Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie Teil II: Philosophische Werke Band 2: Schriften zur Monadenlehre und zur Ethik und Rechtsphilosophie 9783787337262, 9783787313884

Die philosophische Grundhaltung des wohl letzten großen Vertreters der Systemphilosophie, Gottfried Wilhelm Leibniz (164

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Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie Teil II: Philosophische Werke Band 2: Schriften zur Monadenlehre und zur Ethik und Rechtsphilosophie
 9783787337262, 9783787313884

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Philosophische Bibliothek

Gottfried Wilhelm Leibniz Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie Teil II

Meiner

GOT T F R I E D W I L H E L M L EI BNIZ

Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie Übersetzt von Artur Buchenau mit Einleitung und Anmerkungen herausgegeben von Ernst Cassirer Teil II

F E L I X M EI NER V ER L AG H A M BU RG

PH I L O S OPH I S C H E BI BL IO T H E K BA N D 4 9 7

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ­u rsprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bi­­­blio­g ra­phi­sche Daten sind im Internet a­ brufbar über ‹http://portal.dnb.de›. ISBN 978-3-7873-1388-4 ISBN eBook: 978-3-7873-3726-2

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1996. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.

VORBEMERKUNG DES VERLAGS

In der Herausgabe der Philosophischen Werke von G. W. Leibniz in deutscher Übersetzung hat Ernst Cassirer in den Jahren von 1904-1915 eine wichtige Aufgabe gesehen, der er sich nach Vor­ lage seiner Gesamtdarstellung von Leibniz ' System in seinen wissen­ schaftlichen Grundlagen ( 1902) und zeitgleich mit der Ausarbei­ tung der Bände I und II von Das Erkenntnisproblem in der Philo­ sophie und Wissenschaft der neueren Zeit ( 1906 ; 1907) mit großer Sorgfalt widmete. Insbesondere seine Zusammenstellung und er­ läuternde Kommentierung der von Artur Buchenau übersetzten Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie ( 1904 ; 1906) auf der Grundlage der von C. I. Gerhardt edierten mathematischen und philosophischen Schriften von G. W. Leibniz bot zum ersten Male einen umfassenden deutschsprachigen Konspekt des Gesamtwerks unter dem Gesichtspunkt der gedanklichen Entwicklung des Sy­ stems, der bis heute von keiner anderen Ausgabe der Leibnizschen Werke erreicht oder gar überboten wurde. Zusammen mit der 1915 erschienenen Neuübersetzung der Neuen A bhandlungen über den menschlichen Verstand und der 1925 nachgereichten Theodicee (von Artur Buchenau) gilt die hier wieder zusammengeführte vierbän­ dige Werkausgabe in Lehre und Forschung als maßgeblich. Für diese Neuausgabe wurden die Texte in allen Teilen neu ge­ setzt und neu umbrochen. Im Unterschied zu den früheren Aufla­ gen sind die beiden Bände der Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie nunmehr mit einer durchgehenden Seitenzählung ver­ sehen und neu aufgeteilt: die Schriften zur Biologie und Entwick­ lungsgeschichte (vordem in Band II) bilden jetzt den Abschluß von Band I; die systematischen Einleitungen Cassirers zu den unter­ schiedenen Abteilungen wurden zusammengezogen und an den An­ fang von Band 1 gestellt ; die erläuternden Textanmerkungen Cas­ sirers zu den ausgewählten Leibniz-Texten sind fortlaufend gezählt und in beiden Bänden jeweils an das Ende gerückt. Den von Cassi­ rer gebildeten deutschen Titelüberschriften für die kleineren Leib-

