der Seinsfülle gegenüber dem Erkenntnisakt, in dem ein Gegenstand gegeben oder nur gedacht ist, findet dann statt, wenn der Gegenstand dieses Aktes eine Ausstattung besitzt, die mit der Fülle ihrer Einzelzüge die Reichweite der Fähigkeit des Erkenntnisaktes übertrifft, so daß seine volle Ausstattung in keinem Erkennen, das sich in einem einzelnen Akt oder in einer endlichen Mannigfaltigkeit solcher Akte vollzieht, erschöpft werden kann. Eine Folge dieser Transzendenz des Gegenstandes gegenüber dem Akt, in dem er erkannt wird, ist ein Zug der Erkenntnis, der von Husserl "Inadäquatheit" genannt wurde 31 . Ich komme bald darauf zu sprechen. Ob jeder transzendente Erkenntnisgegenstand die Transzendenz der Seinsfülle aufweisen muß, mag hier offen bleiben. Das betrifft insbesondere die seinsheteronomen (rein intentionalen) Gegenstände im Verhältnis zu den Akten, in denen sie intentional erzeugt werden. 5. Transzendenz als eine (vollständige und zugleich wesenhafte oder aber unvollständige, eventuell auch zufällige) Unzugänglichkeit für die Erkenntnis. Sie spielt eine Rolle in Ansichten der Art wie z. B. die Kantische Konzeption der Formen a priori, deren sich das menschliche Erkenntnissubjekt bedienen müsse. Das Erkenntnissubjekt ist in diesem Fall mit gewissen Formen a priori ausgestattet, die ihm den Zugang zu der dem Gegenstand eigenen Ausstattung oder eigenen Form versperren. Eine derartige Unzugänglichkeit kann verschiedene Quellen haben. Sie kann sich aus der Form oder Ausstattung des Gegenstandes selbst (eines Seienden) ergeben, die es unmöglich

31

[Vgl. E. Husserl, Ideen I, (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann), § 42.]

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macht, ihn mit den Erkenntnisakten zu erreichen, die das gegebene Erkenntnissubjekt zur Verfügung hat. Wenn ein (seinsautonomer) Gegenstand für ein beliebiges Subjekt auf diese Weise erkenntnismäßig in jeder Hinsicht unzugänglich wäre, dann müßte er absolut unerkennbar sein. Wie ich schon angedeutet habe, hätte [in diesem Fall] niemand das Recht, seine Existenz anzuerkennen. Daraus ziehen manche die Folgerung, ein Gegenstand könne nur dann als existierend gesetzt werden, wenn er nicht absolut unerkennbar ist. Folglich verbinden sie die Existenz mit der Erkennbarkeit bzw. behaupten, eine Bedingung der Existenz sei die Erkennbarkeit des Gegenstandes mindestens in irgendeiner Hinsicht und für irgendwelche Subjekte. Das scheint jedoch unrichtig. Denn es ist nicht evident, daß die Existenz eines Gegenstandes dadurch bedingt sei, daß er selbst bzw. seine Merkmale - wie ich mich früher ausgedrückt habe - "ohne Maske" auftreten, d. h. die Fähigkeit haben, sich zumindest einigen Subjekten zu zeigen. Die Unerkennbarkeit eines Gegenstandes (in einer Hinsicht) kann sich aus zwei verschiedenen Gründen ergeben: a) aus einer Beschaffenheit des Erkenntnissubjekts, [die macht,] daß dieses über keine Erkenntnisakte verfügt, welche die gegebenen (sich den Erkenntnissubjekten einer anderen Art zeigenden, erscheinenden) Eigenschaften des Gegenstandes erfassen würden, b) aus dem Vorhandensein von Eigenschaften des Gegenstandes, die sich keinen Erkenntnissubjekten zeigen. Die aus der Beschaffenheit des Erkenntnissubjekts stammende Unerkennbarkeit macht keine Bedingung der Existenz des fraglichen Gegenstandes (Seienden) aus. Die Unerkennbarkeit streicht nur eine unentbehrliche Bedingung dafür aus, daß die Existenz des fraglichen Gegenstandes bzw. gewisser seiner Eigenschaften (gerade deijenigen, für die das Subjekt nicht empfindlich ist, weil es über keine entsprechenden Erkenntnisakte verfügt) anerkannt werden kann. Die Unerkennbarkeit, die sich aus einer besonderen Beschaffenheit des Gegenstandes ergäbe, würde seine Existenz voraussetzen; auch in diesem Fall hätten wir indes keine Erkenntnisgrundlage dafür, diese Existenz berechtigterweise anzuerkennen.

Schwierigkeiten

würde auch die Anerkennung des Stattfindens einer derartigen Unerkennbarkeit in einem bestimmten Fall bereiten. Sie müßte sich nämlich auf die Einsicht in ein Wesen jener Beschaffenheit des Gegenstandes gründen, das dessen Erkennen oder dessen Erkenntnis ausschließen würde. Man müßte somit über die Erkenntnis einer Qualität dieser Beschaffenheit verfügen, wel-

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che die Unerkennbarkeit des Gegenstandes bewirken sollte. Ist das nicht widersprüchlich? Andererseits scheint das nicht evident. Angesichts der Tatsache, daß es viele verschiedene Typen der Transzendenz des Gegenstandes für das Erkenntnissubjekt gibt, kann man nicht sagen, daß die Negation von irgendeinem dieser Typen einfach "Immanenz" sei. Der Begriff der "Immanenz", insbesondere der immanenten Wahrnehmung wurde von Husserl von einem ganz anderen Gesichtspunkt aus eingeführt als demjenigen, der hier bei der Besprechung der "Transzendenz"begriffe eingenommen wurde. Für Husserl ist ein Gegenstand (z. B. ein Bewußtseinserlebnis) immanent, wenn er zu demselben Strom des reinen Bewußtseins gehört wie der Erkenntnisakt, in dem der Gegenstand erkannt wird. In einer engeren Bedeutung aber - die Husserl allein für die immanente Wahrnehmung gelten läßt - sei ein Erlebnis gegenüber der Wahrnehmung, in der es wahrgenommen wird, immanent, wenn es mit ihr eine "unvermittelte Einheit" bildet, d. h. nicht nur zu demselben Bewußtseinsstrom gehört, sondern sich auch mit dieser Wahrnehmung zu einem "unvermittelten" Ganzen zusammenschließt, wobei diese "Unvermitteltheit" nicht mehr genauer geklärt ist. 32 Es ist auch nicht klar, wie in diesem Fall das von Husserl gebrauchte Wort "Einheit" zu verstehen ist. Anhand anderer Erklärungen Husserls, wie z. B.: "ein Erlebnis schattet sich nicht ab" 33 , kann man vermuten, es handle sich darum, daß das Erlebnis in der immanenten Wahrnehmung nicht vermittels einer erlebten Ansicht, sondern direkt an sich, so wie es selbst ist, zur Gegebenheit kommt. Das macht aber diese "Einheit" der immanenten Wahrnehmung und des darin wahrgenommenen Erlebnisses noch nicht verständlich. Eine weitere Information, die für die Aufhellung des Charakters jener "unvermittelten Einheit" benutzt werden kann, ist die Behauptung, daß die immanente Wahrnehmung, die sich auf dem immanent wahrgenommen Erlebnis aufbaut, nicht existieren könnte, wenn das wahrgenommene Erlebnis nicht existieren würde. Das ließe sich so formulieren, daß die immanente Wahrnehmung vom Erlebnis, auf das sie sich richtet, seinsabhängig oder auch ihm gegenüber seinsunselbständig sei. Im ersten Fall wäre das in der immanenten Wahrnehmung wahrgenommene Erlebnis strukturell transzendent in stärkerer

32

[Vgl. E. Husserl, Ideen I, S. 68 (Husserliana ΠΙ/1, hrsg. von K. Schuhmann, S. 85).]

33

Husserl, Ideen I, S. 77 [Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 88].

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Gestalt, im zweiten hingegen könnte es nur transzendent in abgeschwächter Gestalt sein. Die "Immanenz" in dem Sinne, den Husserl im Zusammenhang mit der immanenten Wahrnehmung angibt, könnte sowohl bei der Wahrnehmung von eigenen Erlebnissen als auch bei der Intuition des Durchlebens eines eigenen Bewußtseinserlebnisses vorliegen. Es kann hier sicherlich keine Rede von struktureller Transzendenz sein, weder in stärkerer noch in abgeschwächter Gestalt. Wenn man jedenfalls von einem Erkenntnisgegenstand sagt, daß er gegenüber dem Erkenntnisakt, in dem er erkannt wird, nicht transzendent ist, bedeutet das noch gar nicht, daß er im Verhältnis zu diesem Akt "immanent" ist. Nur in dem Fall, wo der Erkenntnisgegenstand dem betreffenden Erkenntniserlebnis gegenüber "immanent" ist (und zwar in beiden hier unterschiedenen Bedeutungen), darf man vom Vorhandensein des Erkenntnisaktes allein auf die Existenz des Erkenntnisgegenstandes schließen. Falls dagegen der Gegenstand in irgendeinem der hier unterschiedenen Bedeutungen "transzendent" ist, darf man aus dem Vorhandensein des Erkenntnisaktes, in dem er erkannt wird, über seine Existenz nichts folgern. Wenn die vollzogene Erkenntnis das Erkenntnissubjekt auf irgendeine Weise über die Existenz des zu erkennenden oder erkannten Gegenstandes informiert, kann das allein an ihrem Inhalt und an der Weise liegen, wie der Gegenstand erkannt wird, und zwar immer nur - wovon wir noch sprechen werden mit einem beschränkten Grad an Sicherheit. Eine andere abstrakte Erkenntniskategorie ist "Adäquatheit" oder "Inadäquatheit". Adäquatheit kann vor allem auf zwei verschiedene Weisen verstanden werden, die bisher in der erkenntnistheoretischen Literatur nicht klar genug unterschieden wurden. Erstens kann es sich um die Adäquatheit oder die Inadäquatheit von Erkenntnis im extensionalen Sinne handeln. Wenn nämlich ein Erkenntnisakt bzw. die darin gewonnene Erkenntnis einen Gegenstand betrifft, aber nur manche Merkmale (Eigenschaften) von diesem bestimmt, so daß man zugleich weiß, daß der Gegenstand noch andere Merkmale besitzt, aber man nicht weiß, welche: dann ist die gegebene Erkenntnis (das Erkenntnisergebnis und der Erkenntnisakt selbst) im Verhältnis zum Gegenstand inadäquat. In diesem Fall will ich den Ausdruck verwenden, daß die Erkenntnis im Verhältnis zum gegebenen Gegenstand unvollständig ist. Wenn dagegen die Erkenntnis alle Merkmale (Eigenschaften) des zu erkennenden Gegenstands erschöpft, dann sagen wir, daß sie

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adäquat, oder besser, vollständig ist. Das eine wie das andere kann entweder eine in einem einzigen Akt gewonnene Erkenntnis betreffen oder auch eine Erkenntnis, die synthetisch in einer ganzen Mannigfaltigkeit von Erkenntnisakten gewonnen wird, die sich auf den gegebenen Gegenstand richten. Dieses synthetische Ergebnis kann zugleich derart sein, daß es möglich ist, es gleichsam summarisch mit einem Erkenntnisakt zu umgreifen, oder auch solcherart, daß man, um es zu umfassen, einer Mehrzahl von Erkenntnisakten bedarf, ζ. B. wenn das Erkenntnisergebnis sich nur in einer Folge von Behauptungssätzen erfassen läßt, die wir auf einmal weder begreifen noch aussprechen können. Sobald aber ein solches Erkenntnisergebnis schon einmal in Gestalt eines Komplexes von Sätzen erlangt worden ist, können wir auf jeden dieser Sätze zurückgreifen und seinen Sinn aktualisieren, während wir die übrigen Sätze im Gedächtnis behalten. Es sind hier zwar noch Irrtümer möglich, die sich aus der Ungenauigkeit des Gedächtnisses ergeben, es ist aber auch eine Kontrolle durch eine erneute Aktualisierung des Sinnes jeder dieser Sätze möglich. Wenn dagegen das Erkenntnisergebnis synthetisch in einer Mannigfaltigkeit von ζ. B. Wahrnehmungen sozusagen anwächst, aber nicht jedesmal in einem Behauptungssatz expliziert wird, sondern [manchmal] bis zu einem gewissen Grad potentiell vermeint ist (nämlich dadurch, daß immer weitere Wahrnehmungen nacheinander in gewisser Weise mit einem anschaulichen Inhalt gesättigt werden): dann hat gerade der Umstand, daß man dieses Ergebnis im Zustand der Potentialität bleiben läßt, ebenfalls eine ungenügende Differenzierung von Elementen des Inhalts und daher auch eine Verwischung und "Inadäquatheit" zur Folge. Diese Inadäquatheit ist nicht mehr in bloß extensionaler Bedeutung zu verstehen, sondern im Sinne eines gewissen "Nicht-Getreuseins", welches die Gestalt der dem Gegenstand zugeschriebenen Merkmale im Verhältnis zu der Gestalt aufweist, in der diese im Gegenstand selbst auftreten. Diese "Inadäquatheit" des Erkenntnisergebnisses kann verschiedener Art sein. Sie kann darin bestehen, daß die dem Gegenstand zugeschriebenen Merkmale im Erkenntnisergebnis voneinander nicht deutlich genug unterschieden sind, so daß sie gleichsam miteinander verschwimmen, oder umgekehrt [darin, daß sie] voneinander zu scharf abgehoben (gleichsam überspitzt, zu deutlich) sind. Die Materien von einzelnen

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Merkmalen (Qualitäten) können nicht präzis genug, in ihrer spezifischen Qualität oder Eigenart nicht hinlänglich erfaßt werden.34 Es kann auch die Art und Weise verändert sein, wie dem Gegenstand ein Merkmal zukommt, ζ. B. kann ein Merkmal als ein solches aufgefaßt werden, das dem Gegenstand absolut eigen ist, während es diesem nur unter gewissen Bedingungen zukommt; es kann auch im Erkenntnisergebnis als ein konstantes Merkmal aufgefaßt werden, während es nur ein momentanes oder dem Gegenstand nur für eine gewisse Zeit zukommendes Merkmal ist. Das Nicht-Getreusein der Erkenntnis (des Erkenntnisergebnisses) findet auch dann statt, wenn dem zu erkennenden Gegenstand ein Merkmal als ein solches zugeschrieben wird, das zum Wesen des Gegenstandes gehört oder sogar dieses Wesen ausmacht, während es tatsächlich im Gegenstand nur ein sekundäres oder gar zufälliges Merkmal ist. Die Art und der Grad des "Nicht-Getreusein" des Erkenntnisergebnisses zum Gegenstand kann somit - wie wir sehen - unterschiedlich sein. Auch dann also, wenn wir einem Erkenntnisergebnis das Merkmal des "Getreuseins", der Adäquatheit im Verhältnis zur Gestalt, die der Gegenstand selbst besitzt, zuschreiben wollen, müssen wir ausdrücklich sagen, welcher Art dieses Getreusein oder diese Adäquatheit sein soll. Die beiden hier unterschiedenen Arten von "Inadäquatheit" können in ein und demselben (einfachen oder zusammengesetzten, synthetischen) Erkenntnisergebnis auftreten, ja sie können voneinander abhängig sein. Insbesondere kann die Unvollständigkeit des Erkenntnisergebnisses verschiedene Typen des Nicht-Getreuseins zum Gegenstand selbst nach sich ziehen. Sogar da aber, wo wir es mit einem vollständigen (extensional adäquaten) Erkenntnisergebnis zu tun haben, soll man aus diesem Grund allein noch nicht erwarten, daß das Ergebnis zugleich "getreu", adäquat in der zweiten der hier unterschiedenen Bedeutungen ist. Die Anzahl von möglichen Kombinationen getreuer und nicht-getreuer, extensional adäquater und inadäquater Erkenntnisergebnisse scheint beträchtlich zu sein, und man müßte ziemlich umfassende Analysen durchführen, um sich einen Überblick über die hier möglichen Fälle zu verschaffen. All das ist besonders wichtig, wenn man eine Kritik eines konkreten Erkenntnisergebnisses unternimmt. Hier müssen wir uns mit der gegeDiese Gefahr besteht besonders dort, wo das Erkenntnisergebnis in Worte einer ungenügend differenzierten Sprache gefaßt ist, in der Bedeutungen zu allgemein oder zu "vage" sind und in der man erst neue Ausdrücke mit einer spezielleren Bedeutung finden muB.

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Zur Grundlegung der Erkenntnistheorie, 2. Teil

benen Skizze begnügen. Man kann jedoch nicht umhin, zu erwähnen, daß im Fall unmittelbarer (in einer der schon unterschiedenen Bedeutungen), anschaulicher, erfahrungsmäßiger Erkenntnis andere Möglichkeiten vorliegen als in dem Fall, wo wir es mit Erkenntnisergebnissen zu tun haben, die schon in ein sprachliches Gewand, in einen Komplex von Behauptungssätzen gefaßt sind. Die Eigentümlichkeiten der Sprache (der Begriffsapparatur) können die Adäquatheit bzw. das Getreusein des gewonnenen und in der bestimmten Sprache formulierten Erkenntnisergebnisses

auf

verschiedene

Weise

beeinflussen. Schon der Umstand allein, daß das Erkenntnisergebnis in eine Vielzahl von Sätzen aufgegliedert ist, kann ein beträchtliches Nicht-Getreusein des Erkenntnisergebnisses hinsichtlich der in ihm festgelegten Momente und formalen Verhältnisse innerhalb der Ausstattung des erkannten Gegenstandes nach sich ziehen. Das ist ein Punkt, der in der gegenwärtigen Philosophie besonders von H. Bergson hervorgehoben wurde. Auch die Phänomenologen aber legen darauf großes Gewicht. Die Probleme der Adäquatheit oder Inadäquatheit des Erkenntnisergebnisses im Verhältnis zum Gegenstand der Erkenntnis verbinden sich aufs engste mit dem Problem der "Objektivität" des Erkenntnisergebnisses, mithin mit der Frage, ob ein gewisses Erkenntnisergebnis eine Erkenntnis oder - wie man auch sagt - eine "Wahrheit" darstellt, ob es "wahr" ist. Dies ist es, wenn es "objektiv" und zugleich adäquat im Sinne des "Getreuseins" ist; es braucht dagegen nicht extensional adäquat, d. h. vollständig zu sein. Wenn es aber nicht "vollständig" ist, dann gibt es eine Möglichkeit, daß es zwar eine Erkenntnis, aber keine "sichere" ist. Daß es aber nicht "sicher" ist, bedeutet, daß man nicht weiß, ob es wirklich eine Erkenntnis ausmacht oder nur aus irgendwelchen Gründen für eine solche gehalten wird. Wenn es nur als eine Erkenntnis gilt, kann dies noch verschiedene Gründe haben. Es kann z.B. daran liegen, daß das Erkenntnisergebnis nicht ausreichend "begründet" oder unvollständig oder schließlich inadäquat im Sinne des Nicht-Getreuseins ist, wobei es ungeklärt bleibt, in welchem Maße es unvollständig, "getreu" oder "nicht-getreu" ist. Sowohl das Problem der "Begründetheit" als auch dasjenige der extensionalen Adäquatheit oder der Adäquatheit im Sinne vom Getreusein hängt mit dem Problem von Beziehungen zwischen verschiedenen Erkenntnisergebnissen zusammen, die entweder ein und denselben Gegenstand oder verschiedene, aber irgendwie zusammengehörende Gegenstände

Die

Erkenntniskategorien

459

betreffen. Die Sicherheit oder Unsicherheit eines Erkenntnisergebnisses ist ein Zug von diesem, der gegenüber seinen anderen Eigenschaften und den zwischen den Erkenntnisergebnissen selbst bestehenden Beziehungen seinsabgeleitet ist. Sie kann entweder im Sinne eines Charakters der Überzeugungen verstanden werden, die das erkennende Subjekt über das Erkenntnisergebnis hat, oder aber sie gehört zu der Art und Weise, wie ein Erkenntnisergebnis vom Erkenntnissubjekt festgelegt wird. Das ist die Sicherheit oder Unsicherheit im streng "subjektiven" Sinne. Sie hängt u. a. von Beziehungen zwischen den Erkenntnisakten selbst, insbesondere von Beziehungen der Motivation ab. Eine solche Beziehung liegt vor, wenn eine Überzeugung (oder - wie sich Stanislaw Brzozowski ausdrückte - ein einem Erkenntnisergebnis "Beipflichten" [przyswiadczenie] des Erkenntnissubjektes) durch andere Erkenntnisergebnisse, die darin festgelegt werden bzw. durch Erenntnisakte motiviert wird, die [wirklich] vollzogen oder nur möglich sind, die sich aber dadurch auszeichnen, daß das erkennende und das fragliche Ergebnis festlegende Subjekt sie voraussehen kann. Die Unsicherheit ist eine subjektive Art der Setzung von Erkenntnisergebnissen. Die letzteren können dabei im Prinzip eine echte Erkenntnis darstellen, ohne daß das Subjekt darüber genügend informiert ist. Sie [die Unsicherheit] zeugt also von einem Unwissen des Subjekts, nicht in bezug auf die Erkenntnisgegenstände, sondern in bezug auf den "Wahrheits"gehalt der Erkenntnisergebnisse selbst. Ich werde also darauf zurückkommen, wenn ich das Problem der "Objetivität" sowie der "Begründung" von Erkenntnisergebnissen besprohen habe. Zu diesem Zweck möchte ich zwei Aufsätze benutzen, die teilweise Uber den Bereich der in diesem Zusammenhang unentbehrlichen Probleme hinausgehen, die aber gewisse im Rahmen der erkenntnistheoretischen Problematik ganz angebrachte Betrachtungen enthalten. 35

I C

[Es handelt sich wohl um die Aufsätze "Bemerkungen zum Problem der Begründung" (Ingarden 1962) und "Betrachtungen zum Problem der Objektivität" (Ingarden 1967), die in polnischer Übersetzung in die Ausgabe von 1971 aufgenommen wurden; vgl. dazu auch die Einleitung des Herausgebers, oben S. XIII, Anm. 1.].

461

II. Ergänzende Texte aus früheren Redaktionen A. Fortsetzungsteil der I. Redaktion ( 1926) 1

§ 9. Das Verhältnis zwischen dem Erkennen und dem Erkenntnisgegenstand Damit das Gebiet der epistemologischen Untersuchungen alle nötigen Elemente umfaßt, müssen wir noch die Gegenstände der Erkenntnis mit einbeziehen. Es scheint aber, daß wir - angesichts der Notwendigkeit, völlige Zurückhaltung hinsichtlich des Wertes der auf diese Gegenstände bezogenen Erkenntnisresultate zu wahren, angesichts des Postulates, [das es uns gebietet,] in der Erkenntnistheorie keine wissenschaftlichen oder vorwissenschaftlichen Behauptungen als Voraussetzungen zu gebrauchen - innerhalb der Erkenntnistheorie solange keine Behauptungen über Erkenntnisgegenstände aufstellen können, bis wir eine positive Lösung der Probleme der Objektivität der betreffenden Erkenntnisse erlangt haben. Es scheint also, daß wir aus dem Gebiet der epistemologischen Forschung alle Erkenntnisgegenstände - außer denjenigen selbstverständlich, die in der Epistemologie [selbst] zu Erkenntnisgegenständen werden - ausschließen müssen. Dies scheint um so natürlicher, als die Erkenntnistheorie doch nicht dazu berufen ist, irgendwelche Urteile über Gegenstände zu fällen; das ist die Aufgabe der übrigen Wissenschaften. Ist dem aber so, so entstehen die Schwierigkeiten, auf die ich zu Beginn von § 4 hingewiesen habe.2 Um zu zeigen, daß man in der Epistemologie von den Erkenntnisgegenständen in gewisser Weise [dennoch] sprechen kann, ohne etwas über den positiven Wert der betreffenden Erkenntoisse vorauszusetzen und das Forschungsgebiet der übrigen Wissenschaften zu betreten, erwägen wir zu-

[Die Grundlage für den vorliegenden Text bildet das Manuskript, das im Ingarden-Archiv als eine Fortsetzung der Redaktion von 1926 bezeichnet wird. Es umfaßt die Seiten 101175 und beinhaltet Betrachtungen zur deskriptiv-phänomenologischen Erkenntnistheorie, die jedoch keinem Teil der Ausgabe von 1971 entsprechen; vgl. den Anhang, S. 657/8.] [Ingardens Verweis bezieht sich natürlich auf den 4. Paragraphen der ersten Redaktion.]

462

Fortsetzungsteil der /. Redaktion (1926)

nächst, was für ein Verhältnis zwischen einem erkenntnismäßigen Bewußtseinserlebnis und seinem Gegenstand eigentlich besteht. Diese Frage wartet übrigens seit dem Augenblick auf eine Antwort, als wir die These angezweifelt haben, dieses Verhältnis sei nichts anderes als ein Kausalzusammenhang. Diese These wird um so zweifelhafter, als die Bewußtseinserlebnisse - wie es sich herausgestellt hat 3 - nicht als Erscheinung des Lebens eines psychophysischen Individuums, sondern als das Sein anzusehen sind, in dem sich alle übrigen Gegenstände bekunden. Von da her ist es nämlich nicht selbstverständlich, daß die Bewußtseinserlebnisse mit anderen Gegenständen, die als wirklich [seiend] anzuerkennen sind, in Kausalzusammenhängen stehen müssen; ja man weiß nicht einmal, ob sie ein Sein derselben Ordnung und desselben Typus darstellen wie die realen Gegenstände, auf die sie sich eventuell beziehen. 4 Es gilt also zu erwägen, was die Wesenszüge der Erkenntnisbeziehung zwischen diesen Erlebnissen und den Gegenständen ausmacht, wobei wir es zunächst offen lassen können, ob außer diesen Momenten noch andere Zusammenhänge zwischen den Erlebnissen und den wirklichen Gegenständen möglich sind. Bevor wir dazu übergehen, müssen wir die Frage beantworten, woher wir die Kenntnisse schöpfen, die für die nähere Erforschung der Erkenntnisbeziehung nötig sind, und wie wir diese Untersuchung durchführen sollen. In der gegenwärtigen Untersuchungsphase liegt der Gedanke nahe, man müsse sich zu diesem Zweck den erkenntnismäßigen Bewußtseinserlebnissen zuwenden und durch eine nähere Erforschung ihres Aufbaus die Wesenszüge der Erkenntnisbeziehung zwischen ihnen und den Gegenständen herausstellen. Es fragt sich jedoch, ob die Erforschung der erkenntnismäßigen Bewußtseinserlebnisse für sich allein genommen in diesem Fall ausreichen kann. 5 Ist es nicht offensichtlich, daß es für die Erforschung eines [Dazu am Rand die spatere Frage: "Ist das tatsächlich nachgewiesen worden?"] [Dazu auf einem eingelegten Blatt die Ergänzung: "Es wäre somit zweifelhaft, ob die Bewußtseinserlebnisse überhaupt mit irgend etwas, was kein Erlebnis ist, in einem Kausalzusammenhang stehen können, wenn es sich zeigte, daß a) die Bewußtseinserlebnisse eine andere Seinsweise haben als die realen Gegenstände und b) daß der Kausalzusammenhang nur innerhalb der realen Welt (sofern diese Uberhaupt existiert) stattfindet.] [Dazu am Rande die Ergänzung: "Denn nach dem Vollzug der phänomenologischen Reduktion dürfen keine von den Erlebnissen unabhängigen, transzendenten Gegenstände angenommen werden".]

Das Verhältnis zwischen Erkennen und

Erkenntnisgegenstand

463

Verhältnisses R zwischen χ und y unentbehrlich ist, a) beide Gegenstände χ und y auf ihre absoluten Merkmale hin zu untersuchen sowie b) unter diesen Merkmalen ein entsprechendes Paar (oder zwei Komplexe) von Merkmalen zu wählen und erst durch ihre Zusammenstellung zu einer Bestimmung [des Verhältnisses] R zu gelangen? Jedes Verhältnis zwischen einem χ und einem y wird doch durch Merkmale beider Gegenstände bestimmt. Indessen sollten wir uns hier, wie es scheint, auf die Untersuchung nur eines der hier in Frage kommenden Elemente der Erkenntnisbeziehung beschränken, und zwar solange, als wir nicht wissen, daß wir ihre Existenz anerkennen dürfen, d. h. bis zum Augenblick, in dem wir schon eine vollendete Erkenntnistheorie zur Verfügung haben. Es wird daher ohne Zweifel nicht möglich sein, alle Merkmale der Erkenntnisbeziehung zwischen dem Erkenntnisgegenstand und dem Erkennen zu bestimmen, ohne beide Glieder dieser Beziehung zu untersuchen. Wir können jedoch vielleicht wenigstens einen Wesenszug dieser Beziehung dadurch fixieren, daß wir nur die konstitutiven Merkmale der Erkenntnisbeziehung in Betracht ziehen. Denn es wird sich zeigen, daß das erkenntnismäßige Bewußtseinserlebnis gleichsam von sich selbst aus eine Zuordnung zwischen sich und einem anderen Seienden herstellt, indem es dieses zu seinem Gegenstand macht. 6 Wir haben schon im vorangehenden Kapitel auf den von uns mehrfach gebrauchten Ausdruck aufmerksam gemacht, daß die Erkenntnis ihren Gegenstand "betreffe". Dieser Ausdruck zielt eben auf das Moment des Aufbaus der Erkenntnisakte, durch das die Zuordnung zwischen dem Erkennen und seinem "Gegenstand" zustande kommt. Wir müssen also in erster Linie verstehen, was es bedeutet, daß die Erkenntnis einen Gegenstand "betrifft" und welche Eigenschaften des Erkenntniserlebnisses für diese Funktion des "Betreffens" entscheidend sind. Gehen wir von einem konkreten Beispiel aus: Ich nehme die Blumen wahr, die vor mir in der Vase auf dem Tisch stehen. "Ich nehme wahr" heißt nichts anderes, als daß ich einen besonderen Bewußtseinsakt erlebe und beim Erleben desselben zugleich eine ganze Reihe von "anschaulichen Inhalten" empfinde, die mit diesem Akt in einem notwendigen Zusammen-

[Dazu auf einem eingelegten Blatt: "Um dies zu zeigen, muß man vor allem auf den Aufbau des Erkenntniserlebnisses eingehen".]

464

Fortsetzungsteil der /. Redaktion (1926)

hang stehen - Inhalte, die ich mir übrigens während des Erlebens des Aktes gewöhnlich nicht klar zum Bewußtsein bringe. Während ich aber diese Inhalte empfinde, vermeine ich im Wahrnehmungsakt einen soundso beschaffenen Gegenstand7, der mir zugleich anschaulich und unmittelbar als selbstgegenwärtig gegeben ist. Man muß also in der ganzen Sachlage, die bei der sinnlichen Wahrnehmung vorliegt, die folgenden Komponenten unterscheiden: a) den Wahrnehmungsakt, für den das Meinen eines Gegenstandes mit bestimmten Merkmalen konstitutiv ist, b) einen vom Erkenntnissubjekt beim Vollzug des Aktes empfundenen "anschaulichen Inhalt" und c) den anschaulich gegebenen Gegenstand. Welches die Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen diesen Komponenten sind, ob jede von ihnen tatsächlich einen reellen Bestandteil der "Wahrnehmung" ausmacht, das sind Probleme, auf die wir später eingehen werden. Insbesondere müssen wir die Erforschung der Abhängigkeit zwischen dem vom Subjekt empfundenen "anschaulichen Inhalt" und dem Akt selbst aufschieben. Zunächst müssen wir uns dem Akt der Wahrnehmung bzw. dem Erkenntnisakt überhaupt zuwenden. Der Wahrnehmungsakt wird vom Erkenntnissubjekt vollzogen, und dieses Vollziehen besteht unter anderem im bewußten Erleben des Aktes. Dieser Akt, oder besser, das Subjekt im Vollzug des Aktes richtet sich auf etwas von ihm Verschiedenes, und zwar dadurch, daß im Akte unter anderem ein Meinen8 (Intention) beschlossen ist. Dieses Meinen hat nicht nur einen "Inhalt" (der von dem unter b gekennzeichneten "anschaulichen Inhalt" zu unterscheiden ist9), sondern es bestimmt auch durch diesen Inhalt, wählt und zielt zugleich auf etwas ab, was von dem Akt verschieden ist und zu ihm nicht als Bestandteil gehört, nämlich auf den "Gegenstand". Auf andere Vgl. dazu die Analysen Husserls in den Ideen zur einer reinen

Phänomenologie

[Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, §41] außerdem [H.] Conrad-Martius, "Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt" [Jahrbuch fiir Philosophie und phänomenologische

Forschung, 3 (1916), S. 405-408, 454, 505].

Vgl. Reinachs [Bemerkungen zum] "Meinen", [vgl. A. Reinach, "Zur Theorie des negativen Urteils", in: A. Reinach, Sämtliche Werke. Textkritische Ausgabe in 2 Bänden, hrsg. von Karl Schuhmann und Barry Smith, München 1989 (Bd. 1, S. 95-140), S. 102-106]. Natürlich wird hier diese Unterscheidung nur in den gröbsten Zügen entworfen, wie überhaupt fast alle Analysen, die wir hier vorlegen, notgedrungen auf die für unsere Betrachtungen unentbehrlichsten Punkte beschränkt sein müssen.

Das Verhältnis zwischen Erkennen und

Erkenntnisgegenstand

465

Weise haben wir vorhin gesagt, daß der Erkenntnisakt etwas "betrifft". Dieses "Betreffen" besteht darin, daß der Erkenntnisakt durch den Inhalt seines Meinens einen gerade soundso beschaffenen {und diesen und nichts einen anderen} Gegenstand bestimmt und vermöge der Intentionalität des Meinens auf ihn "abzielt". Der "Gegenstand" ist gleichsam das Ziel, auf welches das vom Subjekt vollzogene Meinen sich richtet. Das Moment des Meinens, das wir hier mit dem Ausdruck "Abzielen" bezeichnen, ist wesentlich für jeden Bewußtseinsakt, auch wenn dieser keinen Erkenntnisakt ausmacht. In den Erkenntnisakten tritt es jedoch sozusagen in der einfachsten Gestalt auf, während uns bei den anderen Arten von Bewußtseinsakten, z.B. bei den Willensakten, seine komplizierteren Formen begegnen. 10 In den Erkenntnisakten ist dieses "Abzielen auf', dieser "Bezug a u f - oder wie wir auch dieses Moment noch anders bildlich ausdrücken mögen - durch eine gewisse Kraftlosigkeit und Leidenschaftslosigkeit gekennzeichnet. Das Bewußtseinssubjekt, das einen Erkenntnisakt vollzieht, "zielt" nur auf den Gegenstand "ab", "sieht es auf ihn ab", dadurch aber greift es in dessen Schicksal nicht ein, ja hat nicht einmal vor, dies zu tun. 11 Ebensowenig nimmt es schon dadurch allein gegenüber dem vermeinten Gegenstand eine Haltung ein - weder eine freundliche noch eine feindliche. Das Moment des Abzielens auf den Gegenstand zeichnet sich hier durch eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber dem Gegenstand aus. Dieses Moment bildet die sogenannte "Intentionalität" der Bewußtseinsakte, auf die in der modernen Literatur als erster Brentano hingewiesen hat. 12 Sie ist etwas Letzteinfaches, das sich weder näher beschreiben noch strenggenommen mit etwas anderem vergleichen läßt. Die Bilder, deren wir uns hier bedienen, sind allein Bilder. Sie können die Eigenart [dieses Phänomens] nicht genau wiedergeben, sofern sie ζ. B. einen räumlichen Wesenszug einführen, der sowohl dem Moment der Intentionalität als auch den Bewußtseinsakten überhaupt völlig

10

Vgl. [E.] Husserl, Ideen I, S. 65, § 37 [(Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 75,

11

Vgl. H. Conrad-Martius, "Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt",

12

Vgl. F. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt [Bd. 1/2, hrsg. von Oskar

§ 37)]. [Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische

Forschung, 3 (1916), S. 390].

Kraus, Hamburg 1924/1925] außerdem E. Husserl, Logische Untersuchungen [(Husserliana XVIII/XIX)] und Ideen I [(Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann)].

466

Fortsetzungsteil der /. Redaktion (1926)

fremd ist. Deswegen sollen sie nur dazu dienen, dem Leser dieses Moment im gesamten Bewußtseinsakt unterscheiden zu helfen. Die Intentionalität des erkenntnismäßigen Bewußtseinsaktes bewirkt zugleich, daß jeder Akt seinen Gegenstand "hat", der durch den Inhalt der in diesem Akt eingeschlossenen Meinung bestimmt ist. Dabei bedeutet die "Gegenständlichkeit" dieses Gegenstandes zunächst nicht mehr, als daß dieser das Ziel der Meinung des Aktes bildet. 13 Die Intentionalität des Aktes und die Gegenständlichkeit des Gegenstandes sind zwei Korrelate, die sich nur in wechselseitiger Gegenüberstellung und Zuordnung denken lassen. 14 Nehmen wir für einen Augenblick an, es gebe ein materielles Ding, auf das der Erkenntnisakt in einem bestimmten Moment "abzielt", dann nimmt dieses Ding schon dadurch, daß es das Ziel der Intention des betreffenden Aktes bildet, einen relativen Charakter an, der es zum "Gegenstand" des Aktes macht. 15 Wie wir aber gesagt haben, "zielt" jeder Erkenntnisakt nicht nur auf etwas von ihm Verschiedenes (einen "Gegenstand"), "sieht" es auf ihn "ab", sondern zielt auch mit einem Inhalt auf ihn, bestimmt ihn als etwas, was formal soundso aufgebaut und mit diesen oder jenen Eigenschaften (allgemeiner gesagt: Merkmalen) ausgestattet ist. Der Erkenntnisakt kann nur auf etwas - sei es auch nur negativ - Bestimmtes abzielen oder auch auf etwas, was als ein in dieser oder jener Hinsicht Unbestimmtes oder Nicht-völligBestimmtes bestimmt ist. Diese Bestimmung aber, durch welche das Subjekt sich im Erkenntnisakt gerade auf das und das Seiende richtet, hat ihre Quelle im "Inhalt" der Meinung. Oder anders: Die Richtung, in die sich das

13 Es ist nicht ausgeschlossen, daß dies gewisse formale Momente dessen nach sich zieht, was zum "Gegenstand" geworden ist, die z.B. beim Durchleben der Akte nicht auftreten. Das spielt aber in diesem Zusammenhang keine Rolle. Als erster hat darauf Bergson hingewiesen. 14

Nur in diesem Sinne kann man der Behauptung zustimmen, daß Objekt und Subjekt zwei zueinander gehörende Korrelate seien, die getrennt nicht existieren könnten. Alle anderen Verständnisweisen dieser Behauptung sind falsch und führen zu einem unbegründeten Idealismus. Vgl. dazu H. Rickert, [Der] Gegenstand der Erkenntnis [Zweite, verbesserte und erweiterte Aufl., Tübingen und Leipzig 1904, S. 26, 27].

15

Von dem "Gegenstand" und der "Gegenständlichkeit" kann man natürlich noch in vielen anderen Bedeutungen sprechen, und die Erkenntnistheorie soll auf diese verschiedenen Bedeutungen dringend eingehen.

Das Verhältnis zwischen Erkennen und

Erkenntnisgegenstand

Subjekt im vollzogenen Akte richtet, ist durch den Inhalt der Meinung Aktes bestimmt. Erst die beiden Elemente zusammengenommen "Inhalt" und die Intentionalität der Meinung - machen das Phänomen "Betreffens von etwas" (der Beziehung auf etwas) aus, [das Phänomen], eine Zuordnung des Aktes und des Gegenstandes herstellt.

467 des der des das

Im Meinungsinhalt des Erkenntnisaktes treten besondere Elemente auf, die das, was der Akt betrifft, näher charakterisieren. Das wichtigste unter ihnen ist, daß das den Erkenntnisski vollziehende Subjekt dasjenige, worauf die Meinung des Aktes sich bezieht, als etwas begreift, dessen Natur nicht darin aufgeht, der "Gegenstand" bzw. das Ziel des Aktes zu sein. Der Charakter der Gegenständlichkeit, der der Intentionalität des Aktes entspricht, ist vielmehr etwas, worauf der Meinungsinhalt selbst nicht hinweist. Der Meinungsinhalt ignoriert gleichsam diesen Charakter und bestimmt direkt das, was in Berührung mit dem Akt diesen Charakter annimmt. Oder genauer: Der Meinungsinhalt des Erkenntnisaktes bestimmt den Gegenstand so, als ob der Charakter der Gegenständlichkeit zu ihm nicht gehörte, sondern nur ein durch die Intentionalität des Aktes auf ein Seiendes geworfener Reflex wäre. Daher erschöpft sich das, worauf sich das Subjekt im Erkenntnisakt richtet, nicht nur nicht in seinem "Gegenstand-des-Aktes-Sein", sondern es ist auch durch den Inhalt des Aktes als etwas begriffen, wofür dieses Gegenstand-Sein zufällig ist. Damit hängt natürlich zusammen, daß es im Meinungsinhalt des Aktes als etwas begriffen ist, was an sich existiert, indem es sein Seinsfundament entweder in sich trägt oder dieses einem anderen Ding verdankt, jedenfalls aber nicht dem Umstand, daß es das Ziel der Meinung des Bewußtseinsaktes ist. Eo ipso ist auch das, was der Erkenntnisakt betrifft, im Inhalt seiner Meinung als etwas begriffen, was ein System seiner eigenen Merkmale besitzt und dessen Natur in sich selbst durchaus bestimmt ist. In der Regel tritt auch im Meinungsinhalt ein Element auf, das darauf hinweist, wie diese Natur beschaffen ist, oder das das gegebene Ding von vornherein als Ding mit einer bestimmten Natur auffaßt. Zuweilen geschieht es aber, daß dieses Element nicht präzisiert ist: das Ding, das der Akt betrifft, wird als ein solches aufgefaßt, das eine dem Subjekt unbekannte Natur besitzt. Dann treten jedoch im Meinungsinhalt andere Momente auf, die gleichsam auf einem Umweg den Gegenstand bestimmen, den der Akt betrifft. Auch dann aber, wenn das auf die Natur des

468

Fortsetzungsteil der I. Redaktion (1926)

Gegenstandes hinweisende Moment ganz präzisiert ist, treten im Meinungsinhalt Elemente auf, die auf die einzelnen Merkmale des mit dieser Natur ausgestatteten Gegenstandes hinweisen, so daß der gesamte Meinungsinhalt einen vereinheitlichten, obwohl aus mannigfachen (formalen, qualitativen und existenzialen) Momenten aufgebauten Sinn desjenigen Gegenstandes bestimmt, den der entsprechende Akt betrifft. Oder umgekehrt gesagt: Der Erkenntnisakt betrifft einen gerade soundso bestimmten Gegenstand, wie er durch den Inhalt der im Akt beschlossenen Meinung dargestellt wird. Der Inhalt und die Intentionalität der Meinung erschöpfen aber noch nicht das Ganze des Erkenntnisaktes. Wie ich eben angedeutet habe, bestimmt der Inhalt auch die "existenzialen" Momente des Gegenstandssinnes. Ich will damit sagen, daß der Inhalt bestimmt, ob der Akt im gegebenen Fall ζ. B. einen Gegenstand betrifft, dessen Seinsart "Wirklichkeit" oder "Idealität" oder "Möglichkeit" ist usw. Im Meinungsinhalt des Aktes selbst tritt jedoch kein Moment auf, das ζ. B. einen gegebenen Gegenstand von der Art realer Gegenstände als einen wirklich existierenden vermeint. Dagegen enthält der Erkenntnisakt als Ganzes ein Moment (oder genauer: er kann es enthalten), das nicht zu seiner Meinung gehört und das die Funktion der Behauptung erfüllt, daß der durch den Meinungsinhalt bestimmte Gegenstand wirklich existiere oder ideal existiere, bzw. daß er nicht existiere. Das ist ein Moment, in dem das Erkenntnissubjekt diese oder jene Stellung zur Existenz des Gegenstandes einnimmt. Das Erkenntnissubjekt bringt durch den Vollzug eines solchen Aktes gleichsam zum Ausdruck, daß es den Gegenstand des Aktes als einen (in der gegebenen Seinsart!) existierenden anerkennt. Und umgekehrt: Im Vollzug eines solchen Erkenntnisaktes realisiert sich die Überzeugung des Erkenntnissubjektes von der Existenz des entsprechenden Gegenstandes. Wenn wir verschiedene'erkenntnismäßige Bewußtseinserlebnisse miteinander vergleichen, bemerken wir, daß sich manche von ihnen - wie ζ. B. das ganz unanschauliche Denken an etwas - darin erschöpfen, daß das Subjekt einen Erkenntnisakt vollzieht, wie er oben in seinen Hauptzügen beschrieben wurde.16 Andere dagegen zeichnen sich dadurch aus, daß gleichDas schließt natürlich nicht aus, daß während des Vollzugs derselben im Bewußtseinsstrom manchmal verschiedene "begleitende Inhalte" auftreten, die aber mit dem gegebenen Akt auf wesentliche Weise gar nicht verbunden sind.

Das Verhältnis zwischen Erkennen und Erkenntnisgegenstand

469

zeitig mit dem Vollzug des Aktes dem Erkenntnissubjekt anschaulich ein Gegenstand gegeben ist, und zwar gerade deijenige Gegenstand, den die Meinung des Aktes betrifft. Die Meinung des Aktes wird in solchen Fällen gleichsam befriedigt, sie erreicht das, was sie betrifft, und kommt darin zur Ruhe. Sich im Akt mit einer bestimmten Meinung auf etwas richtend, trifft das Subjekt dieses Etwas an, findet es gleichsam vor sich fertig vor. Dieses Etwas stellt sich dem den Akt vollziehenden Erkenntnissubjekt in eigener Person, im Original dar, ist ihm - wie wir uns ausdrücken - "gegeben". Während es sich dem Subjekt darstellt, stellt es eo ipso zumindest manche seiner Eigenschaften (allgemeiner gesagt: Merkmale) dar. Nicht alle Merkmale des Gegenstandes (denn im Augenblick, wo die Meinung des Aktes in diesem Etwas zur Ruhe kommt, nimmt dieses den Charakter der Gegenständlichkeit an!) müssen sich aber jedes Mal dem Subjekt darstellen oder sich überhaupt darstellen, und nicht alle tun dies immer in derselben Weise. Kommen alle Merkmale des Gegenstandes zur Darstellung, dann sprechen wir von der vollständigen Darstellung desselben; im entgegengesetzten Fall haben wir es mit einer unvollständigen Darstellung zu tun. Was aber die Art der Darstellung anbelangt, müssen wir zwischen adäquater und inadäquater Darstellung unterscheiden. Die erstere liegt vor, wenn eine Darstellung nicht nur - wie jede Darstellung! - anschaulich ist, sondern auch von der Art, daß die Merkmale des Gegenstandes genau so dargestellt werden, wie sie an sich sind. Natürlich soll [schon] die Darstellungsart allein in diesem Fall bewirken, daß die dargestellten Merkmale in jeder Hinsicht - ausgenommen natürlich die Umstände ihrer gerade eintretenden Darstellung genau so sind wie dann, wenn sie nicht dargestellt werden. Mit anderen Worten: Die Darstellung soll in diesem Fall die den Merkmalen des Gegenstandes eigene Qualität und Struktur in keiner Weise antasten, ja sie soll ihrem Aufbau nach das Erkenntnissubjekt versichern, daß sie adäquat ist.17 Wenn das nicht zutrifft, wenn [also] die Anschauungsdaten, die den Gegenstand bzw. seine Merkmale zur Darstellung bringen, dies so tun, daß sie das Subjekt gleichsam davon unterrichten, daß die im Original dargestellten Merkmale nicht an sich genau so sind, wie sie dargestellt werden: 17

Mit dieser Bestimmung der adäquaten Darstellung soll keineswegs gesagt sein, daß diese in jedem beliebigen Fall wirklich vorliegt. Wir wollen hiermit - wenn man so sagen darf - nur ein gewisses Ideal bestimmen. Wir werden darauf noch zurückkommen.

470

Fortsetzungsteil der I. Redaktion (1926)

dann haben wir es mit inadäquater Darstellung zu tun. Es gibt selbstverständlich noch verschiedene Grade der Inadäquatheit. Die beiden Paare von gegenübergestellten Arten der Darstellung des Gegenstandes (vollständige und unvollständige, adäquate und inadäquate Darstellung) können konkret in verschiedenen Kombinationen auftreten. Das Ideal wäre hier eine vollständige und adäquate Darstellung des Gegenstandes. Man darf jedoch nicht vergessen, daß eine solche Darstellung, auch bei den Gegenständen, bei denen sie möglich wäre, nicht immer notwendig ist. So brauchen auch die einzelnen Merkmale des Gegenstandes nicht immer in derselben Weise dargestellt zu werden. Während sie in dem einen Fall adäquat dargestellt werden, können sie in einem anderen Fall diese Adäquatheit der Darstellung [auch] nicht besitzen. Dabei können manche Merkmale eines selben Gegenstandes adäquat dargestelt werden, während andere nur zu einer inadäquaten Darstellung gelangen usw. Beachten wir die Möglichkeit verschiedener Fälle und verschiedener Arten der Darstellung, dann ist zuzugeben, daß wir sogar da, wo der Erkenntnisgegenstand anschaulich im Original (und nicht mittels eines Vertreters) gegeben ist, den Gegenstand selbst mit allen seinen Merkmalen dennoch von der Weise zu unterscheiden haben, wie er in einem gewissen Fall gerade gegeben ist, sowie vom Umfang, auf den die Darstellung des Gegenstandes sich erstreckt. Dabei betrifft die Meinung des Aktes, dessen Vollzug es mit sich bringt, daß der durch den Akt vermeinte Gegenstand dem Erkenntnissubjekt gegeben ist, eben den Gegenstand allein, gleichsam ohne Rücksicht auf den Umstand, daß dieser Gegenstand gerade gegeben, und zwar auf die und die Weise gegeben ist. So wie wir vorhin, bei der Analyse des Erkenntnisaktes, feststellen mußten, daß sich die Meinung des Aktes nicht auf die Gegenständlichkeit bezieht, sondern auf das, was diesen Charakter [der Gegenständlichkeit] annimmt, so bezieht sich der Akt auch in dem Fall, wo sein Gegenstand gegeben ist, auf den Gegenstand selbst, während er dessen Gegenständlichkeit sowie die Umstände der sich vollziehenden Darstellung gleichsam außer acht läßt. Anders ausgedrückt: Der Meinungsinhalt ist so geartet, daß er die Darstellung des Gegenstandes und ihre Umstände als etwas betrachtet, was für den Gegenstand zufällig ist und nur daher rührt, daß es dem Gegenstand passiert ist, in eine Beziehung zu dem Erkenntnissubjekt und des-

Das Verhältnis zwischen Erkennen und Erkenntnisgegenstand

471

sen Funktionen zu treten. Und so verhält es sich unabhängig davon, ob die Darstellung vollständig und adäquat ist oder nicht. In den Fällen, in denen der Vollzug eines Erkenntnisaktes mit der Darstellung des Gegenstandes seiner Meinung verbunden ist, findet gleichsam eine Konfrontation zwischen dem Subjekt und dem Gegenstand der Erkenntnis statt. Was diese Konfrontation zustande bringt, ist einerseits die Meinung des Aktes, andererseits die Darstellung des Gegenstandes. In diesem Fall wird die unmittelbare Erkenntnisbeziehung zwischen dem Erkenntnisgegenstand und dem Erkenntnissubjekt aktualisiert. Die mittelbare Erkenntnisbeziehung liegt hingegen in dem Fall vor, wo das Erkenntnissubjekt einen Erkenntnisakt vollzieht, ohne daß gleichzeitig eine Darstellung des Gegenstandes zustande kommt, der durch den Inhalt des Aktes bestimmt ist. Die Gegenüberstellung des "Gegenstandes selbst" (d. h. des Erkenntnisgegenstandes in Absehung von dem ihn in der Erkenntnisbeziehung kennzeichnenden Charakter der Gegenständlichkeit und von der Art und dem Umfang seiner Darstellung) und des Umfangs sowie der Art der Darstellung veranlaßt uns dazu, noch einen anderen Begriff zu bilden, den wir in unseren weiteren Betrachtungen benötigen werden. Wenn ζ. B. dem Erkenntnissubjekt in der "visuellen" Wahrnehmung18 ein "physischer"19 Gegenstand, etwa ein Tisch gegeben ist, so haben wir nach den vorangehenden Analysen zweierlei begrifflich einander gegenüberzustellen: einerseits den Tisch selbst mit allen seinen Merkmalen und seiner Seinsweise (gleichgültig ob diese [Momente] bekannt oder unbekannt sind20) und [andererseits] den dem Subjekt anschaulich gegebenen Gegenstand, genau so, wie er dem Subjekt gegeben ist und nur als ihm gegebenen. So ist mir ζ. B. in diesem Augenblick ein Tisch gegeben als braun, hölzern, vierbeinig, von vorne in einer charakteristischen Verkürzung gesehen, mit einer gesehenen Vorderseite und einer nicht gesehenen Rückseite, die aber dennoch in charakteristischer

1 Q

Der Ausdruck "visuelle Wahrnehmung" soll hier natürlich nicht bedeuten, daß es sich um eine Wahrnehmung handelt, die mit Hilfe eines [bestimmten] physiologischen Organs gewonnen wird; er soll nur auf eine besondere Art des Bewußtseinserlebnisses abzielen. Ebenso soll das Wort "physisch" nur auf eine Art von Gegenständen hinweisen, ohne zu 90

präjudizieren, daß derartige Gegenstände tatsächlich existieren. In den meisten Fällen wird die Mehrheit der Merkmale des Erkenntnisgegenstandes für das Subjekt unbekannt sein.