VI

Vorbemerkung

niz-Texte sind - sofern vorhanden - die originalen lateinischen bzw. französischen Titel hinzugefügt, um das leichte Auffinden der in der Forschung zumeist unter den Originaltiteln zitierten Texte zu ermöglichen ; entsprechend wurden die von A. Buchenau und E. Cassirer gelegentlich ungenau und häufig in wechselnden Schrei­ bungen gegebenen Titel- und Quellenangaben durchgehend redak­ tionell überprüft, korrigiert und vereinheitlicht. Die doppelte Datierung vieler der in die Auswahl aufgenommenen Briefe aus den von Leibniz mit den Gelehrten seiner Zeit geführten Korre­ spondenzen geht zurück auf die jeweiligen Originale: vor dem Schrägstrich steht das Datum >>alten Stils>neuen Stils« nach dem Gregorianischen Kalender, der von den katholischen Län­ dern im Jahre 1582 eingeführt, von den evangelischen jedoch teil­ weise erst im 1 8 . Jahrhundert übernommen wurde. Abweichend von den früheren Auflagen werden die Titel der von Leibniz und den Herausgebern genannten Werke anderer Autoren sowie die in den Herausgeberanmerkungen angeführten Titel der Leibniz­ schen Schriften im Regelfall nicht in deutscher Ü bersetzung, son­ dern im originalen Wortlaut wiedergegeben und durch Kursive hervorgehoben. Daneben werden auch Sperrungen des Originals durch Kursive wiedergegeben (in Zweifelsfällen folgt die Neuaus­ gabe jedoch der Ausgabe der Originaltexte durch Gerhardt und nicht den Vorgaben aus den früheren Auflagen der Übersetzung von Buchenau und Cassirer). Einschübe und redaktionelle Zusät­ ze stehen in [ ] Klammern. Angaben zum Fundort der für die Ü ber­ setzung ausgewählten Texte bei Gerhardt oder in einer der anderen im nachfolgenden Abkürzungsverzeichnis aufgeführten Ausgaben werden mit Asterixen gekennzeichnet und als Fußnoten unter den Seiten wiedergegeben, ebenso Angaben zur Beschaffenheit oder Dar­ bietungsform der gekürzt oder nur berichtsweise aufgenommenen Texte. Ein Personen- und ein Schriftenregister für die Bände 1 und 2 der Ausgabe finden sich in Band 2, für die Bände 3 und 4 jeweils am Schluß des Bandes. Der Verlag

INHALT

Band 2 VORBEMERKUNG DES VERLAGS

..

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

XII

ABKÜRZUNGEN

Gottfried Wilhelm Leibniz Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie II

.............. Ü ber die Methode, reale Phänomene von ima­ ginären zu unterscheiden I De modo distinguendi phaenomena realia ab imaginariis . . . . . . . . Von dem Verhängnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Metaphysische Abhandlung I Discours de meta· physique . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus dem Briefwechsel zwischen Leibniz und Arnauld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Neues System der Natur und der Gemeinschaft der Substanzen, wie der Vereinigung zwischen Körper und Seele I Systeme nouveau de la nature et de la communication des substances . . . . . . . Zur prästabilierten Harmonie I Extrait d'une let· tre de Leibniz sur son hypothese de philosophie et sur le problerne curieux qu 'un de ses amis propose aux mathematiciens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufklärung der Schwierigkeiten, die H. Bayle in dem neuen System der Vereinigung von Seele und Körper gefunden hat I Eclaircissement des diffi· cultes que Monsieur Bayle a trouvees dans le systeme nouveau de l'union de l'ame et du corps

VI. SCHRIFTEN ZUR MONADENLEHRE

23.

24. 25. 26. 27.

28.

29.

331

331 337 343 389

447

459

462

VIII

Inhalt

30. Aus dem Briefwechsel zwischen Leibniz und de Volder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schreiben von Leibniz an Bernoulli . . . . . . . . 3 1 . Aus dem Briefwechsel zwischen Leibniz und Bernoulli . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32. Erwiderung auf die Betrachtungen Bayles über das System der prästabilierten Harmonie I Reponse aux rejlexions contenues dans Ia seconde Mition du Dictionnaire critique de M. Bayle, article Ro· rarius, sur le systeme de l'harmonie preetablie Aus dem Briefwechsel zwischen Leibniz und Bayle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33. Von dem, was jenseits der Sinne und der Materie liegt I Lettre touchant ce qui est independant des sens et de Ia matiere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34. Die Vernunftprinzipien der Natur und der Gna­ de I Principes de Ia nature et de Ia grace, fondes en ratson . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35. Monadologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36. Aus den Briefen von Leibniz an Remond 37. Aus den Briefen von Leibniz an Bourguet . . . .

.. Von der Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ü ber die Freiheit I De libertate . . . . . . . . . . . . Fragmente aus den rechtsphilosophischen Schriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unvorgreifliche Gedanken, betreffend die Ausübung und Verbesserung der teutschen Sprache

V I I . SCHRIFTEN ZUR ETHIK UND RECHTSPHILOSOPHIE

38. 39. 40. 41.

ANMERKUNGEN.

Von Ernst Cassirer

PERSONENREGISTER SCHRIFTENREGISTER

............................... ..............................

471 533 535

555 576

580

592 603 622 639 649 649 654 661 672 57* 79* 84*

Inhalt

IX

Band 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

V

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XII

VORBEMERKUNG DES VERLAGS ABKÜRZUNGEN

Von Ernst Cassirer . . . EINLEITUNG. Von Ernst Cassirer VORREDE.

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XIII

. . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XV

Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie I I. SCHRIFTEN ZUR LOGIK UND METHODENLEHRE

1 . Dialog über die Verknüpfung zwischen Dingen und Worten I Dialogus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Betrachtungen über die Erkenntnis, die Wahrheit und die Ideen I Aus Meditationes de cognitione, veritatis et ideis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zur allgemeinen Charakteristik I Zur Characteristica universalis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Methoden der universellen Synthesis und Analysis I De synthesi et analysi universali seu arte inveniendi et judicandi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .................. Aus den metaphysischen Anfangsgründen der Mathematik I Aus lnitia rerum mathematicarum metaphysica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zur Analysis der Lage I De analysi situs . . . . Entwurf der geometrischen Charakteristik . . . Über das Kontinuitätsprinzip I Principium quod­ dam generate non in mathematicis tantum sed et physicis utile, cujus ope ex consideratione sapien­ tiae divinae examinantur naturae Ieges, qua occasione nata cum R. P. Mallebranchio contro· versia explicatur, et quidam Cartesianorum erro· res notantur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II. SCHRIFTEN ZUR MATHEMATIK

5.

6. 7. 8.

3 3

9 16

24 35

35 49 56

62

Inhalt

X

9. Aus dem Briefwechsel zwischen Leibniz und Vangnon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Rechtfertigung der Infinitesimalrechnung durch den gewöhnlichen algebraischen Kalkül I justifi· cation du calcul des infinitesimales par celuy de l'algebre ordinaire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.

..... Streitschriften zwischen Leibniz und Clarke . . Diskussion des Begriffs der absoluten und relativen Bewegung zwischen Leibniz u. Huygens . Kurzer Beweis eines wichtigen Irrtums, den Des­ cartes und andere in der Aufstellung eines Natur­ gesetzes, nach dem Gott stets dieselbe Bewe­ gungsquantität erhalten soll, begangen haben I Brevis demonstratio erroris memorabilis Cartesii et aliorum circa Iegern naturae, secundam quam volunt a Deo eandem semper quantitatem motus conservari, qua et in re mechanica abuntur . . Aus Specimen dynamicum . . . . . . . . . . . . . . . . . Aus dem Briefwechsel zwischen Leibniz und de !'Hospital . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

SCHRIFTEN ZUR PHORONOMIE UND DYNAMIK

11.

12.

13. 14.

71

77 81 81 182

186 194 207

IV. SCHRIFTEN ZUR GESCHICHTLICHEN STELLUNG DES

..................................... Bemerkungen zum allgemeinen Teil der Cartesi­ schen Prinzipien I Aus A nimadversiones in partem generalem Principiorum Cartesianorum . Gegen Descartes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kritik der philosophischen Prinzipien des Male­ branche I Entretien de Philarete et d'A riste, suite du premier entretien d'Ariste et de Theodore . Zu Spinozas Ethik I Ad Ethicam B. d. Sp. . . .

SYSTEMS

15.

16. 17.

18.