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Fortsetzungsteil der I. Redaktion (1926)

Weise mit gegeben ist, in der und der Beleuchtung, in der und der Orientierung mir gegenüber usw. Der genau so "gegebene Tisch" - und zwar nur als der mit allen Einzelzügen der Darstellungsweise seines Ganzen und seiner einzelnen Merkmale gegebene betrachtet und nur auf die Merkmale beschränkt, die in irgendeiner Weise dargestellt werden - ist nicht mehr der "Tisch selbst", der ζ. B. im Zimmer bleibt, wenn ich hinausgehe, den man in Stücke zerhauen und mit diesen im Ofen heizen kann, der mit einem Wort unendlich viele Merkmale besitzt, die auf keine, nicht einmal mittelbare Weise aktuell dargestellt werden, und der dabei - falls er überhaupt existiert - ein Sein an sich ist und sich sozusagen gar nicht darum kümmert, ob er zufällig zum Gegenstand eines Erkenntnisaktes geworden ist oder nicht. Dieser "gegebene Tisch", der in Wahrheit kein Tisch ist, der aufhört zu existieren, wenn die Wahrnehmung zu Ende geht, und der nie wieder als genau der gleiche existieren wird, ist nur das Korrelat des betreffenden Wahrnehmungsaktes. Diesen "gegebenen Tisch", nur als gegeben betrachtet, nenne ich einen "Darstellungsgehalt"21 oder-um einen alten Terminus zu verwenden-eine "Erscheinung". Ich muß jedoch die Leser bitten, sie möchten unter "Erscheinung" nur das verstehen, was ich hier mit diesem Terminus meine, und hierin keine anderen, aus der philosophischen Tradition übernommenen Bedeutungen hineintragen. Welche Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen dem Darstellungsgehalt und dem "Gegenstand selbst", sofern er existiert, einerseits und zwischen dem Akt, dem anschaulichen Inhalt und dem Darstellungsgehalt andererseits bestehen, dies sind spätere Fragen, auf die wir noch zurückkommen werden. Hier müssen wir noch folgendes bemerken: Es liegt nämlich der Gedanke nahe, daß der "Gegenstand selbst" nur insofern Gegenstand des Erkenntnisaktes sei, als seine Natur22, die in der unmittelbaren Erkenntnisbeziehung gegebenenfalls zur Darstellung kommt, genau so ist, wie dies das entsprechende Moment des Erkenntnisaktes anzeigt. Dieser Gedanke ist aus mehreren Gründen verlockend. Beachten wir zuerst, daß 21

Es ist zu beachten, daB der Terminus "Darstellungsgehalt" de facto eine ganze Sphäre bedeckt, in der wir noch eine Reihe von Unterscheidungen durchzuführen haben. Wir werden 22 darauf noch zurückkommen.

Bei den individuellen Gegenständen handelt es sich um die "individuelle konstitutive Natur"; vgl. "Essentiale Fragen" [Ingarden (1925a), S. 151].

Das Verhältnis zwischen Erkennen und Erkenntnisgegenstand

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das die Natur des Gegenstandes (insbesondere die "individuelle konstitutive Natur" bei den individuellen Gegenständen) anzeigende Moment insofern das wichtigste Aktmoment des Aktes ist, als es die Richtung bestimmt, in die sich das den Akt vollziehende Subjekt wendet, so scheint es natürlich, daß, wenn zwischen der individuellen Natur eines Gegenstandes X und einem entsprechenden Moment der Meinung des Erkenntnisaktes y nicht das oben gekennzeichnete Verhältnis besteht, X nicht der Gegenstand von Κ ist. Denn y betrifft einfach einen ganz anderen Gegenstand. Da liegt die Vermutung nahe, eine unentbehrliche Bedingung dafür, daß zwischen einem Gegenstand G und einem Akt A eine Erkenntnisbeziehung besteht, sei das Bestehen des oben gekennzeichneten Verhältnisses. Dieser Gedanke ist für den Erkenntnistheoretiker um so verlockender, als wir, falls dies zuträfe, eine wesentlich vereinfachte Situation vor uns hätten, sowohl wo es um den Verlauf der erkenntnistheoretischen Untersuchungen selbst geht als auch im gegenwärtigen Zusammenhang, wo wir die Weise suchen, wie man ins Gebiet der Erkenntnistheorie auch die Gegenstände der Erkenntnis, sofern dies für die epistemologischen Probleme unentbehrlich ist, einbeziehen kann, ohne zugleich den positiven Wert der betreffenden Erkenntnisse vorauszusetzen und in die der Erkenntnistheorie fremden Forschungsbereiche einzutreten. Wenn die hier fragliche Behauptung wahr wäre, reichte es im letzteren Fall nämlich für die Zwecke der Epistemologie aus, anhand einer Analyse des Meinungsinhalts der Erkenntnisakte, besonders hinsichtlich des die Natur des Gegenstandes anzeigenden Momentes, den Sinn der entsprechenden Gegenstände herauszuarbeiten, um zu wissen, wie die Gegenstände beschaffen sind, auf die sich die uns im gegebenen Augenblick interessierenden Erkenntnisakte beziehen. Leider aber läßt sich die in Rede stehende Behauptung, wenigstens in der obigen Formulierung, nicht halten. Von ihrer Falschheit zeugt vor allem eine sich daraus ergebende Konsequenz, nämlich die Tatsache, daß, wenn sie wahr wäre, kein auf die Natur des Erkenntnisgegenstandes bezogenes Erkenntnisresultat transzendent falsch sein könnte. Denn entweder bestünde das in der diskutierten Behauptung gekennzeichnete Verhältnis zwischen der Natur des Gegenstandes und dem betreffenden Moment der Meinung, und dann müßte die in diesem Akt gewonnene "Erkenntnis" wenigstens in dieser Hinsicht transzendent wahr sein; oder dieses Verhältnis bestünde nicht, und dann könnte von der Erkenntnisbeziehung zwischen dem betreffenden Akt und

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dem gegebenen Gegenstand überhaupt nicht die Rede sein. Geben wir jedoch zu (was evident scheint), daß von transzendenter Wahrheit oder Falschheit nur da die Rede sein kann, wo eine Erkenntnisbeziehung besteht, dann leuchtet ein, daß bei der Annahme der diskutierten Behauptung der Fall der Falschheit hinsichtlich der Natur des Erkenntnisgegenstandes ganz ausgeschlossen sein müßte. Indessen wird uns wohl niemand widersprechen, wenn wir feststellen, daß das oben gekennzeichnete Verhältnis zwischen der Natur des Erkenntnisgegenstandes und dem entsprechenden Moment des Meinungsinhalts vielfach trotz des Bestehens einer Erkenntnisbeziehung nicht besteht. Wie oft überzeugen wir uns im Laufe des Erkennens eines Gegenstandes, daß er ganz anderer Natur ist als wir ursprünglich glaubten, wobei es außer Zweifel steht, daß es sich im ganzen Verlauf des Erkennens um denselben Gegenstand handelte. Wie könnte man denn schließlich die Frage, ob die Erkenntnisbeziehung besteht oder nicht, in den Fällen beantworten, wo das die Natur des Gegenstandes anzeigende Meinungsmoment nicht präzisiert ist oder, korrelativ gesprochen, wo diese Natur dem Erkenntnissubjekt unbekannt ist. Könnte man leugnen, daß [hier] trotzdem eine Erkenntnisbeziehung zwischen dem gegebenen Gegenstand und dem betreffenden Erkenntnisakt besteht? Wir sehen also, daß die diskutierte Behauptung in der oben angegebenen Gestalt nicht zu halten ist. Sie birgt aber dennoch einen richtigen Gedanken in sich, nur muß dieser genau formuliert werden. Die in der diskutierten Behauptung angegebene Bedingung ist zwar - wie es sich herausgestellt hat - nicht notwendig, wohl aber hinreichend dafür, daß zwischen dem Gegenstand und dem Akt des Erkennens eine Erkenntnisbeziehung besteht. Fragen wir, warum es so ist. Die Antwort kann allein die folgende sein: Da die Natur des Gegenstandes, insbesondere aber (wenn es sich um individuelle Gegenstände handelt) die den Gegenstand konstituierende individuelle Natur dasjenige Moment des Gegenstandes ist, das zur eindeutigen Bestimmung desselben ausreicht, ist das Bestehen des oben gekennzeichneten Verhältnisses zwischen der Natur des Gegenstandes und dem entsprechenden Moment des Meinungsinhalts für eine eindeutige gegenseitige Zuordnung des Aktes und des Gegenstandes hinreichend. Die letztere Zuordnung ist jedoch unentbehrlich für das Bestehen der Erkenntnisbeziehung. Der Akt betrifft dann sicherlich ein und denselben Gegenstand. Andererseits ist bekannt, daß man, um einen Gegenstand eindeutig zu bestimmen, nicht notwendig auf seine individuelle

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konstitutive Natur hinzuweisen braucht. Man kann daher umgekehrt von dem ausgehen, was erfüllt sein muß, damit eine Erkenntnisbeziehung besteht, nämlich von der eindeutigen gegenseitigen Zuordnung der entia, welche die Glieder dieser Beziehung ausmachen sollen, mithin des Erkenntnisaktes und des Gegenstandes. Es handelt sich dabei natürlich nicht um eine Zuordnung, die von uns gleichsam von außen her willkürlich hineingetragen wird 23 , sondern um eine solche, die sich selbst aus den Eigenschaften der beiden in Frage kommenden Elemente ergibt, die also nicht bloß eine lockere Zuordnung, sondern eine [gegenseitige] Zugehörigkeit ist. Eine solche [gegenseitige] Zugehörigkeit besteht nun, wenn unter den Elementen des Meinungsinhalts Momente auftreten, die auf diejenigen einem gewissen ens wirklich zukommenden Merkmale hinweisen, die dieses ens eindeutig bestimmen. Eines dieser Merkmale 24 kann auch die individuelle Natur des Gegenstandes sein; folglich ist die früher formulierte Bedingung bezüglich der Natur des Gegenstandes durch die Annahme der soeben angegebenen Behauptung tatsächlich - wie wir vor einem Augenblick festgestellt haben - hinreichend, obwohl nicht unentbehrlich. Formulieren wir aber die unentbehrliche und zugleich hinreichende Bedingung des Bestehens einer Erkenntnisbeziehung zwischen dem Gegenstand und dem Erkenntnisakt auf diese Weise, dann vermeiden wir zwar dadurch die mißlichen Konsequenzen, die sich aus der früheren, falschen Formulierung ergaben, dafür aber befinden wir uns in einer viel schlechteren Situation bei der Beantwortung der Frage, wie man ins Gebiet der Erkenntnistheorie auch die Erkenntnisgegenstände einbeziehen kann, ohne dabei die Fehler zu begehen, auf die wir schon vorhin hingewiesen haben. Bei der früheren Formulierung eröffnete sich die Möglichkeit, von den Erkenntnisgegenständen aufgrund einer Analyse der Erkenntnisakte (durch Auffindung des "Gegenstandssinnes") zu sprechen. Jetzt scheint diese Möglichkeit zu entfallen,

Eine solche von außen her eingeführte Zuordnung ist z.B. die von der psychophysiologischen Erkenntnistheorie angenommene Kausalbeziehung. 24

Das Wort "Merkmal" wird hier natürlich so allgemein verstanden, daß es auch die individuelle Natur des Gegenstandes und sogar die sog. relativen Merkmale mit umfaßt. Es ist zu bemerken, daß diese Behauptung sich hinter den Betrachtungen verbirgt, die Lotze in seiner Logik durchführt; vgl. [H. Lotze, Logik. Drei Bücher vom Denken, vom Untersuchen und vom Erkennen, in: System der Philosophie, Bd. I, Leipzig 1912, S. 42, 151 ff.].

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wenigstens für die Zwecke, die der Erkenntnistheorie vorschweben. Wozu brauchen wir denn in der Erkenntnistheorie die Rede von den Erkenntnisgegenständen? Wir müssen über ein Material verfügen, das zur Lösung der Objektivitätsprobleme benötigt wird. Wir müssen also wissen, ob die in den Erkenntnisakten gewonnenen Erkenntnisresultate transzendent wahr sind, d. h., ob sie mit den Eigenschaften der Gegenstände selbst übereinstimmen. Wir müssen somit wissen, welche Eigenschaften die Erkenntnisgegenstände an sich besitzen. Wir können jedoch von den Erkenntnisgegenständen nur auf Grund von Erkenntnisresultaten wissen. Diese Erkenntnisresultate sind nichts anderes als der "Sinn des Gegenstandes", wie er sich aufgrund des Vollzugs eines Erkenntnisaktes mit einem bestimmten Meinungsinhalt (oder eventuell einer ganzen Mannigfaltigkeit von solchen Akten) konstituiert. 25 Kann jedoch die Erkenntnisbeziehung bereits dann bestehen, wenn die von uns angegebene Bedingung erfüllt ist, so kann uns die Analyse des Gegenstandssinnes, die sich auf eine Analyse der Meinungsinhalte stützt, nicht viel nützen. Denn es hat sich herausgestellt, daß der Inhalt des Aktes sich so erheblich von den Eigenschaften des Gegenstandes an sich unterscheiden kann, daß er nicht einmal genau die Natur anzeigt, die der Gegenstand an sich besitzt. Die Momente aber, die zur eindeutigen Bestimmung des Gegenstandes hinreichend sind; können mit der Natur des Gegenstandes so wenig zu tun haben, in diesem Gegenstand eine so untergeordnete Rolle spielen, daß wir möglicherweise nicht in der Lage sein werden, durch ihre Berücksichtigung einen Hinweis darauf zu gewinnen, wie der Gegenstandssinn beschaffen sein muß, damit er genau den Eigenschaften des Gegenstandes selbst entspricht. Dies um so weniger, als wir durch eine bloße Analyse des Gegenstandssinnes oft nicht einmal fähig sein werden, zu entscheiden, welches seiner Momente dasjenige ist, das beim eventuellen Bestehen der Erkenntnisbeziehung die Grundlage derselben abgibt. Wie wir also sehen, scheint die Situation tatsächlich ausweglos zu sein. Diese Schwierigkeit ergibt sich jedoch nur aus der Überzeugung, daß wir beim Eintreten in die Behandlung des Objektivitätsproblems über ein fertiges und sicheres Wissen davon verfügen müssen, welche Eigenschaften die Erkenntnisgegenstände selbst oder wenigstens deren wichtigste Typen besitzen,

25

[Zu diesem Satz am Rande ein Fragezeichen.]

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um nachher durch Nebeneinanderstellung dieser Eigenschaften mit den Erkenntnisresultaten zu befinden, ob die lezteren transzendent wahr sind oder nicht. Diese Überzeugung stützt sich auf die irrtümliche Ansicht, der zufolge das Problem der Objektivität einer Erkenntnis sich nur durch das Vergleichen der Eigenschaften [dieser Erkenntnis] mit den Erkenntnisresultaten lösen lasse. Diese Ansicht ist eben deswegen irrtümlich, weil diese Aufgabe undurchfühbar ist, da sie - wie unsere bisherigen Ausführungen klar gezeigt haben den Fehler einer petitio principii in sich birgt. Wenn aber dieser Weg ein Irrweg ist, so folgt daraus weder, daß sich dieses Problem überhaupt nicht lösen läßt, noch daß wir den Begriff vom "Gegenstand selbst" schlechterdings verwerfen und uns mit einer idealistischen Lösung zufriedengeben sollen. Es folgt daraus zuerst nur, daß wir uns damit begnügen sollen, bei den einzelnen Erkenntnistypen die entsprechenden Gegenstandssinne herauszustellen, ohne dabei zu entscheiden, ob sie als Ganzes wie auch nach ihren einzelnen Momenten den Eigenschaften der Gegenstände selbst entsprechen oder nicht, mithin auch ohne zu entscheiden, ob wir in den betreffenden Akten über die Glieder der Erkenntnisbeziehung zu den Erkenntnisgegenständen verfügen oder nicht. 26 Die herausgestellten Gegenstandssinne werden uns lediglich die Sinne der vermeinten Gegenstände vertreten; ob aber diese richtig vermeint sind, wird erst von den Resultaten der erkenntnistheoretischen Betrachtungen abhängen. Der "Gegenstandssinn" ist gleichsam das ideal herauspräparierte Korrelat des Inhalts des Erkenntnisaktes bzw. einer Mannigfaltigkeit von solchen Akten, die durch ihre Inhalte miteinander verbunden sind. 27 Der Inhalt des Erkenntnisaktes steht mit dem "Darstellungsgehalt" in einem Zusammenhang, und zwar unabhängig davon, ob es sich um einen Akt handelt, der in die unmittelbare oder in die mittelbare Erkenntnisbeziehung eingeht. Es ist zu erwarten, daß der Aktinhalt sich den Elementen des Darstellungsgehalts und ihren Zusammenhängen anpaßt. Diese Anpassung würde entweder direkt erfolgen, wenn es sich um einen mit der Darstellung des Gegenstandes verbundenen Akt handelt, oder indirekt, wenn es um Akte "bloßen Denkens" an den Gegenstand geht. Träfe dies zu, dann verschöbe sich der Schwerpunkt der

[Dazu die Randbemerkung: "nicht klar!"] η

[Dazu am Rande ein Fragezeichen.]

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Untersuchungen - nach Herausstellung der uns gleichsam einen Überblick über mögliche Erkenntnisgegenstände 28 vermittelnden Gegenstandssinne in Richtung auf die Analyse der Darstellungsgehalte, die den Akten mit zugehörigen Inhalten entsprechen, und insbesondere in Richtung auf die Typen der Darstellung, in denen die Darstellungsgehalte aktualisiert werden. Schon die oben gemachte Unterscheidung von verschiedenen Typen der Darstellung erweckt die Hoffnung, daß ihre nähere Erforschung in einzelnen Fällen - besonders aber die Zusammenstellung von verschiedenen Darstellungsgehalten, die einem selben Gegenstand zugehören - uns in die Lage versetzt, zu befinden, ob und inwiefern ein [bestimmter] Darstellungstypus es uns gewährleistet, daß die an den Darstellungsgehalt angepaßten Aktinhalte bzw. Gegenstandssinne transzendent wahr sind bzw. - wenn es sich um die Gegenstandssinne handelt - daß sie die Sinne der Gegenstände an sich sind und nicht nur der Gegenstände, wie sie vom Erkenntnissubjekt vermeint werden. So erledigt sich die Frage, wie man ins Gebiet der Erkenntnistheorie auch die Erkenntnisgegenstände miteinbeziehen kann, ohne den Fehler einer petitio principii zu begehen. Die Antwort lautet: Die Erkenntnisgegenstände selbst - ob sie existieren oder nicht - verbleiben außerhalb des Forschungsbereichs der Epistemologie. An ihre Stelle treten die Gegenstandssinne, die durch eine Analyse des Meinungsinhalts der betreffenden Erkenntnisakte herausgestellt werden. Die Frage, ob sie die Sinne der Erkenntnisgegenstände selbst sind, bleibt dabei solange dahingestellt, bis die Untersuchungen der bei den aktualisierten Darstellungsgehalten vorliegenden Darstellungstypen sowie der zwischen der Darstellung des Gegenstandes und der Meinung des Erkenntnisaktes bestehenden Zusammenhänge uns zu einer positiven oder negativen Konklusion führen. Um keinen Zweifel daran bestehen zu lassen, daß wir den Sinn des Gegenstandes immer herausstellen können und daß uns die Analyse des Darstellungsgehalts nicht dazu zwingen wird, die Objektivität der äußeren Wahrnehmung blind vorauszusetzen, fügen wir zum Abschluß dieses Paragraphen noch folgende Bemerkungen hinzu.

28

Mögliche in dem Sinne, daß man noch nicht weiß, ob derartige Gegenstände existieren, und nur weiß, daß sich die Erkenntnisakte auf derartige Gegenstände beziehen können.

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Fassen wir alle Möglichkeiten ins Auge, dann liegen die folgenden Fälle vor, in denen wir den Sinn eines Gegenstand festzulegen haben: a) Wenn eine unmittelbare Erkenntnisbeziehung

besteht oder - um ihr\

faktisches Bestehen nicht vorauszusetzen - wenn das Erkenntnissubjekt einen Erkenntnisakt erlebt, der nicht mit der Darstellung des Gegenstandes Hand in Hand geht, dann bestimmt der Meinungsinhalt des Aktes den Sinn des Erkenntnisgegenstandes. b) Wenn das Erkenntnissubjekt einen Erkenntnisakt vollzieht, der mit der Darstellung des Gegenstandes Hand in Hand geht, und wenn zugleich die Natur des Gegenstandes adäquat dargestellt wird, dann wird der Gegenstandssinn - wenigstens seinem wichtigsten Moment, dem Moment der konstitutiven Natur des Gegenstandes nach - nicht nur durch den Meinungsinhalt des Aktes bestimmt, sondern auch durch dasjenige Moment des Darstellungsgehalts, in dem die Natur des Gegenstandes zur Darstellung kommt. Dabei wird beiderseits genau derselbe Gegenstandssinn bestimmt. c) Wenn bei dem Vollzug des Aktes und der damit verbundenen Darstellung des Gegenstandes die Natur des Gegenstandes inadäquat dargestellt wird, die Darstellung aber [dennoch] zustande kommt, dann wird der Gegenstandssinn durch den Meinungsinhalt des Aktes bestimmt. Der Akt zielt auf den Gegenstand so, als ob dieser solcher Natur wäre, wie dies das entsprechende Moment der Meinung anzeigt, und berücksichtigt nicht den Umstand, daß die Natur nur inadäquat dargestellt wird. Dann erfolgt jedoch keine volle Erfüllung des Meinungsinhalts in den einzelnen Elementen des Darstellungsgehaltes. Der Meinungsinhalt geht über den Darstellungsgehalt hinaus, der Akt postuliert aber damit gleichsam eine Fortsetzung des Erkenntnisprozesses, in der die durch das entsprechende Moment der Meinung bestimmte Natur des Gegenstandes zur adäquaten Darstellung kommt. In diesem Fall eröffnet sich die Perspektive auf eine ganze Mannigfaltigkeit von auf ein und denselben Gegenstand bezogenen Erkenntnisakte, in denen es allmählich zu einer immer adäquateren Darstellung des Gegenstandes kommt. Es ist dabei sowohl möglich, daß sich alle Momente des Meinungsinhalts nacheinander in den entsprechenden Momenten des Darstellungsgehalts erfüllen, als auch daß die Darstellungsgehalte eine Änderung des Meinungsinhalts des Aktes verursachen. Somit treten uns andere mögliche Fälle entgegen; auch hier wird aber

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der Sinn des Gegenstandes, auf den sich der Akt bezieht, durch den Meinungsinhalt des Aktes bestimmt. d) Es ist möglich, daß die bei dem Vollzug des Aktes und der Darstellung des Gegenstandes dargestellte Natur des Gegenstandes eine verschiedene ist von der, auf die das betreffende Moment der Aktmeinung hinweist. Dann kommt die Erfüllung des Aktes mit seinem ursprünglichen Inhalt nicht zustande, der Akt bleibt in seinem Vollzug aufgehalten, oder er geht zu einem anderen Akt über, dessen entsprechendes Meinungsmoment so ist, daß er dieselbe Natur vermeint wie die, die zur Darstellung kommt. Ein Beispiel: Einen Gegenstand suchend, nähern wir uns dem Schreibtisch, wo wir ihn zu finden hoffen. Und für einen Augenblick ist es so, als ob wir ihn wahrnähmen; in Wahrheit ist uns jedoch ein ganz anderer, manchmal sogar kaum ähnlicher Gegenstand gegeben. Es kommt hier strenggenommen nicht zum Vollzug des Wahrnehmungsaktes, den wir zu vollziehen bereit waren, ja den wir fast schon zu vollziehen begonnen haben. Oder genauer: Wir vollziehen hier einen anderen Akt als den, dessen Vollziehen begonnen und gleichsam in seinem Verlauf, gleich am Anfang, aufgehalten wurde, in einen anderen Akt überging. In diesem anderen, ziemlich kompliziert aufgebauten Akt zeichnet sich noch die Meinung des ursprünglichen Aktes ab, daneben erscheint jedoch eine, auch wenn nur unklar gedachte, Verneinung des aktuell gegebenen Gegenstandes. Darüber hinaus kulminiert das ganze Erlebnis in der Vermeinung der Verschiedenheit der beiden Gegenstände: des Gegenstandes, der ursprünglich ansatzweise-vermeint, aber definitiv nicht vermeint wurde und desjenigen, der sich aktuell darstellt und somit natürlich auch vermeint wird. In diesem Fall geht es also vielmehr um das Verwerfen eines sich darstellenden Gegenstandes als eines von demjenigen verschiedenen, auf den der Akt in seiner ersten Phase bezogen war, und nicht um das bloße Vollziehen eines auf diesen neuen Gegenstand bezogenen Erkenntnisaktes. Umgekehrt aber wurde der durch die Meinung des Aktes in seiner ersten Phase bestimmte Gegenstand nur nicht wahrgenommen. Deswegen streicht der dem Inhalt des Aktes in dessen späterer Phase entsprechende Darstellungsgehalt den Sinn des nicht-wahrgenommenen Gegenstandes nicht weg. Es bleibt möglich, daß ein anderer Akt vollzogen wird mit dem gleichen Inhalt wie der, der in der ersten Phase des Aktes nicht auftritt, und damit erfolgt auch die entsprechende Gegenstandsdarstellung. Wollten wir also aufgrund dieses Falles

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Erkenntnisgegenstand

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allein den Sinn des Gegenstandes festlegen, dann müßten wir die Sinne von zwei Gegenständen herausstellen: von dem Gegenstand, der von uns gesucht und nicht gefunden wurde, und von dem Gegenstand, der uns in der Wahrnehmung gegeben war. Möglich ist aber noch ein anderer, komplizierterer Fall: Stellen wir uns vor, wir nehmen einen Gegenstand wahr, ζ. B. einen schönen Apfel, der auf dem Tisch liegt. Wir nehmen ihn aus einiger Entfernung wahr, sehen ihn aber trotzdem deutlich, sehen die glänzende Farbe seiner Schale usw. Wir gehen auf den Tisch zu, während wir immer den Apfel sehen, und nehmen ihn in die Hand, um ihn ζ. B. zu durchschneiden und zu essen. Indessen scheint der bisher wahrgenommene Gegenstand im Augenblick, in dem wir ihn in die Hand nehmen, gleichsam zu "explodieren" 29 , zu verschwinden. Wir nehmen wahr, daß wir nicht einen Apfel, sondern ein gelungenes Wachsmodell eines Apfels in der Hand halten. Mit Enttäuschung legen wir den gegebenen Gegenstand auf den Tisch zurück, verwundert darüber, wie gut gemacht das Modell ist. In diesem Fall ist es tatsächlich zum Vollzug des Wahrnehmungsaktes gekommen, wobei der Gegenstand dargestellt wurde. Der weitere Verlauf der Wahrnehmung desselben30 Gegenstandes bringt aber einen Gegenstand zur Darstellung, dessen Natur ganz anders ist, als sie ursprünglich - offenbar inadäquat - dargestellt wurde; der Gegenstand ist aber dennoch als derselbe gegeben. Natürlich wird in der weiteren Wahrnehmungsphase ein neuer Akt vollzogen, dessen Inhalt dem Darstellungsgehalt des "Wachsmodells" entspricht, und zugleich, da uns der Gegenstand im ganzen Wahrnehmungsverlauf als derselbe gegeben ist, wird der Inhalt des ursprünglich vollzogenen Aktes bzw. der entsprechende Gegenstandssinn (des Apfels) als ungültig, "transzendent unwahr" durchgestrichen. Mit anderen Worten: Wir sind überzeugt, daß wir zuvor einer "Täuschung" anheimgefallen sind und erst danach den Gegenstand so wahrgenommen haben, wie er "in Wahrheit" ist. Offenbar darf der Erkenntnistheoretiker, der das Problem der Objektivität der gegebenen Wahrnehmungsabfolge in Angriff nimmt, nicht voraussetzen, diese letzte Wahrnehmung vermittle ein transzendent wahres Resultat. Er ist verpflichtet, zuerst denjenigen, der zur anfänglichen Wahrnehmungsphase 2Q

Ein Ausdruck Husserls [vgl. E. Husserl, Ideen I, S. 287 ff., 317 (Husserliana ΠΙ/1, hrsg. von K. Schuhmann, S. 320 ff., 353)].

•3Λ

[Dazu am Rande: "auf welcher Grundlage!"]

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gehört, sodann den zur zweiten Wahrnehmungsphase gehörigen Gegenstandssinn herauszustellen und sich erst durch weitere Erforschung der Darstellungsweisen in beiden Fällen um eine Beurteilung zu bemühen, in welcher Wahrnehmungsphase wir transzendent wahre Resultate erhalten. Selbstverständlich muß ihn auch die Phase des "Übergangs" von dem einen Akt in den anderen beschäftigen, das ist aber ein Thema, das uns hier nicht interessiert. Wir haben hier nur gezeigt, daß wir sogar in diesem Fall durch Analyse der entsprechenden Akte einen "Gegenstandssinn" herausfinden können. e) Wenn schließlich bei dem Vollzug des Aktes und der damit verbundenen Darstellung des Gegenstandes sowohl die Natur des Erkenntnisgegenstandes nicht dargestellt wird als auch das entsprechende Moment des Meinungsinhalts unbestimmt ist, dann finden andere Momente der Meinung in den dargestellten Merkmalen des Gegenstandes ihre Erfüllung, und es kommt auf diesem Weg zur Bestimmung des Gegenstandes. Auf Grund einer bloßen Analyse des Inhalts dieses Aktes allein kann man selbstverständlich den vollen Sinn des Gegenstandes, auf den der Akt sich bezieht, nicht festlegen. Man kann einen Sinn des Gegenstandes festlegen, der in mehrfacher Hinsicht unbestimmt ist bzw. als ein auf eine dem Subjekt unbekannte Weise bestimmter vermeint wird. Dieser Fall, ähnlich wie der Fall c), ist nur eine Übergangsphase des Erkenntnisprozesses und soll offenbar im Zusammenhang mit anderen, mit ihm durch ihre Inhalte verbundenen Akten betrachtet werden. Wie wir also sehen, erlaubt es uns die Analyse des Meinungsinhalts, zumal wenn sie anhand einer entsprechenden Mannigfaltigkeit von miteinander verbundenen Akten durchgeführt wird, in all diesen Fällen den Sinn des Gegenstandes herauszustellen, auf den der betreffende Akt bezogen ist. Was aber die Analyse des Darstellungsinhalts und der Darstellungstypen anbelangt, so kann man sie durchführen, ohne den Erkenntnisgegenstand "an sich selbst" in Betracht zu ziehen. Es ist nur unentbehrlich, mit der Analyse alle möglichen Darstellungsgehalte zu umfassen, die zu ein und demselben Gegenstand gehören. Daß eine gewisse Mannigfaltigkeit von Darstellungsgehalten ein und demselben Gegenstand zugehört, das können wir auch feststellen, ohne uns mit dem Gegenstand selbst zu beschäftigen, der außer Betracht bleibt. Denn man kann das dem Aufbau der einzelnen Darstellungsgehalte entnehmen. Es kann natürlich manchmal geschehen, daß wir zwei Darstellungsgehalte vor uns haben und ohne weiteres, auf Grund ihrer Analy-

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se allein, nicht dazu kommen können, daß sie de facto zu ein und demselben Gegenstand gehören. So ist es ζ. B. in den Fällen, wo in beiden Darstellungsgehalten keine Darstellung der Natur des Gegenstandes auftritt und wo zugleich die Darstellungen der Merkmale so sind, daß die dargestellten Merkmale ebensogut Merkmale von zwei verschiedenen Gegenständen sein könnten. Dann müssen wir uns natürlich weitere Darstellungsgehalte verschaffen, die gleichsam Vermittlungsglieder zwischen den beiden Darstellungsgehalten ausmachen. Und im täglichen Leben tun wir dies manchmal, indem wir uns einfach neue, unter anderen Umständen vollzogene äußere Wahrnehmungen des gegebenen Gegenstandes verschaffen (sofern es sich natürlich um Gegenstände handelt, die sich äußerlich wahrnehmen lassen; sonst muß man sich eine andere Art der Darstellung verschaffen). Dadurch, daß der Erkenntnisgegenstand "selbst" aus dem Bereich der erkenntnistheoretischen Betrachtungen eliminiert wird, wird es zugleich möglich, innerhalb der Erkenntnistheorie ganz frei von allen realistischen oder idealistischen Gesichtspunkten zu sein. Und erst das Material, das wir durch Analysen der Meinung von Akten, deren ganzen Aufbaus wie auch andererseits der Darstellungsgehalte und Darstellungstypen sammeln werden, wird es uns ermöglichen, die Objektivitätsprobleme so oder anders zu lösen und auf diesem Weg indirekt gegenüber dem Realismus oder dem Idealismus Stellung zu nehmen. Es ist jedoch zu bemerken, daß eine solche Stellungnahme keine eigentliche Aufgabe der Erkenntnistheorie mehr ist, sondern nur eine Anwendung ihrer Ergebnisse auf metaphysische Probleme. Denn die Erkenntnistheorie hat nicht zur Aufgabe, die Existenz oder Nichtexistenz von diesen oder jenen Gegenständen der Erkenntnis festzustellen, sondern lediglich, den Wert der Erkenntnis der Gegenstände zu erkennen und festzustellen. Indem wir dies behaupten, möchten wir nur eine Grenze ziehen zwischen dem Gebiet der Erkenntnistheorie und dem der Metaphysik. Wir möchten dadurch gar nicht entscheiden, daß man zu metaphysischen Sätzen nur auf einem Umweg über erkenntnistheoretische Untersuchungen gelangen könne. Wir betonen dies um so nachdrücklicher, als diese Auffassung seit Kant allgemein anerkannt wird und für selbstverständlich gilt. Man weiß aber nicht, ob dies tatsächlich zutrifft. Wir werden darauf noch zurückkommen.

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Die Betrachtungen der letzten Paragraphen haben gezeigt, daß die von uns im § 5 aufgestellten Postulate nicht widersprüchlich sind und daß wir als Erkenntnistheoretiker durch ihre Erfüllung unseres Forschungsgebiets nicht verlustig gehen. Im Gegenteil, es tut sich vor uns ein ungeheures Arbeitsfeld und ein Feld von Problemen auf, die bisher nicht nur nicht gelöst, sondern nicht einmal adäquat formuliert wurden. Es bleibt uns nun übrig, das Forschungsgebiet der Erkenntnistheorie richtig abzustecken, ihre Hauptprobleme zu skizzieren und sodann uns darauf zu besinnen, was für Schwierigkeiten und Gefahren diese neue Bestimmungsweise für die Erkenntnistheorie mit sich bringen kann.

§ 10. Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der erkenntnismäßigen Bewußtseinserlebnisse. Die Gruppen von Problemen Nach diesen Vorbereitungen können wir nun einen zweiten Versuch machen, das Forschungsgebiet der Erkenntnistheorie abzustecken und ihre Methode zu bestimmen. Es liegt nämlich der Gedanke nahe, der Untersuchungsgegenstand der Epistemologie seien die erkenntnismäßigen Erlebnisse des {reinen} Bewußtseins, mithin in erster Linie der Aufbau der Bewußtseinsakte, darüber hinaus der "Darstellungsgehalt", der sowohl auf seine Elemente als auch auf die Darstellungsarten hin zu untersuchen wäre. In diesem Zusammenhang müßte man die "anschaulichen Inhalte" in Betrachtung ziehen, von denen im vorangehenden Paragraphen die Rede war und die vom Erkenntnissubjekt während der Darstellung des Gegenstandes empfunden werden. Sowohl ihr Aufbau als auch die Art ihrer Präsenz als schließlich ihre Auswahl stehen mit dem "Darstellungsgehalt" in engem Zusammenhang. Man kann also nicht auf befriedigende Weise eine Analyse des letzteren durchführen und insbesondere Zusammenhänge zwischen seinen Elementen verfolgen, ohne die anschaulichen Inhalte in Betracht zu ziehen. Ins Forschungsgebiet der Erkenntnistheorie würde sodann - dieser Definition zufolge - der Sinn des Gegenstandes, auf den der Erkenntnisakt sich bezieht, wie auch schließlich das den Akt vollziehende Erkenntnissubjekt hineingehören.

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

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All diese Elemente des Forschungsgebiets der Epistemologie wären zuerst jedes für sich zu erkennen und zu beschreiben; sodann sollte man den zwischen ihnen bestehenden Zusammenhängen und Abhängigkeiten nachgehen; wenn wir auf diesem Weg Material gesammelt und verschiedene Typen und Weisen der Erkenntnis unterschieden hätten, müßten wir uns den "Objektivitätsproblemen" zuwenden, die bei den einzelnen Erkenntnisarten entstehen. Auf diese Weise zerfallen die Aufgaben der Epistemologie in zwei Hauptgruppen: a) in die Erkenntnis und Beschreibung der Erkenntniserlebnisse und ihrer Korrelate und b) in die Beurteilung des Erkenntniswertes der Resultate, die in den einzelnen Typen von Erkenntniserlebnissen gewonnen werden. Die erste Gruppe von Untersuchungen nennen wir Phänomenologie der Erkenntnis, die zweite Kritik der Erkenntnis. Die erste schafft unentbehrliches Material herbei, die zweite verwertet dieses Material, indem sie Betrachtungen hinsichtlich des Erkenntniswertes durchführt. I. Skizzieren wir zuerst die Hauptgruppen von Problemen der Phänomenologie der Erkenntnis. Sie gliedert sich nach den Elementen, die sich im gesamten Erkenntniserlebnis unterscheiden lassen. Wir haben also: a) die Noetik, d. h. Analyse der Erkenntnisa&ie und ihrer Rolle bei der Gewinnung der Erkenntnis; b) die Noematik, d.h. die Analyse des "Darstellungsgehalts", die sowohl hinsichtlich der Darstellungsweisen als auch hinsichtlich seiner Elemente durchgeführt wird. Hierzu wird auch die Analyse der "anschaulichen Inhalte" und ihres Verhältnisses zum

Darstellungsgehalt

gehören; c) die Analyse der Sinne von Erkenntnisgegenständen als Korrelate der Meinung der Erkenntnisakte; d) die Analyse des ErkenntnissMZy'eikres und seiner Rolle beim Vollziehen der Erkenntnisakte; schließlich e) Die Analyse der Zusammenhänge und Abhängigkeiten zwischen dem Erkenntnisakt und dem Darstellungsgehalt. 31 [Es sind weiter innerhalb der Phänomenologie der Erkenntnis] zwei Untersuchungsphasen [zu unterscheiden]: 1) die reine Deskription der Elemente, [Im Manuskript wurde dieser Punkt gestrichen und durch "e) Die Analyse der in den Erkenntnisakten gewonnenen Erkenntnisresultate" ersetzt. Im Fortgang des Textes (vgl. unten, S. 512f) bezieht sich aber der Verfasser auf die frühere Version.]

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2) die Erforschung der funktionellen - statischen und dynamischen - Zusammenhänge. In bezug auf die einzelnen Problemgruppen ist folgendes zu bemerken. ad a) Die Noetik ist einer der schwierigsten Teile der phänomenologischen Erkenntnistheorie, da wir sowohl durch die normalen Bedingungen des praktischen Lebens als auch durch die wissenschaftlichen Tendenzen dazu gedrängt werden, unsere Aufmerksamkeit primär auf den Gegenstand der Erkenntnis zu lenken. Es ist somit nicht verwunderlich, daß die bisherige Psychologie - sofern sie sich tatsächlich mit dem Bewußtsein und nicht mit den psychischen Prozessen beschäftigte - die Sphäre der Akte fast völlig übersehen hat. Man kann nur ein paar Namen nennen, die einem im Zusammenhang mit der Entdeckung der Aktsphäre in den Sinn kommen: K. Twardowski, A. Meinong, H. Bergson, E. Husserl und C. Stumpf. Von ihnen allen hat uns erst Husserl die ersten wissenschaftlich und systematisch durchgeführten Studien über Bewußtseinsakte gegeben. Man kann jedoch nicht sagen, daß wir heute über eine fertige Theorie der Bewußtseinsakte verfügen, trotz weiteren diesbezüglichen Studien, die sich bei Husserls Schülern finden. Denn auch noch andere Gründe bewirken, daß die Untersuchung der Akte sehr schwer durchzuführen ist. Die Hauptursache der Schwierigkeiten, auf die wir hier stoßen, ist das Wesen der Bewußtseinsakte selbst. Es unterscheidet sie nicht nur von den physischen Gegenständen, sondern auch vom Darstellungsgehalt, der, oder vielmehr manche seiner Elemente, nämlich die sogenannten Empfindungen, in erster Linie beachtet wurde, als man begann, sich mit dem Bewußtseinsstrom zu beschäftigen. Die völlige Andersartigkeit des Wesens der Bewußtseinsakte erschwert es uns sowohl, uns deren Aufbau klar zu machen wir unterliegen nämlich allzu leicht dem Hang, die uns aus der Sphäre der Gegenstände bekannten Strukturen in Gedanken [anderswohin] zu übertragen und sie den Bewußtseinsakten zu unterlegen 32 - , als auch diese Akte zu

Das haben mit Recht H. Bergson und später M. Scheler ("Die Idole der Selbsterkenntnis") [in: Vom Umsturz der Werte (Max Scheler, Gesammelte Werke, Band 3, Bern und München, 1972, S. 213-292)] bemerkt und kritisiert. Es ist jedoch zu beachten, daß Bergson noch nicht klar genug zwischen den Bewußtseinsakten und dem Darstellungsinhalt unterscheidet, was übrigens mit dem Programm seiner Methode in direktem Zusammenhang steht. Scheler dagegen wendet sich in erster Linie gegen die Übertragung von gegenständlichen Strukturen der Elemente der Außenwelt auf die Sphäre des Psychischen.

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beschreiben. Denn wir verfügen bei der Beschreibung der Akte nur über Ausdrücke, deren Bedeutungsinhalt den Eigenschaften der Gegenstände und besonders deren formalem Aufbau angepaßt ist, was uns vielleicht am stärksten daran hindert, dem in dieser Hinsicht verschiedenen Aufbau der Akte Rechnung zu tragen. 33 Aus diesen Gründen steckt die Noetik heutzutage noch in den Anfängen, und ohne die bahnbrechenden Untersuchungen Husserls könnten wir nicht einmal auf ein Anfangsstück der diesbezüglichen Forschung hinweisen. Die wichtigsten Aufgaben, die sich für die Noetik stellen, sind die folgenden: Man muß sich vor allem nach einer vorbereitenden Analyse der Bewußtseinsakte überhaupt klar machen, wodurch sich die Erkenntnisakte von allen anderen Akten unterscheiden, mithin was sie speziell als Akte der Erkenntnis kennzeichnet. Das wird uns ihren besonderen Aufbau - und zwar sowohl gewissermaßen den "statischen" als auch den "dynamischen" - verstehen lassen. 34 Denn der Bewußtseinsakt und insbesondere der Erkenntnisakt ist im allgemeinen nicht etwas, was sich sozusagen "auf einmal" abspielt. Er hat seine Phasen von Entwicklung, Kulmination und Vergehen und sogar gleichsam eine Phase des "Nachklangs", wenn er sich schon vollzogen hat und vorübergegangen ist, wenn aber gleichsam ein Echo von ihm im Bewußtseinsstrom noch nachhallt. 35 Man kann nun und man muß seinen Aufbau in seinen einzelnen Verlaufsphasen sowie im Ganzen verfolgen und dann der Aufeinanderfolge der einzelnen Phasen und deren Abhängigkeiten nachgehen. Es ist dabei zu erwarten, daß sich nicht alle Erkenntnisakte nach ihrer statischen wie auch dynamischen Struktur als gleichartig herausstellen werden, sondern daß sich hier verschiedene Typen von Akten unterscheiden lassen, ja daß die zwischen ihnen in dieser Hinsicht bestehenden Unterschiede nicht ohne BedeuAuch darauf weist Bergson hin, wobei er aber die Andersartigkeit des Bewußtseins in dieser Hinsicht dermaßen betont, daß er dadurch das Vorhandensein von formalen Strukturen leugnet, die jedes "Etwas" ungeachtet seiner näheren Ausstattung kennzeichnen. Dies führt zu unüberwindlichen Schwierigkeiten, auf die ich vor Jahren aufmerksam zu machen versuchte. 34

Die Hauptergebnisse der statischen Analyse wurden vorhin angegeben! Vgl. E. Stein ["Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften", Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische S. 1-283, S. 8],

Forschung, 5 (1922),

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tung für die Rolle sein werden, welche die Akte bei der Gewinnung der Erkenntnis durch das Subjekt spielen. Was den statischen Aufbau des Aktes angeht, so ist er auch noch von anderen im Akt auftretenden Momenten abhängig. Die wichtigste Rolle unter ihnen spielen einerseits verschiedene Typen des Durchlebens eines Aktes durch das Subjekt, andererseits aber verschiedene Formen des Vollzugs des Aktes bzw. verschiedene Seiten dieses Vollzugs durch das Subjekt. Was den ersteren Punkt betrifft, so muß betont werden, daß jeder Bewußtseinsakt mehr oder minder bewußt durchlebt wird. Dies bedeutet keineswegs, daß der durchlebte Akt zum Erkenntnisgegenstand eines anderen Aktes wird (was allerdings nicht ausgeschlossen ist). Im Gegenteil, auch wenn sich kein weiterer Akt einstellt, dessen Meinung sich auf den vom Subjekt vollzogenen Akt richtet, ist sich das Subjekt des vollzogenen Aktes bewußt. Wenn im Erkenntnisakt keine anderen Momente außer der Meinung vorhanden wären, könnte man sagen, der Erkenntnisakt sei bewußtes Vermeinen von etwas gegenüber dem Akt anderem. Man kann die Situation auch nicht so beschreiben, als ob im Akt neben der auf den Gegenstand gerichteten Meinung ein anderes intentionales Moment aufträte, das sich auf den Akt selbst wenden würde, und als ob neben dem Meinungsinhalt im Akt ein weiterer Inhalt aufträte, der sich auf die Meinung des Aktes und dessen übrige Momente bezöge. Alle derartige Hypothesen sind bloß wissenschaftliche Konstruktionen, die zu einem regressus ad infinitum führen und auch sich davon herleiten, daß man den spezifischen Aufbau des Bewußtseinsaktes, diesen primitivsten und durch keine Vergleiche wiederzugebenden Charakter der "Bewußtheit" verkennt. Diese Konstruktionen sind übrigens ganz unnötig, und das scheinbare Bedürfnis danach entspringt nur der falschen Ansicht, daß dasjenige, wessen das Erkenntnissubjekt sich "bewußt" sein kann, allein die Gegenstände seien, auf die der Akt sich bezieht. Genau besehen vermeint aber das Erkenntnissubjekt die Gegenstände oder empfindet diese oder jene anschaulichen Inhalte, bewußt ist es sich jedoch nur der von ihm durchlebten Akte, nur diese Akte vollzieht es bewußt. Es gibt natürlich was man nicht übersehen darf - verschiedene Klarheitstufen von bewußtem Durchleben; es gibt aber keine Bewußtseinsakte, die ganz unbewußt

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durchlebt werden. 36 Ich werde darauf noch zurückkommen. Hier ist nur zu bemerken, daß die nähere Erforschung der Typen von bewußtem Durchleben der Akte und der damit verbundenen Modifikationen im Aufbau des Aktes eine der ersten und zugleich schwierigsten Aufgaben der Noetik ist. Andererseits ist es für die Erkenntnistheorie wichtig, verschiedene Vollzugsformen des Erkenntnisaktes durch das Bewußtseinssubjekt zu unterscheiden und zu beschreiben. Im besonderen handelt es sich hier um verschiedene Formen der Aktivität und Passivität, und zwar nicht nur in dem Sinne, daß manche der Akte als aktive und andere als passive anzusehen sind, sondern auch in dem Sinne, daß manche der Aktmomente in besonderer Weise "aktiv" und andere "passiv" sind. Dies kommt besonders zum Vorschein, wenn wir einen Akt in der ganzen Dynamik seines Werdens, in der Vielfalt seiner einzelnen Phasen betrachten. So ist ζ. B. das Moment der Intentionalität, des Vermeinens von etwas durch einen Inhalt, ein par excellence aktives Moment, dessen Aktivität aber noch verschiedene Modi annehmen kann, je nach Phase des Erkenntnisaktes, seiner Art oder schließlich je nach den Umständen, unter denen der Akt stattfindet. (All dies sind Themen für umfangreiche Untersuchungen, die bis heute nur von wenigen Forschern vorgeahnt worden sind.) Diese Aktivität des intentionalen Momentes im reinen Erkenntnisakt ist dabei mit der ganz anderen Aktivität des Willensaktes nicht zu verwechseln, die in der Tendenz besteht, in den Lauf des Schicksals des Gegenstandes, auf den der Akt sich bezieht, tätig einzugreifen, in seinem Schicksal diese oder jene reale Veränderung hervorzurufen. Ein Erkenntnisakt kann eine solche Veränderung nicht nur in keinem Fall verursachen, sondern er verrät nicht einmal eine Tendenz dazu; in dieser Hinsicht ist er - wie ich schon vorhin betont habe - "unaktiv" oder - wie wir uns vielleicht zur Abhebung besser ausdrücken können - "unproduktiv". Neben dem naturgemäß "aktiven" Moment der Intentionalität finden wir im Akte noch andere "aktive" Momente - ζ. B. das Moment des Behauptens oder das Moment des "Schaffens", "Fingierens", wie es bei manchen Bewußtseinsakten auftritt, die zwar eigentlich keine Erkenntnisakte mehr sind, doch

Auf das "Durchleben" der BewuBtseinsakte habe ich in der Abhandlung "Über die Gefahr einer petitio principii in der Erkenntnistheorie", Jahrbuch \fiir Philosophie und phänomenologische Forschung,] 4 (1921) [Ingarden (1921a), auch in Ingarden (1994)] aufmerksam gemacht. Vgl. Brentano!