215

215 252

257 275

V. SCHRIFTEN ZUR BIOLOGIE UND ENTWICKLUNGSGE-

.................................... 19. Über die Atomistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

SCHICHTE

293 293

Inhalt

XI

20. Betrachtungen über die Lehre von einem einigen, allumfassenden Geiste I Considerations sur Ia doc· trine d'un esprit universei unique . . . . . . . . . . . 2 1 . Betrachtungen über die Lebensprinzipien und über die plastischen Naturen I Considerations sur les principes de vie et sur les natures plasti· ques . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22. Über das Kontinuitätsprinzip . . . . . . . . . . . . . . .

317 327

Von Ernst Cassirer . . . . . . . . . . . . . . . . . . ............................

1* 55*

ANMERKUNGEN. FIGURENTAFEL

.

.

.





305

XII

ABKÜRZUNGEN

Leibniz ' deutsche Schriften, herausgegeben von G. E. Guhrauer, 2 Bände, Berlin 1 83840. Dutens Leibnitii Opera omnia, herausgegeben von Ludovico Dutens, 6 Bände, Genf 1768. Die philosophischen Schriften von G. W: Gerh. Leibniz, herausgegeben von C. I. Gerhardt, 7 Bände, Berlin 1875-90. G. W: Leibniz. Hauptschriften zur Grund· Hauptschriften I legung der Philosophie I, übersetzt von A. Buchenau, herausgegeben von E. Cassirer, Harnburg 1904, Neuausgabe 1996. Lettres et opusculus inedits de Leibniz, her­ Lettr. et opusc. ausgegeben von A. Foucher de Careil, Paris 1 854. Math. G. W: Leibniz. Mathematische Schriften, herausgegeben von C. I. Gerhardt, 7 Bän­ de, Berlin 1 849-63. Mollat Mitteilungen aus Leibnizens ungedruckten Schriften, herausgegeben von G. Mollat, Leipzig 1 893. Nouv. Ess. G. W: Leibniz. Neue A bhandlungen über den menschlichen Verstand, herausgegeben von E. Cassirer, Harnburg 1915, Neuaus­ gabe 1996. Nouv. lettr. et opusc. Nouvelles lettres et opuscules inedits de Leib­ niz, herausgegeben von A. Foucher de Ca­ reil, Paris 1 857. Opusc. et fragrn. Opuscules et fragments inedits de Leibniz, herausgegeben von L. Couturat, Paris 1903. Deutsche Schriften

VI. SCHRIFTEN ZUR MONADENLEHRE

23. Über die Methode, reale Phänomene von imaginären zu unterscheiden De modo distinguendi phaenomena realia ab imaginariis * Eine Wesenheit nennen wir all das, dessen Begriff etwas Positives einschließt oder das von uns begrifflich erfaßt werden kann, vor­ ausgesetzt nur, daß das, was wir so erfassen, möglich ist und kei­ nen Widerspruch einschließt. Dies erkennen wir erstlich, wenn der Begriff seine vollkommene Erklärung gefunden hat und keine ver­ worrenen Bestandteile mehr enthält, dann auf kürzerem Wege, wenn der Gegenstand tatsächlich existiert; denn was existiert, muß unter allen Umständen eine Wesenheit haben und also auch mög­ lich sein. Wie nun die Wesenheit durch den distinkten Begriff, so ist die Existenz durch die distinkte Perzeption zu erläutern : um dies bes­ ser zu verstehen, müssen wir zusehen, durch welche Mittel man die Existenz zu beweisen vermag. Da urteile ich nun erstens ohne weiteren Beweis, gemäß der einfachen Perzeption oder Erfahrung, daß das existiert, dessen ich mir als in mir selbst bewußt bin, d. h. erstens Ich selbst, der ich eine Mannigfaltigkeit denke, und zwei­ tens diese mannigfaltigen Phänomene oder Erscheinungen, die in meinem Geiste vorhanden sind. Dies beides nämlich wird, da es sich direkt und ohne Vermittlung unserm Geiste darstellt, durch * In der Anordnung der Schriften zur Monadenlehre ist die chronolo· gisehe Reihenfolge eingehalten : an die Spitze sind jedoch zwei Abhandlun­ gen gestellt (Nr. 33 u. 34), deren Abfassungszeit sich nicht sicher bestimmen läßt und die zudem allgemeine philosophische Grundprobleme behandeln, ohne auf die konkreten Einzelfragen der >>Monadologie• einzugehen. Zu Nr. 23 vgl. Gerh. VII, 3 1 9 - 322.