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Fortsetzungsteil der I. Redaktion (1926)

immer noch zu den "objektivierenden" Akten gehören, nämlich bei den Akten schöpferischer Phantasie. Andererseits finden sich auch bei manchen Erkenntnisakten "passive", "rezeptive" Momente, Empfindungsmomente,

durch

welche der Akt sich gleichsam mit einem Inhalt sättigt. Sie bilden gleichsam eine Grundlage des Aktes, auf der sich sein Meinungsinhalt des Aktes aufbaut. Von besonderer Wichtigkeit ist dabei für den Epistemologen die Verfolgung der Abhängigkeiten, die einerseits zwischen der passiven Seite des Aktes (dort, wo sie auftritt) und seinem Meinungsinhalt, andererseits zwischen der passiven Seite des Aktes und den anschaulichen Inhalten bestehen. Natürlich kommen hier sowohl statische Entsprechungen als auch Abhängigkeiten dynamischer Natur in Frage. In den dynamischen Abhängigkeiten, die für den Epistemologen bedeutsamer sind, verbergen sich mannigfache Prozesse (wenn man so sagen darf) der Bildung des Meinungsinhalts des Aktes. Und die Einzelheiten dieses Prozesses sind für die Beurteilung des Meinungsinhalts unter dem Gesichtspunkt der "Objektivität" der Erkenntnis von großer Bedeutung. Auf den letzteren Punkt werden wir noch zurückkommen müssen. Von großem Gewicht für die Theorie der Erkenntnis und insbesondere für deren Kritik ist ferner die genaue Erforschung der Übergänge von einem Erkenntnisakt zu einem anderen (bzw. in einen anderen) und speziell die Frage der damit verbundenen Verhältnisse zwischen Inhalten einzelner Akte. Dies ist besonders dort von Wichtigkeit, wo sich eine Mannigfaltigkeit von Akten auf einen selben Gegenstand bezieht und wo beim sukzessiven Erleben der einzelnen Glieder dieser Mannigfaltigkeit durch das Erkenntnissubjekt ein Prozeß der Erkenntnis ein und desselben Gegenstandes, insbesondere ein Erkenntnisfortschritt vonstatten geht. Man muß sich dabei verschiedene Typen von Abhängigkeiten, die zwischen Bewußtseinsakten im allgemeinen und zwischen Erkenntnisakten im besonderen walten, klar vor Augen fuhren, ohne von vornherein zu entscheiden, daß zwischen ihnen Kausalzusammenhänge vorliegen und erst recht nicht nur derartige Zusammenhänge. Es ist vielmehr zu erwarten, daß wir hier auf eine Reihe von verschiedenartigen Zusammenhängen und Abhängigkeiten stoßen werden, die mit dem Kausalzusammenhang nichts zu tun haben. Es ist zugleich zweifelhaft, ob Kausalzusammenhänge zwischen Bewußtseinsakten überhaupt in Frage kommen.

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

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Was die einzelnen Arten von Erkenntnisakten anbelangt, so muß eine besondere Beachtung den Akten gewidmet werden, bei deren Vollzug die Darstellung des Erkenntnisgegenstandes vonstatten geht bzw. in denen rezeptive Momente, das Empfinden "anschaulicher Inhalte" auftreten. Denn es ist zu erwarten, daß gerade diese Erkenntnisakte entweder zur Gewinnung der Erkenntnisse führen, die mit Hilfe [verstandesmäßigen] Denkens nicht erreichbar sind, oder aber zur Nachprüfung der Erkenntnisresultate, die in den indirekt auf Erkenntnisgegenstände bezogenen Aktoperationen gewonnen werden. Man darf auch nicht im voraus entscheiden, daß es nur eine Art von solchen Akten gibt - deren Gesamtheit das ausmacht, was man gewöhnlich "Erfahrung" nennt; man muß vielmehr im voraus damit rechnen, daß wir auch innerhalb der Erfahrungsakte auf weitgehende Unterschiede stoßen werden. Die zweite Gruppe von Akten, die einer eingehenden und sorgsamen Analyse zu unterziehen sind, bilden die Akte, bei denen verschiedene Erkenntnissubjekte zur Verständigung in Fragen der Erkenntnis gelangen. Denn es ist nicht ausgeschlossen, daß es Erkenntnisgegenstände (bzw. korrelativ Erkenntnistypen) gibt, die, wenn wir sie erschöpfend erkennen und erst recht wenn wir diesbezüglich sichere Ergebnisse erlangen sollen, einer Zusammenarbeit vieler Erkenntnissubjekte bedürfen. Klarerweise haben wir im Augenblick kein Recht, in der Erkenntnistheorie eine Vielheit von Erkenntnissubjekten anzuerkennen, obwohl wir diese im täglichen Leben gar nicht bezweifeln. So wie es jedoch einerseits gar nicht evident ist, daß es viele Erkenntnissubjekte gibt, und wie es daher für den Erkenntnistheoretiker unentbehrlich ist, die Existenz von vielen derartigen Subjekten nachzuweisen, so ist doch andererseits die Annahme der Möglichkeit der Existenz einer solchen Vielheit gar nicht widersinnig. Es gilt somit auch denjenigen Akten nachzugehen, die sich auf andere Erkenntnissubjekte und deren Erkenntnisakte beziehen. ad b) Den zweiten sehr umfangreichen Teilbereich der Phänomenologie der Erkenntnis bildet die sog. Noematik,37 Die Untersuchungen in diesem Beλ7 Die noematischen Untersuchungen kann man in erster Linie bei Husserl in seinen Ideen zu einer reinen Phänomenologie

[E. Husserl, Ideen I (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuh-

mann)] finden; vgl. außerdem H. Conrad-Martius, "Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt" [Jahrbuch fiir Philosophie und phänomenologische

Forschung, 3

(1916), S. 345-542], W. Schapp, Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, Halle

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reich sind vergleichsweise weiter vorangetrieben, wobei sich die Gruppe der Phänomenologen des Verdienstes beehren kann, an die systematischen Untersuchungen in dieser Richtung zuerst herangetreten zu sein und [bei diesen] bedeutende Resultate gewonnen zu haben. Dennoch ist auch in diesem Fall festzustellen, daß wir in unseren Untersuchungen noch nicht über die Anfange hinausgekommen sind. Um Mißverständnissen vorzubeugen, muß ich vor allem betonen, daß Husserl unter den noematischen Untersuchungen nicht nur die Untersuchungen über den "Darstellungsgehalt" versteht, sondern hierin auch die Untersuchungen über die Sinne von Erkenntnisgegenständen mit einbezieht, die ich hier in einer getrennten Problemgruppe bespreche. Die Noematik in meiner Bedeutung umfaßt das, was H. Conrad-Martius unter der "Erscheinungslehre" versteht. 38 Sie erstreckt sich [aber] auf die Analyse aller darstellenden Erkenntnisakte. Zugleich wird jedoch hierzu auch die Analyse "anschaulicher Inhalte" und deren Verhältnisses zum "Darstellungsgehalt" gehören. Wir müssen nun näher erläutern, was wir damit meinen. Den Ausdruck "anschaulicher Inhalt" haben wir deswegen ausgewählt, weil er ziemlich allgemein ist, so daß man damit eine Reihe von verschiedenartigen Elementen bezeichnen kann, die miteinander nur dies gemeinsam haben, daß sie alle "anschaulich" sind. Andererseits erfordert es gerade die Allgemeinheit dieses Ausdrucks, verschiedene Typen von "anschaulichen Inhalten" näher zu besprechen. In einer sehr weiten Bedeutung können wir mit diesem Terminus auch den Darstellungsgehalt mit umfassen, unsere Betrachtung mag also bei diesem einsetzen. Es ist zugleich zu bemerken, daß

1910, H. Hoffmann, "Untersuchungen über den Empfindungsbegriff', Archiv für die gesamte Psychologie, Bd. XXVI (1913), Hft. 1, E. Stein, "[Beiträge] zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften", Jahrbuch für und phänomenologische phänomenologischen

Forschung

Philosophie

[5 (1922), S. 1-283], O. Becker, Beiträge

Begründung der Geometrie und ihrer physikalischen

zur

Anwendung

[Halle 1923]; hierzu gehören auch die Untersuchungen D. Katz' und C. Stumpfs. [Vgl. D. Katz, Die Erscheinungsweisen

der Farben und ihre Beeinflussung durch die individuelle

Erfahrung. Leipzig 1911 (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Erg. Bd. 7), C. Stumpf, Über den physiologischen Ursprung der Raumvorstellung, Leipzig 1873.] 38 [Vgl. H. Conrad-Martius, "Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt", Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische

Forschung, 3 (1916).]

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

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die Bedeutung des Ausdrucks "anschaulicher Inhalt" so weit ist, daß sie sich auch auf anschauliche Inhalte erstrecken kann, die vom Erkenntnissubjekt als bloß begleitender Faktor beim Vollziehen von Denkakten erlebt werden oder bei der Vorstellung eines Gegenstandes erscheinen. In beiden Fällen kommt keine Darstellung des Gegenstandes zustande, und die "anschaulichen Inhalte" unterscheiden sich radikal von denjenigen, die bei einer Darstellung des Gegenstandes vorkommen. 39 Wo es sich also um eine Analyse des Darstellungsgehaltes und der damit verknüpften "anschaulichen Inhalte" handelt, muß man den Begriff "anschauliche Inhalte" so eng verstehen, um aus seinem Umfang die soeben gekennzeichneten "anschaulichen Inhalte" zu eliminieren. Ob die letzteren überhaupt aus dem Bereich der Noematik auszuscheiden sind, darüber werden wir noch sprechen. Der Darstellungsgehalt, so wie er von uns bestimmt wurde, schließt unterschiedliche Elemente ein. Damit hängen die vorhin angedeuteten Unterscheidungen zwischen vollständiger und unvollständiger, adäquater und inadäquater Darstellung zusammen. Wir beschränken uns hier auf die Unterscheidung verschiedener Elemente des Darstellungsgehalts, so wie sie in dem Fall auftreten, wo die Aktualisierung des Darstellungsgehalts eine unvollständige und zum Teil inadäquate Darstellung des Gegenstandes zustande bringt. Gehen wir von einem schon früher angeführten Beispiel aus. Ich vollziehe einen Akt der Wahrnehmung eines Tisches. Die Meinung des Aktes ist auf den "Gegenstand selbst", in diesem Fall auf den Tisch gerichtet. Damit wird ein Darstellungsgehalt aktualisiert, der in sich selbst nicht das ist, worauf sich die Meinung des Aktes richtet.40 Wir werden uns jedoch gewöhnlich weder •3Q

Das Problem des Unterschieds zwischen anschaulichen Inhalten, die bei der Darstellung eines Gegenstandes in der Wahrnehmung auftreten, und anschaulichen Inhalten, die als begleitendes Element beim Denken an den Gegenstand oder beim Vorstellen des Gegenstandes auftreten, hat zuerst Hume berührt. Die beste Analyse dieses Unterschieds findet sich bei H. Conrad-Martius im zitierten Werk "Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt" [Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische

Forschung, 3 (1916), S.

366]. 40

[Dazu auf einem Beiblatt die Ergänzung: "Die Intention des Aktes richtet sich nämlich auf den Gegenstand 1. als ein und dasselbe Individuum, das in vielen verschiedenen Akten vermeint (bzw. dargestellt) wird, und 2. als etwas, was gegenüber dem Erkenntniserlebnis transzendent und im Verhältnis zum Akt seinsautonom ist."]

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des Darstellungsgehalts noch des Unterschieds zwischen ihm und dem "Gegenstand selbst" inne. Um uns dessen inne zu werden, müssen wir den Wahrnehmungsakt in einer etwas modifizierten Weise vollziehen. Ich muß nämlich beim Vollziehen des Aktes gleichzeitig auf den Darstellungsgehalt "aufmerksam werden" und zugleich eine rezeptive Einstellung diesem gegenüber einnehmen, um mir der Einzelheiten seines Aufbaus - wie wir uns im täglichen Leben ausdrücken - "bewußt zu werden". Dies bringt verschiedene interessante Modifikationen im Aufbau des Aktes mit sich, die in der Noetik zu behandeln sind. Hier lassen wir sie beiseite. 41 Die erste Unterscheidung, die wir innerhalb des Darstellungsgehalts machen müssen und die mit der Gegenüberstellung von adäquater und inadäquater Darstellung engstens zusammenhängt, ist die Unterscheidung zwischen "erfüllten" und "unerfüllten" Qualitäten. Ich nehme den Tisch wahr, indem ich auf den Darstellungsgehalt aufmerksam werde. Der wahrgenommene Tisch besitzt nach der Meinung des Aktes eine mir zugewendete Seite wie auch eine von mir abgewendete Seite. Diese abgewendete Seite sehe ich nicht in der Weise, wie ich die mir zugewendete Seite sehe; dennoch nehme ich den Tisch als die beiden Seiten besitzenden wahr. Blicke ich auf den Darstellungsgehalt hin, um zu erkunden, wie dies geschieht, dann fällt der hier in Frage kommende Unterschied auf. Das nämlich, was in diesem Darstellungsgehalt der "Vorderseite" des Tisches entspricht, ist sowohl seiner Gestalt als seiner Farbe nach mit Qualitäten ausgefüllt. Den Akt vollziehend, sehe ich ζ. Β . eine braune Oberfläche mit der charakteristischen Holzstruktur, [eine Oberfläche], die in einer bestimmten Weise ausgedehnt ist. Dagegen tritt die "Rückseite" im Darstellungsgehalt nicht mit derartigen Qualitäten auf, ich sehe weder ihr Braun noch die charakteristische Holzstruktur, weil mir die Vorderseite des Gegenstandes bzw. die entsprechenden Elemente des Darstellungsgehalts die Qualitäten der Rückseite verdecken. Selbst wenn ich um den Gegenstand "herumgegangen" und an die alte Stelle zurückgekommen bin, d. h. wenn ich mir eine ganze Serie von ineinander kontinuierlich übergehenden Darstel-

Es ist klar, daß die Abgrenzung zwischen der Noetik und der Noematik nicht zur Gegenüberstellung von zwei unabhängigen Wissenschaften, sondern lediglich zur Scheidung von zwei Problemgruppen führt, die aber miteinander in mannigfachen Zusammenhängen stehen. Diese Abgrenzung soll nur ein Mittel dazu sein, in unserer Forschung eine gewisse Ordnung herzustellen.

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

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lungsgehalten aktualisiert habe, tritt die Rückseite, die mir eine gewisse Zeit lang (während sie nämlich nicht die "Rückseite", sondern die "Vorderseite" war) im Darstellungsgehalt mit erfüllten Qualitäten erschien, wieder nicht mit diesen Qualitäten auf, obwohl ich jetzt genauer und klarer weiß, welche Qualitäten diese Rückseite ausstatten. Deswegen ist manch ein Forscher, besonders unter den Assoziationspsychologen, geneigt zu behaupten, daß die "Rückseite" eines visuell wahrgenommenen Gegenstandes überhaupt nicht gegeben (dargestellt) sei, daß es also im Darstellungsgehalt keine entsprechenden Elemente gebe, die sie darstellen würden. Man pflegt zu sagen, daß wir uns die Rückseite "vorstellen" oder an sie "denken". Wir können aber auch noch so beharrlich denken, daß die Rückseite des Tisches nicht existiere, oder uns auch noch so lebhaft vorstellen, daß auf der anderen Seite sich ein graues Tuch finde, und dennoch werden wir dadurch weder im ersten Fall die Elemente aus dem Darstellungsgehalt beseitigen, welche die Rückseite darstellen, noch im zweiten Fall bewirken, daß im Darstellungsgehalt Elemente auftreten, die dieses graue Tuch zur Darstellung bringen. Das Denken ist hier immer ganz kraftlos; zwischen Elementen der anschaulichen Vorstellung und Elementen des Darstellungsgehaltes besteht aber ein radikaler Unterschied, der es nicht gestattet, daß sie sich zu einem einheitlichen Ganzen zusammenschließen. Bei unvoreingenommener Analyse muß man zugeben, daß die "Rückseite" eines gesehenen Gegenstandes für das Erkenntnissubjekt ebenso "in eigener Person" gegenwärtig ist wie die Vorderseite, nur daß sie im Darstellungsgehalt nicht mit erfüllten Qualitäten auftritt. Mehr noch, die Tatsache, daß die Vorderseite im Darstellungsgehalt gerade als Vorderseite auftritt, hängt engstens damit zusammen, daß auch die Rückseite mit zur Darstellung kommt, allein auf andere Weise. Diesen Unterschied haben wir im Auge, wenn wir von "erfüllten" und "unerfüllten" Qualitäten sprechen. Die Tatsache, daß das Erkenntnissubjekt erst durch die Aktualisierung einer ganzen Serie von Darstellungsgehalten, die zu einem selben Gegenstand gehören 42 , den Gegenstand so wahrnimmt, daß er eine bestimmte Rückseite besitzt, ändert gar nichts am Charakter oder an der Weise der Darstellung der Rückseite des Gegenstandes. Dies kann nur darauf [einen Einfluß] haben und übt ohne

Auf welche Weise eine Vielheit von Darstellungsgehalten ein und demselben Gegenstand "zugehört", darauf werden wir bald zurückkommen.

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Zweifel darauf einen Einfluß aus, welche Qualitäten im Darstellungsgehalt als unerfüllte auftreten. Nehmen wir an, ich nehme meinen Schreibtisch wahr; im Darstellungsgehalt tritt dann nicht nur das Element auf, das mir zur Darstellung bringt, daß der Schreibtisch überhaupt eine Rückseite besitzt, sondern auch Elemente, die mir die Rückseite [als] braun, hölzern usw. darstellen. Gehe ich um den Schreibtisch herum, dann kann ich aufgrund einer Darstellung seiner Rückseite mit erfüllten Qualitäten feststellen, daß ihre Farbe sich beträchtlich von der unterscheidet, die mir vorher in unerfüllter Weise dargestellt war. Kehre ich aber an den ursprünglichen Standpunkt zurück, dann bleibt die Tatsache der Aktualisierung einer mittelbaren Serie von Darstellungsgehalten nicht ohne Einfluß auf denjenigen Darstellungsgehalt, in dem nach der Rückkehr an den früheren Standpunkt die "Rückseite" dargestellt war; denn sie ist mir jetzt mit einer anderen Farbe als früher dargestellt. Der soeben angeführte Umstand belehrt uns nicht nur, daß zwischen "erfüllten" und "unerfüllten" Qualitäten im Darstellungsgehalt ein Unterschied besteht, sondern darüber hinaus, daß das Auftreten der ersteren Qualitäten im Darstellungsgehalt gleichsam eine größere Erkenntnisrelevanz hat als das Vorhandensein der letzteren. Denn dadurch, daß die ersteren Qualitäten in einem Darstellungsgehalt vorkommen, können die letzteren entweder aus anderen Darstellungsgehalten eliminiert werden oder auch sich in diesen finden. Wir werden darauf noch zurückkommen. Um uns klar zu machen, wodurch die erfüllten Qualitäten "ausgefüllt" sind, fassen wir eine andere Unterscheidung ins Auge. Wir haben vor uns eine rote, einheitlich gefärbte Billardkugel, wir sehen sie als solche. Wollten wir sie aber so malen, daß sie uns als solche erscheint, dann müßten wir - wie man aus der malerischen Praxis weiß - zu diesem Zweck eine ganze Reihe von roten Farben verschiedener Abschattungen verwenden. Oder anders gesagt: Im Darstellungsgehalt tritt eine erfüllte Qualität auf: das einheitliche Rot. Wenn wir aber dieses Element des Gehaltes näher betrachten, bemerken wir, daß sich diese erfüllte Qualität auf der Grundlage einer ganzen Menge von in besonderer Weise nebeneinander verlegten und ineinander übergehenden "Farbflecken" 43 verschiedener Rotnuancen aufbaut. Die erfüllte Qualität ist

Selbstverständlich ist der "Farbfleck" ein nicht ganz passender Ausdruck und darf nicht in dem Sinne verstanden werden, in dem wir z.B. sagen, daß ein Kleid einen "Fleck" hat.

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

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eine, und sie "baut sich", wie gesagt, auf den mannigfachen Farbflecken "auf'. Wären diese Farbflecke nicht da, dann wäre die einheitliche rote Färbung keine erfüllte Qualität; wären diese Farbflecke anders beschaffen oder* anders verlegt oder würden sie in einer anderen Weise ineinander übergehen, dann wäre auch die Färbung anders. Das wissen die Maler, wenn sie künstlich einen Darstellungsgehalt rekonstruieren. Aber auch umgekehrt: Einhergehend damit, daß wir hier im Darstellungsgehalt die erfüllte Qualität "einheitliches Rot" haben, die mit anderen erfüllten Qualitäten wie "kugelförmige Oberfläche", "glatt", "aus Elfenbein" usw. eng verknüpft ist, nehmen diese Farbflecke eine Modifikation an, die sie nicht erfahren würden, wenn sie nicht zur Erfüllung dieser Qualität dienten. Manche von ihnen nämlich, die, für sich selbst betrachtet, als dunklere Rotnuancen bezeichnet werden müßten, nunmehr dem Darstellungsgehalt zugrunde liegend, zerspalten sich gleichsam: Sie stellen uns einerseits die "erfüllte Qualität" jener einheitlichen Farbe dar und andererseits einen "Schatten", der "auf dem Gegenstand liegt". Wenn die erfüllte Qualität eine gegenständliche

Qualität ist (wodurch erfüllt,

darüber werden wir gleich sprechen), dann macht sie eine Darstellung eines Merkmals des dargestellten Gegenstandes aus; diese Farbflecke, auf denen die erstere [Qualität] sich aufbaut, sind [hingegen] keine gegenständlichen Qualitäten mehr. Wenn wir sie allein für sich betrachten, ohne das, was sie darstellen, und ihre Darstellungsfunktion sowie eine Reihe von formalen Momenten, von denen wir gleich sprechen werden, mit in Betracht zu ziehen, werden wir sie "Empfindungsdaten" nennen. Diese bilden auch eine der Arten der "anschaulichen Inhalte", die wir oben erwähnt haben. Bei den unerfüllten Qualitäten liegt zunächst der Gedanke nahe, sie bauten sich überhaupt nicht auf "Empfindungsdaten" auf, sondern seien eben deswegen als "unerfüllt" zu bezeichnen, weil es keine Empfindungsdaten gebe, die sie "ausfüllen". Diese Ansicht trifft jedoch nur zum Teil zu. Man kann nämlich nicht sagen, daß es gar keine Empfindungsdaten gebe, die sozusagen zum Aufbau einer unerfüllten Qualität dienen. Solche Empfindungsdaten sind vorhanden, nur bauen sie die unerfüllten Qualitäten nicht direkt, unmittelbar auf, sondern nur mittelbar, dadurch, daß sich auf ihnen zunächst gewisse erfüllte Qualitäten und mit diesen (und bis zu einem gewissen Grade auf diesen) auch die unerfüllten Qualitäten aufbauen. Ein Beispiel: Im Darstellungsgehalt haben wir zuerst die erfüllten Qualitäten, die die Vorderseite der

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Kugel und ihre Eigenschaften zur Darstellung bringen; außerdem haben wir unerfüllte Qualitäten, die die Rückseite der Kugel darstellen: die halbkugelförmige Gewölbtheit der uns abgewandten Oberfläche, die mit Rot bedeckt und glatt ist, und zwar von einer Glätte, die das polierte Elfenbein kennzeichnet. Die letzteren Qualitäten treten im Darstellungsgehalt nur deswegen auf, weil zugleich gewisse Einzelheiten der erfüllten Qualitäten auftreten. Eine [wichtige] Rolle spielt hier vor allem die erfüllte Qualität "einheitliches Rot". Sie hängt eng zusammen mit der Verteilung der Schatten und der (kreisförmigen) Begrenzung des Feldes, auf dem sie sich erstreckt, was eine erfüllte Qualität, die Kugelförmigkeit der Vorderseite mit sich bringt; außerdem kommen hier gewisse Einzelheiten des Aufbaus der gefärbten Oberfläche mit ins Spiel, die zur Darstellung eines materiellen Gegenstandes (und zwar gerade "aus Elfenbein") beitragen. Das einheitliche Rot mitsamt der halbkugelförmigen Gestalt der Vorderseite sowie der Auftretensweise der Farbe an den Rändern des von uns gesehenen Kreises tragen zur Darstellung der Rückseite der Kugel bei, nämlich dazu, daß im Darstellungsgehalt die oben genannten unerfüllten Qualitäten auftreten. Man kann auch sagen, daß die letzteren Qualitäten keine eigenen Empfindungsdaten besitzen, auf denen sie sich aufbauen und durch welche sie sich ausfüllen. Sie bauen sich auf gewissen Einzelzügen der erfüllten Qualitäten auf bzw. entleihen gleichsam die Empfindungsdaten, die primär die erfüllten Qualitäten aufbauen. Was für die Darstellungselemente der "Rückseite" des Gegenstandes gilt, läßt sich auch von anderen unerfüllten Qualitäten behaupten, ζ. B. den Qualitäten, die uns das "Innere" des Gegenstandes darstellen. Wenn ich ζ. B. eine Billardkugel wahrnehme, ist sie mir als eine solche gegeben, die nicht nur [überhaupt] ein Inneres, sondern sogar ein mit einer bestimmten Materie ausgefülltes Inneres besitzt. Es braucht natürlich nicht immer so zu sein. Das heißt: Nicht jede Wahrnehmung gibt mir einen Gegenstand mit einem eindeutig bestimmten Inneren. Es kann aber so sein. Wenn ich jedoch einen Gegenstand vom Typus der materiellen Gegenstände wahrnehme, dann ist mir immer ein Gegenstand gegeben, der ein Inneres besitzt, das mir als so oder anders bestimmt oder auch als mir unbekannt gegeben ist. Und man muß wieder betonen, daß das Innere des Gegenstandes mir gegeben ist. Damit hängt zusammen, daß die dem Gegenstand zukommenden Farben die Farben einer Oberfläche sind. Daß das Innere, gerade als Inneres, zu dem ich "direkt" kei-

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nen Zugang habe, mir dennoch "in eigener Person" gegeben ist, im strengen Sinne des Wortes "dargestellt" und nicht nur gedacht oder vorgestellt wird, das kann man am leichtesten bemerken, indem man den Fall, wo ich z.B. einen Baum im Wald wahrnehme, mit dem vergleicht, was mir gegeben ist, wenn ich in den "reinen" Himmel schaue. Im letzteren Fall kann [allerdings] keine Rede davon sein, daß mir ein "Inneres" gegeben sei; aber auch der von mir wahrgenommene Himmel ist kein materieller Gegenstand und die Farbe des Himmels keine Oberflächenfarbe. 44 Es sei bemerkt, daß neben erfüllten und unerfüllten Qualitäten, die in Darstellungsgehalten auftreten, noch bis zu einem gewissen Grad unerfüllte Qualitäten zu unterscheiden sind. Wenn ich z.B. vor mir ein rauhes grünes Löschblatt oder glatten Samt oder die weichen, seidigen Haare einer Frau sehe, dann habe ich Beispiele von Merkmalen, denen im Darstellungsgehalt nur bis zu einem gewissen Grad unerfüllte Qualitäten entsprechen. Die genannten Merkmale stellen sich mit erfüllten Qualitäten dar, wenn ich die aufgezählten Gegenstände betaste. Ich kann sie aber auch sehen, und sie werden mir im Sehen dargestellt, und zwar in einer anderen Weise als die Farbe des Gegenstandes, aber auch anders als die "Rückseite" oder das "Innere" desselben. Es gibt auch verschiedene Stufen der Erfüllung der im Darstellungsgehalt auftretenden Qualitäten. Auf einer ganz anderen Ebene als die soeben skizzierte Unterscheidung der Darstellungstypen einzelner Elemente von Darstellungsgehalten liegt die Unterscheidung zwischen formalen und materiellen (oder besser: qualitativen) Elementen. Wenn ich ζ. B. einen braunen Tisch wahrnehme, dann ist mir das Braun des Tisches gegeben als sein Merkmal, der Tisch selbst aber als "Gegenstand", und das heißt hier: als Subjekt von Merkmalen. Außerdem ist mir der Gegenstand als eine in sich abgeschlossene Seinssphäre gegeben, in welcher der Gegenstand sich befindet, bei sich "zu Hause" 45 ist; außerhalb dieser Seinssphäre ist er selber nicht da, sondern es finden sich dort höchstens

44

Zum Unterschied zwischen Oberflächenfarben und Flächenfarben vgl. D. Katz, Die Erscheinungsweisen

der Farben und ihre Beeinflussung durch die individuelle

Erfahrung,

Leipzig 1911 (Zeitschrift f. Psychologie und Physiologie d. Sinnesorgane, Erg. Bd.7). 45

Ein Ausdruck H. Conrad-Martius', "Realontologie", Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, 6 [(1923), S. 157-333, Vgl. S. 180, 181], Conrad-Martius sieht dieses Moment als kennzeichnend für die realen Gegenstände an.

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Auswirkungen seines Seins bzw. seiner Zustände (ζ. B. eine elektrische Lampe und das durch sie geworfene Licht oder das durch sie erzeugte magnetische Feld). Derartige formale Momente gibt es eine ganze Reihe. Sie stehen miteinander in engem Zusammenhang und bilden ein System, das wir die formale Struktur des realen Gegenstandes nennen können. Wir weisen darauf hin, um darauf aufmerksam zu machen, daß im Darstellungsgehalt entsprechende Elemente auftreten, welche die Form des dargestellten Gegenstandes darstellen, und daß sie von den Elementen des Darstellungsgehaltes zu unterscheiden sind, in denen die qualitative Ausstattung des Gegenstandes zur Darstellung kommt.46 Besonders wichtig für die Erkenntnistheorie ist der Umstand, daß zwischen Empfindungsdaten, formalen Momenten und erfüllten und unerfüllten Qualitäten mannigfache Abhängigkeiten bestehen und darüber hinaus eine gewisse Ordnung unter diesen Abhängigkeiten sich bemerkbar macht. Wir haben schon oben darauf hingewiesen, daß sich die erfüllten Qualitäten auf gewissen Empfindungsdaten "aufbauen". Wir hatten hiermit eine der Abhängigkeiten im Auge, denen wir noch ein paar Bemerkungen widmen müssen. Der Darstellungsgehalt kann auf zweifache Weise betrachtet werden, die wir schon oben de facto verwendet haben, ohne auf ihre Verschiedenheit

[Dazu auf einem Beiblatt die Ergänzung: "Selbstverständlich muß die deutliche Gegenüberstellung ersterer und letzterer Momente wie auch die Gegenüberstellung einzelner die Form darstellender Momente Hand in Hand gehen mit der Herausarbeitung der formalen Struktur des Gegenstandes selbst und ihrer einzelnen Momente. Die oben angeführten Termini (z.B. 'Merkmal') sind zunächst nur Worte, denen ein klarer und deutlicher Bedeutungsinhalt zuzuweisen ist. Mehr noch: Obwohl jeder Philosoph diese Termini mehrfach verwendet, so ist doch bisher nicht ausgemacht, was das 'Merkmal' bzw. der 'Gegenstand' ist. Wir finden hier entweder gar kein Verständnis dafür, daB hier ein sehr schwieriges Problem liegt, oder auch eine Reihe von einander widersprechenden und nicht gebührend begründeten Ansichten (Merkmal = Element einer Klasse, Merkmal = das, was einen unselbständigen Teil des Gegenstands bildet, Merkmal = das, was dem Gegenstand inhäriert, Merkmal = das, was den Gegenstand 'bestimmt' usw.). Wären aber auch irgendwelche vereinbarten Ansichten darüber vorhanden, so könnte die Erkenntnistheorie sie nicht unkritisch annehmen, sondern sie müßte selbst entsprechende Untersuchungen durchführen; und diese gehören zur Analyse des Gegenstandssinnes unter dem formalen Gesichtspunkt. Das ist nicht der einzige Zusammenhang zwischen den beiden Teilgebieten der Epistemologie."]

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aufmerksam zu machen. Man kann ihn nämlich entweder als etwas sozusagen "Fertiges" oder als etwas sich erst Aufbauendes betrachten. Im ersten Fall kann ich zur Unterscheidung zwischen erfüllten und (in diesem oder jenem Grade) unerfüllten Qualitäten oder zwischen formalen und qualitativen Momenten gelangen. Auf diesem Weg kann ich aber nicht zu den sogenannten "Empfindungsdaten" kommen. Wenn ich nämlich eine "erfüllte Qualität" in Betracht ziehe, kann ich darin zwei Momente unterscheiden: ein formales Moment, also z.B. das Moment, das den Merkmal-Charakter darstellt und bewirkt, daß die gegebene Qualität im Darstellungsgehalt als "Merkmal des Gegenstandes" auftritt, und ein Moment der Qualität dieses Merkmals, also ζ. B. das "Braun". Dieses Moment des Brauns, das sich nur abstraktiv vom Merkmal-Charakter unterscheiden läßt, darf nicht mit den "Empfindungsdaten" gleichgesetzt werden. Erstens bildet das Moment des Brauns, wenn ich ζ. B. eine "braune Kugel" sehe, eine einheitliche Qualität, während die entsprechenden Empfindungsdaten ein ganzes Kontinuum verschiedener Qualitäten ausmachen. Zweitens kann, wenn ich während einer gewissen Zeit die braune Kugel wahrnehme, im Darstellungsgehalt [stets] dasselbe Moment "Braun als Merkmal der gegebenen Kugel" auftreten, während die mit diesem Moment zusammenhängenden Empfindungsdaten weitgehende Veränderungen erfahren können (ζ. B. bei einer Änderung der Beleuchtung). Obwohl das Element des Darstellungsgehalts "Braun der Kugel" sich auf den Empfindungsdaten - wie wir uns ausgedrückt haben - "aufbaut", so ist es doch von ihnen innerhalb gewisser Grenzen unabhängig, sie sind keine Teile, nicht einmal unselbständige 47 Teile von ihm. Deswegen mußten wir oben zwischen Darstellungsgehalt und "anschaulichen Inhalten" unterscheiden. Um also zu den Empfindungsdaten zu gelangen, reicht es nicht aus, den Wahrnehmungsakt mit spezieller Blickrichtung auf den Darstellungsgehalt zu vollziehen und in diesem Darstellungsgehalt das die Form des Merkmals darstellende Moment von dem die Qualität des Merkmals darstellenden zu unterscheiden. Es reicht im besonderen nicht aus, vom ersteren Moment "abzusehen", darauf nicht zu achten. Man muß darüber hinaus das Moment des "Merkmal-Seins" gleichsam entwerten, ihm die Macht der "Formung" entziehen. Zugleich muß

Zu selbständigen und unselbständigen Teilen vgl. Husserl, Logische Untersuchungen [Bd.] II [Teil 1 (Husserliana XIX/1), III. Untersuchung],

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man so vorgehen, daß diese Scheidung in "das Braun der Kugel" und "die daraufliegenden Schatten" nicht zustande kommt. Das ist nur möglich, wenn wir wiederum das formale Darstellungsmoment "entwerten", das den Schatten als etwas charakterisiert, was nicht ein Merkmal des Gegenstandes, sondern etwas ihm Fremdes, eine Folge der Umstände ist, unter denen der Gegenstand sich findet. Es ist klar, daß all dies nur gemacht werden kann, wenn man im ursprünglich vollzogenen Akt sinnlicher Wahrnehmung weitgehende Modifikationen einführt. Man kann nicht sagen, daß der Akt dadurch in dieser Situation gar nicht vollzogen werde; er wird jedoch so vollzogen, daß einzelne Momente seines Meinungsinhalts (und speziell das Intentionalitätsmoment der Meinung) "ihre Kraft verlieren". Der Akt "zielt" zwar nach wie vor mit seinem Inhalt auf den Gegenstand, aber in einer Weise, als wenn das Erkenntnissubjekt dies nicht "im Ernst", sondern nur gleichsam "beispielsweise", "probeweise" täte. 48 Damit muß aber - sofern die Empfindungsdaten erfaßt werden sollen - noch eine gesteigerte Aktivität der rezeptiven Aktmomente einhergehen, oder genauer, es muß die Klarheit und Deutlichkeit des Erlebens der "Empfindungsdaten" gesteigert werden. Diese Enkräftung des Intentionalitätsmomentes des Aktes, dieses "Nicht-im-Ernst-Vollziehen" desselben kann so weit gehen, daß die ganze aktive Aktseite gleichsam völlig in den Schatten zurücktritt. Wir können sogar rein empfindende Erlebnisse haben, man muß nur darauf achtgeben, nicht das zu machen, was die Psychologen gewöhnlich tun, wenn sie, von den "Empfindungen" sprechend, sie gleich als etwas "Subjektives" auffassen, d. h. die Akte mit einer Meinung vollziehen, die den "Empfindungsdaten" den Charakter eines Zustands des erlebenden Subjekts aufprägt - sofern ihre Behauptungen in diesem Fall überhaupt auf der Erfahrung beruhen und nicht eine bloße Spekulation sine fundamento in re sind. Denn ein derartiges Erleben der Empfindungsdaten, das mit der soeben angedeuteten Meinung einhergeht, ist, obwohl möglich, durchaus nicht notwendig. Es trägt auch ein gewisses Moment (der "Subjektivität") hinein, das in den Empfindungsdaten selbst nicht vorkommt. Dieses Erleben der Empfindungsdaten ist besonders dann nicht angebracht, wenn wir zu erforschen trachten, in welchem Verhältnis sie zum Darstellungsgehalt stehen und wel48

Vgl. dazu die Analysen, die ich in der Abhandlung "Uber die Gefahr ..." [Ingarden (1921a), auch in Ingarden (1994)] durchzuführen suchte. Man sieht hier, wie eng die Noetik mit der Noematik zusammenhängt.

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che Rolle sie beim Aufbau des letzteren spielen. Zu diesem Zweck ist es unerläßlich, den Wahrnehmungsakt so zu vollziehen, daß er immer noch, auch wenn in einem noch so hohen Grade "nicht im Ernst", vollzogen wird und daß gleichzeitig möglichst klar die Empfindungsdaten hervortreten. Natürlich kommt auch der Darstellungsgehalt selbst nur dadurch zum Bewußtsein, daß der Akt vonstatten geht, in dem das rezeptive Moment nicht nur vorhanden, sondern darüber hinaus gleichsam in gesteigerter Weise aktiv ist. Deswegen reicht auch eine Steigerung der Rezeptivität des Aktes, ein klareres Empfinden allein nicht dafür aus, daß die Empfindungsdaten vom Erkenntnissubjekt in ihrer originale Gestalt erfaßt werden. Es muß damit notwendig das "Entwerten" der im Darstellungsgehalt auftretenden formalen Momente einhergehen, von dem wir oben gesprochen haben. Wenn wir hier einerseits nur vom Darstellungsgehalt und andererseits gleich von den Empfindungsdaten sprechen, dann tun wir dies wohlgemerkt allein, um unsere Betrachtung zu vereinfachen. Denn "zwischen" dem Darstellungsgehalt und den Empfindungsdaten finden sich gleichsam noch vermittelnde Gebilde. Sie sind nicht mehr reine Empfindungsdaten, aber auch noch nicht die Darstellungselemente, die den wahrgenommenen Gegenstand und seine Eigenschaften darstellen. Da es sich zeigt, daß, von den Empfindungsdaten ausgehend, die weiteren Darstellungsgebilde sich gleichsam aufeinander aufbauen, kann man von einer ganzen Reihe von Darstellungsschichten sprechen, von denen die oberste der Darstellungsgehalt in dem von uns früher fixierten Sinne ausmacht. Um das, was wir hier meinen, besser zu verstehen, wird es vielleicht nützlich sein, wenn wir uns dem Darstellungsgehalt zuwenden und uns für einen Augenblick bei den unerfüllten Qualitäten aufhalten. Wie oben erwähnt, "bauen sich" diese Qualitäten auf erfüllten Qualitäten oder genauer: auf gewissen Einzelheiten der letzteren "auf'. Führen wir einen Wahrnehmungsakt aus, indem wir mit der Meinung direkt auf den Gegenstand zielen und den Akt ganz im Ernst vollziehen, dann weisen die mit unerfüllten Qualitäten dargestellten Merkmale des Gegenstandes genau den gleichen Seinscharakter auf wie der ganze Gegenstand, in diesem Fall also sind sie als gleichermaßen real vermeint. Treten wir aber in die Analyse des Darstellungsgehaltes ein, indem wir dabei unvermeidlich den Aufbau des Aktes modifizieren, dann zeigt sich, daß nicht alle Elemente des Darstellungsgehalts in gleichem Maße vom Gegenstand unabhängig sind. Dies gilt in erster

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Linie für die unerfüllten Qualitäten. So wie es früher möglich war, die formalen Momente zu "entwerten", so ist es auch möglich, die unerfüllten Qualitäten gleichsam außer Kraft zu setzen, wobei die erfüllten Qualitäten dennoch weiterhin unverändert bleiben. Konkret gesagt: Ich kann den Wahrnehmungsakt so vollziehen, daß der Darstellungsgehalt nicht mehr eine Darstellung eines Gegenstandes ist, der auch eine Rückseite besitzt. Das, was dann in der Darstellung auftritt, sind gleichsam - um einen Ausdruck H. Conrad-Martius' zu verwenden - nur "Kulissen"49, gleichsam die Vorderseite des Gegenstandes, aber sogar ohne diesen Charakter einer "Vorderseite". Im Darstellungsgebilde, dem wir hier begegnen, treten gleichsam nur erfüllte Qualitäten auf, und zwar mit allen Einzelheiten, die im Darstellungsgehalt zur Bildung der "erfüllten Qualität" beigetragen haben: "die Rückseite des Gegenstandes" oder "das Innere", diese Qualitäten selbst sind aber nicht vorhanden. Wir befinden uns hier schon in einer anderen Darstellungsschicht als dem Darstellungsgehalt, in einer Schicht, die gleichsam zwischen den Empfindungsdaten und dem Darstellungsgehalt liegt. Deswegen haben wir oben gesagt, daß die Empfindungsdaten nur eine der Arten von anschaulichen Inhalten sind. Natürlich muß der Übergang von der einen Darstellungsschicht zu der anderen gewisse Modifikationen im Aufbau der gleichzeitig vollzogenen Akte mit sich bringen, Modifikationen auf die wir mit einigen Worten hinzuweisen versucht haben. Es stellt sich dabei heraus, daß der Darstellungsgehalt, der uns im ersten Augenblick als etwas in sich ganz Fertiges erschien, was nur im Bewußtseinsfeld des Erkenntnissubjektes ohne jedwedes Zutun desselben auftritt, vielmehr etwas ist, was weitgehend davon abhängt, wie beschaffen und wie aufgebaut der Akt ist, der im gegebenen Augenblick vom Erkenntnissubjekt vollzogen wird, und zwar sowohl seinem Meinungsinhalt nach als seinen rezeptiven Momenten nach. Diese Tatsache beschwört natürlich sehr wichtige erkenntnistheoretische Probleme herauf, insbesondere aber liefert sie viel Material für die Erkenntniskritik. Deswegen ist es sehr wichtig, alle einzelnen Darstellungsschichten wie auch die Abhängigkeiten zwischen ihnen wie schließlich die Rolle des Aktes und des Subjekts der Erkenntnis bei

[Vgl. H. Conrad-Martius, "Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt", Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische

Forschung,

3 (1916).]

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Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

der Aktualisierung dieser oder jener Schicht, zuletzt also auch [der Schicht] des Darstellungsgehaltes, gebührend herauszuarbeiten. Die soeben durchgeführten Betrachtungen hatten zum Ziel, auf die Richtungen zu weisen, in die die Analyse des Darstellungsgehaltes gehen soll. Sie sollten andeuten, was wir unter anschaulichen Inhalten verstehen und in welchem Verhältnis sie zum Darstellungsgehalt stehen, und uns einige Begriffe liefern, die uns bei der Skizzierung der Hauptgruppen von Problemen der Noematik, wozu wir nun übergehen, nützlich sein werden. 1. Der Zweck der statischen Analyse des Darstellungsgehaltes ist, diesen Gehalt auf die Merkmale hin zu beschreiben, die ihn vom "Erkenntnisgegenstand selbst" unterscheiden, und dann gewisse Abgrenzungen zwischen verschiedenen seiner Elemente durchzuführen. 50 Es ist klar, daß man Darstellungsgehalte aller möglichen Typen analysieren soll, und zwar sowohl im Blick auf verschiedene Gegenstandstypen, die in ihnen zur Darstellung kommen (ζ. B. reale Gegenstände der Außenwelt, Gegenstände und Zustände der psychischen Welt, Gegenstände der mathematischen Forschung usw.) als auch im Blick auf verschiedene Typen der Darstellungsgehalte, in welchen Gegenstände ein und desselben Typus zur Darstellung gelangen. So haben wir ζ. B. weiter oben einige Unterscheidungen umrissen, die innerhalb des "visuellen Darstellungsgehalts" durchzuführen sind, wie er beim Vollzug eines Aktes sinnlicher Wahrnehmung aktualisiert wird. Ähnliche Analysen sollen bezüglich des "haptischen Darstellungsgehalts" 51 , des "akustischen Darstellungsgehalts" usw. angestellt werden. 52 2. Statisch nenne ich aber diese Analyse, weil sie - als Vorbereitung zu weiteren Untersuchungen - die Auffindung von Elementen des Darstellungs-

50

Dies haben wir schon zum Teil gemacht: ausgefüllte und unausgefiillte Qualitäten usw.

5

Viel Interessantes dazu kann man in der Arbeit D. Katz' Der Aufbau der

'

Tastenwelt,

[Leipzig 1924], (Zeitschrift für Psychologie [und Physiologie der Sinnesorgane], Ergänzungsband [11]) finden. Es ist aber zu bemerken, daß Katz die einzelnen Darstellungsschichten noch nicht unterscheidet und insofern mehrfach ganz verschiedene Dinge miteinander verwechselt. Dennoch ist dieses Werk dadurch schätzenswert, daß es eine Reihe von treffenden Beschreibungen liefert. [Dazu auf einem Beiblatt die Ergänzung: "Wenn es um Betrachtungen bezüglich des Problems der Erkenntnis eines bestimmten Gegenstands X geht, so ist natürlich festzulegen, welche Elemente - gegenständliche Qualitäten - in den Darstellungsgehalten auftreten müssen und gegebenenfalls tatsächlich auftreten (...)".]

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gehalts bezweckt, der gleichsam im bewegungslosen Zustand betrachtet wird, in dem er sich in einem Zeitmoment befindet 53 , und ohne Berücksichtigung der Abhängigkeiten, die zwischen ihm und dem gleichzeitig vollzogenen Akt bestehen, sowie der Veränderungen, die in ihm infolge der sich in den Akten abspielenden Veränderungen vorgehen. Man darf jedoch nicht vergessen, daß der Darstellungsgehalt sowie verschiedene Schichten von anschaulichen Inhalten, auf denen der Darstellungsgehalt sich aufbaut, Korrelate von unterschiedlich beschaffenen Akten sind, daß ihre Dauer nicht momentan ist, sondern sich in der Zeit ausbreitet. Deswegen ist es nicht ausgeschlossen, daß die Aufeinanderfolge von diesen oder jenen Darstellungsgehalten für die später aktualisierten Gehalte große Bedeutung hat. So haben wir ζ. B. schon weiter oben bemerkt, daß die "unerfüllte Qualität", die die Rückseite eines Gegenstandes darstellt, im Darstellungsgehalt auftritt als ebenso in der Hinsicht bestimmt, welche Qualitäten auf jener Rückseite vorkommen, sofern ihrer Aktualisierung die Aktualisierung eines anderen Darstellungsgehaltes vorangegangen ist, in dem jene Rückseite die Vorderseite war und in erfüllten Qualitäten dargestellt wurde. Derartige Abhängigkeiten kann es sehr viele geben. Daher muß nach der Durchführung der statischen Analyse auch noch eine dynamische Analyse durchgeführt werden, welche die im Darstellungsgehalt in der Aufeinanderfolge seiner Aktualisierungsphasen stattfindenden Veränderungen und die dabei zu ermittelnden Abhängigkeiten zu verfolgen hat. 54 3. Eng hängt damit zusammen die Auffindung der Zusammenhänge zwischen verschiedenen Darstellungsgehalten, besonders aber die Klärung der Frage, in welcher Weise verschiedene Gehalte ein und demselben Erkenntnisgegenstand zugehören und nicht nur die Darstellung seiner verschiedenen Seiten möglich machen, sondern auch diejenige seiner verschiedenartigen Eigenschaften, mithin der "visuellen", der "haptischen" usw. Die Verfolgung dieser Zusammenhänge wird uns zur Festlegung ganzer Mannigfaltigkeiten «-2 Streng genommen ist dies nur eine bequeme façon de parier, weil wir zunächst nicht wissen, ob die BewuBtseinsakte wie auch die anschaulichen Inhalte und der Darstellungsgehalt überhaupt in der Zeit sind. 54

Husserl hat diese Probleme im Auge, wenn er von den "kontinuierlichen Synthesen zwischen den Noemen" [vgl. E. Husserl, Ideen I, S. 246 (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 247)] spricht.