332

VI.

Schriften zur Monadenlehre

unser Bewußtsein unmittelbar bezeugt ; und es ist von gleicher Ge­ wißheit, daß in meinem Geiste das Bild eines goldenen Berges oder eines Kentauren existiert, wenn ich hiervon träume, wie daß ich, der Träumende, existiere ; beides ist nämlich in dem einen enthal­ ten, daß es gewiß ist, daß mir ein Kentaur erscheint. Sehen wir nun zu, an welchen Anzeichen wir erkennen, wel­ che Phänomene real sind. Dies beurteilen wir nun bald aus dem Phänomen selbst, bald aus den vorhergehenden und folgenden Phä­ nomenen. Aus dem Phänomen selbst, wenn es sich uns lebhaft, vielfältig und in sich selbst harmonisch darstellt. Lebhaft wird es sein, wenn die Qualitäten des Lichtes, der Farbe, der Wärme in ihm genügend intensiv sind; vielfältig, wenn sie mannigfaltig sind und zu vielen neuen Versuchen und Beobachtungen Anlaß geben : wie wenn wir z. B. die Erfahrung machen, daß in dem Phänomen, im Ganzen sowohl wie in den einzelnen Teilen, nicht nur Farben, sondern auch Töne, Gerüche, Geschmack und Tastqualitäten vor­ handen sind, die wir wiederum auf ihre verschiedenen Ursachen hin untersuchen können. Diese lange Kette von Beobachtungen, die zumeist methodisch gewonnen und mit Auswahl angestellt sind, pflegt sich weder in Träumen noch auch in jenen Bildern, die das Gedächtnis oder die Phantasie uns darbietet, einzustellen, da hier das Bild meist schwach ist und uns während der Untersuchung unter der Hand entschwindet. In sich harmonisch wird ein Phänomen sein, wenn es aus einer Reihe von Phänomenen besteht, die sich wechselseitig aus einander oder aus einer gemeinsamen, hinreichend einfachen Hypothese erklären lassen; ferner, wenn es mit andern, gewohnten Phänomenen, die sich uns häufig dargeboten haben, in Einklang steht, so daß es in sich dieselbe Lage, dieselbe Ord­ nung und dasselbe Ergebnis aufweist, wie es ähnliche Phänomene gehabt haben. Im andern Falle wird uns die Erscheinung verdäch­ tig sein, denn sähen wir etwa, wie bei Ariost, Menschen auf geflü­ gelten Rossen durch die Luft eilen, so würden uns, denke ich, doch Zweifel kommen, ob wir träumen oder wachen. Dieses Merkmal läßt sich jedoch auf das andre und wichtigste Kriterium zurück­ führen, das wir aus der Betrachtung der vorhergehenden Phäno­ mene gewinnen. Mit diesen muß das gegenwärtige Phänomen übereinstimmen, sofern es denselben gewohnten Gang der Dinge