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

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der den Gegenstand darstellenden Darstellungsgehalte und zur Ermittlung der in ihnen obwaltenden Gesetzlichkeiten führen. Das System von solchen Mannigfaltigkeiten ist gleichsam das erkenntnismäßige Korrelat des Erkenntnisgegenstandes. Es ist zu bemerken, daß außer den Fällen, in denen eine Vielheit von Darstellungsgehalten eine zusammenhängende Mannigfaltigkeit bildet, noch die Fälle zu berücksichtigen sind, in denen zwei oder mehr Gehalte miteinander nicht zusammenhängen, sondern einander widersprechen, [in denen] der eine Gehalt gleichsam den anderen verdrängt und dessen Bedeutung bei der Darstellung ein und desselben Gegenstandes in Frage stellt. Derartige Verhältnisse zwischen Gehalten bringen das hervor, was man gewöhnlich "Täuschung" nennt. Diese Fälle zu verfolgen, ist besonders für die Betrachtungen der Erkenntniskritik wichtig. 4. Nach der Durchführung der obigen Analysen muß man dazu übergehen, die einzelnen Darstellungsschichten und ihre Zusammenhänge zu verfolgen. Was die letzteren anbelangt, so treten sogenannte funktionale Probleme 55 in den Vordergrund. Die Analyse der Zusammenhänge zwischen den Darstellungsschichten weist nämlich nach, daß in jeder einzelnen von ihnen wie auch in ihren Zusammenhängen eine gewisse Ordnung bewahrt werden muß, sollen im Darstellungsgehalt gerade die und die Elemente auftreten bzw. soll ein Gegenstand von einem bestimmten Typus und mit bestimmten Eigenschaften erscheinen. Dies trifft in erster Linie auf die Darstellung von realen, äußeren und inneren, Gegenständen zu; es ist aber nicht ausgeschlossen, daß wir auf eine ähnliche Situation bei der Darstellung von idealen Gegenständen stoßen werden. Oder anders gesagt: Die einzelnen Darstellungsschichten und ihre Elemente spielen verschiedene Rollen, erfüllen verschiedene Funktionen bei der Darstellung des Gegenstandes bzw. bei der Bildung des Darstellungsgehaltes. Bei den funktionalen Problemen handelt es sich gerade um die nähere Bestimmung dieser Funktionen. Die Frage, die wir uns hier vorlegen müssen, lautet: Welches müssen die einzelnen Elemente in den einzelnen Darstellungsschichten sein, in welcher Rolle müssen sie auftreten, und in welchen Grenzen können sie sich verändern, wenn im Darstellungsgehalt bzw. in der 55

Diesen Terminus haben wir von Husserl entlehnt, der diese Probleme in seinen Ideen I, [(Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann), § 86] erwähnt. Husserl hebt sie aber nicht deutlich genug von den konstitutiven Problemen ab, die wir noch behandeln werden.

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ganzen Mannigfaltigkeit der Gehalte, die ein und demselben Gegenstand zugehören, gerade die und die Elemente auftreten sollen, bzw. korrelativ, wenn in der Wahrnehmung ein soundso beschaffener Gegenstand gegeben sein soll. (Ähnliche Fragen muß man bezüglich anderer Typen der Gegenstandsdarstellung formulieren.) Die Lösung der funktionalen Probleme wird es uns mit anderen Worten erlauben, die notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Darstellung von soundso beschaffenen Gegenständen festzulegen, allerdings nur die Bedingungen, die innerhalb der anschaulichen Inhalte und des Darstellungsgehalts liegen. Damit soll betont werden, daß man, um alle notwendigen und hinreichenden Bedingungen für die Darstellung des Gegenstandes von einem bestimmten Typus und von bestimmten Eigenschaften aufzustellen, noch zur Noetik greifen und insbesondere die Zusammenhänge und Abhängigkeiten verfolgen muß, die zwischen dem Aufbau verschiedener Akte und den Darstellungsgehalten sowie den anschaulichen Inhalten bestehen. Damit wenden wir uns aber schon zur Gruppe der weiter oben 56 unter e) genannten Probleme. Die hier skizzierten Hauptgruppen noematischer Probleme schöpfen noch nicht alle Probleme von der Art aus, wie sie innerhalb der Erkenntnistheorie zu behandeln sind. Die übrigen Probleme aus diesem Bereich gehören schon zur Erkenntniskritik, wir werden also auf sie noch zurückkommen. Alle Untersuchungen aber, deren Richtlinien wir hier umrissen haben, sollen erst einmal unerläßliches Material für die kritischen Betrachtungen liefern. ad c) Die Analyse der Gegenstandssinne. Sie spielt in der Erkenntnistheorie eine zweifache Rolle, weil sie einerseits zur Festlegung dessen führt, worauf sich die Erkenntnisakte eigentlich beziehen, andererseits die Resultate einschließt, zu denen wir in der Erkenntnis gelangen. Daher tritt die Analyse der Gegenstandssinne in der Erkenntnistheorie zweimal auf: einmal in der Phänomenologie der Erkenntnis, das andere Mal in der Kritik derselben. In beiden Fällen erfordert sie eine andere Vorgehensweise. In der Phänomenologie der Erkenntnis haben wir bei der Analyse der Gegenstandssinne zur Aufgabe, durch Erforschung des Meinungsinhalts die grundlegenden Merkmale der vermeinten Gegenstände aufzufinden, ohne Rücksicht darauf, ob solche Gegenstände existieren oder nicht. In der Erkenntniskritik muß hinge-

56

Vgl. S. [485],

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

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gen - worauf wir noch zurückkommen werden - gleichsam eine Verifikation dieser zuvor festgelegten Gegenstandssinne erfolgen. Die erste Untersuchungsphase bereitet unentbehrliches Material für die zweite Phase vor. Dabei können ihre Resultate nur insofern vorausgesetzt werden, als es tatsächlich der Fall ist, daß die und die Gegenstandssinne durch die Erkenntnisakte bestimmt werden. Es muß dagegen - im Augenblick, wo man in die Erkenntniskritik eintritt - ganz offen bleiben, ob diese Gegenstandssinne derart sind, daß ihnen in der Wirklichkeit oder in der Sphäre des idealen Seins gerade so beschaffene Gegenstände entsprechen müssen, wie darauf die einzelnen Gegenstandssinne hinweisen. Anders ausgedrückt: In der ersten Untersuchungsphase haben wir es mit der quaestio facti der Verneinung gerade der und der Gegenstände zu tun; die quaestio iuris dagegen bleibt der Erkenntniskritik vorenthalten. Jede quaestio iuris erfordert jedoch die vorgängige Formulierung der quaestio facti. Was die Gruppen von Problemen betrifft, die sich in der ersten Untersuchungsphase erheben, so muß man zuerst unterscheiden zwischen Betrachtungen bezüglich der Form des Gegenstandes und Untersuchungen in bezug auf seine Materie.51 Unter der Form des Gegenstandes (das Wort "Gegenstand" soll hier in einem sehr weiten Sinne verstanden werden, in dem es dem Begriff "etwas" äquivalent ist) verstehe ich diesen Komplex seiner Momente, die im Gegenstand gleichsam übrigbleiben, wenn man von allen seinen Qualitäten absieht, und die gleichzeitig gegenüber diesen Qualitäten eine besondere Rolle erfüllen. Diese Rolle besteht darin, daß die einzelnen Qualitäten in eine gewisse Ordnung gefaßt sind, daß sie Glieder eines einheitlich aufgebauten Systems werden. Die Form des Gegenstandes bewirkt, daß er nicht ein zufälliges und chaotisches Konglomerat, sondern ein organisiertes Ganzes ist. Man soll sich natürlich nicht vorstellen, daß die formalen Momente etwas gegenüber den Qualitäten des Gegenstandes (seiner qualitativen Ausstattung) Unabhängiges und Selbständiges seien, was sich von diesen realiter abtrennen ließe oder zu diesen als eine äußerliche Zugabe hinzukommt. Die formalen Momente sind ohne Zweifel unselbständige Momente, nicht nur gegenüber S7

Es ist zu betonen, daß die Analyse der Gegenstandssinne mit der formalen Ontologie bzw. den materialen Ontotogien im Sinne Husserls nicht gleichgesetzt werden darf. Wir werden darauf noch zurückkommen, wenn wir uns dem Verhältnis der Erkenntnistheorie zu anderen philosophischen Wissenschaften zuwenden.

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dem ganzen Gegenstand, sondern ebenso gegenüber seinen einzelnen Qualitäten, die auch ihrerseits gegenüber den formalen Momenten unselbständig sind. Es gibt auch viele (näher zu bestimmende) gegenseitige Zusammenhänge zwischen formalen Momenten und Qualitäten des Gegenstandes. Die erste Aufgabe ist es, diejenigen formalen Momente herauszuarbeiten, die jeden Gegenstand (jedes etwas) charakterisieren. Es handelt sich hier um Momente der Art wie "Subjekt von Merkmalen", "Merkmal", "Natur des Gegenstandes", "Identität des Gegenstandes", "absolutes Merkmal", "relatives Merkmal" usw. Sodann sind die formalen Momente zu erforschen, die über verschiedene Typen von Gegenständen entscheiden, ζ. B. die Momente, die das "Ding" im Gegensatz zum "Sachverhalt" kennzeichnen, den letzteren im Gegensatz zum "Prozeß" oder "Vorgang" usw. Eine noch andere Art von Gegenstandstypen erhalten wir, wenn wir formale Momente wie "Individualität" und "Allgemeinheit" des Gegenstandes in Betracht ziehen. Eine noch andere, wenn wir die Momente der "Wirklichkeit", "Idealität", "Möglichkeit" usw. berücksichtigen. All diese Untersuchungen sind unter Absehung von den Qualitäten der Gegenstände durchzuführen. Mit diesen Analysen soll aber auch die Erforschung verschiedener Typen von Qualitäten einhergehen, die in den einzelnen Arten von Gegenständen auftreten. Denn zwischen formalen und materialen Momenten bestehen, wie angedeutet, mannigfache Zusammenhänge und Abhängigkeiten, und nicht jede Qualität kann in jeder beliebigen Form stehen. Die Verfolgung dieser Abhängigkeiten ist ein weiterer Schritt in den Analysen, die auf diesem Gebiet durchzuführen sind. Ebenso walten aber zwischen den Qualitäten der Gegenstände selbst verschiedenartige Abhängigkeiten und Gesetze ihres gemeinsamen Auftretens im Ganzen eines selben Gegenstandes, die in der uns jetzt interessierenden Untersuchungsserie auch zu beachten sind. Natürlich sind all dies sozusagen weitere Aufgaben. Zuvor sollen Analysen angestellt werden, die es zum Zweck haben, einfach festzulegen, was für formale und materiale Momente tatsächlich im gesamten Sinn der Gegenstände auftreten, die den einzelnen Typen von Erkenntnisakten entsprechen. Und der Weg dazu führt über die Analyse der Meinungsinhalte der Akte. Natürlich können wir hier nicht chaotisch einzelne Akte herausgreifen, sondern wir müssen die Akte auswählen, die für eine Erkenntnisart charakteristisch sind. Dabei sollen wir hier diese Akte statisch betrachten oder besser gesagt: in dem

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Moment ihres Vollzugs, in dem der Akt zur Kulmination kommt und sein Meinungsinhalt sozusagen "fertig" wird. Wir werden dagegen alle Momente des Aktes, die außer seinem Meinungsinhalt darin auftreten, wie auch die ganze dynamische Betrachtungsweise des Aktes außer acht lassen. Auf die Fragen, die mit der quaestio iuris des Gegenstandssinnes zusammenhängen, werden wir noch bei der Problematik der Erkenntniskritik eingehen. ad d) Die Analyse des Erkenntnissubjektes. Die hier in Betracht kommenden Probleme - die zu den schwierigsten Problemen in der so konzipierten Erkenntnistheorie gehören - spielen für die Erkenntniskritik keine so bedeutsame Rolle, zumal wenn die Unterscheidung zwischen dem Erkenntnissubjekt und dem psychophysischen Individuum schon durchgeführt worden ist. Daher wird es hier ausreichen, wenn wir uns auf die wichtigsten Fragen beschränken. Es gilt vor allem festzulegen, worin die Andersartigkeit des Erkenntnissubjektes in Abhebung von allen anderen Arten von Subjekten besteht - wie psychische Subjekte, das "Subjekt von Merkmalen" oder schließlich das Subjekt von diesen oder anderen Prozessen. Es fragt sich nämlich, ob sich das Erkenntnissubjekt als Erkenntnisakte vollziehendes Subjekt durch etwas Spezifisches auszeichnet oder nicht. Ein sehr wichtiges Problem ist ferner, in welcher Weise sich beim ständigen Wandel der Erkenntnisakte die Identität des Erkenntnissubjektes erhält. Denn die Gleichheit der subjektiven Form der Erkenntnisakte ist offenbar unzureichend. Andererseits können die Bedingungen der Identität des Erkenntnissubjektes nicht in irgendwelchen dauerhaften Eigenschaften, Dispositionen usw. außerhalb des Bewußtseins gesucht werden. Denn dann befänden wir uns in einer ganz ähnlichen Situation wie die, auf die wir beim psychophysischen Subjekt gestoßen sind, dessen Annahme sich in der Erkenntnistheorie als unzulässig herausgestellt hat. Indessen ist die Annahme des reinen Erkenntnissubjekts und seiner Identität unerläßlich. Denn nähmen wir z. B. an, daß das Erkenntnissubjekt mit jedem neuen Erkenntnisakt ein anderes wird, dann könnte weder vom Stattfinden eines Erkenntnisprozesses, der sich in einer Aktmannigfaltigkeit abspielt, noch von der Gewinnung einer "Erkenntnis" als eines Resultates des Stattfindens des Erkenntnisprozesses die Rede sein. Das ist vielleicht das schwierigste Problem, das der phänomenolo-

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gischen Erkenntnistheorie begegnet, und seine Lösung darf man natürlich nicht in irgendwelchen metaphysischen (im pejorativen Sinne des Wortes) Spekulationen suchen, sondern man muß unbedingt die Elemente innerhalb des Bewußtseins ausfindig machen, die für den Nachweis der Identität des Erkenntnissubjektes unentbehrlich sind. Diese Frage wird noch schwieriger, wenn wir beachten, daß der Bewußtseinstrom in seinem Verlauf gewisse Lücken, Unterbrechungen aufweist, innerhalb deren gar keine Bewußtseinserlebnisse anerkannt werden können. Es handelt sich hier um gewisse uns aus dem täglichen Leben bekannte Fälle wie "Bewußtlosigkeit", die durch eine Vergiftung des Organismus oder einen tiefen traumlosen Schlaf verursacht wird. Wir müssen aber diese Fälle natürlich ohne Rücksicht auf alle im Alltagsleben angenommenen Voraussetzungen bezüglich des psychophysischen Individuums und der sich im Organismus abspielenden physiologischen Prozesse betrachten und uns lediglich auf die Daten beschränken, die innerhalb des Bewußtseins selbst auf das Vorhandensein solcher "Unterbrechungen" hindeuten. Es handelt sich hier in erster Linie um Erlebnisse des "Einschlafens" oder "In-Bewußtlosigkeit-Sinkens", andererseits um Erlebnisse des "Erwachens", "Zum-Bewußtsein-Kommens". Ich möchte selbstverständlich nicht behaupten, daß diese Erlebnisse Erkenntniserlebnisse sind (obwohl dies nicht ausgeschlossen ist); auf jeden Fall müssen sie aber für die Lösung des epistemologischen Problems der Identität des Erkenntnissubjektes mit in Betracht gezogen werden. ad e) Die Analyse der Zusammenhänge und Abhängigkeiten

zwischen

dem Erkenntnisakt und dem Darstellungsgehalt. Ich habe schon früher bei der Besprechung der noematischen Probleme bemerkt, daß man das Gebiet der Noematik nicht ganz rein gegen das Gebiet der Noetik abgrenzen kann, weil wir mehrmals zur Beschreibung noematischer Situationen auf die gleichzeitig im Aufbau der Akte vorgehenden Veränderungen verweisen müssen, um es dem Leser zu ermöglichen, eine solche Erkenntniseinstellung einzunehmen bzw. einen so modifizierten Akt zu vollziehen, daß die von uns betrachteten noematischen Momente von ihm im ursprünglichen Erlebnis erschaut werden können. Diese Tatsache zeigt, daß zwischen Akten und Darstellungsgehalten (und natürlich anschaulichen Inhalten) offenbar eine sehr enge gegenseitige Zugehörigkeit besteht. All diese Zugehörigkeiten zu verfolgen, herauszufinden, welche Elemente des Aktes welchen Elementen des Darstellungsgehal-

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als deskriptive Phänomenologie

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tes in besonderer Weise zugehören (so daß das Auftreten der ersteren im vollzogenen Akt mit dem Erscheinen der letzteren in den aktualisierten Darstellungsgehalten "Hand in Hand geht"), ist die Aufgabe der statischen Betrachtungen in diesem Bereich. In den dynamischen Betrachtungen hingegen handelt es sich nicht um die Feststellung der schlechthinnigen gegenseitigen Zugehörigkeit, sondern um die Feststellung der Abhängigkeit des Erscheinens gewisser noematischer Momente vom Auftreten gewisser noetischer Momente und umgekehrt. Es geht dabei nicht nur um die Meinung der Akte und um ihre Elemente, sondern auch, ja manchmal in erster Linie, um die Vollzugsweise des Aktes, seine Passivität bzw. Aktivität. Wie wir schon oben gesehen haben, kann man den Darstellungsgehalt als etwas auffassen, was sich beim Vollzug einer Aktmannigfaltigkeit durch das Subjekt auf den anschaulichen Inhalten aufbaut. Man kann nun die Frage stellen, welchen Einfluß auf den Aufbau des Darstellungsgehaltes die Tatsache hat, daß das Erkenntnissubjekt Akte mit dieser oder jener rezeptiven Seite und diesen oder jenen Meinungen vollzogen hat. Speziell in bezug auf die unerfüllten Qualitäten des Darstellungsgehalts nimmt diese Frage eine besondere Bedeutsamkeit an. Denn es liegt die Möglichkeit vor, daß diese Qualitäten im Darstellungsgehalt nur deswegen auftreten, weil Akte mit einem entsprechenden Meinungsinhalt vollzogen worden sind. Genauer gesagt: Wir haben vorhin erwähnt, daß zwischen Darstellungsgehalten besondere Zusammenhänge bestehen, durch welche eine gewisse Mannigfaltigkeit von diesen Gehalten ein und demselben Gegenstand "zugehört". Es fällt auf, daß unter einzelnen Gliedern dieser Mannigfaltigkeit eine bestimmte Ordnung obwaltet, die daraufhinweist, daß manche von ihnen vom Erkenntnissubjekt früher und andere später aktualisiert wurden. Dabei sind diese früher aktualisierten Gehalte ärmer an unerfüllten Qualitäten als die später aktualisierten. Ihre Aktualisierung geht aber mit dem Vollziehen einer Mannigfaltigkeit von Akten zusammen, deren Inhalte eine der der Darstellungsgehalte analoge Anordnung verraten. Wenn wir also die passive (rezeptive) Seite der einzelnen Akte ins Auge fassen und sie mit den entsprechenden anschaulichen Inhalten zusammenstellen, die in diesen Akten empfunden worden sind, stellen wir fest, daß, wenn ζ. Β. im Akte A ein anschaulicher Inhalt empfunden wurde, in einem späteren Akte Β im unanschaulichen Inhalt des Aktes ein Element auftritt, das mit dem vorher empfundenen anschaulichen Inhalt in

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nahem Zusammenhang steht. Und korrelativ erscheint im entsprechenden Darstellungsgehalt sei es eine neue erfüllte Qualität, sei es eine unerfüllte Qualität. Auf diese Weise sehen wir uns in der dynamischen Betrachtung der Zusammenhänge zwischen den Akten und den Darstellungsgehalten (bzw. anschaulichen Inhalten) vor das Problem der Genese des Darstellungsgehaltes gestellt. Diese Genese hat jedoch mit der kausalen Genese, wie sie die Psychologie beschäftigt, nichts zu tun, weil es sich dabei nicht um eine Kausalbeziehung, sondern um ein spezielles, nur innerhalb des Bewußtseins auftretendes Verhältnis der Motivation handelt. Die Frage des früheren oder späteren Auftretens von einzelnen Akten bzw. Darstellungsgehalten ist hier ohne Bedeutung. Wesentlich ist nur, daß das Empfinden gewisser anschaulicher Inhalte das Motiv zum Vollzug des Aktes mit einem bestimmten Meinungsinhalt ausmacht. Denn nicht alles Frühere ist das Motiv für das Spätere. Wir begegnen hier einem ganz anderen Verhältnis zwischen Bewußtseinselementen, das für sie charakteristisch ist und nur ein gewisses Analogon in Verhältnissen zwischen logischen Gebilden wie etwa Urteilen findet. Das Motivationsverhältnis soll jedoch nicht mit dem Verhältnis von Grund und Folge gleichgesetzt werden. Denn die logischen Verhältnisse bestehen zwischen idealen Gebilden und sind wesensmäßig statisch, während das Motivationsverhältnis zwischen konkreten Erlebnissen besteht und ein dynamisches Verhältnis ist: Das Motiv zieht die Aktualisierung des Erlebnisses, das es motiviert, nach sich, verursacht es, obwohl es - wie ich angedeutet habe - mit der Kausalbeziehung nicht gleichzusetzen ist. Es ist einerseits etwas weniger, andererseits etwas mehr als diese. Etwas weniger, weil das motivierende Erlebnis nicht - wie die Ursache - ein Sachverhalt ist, der einen anderen Sachverhalt, die Wirkung verursacht, hervorbringt, sondern es ist ein Faktor, der ein anderes Erlebnis modifiziert, bestimmt, und zwar entweder hinsichtlich des Meinungsinhalts, wenn es sich um einen Akt handelt, oder hinsichtlich des Auftretens einzelner Elemente im Darstellungsgehalt. Es entsteht dabei die Frage, ob die Elemente eines Bewußtseinserlebnisses zueinander in einem Motivationsverhältnis stehen können, gleichgültig, welche Art von Elementen sie sind, oder ob sie eine gewisse Verwandtschaft bzw. sogar Homogenität aufweisen müssen; ob es z.B. so ist, daß immer nur Meinungsinhalte einzelner Akte oder auch entsprechend gewählte Elemente des Darstellungsinhalts in diesem Verhältnis zueinander stehen,

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oder ob es auch möglich ist, daß z.B. das Empfinden eines anschaulichen Inhalts das Motiv für den unanschaulichen Meinungsinhalt oder gewisse Einzelheiten der ersteren das Motiv für die im Akt auftretende Behauptungsfunktion abgeben können usw. Die eingehende Analyse von möglichen Fällen soll uns eine Antwort auf diese Frage geben. Wer dabei die Zusammenhänge zwischen Erkenntniserlebnissen auch noch ein bißchen kennengelernt hat, wird es für wahrscheinlicher halten, daß beide genannten Fälle möglich sind, d. h., daß sowohl Motivationszusammenhänge zwischen homogenen wie zwischen heterogenen Elementen bestehen können und daß man nur zu erforschen hat, ob in dieser Hinsicht irgendwelche Beschränkungen vorliegen oder nicht. Es ist z.B. zu erwarten, daß die Weise, wie ein Erkenntnisakt vom Erkenntnissubjekt erlebt oder genauer: vollzogen wird, das Motiv bilden kann für das Erscheinen gewisser unerfüllter (oder erfüllter) Qualitäten im Darstellungsgehalt, die dort nicht erscheinen würden, wenn der Akt anders vollzogen würde. Es handelt sich hier in erster Linie um verschiedene Typen der Aktivität beim Vollzug des Aktes. Es ist hier noch eines zu beachten. Die Erkenntnisakte sind nur einige der Bewußtseinserlebnisse, die innerhalb ein und desselben Bewußtseinsstromes erscheinen. Es treten hierin ζ. B. [auch] die Willensakte, Akte der produktiven Phantasie, Stimmungen, verschiedene Gefühlsakte (der Liebe, des Hasses), Akte des Vergebens, des Verurteilens usw. auf. Es ist nun sehr wahrscheinlich, daß die Motivationsverhältnisse nicht nur unter rein erkenntnismäßigen Erlebnissen, sondern auch zwischen diesen und jenen Erlebnissen oder Bewußtseinsakten bestehen können. Und es ist nicht ausgeschlossen, daß ζ. B. der Vollzug eines Erkenntnisaktes mit einem bestimmten Inhalt durch den Vollzug eines Willensaktes oder durch das Erleben einer besonderen Stimmung oder eines Aktes der produktiven Phantasie vom Erkenntnissubjekt motiviert werden kann und daß der betreffende Akt ohne diese Motivation einen anderen Meinungsinhalt hätte. Da vom Meinungsinhalt der vollzogenen Erkenntnisakte die im Erkenntnisprozeß gewonnenen Erkenntnisresultate abhängen, erweist es sich für den Erkenntnistheoretiker als unumgänglich, auch die zwischen nicht-erkenntnismäßigen und erkenntnismäßigen Bewußtseinserlebnissen bestehenden Motivationszusammenhänge in die Untersuchung miteinzubeziehen. Denn in diesen Zusammenhängen kann eine "Irrtumsquelle" für die unter diesen Bedingungen gewonnenen Resultate liegen. Bevor wir

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in die Erkenntniskritik eintreten, müssen wir uns eine Phänomenologie aller dieser Zusammenhänge verschaffen. Natürlich interessieren uns im Rahmen der in Rede stehenden Problemgruppe die zwischen den nicht-erkenntnismäßigen Bewußtseinserlebnissen und dem Aufbau des Darstellungsgehalts bestehenden Motivationszusammenhänge, während derartige Zusammenhänge zwischen den nicht-erkenntnismäßigen Erlebnissen und dem Aufbau der Akte innerhalb der Noetik zu verfolgen sind. Dies sind die wichtigsten Gruppen von Problemen, die sich vor der Phänomenologie der Erkenntnis eröffnen. Wie wir sehen, ist das ein umfangreiches Feld von Problemen, die bisher in der erkenntnistheoretischen Literatur kaum berührt wurden. Dies ist indessen nur eine Vorbereitung für den wichtigsten Teil der Epistemologie, die Erkenntniskritik. Ich möchte den hier entstehenden Problemen noch einige Bemerkungen widmen, bevor ich mich den Schwierigkeiten zuwende, die sich bei dieser Bestimmungsweise des Forschungsgebiets der Erkenntnistheorie einstellen. II. Die Probleme der Erkenntniskritik (quaestio iuris). Die Erkenntniskritik ist der Teil der Erkenntnistheorie, in dem sämtliche in der Phänomenologie der Erkenntnis gewonnenen Resultate verwertet werden sollen. Schon die Auswahl der Probleme allein, die wir oben in Umrissen dargelegt haben, wird durchgeführt, um Erfordernissen der Erkenntniskritik zu genügen. Kein Wunder also, daß wir uns den Problemen der letzteren erst zuwenden können, wenn die wichtigsten Fragen der Phänomenologie der Erkenntnis schon erledigt sind. Da dies bisher nicht geschehen ist, können wir im Augenblick nicht mehr tun als die zentralen Probleme der Erkenntniskritik skizzieren. Dabei kann die Formulierung dieser Fragen nur vorläufig sein, weil uns die weitere Entwicklung der Phänomenologie der Erkenntnis zu manchen Veränderungen hierin veranlassen kann. Auch diese vorläufige Skizzierung der Probleme wird aber nützlich sein, wenn es darauf ankommt, die wichtigsten Forschungswege vorzuzeichnen und die Bedingungen zu erwägen, die zu erfüllen sind, damit die Probleme der Erkenntniskritik erfolgreich gelöst werden können. Sofern wir auf Grund des heutigen Standes der Phänomenologie der Erkenntnis urteilen können, scheint es außer Frage zu stehen, daß es viele verschiedene Erkenntnistypen und viele Typen von Erkenntnisgegenständen gibt. Um den Gang unserer Untersuchungen nicht übermäßig zu komplizieren,

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

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beschränke ich mich hier darauf, die Probleme der Erkenntniskritik nur vor dem Hintergrund einer Erkenntnisart, nämlich der sinnlichen Wahrnehmung zu skizzieren. Allerdings werden uns hier gewisse spezifische Probleme begegnen, auf die wir bei anderen Erkenntnisarten nicht stoßen werden, doch ein gewisses Betrachtungsschema dürfte derart sein, daß es sich auch bei den anderen Erkenntnisarten anwenden läßt. Die im vorigen Paragraphen durchgeführten Betrachtungen haben uns zur Überzeugung geführt, daß das, worüber wir in der Erkenntnistheorie verfügen, nur einerseits der Erkenntnisakt und andererseits der Gegenstandssinn und der Darstellungsgehalt neben mannigfaltigen anschaulichen Inhalten sind. Dagegen bleibt der "Gegenstand selbst" außerhalb des der Erkenntnistheorie zugänglichen Gebietes. Dies wirkt sich in erster Linie auf die Problematik der Erkenntnistheorie aus. Wie wir uns aus den Erwägungen erinnern, die wir bei der Beurteilung der Richtigkeit der psychophysiologischen Auffassung der Erkenntnistheorie durchgeführt haben, war dort mehrfach von der "Übereinstimmung zwischen dem Erkennen und seinem Gegenstand" die Rede als von dem, was die transzendent wahre Erkenntnis vom Irrtum unterscheiden soll. Im vorigen Paragraphen sind wir zur Überzeugung gekommen, daß die Feststellung dieser Übereinstimmung nicht durch das Vergleichen der Merkmale des Gegenstandes mit dem Inhalt des Erkenntnisaktes (bzw. dem entsprechenden Gegenstandssinn) erfolgen kann. 58 Ich habe dann die Vermutung ausgedrückt, daß sich der Meinungsinhalt des Aktes an die Elemente des Darstellungsgehaltes und an die zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge anpaßt und daß sich daher der Schwerpunkt der epistemologischen Untersuchungen nach der Herausarbeitung der Gegenstandssinne auf die Analyse des Darstellungsgehaltes verschieben wird. Je nachdem, welche Elemente in diesem auftreten und wie sie dargestellt werden, muß man den (statisch betrachteten) Meinungsinhalt des Aktes als transzendent wahr bzw. den entsprechenden Gegenstandssinn als Sinn vom "Gegenstand selbst" anerkennen und auf diesem Weg zu einer Lösung des Problems der Objektivität der untersuchten Erkenntnis gelangen. Die Bemerkungen aber, die wir bei der Skizzierung der Problematik der Noematik und insbesondere bei der dynamischen Analyse des Darstellungsgehaltes und der Zusammenhänge zwischen ihm

58

Vgl. S. 477.

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Fortsetzungsteil der 1. Redaktion (1926)

und den betreffenden Akten gemacht haben, veranlassen uns, den Weg ein bißchen anders zu bestimmen, auf dem die Objektivitätsprobleme gelöst werden sollen. Denn es zeigt sich, daß die Behauptung, der Meinungsinhalt eines Erkenntnisaktes "passe sich" an die Elemente des Darstellungsgehaltes "an", nicht ganz genau, wenngleich auch nicht völlig falsch ist. Zweifelsohne paßt sich der Meinungsinhalt manchmal an den Darstellungsgehalt an, aber nicht immer und nicht nur an diesen. Unter Hinweis auf die anschaulichen Inhalte und ihr Verhältnis zum Darstellungsgehalt einerseits und zur rezeptiven Seite des Erkenntnisaktes andererseits sind vor uns zwei Möglichkeiten aufgetaucht, die uns veranlassen werden, einen jedesmal ein bißchen anderen Weg zur Lösung des Objektivitätsproblems einzuschlagen. Die erste ist die, daß sich der Erkenntnisakt vermöge seiner rezeptiven Seite (des "Empfindens") seinem Inhalt nach an die anschaulichen Inhalte anpaßt. Die zweite Möglichkeit ist, daß sich der Darstellungsgehalt mit seinen Elementen an den Meinungsinhalt des Aktes anpaßt. Der Darstellungsgehalt ist nicht etwas sozusagen sofort Fertiges und seinem Aufbau nach ganz davon Unabhängiges, mit welchem Erkenntnisakt er verknüpft ist bzw. nach dem Vollzug welcher Erkenntnisakte er aktualisiert wurde. Er ist vielmehr etwas, was im Vollzug der zu ein und demselben Gegenstand gehörenden Akte sich zu allererst aufbaut, entsteht, was das Erzeugnis eines Erkenntnisprozesses ist. Das gleiche gilt auch für den Sinn des Gegenstandes. Man kann also nicht unkritisch den Darstellungsgehalt als Maßstab für die Beurteilung der Objektivität der Erkenntnis verwenden. Denn er könnte diese Rolle nur erfüllen, wenn es außer Zweifel stünde, daß im Laufe des Sichaufbauens des Darstellungsgehalts in diesem keine Elemente erschienen sind, die durch die Anpassung des Gegenstandssinnes an sie zur Folge hätten, daß dieser Sinn oder wenigstens manche seiner Elemente nicht rechtmäßig (begründet) wären oder, anders gesagt, Elemente, welche die transzendente Falschheit des betreffenden Erkenntnisresultates nach sich zögen. Dieser Sachverhalt kompliziert enorm die Untersuchungen der Erkenntniskritik. Denn wir scheinen dadurch eines hinreichenden Instruments zur Lösung der Objektivitätsprobleme, nämlich eines zuverlässigen Maßstabs beraubt zu sein. Auf jeden Fall hat der Darstellungsgehalt, für sich allein genommen, aufgehört, ein solcher Maßstab zu sein. Es gilt also, einen anderen Weg zur Lösung der vor uns stehenden Probleme zu suchen. Das besagt

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

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aber nicht, daß der Darstellungsgehalt völlig seine Bedeutung bei der Lösung dieser Probleme verloren hat. Es besagt nur, daß wir eine Art und Weise finden müssen, in ihm die Momente zu unterscheiden, die, wenn sie auch in ihm auftreten, dennoch nicht nur bei der Anpassung des Gegenstandssinnes an

sie

die

transzendente

Wahrheit

des

Erkenntnisresultates

nicht

gewährleisten, sondern sogar dessen Falschheit nach sich ziehen, und sie den Elementen dieses Gehalts entgegenzustellen, welche die transzendente Wahrheit gewährleisten, sofern solche überhaupt vorhanden sind. Wir müssen ein entsprechendes Kriterium finden, das es uns erlaubt, dieses Ziel zu erreichen. Um dieses Kriterium aufzufinden, überlegen wir vor allem, aus welchem Grund gewisse Elemente des Darstellungsgehalts, der das Erzeugnis eines sich in mehreren Akten vollziehenden Erkenntnisprozesses ist, dadurch daß sich die Elemente des Meinungsinhalts bzw. das entsprechende Erkenntnisresultat an sie anpassen, zur transzendenten Falschheit des betreffenden Erkenntnisresultates führen könnten. Die Gründe dafür können unterschiedlich sein. Sie können erstens in einem hohen Grad an der Inadäquatheit der Darstellung des gesamten Gegenstands oder seiner einzelnen Merkmale liegen. Zweitens kann es geschehen, daß im Darstellungsgehalt Elemente vorkommen, die den Gegenstand nur scheinbar darstellen, d. h., daß einige Elemente des anschaulich gegebenen Gegenstandes im Darstellungsgehalt gleichsam sub specie der Darstellung auftreten, in Wirklichkeit jedoch keine Darstellung stattfindet. Denn wenn im Darstellungsgehalt nur die den Gegenstand und dessen Eigenschaften adäquat darstellenden Elemente aufträten, dann könnte - sogar bei einer unvollständigen Darstellung des Gegenstandes - keine Rede davon sein, daß die Anpassung des Gegenstandssinnes an den Darstellungsgehalt die transzendente Falschheit des Erkenntnisresultates nach sich ziehen könnte. Die ganze Schwierigkeit liegt somit darin, zu zeigen, welcher Grad an Inadäquatheit der Darstellung diese negative Folge nach sich ziehen kann, bzw. zu beurteilen, wann ein Element der bloß scheinbaren Darstellung, das im Darstellungsgehalt auftritt, zu derselben Folge führt. Denn der Umstand allein, daß ein Merkmal des Gegenstandes im gegebenen Darstellungsgehalt nicht adäquat dargestellt wird oder nur sub specie der Darstellung auftritt, scheint noch nicht hinreichend dafür zu sein, daß es notwendigerweise zu einer transzendenten Falschheit führt. Es ist aber möglich, daß

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hierin die Quelle dieser Falschheit liegt, man muß somit entscheiden können, wann dies wirklich der Fall ist. Damit hängt aber noch eine andere Schwierigkeit zusammen. Wir haben oben die adäquate Darstellung der inadäquaten entgegengestellt. Es fragt sich, woran man erkennen kann, daß wir es im gegebenen Fall mit einer adäquaten oder auch mit einer inadäquaten Darstellung zu tun haben, und wodurch sich verschiedene Stufen der Inadäquatheit unterscheiden lassen. Die von uns im vorigen Paragraphen angegebenen Bestimmungen sind in dieser Hinsicht nicht zulänglich. Setzen wir mit der letzteren Frage ein. Ich nehme eine rechteckige Tafel wahr. Nehmen wir für einen Augenblick an, daß diese Tafel wirklich rechtekkig ist, d.h. daß der "Gegenstand selbst", auf den meine Wahrnehmung sich bezieht, diese Gestalt besitzt. Wie wird also diese Tafel im Darstellungsgehalt dargestellt? Diese Gestalt ist mir ohne Zweifel gegeben: Ich sehe eine rechteckige Tafel. Ich sehe sie jedoch nur in einer sogenannten perspektivischen Verkürzung: Was näher von mir liegt, tritt im Darstellungsgehalt als länger auf, was weiter von mir liegt, als kürzer, die Seitenstrecken aber neigen [desto mehr] zueinander, je weiter sie von mir entfernt sind. Im Darstellungsgehalt tritt so etwas wie ein Trapez auf, strenggenommen aber dennoch nicht ein Trapez, weil dieses "etwas wie ein Trapez" mir ein Rechteck zur Darstellung bringt. Mit anderen Worten: Im Darstellungsgehalt tritt zwar als eines seiner Elemente die "Rechteckigkeit" auf, aber nur als eine bis zu einem gewissen Grade unerfüllte Qualität. Dagegen ist das, worauf sich das Auftreten dieser Qualität gründet, was in einem viel höheren Grade erfüllt ist, nämlich die "Trapezförmigkeit", deutlich von dem verschieden, was dargestellt wird. Nur gewisse andere, im Darstellungsgehalt gleichzeitig auftretende Elemente ermöglichen die Darstellung jener von der Trapezförmigkeit ganz verschiedenen Qualität, nämlich der Rechteckigkeit. Wir werden uns ihrer gewahr, wenn wir beachten, daß wir soeben gesagt haben, daß ζ. B. die näher liegende Seite länger als die weiter liegende "erscheint". Solche Merkmale wie "näher liegend", "weiter liegend" gehören zu den sogenannten "relativen Merkmalen". 59 Nehmen wir wieder für einen Augenblick an, der "Gegenstand selbst"

CQ

In meiner Terminologie aus den "Essentialen Fragen" [sind dies] "relative Quasi-Merkmale". Vgl. "Essentiale Fragen" [Ingarden (1925a), § 35 (S. 285-293)].

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

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besitze diese Merkmale im Verhältnis zu einem anderen "Gegenstand selbst", nämlich meinem Körper. Dieses Merkmal ist mir gegeben, im Darstellungsgehalt findet sich also ein entsprechendes Element. Es tritt jedoch wiederum als eine bis zu einem gewissen Grade unerfüllte Qualität auf, die sich auf gewissen anderen, in einem viel höheren Grade erfüllten Qualitäten gründet, nämlich auf gewissen Qualitäten der Struktur der Oberfläche des gegebenen Gegenstandes. Dabei trägt zur Konstituierung dieses "näher" vor allem die Darstellungsweise dieser strukturellen Eigenschaften der Oberfläche bei: Sie sind mir viel deutlicher gegeben als die analogen Eigenschaften der von mir "weiter" entfernten Teile der Oberfläche; es zeichnen sich z. B. Holzfladern oder geringe Unebenheiten der farbigen Substanz ab, mit der die Tafel bedeckt ist usw. All diese Einzelheiten der von mir weiter entfernten Teile der Oberfläche verschwimmen, treten nicht gesondert, mit einem scharfen Umriß auf. Wir sagen, daß sie uns viel weniger deutlich gegeben sind. Das Gehaltselement, das mir das objektive relative Merkmal "näher gelegen" oder "weiter gelegen" darstellt, baut also nicht so sehr auf anderen, in einem höheren Grade erfüllten Qualitäten auf, als vielmehr auf einer besonderen Darstellungsweise derselben, die wir größere Deutlichkeit zu nennen pflegen. Ohne diese Darstellungsweise gewisser Elemente im Darstellungsgehalt würden die Qualitäten, auf denen sich die unerfüllte Qualität "Rechteckigkeit" (genauer: "rechteckig") gründet {(mithin die "Trapezförmigkeit" sowie "näher" und "weiter" gewissen Teilen der Tafel im Verhältnis zu meinem Körper), für die Konstituierung der Qualität "rechteckig" nicht ausreichen, die infolgedessen} im Darstellungsgehalt nicht erschiene. Anstelle dieser träte die Qualität "trapezförmig" auf, sofern im Darstellungsgehalt gleichzeitig die Qualitäten vorkämen, die sich auf verschiedene Teile der von mir wahrgenommenen Oberfläche beziehen, nämlich [die Qualität] "gleich weit von mir entfernt"60 [und andere]. Wenn wir - wie wir es getan haben - annehmen, daß die Tafel selbst in Wirklichkeit eine rechteckige Gestalt besitzt, dann wird dieses Merkmal von ihr in

60

[Dazu auf einem eingelegten Blatt die Einfügung: "Dieser Ausdruck soll nur eine Abkürzung dafür sein, daß die einzelnen Teile der mir visuell gegebenen Oberfläche eines Gegenstandes, die vom Zentrum des Sehfeldes symmetrisch entfernt sind, mir als 'von mir' gleich weit entfernt gegeben sind. Oder noch anders ausgedrückt: daß die Fläche, auf der die gegebene Oberfläche liegt, vertikal zur Gesichtsrichtung ist und das Zentrum des Sehfeldes auf ihren mittleren Teil fällt".]

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inadäquater Weise dargestellt. Die Inadäquatheit der Darstellung besteht hier darin, daß zur Darstellung dieses Merkmals Qualitäten führen, die von dem dargestellten Merkmal verschieden sind (die "perspektivische Verkürzung" mitsamt [den Qualitäten] "näher", "weiter" der einzelnen Teile des dargestellten Gegenstandes, [den Qualitäten], die auf den verschiedenen Stufen der "Deutlichkeit" beruhen). Dabei wäre die Qualität, die der dargestellten Qualität gleichsam am nächsten liegt, da sie zu derselben Art von Merkmalen (zu den Raumgestalten) gehört (nämlich "Rechteckigkeit") für sich allein nicht fähig, die unerfüllte Qualität ("Rechteckigkeit") zu konstituieren, sondern sie bedarf dazu der Mitwirkung anderer Elemente des Darstellungsgehaltes; veränderten sich aber die letzteren, dann könnte sie sogar eine ganz andere Qualität, nämlich die "Trapezförmigkeit" darstellen. Oder mit anderen Worten: Die Darstellung ist hier inadäquat, weil die dargestellte Qualität im Darstellungsgehalt nicht als völlig erfüllte Qualität, sondern als Element auftritt, das bis zu einem gewissen Grad unerfüllt ist und dessen Erfüllung vom Auftreten eines Komplexes von anderen, in einem höheren Grade erfüllten Qualitäten im Darstellungsgehalt abhängt. 61 Denn die in Frage kommende Qualität tritt hier nicht in genau der Gestalt auf, die sie selbst ist, sondern wird nur unter Mitwirkung {oder sogar durch Vermittlung} von anderen Qualitäten zur Darstellung gebracht. Mehr noch: Keine der letzteren Qualitäten vermag für sich allein zur Darstellung der ersteren Qualität zu führen. Schließlich - und darin liegt der vielleicht wichtigste, bisher aber nicht berührte Punkt - ist die inadäquate Darstellung der hier in Frage kommenden Qualität nur dadurch möglich, daß der betreffende Darstellungsgehalt mit anderen demselben Gegenstand zugehörenden Darstellungsgehalten in einem Zusammenhang steht, in denen die fragliche Qualität zumindest als eine in einem viel höheren Grade erfüllte Qualität auftritt, wenn auch von der völligen Erfüllung nicht die Rede sein kann. Würde nämlich vom Erkenntnissubjekt nicht ein Darstellungsgehalt der wahrgenommenen Tafel aktualisiert, in dem ihre rechteckige Gestalt (bei vertikaler Stellung der Tafel zur Gesichtsrichtung) als erfüllte Qualität auftritt, dann wäre es mindestens zweifelhaft, ob in dem vorhin diskutierten Darstellungsgehalt überhaupt die in einem gewissen Grade unerfüllte

[Dazu die Einfügung: "Das entspricht der oben angegebenen Bestimmung der Adäquatheit und Inadäquatheit einer Darstellung".]

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

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Qualität "Rechteckigkeit" aufträte. Das heißt, daß nicht nur die einzelnen in einem höheren Grade erfüllten Qualitäten, sondern auch der (oben angegebene) Komplex derselben für sich allein nicht ausreicht, um darauf die Qualität "Rechteckigkeit" aufzubauen, sondern daß man dazu noch eines anderen Darstellungsgehalts bedarf, der vom Erkenntnissubjekt mit dem betreffenden Darstellungsgehalt synthetisch verbunden werden muß. Es stellt sich die Frage, ob - und wenn ja, dann warum - diese inadäquate Darstellung eines Merkmals des Erkenntnisgegenstandes durch die Anpassung des Gegenstandssinnes an die Elemente des Darstellungsgehaltes die Gefahr der transzendenten Falschheit der Erkenntnis nach sich ziehen kann. Die erste Teilfrage muß positiv beantwortet werden. Diese Gefahr besteht überall, wo (sofern es sich um die Erkenntnis eines einzelnen Merkmals des Gegenstandes handelt) keine adäquate Darstellung dieses Merkmals stattfindet bzw. - wenn es sich um die Erkenntnis des ganzen Gegenstandes handelt wo keine adäquate und vollständige Darstellung vorliegt. Sie besteht aber aus folgenden Gründen: Wenn die Darstellung eines Merkmals inadäquat ist, dann kann 1. der Gegenstand dieses Merkmal gar nicht besitzen oder kann 2. dieses Merkmal ein bißchen anders sein als es uns seine Darstellung sagt. Dies letztere kann deswegen der Fall sein, weil sich das Merkmal uns nicht in genau der Gestalt darstellt, die es für sich selbst aufweist. Es kann somit geschehen, daß die durch die Verschiedenheit der Darstellung eingeführten Veränderungen ihr Wesen so stark antasten, daß eine "Modifikation" im Sinne von Twardowski 62 erfolgt. Woher rührt aber die Gefahr, daß der Gegenstand dieses Merkmal überhaupt nicht besitzen könnte? Sie ergibt sich aus den Bedingungen, unter denen die inadäquate Darstellung dieses Merkmals stattfindet. Wir haben soeben erwähnt, daß die inadäquate Darstellung eines Merkmals sich dadurch vollzieht, daß im Darstellungsgehalt eine in einem gewissen Grad unerfüllte Qualität auftritt. Damit aber eine solche Qualität ein Element eines Darstellungsgehalts G ist, ist es notwendig, daß 1. zuvor ein Darstellungsgehalt F aktualisiert wird, in dem das gegebene Merkmal mit Hilfe einer erfüllten oder mindestens in einem höheren Grade erfüllten Qualität zur Darf t9

Vgl. [K.] Twardowski, [Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen, Wien 1894, S. 12-16; derselbe, "Z logiki przymiotników" (Zur Logik der Adjektive), Przeglqd Filozoficzny 30 (1927), 4, S. 292-294; auch in: derselbe, Wybrane pisma filozoficzne, Warszawa 1967, S. 373-375.]

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Fortsetzungsteil der 1. Redaktion (¡926)

Stellung kommt, und 2. daß vom Erkenntnissubjekt eine Synthese zwischen G und F durchgeführt wird. In der Erfüllung der beiden Bedingungen können Intumsquellen liegen. Denn es ist unmöglich, G und F gleichzeitig zu aktualisieren. Folglich ist es nicht ausgeschlossen, daß ein im Moment der Aktualisierung von F ein Merkmal X besitzender Gegenstand sich in der Zeit zwischen der Aktualisierung von F und der Aktualisierung von G verändert hat. 63 Zweitens kann sich die Synthese auf verschiedene Weisen vollziehen, und darunter ist auch eine solche Weise nicht ausgeschlossen, die das Auftreten einer unerfüllten oder nur bis zu einem gewissen Grad erfüllten Qualität Q in G verursacht, {obwohl sie dort de iure nicht auftreten sollte}. Diese Synthese findet - wie ich vorhin erwähnt habe - unter Mitwirkung von Erkenntnisakten statt und erfordert, daß das Erkenntnissubjekt auf irgendeine Weise den Aufbau des Darstellungsgehalts in dem Augenblick verwerten kann, in dem er nicht mehr aktualisiert wird. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß der Verlauf dieser Synthese auch durch andere Elemente des Bewußtseinsstromes (Akte produktiver Phantasie) beeinflußt werden kann, und zwar auch durch solche, die nicht erkenntnismäßiger Natur sind. {Eine Folge davon muß einerseits sein, daß das Erkenntnissubjekt, wenn es den Aufbau des früher aktualisierten Darstellungsgehalts verwertet 64 , dessen Aufbau nicht ganz treu bleibt und daß die Synthese daher notwendigerweise falsch durchgeführt wird. Andererseits muß die Mitwirkung der nicht-erkenntnismäßigen Faktoren beim Vollzug der Synthese die Konsequenz nach sich ziehen, daß im Darstellungsgehalt nur quasi-darstellende Elemente, die ich oben erwähnt habe und mit denen ich mich noch beschäftigen werde, auftreten und letztendlich zu einer transzendenten Falschheit führen.} Wie wir aus der soeben durchgeführten Betrachtung sehen, entspringt die transzendente Falschheit der Erkenntnisresultate nicht der Tatsache selbst,

Selbstverständlich besteht diese Gefahr nur in dem Fall, wo es sich um die Erkenntnis eines Gegenstandes handelt, der sich seinem Wesen nach verändern kann. 64

Wie dieses Verwerten geschieht, ist natürlich ein Problem für sich, das bei der Ausführung der phänomenologischen Erkenntnistheorie sorgfältig zu erwägen ist, zumal da es mit dem Problem des reinen Erkenntnissubjektes als bloßes Subjekt von Erkenntnisakten im Zusammenhang steht. Es kann nämlich Zweifel daran aufkommen, ob dieses Subjekt Erinnerungsakte vollziehen kann und ob die Möglichkeit des Vollziehens dieser Akte nicht ein psychophysisches Subjekt voraussetzt.