23. Ü ber die Methode, Phänomene zu unterscheiden

333

innehält oder sich aus den vorhergehenden Erscheinungen erklä­ ren läßt oder endlich, sofern es sich auf ein und dieselbe Hypo­ these als gemeinsamen Grund zurückführen läßt. Das stärkste Kriterium ist aber unter allen Umständen die Ü bereinstimmung mit dem ganzen Verlauf des Lebens, vorzüglich dann, wenn die Mehrzahl der andern Subjekte bestätigt, daß die Erscheinung auch mit ihren Phänomenen in Einklang steht ; denn daß andre, uns ähn­ liche Substanzen existieren, steht nicht nur mit Wahrscheinlich­ keit, sondern - wie ich in Bälde ausführen werde - mit Gewißheit fest. Das überzeugendste Zeichen für die Realität der Phänomene aber, das für sich schon ausreicht, besteht in der Möglichkeit, zu­ künftige Phänomene aus den vergangenen und gegenwärtigen mit Erfolg vorauszusagen; - gleichgültig, ob diese Voraussage sich auf Vernunftgründe oder auf eine bisher bewährte Hypothese oder aber auf den bislang beobachteten, gewohnten Gang der Dinge stützt. 334 Ja, wollte man selbst das ganze Leben nur einen Traum und die sichtbare Welt nur ein Trugbild nennen, so würde ich mei­ nerseits doch behaupten, daß dieser Traum oder dies Trugbild ge­ nügend Realität besitzt, wenn wir nur bei rechtem Gebrauch unserer Vernunft von ihm niemals getäuscht werden. Wie wir nun hieraus erkennen, welche Phänomene als real anzusehen sind, so werden wir andrerseits alle Vorgänge, die mit diesen als real er­ kannten Phänomenen streiten, desgleichen die, deren Falschheit wir aus ihren Ursachen heraus zu erklären vermögen, nur als schein­ bare ansehen. Es läßt sich indessen nicht leugnen, daß die bisher für die Rea­ lität der Phänomene angegebenen Kriterien, selbst in ihrer Gesamt­ heit, nicht streng beweisend sind. Wenngleich sie nämlich die größte Wahrscheinlichkeit oder, nach gewöhnlicher Ausdrucksweise, die größte moralische Gewißheit hervorzubringen vermögen, so er­ zeugen sie doch keine metaphysische Gewißheit derart, daß die Set­ zung des Gegenteils einen Widerspruch einschlösse. Es gibt daher kein Argument, durch das sich mit absoluter Sicherheit beweisen ließe, daß Körper existieren, und nichts hindert, daß bestimmte, wohlgeordnete Träume sich unserm Geist darbieten, die von uns für wahr gehalten werden und es vom Standpunkt der Praxis we­ gen ihrer durchgängigen Ü bereinstimmung auch sind. Auch das

334

VI.

Schriften zur Monadenlehre

gemeinhin vorgebrachte Argument, daß so Gott zum Betrüger wür­ de, hat keine große Bedeutung, wenigstens muß sich doch jeder sagen, wie weit es von einem Beweis, der metaphysische Gewiß­ heit mit sich führt, entfernt ist. Denn wir werden ja nicht durch Gott, sondern durch unser Urteil getäuscht, da wir ohne genaue Prüfung eine Behauptung aufstellen. Und wenngleich hier eine gro­ ße Wahrscheinlichkeit vorliegen mag, so wird doch Gott, der sie uns darbietet, darum nicht zum Betrüger. Denn wie stünde die Sa­ che, wenn unsre Natur etwa zur Erkenntnis realer Phänomene gar nicht fähig wäre 335 : dann müßte man doch wahrlich Gott nicht anklagen, sondern ihm vielmehr danken; denn indem er bewirkt hätte, daß jene Phänomene, die nun einmal nicht real sein kön­ nen, wenigstens miteinander übereinstimmten, hätte er uns doch damit etwas verliehen, was für jede praktische Anwendung im Le­ ben den wahren Phänomenen völlig gleichwertig wäre. Wie fer­ ner, wenn dies ganze, kurze Leben nur eine Art Traum wäre und wir erst im Augenblick des Sterbens daraus erwachten, wie dies die Platoniker anzunehmen scheinen ? Da wir nämlich für die Ewigkeit bestimmt sind, und dieses ganze Leben, wenn es auch viele Tausende von Jahren währte, mit der Ewigkeit verglichen nur ei­ nem Punkte gleichkäme : wie wenig besagt es da, wenn bei einer so dauernden Herrschaft der Wahrheit ein so flüchtiger Lebens­ traum eingeschoben ist, der im Verhältnis zur Ewigkeit weit kür­ zer ist als ein Traum im Verhältnis zum wachen Leben. Darum aber wird doch kein Vernünftiger Gott als Betrüger hinstellen, weil etwa ein kurzer Traum sich sehr distinkt und harmonisch unse­ rem Geiste darstellt. Bisher habe ich von den Inhalten der Erscheinung gesprochen ; es gilt nun, solche Inhalte zu betrachten, die zwar selbst nicht in die Erscheinung treten, sich aber dennoch aus dem Erscheinenden erschließen lassen. Nun hat sicherlich jedes Phänomen irgendeine Ursache. Behauptet jemand, diese Ursache der Phänomene liege in der Natur unsres Geistes, dem die Phänomene einwohnen, so ist dies zwar nicht falsch, enthält aber doch nicht die ganze Wahr­ heit. Erstlieh muß nämlich notwendig ein Grund vorhanden sein, warum wir selbst eher sind als nicht sind, und wenn wir selbst als von Ewigkeit her seiend gesetzt würden, so muß dennoch der