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

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daß ein Merkmal durch die Anpassung des Gegenstandssinnes an den Darstellungsgehalt inadäquat dargestellt wird, sondern vielmehr den Bedingungen, unter denen eine solche Darstellung stattfindet. An erste Stelle rückt das Problem, in welcher Weise wir die Synthese zwischen verschiedenen Darstellungsgehalten durchführen müssen, um diese mögliche Irrtumsquelle ganz zu beseitigen oder wenigstens die sich daraus ergebenden Gefahren auf das Mindestmaß zurückzuführen. Die Irrtumsquelle kann jedoch nicht nur in der Inadäquatheit der Darstellung liegen, sondern auch darin, daß gewisse Merkmale des Gegenstandes im Darstellungsgehalt nur quasi-dargestellt sind. Das entsprechende Element des Darstellungsgehalts tritt nämlich nur sub specie der Darstellung auf, ohne de facto ein Darstellungselement im eigentlichen Sinne zu sein. Natürlich kommt in diesem Fall die Spezies der adäquaten Darstellung nicht in Frage. Es wird es sich also immer noch nur um die Elemente des Darstellungsgehalts handeln, die auf den ersten Blick Elemente der inadäquaten Darstellung, mithin unerfüllte Qualitäten zu sein scheinen. Es kann nämlich geschehen, daß das Erkenntnissubjekt, indem es einen Erkenntnisakt vollzogen und einen Darstellungsgehalt aktualisiert hat, diesen aus gewissen nicht-erkenntnismäßigen Gründen (auf die wir in Zukunft noch einzugehen haben) so aktualisiert hat, daß in seinem Rahmen eine unerfüllte Qualität auftritt, die nur durch das Auftreten in einem aus Darstellungselementen bestehenden Ganzen einen Darstellungscharakter annimmt, die sich aber gleichzeitig weder auf andere erfüllte (oder auch nur in einem höheren Grade erfüllte) und in demselben Darstellungsgehalt auftretende Qualitäten gründet noch in seinem Auftreten hinreichend motiviert wird durch die erfüllten Qualitäten anderer Darstellungsgehalte, die mit dem gegebenen Gehalt synthetisch verknüpft sind. (Ein Beispiel aus dem Alltagsleben: Die Welt erscheint mir "traurig", weil mir ein Unglück passierte ist.) Es reicht noch nicht aus, festzustellen, daß ein derartiges Element in einem Darstellungsgehalt auftritt, um annehmen zu dürfen, daß die Anpassung des Gegenstandssinnes an den Aufbau des Gehalts zur transzendenten Falschheit des entsprechenden Erkenntnisresultates führen muß. Erst ein positiver Nachweis, daß das Auftreten eines solchen Elementes im Darstellungsgehalt mit dem Vorhandensein anderer tatsächlich darstellender Elemente unvereinbar ist, gibt uns einen Grund, das entsprechende Erkenntnisresultat als falsch zu verwerfen. Auch dann aber, wenn ein solcher

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Nachweis undurchführbar ist, muß man das fragliche Erkenntnisresultat als unmotiviert ansehen und darf ihm diesen oder jenen Erkenntniswert nicht zuerkennen. Aufjeden Fall führt hier der Weg zu diesem oder jenem Untersuchungsergebnis erstens über die Analyse des Darstellungsgehaltes und zweitens über die Erforschung des Verlaufs und der Bedingungen der Synthese zwischen den Darstellungsgehalten. In beiden Fällen also, in denen bei der unmittelbaren Erkenntnisbeziehung von einer Irrtumsquelle die Rede sein kann, muß man für die Nachprüfung, ob ein Irrtum vorliegt oder nicht, die Synthese zwischen den Darstellungsgehalten analysieren. Dabei kommen sowohl kontinuierliche Synthesen in Frage, d. h. Synthesen zwischen Darstellungsgehalten, die kontinuierlich ineinander übergehen, als auch Synthesen zwischen Darstellungsgehalten, deren Aktualisationen nicht direkt aufeinanderfolgen. Da - wie ich oben angedeutet habe - in allen Fällen, in denen wir es mit einer adäquaten Darstellung zu tun haben, nicht die Rede davon sein kann, daß man durch getreue Anpassung des Aktinhalts bzw. des Gegenstandssinnes an den Darstellungsgehalt transzendent falsche Erkenntnisresultate erhalte (dies ergibt sich aus dem Begriff der adäquaten Darstellung selbst!), muß die Analyse des Verlaufs der Synthese zwischen den Darstellungsgehalten darauf abzielen, herauszustellen, ob die inadäquate Darstellung eines Merkmals (oder Gegenstands) durch die entsprechende adäquate Darstellung des vorangehenden Darstellungsgehalts genügend motiviert wird, und darüber hinaus, ob der Meinungsinhalt des Erkenntnisaktes dem Darstellungsgehalt getreu angepaßt ist. Je nach dem Ergebnis dieser Analyse werden wir auf ihrer Grundlage zu dieser oder jener Beurteilung des Erkenntniswertes der betreffenden Erkenntnisresultate gelangen. Klarerweise müssen wir aber bei dieser Aufgabe darauf gefaßt sein, daß das definitive Resultat, zu dem wir kommen werden, nicht immer ein Urteil von der transzendenten Wahrheit oder Falschheit des betreffenden Erkenntnisresultates sein wird. Denn es ist - wie wir schon früher bemerkt haben - im Prinzip möglich, daß bei manchen zur Darstellung kommenden Erkenntnisgegenständen eine adäquate und erst recht vollständige Darstellung durch die Natur des Gegenstandes selbst ausgeschlossen ist. Oder besser gesagt, um über diese Natur nichts zu entscheiden: Es kann sein, daß es bei einem inadäquat (also nur mit Hilfe einer unerfüllten Qualität) dargestellten Merkmal nicht möglich sein wird, die entsprechende

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adäquate Darstellung aufzufinden. Diese Tatsache für sich allein, wenn sie nicht mit der positiven Feststellung der Nichtübereinstimmung des gegebenen Darstellungselementes mit den anderen (und insbesondere mit den erfüll·· ten Qualitäten) einhergeht, wird uns noch nicht dazu berechtigen, das fragliche Erkenntnisresultat negativ zu beurteilen. Es ist somit nicht ausgeschlossen, daß in gewissen Fällen die Erkenntniskritik zur völligen Urteilsenthaltung gegenüber dem Erkenntniswert der durch sie untersuchten Erkenntnisresultate führen wird. Das ganze Schwergewicht der Erkenntniskritik verschiebt sich also auf die Analyse der Synthese zwischen den Darstellungsgehalten. Es ist aber klar, daß diese Analyse sich auf gewisse Prinzipien stützen muß, die es ihr erlauben, zu entscheiden, welche Bedingungen erhalten sein müssen, sollen die untersuchten Synthesen zur positiven Beurteilung des Erkenntniswertes der Erkenntnisresultate führen, und welche, wenn zur negativen. Bisher haben wir nur den einzigen Hinweis, daß zu der untersuchten inadäquaten Darstellung eine entsprechende adäquate Darstellung gesucht werden soll. Dies reicht jedoch natürlich nicht aus, weil die Tatsache der Auffindung der letzteren noch nicht - wenn man so sagen darf - beweist, daß der Weg von ihr bis hin zu dem Darstellungsgehalt, in dem das gegebene Element der inadäquaten Darstellung auftritt, in sich keine Irrtumsquelle birgt. Es entsteht mit anderen Worten wieder das Problem eines Kriteriums für die Unterscheidung zwischen verschiedenen Synthesen der Darstellungsgehalte, zwischen Synthesen, die letztlich zu transzendent wahren Erkenntnissen führen, und solchen, die zu einer transzendenten Falschheit führen. Bevor wir dazu übergehen, müssen wir vorerst zwei Punkte besprechen. Der erste ist die Tatsache, daß die Erkenntniskritik vor zwei prinzipiell verschiedene Fragen gestellt wird: 1. die Frage der transzendenten Wahrheit oder Falschheit der Erkenntnis insofern als in dieser den Erkenntnisgegenständen die und die Merkmale zuerkannt werden und 2. die ähnliche Frage bezüglich der Setzung vom (realen oder idealen) Sein der entsprechenden Erkenntnisgegenstände. 65 Bisher haben wir nur die erste Frage in den Vordergrund ge-

Diese Fragen unterscheidet z.B. O. Kiilpe in seinem Werk Die Realisierung [Leipzig 1920]. Er stellt dort nämlich das Problem der Begründung der "Setzung der Realität" und das Problem der Begründung der "Bestimmung der Realität" einander gegenüber. Külpe geht es aber nur um die Erkenntnis der Realität, während wir die Frage viel allgemeiner, nämlich in

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rückt. Es bleibt uns nun übrig, wenigstens in Umrissen die zweite zu erörtern, zumal sie voneinander nicht ganz unabhängig, wenngleich unzweifelhaft verschieden sind. Wir haben auch bisher einerseits nur den Meinungsinhalt des Erkenntnisaktes herangezogen und andererseits [überlegt], welche Elemente im Darstellungsgehalt auftreten. Doch außer der Meinung tritt im Erkenntnisakt auch die Funktion der Setzung des Seins des entsprechenden (realen oder idealen) Gegenstands auf. Und erst dadurch, daß diese Setzungsfunktion im Akt auftritt, unterscheidet sich strenggenommen der Erkenntnisakt vom Akte einer bloßen Vorstellung (oder Phantasie) und entsteht, korrelativ, das Problem des Erkenntniswertes der in diesen oder jenen Erkenntnisakten gewonnenen Resultate. Erst dadurch fallen auch die Erkenntnisresultate unter die Beurteilung hinsichtlich der Wahrheit oder Falschheit. Wäre diese Setzungsfunktion nicht vorhanden, dann würde auch kein Anspruch darauf erhoben, daß sich die Erkenntnisresultate auf irgendwelche existierenden Gegenstände beziehen, für diese gelten sollen. Daher hat auch die Erkenntniskritik zu erkunden, ob diese Setzungsfunktion zu transzendent wahren oder falschen Resultaten führt. Es versteht sich dabei, daß die Setzungsfunktion selbst (abgesehen davon, wovon das Sein und welches Sein gesetzt wird!) in sich weder wahr noch falsch ist. Erst im Zusammenhang damit, daß sie die Funktion der Setzung vom Sein eines genau so beschaffenen Gegenstands ist, wie ihn der Meinungsinhalt des Aktes bestimmt, stellt sich die Frage, ob wir, um eine transzendent wahre Erkenntnis zu gewinnen, diese Funktion ausüben oder aber sie durch die Funktion der Setzung des Nichtseins ersetzen sollen. Deswegen hängen die beiden soeben unterschiedenen Probleme der Erkenntniskritik engstens miteinander zusammen. Im Zusammenhang damit stellt sich auch die Frage, was innerhalb des Erkenntnisprozesses das Motiv zum Vollzug der Setzungsfunktion ausmacht, und darüber hinaus, ob dieses Motiv dafür ausreicht, daß das dabei gewonnene Erkenntnisresultat wahr ist. Hier kann uns wieder die Verfolgung der Zusammenhänge zwischen dem Aufbau des Erkenntnisaktes und dem Darstellungsgehalt, insbesondere aber

bezug auf die Erkenntnis irgendeines Gegenstandes stellen müssen. Außerdem handelt es sich bei Külpe sogar in dem so beschränkten Umfang lediglich um die Realität in dem Verständnis, in dem sie von den Naturwissenschaften begriffen wird, während wir daran gar nicht gebunden sind.

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

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den anschaulichen Inhalten, geeignetes Material in die Hand geben, um die soeben genannte Frage zu beantworten. Nur werden hier andere Momente des Darstellungsgehaltes und der anschaulichen Inhalte in Betracht kommen als bei der

Erwägung

der

Richtigkeit

des

dem

Erkenntnisgegenstand

Zuerkennens dieser oder jener Merkmale. Darauf werden wir noch zurückkommen. Der zweite Punkt, den wir beachten müssen, ist die Frage, woran wir im gegebenen Fall erkennen können, daß wir es mit einer adäquaten Darstellung von Merkmalen des Gegenstandes bzw. von ihm selbst zu tun haben. Denn was die inadäquate Darstellung anbelangt, so wissen wir schon, daß es sich hier jedenfalls um unerfüllte Qualitäten des Darstellungsgehaltes handeln wird. Sind die erfüllten Qualitäten dasjenige Darstellungselement, das uns immer die adäquate Darstellung verschafft? Auf jeden Fall ist die letztere unter den erfüllten Qualitäten zu suchen, es fragt sich jedoch, ob dies schon für die Adäquatheit der Darstellung ausreicht. Darauf muß man nun eine negative Antwort geben. Denn es spielen hier auch andere Momente mit, nicht nur [Momente] der Darstellungsweise, sondern auch der damit verknüpften Weise des Erlebens bzw. Vollziehens der Erkenntnisakte. Ein und dieselbe erfüllte Qualität kann als solche in verschiedenen Darstellungsgehalten auf verschiedene Weise auftreten, je nachdem, wie der betreffende Akt vollzogen wird. Es kommen hier dabei verschiedene Momente des Aktvollzugs in Betracht. Von großer Bedeutung ist zuerst, ob der Akt auf eine "lebhafte" oder "leblose" Weise vollzogen wird. Mit diesen bildhaften Ausdrücken meinen wir die folgenden Unterschiede im Aktvollzug: Das Erkenntnissubjekt, das ζ. B. einen Akt sinnlicher Wahrnehmung vollzieht, kann dies so tun, daß es ganz auf dessen Vollzug konzentriert ist und ihn mit ursprünglicher Kraft vollzieht. Die Meinung des Aktes, die dank seinem Inhalt und seinem Intentionalitätsmoment direkt auf den Gegenstand gerichtet ist, trifft nicht nur diesen Gegenstand, sondern - bildlich gesprochen - erreicht, erfaßt ihn auch. Dadurch nimmt der Darstellungsgehalt eine besondere Deutlichkeit und Lebhaftigkeit an. Nicht nur die einzelnen Merkmale des Gegenstandes werden deutlich dargestellt, heben sich deutlich voneinander ab, wodurch der ganze Aufbau des Gegenstandes übersichtlich wird. Auch jedes einzelne der zur Darstellung kommenden Merkmale für sich tritt als völlig gesättigt auf. Dies rührt daher, daß die einzelnen Elemente des Darstellungsgehaltes - vor allem

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die erfüllten, aber auch die unerfüllten Qualitäten - sich dem Erkenntnissubjekt in der rezeptiven Aktseite mit größerer Kraft aufdrängen und die Resultate davon durch das Erkenntnissubjekt ohne Verzug für eine deutliche Erfassung und Vermeinung der Merkmale des Erkenntnisgegenstandes verwendet werden. - Dem muß der Fall entgegengestellt werden, in dem, obwohl vom Erkenntnissubjekt genau dieselben Merkmale des Gegenstandes vermeint werden, der ganze Akt dennoch gleichsam automatisch vollzogen wird. Der Aktvollzug ist dann gleichsam mechanisiert, er findet noch statt, aber das Erkenntnissubjekt vollzieht den Akt gleichsam gleichgültig, ohne Teilnahme, ohne Konzentration; es lebt nicht in dem Akte, sondern akzeptiert gleichsam nur das selbsttätige Sichvollziehen desselben. Infolgedessen ist das intentionale Moment des Aktes seiner Kraft beraubt; der Akt zielt zwar immer noch auf den Gegenstand, doch gleichsam energielos, und es kommt nicht zur "Erfassung", Erreichung des Gegenstandes. Auch der Inhalt des Aktes erfährt eine gewisse Modifikation, wenn er auch dieselben Elemente in sich schließt. Es fehlt jetzt diese Deutlichkeit der Meinung, dementsprechend aber tritt der Erkenntnisgegenstand mit seinen Merkmalen nicht so klar und deutlich hervor. Die betreffenden Elemente des Darstellungsgehaltes haben an "Sättigung", an "Leuchtkraft" verloren. Das einen solchen Akt vollziehende Erkenntnissubjekt schaut, aber sieht in Wahrheit nicht, ist sich darüber nicht im klaren, was es angeblich sieht. Dies kann aus verschiedenen Gründen geschehen. Einmal deswegen, weil das Erkenntnissubjekt gerade durch etwas anderes absorbiert ist, in einem anderen erkenntnismäßigen oder sogar nicht erkenntnismäßigen Akt wirklich "lebt", den uns interessierenden Akt hingegen nur "beiläufig", "nachlässig", unter dem Druck von Lebensumständen und nicht "con amore" vollzieht. Es kann sich dies auch aus einer mehrmaligen Wiederholung des gleichen Erkenntnisprozesses ergeben, wodurch sich die Ursprünglichkeit des Aktvollzugs verliert und eine gewisse Gefühllosigkeit, Abstumpfung des Erkenntnissubjekts gegenüber gewissen Darstellungsdaten entsteht. Diese Abstumpfung kann schließlich als Ausdruck einer allgemeinen, sämtliche Bewußtseinserlebnisse in einer bestimmten Phase umfassenden Senkung der Lebhaftigkeit sowohl des Erlebens der Akte als auch des Empfindens der anschaulichen Inhalte als endlich des Vermeinens der Gegenstände und des Empfangens der Darstellung derselben zustande kommen. Der ganze Bewußtseinsstrom mitsamt den Darstellungselementen nimmt den

Die Erkenntnistheorie

als deskriptive Phänomenologie

der Erkenntnis

531

Charakter der Abstumpfung, Unklarheit und Dunkelheit an, alles versinkt ins Halbdunkel des Halbbewußten. In der Psychologie und besonders in der Psychopathologie sind Extremfalle dieser Modifikationen des Bewußtseinsstromes bekannt und werden als Krankheits"symptom" betrachtet (Fieberträume, gewisse Formen von Geisteskrankheiten usw.). Hier interessieren uns nur die Veränderungen, die ausschließlich innerhalb des Bewußtseinsstromes eintreten. Und natürlich sind die Extremfälle der allgemeinen Abstumpfung für die Erkenntnistheorie weniger wichtig. Wir haben sie nur dafür in Betracht gezogen, um die Richtung der Veränderungen im Bewußtseinsstrom anzudeuten: von den "lebhaft" vollzogenen bis zu den "leblos" vollzogenen. Es ist zu betonen, daß es sich hier nicht nur um die Veränderungen handelt, die wegen verschiedener Stufen der Spannung der Aufmerksamkeit stattfinden. Die letzteren begleiten manchmal die Veränderungen, von denen wir soeben gesprochen haben, sie brauchen jedoch mit ihnen nicht einherzugehen, vielmehr sind die einen von den anderen weitgehend unabhängig. Vor allem können in jeder einzelnen Art der Lebhaftigkeit des Aktvollzugs bzw. der Aktualisierung von Darstellungsgehalten neue rein attentionale Veränderungen vorgehen. Man kann dabei sozusagen den Strahl der Aufmerksamkeit über einzelne Merkmale der dargestellten Gegenstände "streifen lassen" oder ihn sogar von einem Gegenstand auf einen anderen lenken. Doch diese Steigerung der Aufmerksamkeit ist für sich allein noch weder imstande, die Art der Lebhaftigkeit des Aktvollzugs zu verändern, noch macht sie seine Lebhaftigkeit aus. Ein Akt kann ganz "leblos" vollzogen werden, obwohl wir - wie wir uns im Alltagsleben ausdrücken - "unsere Aufmerksamkeit anspannen", wie wir nur können. Man kann zwar nicht von der völligen Unabhängigkeit der beiden Modifikationen des Bewußtseins voneinander sprechen. Ein sehr lebhaftig vollzogener Akt wird gewöhnlich mit voller Aufmerksamkeit vollzogen; auch in diesem Fall können wir aber unsere Aufmerksamkeit auf dieses oder jenes Detail des Gegenstandes oder auch auf diesen oder jenen Gegenstand aus einer ganzen Menge von gleichzeitig gegebenen Gegenständen lenken. Andererseits bestimmt eine niedrige Stufe der Lebhaftigkeit des Aktvollzugs (der Aktualisierung des Darstellungsgehalts) das Maximum der Aufmerksamkeit, das bei dieser Lebhaftigkeitsstufe realisierbar ist. Unterhalb dieses Maximums können wir viele verschiedene Spannungsstufen der Aufmerksamkeit bei gegebener Lebhaftigkeitsstufe finden, wir können aber

532

Fortsetzungsteil der I. Redaktion (1926)

dieses Maximum nicht übersteigen, sofern sich nicht aus irgendwelchen Gründen zugleich die Art des Aktvollzugs verändert. Bekannt sind auch Fälle von Gefühlen der Hilflosigkeit und Depression aus diesem Grund, wenn wir uns bei einer gewissen Leblosigkeit des Aktvollzugs vergeblich anstrengen, um durch eine größere Spannung der Aufmerksamkeit die Leblosigkeit des Aktvollzugs zu überwinden. 66 Die Veränderungen in der Spannung der Aufmerksamkeit haben auch bei der Realisierung der adäquaten Darstellung von Erkenntnisgegenständen eine Bedeutung. Diese kommt nämlich nur dann in Frage, wenn eine minimale Spannung der Aufmerksamkeit vorliegt. Denn mit den Veränderungen in der Spannung der Aufmerksamkeit gehen auch die Veränderungen in der Darstellungsweise Hand in Hand. Während wir bei verschiedenen Arten der Lebhaftigkeit von der "Klarheit" und "Saftigkeit" des Auftretens der dargestellten Merkmale der Gegenstände gesprochen haben, soll man hier von einer größeren Deutlichkeit sprechen, welche die Unterscheidung der einzelnen Merkmale des Gegenstandes bzw. der Gegenstände voneinander sehr erleichtert. Was die verschiedenen Lebhaftigkeitsstufen des Aktvollzugs von den verschiedenen Spannungsstufen der Aufmerksamkeit unterscheidet, ist auch noch der Umstand, daß eine größere Spannung der Aufmerksamkeit mit deren Konzentrierung in eine bestimmten Richtung verknüpft ist. Diese Konzentrierung kommt hier einer Einschränkung des Bereiches gleich, innerhalb dessen wir "aufmerksam" wahrnehmen oder denken. Was außerhalb dieses Bereichs bleibt, entschwindet durch die Konzentrierung der Aufmerksamkeit aus unserem "Gesichtsfeld". Die positive Handlung der Anspannung der Aufmerksamkeit geht mit der negativen Handlung der Abwendung der Aufmerksamkeit einher. Dagegen braucht die Steigerung der Lebhaftigkeit eines Bewußtseinserlebnisses gar nicht damit einherzugehen. Vielmehr kann hier das ganze Bewußtseinsfeld diese Modifikation erfahren. Anders verhält es sich in dem Fall, wo das Bewußtseinserlebnis so kompliziert ist, daß gleichzeitig nicht ein einziger, sondern mehrere Akte vollzogen werden, was sowohl dann möglich ist, wenn die betreffenden Akte alle erkenntnismäßiger Natur sind, als auch, wenn zugleich ein Erkenntnisakt und ζ. B. ein Willensakt vollzogen werden. In diesem Fall kommt es oft vor, daß nur einer der Akte vom Bewußt-

66

Vgl. "Über die Gefahr" [Ingarden (1921a) auch in Ingarden (1994)].

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

533

seinssubjekt wirklich vollzogen wird, während die anderen sich vielmehr mechanisch abspielen. Allein in dem einen Akt lebt das Subjekt wirklich, die anderen hingegen werden nur quasi-vollzogen. All diese Unterschiede wurden in den bisherigen Untersuchungen kaum berührt und bedürfen einer gründlichen Analyse. Uns interessieren sie nur wegen der Bedeutung, die sie für die Adäquatheit der Darstellung haben. In diesem Zusammenhang ist noch eine Unterscheidung zu erwähnen, die gewöhnlich mit der Frage verschiedener Stufen der Aufmerksamkeit vermengt wird. Es handelt sich um das, was Husserl den "Aktualitäts-" und "Inaktualitätsmodus" des Bewußtseins nennt. 67 Um dies darzustellen, müssen wir uns noch für einen Augenblick mit dem "Darstellungsgehalt" beschäftigen. Wenn wir ihn genau so nehmen, wie wir ihn oben gekennzeichnet haben, dann macht er nur einen Ausschnitt, einen Teil der Darstellungselemente aus, die beim Vollzug eines Aktes der sinnlichen Wahrnehmung (sofern es sich überhaupt um diese Art von Darstellungsgehalt handelt) vom Erkenntnissubjekt aktualisiert bzw. empfunden werden. Wenn ich z. B. den Tisch wahrnehme, an dem ich diese Abhandlung schreibe, dann ist der Tisch nur einer von vielen Gegenständen, die in mein aktuelles "Gesichtsfeld" fallen, die aber aktuell nicht in dem Sinne der "Gegenstand" meines Wahrnehmungsaktes sind wie der Tisch, wenn ich ihn gerade wahrnehme. Allerdings kann ich eine solche Stellung einnehmen, daß der Gegenstand meiner Wahrnehmung das ganze Zimmer (genauer: nur ein vor mir liegender Teil des Zimmers) ist. Auch dann ist aber das "ganze Zimmer" bzw. der betreffende Darstellungsgehalt nur ein Teil der im gegebenen Moment aktualisierten Darstellungselemente. Denn z. B. mit Hilfe unerfüllter Qualitäten ist mir auch das Nebenzimmer, die Straße hinter den Hauswänden usw. dargestellt. Jede Wahrnehmung zeichnet sich dadurch aus, daß der wahrgenommene, im Akt dargestellte und zugleich vermeinte Gegenstand aus einem Darstellungshintergrund gleichsam "herausgefaßt" wird. 68 Dabei soll unter diesem Hintergrund keineswegs nur etwa der visuelle Hintergrund verstanden werden, wenn sich eine Gesichtswahrnehmung abspielt. Bei einer Gesichtswahrnehmung kommt natürlich in erster Linie ein visueller Darstellungshintergrund in Frage, daneben haben 67

zo

Vgl. dazu Husserl, Ideen I, S. 61 ff. [Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 71 ff.]. "Das Erfassen ist ein Herausfassen", sagt Husserl, Ideen I, S. 62 [Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 71].

534

Fortsetzungsteil der 1. Redaktion (1926)

wir aber auch einen haptischen, einen akustischen Darstellungshintergrund, weiter verschiedene "Empfindungs"hintergründe im engeren Sinne des Wortes, d. h. Empfindungen, die die physiologischen Zustände des Organismus darstellen, schließlich den gesamten Hintergrund der Darstellungselemente, in denen die psychischen Zustände und Prozesse zur Darstellung gelangen. All dies insgesamt bildet einen [einheitlichen] Darstellungshintergrund, aus dem der Darstellungsgehalt dadurch herausgesondert wird, daß das Erkenntnissubjekt einen Akt vollzieht, der mit seiner Meinung gleichsam durch die entsprechenden, zum gegebenen Darstellungsgehalt gehörenden Darstellungselemente auf den Erkenntnisgegenstand selbst zielt. Die Meinung dieses Aktes dagegen richtet sich nicht auf den Darstellungshintergrund. Und doch ist dieser Hintergrund dem Erkenntnissubjekt gegenwärtig. Wir haben es hier mit reinem Empfinden

der Darstellungselemente, mit passivem "Zur-

Kenntnis-Nehmen" zu tun, das gewöhnlich für die Herstellung der Meinung eines intentionalen Erkenntnisaktes nicht verwendet wird. Sofern in den Erkenntnisakten auch eine rezeptive Seite, eine Seite des Empfindens zu unterscheiden ist, bildet dieses Empfinden nur eine Seite des Aktes, ist aber im Bewußtseinsstrom nichts für sich Selbständiges. Dagegen haben wir es hier, wo es sich um den Darstellungshintergrund handelt, mit dem Empfinden selbst zu tun, das etwas für sich Selbständiges ist. Offenbar kann hier nur von einer relativen Selbständigkeit die Rede sein, nämlich in dem Sinne, daß dieses Empfinden stattfinden kann, ohne das Vollziehen eines Aktes nach sich zu ziehen, der sich auf Gegenstände richten würde, die mit Hilfe von nur empfundenen Darstellungselementen dargestellt werden. In der rezeptiven Aktseite bildet aber das Empfinden der Elemente des Darstellungsgehaltes ein untrennbares Ganzes mit anderen Aktseiten, also vor allem mit der Meinung, die den in der rezeptiven Aktseite empfundenen Darstellungselementen angepaßt ist. Dieses reine Empfinden von Darstellungselementen des Hintergrunds nennt Husserl - sofern ich ihn richtig verstehe - den "Inaktualitätsmodus des Bewußtseins". Er unterscheidet aber nicht - wenigstens an der Stelle seiner Untersuchungen, auf die ich mich hier berufe - den Erkenntnisakt als Ganzes, in dem eine rezeptive und eine aktive Seite, die Seite des intentionalen Meinens, auftritt, vom reinen Empfinden der Darstellungselemente. Durch die nur empfundenen und als solche zum Darstellungshintergrund gehörenden Darstellungselemente stellen sich dem Erkenntnissubjekt

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

535

auch die Gegenstände der Erkenntnis dar, nicht aber die Darstellungselemente für sich selbst genommen. 69 Sogar im reinen Empfinden spielen sie ihre Funktion der Darstellung der "Erkenntnisgegenstände selbst", und es bedarf erst einer speziellen Wendung des Erkenntnissubjektes, damit ihm nicht dargestellte Gegenstände, sondern Darstellungselemente als solche gegeben sind. Hierin - im Ausüben der Funktion der Gegenstandsdarstellung - gibt es keinen Unterschied zwischen dem Darstellungshintergrund und dem Darstellungsgehalt als Korrelat des Erkenntnisaktes. Es besteht dagegen ein Unterschied in der Weise der Darstellung. Dadurch, daß die Meinung des Aktes, indem sie auf den Gegenstand zielt, gleichsam durch die zum gegebenen Darstellungsgehalt gehörenden Darstellungselemente hindurchgeht, wie auch dadurch, daß der Meinungsinhalt gleichsam ein bewußter Reflex von dem ist, was vom Erkenntnissubjekt in der rezeptiven Aktseite empfunden wurde (was nicht ausschließt, daß hier durch das Vollziehen des Aktes bzw. durch das Umwandeln des Empfundenen in den Meinungsinhalt noch verschiedene Veränderungen zustande kommen können, die in formaler wie materialer Hinsicht Unterschiede zwischen dem Empfinden und dem Meinen im Akte mit sich bringen), können die zum Darstellungsgehalt gehörenden Elemente je nach Fall die Adäquatheitsstufe der Darstellung von Merkmalen des Erkenntnisgegenstandes verändern. Wird der Akt so vollzogen, daß alle äußeren, außer-erkenntnismäßigen Einflüsse wie auch alle "subjektiven" Einflüsse ausgeschaltet werden, die wir weiter unten besprechen werden, dann ist es möglich, eine höhere Adäquatheitsstufe der Darstellung zu erreichen als diejenige, die uns beim reinen Empfinden des Darstellungshintergrundes begegnet. Deswegen besteht eine der Bedingungen für die Gewinnung einer adäquaten Darstellung wenigstens einiger Merkmale des Erkenntnisgegenstan-

Einen anderen Standpunkt in dieser Frage vertritt H. Bergson, der behauptet, daß nur die Erkenntnisakte fähig seien, uns die Erkenntnisgegenstände zu geben (dies ist bei Bergson die sogenannte intellektuelle Erkenntnis), wobei die Akte gewisse formale Strukturen hineintragen würden, welche die "unmittelbaren Daten" verfälschen. Demgegenüber liefere uns das reine Empfinden, d.h. die "Intuition" in einer von vielen Bedeutungen dieses Wortes bei Bergson, nur "unmittelbare Daten" (in meiner Sprache: anschauliche Inhalte bzw. Darstellungselemente), die sich - in Bergsons Augen - durch ihren formalen Aufbau von den Gegenständen unterscheiden und die einzige absolute Wirklichkeit bilden. Ich muß betonen, daß nur deijenige, der über die von Bergson erteilten Informationen weit hinausgegangen ist, Bergsons Behauptungen verstehen und ihre Richtigkeit beurteilen kann.

536

Fortsetzungsteil der l. Redaktion (1926)

des (sofern die betrachtete Art der Akte eine solche Darstellung überhaupt zuläßt) darin, daß ein intentionaler Akt vollzogen wird, dessen Inhalt dem vom Erkenntnissubjekt in der rezeptiven Aktseite empfundenen möglichst angepaßt ist. Eine notwendige Bedingung ist auch, daß ein Erkenntnisakt vollzogen wird, der sich auf den gegebenen Gegenstand bezieht; es genügt hier nicht eine reine Empfindung, wie sie beim Empfinden des Darstellungshintergrundes auftritt. Eine der weiteren Bedingungen für die Gewinnung einer adäquaten Darstellung des Erkenntnisgegenstandes (oder mindestens einiger Merkmale desselben) ist, daß sowohl bei der Ausführung der Synthese zwischen verschiedenen Darstellungsgehalten als auch bei der Verwandlung des Empfundenen in das Gemeinte im Erkenntnisakt alle "subjektiven Einschläge" beseitigt werden. 70 Was ist darunter zu verstehen? Die Erkenntnisbeziehung zwischen dem Erkenntnisgegenstand und dem Erkennen erfordert, daß der Gegenstand etwas ist, was seinem Sein wie seinem Sosein nach unabhängig davon existiert, ob sich gerade die Meinung eines Erkenntnisaktes auf diesen Gegenstand richtet bzw. ob überhaupt ein Erkenntnisakt vom Erkenntnissubjekt vollzogen wurde. Soll dieser Gegenstand wirklich so erkannt werden, wie er an sich ist, dann ist es unentbehrlich, daß ihm im Erkenntnisresultat kein Merkmal zugeschrieben wird, bei dem es vom Bestehen und der Beschaffenheit des auf den Gegenstand bezogenen Erkenntnisprozesses abhängt, ob es diesem Gegenstand zukommt. Oder umgekehrt ausgedrückt: All die Merkmale und Momente, die im Erkenntnisresultat dem Erkenntnisgegenstand zugeschrieben werden und bei denen es vom Bestehen des Erkenntnisprozesses abhängt, ob sie dem Gegenstand zukommen, sollen als dem Gegenstand in Wirklichkeit nicht zukommende Merkmale, als ein "subjektiver Einschlag" angesehen werden, der zu beseitigen ist, wenn die Erkenntnis transzendent wahr sein soll. Zum mindesten aber darf der "subjektive Einschlag" unter Gefahr einer transzendenten Falschheit nicht als ein Merkmal des Erkenntnisge-

70 Ich habe darüber in meinem Vortrag am Philosophischen Kongreß in Lemberg unter dem Titel "Czy i jak mozna wykazac obiektywnoác spostrzezenia zewnçtrznego?" [vgl. Ingarden (1927)] gesprochen. Dort handelte es sich aber speziell um Probleme, die bei der äußeren Wahrnehmung entstehen, während hier die Betrachtung auf alle möglichen Fälle der Darstellung von Erkenntnisgegenständen zu erweitern ist, in denen von der Synthese mehrerer Darstellungsgehalte die Rede sein kann.

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

537

genstandes angesehen werden. Weil sich im Verlauf eines Erkenntnisprozesses noch verschiedenartige nicht-erkenntnismäßige Faktoren (wie etwa der Einfluß der Stimmungen, Willensakte, Neigungen usw.) hinzumischen können, sind als ein zu einer transzendenten Falschheit führender subjektiver Einschlag all die dem Gegenstand im Erkenntnisresultat zugeschriebenen Merkmale oder (formale und materielle) Momente anzusehen, die auf irgendeine Weise vom Bewußtseinsstrom des Subjekts abhängen, das den gegebenen Gegenstand

erkennt.71

Der subjektive Einschlag kann entweder auf beabsichtigte und bewußte oder auf unbeabsichtigte und unbewußte Weise entstehen. Selbstverständlich ist der letztere Fall für die Gewinnung der transzendent wahren Erkenntnis am gefahrlichsten. Denn er führt zu einer transzendenten Falschheit, die dem Erkenntnissubjekt nicht bewußt wird, und erst die nachträgliche epistemologische Nachprüfung entdeckt den begangenen Fehler. Deswegen muß die Erkenntniskritik in erster Linie auf die Aufdeckung der möglichen Irrtumsquellen Gewicht legen. Dort, wo im Erkenntnisprozeß ein subjektiver Einschlag entsteht, kann von einer adäquaten Darstellung natürlich keine Rede sein. Ob aber [in diesen Fällen] eine inadäquate Darstellung stattfinden kann, läßt sich erst sagen, wenn in einem konkreten Fall sowohl der subjektive Einschlag als auch sein Verhältnis zur Darstellung des Erkenntnisgegenstandes und der Grad der Entstellung der letzteren durch den subjektiven Einschlag untersucht wird. Der subjektive Einschlag kann im Prinzip von zweierlei Art sein: Er kann erstens etwas sein, was nur gedacht ist und was den Inhalt unseres Denkens an den Gegenstand modifiziert. Er kann aber auch etwas sein, was anschaulich vorgestellt wird, wobei noch verschiedene Typen von Vorstellungen vorliegen können. Der gefährlichste Typus ist der, bei dem

Auf die Unabhängigkeit des Erkenntnisgegenstandes und seiner Merkmale vom Erkenntnissubjekt weist O. Kiilpe in seinem Werk Die Realisierung [Leipzig 1920] hin. Er benützt dabei die Tatsache, daß in der Wahrnehmung gewisse vom Erkenntnissubjekt unabhängige Zusammenhänge bestehen, als ein Argument für die Annahme der Realität. Dieses Buch war mir bis 1926 nicht bekannt. Külpe sieht jedoch die Unabhängigkeit vom Erkenntnissubjekt und vom Bewußtseinsstrom als für diesen Zweck unzureichend an und postuliert die Unabhängigkeit vom psychophysischen Subjekt. Inwiefern dies richtig ist, darüber werden wir noch sprechen. Külpe kennt übrigens nicht die ganze Reihe von Unterscheidungen, die wir hier durchführen und die für die richtige Formulierung der Probleme und ihre befriedigende Lösung unentbehrlich sind.

538

Fortsetzungsteil der 1. Redaktion (¡926)

die anschaulichen Elemente der Vorstellung eine quasi-darstellende Form annehmen. Der subjektive Einschlag braucht nicht immer ein Zusatz zu den Merkmalen zu sein, die der Gegenstand besitzt. Er kann ebenso ζ. B. in einer Vereinfachung des Aufbaus des Erkenntnisgegenstandes bestehen oder in einer Verschiebung der Elemente, die in diesem Aufbau diese oder jene Rolle spielen usw. Er kann schließlich der Grund sein, warum die Darstellung der einzelnen Merkmale des Erkenntnisgegenstandes unmöglich wird. Am gefahrlichsten sind dabei natürlich die subjektiven Einschläge, die aus den anschaulichen Vorstellungen stammende oder quasi-darstellende Elemente sind. Bei der unmittelbaren Erkenntnisbeziehung, bei der die Erkenntnis des Gegenstandes durch die Aktualisierung einer ganzen Mannigfaltigkeit von Darstellungsgehalten unter gleichzeitigem Vollzug des Erkenntnisaktes erfolgt, sind vor allem drei Quellen von möglichen subjektiven Einschlägen zu beachten: 1. auf der rezeptiven Seite des Aktes beim Empfinden der anschaulichen Inhalte oder Elemente des Darstellungsgehaltes, 2. beim Übergang wenn man so sagen darf - von der rezeptiven Seite des Aktes zur intentionalen Meinung, 3. bei der Synthese der früher aktualisierten Darstellungsgehalte mit den Darstellungselementen, die mit dem Vollzug des Erkenntnisaktes einhergehen. Bei der Ausführung des hier umrissenen Forschungsprogramms der Erkenntniskritik ist es unentbehrlich, diese drei Punkte einer detaillierten Analyse zu unterziehen. Als Hinweis kann dabei der Satz dienen, daß der subjektive Einschlag an seiner Abhängigkeit vom Erkenntnissubjekt zu erkennen ist und daß er beseitigt werden muß, soll eine adäquate Darstellung erreicht werden. Es versteht sich dabei, daß die Beseitigung der subjektiven Einschläge für sich allein nicht ausreicht, damit eine Darstellung adäquat ist. Sie reicht nur dafür aus, daß eine Irrtumsquelle, nämlich diejenige, die im Erkenntnissubjekt liegt, aufgedeckt und beseitigt oder wenigstens unschädlich gemacht wird. Wir können hier auf nähere Einzelheiten nicht eingehen, denn es kommt uns hier lediglich darauf an, die Problematik zu skizzieren. Außer den schon angezeigten subjektiven Faktoren, die den Typus der Darstellung des Gegenstandes beeinflussen bzw. die Gewinnung einer adäquaten Darstellung verunmöglichen können, gibt es aber auch noch objektive Faktoren, die ebenso einen Einfluß darauf haben können. Eine wichtige Rolle spielen hier zuerst die objektiven Umstände, unter denen das Erkennen

Die Erkenntnistheorie als deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis

539

eines Gegenstandes vor sich geht. Bereits die tägliche Praxis lehrt, daß man, um wertvolle Erkenntnisergebnisse zu erlangen, objektive Bedingungen für eine fruchtbare Erkenntnisarbeit schaffen muß. Hierzu gehören also ζ. B. alle die (heute zu einer so großen Perfektion gebrachten) Vorrichtungen der Naturwissenschaften und besonders der experimentellen Wissenschaften, die darauf abzielen, all die Umstände vom Erkennen der Gegenstände auszuschalten, die sich aus dem gleichzeitigen Zusammensein mehrerer Erkenntnissubjekte und aus deren Verbindungen ergeben und die transzendente Falschheit der entsprechenden Erkenntnisresultate nach sich ziehen. Die Erkenntniskritik soll alle diese objektiven Umstände des Erkennens genau erforschen und deren Einfluß auf den Wert der erreichten Erkenntnisresultate einschätzen. Die Erkenntnis der Gegenstände gewinnen wir jedoch nicht nur bei der unmittelbaren

Erkenntnisbeziehung,

sondern

auch

mit

Hilfe

des

"Schließens". Ohne dieses kommt keine Wissenschaft aus, mag sie eine "empirische" oder sogenannte "rationale" Wissenschaft sein. Daher ist der Wert der Erkenntnisresultate nicht nur davon abhängig, welchen Verlauf das unmittelbare Erkennen hat, sondern gleichermaßen auch davon, welche Operationen des Schließens uns zu diesen oder jenen Erkenntnisergebnissen führen.

540

Β.

2. Teil der Redaktion II/III Β (1931^t6?) 1

IV. Kapitel: Die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie und ihre Kritik

§ 20. Die Bestimmung des Forschungsgegenstandes und der Methode dieser Theorie Gemäß den vorhin aufgestellten Postulaten nehmen wir zunächst auf bewußte und konsequente Weise eine generelle erkenntnismäßige Zurückhaltung in bezug auf die Erkenntnisse aller Gegenstände ein, die von unseren Erkenntniserlebnissen verschieden sind und als unabhängiges Sein begriffen werden (die phänomenologische Reduktion). Dementsprechend umfaßt der Forschungsgegenstand der Erkenntnistheorie: a) das Erkenntnissubjekt (das "Ich"), b) die Erkenntnisakte und, allgemeiner gesagt, Erkenntniserlebnisse, c) die Erkenntnisgegenstände, genau so, wie sie durch eine Mannigfaltigkeit von Akten bestimmt sind, und nur als diesen Akten entsprechende "Phänomene", d) die Erkenntnisbeziehungen, die zwischen den Erkenntniserlebnissen und den zu erkennenden Gegenständen bestehen. Weil es sich gezeigt hat, daß a) weder die Erkenntnisbeziehung eine Kausalbeziehung ist noch b) die erkenntnistheoretischen Probleme genetische Probleme sind, noch c) diese Probleme sich durch genetische Betrachtungen lösen lassen, muß eine andere - gegenüber der genetischen frühere - For-

[Die Manuskriptgrundlage dieses Textes umfaßt die Seiten 191-266 (ursprünglich numeriert 182-255) der Redaktion II/III B. Vom Inhalt her entsprechen manche Teile des Manuskriptes gewissen Fragmenten der Paragraphen

24-26 des Drucktextes,

Unterschiede sind jedoch beträchtlich; vgl. den Anhang, S. 659.]

die

Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie und ihre Kritik

541

schungsmethode aufgestellt werden, und zwar die deskriptive Methode 2 anhand einer eingehenden phänomenologischen Analyse. 3 Dazu noch eine Bemerkung: Die so verstandene Erkenntnistheorie ist - wenigstens bis zu einer gewissen Phase ihrer Untersuchungen, nämlich bis zum Augenblick, wo die Objektivität der Erkenntnis "fremder" Subjekte und Erkenntnisakte nachgewiesen wird - eine ihrer Methode nach radikal solipsistische Theorie: Es wird [in ihrem Rahmen] nur die Existenz vom "eigenen" "Ich" und von seinen Erlebnissen angenommen. Die so bestimmte Erkenntnistheorie unterliegt den hauptsächlichen Einwänden, die ich vorhin gegen die psychophysiologische Erkenntnistheorie geltend gemacht habe, und speziell dem Einwand einerpetitio principii nicht. Wie sich aber noch zeigen wird, ist sie noch nicht so konzipiert, daß ihr Programm als im wesentlichen einwandfrei anerkannt werden kann. Die Einwände, die sich gegen sie vorbringen lassen, zeugen davon, daß den früher aufgestellten fünf Postulaten noch [einige] weitere anzuschließen sind. Die Berücksichtigung dieser weiteren Postulate wird uns zur definitiven Auffassung der Erkenntnistheorie führen.

§ 2 1 . Die Einwände gegen die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie I. Der Einwand einer zu engen Bestimmung ihres Gebietes: Einen ähnlichen Einwand haben wir schon gegen die psychophysiologische Erkenntnistheorie gerichtet. Er lautet wie folgt: Das Forschungsgebiet, das nur a) mein "Ich", b) meine Erkenntniserlebnisse, c) die ihnen entsprechenden Phänomene (Gegenstände) und d) die Erkenntnisbeziehungen zwischen (b) und (c) umfaßt, ist zu eng, denn es umfaßt nicht:

2

Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, Die Einleitung zur 1. Aufl. und die Einleitung zur 2. Aufl.; außerdem Ideen I.

3

[Danach in Klammern: "ausführen!"]

542

2. Teil der Redaktion Will Β (1931^(6?)

a) die Erkenntnisergebnisse und zugleich -erzeugnisse, die von (a) durch (b) in bezug auf (c) gewonnen werden, also ζ. B. prädikative Urteile oder Existenzialurteile, b) die prinzipiellen Erkenntniskategorien und Erkenntniswerte, die uns bekannt sein müssen, wenn wir in die Beurteilung des Wertes einer durch ein (b) in bezug auf ein (c) gewonnenen "Erkenntnis" eintreten. II. [Der Einwand] einer zu engen Aufgabe und Methode: Die Beschreibung für sich allein reicht nicht aus, denn sie ist nur eine Vorbereitung des Stoffes für eine Kritik (Beurteilung des Wertes) der Erkenntnis, diese Kritik aber erfordert ein ganz anderes Verfahren. III. Die Einwände, die sich aus der Forderung ergeben, daß die Erkenntnistheorie eine Wissenschaft sein soll. In dieser Forderung sind die drei folgenden Postulate enthalten: 1. Die obersten (grundlegenden) Sätze der Erkenntnistheorie sollen allgemein sein, d.h. von allen z.B. Akten einer gewissen Art von Erkenntnis [sprechen], und zwar a) von allen "meinen" Akten oder b) von allen Akten überhaupt - eines beliebigen Erkenntnissubjekts. 2. Die Sätze der Erkenntnistheorie sollen allgemeingültig sein: [gültig] für alle [entsprechend] qualifizierten Erkenntnissubjekte, die existieren mögen. 3. Die Sätze der Erkenntnistheorie, sofern diese ein definitives Urteil über den Wert dieser oder jener Erkenntnis abgeben soll, müssen auf absolute, unbezweifelbare Weise begründet sein. Kann die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie, die ihre Untersuchungen auf dem Boden der phänomenologischen Reduktion anstellt, diesen Postulaten genügen? Gehen wir vor allem näher auf das Postulat (1) und die Bedingungen seiner

Realisierung

im

Rahmen

der

deskriptiv-phänomenologischen

Erkenntnistheorie ein. Es ist evident, daß nicht jeder Satz, der innerhalb der Erkenntnistheorie auftritt, streng allgemein sein muß. Im Gegenteil, sie muß unter anderem auch Sätze enthalten, deren Allgemeinheit deutlich beschränkt ist. Andererseits müssen manche ihrer Sätze - und zwar alle grundlegenden - streng allgemein sein, von ausnahmslos jedem X einer gewissen Art [sprechen]. So müssen sich

Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

und ihre Kritik

543

ζ. B. die Sätze über den Aufbau des Erkenntnisaktes als solchen auf jeden Erkenntnisakt überhaupt beziehen, denn diese Sätze entscheiden unter anderem über den Umfang der Forschungsgegenstände der Erkenntnistheorie und zugleich über alle weiteren Sätze, in denen der Terminus "Erkenntnisakt" vorkommt. Es ist somit wichtig, zu erforschen, ob die Gewinnung solcher Sätze auf dem Boden der deskriptiv-phänomenologischen Erkenntnistheorie (ich werde sie kurz als die deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis bezeichnen) möglich ist. Nehmen wir als Beispiel Sätze über den Erkenntnisakt (z.B. "Jeder Erkenntnisakt schließt ein seinen Gegenstand bestimmendes Meinen ein") und beachten wir, daß der gesamte Umfang des Terminus "Erkenntnisakt" in zwei Unterklassen eingeteilt werden kann: I. alle "meine" Erkenntnisakte (einer beliebigen Art), II. alle übrigen Erkenntnisakte - eines völlig beliebigen Subjekts (mag es ein "Mensch" oder "Gott" oder ein beliebiges anderes Erkenntnissubjekt sein). ad I. Erwägen wir zuerst die Möglichkeit, allgemeine Sätze innerhalb der ersten Unterklasse zu gewinnen. Wir werden einen beliebigen Satz über diese Akte annehmen dürfen, wenn es uns gelingt, eine entsprechende Erfahrung dieser Akte zu gewinnen, und nur in dem Umfang, in dem wir diese Erfahrung gewinnen, bzw. so weit sie reicht. Mit anderen Worten: Wir müssen uns eine Erfahrung (genauer: immanente Wahrnehmung) von "unseren" einzelnen Erkenntnisakten verschaffen. In der Erfahrung (immanenten Wahrnehmung) ist mir jeweils nur der "aktuelle" ("gegenwärtige") Erkenntnisakt in der Abfolge seiner sukzessiven Phasen zugänglich. Dabei "entgeht", wie man sagt, die überwiegende Mehrheit meiner Erkenntnisakte "meiner Aufmerksamkeit" oder, genauer, ist meiner "immanenten Wahrnehmung" sozusagen einfach aus Mangel an Zeit und Aufmerksamkeit nicht zugänglich: Der Vollzug eines Erkenntnisaktes allein nimmt mich dermaßen in Anspruch, daß ich nicht in der Lage bin, gleichzeitig einen neuen Erkenntnisakt, nämlich einen Akt der immanenten Wahrnehmung auszuführen (dies betrifft z . B . auch die Akte der immanenten Wahrnehmung selbst, und wenn diese wiederum in weiteren Erkenntnisakten erfaßt werden, muß diese Reihe einmal abbrechen und ein Akt eintreten, der selber nicht mehr erkannt wird). Also:

544

2. Teil der Redaktion II/III Β

(1931^6?)

1) Nur eine verhältnismäßig geringe Anzahl der Akte, die ich bisher vollzogen habe, wurden von mir in der Erfahrung perzipiert. 2) Keiner der zukünftigen Erkenntnisakte wurde perzipiert. 3) Von den Akten, die ich nicht perzipiert habe und die "in der Vergangenheit" vorgekommen sind, kann ich nur auf Grund der Erinnerung erfahren, praktisch jedoch wieder nicht von allen, sondern nur manchen dieser Akte. 4) Dabei stellt sich das Problem der Objektivität der Erinnerung als eines Erkenntnisaktes: Der Gegenstand der Erinnerung als eines Aktes der Erfahrung von etwas, was, "vor" dem Augenblick des betreffenden Erinnerungsaktes vollzogen, "vorübergegangen ist", mithin ("nachher") nicht mehr existiert, ist gegenüber diesem Akt transzendent, macht keinen Bestandteil des letzteren aus. Ist dem aber so, dann ist es nicht ausgeschlossen, daß mir die Erinnerung etwas anderes darstellt, was sich sowohl seinen Eigenschaften nach als auch seiner Existenz nach von dem unterscheidet, was "einst" existiert hat. Auf jeden Fall dürfen wir innerhalb der Erkenntnistheorie (ohne vorherige Nachprüfung) nicht voraussetzen, daß uns die Erinnerung [wertvolle] Erkenntnisergebnisse liefert. Strenggenommen sollten wir innerhalb der schon einmal abgegrenzten Sphäre (des phänomenologischen Residuums) eine weitere "phänomenologische Reduktion" üben: Wir sollten die Haltung erkenntnismäßiger Reserve in bezug auf unsere ganze Vergangenheit einnehmen. Im besonderen darf alles, was uns die Erinnerung darstellt, nicht als wirklich gesetzt werden, sondern ist - genau so genommen, wie es erinnerungsmäßig vorgestellt wird (und in genau diesen Grenzen) - nur als "Phänomen" anzusehen. Die Sphäre "des phänomenologischen Residuums" würde somit in ungeheurem Maße zusammenschrumpfen: Da nämlich für das Voraussehen mindestens das gleiche wie für die Erinnerung gilt, so bleibt vom "ganzen" Strom meiner Bewußtseinserlebnisse nur ein äußerst enger Ausschnitt des Jetzt und der sich im jeweiligen "Jetzt" abspielenden Erlebnisse übrig, über die ich auf Grund immanenter Erfahrung - Sätze mit voller Garantie für ihre Wahrheit aufstellen darf. 5) Dies mag auf den ersten Blick nicht so gefährlich scheinen. Gewiß kann jemand sagen - , nur manche meiner Erkenntnisakte werden immanent perzipiert, aber das macht nichts. Das gleiche liege doch auch in den Naturwissenschaften vor: Wir haben eine beschränkte Anzahl von Individuen in der Erfahrung gegeben und trotzdem machen wir ohne Gefahr Behauptungen

Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

und ihre Kritik

545

über alle Elemente einer bestimmten Klasse, z. B. über alle Löwen, daß sie soundso beschaffen seien. Man weiß, was darauf zu erwidern ist: Die Sätze, die etwas über alle zu einer Klasse Κ gehörenden [Gegenstände] Kn auf Grund der Beobachtung mancher Elemente dieser Klasse behaupten, sind, als mit Hilfe der sog. unvollständigen Induktion gewonnene Sätze, α) nur wahrscheinlich, ß) der Grad ihrer Wahrscheinlichkeit variiert mit dem Wert das Verhältnisses K n /K, γ) der Begriff der Klasse Κ selbst ist schwankend, er ergibt sich als Durchschnittswert aus bisherigen Fällen und kann je nach den äußeren Umständen sehr beträchtliche Abweichungen der Einzelfälle vom Durchschnittswert aufweisen, δ) die Verwendung der sog. unvollständigen Induktion setzt den objektiven Wert der Erinnerung voraus ([der Erinnerung] daran, wie es bei diesen früher beobachteten Fällen gewesen ist), wobei sich das Problem in unserem Fall, bei den erkenntnistheoretischen Untersuchungen, noch verschärft, weil immer nur ein Akt perzeptiv zugänglich ist und das Wissen über andere Akte sich auf das Vertrauen zum Wert des Gedächtnisses stützt. Nehmen wir aber an, es sei uns irgendwie gelungen, die soeben angedeuteten Schwierigkeiten zu überwinden und wir seien zu gewissen genügend begründeten Allgemeinsätzen über Elemente der Erkenntnisbeziehung (ζ. B. über Erkenntnisakte) gekommen, die aber nur im Bereich "meiner" psychischen Akte allgemein gelten. Auf welche Weise kann ich nun über diese Beschränkung auf nur "meine" Akte, über jenen bewußt eingenommenen solipsistischen Gesichtspunkt hinwegkommen? Wie können wir Allgemeinsätze ζ. B. über alle - auch die fremden - Erkenntnisakte gewinnen? Gewiß, würden wir uns in der bisherigen Gedankenbahn bewegen, dann müßten wir fordern, daß alle erkenntnistheoretischen Sätze, die sich auf die Bewußtseinselemente der Erkenntnisbeziehung und auf die Erkenntnisergebnisse beziehen, auf dem Weg einer unmittelbaren Erfahrung der fraglichen Elemente begründet werden. Wenden wir uns zuerst der Frage nach den Sätzen über alle (auch die fremden) Erkenntnisakte zu. Wie kann man eine unmittelbare Erkenntnis - eine Erfahrung - von fremden Erkenntnisakten gewinnen? Die "fremden" Erkenntnisakte - deren wirkliches Sein wir hier nach unserem Prinzip der generellen Erkenntnisreserve in keiner Weise präjudizieren erscheinen in keiner uns bekannten Erfahrung selbst und direkt. Was uns ge-

546

2. Teil der Redaktion ll/lll Β (1931^16?)

geben ist - was für uns hier einen besonderen Komplex von Phänomenen darstellt - , sind psychophysische Individuen, die sich in verschiedenen Lebenssituationen so verhalten, als ob sie zugleich Subjekte von Bewußtseinsakten, unter anderem von Erkenntnisakten wären. Diese Subjekte erscheinen aber sofern wir uns getreu an die Erfahrung halten möchten - immer in engem Zusammenhang mit dem organisierten, lebendigen Körper, der uns primär oder - wie manche sagen - ausschließlich in der Erfahrung gegeben ist. Sollen wir also die Sätze über die "fremden" Erkenntnisakte begründen, dann müssen wir zuerst fragen, auf welchem Weg die Erfahrung von "fremden" Bewußtseinsakten bzw. eine Kenntnis von diesen Akten gewonnen werden kann. Hier tauchen aber wieder neue Schwierigkeiten auf. Wie bekannt, sind bezüglich der Erkenntnis fremder psychischer Zustände bzw. fremder Bewußtseinsakte (was man nicht deutlich und klar genug voneinander abgegrenzt hat - der Terminus "psychische Zustände" umfaßt jedoch bei denjenigen, die die unten zusammengestellten Theorien vortragen, auch die Bewußtseinserlebnisse; spricht man von den ersteren, dann ist immer auch von den letzteren die Rede) bisher drei verschiedene Theorien (oder Typen von Theorien) aufgestellt worden: I. die sog. Theorie des Schließens per analogiam (J. St. Mill) 4 , II[a]. Theodor Lipps' Theorie der sog. "Einfühlung" 5 , IIb. die Theorie der Nachahmung, Ile. die Assoziationstheorie, III. die Theorie der unmittelbaren Perzeption 6 .

[Vgl. J. St. Mill, An Examination of Sir William Hammilton's Philosophy, London 1878.] 5

[Vgl. Theodor Lipps, "Einfühlung, innere Nachahmung und Organempfindungen", Archiv für die gesamte Psychologie, 1903, derselbe, "Weiteres zur Einfühlung", Archiv für die gesamte Psychologie, 4 (1905), S. 465-519, derselbe, "Das Wissen von fremden Ichen", Psychologische Untersuchungen, Bd. I, Leipzig 1907, derselbe, Zur Einflhlung, Leipzig 1913.] Vgl. auch M. Geiger, "Über das Wesen und die Bedeutung der Einfühlung" [Bericht über den IV. Kongreß ßr experimentelle Psychologie (1911), S. 1-45], etwas anders E. Stein, Zum Problem der Einfühlung, Halle 1917, und in der letzten Zeit eine neue Theorie der "Einfühlung" in E. Husserls Méditationes Cartésiennes [introduction à la phénoménologie (trad, par Gabrielle Peiffer et Emmanuel Lévinas), Paris 1931],

6

Vgl. M. Scheler, Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathie geßhle

[und von Liebe

und Hass. Mit einem Anhang über den Grund zur Annahme der Existenz des fremden

Ich,

Halle 1913] und danach Wesen und Formen der Sympathie [Bonn 1923 (Max Scheler, Ge-

Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie und ihre Kritik

547

Ich kann hier diese Theorien nicht in allen Details behandeln, die bei den einzelnen Autoren auftreten. Ich beschränke mich darauf, die grundlegenden Richtlinien und die prinzipielle Kritik zu umreißen. adi. Die Theorie des sog. Schließens per analogiam, die dem positivistischen Gesichtspunkt eigentlich ist, leugnet, daß es eine spezielle Erfahrung der fremden psychischen Zustände gibt. Es gebe nur zwei Arten von Erfahrung: die äußere sinnliche Wahrnehmung, in der uns die materiellen Dinge gegeben sind, und die innere Wahrnehmung, in der uns unsere eigenen psychischen Zustände gegeben sind. 7 Über die fremden "psychischen Zustände" könnten wir ein sicheres Wissen allein durch Schließen, insbesondere durch das Schließen per analogiam gewinnen. In der sinnlichen Erfahrung seien uns nur unsere Körper mit ihren physischen Eigenschaften (Gesten, Mienen) gegeben. Ebenso sei mir dabei mein eigener Körper gegeben, wobei ich gleichzeitig meinen sich [gerade] abspielenden psychischen Zustand erfassen würde. In bezug auf mich selbst lägen somit zwei Reihen von Erfahrungen vor: A. [die Erfahrungen] meines Körpers und meiner Verhaltensweise, B. [die Erfahrungen] meiner "psychischen Zustände". In bezug auf ein anderes Individuum liege eine Reihe von Erfahrungen vor, die ähnlich wie A seien, mithin A' - ein fremder Körper (im strengen Wortsinne). Dementsprechend gelte: Wenn (wenn A, dann Β), dann wenn A\ dann B' (fremde Zustände). Die Kritik: Diese Theorie muß als falsch abgelehnt werden, obwohl sie bis zu Lipps' Zeiten vorherrschend war. Die Einwände: 1) Die Erkenntnis des Fremdpsychischen erfolgt nicht durch das Schließen (obwohl dieses nicht ausgeschlossen ist). Die Erwiderung, daß das

sammelte Werke, Band 7, Bern und München 1973)], eventuell auch Bergsons [Auffassung der] Intuition. 1

[Hier in Klammern die Einfügung: "Hinzufügen, daß nach den Positivisten die Wahrnehmung fremder psychischer Zustände nicht existieren kann, denn a) diese werden immer mittels des Körpers wahrgenommen, b) der Körper ist mit den Organen, z.B. dem Auge gegeben, dem unmöglich ist, uns zu erlauben, etwas anderes als eine Farbe oder einen Schatten zu sehen, c) der fremde 'Schmerz' ist nichts derartiges wie eine Farbe usw".]

548

2. Teil der Redaktion II/III Β

(1931^6?)

Schließen sehr schnell, unbemerkt oder gar unbewußt verlaufe, hält der Kritik nicht stand. 2) Die Theorie setzt eine Kenntnis des eigenen Körpers in der sinnlichen Wahrnehmung voraus - eine Bedingung, die tatsächlich nicht erfüllt und oftmals unerfüllbar ist - zumal wenn es sich um das emotionale Leben handelt! 3) Wir wären [nach der diskutierten Theorie] auf das "Erkennen" der psychischen Zustände beschränkt, die uns aus unserem eigenen Leben bekannt sind. Indessen erkennen wir doch auch Zustände, die uns völlig fremd sind, und wir bereichern uns dadurch (neue Leute, das andere Geschlecht, sogar Tiere). Es läßt sich selbstverständlich nicht leugnen, daß wir oft - wenn wir über keine unmittelbare Erkenntnis verfügen - den anderen Erlebnisse und Zustände unterstellen, die ähnlich sind wie die unseren; das ist aber kein Argument. ad II. Lipps' Theorie der "Einfühlung" unterscheidet sich von der Theorie des Schließens per analogiam vor allem dadurch, daß sie die Art und Weise, vom Fremdpsychischen Kenntnis zu gewinnen, als eng verbunden mit gewissen Fällen der äußeren Wahrnehmung ansieht, mithin dadurch, daß sie darin eine fast (täuschend) perzeptive Weise sieht, ein Wissen zu erwerben. Trotzdem ist sie nicht geneigt, eine dritte ursprüngliche Art der Erfahrung (von Lipps deutlich dem Denken und Vorstellen gegenübergestellt) außer der sinnlichen und der inneren Wahrnehmung anzuerkennen. Lipps betrachtet also die "Einfühlung" nicht als eine ursprüngliche Art der Perzeption. Und der Begriff der Einfühlung soll eben erklären, wie eigentlich das erfolgt, was sich scheinbar - als eine unmittelbare, anschauliche Erkenntnis des Fremdpsychischen ausgibt. Lipps' Ausführungen sind leider nicht klar, so daß es schwierig ist, genau zu sagen, was seiner Ansicht nach die "Einfühlung" ist. 8 S

[Dazu in Klammern: "Einfühlung ist ein sich Fühlen in einem von mir unterschiedenen sinnlich Wahrgenommenen oder sinnlich Wahrnehmbaren, [vgl.] 'Weiteres zur Einfühlung', Archiv fiirdie gesamte Psychologie, 4 (1905), [S. 519]. 'Einfühlung' = 'Tendenz (...) zu einer bestimmten Art des inneren Verhaltens' [S. 467] (z.B. 'traurig gestimmt zu sein'). Dabei [geht es um eine] 'Tendenz in der Wahrnehmung' [S. 467], wobei Lipps ausdrücklich bemerkt, daß jene Tendenz und diese sinnliche Wahrnehmung von etwas anderem als mir 'ein einziger ungeteilter psychischer Akt' [S. 467] sind. An einer anderen Stelle spricht Lipps vom Miterleben [S. 467 ff.], an einer weiteren von der 'Tendenz zum vollen Erleben' [S. 481] des Eingefühlten, schließlich vom 'inneren Nacherleben' [S. 484]".]

Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie und ihre Kritik

549

Wie man daraus sieht, vermengt sich hier bei Lipps der Begriff vom "Fühlen" dessen, was in der Psyche des von mir wahrgenommenen Menschen geschieht, (des "Verstehens" seines Gesichtsausdrucks, seiner Geste usw.) mit dem Begriff (a) des Mit-fühlens (Miterlebens, Einsfühlens) mit dem, was der andere fühlt und (b) [mit dem Begriff] des Empfindens von diesem oder jenem Gefühl unter dem Einfluß des Verstehens eines fremden psychischen Zustands. Daß die "Einfühlung", ungeachtet ihres engen Zusammenhangs mit der sinnlichen Wahrnehmung, etwas anderes ist als diese Wahrnehmung, geht ζ. B. aus Lipps1 folgender Erklärung hervor (in der er den Begriff des "Ausdrucks" erläutert): "Der Akt der Wahrnehmung selbst zielt, vermöge dieser Einrichtung, über sich selbst hinaus zum Erleben oder zum Vollzug jener inneren Einstellung." 9 [ζ. B.] traurig gestimmt zu sein. Als Verdienst kann der Lippsschen Theorie der Einfühlung angerechnet werden: a. daß sie die Theorie des Schließens per analogiam ablehnt, b. daß sie die Assoziationstheorie (Witasek) 10 ablehnt, c. daß sie die "Einfühlung" als etwas Spezifisches, Erfahrungsmäßiges anerkennt, d. daß sie mit ihren Beispielen konkrete Situationen vor Augen führt, in denen eine Erkenntnis des Fremdpsychischen stattfindet (was weitere Analysen erleichtert), e. daß sie auf den sehr engen Zusammenhang [der Erkenntnis des Fremdpsychischen] mit der sinnlichen Wahrnehmung hinweist, f. daß sie an manchen Stellen auf den rezeptiven Charakter dieser Operation aufmerksam macht. Als Mängel müssen dieser Theorie angerechnet werden: a. daß sie das, was Lipps als "Einfühlung" bezeichnet, nicht klar und eindeutig genug beschreibt und insbesondere b. daß sie es α) mit dem Mit-fühlen, ß) mit dem Nacherleben, χ) mit dem Erleben unter dem Einfluß [des Verstehens eines fremden psychischen Zustands] und δ) mit der "Projektion" von [psychischen] Zuständen vermengt, [Th. Lipps, "Weiteres zur Einfühlung", Archiv für die gesamte Psychologie, 4 (1905), S. 467.] [Vgl. S. Witasek, Grundzüge der allgemeinen Ästhetik, Leipzig 1904.]

550

2. Teil der Redaktion 11/111Β (1931^(6?)

c. daß sie in der Folge den Bereich des "Eingefühlten" auf den Bereich des von uns Erlebten beschränkt, d. daß sie zwischen dem ursprünglichen Erleben in der "Ich-Stellung" und der Kenntnisgewinnung vom Erlebnis - als fremdem Erlebnis, dessen ich nur ein Zeuge bin (E. Stein) nicht unterscheidet. ad III. Perzeptionstheorie Diese Theorie hat Max Scheler, anfänglich ein Schüler Euckens, vorgebracht. Er ist unter dem Einfluß von Husserls Schriften zur Gruppe der Phänomenologen übergegangen und einer der hervorragendsten Vertreter dieser Gruppe geworden. 11 Schelers Standpunkt ist vor allem durch zwei Thesen gekennzeichnet: 1) Vom Fremdpsychischen können wir durch eine Wahrnehmung Kenntnis gewinnen. 2) Die Wahrnehmung, in der wir die fremden Erlebnisse und psychischen Zustände erkennen, ist eine "innere" Wahrnehmung, mithin eine gleiche Wahrnehmung wie die, in der wir unsere eigenen psychischen Zustände erkennen (unseren Körper erkennen wir in der äußeren Wahrnehmung). Ursprünglich existiert ein völlig indifferenter Erlebnisstrom, aus dem sich erst allmählich einerseits die "meinen", andererseits die "fremden" Erlebnisse (psychischen Zustände) herauskristallisieren (Mach). Beispiele: 1) Man kann einen "Gedanken" als eigenen oder als fremden oder als Gedanken von niemandem erleben. 2) Ursprünglich finden wir uns selbst nicht als eine isolierte, verschlossene Welt vor, sondern als in die Welt der geistigen, "seelischen" Erlebnisse eingeflochten, so daß wir anfänglich unsere eigenen Erlebnisse in einem beträchtlich geringeren Grad erleben als Erlebnisse unserer geistigen Umgebung. 3) Von unseren eigenen Erlebnissen nehmen wir nur diejenigen wahr, die sich in den Grenzen der allgemein erkannten und anerkannten Erlebnistypen bewegen und insbesondere der Erlebnistypen, die schon benannt oder ausgedrückt worden sind.

11 [Hier nennt Ingarden Schelers wichtigste Schriften.]

Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie und ihre Kritik

551

Als Ergänzung zur ersten These: "In einer Handbewegung", "in einem Blick" ("in dem Blick selbst") nehmen wir den fremden Schmerz und dergleichen wahr; es gibt keine Dualität, keine Gegenüberstellung eines toten, unbelebten Stücks des Körpers einerseits und eines körperlosen und aus jedem Zusammenhang mit dem Körper losgelösten Erlebnisses. Zugunsten

dieser Theorie

spricht der perzeptive Charakter

[der

Erkenntnis des Fremdpsychischen]. Ihre Mängel: 1) Sie erklärt nicht genügend, auf welche Weise sich mir ein Erlebnis, ein psychischer Zustand "in" einer Geste darstellen kann. 2) Ungeachtet des perzeptiven Charakters der ursprünglichen Erkenntnis fremder psychischer Zustände (die uns "in persona" gegeben sind) kann man nicht behaupten, ein fremder psychischer Zustand sei uns so gegeben wie z.B. die physischen Gegenstände in der sinnlichen Wahrnehmung (ζ. B. das fremde Gesicht). Es bleibt zwar die unmittelbare Gegebenheit (Selbstgegebenheit) bestehen, der Gegenstand erscheint jedoch nicht mit seinen eigenen, spezifischen Qualitäten ("Originalität" bei Husserl) 12 . 3) Nur manche psychische Zustände - vor allem emotional-irrationaler Natur - sind uns perzeptiv gegeben. Die fremden psychischen Erkenntnisate (Denken, Urteilen, Schließen) sind uns sehr selten (wenn überhaupt) gegeben, und zwar nur so, daß die ganze Lebenssituation mit wahrgenommen wird. Diese Tatsache ist für uns sehr wichtig, weil es uns in der Erkenntnistheorie gerade um die Erkenntniserlebnisse (Akte) geht. 4) Die verblüffende These von der "inneren Wahrnehmung" fremder Zustände behält ihren [verblüffenden] Charakter nur solange bei, als wir nicht beachten, daß Scheler hier im voraus eine weiterreichende Bedeutung dieses Terminus annimmt als diejenige, die wir in unseren Betrachtungen eingeführt haben. Dieser Terminus bedeutet bei Scheler soviel wie die Wahrnehmung des Psychischen, des Seelischen, in Gegenüberstellung zu a) der äußeren Wahrnehmung und b) der immanenten Wahrnehmung, die bei Scheler "Reflexion" heißt.

12

[Vgl. E. Husserl, Ideen I, S. 7 ff., 36, 43-44 (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 11 ff., 42, 52).]

552

2. Teil der Redaktion ¡¡/III Β

(1931^6?)

Mit diesem Vorbehalt kann man der zweiten These

Schelers

zustimmen. Bezüglich der früher geschilderten Theorie Schelers muß man noch die folgenden Bemerkungen machen: a) Es ist richtig, zu betonen, daß sowohl die "innere" Wahrnehmung - die Wahrnehmung psychischer Zustände - als auch die unmittelbare Erkenntnis "fremder" psychischer Zustände Erfahrungen sind, in welchen der Gegenstand gegenüber dem Erfahrungsakt selbst transzendent ist. b) Schelers Theorie erklärt nicht 1. das Verhältnis zwischen dem "Ich", das die Erkenntnisakte und speziell den Akt der äußeren Wahrnehmung vollzieht, und dem psychisch "Meinigen", 2. das Verhältnis zwischen dem ("meinem") "Ich" und dem Fremdpsychischen. Die Erforschung der beiden Verhältnisse würde es uns erlauben, festzustellen, daß die innere Wahrnehmung meiner psychischen Zustände und die Wahrnehmung fremder psychischer Zustände - ungeachtet mannigfacher Ähnlichkeiten zwischen diesen Erkenntnissen - nicht ein und derselben Art von Erkenntnisakten zuzurechnen sind. Wir müssen uns hier auf diese Bemerkungen zu der Art und Weise, wie wir das Fremdpsychische (und speziell die fremden Bewußtseinsakte) erkennen, beschränken. Welche Ansichten auch immer darüber vertreten werden, auf jeden Fall läßt sich bezüglich der (unmittelbaren) Erkenntnis des Fremdpsychischen (und speziell der fremden Bewußtseinsakte) das Folgende feststellen: 1. Das, was in diesem Fall von uns erkannt wird, ist gegenüber dem Erkenntnisakt transzendent. 2. Die Tatsache der Transzendenz läßt von sich aus die Möglichkeit von Täuschungen und Irrtümern zu. Das von uns Erkannte kann trotz der Existenz des Erkenntnisaktes auch überhaupt nicht existieren. Diese Täuschungen finden übrigens mehrfach tatsächlich statt. 3. Folglich müssen wir, wo wir - wie in der Erkenntnistheorie - absolut begründete Sätze erhalten wollen, den Standpunkt der Erkenntnisreserve gegenüber der unmittelbaren Erkenntnis fremder Bewußtseinserlebnisse und psychischer Zustände einnehmen. 4. Die Mehrheit der fremden Bewußtseinsakte verbleibt überhaupt jenseits der Grenzen der unmittelbaren Erfahrung. Außerdem ist uns die Mehr-

Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie und ihre Kritik

553

heit der Einzelzüge derjenigen fremden Bewußtseinserlebnisse, die in den Grenzen dieser Erfahrung bleiben, in der unmittelbaren Erfahrung ähnlich unzugänglich, sofern sie sich in einer Verhaltensweise des fremden (anderen) psychophysischen Individuums und insbesondere seines Körpers nicht "ausdrücken". Zu

beachten

(Scheler).

ist

dabei

das

Vorhandensein

einer

"Intimsphäre"

13

5. Wenn wir die fremden Bewußtseinserlebnisse überhaupt in den Akten einer speziellen Erfahrung erkennen, ist das von uns jeweils Erkannte immer ein Individuelles. Es entstehen somit die gleichen Schwierigkeiten, auf die wir schon früher gestoßen sind, als wir gefragt haben, auf welcher Erfahrungsgrundlage die Allgemeinsätze

über unsere ("meine") Erkenntnisakte

beruhen. Es kommen hier aber noch andere Tatsachen hinzu, welche die Situation erschweren: die Unmöglichkeit, die einzelnen Tatsachen miteinander zu vergleichen, die Unmöglichkeit oder zumindest große Schwierigkeit der Nachprüfung der gewonnenen Erfahrungen usw. Letzten Endes ist es nicht möglich, eine derartige Erfahrung von allen fremden Erkenntnisakten zu gewinnen, die als Grundlage für Allgemeinsätze über die Struktur und Beschaffenheit der Erkenntnisakte überhaupt dienen könnte. Bevor wir aus dem Ergebnis der letzten Überlegungen die Konsequenzen ziehen und uns nach einem Ausweg aus der schwierigen Situation, in die wir geraten sind, umschauen, möchte ich mich erst einmal einem anderen der vorhin aufgestellten Postulate zuwenden. Ich habe nämlich früher gesagt: Wenn die Erkenntnistheorie eine Wissenschaft sein soll, dann müssen ihre Sätze nicht nur allgemein, sondern auch allgemeingültig sein: gültig für alle [entsprechend] qualifizierten Erkenntnissubjekte. Überlegen wir, was es bedeutet, daß eine Behauptung "allgemeingültig" ist. Das bedeutet soviel wie: "anerkannt als wahr von jedem, der die Behauptung versteht". Man muß somit von vornherein zwischen "Allgemeingültigkeit" und "Wahrheit" unterscheiden. Bei der ersteren handelt es sich um eine Relation zwischen der Behauptung und einem Subjekt, bei der letzteren um

ιλ [Vgl. M. Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik (Gesammelte Werke, Band 2, Bern und München 1966), S. 548 ff.]

554

2. Teil der Redaktion U/111 Β (1931^46?)

eine Relation zwischen der Behauptung und einem Objekt: einem unabhängig von der Behauptung bestehenden Sachverhalt. Unter dem "Anerkennen" als wahr soll dabei nicht jedes - wie etwa das emotionale oder das volitionale - Anerkennen als wahr, "Annehmen" verstanden werden, sondern nur das Anerkennen, das aus dem rein erkenntnismäßigen Behaupten fließt, daß der entsprechende Sachverhalt bestehe bzw. daß ausreichende Gründe vorlägen, die für die Wahrheit der betreffenden Behauptung sprächen. Dabei stellt, wer das Postulat der "Allgemein"gültigkeit der Behauptungen einer Wissenschaft aufstellt, damit zugleich das Postulat auf, daß der Umfang der Subjekte, die "die Behauptung verstehen", möglichst weit sein soll. Anders gesagt postuliert er: Wenn in einem Fall (einer Behauptung A und eines Subjekts Β) A von Β nicht verstanden wird, dann soll dafür Β und nicht A sozusagen verantwortlich sein. Würde

eine

Behauptung

deswegen

nicht

verstanden,

weil

sie

unverständlich wäre, weil sie sogar von einem bestens qualifizierten Subjekt nicht verstanden werden könnte, dann würde dies gemäß dem in Rede stehenden Postulat der Wissenschaftlichkeit einen prinzipiellen Mangel dieser Behauptung ausmachen. Oder mit anderen Worten: Soll eine Behauptung wissenschaftlich sein, dann muß sie die Bedingungen dafür erfüllen, daß sie allgemeingültig ist. Dazu gehört: a) daß sie für alle [entsprechend] qualifizierten Subjekte verständlich ist, b) daß sie im Prinzip verifizierbar ist, d. h. daß es prinzipiell möglich ist, ihr Wahrsein aufzuweisen. ad a) Eine der ersten Bedingungen der "Verständlichkeit" [eines Satzes], auf die ich hier nicht näher eingehe, ist, daß der Satz und insbesondere der Behauptungssatz für alle [entsprechend] qualifizierten Subjekte identisch derselbe ist, daß er also - wie ich mich an anderer Stelle ausgedrückt habe 1 4 eine intersubjektive Identität besitzt. Wäre somit der von mir ausgesprochene Satz - aus welchen Gründen auch immer - für mich nicht ein und derselbe wie für meine Zuhörer, dann würde dieses Etwas, das für viele Erkenntnissubjekte verständlich sein sollte, einfach nicht existieren. Das Erste, was hier der die deskriptiv-phänomenologische Erkenntnistheorie vertretende Epistemologe zu tun hat, ist also, diese intersubjektive Identität der Behauptungssätze aufzuweisen. Sätze sind Gebilde von intentionalen, subjektiven Operationen. Sie

14 Vgl. Das

literarische Kunstwerk

[Ingarden (1931a)].

Die deskriptiv-phänomenologische

Erkenntnistheorie

und ihre Kritik

555

besitzen eine Bedeutung, die aus den Bedeutungen der einzelnen, zum Satz gehörenden Wörter aufgebaut ist. Als solche Gebilde sind sie a) etwas, was gegenüber den Akten selbst transzendent ist, b) sind sie nichts, was im Verhältnis zum satzbildenden Akt seinsautonom wäre, c) wenn es keine anderen Entitäten außer "meinen" Bewußtseinserlebnissen und deren intentionalen Korrelaten (Phänomenen) gäbe, wären sie ihrer Bedeutung nach völlig auf das Schicksal der satzbildenden Operation angewiesen und in dem Sinne "subjektiv", daß sie (als Entitäten) der Operation bzw. den satzbildenden Operationen zugehörten, mithin kein intersubjektiv identisches Gebilde darstellen würden. Es ist somit nicht möglich, auf dem Boden der absoluten Erkenntnisreserve und des bewußten Solipsismus, der nur Bewußtseinserlebnisse und deren Korrelate [Phänomene] anerkennt, intersubjektiv identische, mithin allgemein verständliche Behauptungen anzunehmen und somit auch aufzustellen. ad b) Auch die allgemeine Verfikation der Behauptungen wäre aber von diesem Standpunkt aus nicht möglich. Denn eine solche Verfikation setzt voraus, daß die durch die Behauptungen bestimmten Sachverhalte - wenigstens ihren einfachen (auf andere nicht reduzierbaren) Elementen (Bestandteilen) nach - in der unmittelbaren Erfahrung verschiedenen Erkenntnissubjekten zugänglich sind. Sollen sich die erkenntnistheoretischen Behauptungen ζ. B. auf alle Erkenntnisakte, deren Inhalte usw. beziehen, dann erhebt sich die - schon früher behandelte und negativ entschiedene - Frage nach einer unmittelbaren Erkenntnis u. a. der fremden Erkenntnisakte. Die Konklusion: Es ist nicht möglich, auf dem Boden der solipsistischen deskriptiv-phänomenologischen

Erkenntnistheorie

allgemeingültige

Be-

hauptungen zu gewinnen. ad 3. Man muß schließlich die Erfüllbarkeit des Postulates erwägen, nach dem die Behauptungen der Erkenntnistheorie unbezweifelbar, mithin absolut begründet sein sollen. Dies ließe sich von dem hier betrachteten Standpunkt aus nur im Falle der individuellen Behauptungen über (im Moment des Aufstellens der Behauptungen) aktuelle Bewußtseinserlebnisse

und deren Ele-

mente durchführen (denn diese sind uns in der immanenten Erfahrung gege-

556

2. Teil der Redaktion II/III Β

(1931^6?)

ben) 15 . Wir wissen aber leider, daß die Erkenntnistheorie allgemeine Behauptungen anstrebt, deren absolute Begründung sich durch Sammeln von individuellen Erfahrungen nicht gewinnen läßt, auch wenn diese einen so hohen Erkenntniswert besitzen wie die immanente Wahrnehmung. Wie man sieht, ist auch die zweite Auffassung der Erkenntnistheorie als deskriptiver Phänomenologie "meiner" Erkenntniserlebnisse und deren intentionaler Korrelate nicht haltbar, weil man in ihrem Rahmen keine Ergebnisse gewinnen kann, die den aus dem wissenschaftlichen Charakter der Erkenntnistheorie fließenden Postulaten genügen würden. Man kann von diesem Standpunkt aus höchstens eine Autobiographie der Erkenntniserlebnisse gewinnen, in keinem Fall aber eine Theorie, die a) Kriterien für eine Beurteilung des Erkenntniswertes einer bestimmten Art von Erkenntnissen und b) eine Beurteilung von grundlegenden Arten der Erkenntnis selbst liefern könnte. Es ist also notwendig, auch diese zweite Auffassung aufzugeben und zu einer neuen Bestimmung der Erkenntnistheorie, nämlich zur apriorisch-phänomenologischen Erkenntnistheorie überzugehen.

V.

Kapitel: Die apriorisch-phänomenologische Erkenntnistheorie

§ 22. Über die apriorische Erkenntnis, die Ideen und das Wesen des Gegenstandes Es ist klar, daß diese neue Auffassung sowohl den Resultaten der Auseinandersetzung mit der psychophysiologischen Erkenntnistheorie Rechnung tragen als auch die Mängel beseitigen muß, die bei der Besprechung der deskriptiv-phänomenologischen Erkenntnistheorie hervorgetreten sind. Es ist also notwendig, bei diesem neuen Versuch die Unumgänglichkeit der phänomenologischen Reduktion (der Erkenntnisreserve 16 ) anzuerkennen wie auch den Postulaten gerecht zu werden, die sich aus dem wissenschaftlichen Charakter der gesuchten Erkenntnistheorie ergeben. Die erste Frage ist also die, wie der 15 Ich übergehe dabei die Frage nach der Nachprüfbarkeit der adäquaten Gestaltung des Inhalts der Sätze. [Danach gestrichen: "und des methodischen Solipsismus".]

Die apriorisch-phänomenologische

Erkenntnistheorie

557

Forschungsgegenstand der Erkenntnistheorie bestimmt werden soll, damit sie streng allgemeine Sätze gewinnen kann, die sich auf dem Boden der Erkenntnistheorie selbst begründen lassen. Wir erleichtern uns wohl diese Aufgabe, wenn wir uns daran erinnern, daß wir eine Wissenschaft besitzen, in der strenge, allgemeine Sätze gewonnen werden können: die Mathematik. Es kann natürlich nicht darum gehen, die mathematische Methode auf die Erkenntnistheorie zu übertragen, wie dies die großen Rationalisten der neuen Philosophie des Kontinentes tun wollten. Im Gegenteil, es ließe sich zeigen, daß die Verwendung dieser Methode mit ihrem deduktiven Charakter die Erkenntnistheorie zugrunde richten würde. Es geht aber darum, ein gewisses Analogon zu dem Verfahren zu realisieren, das der Mathematiker defacto verwendet, wenn er versucht, die ersten Wahrheiten in den Axiomen festzulegen. Alles hängt von der Entscheidung der Frage ab, ob es möglich ist, bei der Gelegenheit des Erkennens eines Einzelfalles ein Erkenntnisresultat zu gewinnen, das für jedes Individuum einer Art gilt. Ich gehe auf diese Frage später ein. Daß es im Rahmen der mathematisch-formalen Untersuchungen eine apriorische Erkenntnis gibt, die etwas anderes ist als die empirische Erkenntnis, unterliegt wohl keinem Zweifel. Das nützt uns aber nicht viel, denn es steht ebenso außer Zweifel, daß die Gegenstände, die bei den Forschungen der Erkenntnistheorie überhaupt in Frage kommen, nicht von der Art mathematischer Gegenstände, gewisser formaler Strukturen sind. Es wird erst dann möglich sein, die erkenntnistheoretischen Untersuchungen auf eine neue Grundlage zu stellen, wenn es gelingt, die Möglichkeit einer apriorischen Erkenntnis bezüglich der qualitativ bestimmten Gegenstände, und zwar im Hinblick auf deren qualitative Bestimmung, aufzuweisen. Das hat E. Husserl eingesehen, und von ihm stammt eine bewußt ausgeführte Auffassung der apriorisch-phänomenologischen Erkenntnistheorie. 17 Beispiele der material-apriorischen Erkenntnis: 1. die Verwandtschaft der orangen Farbe zum Rot und zum Gelb:

17 Zum Problem des Wesens des Gegenstandes und der apriorischen Erkenntnis siehe: E. Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. II [Husserliana XIX/1], II. Untersuchung, J. Hering, "Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee", [Jahrbuch fir Philosophie und phänomenologische

Forschung, 4 (1921), S. 495-543,] R. Ingarden, "Essentiale

Fragen" [Ingarden (1925a)], H. Spiegelberg, "Über das Wesen der Idee" [Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische

Forschung, 11 (1930), S. 1-238].

558

2. Teil der Redaktion II/III Β

(1931^6?)

a) an einem Beispiel (Wiederholungen bringen nichts Neues), b) ohne Voraussetzung des realen Seins ("daseinsfrei", Meinong) 18 , c) die Unbezweifelbarkeit der gewonnenen These (im Gegensatz zur Erfahrung), d) die Notwendigkeit des Zusammenhangs, im Sinne: Es kann nicht anders sein, sofern α, β, γ das bleiben, was sie sind (Hume: relations of ideas, Negation). 2. Jede Farbe ist ausgedehnt (auf einer Fläche, einer Oberfläche oder im Raum), aber nicht jede Ausdehnung ist farbig. 3. Das intentionale Erlebnis "bestimmt" einen Gegenstand. 4. Eine Farbe kann man nicht naß machen (wie man einen Gegenstand, ein materielles Ding naß machen kann). Man kann nicht nur die Zusammenhänge zwischen Qualitäten, sondern auch das Wesen eines Gegenstandes a priori erkennen. So gehört es ζ. B. zum Wesen eines materiellen Gegenstandes, mag er auch noch so klein und innen leer sein, daß er ein Inneres hat. Um uns klar zu machen, was das Wesen eines (realen, idealen) Gegenstandes, die ideale Qualität und, korrelativ, was die apriorische Erkenntnis ist, müssen wir vorerst eine Reihe von Unterscheidungen durchführen und [mögliche] Mißverständnisse ausräumen. Vor allem muß man deutlich unterscheiden zwischen der Bedeutung des Wortes "apriorisch", die bei Kant erstmals erschienen ist und seit dieser Zeit geläufig wurde, und der Bedeutung, in der [dieses Wort] von den Phänomenologen gebraucht wird und die auch hier gemeint ist. Der Terminus "a priori" tritt bei Kant (es handelt sich hier ausschließlich um die "kritische" Phase seiner Ansichten) in verschiedenen Zusammenhängen auf und ist vieldeutig. Seine Bedeutung schließt in sich mehrere Momente, die Kant nicht immer in derselben Auswahl berücksichtigt, nämlich: a) "A priori" ist eine Erkenntnis (in Kants Sprache ein Urteil!), die "unabhängig von der Erfahrung" ist. Dabei wird unter "Erfahrung" die menschliche - sinnliche und innere - Erfahrung verstanden. Der Terminus "unabhängig

18 [Vgl. A. Meinong, Über Annahmen, (Gesamtausgabe, Bd. IV, Graz 1977), S. 202 f.; derselbe "Über die Stellung der Gegenstandstheorie im System der Wissenschaften", (Gesamtausgabe, Bd. V, Graz 1973, S. 197-365), S. 238 f.]

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von der Erfahrung" nimmt bei Kant zwei verschiedene Bedeutungen an, die von ihm weder deutlich einander gegenübergestellt noch präzisiert werden: α) [eine Erkenntnis], die "vor" der Erfahrung geht, mithin negativ - von der Erfahrung nicht hervorgerufen wird, die keine Folge (Wirkung?) der Erfahrung ist. Man weiß dabei nicht genau, ob dieses "vor" im zeitlichen Sinn verstanden werden darf; denn die "Zeit" liegt nur innerhalb der Erscheinungswelt vor. Dieser Welt liegen gerade apriorische Strukturen zugrunde, welche die der "Erfahrung" zugängliche Welt gleichsam erst "herstellen". 19 Indessen müßte die Erklärung, daß die "apriorischen" Formen (die in einem Urteil = in einer Erkenntnis auftreten) "vor" der Erfahrung gehen, nicht auf die Erscheinungswelt, sondern auf die Welt "an sich" bezogen werden (insbesondere auf das Erkenntnissubjekt, das jene Formen - wie wir sehen werden - in sich trägt, und zwar auf das Subjekt als "Ding an sich" und nicht als "Erscheinung"). Dort findet jedoch die Anschauungsform "Zeit" keine Anwendung. 2 0 ß) Daß [ein Urteil] "unabhängig von der Erfahrung" ist, bedeutet: daß es seinem Erkenntniswert nach im Verhältnis dem Erkenntniswert der Erfahrung gegenüber autonom ist, nämlich 1) daß [sein Erkenntniswert] durch den Wert der Erfahrung nicht bestimmt ist, 2) daß er ein eigener Wert der Erkenntnis (des Urteils) a priori ist, 3) daß er mit dem Wert der Erfahrung (ihren Resultate) nicht variiert. b) [Eine Erkenntnis] a priori = [eine Erkenntnis], die mit der Form des menschlichen Erkennens selbst zusammenhängt (oder besser: dazu gehört oder auch daraus entspringt), mit der Form, die eine letzte unveränderliche Tatsache der menschlichen Verfassung bildet (der anthropologische Apriorismus oder der Apriorismus in bezug auf das Ding an sich).

! 9 Vgl. unten. 20 Das, was Kant die "Erfahrung" nennt, schließt gleichsam zwei heterogene Momente ein: 1) eine Mannigfaltigkeit von "Eindrücken" (heute würden wir sagen: "Empfindungsdaten"), die den "Inhalt" oder die "Materie" der Erfahrung ausmachen, 2) eine Form, die gerade "a priori"

ist, nämlich Zeit, Raum und Kategorien. Ohne diese Form gibt es gar keine

"Erfahrung", und erst sie, zu der Materie der "Empfindungen" gleichsam hinzugesetzt, ergibt die "Erfahrung". Mit anderen Worten: Die "Erfahrung" ist ein Gebilde, das von den Empfindungen und der Form a priori "abgeleitet" ist. Diese Form "a priori" ist also etwas, was im Verhältnis zur Erfahrung "früher", ursprünglicher ist. Sie ist auch von der "Materie", d.h. den "Empfindungen" unabhängig.

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c) Diese Form der menschlichen Erkenntnis enthält eine ganze Reihe von Elementen, die insgesamt das "Objekt der Erkenntnis" konstituieren, im Gegensatz zu dem "Ding an sich" (der ursprünglichen Mannigfaltigkeit von Empfindungsdaten), das als solches nie das Erkenntnisobjekt bildet. Diese Formen sind: a. die Anschauungsformen - 1. Zeit, 2. Raum (so Kant - ist das aber sinnvoll?), b. Kategorien (Verstandesbegriffe). [...] 21 Die Form des Erkenntnisobjektes ist eine Kombination apriorischer Erkenntnisformen (die Kategorien, aus den Urteilsformen abgeleitet). d) Das Kantische Apriori ist eng mit den Urteilen (Sätzen) bzw. Urteilsakten verbunden (vgl. die "Tafel der Urteile"); dabei [gilt] die Gleichsetzung: Jede Erkenntnis erfolgt in den Urteilen, also "Erkennen" = "Urteilen". Dem entspricht nicht die Annahme der beiden Anschauungsformen Zeit und Raum, die mit der Urteilsfunktion nicht verbunden sind. e) Die Erkenntnis a priori bezieht sich nur auf die Form des Gegenstandes. Oder besser: Nur die Form des Erkenntnisobjektes ist apriorischer Herkunft, dagegen ist jede Materie des Erkenntnisobjektes empirischer Herkunft ("aus der Erfahrung"). (Man könnte meinen, die synthetischen Urteile a priori seien von diesem Standpunkt aus unmöglich; betrachtet man näher die Art und Weise, wie dieses Problem bei Kant gelöst wird, dann sieht man, daß er überall das formale Element - Raum, Zeit, Kategorien - ins Spiel bringt.) f) "Apriorisch" heißt: aus dem Subjekt stammend, subjektiv; alle analytischen Urteile sind a priori (im Zusammenhang mit [b] und [a]). g) Der absoluten Wirklichkeit (dem Ding an sich) gegenüber sind die apriorischen Erkenntniselemente ein Faktor, der die Erkenntnisresultate verfälscht. Diese Verfälschung erfolgt aber unvermeidlich (denn niemand kann "aus sich selbst herausgehen") und für jedes Erkenntnissubjekt. Das hängt mit dem folgenden Punkt zusammen: h) "A priori" ist eine Erkenntnis, wenn sie zu "allgemeingültigen" und "notwendigen" Resultaten führt - was Kant im Hinblick auf die mathematischen Wissenschaften annimmt, zugleich aber auf eigenartige Weise versteht:

21 [Hier stellt Ingarden die Liste der Kantischen Kategorien dar, so wie sie in der Kritik der reinen Vernunft zusammengestellt sind.]