23. Über die Methode, Phänomene zu unterscheiden

335

Grund für diese ewige Existenz aufgefunden werden, der entwe­ der im Wesen unsres Geistes selbst oder außerhalb desselben zu suchen ist. Nun steht unstreitig dem nichts im Wege, daß unzäh­ lig viele andre Geister, gleich dem unsern, existieren, nicht aber existieren alle möglichen Geister, was ich daraus beweise, daß al­ les Existierende untereinander in durchgängiger Verknüpfung steht. Man kann sich jedoch Geister denken, die von andrer Natur als die unsre sind und mit ihr (nicht) in Verbindung stehen. Daß aber alles Existierende untereinander in Verbindung stehen muß, wird einmal dadurch bewiesen, daß sich sonst nicht sagen ließe, ob ein bestimmtes Ereignis jetzt vor sich geht oder nicht und daß es so­ mit für eine solche Aussage weder Wahrheit noch Falschheit gä­ be, was widersinnig ist ; sodann weil es keinerlei rein äußerliche Bestimmungen gibt, und niemand in Indien Witwer wird, wenn seine Gattin in Europa stirbt, ohne daß dabei eine reale Verände­ rung vor sich ginge. Jedes Prädikat ist nämlich tatsächlich in der Natur des Subjekts enthalten. 336 Wenn nun einige mögliche Gei­ ster existieren, so ist die Frage, warum nicht alle ; da ferner alles Existierende notwendig in Verbindung untereinander steht, so muß es auch notwendig für diese Verbindung eine Ursache geben, ja es muß notwendig alles ein und dieselbe Natur, wenngleich auf verschiedene Art, ausdrücken. Die Ursache nun, vermöge derer alle Geister untereinander in Verbindung stehen oder dasselbe aus­ drücken und somit existieren, ist eben dieselbe, die das Universum in vollkommener Weise ausdrückt, nämlich Gott. Sie ihrerseits hat keine Ursache und ist einzig. Hieraus erhellt nun sogleich, daß ei­ ne Menge Geister außer dem unsern existieren, und da sich leicht denken läßt, daß die mit uns in Verkehr stehenden Menschen eben­ scgroße Ursachen haben m ögen, an uns zu zweifeln, wie wir an ihnen, sich auch kein gewichtigerer Grund für uns ins Feld führen lassen wird, so werden auch sie existieren und Bewußtsein haben. Man kann danach bereits die politische wie die Kirchengeschich­ te, überhaupt aber alle Bestimmungen, die den Geistern oder den vernunftbegabten Substanzen zukommen, als beglaubigt ansehen. Betreffs der Körper kann ich beweisen, daß nicht nur Licht, Wär­ me, Farbe und dergleichen, sondern' auch Bewegung, Figur und Ausdehnung nur erscheinende Qualitäten sind. Gibt es etwas

336

VI. Schriften zur Monadenlehre

Reales, so ist dies allein in der Kraft des Handeins und Leidens zu suchen, die gleichsam als Materie und Form das Wesen der kör­ perlichen Substanz ausmacht. Die Körper aber, die keine substan­ tielle Form besitzen, sind nur Phänomene oder doch nur Aggregate der wahrhaften Realitäten.