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a. [Die Resultate der Erkenntnis a priori sind] "notwendig", weil wir tatsächlich (durch den Fatalismus unserer psychischen Struktur) nicht anders erkennen können; sie sind also notwendig nicht vermöge der Zusammenhänge^ die im Gegenstand nicht anders sein können, sollen die Elemente so sein, wie sie sind, sondern vermöge der faktischen Struktur der menschlichen Erkenntnisoperationen, b. "allgemeingültig": gültig für alle menschlichen Subjekte mit eben dieser faktischen Struktur und nicht für jedes Subjekt, das dazu "qualifiziert" ist, das Objekt zu erkennen. i) Es gibt beim Menschen keine intellektuelle Intuition, also kein unmittelbares materiales Apriori (es fehlt jede Beschreibung apriorischen Erkennens). Die phänomenologische Auffassung der Erkenntnis a priori unterscheidet sich radikal vom Kantischen Begriff des Apriori, obwohl die beiden Auffassungen Gemeinsamkeiten aufweisen (eher in den Punkten, die Kant von Hume übernommen hat). I. Die gemeinsamen Punkte A. Die apriorische Erkenntnis ist "unabhängig von der Erfahrung". Diese Unabhängigkeit wird jedoch bei den Phänomenologen etwas anders verstanden. Daß die apriorische Erkenntnis "unabhängig von der Erfahrung" ist, bedeutet nämlich bei den Phänomenologen, daß die Wahrheit der apriorischen Urteile (oder die Objektivität der unmittelbaren Erkenntnis a priori) autonom ist gegenüber dem Erkenntniswert der sinnlichen, inneren und immanenten Erfahrung, in der die individuellen Tatsachen oder Gegenstände gegeben sind. Welchen Wert auch immer die "Erfahrung" haben mag, die apriorische Erkenntnis hat immer a) ihren eigenen Wert und b) einen Wert, der sich mit der eventuellen Veränderung des Erkenntniswertes der Erfahrung nicht verändert. Zugleich bestehen die folgenden Unterschiede in der [phänomenologischen] Verständnisweise des in Rede stehenden Terminus gegenüber der Kantischen: 1) Die apriorische Erkenntnis ist (zeitlich) nicht früher als die Erkenntnis a posteriori. 2) Der Umfang der Gegenstände, die der apriorischen Erkenntnis eines besonders organisierten Erkenntnissubjekts (z. B. des Menschen) zugänglich

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sind, ist durch die faktische Organisation dieses Subjekts (ζ. B. seine psychophysische Natur) bestimmt, womit auch eine Begrenzung des Anwendungsbereichs der Erkenntnis a posteriori einhergeht. Das bedeutet aber nicht, daß die Erkenntnis a priori innerhalb genau derselben Grenzen eingeschlossen ist, die der aposteriorischen Erkenntnis durch die faktische Natur des Subjekts gesetzt sind. Denn man kann apriorisch verschiedene Möglichkeiten erkennen, die der Erfahrung entzogen sind. Nichtsdestoweniger kann man zugeben, daß jemand, der durch seine faktische Konstitution der Erkenntnis gewisser ursprünglicher Qualitäten (ζ. B. der Farben) entbehrt, auch die entsprechenden apriorischen Erkenntnisse nicht gewinnen kann. Die Frage nach dem Verhältnis der Reichweiten der beiden Erkenntnisarten und nach der Abhängigkeit des Anwendungsbereichs der Erkenntnis a priori vom Anwendungsbereich der Erkenntnis a posteriori ist nicht so einfach und erfordert eine weitere Klärung. 3) Die Resultate der apriorischen Erkenntnis werden gewöhnlich zeitlich später gewonnen als die Resultate der Erfahrung. Sie übertreffen mit ihrem logischen oder - allgemeiner - ihrem Erkenntniswert die aposteriorischen Erkenntnisresultate. Einen ähnlichen Standpunkt vertritt Kant, nur hat die Überlegenheit des Wertes der Erkenntnis a priori nach Ansicht der Phänomenologen einen anderen

Gründl

B. Die apriorische Erkenntnis ist "allgemeingültig" und führt zur Entdekkung der "Notwendigkeits"zusammenhänge. Die beiden Punkte werden jedoch bei den Phänomenologen wiederum etwas anders verstanden als bei Kant. Man muß nämlich nach den Phänomenologen Kants anthropologische Deutung der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit beiseite lassen und 1) die Allgemeingültigkeit als die Gültigkeit für jedes Subjekt verstehen, das dazu qualifiziert ist, das Objekt der betreffenden apriorischen Erkenntnis zu erkennen (für ein Subjekt, das dazu nicht qualifiziert ist, in dem Sinne, daß die betreffenden apriorischen Sätze auch für dieses Subjekt gelten, nur daß es selbst darüber nichts sagen kann); oder vielleicht sogar als die Gültigkeit für jedes Subjekt überhaupt? Die Gültigkeit würde dabei nicht als das faktische Für-wahr-Halten, sondern als eine "Verpflichtung" verstanden, die jedes Erkenntnissubjekt trägt, so wie das "Recht" für alle gilt, mag es bekannt sein

22 Vgl. unten.

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oder nicht. Denn die Wahrheit der Sätze (übrigens aller Art!) ist nicht vom consentium des Erkenntnissubjekts, sondern allein vom Verhältnis zwischen dem Inhalt des Satzes und einem autonom bestehenden (entsprechend bestimmten) Sachverhalt abhängig. 2) Die Notwendigkeit [der Erkenntnis a priori] ist in dem Sinn zu verstehen, daß die Leugnung eines apriorisch entdeckten Resultats zu einem Widerspruch führt (Hume). Die Erkenntnis a priori ist notwendig, insofern als sie in der Beschaffenheit des Objekts und nicht - wie bei Kant! - des Subjekts der Erkenntnis begründet ist. II. Die prinzipiellen Unterschiede zwischen den beiden Auffassungen A. Die apriorische Erkenntnis ist keine Erkenntnis, die das Erkenntnisobjekt (in Gegenüberstellung zu irgendeinem unerkennbaren "Ding an sich") erzeugt, sondern sie ist eine ebenso das Erkenntnisobjekt vorfindende Erkenntnis wie die aposteriorische. Das schließt nicht aus, daß das Subjekt, um eine Erkenntnis a priori zu gewinnen, gewisse besondere subjektive Operationen durchführen muß, die ihm einen Zugang zu entsprechenden Erkenntnisobjekten ermöglichen, daß es dieses Objekt entdecken muß. Welche diese Operationen sind, überlegen wir später. B. In der unmittelbaren Erkenntnis a priori ist das Erkenntnisobjekt dem Subjekt im Original (genauer: als selbstgegenwärtig) gegeben, auf eine ähnliche, obwohl natürlich nicht auf die gleiche Weise wie in der sog. Erfahrung. Dieser Unterschied der Gegebenheitsweise des Objekts der Erkenntnis a priori gegenüber [deijenigen] der Erkenntnis a posteriori (der "Erfahrung") macht einen wesentlichen und entscheidenden Unterschied zwischen den beiden Arten der Erkenntnis aus. Man kann sich aber [mit dem Hinweis auf diesen Unterschied] nicht begnügen, sondern man muß angeben, worin er besteht. Besteht dieser Unterschied nicht darin, daß in der (sinnlichen oder inneren) Erfahrung die Gegenstände a) durch Ansichten und b) transzendent gegeben sind, während in der apriorischen Erkenntnis, sofern sie überhaupt zustande kommt, die Gegebenheit der idealen Qualitäten und der Zusammenhänge zwischen ihnen ohne Ansichtsverkürzungen erfolgt und sie keine Unvollständigkeit aufweist, wie es für jede individuelle, transzendierende Erfahrungserkenntnis kennzeichnend ist? In der eidetischen Erkenntnis stellen wir nicht das Sein (das faktische Bestehen), sondern die Möglichkeit und die aus der Möglichkeit gewisser Qualitäten fließenden Notwendigkeitszusammen-

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hänge fest. Die Möglichkeit des Seins gewisser Qualitäten stellen wir aber am Beispiel der "Realisation" dieser Qualitäten fest. Wollten wir als "Erfahrung" jede Erkenntnis bezeichnen, deren Gegenstand dem Erkenntnissubjekt selbstgegeben ist, dann könnte man sagen, daß es zwei prinzipiell verschiedene Arten der Erfahrung gibt: a) unmittelbare Erkenntnis a priori und b) unmittelbare Erkenntnis a posteriori (ζ. B. sinnliche Wahrnehmung). C. Die Erkenntnis a priori ist kein Faktor, der die Wirklichkeit verfälscht (verdeckt) - wie es nach Kant sein soll - , sie ist aber auch keine Erkenntnis, die sich direkt auf die "Wirklichkeit" (genauer: auf die realen Gegenstände) bezieht. Wenn ihre Resultate auf die realen Gegenstände und Sachverhalte bezogen werden können, so kann dies nur indirekt und vermöge der ontologischen Zusammenhänge geschehen, die zwischen verschiedenen Sphären und Typen des Seienden bestehen. Die apriorische Erkenntnis in reiner Gestalt ist eine Erkenntnis, die dem Erkenntnissubjekt gewisse besondere, irreale Erkenntnisgegenstände enthüllt: die allgemeinen und die besonderen Ideen, die idealen Qualitäten und die Zusammenhänge zwischen ihnen, und zwar in der Gestalt, die ihnen selbst eigen ist. Tritt sie in einer besonderen Gestalt auf, der die aposteriorische Erkenntnis beigemischt wird (genauer: in Verbindung mit den Akten, die sich auf individuelle Gegenstände richten und außerdem das Moment faktischer Daseinssetzung beschlossen), dann betrifft diese angewandte Erkenntnis a priori nur eine besondere Seite der individuellen, insbesondere der realen Gegenstände, nämlich deren sog. Wesen. D. Die Erkenntnis a priori ist weder 1) mit der allgemeinen Form jeder menschlichen Erkenntnis noch 2) mit der Form des

Eckenntmsgegenstandes,

noch 3) mit der Form des Urteils verbunden, wie dies Kant behauptet. ad 1) Dieser Punkt fällt mit der Unterscheidung zweier verschiedener Probleme weg: a) [des Problems] des Unterschieds zwischen mannigfachen grundlegenden Arten der Erkenntnis und b) [des Problems] der sogenannten transzendentalen Genese des Erkenntnisgegenstandes23,

die sich bei Kant

eigentümlich miteinander verwoben und dabei den Charakter von anthropologischen Problemen angenommen haben. Der phänomenologische Apriorismus hat mit dem anthropologisch-transzendentalen Apriorismus Kants nichts zu tun. Die Erkenntnis a priori ist nach den Phänomenologen nicht eine

23 Vgl. Kants "Transzendentale Deduktion der Verstandesbegriffe",

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besondere Weise des Erkennens, die für eine bestimmte Art ("homo sapiens") charakteristisch wäre, sondern sie ist im Gegenteil die Art des Erkennens, die das Subjekt eines besonderen Typus über den Bereich seiner besonderen Erkenntnisweise (z. B. der menschlichen "Erfahrung") hinausführt, und zwar in dem Sinne, daß das, was auf gültige Weise von einem Subjekt des Typus A festgestellt wird, fürjedes Erkenntnissubjekt (eventuell des Typus B) gilt, das überhaupt zu dem bezüglichen Gegenstand einen Erkenntniszugang hat. Mit anderen Worten: Der Bereich der Gegenstände, die der Erkenntnis a priori zugänglich sind, sowie der gültigen Ergebnisse, die in der apriorischen Erkenntnis gewonnen werden, bildet ein System von "Invariablen", die für jedes beliebige Erkenntnissubjekt (unter der Voraussetzung des Erkenntniszugangs) "konstant" bleiben (Husserl sagt manchmal: "auch kein Gott kann daran etwas ändern, daß z. B. 2 mal 2 4 gibt") 24 und von dieser oder jener zufälligen faktischen Struktur des Erkenntnissubjekts unabhängig sind. Der Begriff der "Erkenntnis a priori" ist also bei den Phänomenologen auf das genauste vom Bedeutungsmoment dieses Terminus bei Kant gereinigt, das bewirkt, daß man z. B. statt des Ausdrucks "apriorischer Faktor" den Ausdruck "subjektiver Faktor" gebrauchen kann. Die ganze damit bei Kant verbundene Konzeption der "subjektiven Anschauungsformen" und Kategorien ("Verstandesbegriffe"), welche die Form des Erkenntnisgegenstands bilden, entbehrt somit für die phänomenologische Auffassung der Erkenntnis a priori jedweder Bedeutung, wenn es sich auch nicht leugnen läßt, daß Kants transzendentalistische Problematik nicht ohne sachliche Grundlage ist. Ich werde auf diese Problematik noch zurückkommen. ad 2) Die Erkenntnis a priori im phänomenologischen Verständnis ist nicht an die Form des Erkenntnisgegenstandes "gebunden", d. h. betrifft nicht nur den formalen Aufbau des Gegenstandes (Kant ist übrigens hierin nicht konsequent, denn er rechnet zum Gebiet der apriorischen Erkenntnis auch die Erkenntnisse, die den Raum betreffen - die Geometrie). Nach Ansicht der Phänomenologen kann es ebensogut eine apriorische Erkenntnis bezüglich der "Materie", d. h. der qualitativen Ausstattung des Gegenstandes geben. Die grundlegenden apriorischen Forschungen der Phänomenologen finden im Be24

[Vgl. E. Husserl, ideen I, S. 81 (Husserliana ΙΠ/l, hrsg. von Κ. Schuhmann, S. 92). Genauer: "Kein Gott kann daran etwas ändern, so wenig wie daran, daß 1+2=3 ist, oder daran, daß irgendeine sonstige Wesenswahrheit besteht."]

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reich des sog. "materialen" Apriori statt - sie betreffen die möglichen oder die notwendigen Zusammenhänge zwischen Qualitäten. ad 3) Wenn sie die unmittelbare Erkenntnis a priori anerkennen, leugnen damit die Phänomenologen, daß die apriorische Erkenntnis in einem besonderen Zusammenhang mit der Form bzw. den [verschiedenen] möglichen Formen des Urteils stehe. Bei Kant können in jeder Erkenntnis (bzw. in jedem Erkennen) von Gegenständen die "apriorischen" (aus der Natur = Form der menschlichen Erkenntnis fließenden) und die aposteriorischen Faktoren unterschieden werden. Eine rein apriorische Erkenntnis findet nur im Falle der Erkenntnis der Form von Gegenständen (der Form von irgend etwas) statt. Vom phänomenologischen Standpunkt aus liegen auch Fälle vor, in denen wir es mit den apriorischen und empirischen Elementen des zu Erkennenden zu tun haben, insofern als die uns ζ. B. in der sinnlichen Erfahrung gegebenen Gegenstände "Exemplare" von gewissen nicht-individuellen Gegenständen sind und infolgedessen den Gesetzen unterliegen, die für diese nicht-individuellen Gegenstände (Ideen) ermittelt worden sind. In diesem Fall werden jedoch die Resultate der apriorischen Erkenntnis auf die individuellen, in der Zeit existierenden Gegenstände allein angewendet

und für die Rechtmäßigkeit dieser

Anwendung - für die Seinssetzung der Gegenstände, auf die diese Resultate zutreffen - ist die empirische (aposteriorische) Erkenntnis verantwortlich. Es wurde schon vor langer Zeit, eigentlich bereits bei den Eleaten, auf jeden Fall aber und mit aller Deutlichkeit bei Piaton, bemerkt, daß sich nicht von allem, worüber wir wahre Urteile zu fällen scheinen, behaupten läßt, daß es in der Zeit existiere, d. h. daß es an einem bestimmten Zeitmoment entstehe, daß es sich verändere, während es eine Zeitlang dauere, daß es schließlich früher oder später aufhöre, zu existieren. Im Laufe der Geschichte der Philosophie wurden allerdings mit dieser Tatsache verschiedene Theorien verbunden. Die einen - wie etwa Piaton - benützten sie, um auf ihrer Grundlage umfassende metaphysische Theorien (die Ideenlehre) zu errichten; die anderen versuchten, diese Tatsache zu leugnen oder wenigstens (wie J. St. Mill) den Schein ihres Bestehens zu erklären. 25 Unterschiedlich wurde auch zu ver-

25 [Vgl. J. St. Mill, System der deduktiven und induktiven Logik. Eine Darlegung der Grundsätze der Beweislehre und der Methoden wissenschaftlicher Forschung, Leipzig 1869.]

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schiedenen Zeiten der Umfang (die Klasse) der Gegenstände umgrenzt, von denen sich nicht sinnvoll sagen läßt, daß sie in der Zeit existierten. In der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts schienen alle Theorien, welche die Existenz der nicht-zeitlichen Gegenstände anerkennen, für immer vergessen zu sein. Indessen begannen gegen Ende dieses Jahrhunderts und um die Wende zum XX. Jahrhundert von verschiedenen Seiten Ansichten wieder lebendig zu werden, welche die Unmöglichkeit nachwiesen, die Existenz der außerzeitlichen, irrealen ("idealen") Gegenstände zu leugnen, und versuchten, diese Gegenstände auf positive Weise neu zu bestimmen. Die Unmöglichkeit, die idealen Gegenstände bzw. Qualitäten zu verwerfen, versuchte vor allem Edmund Husserl in der II. Untersuchung des II. Bandes seiner Logischen Untersuchungen nachzuweisen. Husserl bespricht dort die wichtigsten Theorien (Lockes, Berkeleys, Humes und Mills), welche die Existenz der idealen Gegenstände verneinen. (Im Jahre 1894 hat Prof. Twardowski in seiner Abhandlung Zur Lehre vom Gegenstand und Inhalt der Vorstellungen die sog. "allgemeinen Gegenstände" eingeführt 26 , mit denen der Verfasser - obwohl unter einem anderen Namen und ohne Betonung ihrer Unzeitlichkeit - ohne Zweifel die idealen Gegenstände meint. Seine Bestimmungsweise der idealen Gegenstände läßt sich jedoch nicht halten und führt zu einem Widerspruch, wie dies bei uns Prof. St. Lesniewski in Warschau gezeigt hat. 27 Die Tatsache, daß die "allgemeinen Gegenstände" [bei Twardowski] falsch bestimmt sind, reicht aber noch nicht aus - wie Lesniewski und nach ihm Kotarbiñski 2 8 und der sog. "Warschauer Kreis" irrtümlich glaubten - , um die Nichtexistenz der idealen Gegenstände [berechtigterweise] zu behaupten. Ich kann hier auf die Einzelheiten nicht eingehen.) In den Logischen Untersuchungen selbst ist aber die positive Theorie der idealen Gegenstände noch nicht sehr ausgearbeitet, und in der Darlegung werden verschiedene ideale Gegenstände miteinander vermengt. Trotzdem

Ofi [Vgl. K. Twardowski, Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen, Wien η

1894, S. 105.] [Vgl. S. Lesniewski, "The critique of the logical principle of the excluded middle" (Collected Works, Dordrecht 1992, Bd. I, S. 47-85), S. 49-52; derselbe, "On the foundations of

9 0

mathematics" (Collected Works,istnienia Dordrecht 1992, Bd. I,idealnych" S. 174-382), S. 198,199.] [Vgl. T. Kotarbiñski, "Sprawa przedmiotow (Problem der Existenz der idealen Gegenstände), Przeglqd Filozoficzny,

23 (1920), S. 149-170.]

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waren diese Betrachtungen in Husserls Logischen Untersuchungen bahnbrechend. Erst die späteren Jahre (nach 1910) bringen weitere Forschungen in dieser Richtung.29 Nach dem heutigen Forschungsstand dürften drei Arten von idealen Entitäten unterschieden werden: a) die individuellen idealen Gegenstände (ζ. B. zwei eindeutig bestimmte kongruente Dreiecke), b) die - allgemeinen und besonderen - Ideen (ζ. B. "das Quadrat im allgemeinen"), c) die idealen Qualitäten (ζ. B. die Rotheit, die Geradheit). Von diesen drei Arten der idealen Entitäten muß man noch "das Wesen eines Gegenstandes", u.a. "das Wesen eines realen Gegenstandes" unterscheiden, das mit ihnen oft verwechselt wird. Es läßt sich dabei nicht leugnen, daß zwischen den idealen Entitäten und dem "Wesen eines Gegenstandes" ein sachlicher Zusammenhang besteht, man muß aber betonen, daß das Wesen eines realen Gegenstandes selbst ebenso real und nicht-zeitlos ist wie der Gegenstand, dessen Wesen es bildet. Ich werde noch darauf zurückkommen. 1. Die idealen Gebilde, die ich - in Abhebung von anderen idealen Entitäten - die "Ideen" nenne, treffen wir in den Fällen an, in denen sich ein Gegenstand oder ein Vorgang mehrmals "wiederholt". (Ebenso wie wir die "idealen Qualitäten" gewöhnlich dort antreffen, wo wir es mit zwei in einer qualitativen Hinsicht "gleichen" Gegenständen zu tun haben. Nicht immer muß uns aber die Zusammenstellung von zwei solchen Gegenständen zur Entdeckung einer idealen Qualität führen.) Die Idee unterscheidet sich von allen anderen Entitäten (insbesondere von allen "Gegenständen" durch ihren besonderen formalen Aufbau. Sie zeichnet sich durch eine spezifische Doppelseitigkeit aus: Einerseits besitzt jede Idee

29 Siehe: [E.] Husserl, Ideen I [(Husserliana ΙΠ/1, hrsg. von K. Schuhmann)], I. Kap.: "Tatsache und Wesen", [M.] Scheler, Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik [(Gesammelte Werke, Band 2, Bern und München 1966)], J. Hering, "Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee" [Jahrbuch fiir Philosophie und

phänomenolo-

gische Forschung, 4 (1921), S. 495-543], R. Ingarden, "Essentiale Fragen" [Ingarden (1925a)], H. Spiegelberg, "Über das Wesen der Idee" [Jahrbuch fiir Philosophie und phänomenologische Forschung, 11 (1930), S. 1-238].

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einen Komplex von Merkmalen, der sie qua idea charakterisiert, andererseits besitzt sie einen "Gehalt", durch den sie die Idee von etwas (in besonderen Fällen die Idee eines Dinges, eines Vorgangs usw.) ist. Die Idee enthält in ihrem Gehalt ideale Korrelate der Eigenschaften, der formalen Struktur und der existenzialen Momente der Gegenstände [bzw. des Gegenstandes], deren (bzw. dessen) Idee sie ist. Gerade die Gesamtheit dieser Korrelate nenne ich den "Gehalt der Idee". Die Bestandteile des Gehalts einer Idee sind nicht deren Merkmale, auch wenn sie ideale Korrelate der Merkmale der Gegenstände sind, die unter die betreffende Idee fallen. Die Doppelseitigkeit des Gehalts der Idee ist einer ihrer Züge, die zum Komplex ihrer Merkmale qua idea gehören. Mit Rücksicht darauf (obwohl vielleicht ohne klares Bewußtsein dieser Tatsache), daß die Idee die idealen Korrelate von Merkmalen und anderen Momenten der Gegenstände enthält, die unter die betreffende Idee fallen (oder die individuelle Exemplare der betreffenden Idee bilden) behauptete man im Gefolge Piatons, die Idee eines Gegenstands X sei ein Prototypus, ein Urbild des Gegenstands X. Umgekehrt nennen wir den Gegenstand eine Konkretisation, insbesondere eine Realisation der entsprechenden Idee. 2. Der zweite Wesenszug der Idee qua idea ist, daß im Ideengehalt jeder Idee zweierlei Bestandteile auftreten: a) die "Konstanten des Ideengehalts" und b) die "Veränderlichen des Ideengehalts". Die "Konstanten des Ideengehalts" sind ideale und im Gehalt einer Idee actualiter auftretende Konkretisationen der eindeutig bestimmten idealen Qualitäten oder Momente der unter die betreffende Idee fallenden Gegenstände, die diese Gegenstände besitzen können, sofern sie durch die Konkretisation der Konstanten des Ideengehalts konstituierte Gegenstände sind, die sie aber nicht zu besitzen brauchen.30 3. Es gibt zwei Arten von "Veränderlichen" des Ideengehalts: a) die Veränderlichen, bei denen ein Gegenstand X einer Idee Y nicht alle Einzelfälle der Veränderlichen besitzen muß und kann, bei denen er aber einen dieser Einzelfälle besitzen muß; b) die Veränderlichen, bei denen diese Notwendigkeit nicht besteht, sondern nur die Möglichkeit vorliegt, diesen oder jenen Wert einer Veränderlichen des Ideengehalts zu besitzen.

30 [Dazu in Klammern: "Erläutern am Beispiel der Idee des Parallelogramms!"]

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4. Sowohl die "Veränderlichen" als auch die "Konstanten" des Ideengehalts können a) qualitativ (im weiten Sinne), b) formal oder c) existenzial sein. 31 5. Die Ideen können im Hinblick auf ihren Gehalt in drei Gruppen eingeteilt werden: a) die Ideen der Gegenstände (Gegenstandsideen), b) die Ideen der Ideen, c) die Ideen der idealen Qualitäten. 6. Die Gegenstandsideen (oder zumindest diese Ideen, eventuell auch andere) teilen wir ein in a) besondere (spezielle) Ideen und b) allgemeine Ideen. 7. Eine Idee ist speziell, wenn ein individueller (in jeder Hinsicht eindeutig durch die niedersten Spezifikationen der idealen Qualitäten bestimmter) Gegenstand ihre unmittelbare Konkretisation bildet; mit anderen Worten: wenn in ihrem Gehalt keine qualitative Veränderliche auftritt und der Komplex der Konstanten des Ideengehalts die volle qualitative Ausstattung des Gegenstands der Idee (sein POION EINAI und sein TI EINAI) erschöpft. Die Veränderlichen des Gehalts einer speziellen Idee sind eventuell nur 1) die Momente der zeitlichen und der räumlichen Lokalisation, 2) die Momente, die den modus existentiae bilden, 3. das momentum individuationis. So gehört es zu den Konstanten [des Gehalts seiner Idee], daß der Gegenstand X vom Typus der realen Gegenstände ist, zu den Veränderlichen [des Gehalts dieser Idee] dagegen, daß er tatsächlich existieren oder nicht existieren kann. Die tatsächliche Existenz eines Gegenstands ist in keinem Fall durch den Gehalt seiner Idee bestimmt. 32 Das gleiche bezüglich des momentum individuationis. 8. Die Idee ist allgemein, wenn sie in ihrem Gehalt mindestens eine qualitative Veränderliche enthält (z.B. die Idee des Parallelogramms, die Idee "Mensch" usw.). Gewöhnlich ist es aber so, daß im Gehalt einer allgemeinen Idee nicht nur eine, sondern eine ganze Reihe von qualitativen Veränderlichen auftreten.

31 [Dazu in Klammem: "Erläutern an Beispielen!"] 32 Vgl. demgegenüber andere Betrachtungen Descartes' (Meditationes) zur Idee von Gott. [Vgl. R. Descartes, Meditationes de prima philosophia/Meditationen

über die Grundlagen

der Philosophie, auf Grund der Ausgaben von Artur Buchenau neu hrsg. von Lüder Gäbe, Hamburg 1959 (2 Aufl. 1977).]

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9. Zwischen den Ideen, besonders zwischen den allgemeinen Ideen zeichnet sich eine Stufenfolge ab: Man kann von mehr oder weniger allgemeinen Ideen, von der Unterordnung einer Idee A unter eine andere Idee Β sprechen. Um dies zu erläutern, müssen wir dem formalen Aufbau des Gegenstands etwas Aufmerksamkeit widmen. 10. Das Schema des formalen Aufbaus des Gegenstandes33 Jeder Gegenstand ist das Subjekt einer unendlichen Mannigfaltigkeit von miteinander auf kontinuierliche Weise verbundenen Merkmalen und bildet zusammen mit seinen Merkmalen (von denen er sich nicht abtrennen läßt und die sich von ihm nicht abtrennen lassen) eine einheitliche, abgeschlossene und getrennte Seinssphäre. (Mit anderen Worten: a) Der Gegenstand ist nicht eine einfache Klasse seiner Merkmale, b) nicht alles, was sich an einem Gegenstand unterscheiden läßt, ist sein Merkmal.) Ein wesentliches Merkmal erfüllt seine "Funktion" (seine Rolle im Gegenstand = Ganzen) dadurch, daß es, indem es mit anderen Merkmalen zusammen auftritt, das Subjekt der Merkmale durch seine Qualität bestimmt. Das heißt: Die Qualität des Merkmals bestimmt mittelbar den Gegenstand als Subjekt von Merkmalen (unmittelbar bestimmt sie nämlich das Merkmal selbst) und auf eine noch mittelbarere Weise bestimmt diese Qualität den Gegenstand als abgegrenzte Seinssphäre, nämlich durch Vermittlung der Tatsache, daß das Subjekt der Merkmale unmittelbar durch das Merkmal und mittelbar durch die Qualität des Merkmals qualifiziert wird. Das Subjekt der Merkmale wird nicht nur durch die ihm zukommenden Merkmale (und mittelbar durch die Qualitäten dieser Merkmale), sondern auch unmittelbar durch die Qualität des Subjekts qualifiziert. (Es ist also nicht wahr, daß das Subjekt der Merkmale - wie die englischen Empiristen Locke, Berkeley und Hume behaupteten - überhaupt nicht unmittelbar qualifiziert wird.) Die das Subjekt der Merkmale unmittelbar qualifizierende Qualität, in der Funktion des Qualifizierens dieses Subjekts genommen, nenne ich die "Natur des Gegenstands". Die Natur des Gegenstands - das qualifizierte Subjekt der Merkmale selbst - qualifiziert ipso facto die ganze Seinssphäre, deren Subjekt das durch

33 Das Wort "Gegenstand" gebrauche ich im Sinne von "individueller Gegenstand". Außerdem ist nicht alles, was ist, ein Gegenstand.

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diese Natur qualifizierte Subjekt ist. Das ergibt sich schon daraus, daß das durch sie material qualifizierte Subjekt der Merkmale formal eben das Subjekt der Merkmale, das Subjekt der ganzen Seinssphäre ist. Daher ist die Natur des Gegenstands gerade die Natur des ganzen Gegenstands als gesonderter Seinssphäre. Ich nenne sie auch die "individuelle konstitutive Natur", um zu betonen, daß sie den und nur den Gegenstand konstituiert, dessen Natur sie ist, ja daß das qualitative Moment der individuellen Natur des Gegenstands wenigstens de iure völlig eigenartig ist. Ohne zu entscheiden, ob jeder Gegenstand durch eine individuelle Natur konstituiert ist, behaupte ich, daß es in der Situation, wo dies der Fall ist, keinen anderen Gegenstand gibt, der durch die Natur mit einem identischen qualitativen Moment qualifiziert ist. (Korrelativ gesprochen: In all diesen Fällen ist die besondere Idee zugleich eine individuelle Idee.) Jeder Gegenstand hat aber seine Natur: Bei jedem läßt sich die Frage: "Was ist das?" beantworten. Nicht jede Qualität kann die Funktion der "Natur des Gegenstands" erfüllen. Es gibt Qualitäten, die dazu sozusagen speziell disponiert sind. Wenn es scheint, es sei anders, d. h. jede Qualität könne die Natur eines Gegenstands sein, so wird dieser Schein durch die Tatsache erweckt, daß wir manchmal den Qualitäten, die sich dafür eignen, die Merkmale, nicht aber unmittelbar das Subjekt zu qualifizieren, intentional jene Rolle, die Natur eines Gegenstands zu sein, zuweisen, [und zwar,] daß wir den Gegenstand sub specie der Qualität eines Merkmals (sogar eines strenggenommen relativen Merkmals) auffassen und somit dieses Merkmal zur Quasi-Natur des Gegenstands machen. Die Natur des Gegenstands - von ihrer qualitativen Seite her betrachtet kann entweder 1) eine absolut einfache und spezifische (ursprüngliche) Qualität oder 2) eine abgeleitete Qualität, die aber keine Klasse von Qualitäten, sondern wieder eine spezifische Qualität ist, oder 3) ein qualitatives Konglomerat sein. ad 1) Wenn die Natur des Gegenstands ihrer Qualität nach absolut einfach und ursprünglich ist, dann läßt sich der Gegenstand im Hinblick auf seine Natur in keine Klasse einordnen, deren konstitutives Moment 34 eine von der

34 Vgl. "Essentiale Fragen" [Ingarden (1925a)].

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Qualität der Natur verschiedene Qualität ist (obwohl er sich natürlich nach seinen anderen Momenten klassifizieren läßt). ad 2-3) Wenn die Natur des Gegenstands eine abgeleitete Qualität oder ein (eventuell nicht zufälliges 35 ) Konglomerat ist, dann lassen sich in der Natur des Gegenstands einfachere qualitative Momente unterscheiden, die sich auf besondere Weise bedingen und hierarchisch angeordnet sind (ζ. B. die Quadratheit, die Parallelogrammheit, die Vieleckigkeit usw.). Keines der Momente, die in der Natur des Gegenstands unterschieden sind, kann für sich allein den Gegenstand konstituieren, jedes ist doppelt unselbständig (es gibt keinen Gegenstand, der nur ein Parallelogramm ist). Es ist aber möglich, ein solches Moment dazu zu gebrauchen, die Natur des Gegenstands intentional zu bilden (gattungs- und artmäßige Quasi-Naturen). Der intentionale Übergang von einem Gegenstand, der nur sub specie seiner (eventuell individuellen) Natur aufgefaßt wird, zu "demselben" Gegenstand, der aber sub specie eines der in seiner Natur enthaltenen Momente ("höherer Stufe") aufgefaßt wird (wodurch wir dieses Moment zugleich intentional zur gattungsmäßigen Quasi-Natur machen), ist zwar eine subjektive Operation, die das Bild des Gegenstands bis zu einem gewissen Grad verdreht (sie verschiebt intentional das Gewicht seiner einzelnen Elemente), die aber die Wirklichkeit noch nicht verfälscht, so wie dies in dem Fall geschieht, wo wir die Qualität eines der Merkmale (für irgendwelche weiteren Zwecke) zur Natur des Gegenstands machen. Statt das Individuum einfach in seiner absolut eigenen Natur zu nehmen, betrachten wir es als Exemplar einer Gattung oder Art. Das ist eine besondere Weise, sich auf individuelle Gegenstände zu beziehen, die es uns einerseits erlaubt, uns den Gattungen (Arten) immer höherer Stufe zuzuwenden, die uns aber andererseits dazu veranlaßt, etwas im Gegenstand - seine konkrete Natur - zu verkennen. Es ist übrigens nicht ausgeschlossen, daß wir in den meisten Fällen die Gegenstände nicht in ihrer absoluten Individualität, sub specie ihrer Natur, sondern lediglich als Exem-

35 Unter den idealen Qualitäten bestehen besondere Zusammenhänge und Zuordnungen, welche die Existenz einer Qualität A in concreto nur unter der Bedingung gestatten, daß im Ganzen ein und desselben Gegenstands eine andere ideale Qualität (bzw. mehrere solche Qualitäten) konkretisiert sind; so kann z.B. ein Gegenstand X nur dann "rot" sein, wenn er überhaupt "farbig" ist, und beides nur dann, wenn er "ausgedehnt" ist usw.

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2. Teil der Redaktion ll/III Β

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piare von höheren oder niedrigeren Gattungen und Arten erkennen (Bergson behauptet dergleichen!). Zwischen (a) der Natur des Gegenstands (bzw. den darin implicite enthaltenen Momenten) und (b) den Merkmalen des Gegenstands bestehen mannigfache Zusammenhänge und Abhängigkeiten, deren nähere Erforschung es u. a. erlaubt, uns einen Begriff des Wesens des Gegenstandes zu bilden. Zuerst müssen wir aber auf das Problem der Hierarchie zwischen den Ideen zurückkehren. 11. Die Hierarchie der Ideen Die im Gehalt der Idee auftretenden Bestandteile spiegeln nicht nur die qualitative Ausstattung der Gegenstände, sondern auch die formalen Zusammenhänge zwischen Momenten und Elementen des Gegenstandes wieder. Diese Zusammenhänge deuten sich im Aufbau der Sätze an, durch die der Gehalt einer Idee expliziert wird. Wir sagen z.B.: "Das Quadrat ist das gleichseitige, rechteckige Parallelogramm". Auf der linken Seite dieses Ausdrucks haben wir den Namen "Quadrat", der den gesamten Gehalt einer Idee sub specie der den Gegenstand "Quadrat" konstituierenden Natur auffaßt, auf der rechten Seite hingegen tritt eine Explikation der Konstanten des Gehalts derselben Idee auf. Dort wird dabei a) eine endliche Anzahl von qualitativen Konstanten 36 genannt, die aber b) von vornherein in gewissen besonderen formalen Funktionen (Strukturen) erfaßt werden, in denen sie in den entsprechenden Gegenständen auftreten. Im besonderen kommt hier der Name "Parallelogramm" vor, der denselben Gehalt sub specie einer gattungsmäßigen Quasi-Natur, einer der qualitativen Konstanten erfaßt. Diese Konstante ist das ideale Korrelat eines Moments, das in der Natur des Gegenstands "Quadrat" unterschieden und zur Rolle einer Quasi-Natur erhoben wird. Gegenüber den übrigen genannten Konstanten ("gleichseitig" und "rechteckig") spielt diese Quasi-Natur die Rolle des qualifizierten Subjekts von Merkmalen und diejenige des Trägers, der "Substanz". Diese Konstante in einem Ideengehalt, die gegenüber anderen Konstanten (bzw. Veränderlichen) im Gehalt der Idee die Rolle des Trägers, der Substanz erfüllt, nenne ich den Gehaltskern der Idee.

36 Warum gerade diese Konstanten genannt werden, ist eine Frage für sich, auf die ich noch zurückkommen werde.

Die apriorisch-phänomenologische

Erkenntnistheorie

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Es kann nun geschehen, daß ein qualitatives Moment (die "Parallelogrammheit"), das den Gehaltskern einer Idee A ("Quadrat") bestimmt, ein qualitatives Moment ausmacht, das den gesamten Gehalt einer anderen Idee Β ('Parallelogramm") konstituiert. Wir sagen dann, daß die Idee A der Idee Β untergeordnet ist. Umgekehrt ist die Idee Β der Idee A übergeordnet. (Ich erinnere, daß dasjenige, was "den Gehaltskern" einer Idee A ausmacht, qualitativ bestimmt ist durch die Qualität, die ein in der Natur des Gegenstands unterschiedenes Moment bildet!) Vergleichen wir zwei Ideen A und B, von denen die Idee Λ der Idee Β untergeordnet ist, dann fällt auf, daß zwischen ihren Gehalten noch ein anderer besonderer Zusammenhang besteht. Nämlich: Eine qualitative Konstante des Gehalts der Idee A ist ein Spezialfall (ein "Wert") einer bestimmten qualitativen Veränderlichen, die im Gehalt der Idee Β auftritt. Im Gehalt der untergeordneten Idee ist immer wenigstens eine qualitative Konstante enthalten, die einen Wert einer qualitativen Veränderlichen des Gehalts der übergeordneten Idee bildet. Mit anderen Worten: Um von einer allgemeinen Idee X zu einer anderen Idee Κ überzugehen, die der Idee X unmittelbar untergeordnet ist, muß man: 1) das qualitative Moment, das den gesamten Gehalt der Idee X konstituiert, in das Moment verwandeln, das den Gehaltskern der Idee X konstituiert (dem ersteren Moment eine andere Funktion verleihen), 2) eine der qualitativen Veränderlichen der Idee X durch eine qualitative "Konstante" ersetzen, die einen Wert der zu ersetzenden Veränderlichen ausmacht, 3) ein neues qualitatives Moment auffinden, das den gesamten Gehalt der Idee Y konstituiert. Es scheint zunächst, daß die "Fixierung" einer und nur einer Veränderlichen von der Idee X zur Idee Y führt. Dieser Schein entsteht aber nur deswegen, weil wir die neuen Konstanten nicht berücksichtigen, die im Gehalt der Idee Y dadurch erscheinen, daß eine der im Gehalt der Idee X auftretenden Veränderlichen "fixiert" wurde. Man müßte wohl den Begriff primäre und sekundäre Veränderliche (bzw. Konstanten) einführen. Die Einführung dieser Begriffe wird jedoch erschwert durch (1) das Vorhandensein von Konstanten (Veränderlichen), die stets zusammen auftreten, und (2) durch die Schwierigkeit, die Richtung der Abhängigkeit zu ermitteln und damit auch in einem

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konkreten Fall zu entscheiden, welche der Konstanten (Veränderlichen) "primär" und welche "sekundär" ist. Die besonderen Ideen sind ex definitione keinen anderen Ideen übergeordnet. Werden die formalen und existenzialen Veränderlichen in ihren Gehalten durch Konstanten abgelöst, dann ergeben sich schon individuelle Gegenstände. Die auf diesem Weg bestimmten Gegenstände nennen wir die "Individuen" der betreffenden besonderen Idee. 37 Dagegen sagen wir, daß ein Individuum einer Idee I unter eine Idee J fällt, wenn a) I eine besondere Idee darstellt und wenn b) die Idee I der Idee J untergeordnet ist. Die allgemeinen Ideen haben keine Individuen: Es gibt keinen individuellen Gegenstand, der nur ein "Parallelogramm" oder nur ein "Mensch" ist. Allgemein: Es gibt keine Gegenstände, deren konstituierende Natur ein in einer konstitutiven Natur unterschiedenes Moment ist. Ein solches Moment kann lediglich eine artmäßige "Quasi-Natur" sein, die auf gewisse subjektive Operationen relativ ist. Oder noch anders: Es gibt keine Gegenstände, deren Natur durch ein qualitatives Moment bestimmt ist, das den gesamten Gehalt einer allgemeinen Idee konstituiert. Dagegen bestimmt jede allgemeine Idee einen Umfang von möglichen Gegenständen, die unter sie fallen. "Möglichen", denn - wie ich schon bemerkt habe - folgt aus dem Gehalt keiner Idee, daß tatsächlich auch nur ein einziger Gegenstand existiert, der unter die betreffende Idee fällt; der Gehalt einer Idee läßt nur zu, daß derartige Gegenstände existieren. Existieren aber tatsächlich irgendwelche Gegenstände, die unter eine Idee I fallen, dann werden sie, als gerade unter sie fallende Gegenstände betrachtet, eo ipso als Exemplare einer Art aufgefaßt. Und umgekehrt: Betrachten wir eine allgemeine Idee im Verhältnis zu den Gegenständen, die unter sie fallen, dann fassen wir sie als eine Gattung (bzw. Art) für diese Gegenstände auf. Die in der klassischen Literatur so genannte "niederste Art" (bzw. Gattung) ist nichts anderes als eine besondere Idee, im Verhältnis zu ihren Individuen betrachtet. In beiden Fällen müssen die Ideen von ihren Gehalten her und nicht qua idea betrachtet werden. Man könnte daher ebenso sagen, daß die Ideengehalte Arten bzw. Gattungen der individuellen Gegenstände sind, die unter

37 Bei Husserl "Vereinzelung", [vgl. E. Husserl, Ideen I, S. 16 (Husserliana III/l, hrsg. von K. Schuhmann, S. 20),] so auch in meinen "Essentialen Fragen" [Ingarden (1925a), S. 186].

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Erkenntnistheorie

sie fallen. Natürlich ist das nur eine der Bedeutungen, die übrigens gemeinhin nicht präzisiert werden, in denen wir den Terminus "Art" bzw. "Gattung" gebrauchen. 12. Die einfachen, die exakten und die unexakten Ideen Bevor wir weitergehen, müssen wir noch unter den Ideen andere Gruppen als bisher unterscheiden, nämlich im Hinblick darauf, welches das den gesamten Gehalt der Idee konstituierende qualitative Moment (mit anderen Worten: die unmittelbare

MORFE

des Ideengehalts) ist. Nämlich:

1) die unexakten Ideen oder die Ideen, bei denen die unmittelbare

MORFE

des Ideengehalts ein Konglomerat von zusammenhangslosen Qualitäten ist (anders ausgedrückt: bei denen die in der unmittelbaren

MORFE

mitenthalte-

nen Qualitäten keine neue, abgeleitete Ganzheitsqualität konstituieren), 2) die exakten Ideen oder die Ideen, bei denen die unmittelbare MORFE des Ideengehalts eine abgeleitete und spezifische Qualität bildet (d. h. eine Qualität, in der sich zwar einfache Qualitäten unterscheiden lassen, deren Verwebung aber zu einer neuen abgeleiteten Ganzheitsqualität führt), wobei im Gehalt der Idee ein ganz bestimmter Komplex von qualitativen Gehaltskonstanten auftritt, welcher der unmittelbaren

MORFE

des Ideengehalts "äquivalent"

ist, 3) die einfachen Ideen oder die Ideen, in deren Gehalt als die unmittelbare MORFE des Ideengehalts

eine absolut einfache und ursprüngliche Qualität auf-

tritt, für die kein "äquivalenter" Komplex von qualitativen Konstanten aufgefunden werden kann. Ich behaupte keineswegs, daß diese drei Arten von Ideen deren ganzen Umfang erschöpfen. ad 1) Ein Beispiel: Der "Teller" = ("gewöhnlich") ein flaches, rundes Gefäß. Man könnte sagen, ein "Teller" sei das Etwas, dessen qualitatives Moment der konstitutiven Natur die "Tellerhaftigkeit" ist. Wollen wir uns aber klar machen, was diese "Tellerhaftigkeit" ist, dann können wir keine solche einfache und ursprüngliche ideale Qualität finden. Deswegen sind wir geneigt, auf die Frage "Was ist der Teller?" zu antworten: "Das ist etwas, was 'ziemlich' flach, rund, eingetieft, aus einem festen Stoff gemacht ist usw." Oder anders gesagt: Wollen wir darüber ins klare kommen, worum es sich bei der "Tellerhaftigkeit" handelt, dann müssen wir uns den qualitativen Konstanten und Veränderlichen des Ideengehalts zuwenden, welche die Eigen-

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(1931-46?)

schaften der Gegenstände bestimmen, die unter die Idee "Teller" fallen, um durch die Festlegung des Komplexes dieser Konstanten und Veränderlichen auf dem Weg der integrierenden Synthese zu einem qualitativen Konglomerat zu gelangen, das die unmittelbare

MORFE

des Ideengehalts bildet. Dabei

erschöpft sich die Rolle dieser Synthese darin, di & formale Struktur des Ganzen und daher auch die Zusammengehörigkeit der zusammen auftretenden Qualitäten herzustellen. Es ist dabei unmöglich, eine Analyse des Gehalts einer unexakten Idee durchzuführen, ohne die weniger allgemeinen Ideen und schließlich die unter die betreffende unexakte Idee fallenden Gegenstände zu erforschen, an denen wir als an Beispielen von möglichen Gegenständen, die unter die betreffende Idee fallen, uns die möglichen Spezialfälle und deren Kombinationen veranschaulichen. Das erlaubt es uns vor allem, uns einen Überblick über die qualitativen Konstanten der unexakten Idee zu verschaffen. Folglich läßt sich die unmittelbare

MORFE des

Gehalts einer solchen unex-

akten Idee (oder korrelativ: das Moment der Natur, welche die unter die betreffende Idee fallenden Gegenstände konstituiert) nicht auf definitive und vollständige Weise bestimmen. Dieses Moment ist immer relativ auf die schon berücksichtigten Fälle bestimmt: es ist nicht nur ein Konglomerat, sondern auch ein zufälliges Konglomerat. Unmöglich ist somit eine erschöpfende Übersicht über die Veränderlichen des Gehalts einer unexakten Idee und damit auch eine erschöpfende Übersicht über die weniger allgemeinen Ideen, die der betreffenden Idee untergeordnet sind (nicht nur unmöglich für uns, sondern überhaupt!). ad 2) Die unmittelbare

MORFE

des Gehalts einer exakten Idee (ζ. B. das

"Quadrat") Weil sie eine Konkretisation einer idealen Qualität ist, ist es möglich, sie unabhängig von den Konstanten und Veränderlichen des Ideengehalts zu erkennen (es verhält sich damit genau umgekehrt als bei den unexakten Ideen). Diese Erkenntnis ist dabei - sofern sie überhaupt gewonnen wird - vollständig (erschöpfend) und läßt sich ausschließlich "auf einen Schlag" gewinnen. Die unmittelbare

MORFE

des Gehalts einer exakten Idee entscheidet zu-

gleich darüber - es bestimmt eindeutig - , welche qualitativen (und formalen) Konstanten und Veränderlichen im Gehalt der betreffenden Idee auftreten. Unter allen Konstanten zeichnet sich dabei eine besondere Gruppe mit einer

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endlichen Anzahl von Elementen aus, wobei die dazu gehörenden Konstanten voneinander unabhängig, aber so gewählt sind, daß ihr ganzer Komplex, speziell angeordnet, mit der unmittelbaren

MORFE

(insbesondere mit ihrem quali-

tativen Moment, einer abgeleiteten und dennoch spezifischen idealen Qualität) in einem besonders engen Zusammenhang steht, nämlich diesem Komplex der Konstanten "äquivalent" ist. ("Das Quadrat ist das gleichseitige, rechteckige Parallelogramm".) Zu dieser besonderen Gruppe von Konstanten gehört der Gehaltskern der exakten Idee. Von diesem Komplex von Konstanten hängen die übrigen Konstanten und Veränderlichen der exakten Idee ab (sie lassen sich unter Voraussetzung dieses Konstantenkomplexes deduktiv ableiten). Der Gehalt der exakten Idee läßt sich verstehen - er macht ein geordnetes System von Elementen aus. Auf Grund einer Analyse des Gehalts einer exakten Idee läßt sich bestimmen, welche und wie viele Ideen der betreffenden allgemeinen Idee untergeordnet sind (durch eine Analyse der möglichen Werte der qualitativen Veränderlichen, die im Gehalt der betreffenden allgemeinen Idee auftreten, und durch eine Analyse der Abhängigkeiten zwischen den Veränderlichen bzw. deren möglichen Werten). ad 3) Wir werden hier diese Ideen nicht näher betrachten, weil wir diese Betrachtungen in unseren weiteren Ausführungen nicht benötigen. Wie wir uns überzeugen werden, stehen die exakten Ideen mit dem, was die Phänomenologen das Wesen des Gegenstandes nennen, in sehr engem Zusammenhang. 13. Zum Abschluß dieser Überlegungen über die Ideen muß im Zusammenhang mit dem Problem der Erkenntnis a priori festgestellt werden, daß die Erkenntnis der Ideen (wenigstens der exakten und der einfachen - was die Erkenntnis der unexakten Ideen betrifft, möchte ich dies im Augenblick nicht entscheiden) sowohl ihrem Gehalt nach als auch ihren Eigenschaften qua idea nach - womit ich mich zuletzt beschäftigt habe - eine besondere Erkenntnisart ist, welche die Phänomenologen meinen, wenn sie von apriorischer Erkenntnis sprechen. Diese Behauptung scheint auf den ersten Blick dem zu widersprechen, was man gewöhnlich sagt, daß nämlich die Mathematik, die besondere ideale Gegenstände (mithin individuelle Entitäten) untersucht, eine apriorische Wissenschaft sei. Bei näherer Überlegung sehen wir aber, daß das, was in der Mathematik untersucht wird, die Gehalte gewisser

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allgemeiner und besonderer Ideen sind. Die wichtigsten [mathematischen] Behauptungen beziehen sich auf allgemeine Ideen (hierzu gehören alle Funktionen). (Ich möchte hier aber nicht die Frage entscheiden, ob zu den möglichen Gegenständen der apriorischen Erkenntnis auch die individuellen idealen Gegenstände gehören oder ob sie davon auszuschließen sind.) Diese Erkenntnis kann entweder unmittelbar oder mittelbar sein, je nachdem ob wir den Gehalt einer bestimmten Idee in der apriorischen Intuition erforschen oder uns dabei der logisch-gedanklichen Operationen (der Deduktion!) bedienen. Dabei beruht diese Erkenntnis letzten Endes auf der intuitiven apriorischen Erkenntnis der idealen Qualitäten, welche die Konstanten der Ideengehalte qualifizieren und die Veränderlichen dieser Gehalte bestimmen, sowie auf der Erkenntnis der Verhältnisse zwischen diesen idealen Qualitäten (Hume). Die apriorische Erkenntnis ist rein (und führt zugleich zu den von den Phänomenologen so genannten materialen und formalen "Ontologien"), wenn sie frei vom Moment Setzung von der Existenz der Ideen oder der darunter fallenden Gegenstände ist und sich ausschließlich darauf beschränkt, den Aufbau der Ideen und deren Gehalt zu explizieren. Ebenso rein ist die apriorische Erkenntnis der idealen Qualitäten, wenn sie sich darauf beschränkt, die Spezifität einer idealen Qualität anschaulich zu erfassen und die zwischen den Qualitäten bestehenden Zusammenhänge zu ergreifen, ohne in der Feststellung der Existenz dieser oder jener idealen Qualität zu kulminieren. Sobald wir sei es bezüglich der Ideen, sei es bezüglich der idealen Qualitäten - zu den existenzialen Behauptungen übergehen und auf Grund dieser detaillierte Untersuchungen der Eigenschaften dieser Entitäten durchführen, verlassen wir das Gebiet der ontologischen Untersuchungen und treten ins Gebiet der Metaphysik der Ideen oder idealen Qualitäten ein. 14. Es fragt sich noch, was unter dem Wesen eines Gegenstands zu verstehen ist, von dem immer so viel gesprochen wird, wenn man über die Phänomenologie redet. Man muß bemerken, daß der Terminus "Wesen" bei den Phänomenologen selbst (zuerst "ideale Spezies", "Eidos", dann "Wesen von etwas") ein vieldeutiger Terminus ist. Die Versuche, die Bedeutung dieses Terminus zu präzisieren und einzuschränken, wurden zuerst von Jean Hering in der

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Erkenntnistheorie

Abhandlung "Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee" und danach weiter von mir geführt. Das Ergebnis dieser Versuche war schon in den "Essentialen Fragen", daß dieser Terminus auf bestimmte Weise eingeengt und den Termini "Idee" und "Wesenheit" [oder "ideale Qualität"] gegenübergestellt wurde. 38 Das Endresultat dieser Untersuchungen stellt sich wie folgt dar: 1) Die Phänomenologen haben manchmal den Terminus "Wesen" so gebraucht, daß er die allgemeinen oder speziellen Ideen bezeichnete, unter welche der Gegenstand fiel, dessen Wesen sie untersuchten. 2) Ebenso wurden die "idealen Qualitäten" mehrfach mit diesem Terminus bezeichnet. 3) Mit diesem Gebrauch des Wortes "Wesen" wurde dieses zugleich zur Bezeichnung eines besonderen, nicht näher präzisierten Etwas gebraucht, das in dem Gegenstand selbst enthalten ist, dessen Wesen untersucht wird. Man bezeichnete also mit diesem Terminus sowohl etwas, was im Gegenstand selbst enthalten ist, als auch etwas, was sich außerhalb dieses Gegenstands befindet. Das ist natürlich unzulässig, und wenn es dazu gekommen ist, so erklärt sich das sowohl aus der Tatsache, daß die Idee des Wesens eines Gegenstands nicht geklärt wurde, als auch aus der "erblichen Belastung" von der platonisch-aristotelischen Tradition her, welche die Phänomenologen mehr oder minder bewußt aufgenommen haben, ohne jedoch zu versuchen, die überlieferten Vermengungen sofort auszuräumen. Die Gegenüberstellung von Ideen und darunter fallenden Gegenständen hat die genannten Forscher dazu veranlaßt, den Terminus "Idee" nur in der hier angegebenen Bedeutung zu gebrauchen, wobei der Terminus "Wesen" in seiner Anwendung ausschließlich auf die individuellen Gegenstände eingeschränkt wurde. Der Terminus "Wesen" als Bezeichnung für etwas, was in einem individuellen Gegenstand selbst enthalten ist, wurde zum ersten Mal von Jean Hering in seiner Abhandlung "Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee" verwendet. 39 Dabei besitzt nach Hering jeder individuelle Gegenstand sein IO Für weitere Einzelheiten siehe "Bemerkungen zum Problem [Ingarden (1929)], Das literarische

Kunstwerk

Idealismus-Realismus"

[Ingarden (1931a)] und

"Niektóre

aq zalozenia idealizmu Berkeley'a" [Ingarden (1931b)]. [Vgl. J. Hering, "Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee", Jahrbuch Philosophie und phänomenologische

Forschung, 4 (1921), S. 498.]

ßr

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Wesen. 40 Eine weitere Einschränkung dieses Terminus wurde von mir durchgeführt. Nach den Resultaten der "Essentialen Fragen" kommt ein Wesen nur den Gegenständen zu, die unter die exakten allgemeinen Ideen fallen. 41 Nicht von jedem individuellen Gegenstand sage ich also, er habe sein "Wesen". Auch die Bestimmung des Wesens eines Gegenstands ist bei Hering anders als bei mir. Hering hält nämlich für das Wesen eines Gegenstands seine volle qualitative Ausstattung in der entsprechenden formalen Struktur 42 (POION EINAI

in einer weiten Bedeutung, in der es auch das Moment

Ή

ura-

faßt). [Bei mir dagegen] ist das Wesen a) etwas, was in dem Gegenstand selbst, dessen Wesen es ausmacht, enthalten ist. b) Es ist etwas, was seiner Seinsform nach ebenso individuell ist wie der Gegenstand selbst, dessen Wesen es ausmacht. c) Es ist etwas, was bei einer entsprechenden Erkenntniseinstellung im Gegenstand unterschieden werden kann, was sich aber vom Gegenstand nicht (realiter) abtrennen läßt, was also im Verhältnis zum Gegenstand ebenso unselbständig ist wie der Gegenstand im Verhältnis zu seinem Wesen. d) Unter dem Wesen eines Gegenstands verstehen wir die volle konstitutive Natur des Gegenstands, die durch eine abgeleitete, aber spezifische ideale Qualität bestimmt ist, mit dem ganzen Komplex seiner Merkmale, deren Qualitäten in ihrer Koexistenz und Verbindung ein System bilden, das der die Natur des Gegenstands bestimmenden abgeleiteten Qualität äquivalent ist. e) Das Wesen eines Gegenstands G ist unveränderlich, sofern der Gegenstand G dieselbe Natur beibehält. Ich lasse dabei ganz offen, ob es möglich ist, daß ein Gegenstand - sogar einer, der sich verändern kann - weiterhin identisch derselbe bleibt und zugleich seine Natur ändert. Es gibt kein Wesen eines Gegenstands, das für sich allein den ganzen Gegenstand konstituiert (so daß der Gegenstand keine anderen Bestimmheiten

40

[Vgl. J. Hering, "Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee", Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische

41 42

Forschung, 4 (1921), S. 497.]

[Vgl. Ingarden (1925a), S. 250; Ingarden (1964/65), Bd. IJ/1, §§ 58, 59.] "das Sosein des in der ganzen Fülle seiner Konstitution genommenen Objektes" [Vgl. J. Hering, "Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee", Jahrbuch Philosophie und phänomenologische

Forschung, 4 (1921), S. 496.]

fiir

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hätte als diejenigen, die zu seinem Wesen gehören). Auch in dieser Bedeutung ist das Wesen eines Gegenstands etwas Unselbständiges. f) Das so verstandene Wesen eines Gegenstands entspricht genau der unmittelbaren MORFEdes Gehalts einer exakten speziellen Idee samt dem Komplex der Konstanten dieses Gehalts, die der betreffenden unmittelbaren MORFE äquivalent sind, und zwar der Idee, deren Individuum (Vereinzelung) der Gegenstand dieses Wesens bildet. Dabei bedeutet die Wendung "entspricht genau" soviel wie: das eine wie das andere ist eine Konkretisation derselben idealen Qualitäten (und in derselben Verbindung), nur eine andere Art von Konkretisation. Man kann also das Wesen eines Gegenstands (sofern dieser ein Wesen besitzt) auf zweifache Weise erforschen: a) entweder in unmittelbarem Erkenntniskontakt mit dem fraglichen Gegenstand oder b) durch Analyse des Gehalts einer entsprechenden Idee. Aber auch umgekehrt: Man kann sich den Aufbau des Gehalts einer exakten speziellen Idee dadurch klar machen, daß man von einer unmittelbaren Erforschung des Wesens eines Gegenstands ausgeht, der ein Individuum dieser Idee bildet. Aus der Tatsache, daß das Wesen eines Gegenstands genau der unmittelbaren MORFE einer exakten speziellen Idee samt dem dieser unmittelbaren MORFE äquivalenten Komplex der Konstanten entspricht, sowie aus der Tatsache, daß man auf Grund des Gehalts einer speziellen Idee weder die faktische Existenz der (möglichen) Individuen dieser Idee erschließen noch sagen kann, die betreffende Idee sei die Idee von "dem und nur dem" Gegenstand (im Hinblick auf die Veränderliche: das momentum individuationisl), folgt: Wenn wir das Wesen eines Gegenstands schon aufgefunden haben, dann haben wir damit die Wesen aller Gegenstände aufgefunden, welche die Individuen derselben exakten speziellen Idee sind. Mit anderen Worten: Die Analyse des Wesens eines Gegenstands G (oder korrelativ des Gehalts einer entsprechenden speziellen Idee) führt im Prinzip zu einem Resultat, das sich in Gestalt eines streng allgemeinen Urteils über alle Individuen derselben exakten speziellen Idee ausdrücken läßt. Das Wesen eines Gegenstands - sofern der Gegenstand ein Wesen besitzt - können wir aber auf erschöpfende Weise am Beispiel eines einzigen Individuums der betreffenden Idee erkennen. Deswegen eröffnen wir uns durch die Feststellung, daß (a) in gewissen Fällen das

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Wesen eines Gegenstands vorhanden ist, sowie (b) durch die Analyse des Problems der exakten Ideen einen Weg dazu, der Schwierigkeit Herr zu werden, auf die wir früher bei der Bestimmung der deskriptiven Phänomenologie der Erkenntnis gestoßen sind: Wir erhalten die Möglichkeit, streng allgemeine Urteile zu fällen, ohne daß wir dazu gezwungen sind, eine unmittelbare Erfahrung in bezug auf jeden einzelnen Gegenstand (von dem im Urteil die Rede ist) zu gewinnen und eine induktive Verallgemeinerung von einer endlichen Anzahl von Einzelfällen auf alle [Einzelfälle] eines bestimmten Typus anzustellen. Man kann das nämlich entweder dadurch erreichen, daß man das Wesen eines Gegenstands erforscht, der ein Exemplar einer niedersten Art (einer speziellen exakten Idee) darstellt, oder auch dadurch, daß man den Gehalt der entsprechenden speziellen exakten Idee untersucht. Es ist aber möglich, noch allgemeinere Urteile zu gewinnen als Urteile über alle Exemplare einer niedersten Art, nämlich durch die Analyse des Gehalts von allgemeinen exakten Ideen. Man kann dabei diese Analyse am Beispiel von Gegenständen durchführen, die unter die betreffende allgemeine exakte Idee fallen. Eine Bedingung dafür ist aber, daß man in einem individuellen Gegenstand die Schicht der Momente unterscheiden kann, die (a) der unmittelbaren MORFE der betreffenden allgemeinen Idee und (b) dem Komplex der dieser unmittelbaren MORFE äquivalenten Konstanten entsprechen. Die übrigen Momente und Elemente des untersuchten Gegenstands [kann man] hingegen "variieren".43 Das ist weder geheimnisvoll noch ein Wundermittel. Wir machen davon ζ. B. Gebrauch, sooft wir bei einem Satz der elementaren Geometrie die "Voraussetzungen" - die Bedingungen, die eine "Figur" zu erfüllen hat - bestimmen und im Satz eine neue "Konstante" des Ideengehalts (einen Sachverhalt, der besteht, wenn diese Bedingungen erfüllt sind) angeben und schließlich in einem Beweis die Notwendigkeit des Zusammenhangs nachweisen zwischen dem, was in den Voraussetzungen, und dem, was im Satz angegeben wurde. Wir bedienen uns dabei einer ganz bestimmten "Figur", die wir aber lediglich als Exemplar einer gewissen Art nehmen und uns nur darum kümmern, daß sie die Bedingungen dieser Art erfüllt, Husserl hat sich nach der Veröffentlichung der "Essentialen Fragen" [Ingarden (1925a)] mit diesem Problem in seinen Vorlesungen beschäftigt (er hat mir die entsprechenden Manuskripte 1927 gezeigt) und eine Untersuchungsmethode erarbeitet, die er die "Methode der Variation" nannte.

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während wir ihre übrigen Merkmale als "beliebige" offen lassen. Wir setzen dabei weder die faktische Existenz dieser "Figur" voraus (wir können tatsächlich diese "Figur" ebensogut "zeichnen" als sie uns nur vorstellen), noch kümmern wir uns darum, ob die an der Tafel faktisch gezeichnete Figur "ein Parallelogramm ist" (das ist für die Gültigkeit unseres Satzes gar nicht notwendig!), noch könnten wir das im gegebenen Fall mit vollständiger Sicherheit nachweisen. Hier bemerken wir die folgenden Unterschiede zwischen den auf diesem Weg gewonnenen allgemeinen Urteilen und den "allgemeinen" Urteilen, die durch die unvollständige Induktion als "Verallgemeinerungen" gewonnen werden: 1)

Eine "Art" ist auf eindeutige Weise durch die unmittelbare

MORFE

der

betreffenden exakten Idee bestimmt - zugleich auch auf "invariable" Weise: Die Tatsache, daß wir über das "Quadrat" immer erschöpfenderes Wissen erwerben, hat keinen Einfluß - wie man gewöhnlich sagt - auf den "Begriff 1 des Quadrats, d. h. - in meiner Sprache - auf das "Wesen" des Quadrats oder allgemeiner auf das, was zur gegebenen Art (oder Gattung) einer beliebigen Stufe gehört. Dagegen sind bei der induktiven Verallgemeinerung die in den Naturen der entsprechenden Gegenstände enthaltenen Momente im Laufe der Erfahrung variabel: [Sie sind] relative und zufällige Konglomerate. 2) Die "Klasse" der Gegenstände, die unter eine bezügliche exakte Idee fallen bzw. das betreffende streng allgemeine Urteil erfüllen, ist fest und eindeutig bestimmt. Dagegen sind die empirisch abgegrenzten Klassen nie vollständig bestimmt, (prinzipiell!) ungeschlossen. 3) Wir können das Wesen eines individuellen Gegenstands (sofern das Moment der Natur, das dieser Gegenstand in der apriorischen Erfahrung darbietet, eine abgeleitete spezifische Qualität ist) unter der Voraussetzung erforschen, daß die in der unmittelbaren Erkenntnis a priori dargestellte Natur tatsächlich die Natur des gegebenen Gegenstands ist. Wir können aber nicht direkt (ohne Umweg über die erkenntnistheoretischen Untersuchungen und die daraus fließenden Folgerungen) begründen, daß dies tatsächlich der Fall ist. Mit anderen Worten: Wir sind ohne epistemologische Betrachtungen nie berechtigt, zu behaupten, daß ein individueller, uns in der Erfahrung gegebener Gegenstand G tatsächlich das und das Wesen besitze. Auf Grund der apriorischen (ontologischen) Forschungen dürfen wir nur behaupten: Wenn

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ein Gegenstand G tatsächlich existiert und wenn seine Natur Ν ist, dann ist sein Wesen F(7V). Es wird sich zeigen, daß diese Vorbehalte bei der Entfaltung der erkenntnistheoretischen Problematik und bei der Bestimmung der Erkenntnistheorie eine große Bedeutung haben.

§ 23. [Die Erkenntnistheorie als Phänomenologie des Wesens der Erkenntnisbeziehungen sowie deren Elemente und die Erkenntnistheorie als Ontologie der Erkenntnisideen] Die bisherigen Betrachtungen zu den Ideen und zum Wesen des Gegenstands eröffnen uns zunächst zwei Wege, die Erkenntnistheorie als apriorische Wissenschaft zu bestimmen: A.als Phänomenologie des Wesens der Erkenntniserlebnisse und aller [anderen] Elemente der Erkenntnisbeziehung, B.als phänomenologische Ontologie, die den Gehalt der Ideen der Erkenntnisbeziehung und aller Elemente dieser Beziehung, also u. a. auch der Erkenntniserlebnisse analysiert. ad A. Jemand, der von der Unentbehrlichkeit der phänomenologischen Reduktion für die Zwecke der Erkenntnistheorie überzeugt ist und der zugleich unsere Argumente gelten läßt, die wir oben gegen die Möglichkeit vorgebracht haben, auf dem Boden der rein deskriptiven Phänomenologie von Erkenntniserlebnissen streng allgemeine Urteile zu fällen, kann auf Grund unserer Betrachtungen zum Wesen des Gegenstandes die folgende Bestimmung der Erkenntnistheorie aufstellen: Die Erkenntnistheorie untersucht das Wesen der Erkenntniserlebnisse, deren intentionaler Korrelate und der möglichen Relationen zwischen den beiden (d.h. zwischen den Erlebnissen und den Korrelaten) - natürlich weiterhin auf dem Boden der phänomenologischen Reduktion. Eine solche Bestimmung der Erkenntnistheorie scheint die Schwierigkeiten zu überwinden, die vorhin gegen die deskriptive Phänomenologie der Erkenntnis geltend gemacht wurden. Denn dadurch, daß wir uns dem Wesen einer Art von Erkenntniserlebnis zuwenden, können wir streng allgemeine Sätze über alle Erlebnisse dieser Art erlangen, ohne daß wir gezwungen sind,

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Erkenntnistheorie

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die unmittelbare Erfahrung (die immanente Wahrnehmung) zuerst "aller" eigenen Erlebnisse der fraglichen Art und dann aller "fremden" Erlebnisse derselben Art zur Grundlage zu nehmen. Wenn ich das Wesen eines Erlebnisses an einem einzigen Beispiel erfaßt habe, erlange ich ein Wissen über alle eigenen und fremden Erlebnisse dieser Art, sofern sie nur auch bei anderen Erkenntnissubjekten von derselben Art sind. Ich brauche hier auch das Gedächtnis bzw. die Erinnerung an die früher untersuchten Fälle nicht zu Hilfe zu nehmen und sie mit den gegenwärtigen, neuen Fällen nicht zu vergleichen, denn ich kann immer am Beispiel eines gerade aktuellen Erlebnisses einer bestimmten Art eine Einsicht in das Wesen eines derartigen Erlebnisses gewinnen wie dasjenige, das ich erlebe. Es ist dabei zu beachten, daß die so gestellte Aufgabe der Erkenntnistheorie aus zwei Schritten besteht: a) aus der Entdeckung der individuellen Natur, die das gegebene Erkenntniserlebnis (sein Korrelat usw.) konstituiert, und b) aus der Auffindung des Komplexes der "wesentlichen" Merkmale, die insgesamt dieser individuellen Natur äquivalent sind. Es ist dabei zuzugeben: Dadurch, daß man die erkenntnistheoretischen Untersuchungen im Rahmen der phänomenologischen Wesenserforschung der Erlebnisse und der entsprechenden Elemente der Erkenntnisbeziehung anstellt, werden die bei der rein deskriptiven Erkenntnistheorie berührten Schwierigkeiten teilweise beseitigt. Wie wir aber bald sehen werden, sind damit noch nicht alle Postulate erfüllt, die der Erkenntnistheorie gestellt werden müssen. Ich werde dazu sogleich übergehen. Zuerst möchte ich aber die Erkenntnistheorie auf die zweite der sich jetzt eröffnenden Weisen, d. h. als Ontologie der Erkenntnis bestimmen. ad B. Der Untersuchungsgegenstand der ontologischen Erkenntnistheorie wäre der Gehalt der Ideen a) der Erkenntniserlebnisse, b) der Erkenntnisgegenstände - als Korrelate dieser Erlebnisse, c) der Erkenntnisbeziehung. Dabei können die Ideen, deren Gehalt der Forschungsgegenstand wäre, ebensogut allgemein wie speziell sein. Es scheint auf den ersten Blick, als ob diese neue (unter B. angegebene), schon vierte Bestimmung des Gegenstands der Erkenntnistheorie nur eine begriffliche Variante der dritten (unter A. angegebenen) Bestimmung darstellen würde, der Unterschied zwischen den beiden aber praktisch keine große Bedeutung hätte (angesichts der früher formulierten Behauptung, daß man

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sowohl direkt das Wesen eines Gegenstands als auch den Gehalt einer entsprechenden speziellen exakten Idee untersuchen könne). Wir werden uns aber gleich überzeugen, daß diese Bestimmungen weder theoretisch noch praktisch äquivalent sind.

§ 24. Die Kritik der Erkenntnistheorie als phänomenologischer Theorie des Wesens der Erkenntnisbeziehungen und deren Elemente Gegen die Konzeption der so verstandenen Erkenntnistheorie bieten sich verschiedene Bedenken sowohl bezüglich der Voraussetzungen, die sie mit sich bringt, als auch bezüglich der Möglichkeit ihrer Realisierung als schließlich bezüglich der Möglichkeit, mit ihrer Hilfe das Ziel zu erreichen, dem die Erkenntnistheorie dienen soll: das Problem der Objektivität dieser oder jener Erkenntnis zu lösen. 1. Diese Konzeption setzt vor allem voraus, daß alle bei der [erkenntnistheoretischen] Forschung in Betracht kommenden Erkenntnisbeziehungen und deren Elemente ihr Wesen haben (anders ausgedrückt: daß sie alle Individuen gewisser exakter spezieller Ideen sind). Ist dies aber wirklich der Fall? Wir können uns doch davon erst im Laufe unserer erkenntnistheoretischen Forschung überzeugen. Man könnte auf dieses Bedenken zweifach antworten. Entweder, 1) daß die angegebene Bestimmung der Erkenntnistheorie im Sinne eines idealen Postulates zu verstehen sei, das erfüllt sein muß, wenn die Erkenntnistheorie "möglich", d.h. frei von gewissen prinzipiellen Einwänden sein soll (in diesem Fall würde es sich um den früher vorgebrachten Einwand gegen die Möglichkeit handeln, streng allgemeine Urteile zu gewinnen). Oder man könnte 2) sagen, die angegebene Bestimmung sei, sofern sie sich aus gewissen Voruntersuchungen ergebe, zugleich ein Ausdruck der Feststellung - die sich natürlich auf eine positive, aber sozusagen nur provisorische Untersuchung der Erkenntnisbeziehung und deren Elemente stützt - , daß derartige Entitäten tatsächlich so seien, daß man von ihrem Wesen sprechen könne. Um aber eine solche provisorische Untersuchung dieser Entitäten überhaupt durchzuführen, müßte man schon überhaupt auf die Idee kommen, nach dem Wesen der

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Erkenntniserlebnisse, ihrer Korrelate und der Erkenntnisbeziehung zu forschen. Ich werde hier nicht entscheiden, ob es tatsächlich so ist, wie das die zweite Deutung der angegebenen Bestimmung der Erkenntnistheorie will. Dies würde weitgehende sachliche Untersuchungen in der Erkenntnistheorie selbst erfordern, die ich hier nicht anstellen kann. Ich erlaube mir nur das Folgende zu bemerken: a) Das Problem bzw. die ganze Schwierigkeit entsteht erst bei einer so engen Bestimmung des Wesens der Gegenstände, wie ich sie hier eingeführt habe; dagegen würden hierin diejenigen Phänomenologen, die - wie Hering behaupten, daß jeder individuelle Gegenstand sein "Wesen" besitze,44 keine Schwierigkeit sehen. b) Die Meinung, daß die Erkenntniserlebnisse ein Wesen (in dem von mir angegebenen Wortsinne) besitzen, ist nicht ohne sachliche Grundlage. Das kann ζ. B. durch die Tatsache bestätigt werden, daß von seiten derjenigen, die sich der Phänomenologie eher entgegenstellen, in der zeitgenössischen Psychologie die sog. Theorie der "Gestalt", der "Struktur" aufgestellt wurde. Dabei drücken sich diese Psychologen, wenn sie von der "Gestalt" der Erlebnisse sprechen, auf eine solche (obwohl ungenaue) Weise aus, daß man schließen kann, daß sie damit nichts anderes meinen als gewisse abgeleitete spezifische Qualitäten, welche die Natur einzelner Typen von Erlebnissen qualifizieren. Selbstverständlich kann diese Tatsache nicht als ausreichendes Argument dafür dienen, daß die Erlebnisse "ihr Wesen haben". 2. Man hat mehrmals den Zweifel berührt, ob ein zu erforschendes Bewußtseinserlebnis durch die Tatsache, daß gleichzeitig mit diesem Erlebnis in demselben Erlebnisstrom ein neuer Akt immanenter Wahrnehmung (oder dergleichen) erscheint, nicht dermaßen verändert werde, daß wir eigentlich die Bewußtseinserlebnisse in ihrer originalen Gestalt nie erkennen können. Dieser Zweifel würde sich mit besonderer Kraft dann aufdrängen, wenn es um die Erkenntniserfassung eines Bewußtseinserlebnisses mit allen seinen Einzelheiten, in der ganzen Fülle seiner Konkretion ginge. Wie wir aber wissen, erschöpft das "Wesen eines Gegenstands" nie die konkrete Fülle des Gegen-

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[Vgl. J. Hering, "Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee", Jahrbuch ßr Philosophie und phänomenologische Forschung, 4 (1921), S. 497.]

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stands, sondern es macht darin nur eine wichtige Schicht aus. Der angedeutete Zweifel verliert also an Kraft, wenn es um die unmittelbare Erkenntnis des Wesens eines Erlebnisses geht. Denn die Alteration des Erlebnisses, die durch das Hinzutreten eines neuen Aktes hervorgerufen wird, braucht nicht - am vorsichtigsten gesagt - so weit zu gehen, daß sie das Wesen des Erlebnisses umgreift. Daß sie dieses Wesen unangetastet läßt, davon zeugt der Umstand, daß das reflektierte und das unreflektierte Erlebnis in der Erinnerung - gerade durch dieselbe konstitutive Natur - identifiziert werden können. 3. Trotz diesen Überlegungen wäre es nicht zweckmäßig, die Erkenntnistheorie als Wissenschaft vom Wesen der Erkenntniserlebnisse und demjenigen der Erkenntnisbeziehung und deren Elemente zu bestimmen. Zum mindesten wäre es aber unzweckmäßig, zu sagen, daß nur die Wesen von etwas Objekte erkenntnistheoretischer Forschung seien. Man kann dagegen zugeben, daß es ein Teilgebiet der epistemologischen Betrachtungen gibt, in denen die Erforschung des Wesens gewisser Entitäten (sofern dies möglich ist) angebracht wäre. Mithin können auch die Wesen der Erkenntniserlebnisse Gegenstände [der Forschung] sein. Warum aber nicht nur diese Wesen? Darum, weil in diesem Fall die Sätze der Erkenntnistheorie notwendigerweise zu wenig allgemein wären. Denn sie wären dann nur allgemeine Urteile über jedes Individuum einer niedersten Art. Die Einschränkung der Erkenntnistheorie auf die Untersuchung des Wesens der Erlebnisse usw. wäre ähnlich unangemessen wie die Einschränkung der mathematischen Forschung auf Gebilde der Art wie nach ihrer Seitenlänge eindeutig bestimmte Quadrate, Dreiecke usw. Es ist klar, daß wir nicht nur wissen wollen, ob eine bestimmte Wahrnehmung (in einem bestimmten Moment t und mit einem bestimmten Inhalt) objektiv ist (obwohl uns auch das interessieren kann), sondern auch ob die (z.B. visuelle) Wahrnehmung überhaupt "objektiv" ist. Daher müssen wir nicht das Wesen eines individuellen Erlebnisses, sondern den Gehalt einer allgemeinen Idee untersuchen. Schon diese Tatsache allein veranlaßt uns dazu, diese Bestimmung der Erkenntnistheorie aufzugeben, um so mehr als wir die grundlegenden Kriterien erkenntnistheoretischer Objektivität nicht gewinnen können, ohne uns einen Einblick in den Gehalt der möglichst allgemeinsten Ideen in diesem Bereich zu verschaffen: in die allgemeine Idee der Erkenntnisbeziehung überhaupt (die regionale Idee der Erkenntnistheorie).

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4. Die Untersuchung der Wesen der Erkenntniserlebnisse und der anderen Elemente der Erkenntnisbeziehung birgt jedoch noch eine andere Gefahr für die Erkenntnistheorie in sich. Ich habe oben gesagt, daß wir bei der Untersuchung des Wesens eines Gegenstands X, der sich sub specie einer Natur α darstellt, nie die unmittelbare Sicherheit haben können, daß X eine solche Natur bzw. ein solches Wesen in Wahrheit besitzt; wir können nur das sichere Resultat erlangen, daß wenn Χ a ist, wenn X existiert und wenn α eine spezifische abgeleitete Qualität ist, gilt, daßX ß,... ist. Trotzdem sind wir aber, wenn wir die Erkenntnis des Wesens eines Gegenstands X erstreben, darauf eingestellt, eine Tatsache festzustellen, und nur die Sicherheit dieser Feststellung unterliegt einem Vorbehalt. Bei der Gewinnung irgendwelcher Erkenntnisergebnisse bezüglich des Wesens dieser oder jener Erlebnisse müßten wir mindestens mit der Wahrscheinlichkeit dieser oder jener Tatsachen in diesem Bereich rechnen. Wie es sich zeigen wird, gibt es wiederum ohne Zweifel ein Teilgebiet der erkenntnistheoretischen Betrachtungen, und zwar ein wichtiges Teilgebiet, in dem es darauf ankommt, ein Wissen von solchen Tatsachen zu erlangen. Dieses Teilgebiet der erkenntnistheoretischen Untersuchungen muß sich jedoch auf die Resultate der Forschungen stützen, die auf die Auffindung von grundlegenden Erkenntniskategorien ohne Rücksicht auf alle Tatsachen abzielen. Daher die Notwendigkeit, die erkenntnistheoretischen Betrachtungen auf die ontologischen Analysen der Gehalte der grundlegenden Erkenntnisideen zu gründen. Denn wir müssen über einen Bestand an epistemologischen Grundbegriffen und Kriterien verfügen, um z.B. das Problem aufwerfen zu können, ob in einem faktischen Erlebnis X, dessen Wesen W(X) ist und das sich auf einen Gegenstand Y mit dem Wesen W(10 bezieht, eine Erkenntnis von dem und dem Wahrheitswert erlangt wird. Diese Grundbegriffe und Kriterien aber lassen sich nur in einer rein ontologischen Untersuchung der Gehalte der Erkenntnisideen auffinden.

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§25. Die Erkenntnistheorie als Ontologie der Erkenntnisideen. Die reine Erkenntnistheorie und die Metaphysik der Erkenntnis (die angewandte Erkenntnistheorie) All die bisherigen Ausführungen veranlassen uns also dazu, die Erkenntnistheorie als eine Ontologie zu bestimmen, die sich mit den Gehalten der allgemeinen Erkenntnisideen befaßt. Man muß aber jetzt die Aufgaben dieser Erkenntnistheorie, wie sie sich vor uns auftun,45 etwas näher charakterisieren, um die Hauptgruppen von Problemen auszusondern und auf diesem Weg zu einer Bestimmung der Erkenntnistheorie zu gelangen, die es uns erlaubt, die Untersuchung des Wesens der Erkenntniserlebnisse und bestimmter Erkenntnisbeziehungen aus ihrem Bereich nicht auszuschließen. Man muß somit vor allem einander gegenüberstellen: die reine und allgemeine Erkenntnistheorie (die Erkenntnistheorie im engeren und eigentlichen Wortsinne) und die Metaphysik der Erkenntnis, die sich [noch] in viele spezielle Theorien gliedert. A. Die reine und allgemeine Erkenntnistheorie Sie hat es zur Aufgabe, den Gehalt der allgemeinen (oberen) regionalen Idee der Erkenntnisbeziehung überhaupt und der Idee der Erkenntnis (des Erkenntnisergebnisses) überhaupt zu erforschen. "Der Erkenntnisbeziehung überhaupt", mithin ganz ohne Rücksicht darauf, durch welches Subjekt und durch welche Art von Subjekt [diese Erkenntnisbeziehung] realisiert wird, und unabhängig davon, in bezug auf welchen Gegenstand und in welcher Art Afci diese Erkenntnisbeziehung zustande kommt. Ebenso soll sie [den Gehalt] der Idee der Erkenntnis überhaupt /erforschen], mithin wieder ohne Rücksicht darauf, aus welcher Erkenntnisbeziehung sie hervorgegangen ist, welche Idee sie ist und auf welchen Gegenstand und welche Seite des Gegenstands sie sich bezieht. Die Analyse des Gehalts dieser zwei grundlegenden Erkenntnisideen führt uns vor allem zu einer Antwort auf so prinzipielle Fragen wie "Was ist die Erkenntnisbeziehung überhaupt?" oder "Was ist das Erkenntnisergebnis überhaupt?" Die Analyse dieser Ideengehalte führt uns aber [auch] zur Analyse anderer Erkenntnisideen wie der allgemeinen Idee des Erkenntnissubjekts, der Idee des Erkenntnisobjekts überhaupt, der Idee des Wertes eines Erkennt-

Ich werde später versuchen, die ganze Problematik der Erkenntnistheorie aufzurollen.

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nisergebnisses überhaupt und diese liefern eine Reihe von Antworten auf die Grundfragen: "Was ist das Erkenntnissubjekt?", "Was ist das Erkenntnisobjekt?" liefern. Diese Antworten erlauben es, das System der Erkenntniskategorien klarzustellen, nach dem wir schon vom Anfang unserer Untersuchungen an gesucht haben. Die weiteren Betrachtungen gestatten es uns, eine Reihe von Grundverhältnissen zwischen den Erkenntniskategorien aufzufinden und ein System von erkenntnistheoretischen Axiomen (ein System von Prinzipien) aufzustellen. Doch nicht nur die allgemeinsten Erkenntnisideen können einen Forschungsgegenstand der reinen Erkenntnistheorie ausmachen. Auch die weniger allgemeinen Ideen, also ζ. B. die Idee verschiedener Arten von Erkenntnissubjekten, verschiedener prinzipiell möglicher Erkenntnisobjekte, verschiedener möglicher Erkenntniswerte und möglicher Relationen zwischen ihnen, muß man einer apriorischen Analyse unterziehen und auf diesem Weg eine reine ErkenntnisfÄeone errichten, vorläufig ohne jeden Gedanken, sie auf irgendeinen faktischen Fall der Erkenntnis und des Erkennens anzuwenden und ohne die Absicht, zu beurteilen, welchen konkreten Erkenntniswert ein bestimmtes Erkenntnisresultat besitzt. B. Die Kriteriologie Der Gedanke, die rein theoretischen epistemologischen Resultate zur Beurteilung, mithin zur Kritik gewisser konkreter Erkenntnisresultate oder ihrer Arten zu verwenden, führt uns zur Errichtung eines speziellen Teilgebiets der Epistemologie, das an der Grenze zwischen allgemeiner Erkenntnistheorie und Metaphysik der Erkenntnis liegt, nämlich der Kriteriologie, die ein System der Erkenntniskriterien aufstellt. Das sind Sätze, welche die Bedingungen festlegen, die z. B. das Erkenntniserlebnis E und seine Erkenntnisbeziehung Β zu einem Gegenstand einer bestimmten Art Κ zu erfüllen haben, damit das durch den Vollzug von E gewonnene Erkenntnisresultat R einen bestimmten Erkenntniswert W besitzt. Die Kriteriologie stützt sich natürlich ausschließlich auf die Resultate der reinen allgemeinen Erkenntnistheorie, wobei es möglich ist, auf Grund des Systems der Kriterien ein System der Erkenntnisnormen aufzubauen, deren Befolgen bei der konkreten Erkenntnisarbeit geboten wäre ("Man soll einen Erkenntnisakt A mit einem Inhalt I bezüglich eines Gegenstands G vollziehen, damit das dadurch gewonnene Erkenntnisresultat R den Wert W besitzt").

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In der gegenwärtigen Phase unserer Betrachtungen kann man nicht voraussehen, welche diese Kriterien sein werden und welcher Art. Dies könnte man erst tun, wenn man die reine allgemeine Erkenntnistheorie wenigstens in ihren Grundrissen fertig hätte, nämlich in dem Teil, der das System der Erkenntniskategorien betrifft. De facto ist dieses Teilgebiet der erkenntnistheoretischen Forschung noch sehr wenig bearbeitet oder fast unbearbeitet. Auch wenn in der gegenwärtigen Literatur gewisse verstreute Ansätze zu diesem Thema vorliegen, so treten sie eher als versteckte oder wenigstens nicht explizit präzisierte Voraussetzungen anderer Betrachtungen auf. Auf jeden Fall gelangt die Eigenart der Probleme der reinen Erkenntnistheorie in Gegenüberstellung zur Kriteriologie und zu den Problemen der angewandten Erkenntnistheorie nicht zum deutlichen Bewußtsein. Manche Autoren stellen zwar die Erkenntnis/fteone und die Kritik der Erkenntnis einander gegenüber, sind sich aber darüber nicht im klaren, daß es sich bei der ersteren um rein ontologische Betrachtungen handelt, die von allen Existenzsetzungen wie auch von allen Anwendungen auf die eventuell faktisch vorkommenden Erkenntnisse und die darin gewonnenen Erkenntnisergebnisse frei sind, während es bei der letzteren um Betrachtungen geht, die einerseits mit einem unverkennbaren Gewicht der Faktizität belastet sind (handelt es sich doch um die Feststellung, daß gewisse konkrete Erkenntnisoperationen derart sind, daß man bei ihrem Vollzug in bezug auf einen Gegenstand ein soundso beschaffenes Erkenntnisresultat gewinnt) und die andererseits darauf abzielen, auf diese Tatsachen die Kriterien anzuwenden, eine Beurteilung von ihnen durchzuführen. Im Augenblick kann man nur vermuten, daß die auf Grund der Analyse der allgemeinsten Erkenntnisideen - also noch vor der Analyse des Gehalts der weniger allgemeinen Ideen - gewonnenen Kriterien nicht nur einen sehr allgemeinen Charakter, sondern zugleich auch den Charakter formaler Entscheidungen haben werden. Neben diesen allgemeinen und formalen Kriterien kann man aber ohne Zweifel auch speziellere Kriterien konstruieren, Kriterien also, die sich in den Fällen anwenden lassen, in denen gewisse spezielle Voraussetzungen erfüllt sind, und vielleicht auch materiale Kriterien, welche die Typen des Inhalts der Erkenntnisresultate oder die Typen der Erkenntnisgegenstände (im Hinblick auf deren Natur bzw. deren qualitative Ausstat-

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tung) berücksichtigen, also ζ. B. die Kriterien, die für die Erkenntnisse von physischen Gegenständengelten. C. Die angewandte Erkenntnistheorie und die Kritik der Erkenntnisse Das dritte Glied im Gesamtsystem der erkenntnistheoretischen Forschungen sind verschiedene angewandte Erkenntnistheorien, ζ. B. die Theorie der menschlichen Erkenntnis (ein besonderer Fall a) des Erkenntnissubjekts, b) der Bedingungen, unter denen die Erkenntnis sich abspielt, c) der Gegenstände, auf welche die menschliche Erkenntnis sich bezieht bzw. beziehen kann). Wie ich erwähnt habe, haben wir hier zweierlei Untersuchungen vor uns: a) [erstens] die Untersuchungen darüber, wie ein konkretes Erkennen faktisch verläuft, zu welchem Erkenntnisergebnis es faktisch geführt hat und in bezug auf welchen Gegenstand dieses Erkenntnisergebnis diesen oder jenen Wert haben soll. Natürlich kann es sich hier sowohl um einen einzelnen Fall als auch um eine ganze Klasse von Fällen handeln, d. h. um eine Art der soeben genannten Tatsachen (in einer anderen Sprache also um den Gehalt gewisser Ideen - um die Feststellung des Vorhandenseins der Individuen, die unter diese Ideen fallen; mithin [handelt es sich] nicht um die reine Ontologie, sondern um eine angewandte). Die Faktizität muß jedoch in beiden Fällen berücksichtigt werden. Es ist klar, daß diese Faktizität den Postulaten nicht widersprechen soll, die uns zur phänomenologischen Erkenntnistheorie geführt haben, mithin dem Postulat der phänomenologischen Reduktion. Es wird sich also nicht um die Faktizität dieser wirklichen Welt und eines in dieser Welt lebenden psychophysischen Subjekts, sondern um die Faktizität einer besonderen Art des reinen Subjekts und die Faktizität der diesem Subjekt erscheinenden Phänomene handeln (im ersten Fall läge eine petitio principii vor). Das Ideal wäre dabei natürlich, IVesmserkenntnisse der hier in Betracht kommenden Elemente zu gewinnen. Hier wäre auch - wie es scheint - ein Platz für diejenige "Erkenntnistheorie", welche die Wesen der Erkenntniserlebnisse und ihrer Korrelate untersucht. Wir sollen aber nicht im voraus entscheiden, ob dies in jedem Fall möglich ist. Denn es ist mindestens zweifelhaft, ob alle Phänomene einer phänomenalen Welt Individuen von exakten speziellen Ideen sind. Es ist somit sehr wahrscheinlich, daß wir in vielen Fäl-

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len auf empirische Untersuchungen (im üblichen Wortsinne) angewiesen sein werden und uns daher mit Resultaten von einem nicht sehr hohen Erkenntniswert werden begnügen müssen. Es wird sich auch gleich zeigen, daß wir infolgedessen gezwungen sind, die Bestimmung der Erkenntnistheorie hinsichtlich ihres angewandten Teils noch einmal zu modifizieren und eine ganze erkenntnistheoretische Problematik einer eigenen Art zu entwickeln. b) Die zweite Reihe von Untersuchungen, die sowohl die allgemeine reine Erkenntnistheorie als auch die Kriteriologie als schließlich die hier unter a) genannten Untersuchungen voraussetzt, betrifft die Beurteilung - die Bestimmung des Erkenntniswerts sei es (gewisser bestimmter) Erkenntnisresultate, die in gewissen Erkenntnisoperationen tatsächlich gewonnen werden, sei es der Erkenntnisoperationen selbst, die als Mittel zur Gewinnung bestimmter Erkenntnisresultate betrachtet werden und dadurch sekundär einen Erkenntniswert aufweisen. Hierzu gehört z.B. die Erkenntniskritik im prägnanten Wortsinne. Ein Postulat ist dabei natürlich, daß jene Beurteilung selbst auf eine Weise vollzogen wird, die keine Bedenken hinsichtlich ihrer Richtigkeit erweckt, und daß sie definitv und allgemein ist (besser vielleicht: nicht relativ auf das beurteilende Subjekt). Sonst würde nämlich die Erkenntnistheorie nicht auf befriedigende Weise die Aufgabe (das Ziel) erfüllen, wozu sie berufen wurde. Ob es aber in Wahrheit möglich ist, eine solche Beurteilung zu gewinnen, angesichts der Notwendigkeit, sie auf gewisse Tatsachen anzuwenden, werden wir noch in unseren weiteren Betrachtungen erwägen. D. Die metaphysischen Folgerungen aus den Resultaten der Erkenntniskritik Es muß ausdrücklich betont werden, daß zu den erkenntnistheoretischen Betrachtungen die Folgerungen nicht gehören, die man auf Grund dieser oder jener Resultate einer Erkenntnis bezüglich der Gegenstände dieser Erkenntnis ziehen kann. Das ist geboten, denn man verwechselt hier gewöhnlich verschiedene Problemgebiete und sagt ζ. B., das Problem "Realismus-Idealismus" sei ein erkenntnistheoretisches Problem, weil wir dazu u. a. auf Grund gewisser erkenntnistheoretischer Überlegungen gelangen. Indessen ist das ein metaphysisches Problem par excellence. Es handelt sich nämlich um den folgenden Punkt: Nehmen wir an, wir sind im Laufe der erkenntnistheoretischen Betrachtungen zu einem definitiven Resultat gelangt, daß nämlich eine Erkenntnis X bezüglich eines Gegenstands

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Y einen Erkenntniswert Ζ besitzt (nehmen wir an, daß Ζ = 1, d. h., daß die Erkenntnis X absolut wahr ist). Es entsteht die Frage, was man dann vom Gegenstand Κ behaupten kann. Wenn ζ. Β. Z = 1 ist, dann existiert Fund hat genau die Merkmale, die ihm X zuweist. Es kann sein, daß wir für die Gewinnung dieser Folgerung letzten Endes die Mühe erkenntnistheoretischer Untersuchungen auf uns nehmen. Gleichwohl ist das schon ein definitives Wissen, so vollkommen, wie es uns möglich ist, über den Gegenstand der Erkenntnis, über eine Realität, ein Seiendes dieser oder jener Art. Es handelt sich also nicht mehr um eine erkenntnistheoretische, sondern um eine metaphysische These.

§ 26. Das Problem der Objektivität der sinnlichen Wahrnehmung auf dem Boden der phänomenologischen angewandten Theorie der Wesenserkenntnis Um zu zeigen, daß die oben angegebene Bestimmung der angewandten Erkenntnistheorien als Wissenschaften von den Wesen u. a. der Erkenntniserlebnisse und deren Korrelate (Phänomene) nicht befriedigend ist und sehr prinzipielle Schwierigkeiten bereitet, muß man von den zuletzt durchgeführten abstrakten und allgemeinen Betrachtungen zur konkreten Behandlung eines ganz bestimmten Erkenntnisproblems übergehen. Denn erst in der konkreten epistemologischen Arbeit lassen sich die Schwierigkeiten empfinden und bestimmen, die sich aus der angegebenen Konzeption der angewandten Erkenntnistheorie ergeben. Ich wähle zu diesem Zweck ein Problem, das ich schon einmal aufgerollt habe, allein auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie, mithin auf eine Weise, die mit verschiedenen sozusagen Erbsünden dieser ganzen Theorie belastet war: das Problem der Objektivität der sinnlichen, insbesondere visuellen Wahrnehmung. Ich werde zunächst versuchen, das Problem selbst so zu umreißen, wie es sich nach dem Vollzug der phänomenologischen Reduktion darstellt. Ich beschränke mich selbstverständlich auf die Hauptpunkte. Auf dem Boden der psychophysiologischen Erkenntnistheorie stellte sich das Problem der Objektivität der sinnlichen (ζ. B. visuellen) Wahrnehmung als Problem eines Vergleiches zwischen zwei wirklichen Entitäten dar, die

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Elemente derselben realen Welt bilden: zwischen a) dem konkreten Inhalt einer faktisch stattfindenden visuellen (allgemeiner: sinnlichen) Wahrnehmung und b) den Eigenschaften eines Gegenstands. Dieser Vergleich läßt sich direkt nicht durchführen, er wurde also mit Hilfe vermittelnder Glieder, nämlich physiologischer Prozesse vollzogen, wobei der Gegenstand als der "physische Reiz" der gegebenen sinnlichen Wahrnehmung aufgefaßt wurde. Wie wir gesehen haben, war diese ganze Betrachtung mit dem Fehler einer petitio principii behaftet. Diese Tatsache hat uns dazu veranlaßt, die sog. "phänomenologische Reduktion" durchzuführen, dergemäß wir uns alle Urteile über die Gegenstände der wirklichen Welt (mithin auch über das Subjekt im Sinne des psychophysischen Individuums) verboten haben. In ihrer Folge sind uns einerseits a) das reine Subjekt als Träger und Vollzieher des Wahrnehmungsaktes und b) das reine Wahrnehmungserlebnis (nicht ein realer Vorgang) Übriggeblieben, andererseits hingegen nicht ein an sich seiender Gegenstand (ein Ding), sondern ein "Gegenstandssinn", Phänomen - das intentionale Korrelat des Erlebnisses. Es erhebt sich die Frage, ob das Problem der Objektivität überhaupt gestellt werden kann, und wenn ja, auf welche Weise, angesichts der Tatsache, daß der autonome Wahrnehmungsgegenstand selbst als das zweite unabhängige Glied der Erkenntnisbeziehung aus den Betrachtungen ausgeschaltet wurde. Von einer Unterscheidung zwischen wahrgenommenem Ding und Inhalt der Wahrnehmung kann doch keine Rede sein, wenn die Glieder der Erkenntnisbeziehung unabhängig voneinander existieren sollen. Zwar können wir auch vom phänomenologischen Standpunkt aus ohne Mühe eine Unterscheidung machen zwischen dem "wahrgenommenen Gegenstand" genau so, wie er wahrgenommen wird, (dem "Gegenstandssinn", dem "Phänomen") und dem "Inhalt der (z.B. visuellen) Wahrnehmung", d. h. entweder einer "Ansicht" (was noch vieldeutig ist) oder dem "unanschaulichen Inhalt der im Wahrnehmungsakt beschlossenen Meinung". Doch eine vergleichende Zusammenstellung dieser Entitäten, die zu dem Zweck angestellt wird, zu erkunden, ob und inwiefern der "Wahrnehmungsinhalt" dem "Wahrnehmungsgegenstand" angepaßt ist, kann uns aus zwei Gründen nicht dazu dienen, das Problem der Objektivität der sinnlichen (visuellen) Wahrnehmung zu klären bzw. zu stellen. Nämlich: 1. Sogar bei der Feststellung z.B. von "Ähnlichkeit" (oder "Unähnlichkeit") zwischen dem "Gegenstandssinn" und dem "Inhalt" ist das Ergebnis

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eines solchen Vergleiches allein für die Lösung des Objektivitätsproblems der Wahrnehmungen ohne Bedeutung. Denn worum handelt es sich bei diesem Problem? Darum, welchen Erkenntniswert unsere Wahrnehmung hat, d. h. darum, ob wir den Gegenstand genau mit den Eigenschaften und formalen und existenzialen Momenten wahrnehmen, die dem wahrgenommenen Gegenstand unabhängig von der Tatsache der sich eben abspielenden Wahrnehmung zukommen. Wenn wir also den "Gegenstandssinn", d.h. "den Gegenstand genau so, wie er wahrgenommen wird" (also mit den Eigenschaften, die er als intentionales Korrelat der betreffenden Wahrnehmung zu besitzen scheint) mit dem so oder anders verstandenen "Inhalt" der Wahrnehmung, z.B. mit einer Ansicht vergleichen, dann vergleichen wir etwas, was beim Problem der Objektivität der Wahrnehmung gar nicht in Betracht kommt. Denn es handelt sich [dabei] nicht um das Verhältnis des Inhalts zum Gegenstand, so wie er wahrgenommen wird, sondern zum Gegenstand, so wie er an sich ist; und ob er an sich so ist, wie er wahrgenommen wird, dürfen wir zwar nicht negativ entscheiden, aber auch nicht positiv voraussetzen. 2. Der zweite Grund liegt darin, daß der "Gegenstandssinn" (das Phänomen) - wie man durch entsprechende Analysen nachweisen kann - seinem Aufbau und seinem Gehalt nach vom Verlauf und Inhalt der Wahrnehmung, der er zugehört, nicht unabhängig ist. Das läßt sich ζ. B. durch eine Änderung der Einstellung des wahrnehmenden Subjekts und die Beobachtung der konkreten Änderungen im "Gegenstandssinn" demonstrieren. Näher verbunden mit dem Problem der Objektivität wäre schon eher der Vergleich des "wahrgenommenen Gegenstands" (Gegenstandssinnes) mit dem Gegenstand, so wie er an sich ist. Dieser Vergleich ist aber prinzipiell unmöglich. Man muß überhaupt den Gedanken aufgeben, das Problem der Objektivität durch den Vergleich von irgend etwas mit dem "Gegenstand an sich" zu lösen. Nachdem dieser aus unseren Betrachtungen ausgeschieden worden ist, bleibt uns nur übrig, unter Berücksichtigung a) des Erkenntnissubjekts, b) seiner Funktionen - der Erkenntnisoperationen - , insbesondere des Wahrnehmungsaktes mit seinem unanschaulichen Inhalt, c) einer Ansicht und d) des Gegenstandssinnes das Problem der Rechtmäßigkeit des Gegenstandssinnes zu erörtern oder auch - wenn jemand will - indem man die Rechtmäßigkeit der Meinung der realen Existenz eines Gegenstands mit gerade dem "Sinn"

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berücksichtigt wie derjenige, der in der gegebenen Wahrnehmung (im ganzen System der zugehörigen Wahrnehmungen) anschaulich als "Gegebenes" auftritt. Wie könnte denn jemand das Problem der "Rechtmäßigkeit" lösen, der den Standpunkt der phänomenologisch-eidetischen Erforschung der in Betracht kommenden Elemente vertritt? Er müßte vor allem das Wesen erforschen: a) des Aktes der visuellen Wahrnehmung mit seinem unanschaulichen Inhalt (dem Inhalt der Meinung) bzw. das Wesen mehrerer solcher Akte, die sich auf ein und denselben Gegenstand (obwohl mit verschiedenen Inhalten) beziehen, b) des wahrnehmenden Subjekts, c) der Wahrnehmungsansicht des gegebenen Gegenstands - der Ansicht, die zu dem unter a) untersuchten Akt gehört - bzw. einer ganzen Mannigfaltigkeit von solchen Ansichten, d) des wahrgenommenen Gegenstands, der in dem unter a) bestimmten Wahrnehmungsakt "gegeben" ist (des "Phänomens"). Die Feststellung aller dieser Wesenstatsachen wäre aber nur die Vorbereitung eines Ausgangspunkts zu weiteren Untersuchungen. Sie würde nämlich in der Behauptung gipfeln, daß in einem wesensmäßig soundso beschaffenen Wahrnehmungsakt mittels wesensmäßig soundso beschaffener Ansichten dem Subjekt X ein Gegenstand mit dem und dem Wesen gegeben ist. Das reicht natürlich nicht aus, um eine Beurteilung der Rechtmäßigkeit (der Objektivität oder - allgemeiner - des Erkenntniswertes) der gegebenen Wahrnehmung zu geben. Man müßte natürlich noch über gewisse Kriterien der Objektivität verfügen. Nehmen wir an, solche Kriterien

K 2 ,... A"nhabe

uns die reine und allgemeine Erkenntnistheorie bzw. die Kriteriologie geliefert. Können wir dann ohne weiteres die Beurteilung der Objektivität durchführen? Dürfen wir dann ohne Bedenken die allgemeinen Kriterien auf den Spezialfall anwenden, den wir in unserer vorbereitenden Wesenserforschung der Elemente der faktischen Situation festgestellt haben? Es erheben sich hier die folgenden Bedenken: 1. Die Elemente der faktischen Situation sind individuelle Entitäten, die wie wir meinen - faktisch existieren. Bei manchen dieser Elemente, insbesondere a) bei den Akten und dem unanschaulichen Inhalt, der in den Akten

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als ihr wesentlicher Bestandteil enthalten ist, und b) bei manchen Ansichtsschichten (der Empfindungsgrundlage) können wir keine Bedenken haben, was ihre faktische Existenz betrifft (ob dies auch bei den "vermeinten Gegenständen", den Gegenstandssinnen - als Elementen, die gegenüber den Akten transzendent sind - der Fall ist, möchte ich wenigstens hier offen lassen). Nehmen wir aber sogar an, daß die faktische Existenz aller in Betracht kommenden Elemente außer Zweifel steht, auch dann erhebt sich noch ein anderes Bedenken im Zusammenhang mit dem hypothetischen Charakter der Wesenssätze. Wie ich früher gesagt habe, können wir durch das Vollziehen einer Wesenserkenntnis nie direkt die Sicherheit haben, daß ein Gegenstand X das Wesen Y(X) besitzt. Es gilt immer nur: "Wenn der untersuchte Gegenstand in Wahrheit die Natur X hat, dann ist sein Wesen Y(X), sofern dabei X eine abgeleitete spezifische Qualität ist." So können wir auch in unserem Fall keine Sicherheit haben, daß die Elemente der faktischen Situation gerade solche Naturen besitzen, wie es uns beim Festlegen ihrer Wesen scheint. Diese Sicherheit zu gewinnen ist jedoch unentbehrlich, sollen wir sicher sein, daß unsere Beurteilung richtig durchgeführt wurde, d.h. daß wir darin recht haben, daß die Gesichtswahrnehmung uns nicht täuscht. 2. Es ist dabei gar nicht evident, ja nicht einmal im voraus zu erwarten, daß die "konstitutiven Naturen" der Elemente a - d , die bei der Festlegung der faktischen Situation in Betracht kommen, durch spezifische abgeleitete Qualitäten bestimmt sind (daß diese Elemente Individuen gewisser exakter Ideen bilden). Hätten wir es aber in einem konkreten Fall mit Entitäten zu tun, die unter unexakte Ideen fallen, dann wäre - wie ich angedeutet habe - ihre Natur, wie sie sich uns in einem Moment tn darstellt, a) eine Synthese, die relativ auf die "bisherige Erfahrung" ist, d. h. auf die Fälle der Erfahrung, die in den Momenten f m gewonnen werden, wobei m