24. Von dem Verhängnisse

337

24. Von dem Verhängnisse* Daß alles durch ein festgestelltes Verhängniß herfürgebracht wer­ de, ist eben so gewiß, als daß drey mal drey neun ist. Denn das Verhängniß besteht darin, daß alles an einander hänget wie eine Kette, und eben so unfehlbar geschehen wird, ehe es geschehen, als unfehlbar es geschehen ist, wenn es geschehen. Die alten Poeten, als Homerus und andere, haben es die gül­ dene Kette genennet, so Jupiter vom Himmel herab hängen lasse, so sich nicht zerreißen lässet, man hänge daran, was man wolle. Und diese Kette besteht in den Verfolg der Ursachen und der Wir­ kungen. Nemlichen jede Ursach hat ihre gewisse Würkung, die von ihr zuwege bracht würde, wenn sie allein wäre ; weilen sie aber nicht allein, so entstehet aus der Zusammenwirkung ein gewisser ahn­ fehlbarer Effect oder Auswurf nach dem Maaß der Kräfte, und das ist wahr, wenn nicht nur zwey oder 10, oder 1 000, sondern gar ahnendlich viel Dinge zusammen würken, wie dann wahrhaftig in der Welt geschieht. Die Mathematik oder Meßkunst kann solche Dinge gar schön erläutern, denn alles ist in der Natur mit Zahl, Maaß und Gewicht oder Kraft gleichsam abgezirkelt. Wenn zum Exempel eine Kugel auf eine andere Kugel in freier Luft trift, und man weiß ihre Grö­ ße und ihre Lini und Lauf vor dem Zusammentreffen, so kann man vorhersagen und ausrechnen, wie sie von einander prallen, und was sie vor einen Lauf nach dem Anstoß nehmen werden. Welches gar schöne Regeln hat ; so auch zutreffen, man nehme gleich der Ku­ geln so viel als man wolle, oder man nehme gleich andere Figuren, als Kugeln. Hieraus sieht man nun, das alles mathematisch, das ist, ahnfehl­ bar zugehe in der ganzen weiten Welt, so gar, daß wenn einer eine gnugsame Insicht in die innern Theile der Dinge haben könnte, und dabey Gedächtniß und Verstand gnug hätte, umb alle Um­ bstände vorzunehmen und in Rechnung zu bringen, würde er ein *

Deutsche Schriften, 48- 55

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VI. Schriften zur Monadenlehre

Prophet seyn, und in dem Gegenwärtigen das Zukünftige sehen, gleichsam als in einem Spiegel. Denn gleichwie sich findet, daß die Blumen, wie die Thiere selbst schon in dem Saamen eine Bildung haben, so sich zwar durch an­ dere Zufälle etwas verändern kann, so kann man sagen, daß die ganze künftige Welt in der gegenwärtigen stecke und vollkomment­ lich vorgebildet sey, weil kein Zufall von außen weiter dazu kom­ men kann, denn ja nichts außer ihr. Aber einem beschränkten Verstand ist unmüglich, künftige Din­ ge mit Umbständen vorherzusehen, weil die Welt aus ahnendli­ ehen Dingen bestehet, die zusammenwirken, also daß nichts so klein, noch so weit entfernet, welches nicht etwas beytrage nach seinem Maaß. Und solche kleine Dinge machen oft große mächti­ ge Veränderungen. Ich pflege zu sagen, eine Fliege könne den gan­ zen Staat verändern, wenn sie einen großen König vor der Nase herumsauset, so eben in wichtigen Rathschlägen begriffen ; denn weil es kommen kann, daß sein Verstand gleichsam in der Wage sey, ja dann beyderseits starke Gründe sich finden, so kann doch kommen, daß diejenigen Vorschläge den Platz gewinnen, bey de­ nen er sich mit Gedanken am meisten aufhält, und das kann die Fliege machen, und ihn eben verhindern und verstören, wenn er etwas anders recht betrachten will, so ihm hernach nicht just wie­ der auf solche Art ins Gemüth kommt. Diejenige so die Artillerie in etwas verstehen, wissen, wie eine kleine Aenderung machen kann, daß eine Kugel einen ganz andern Lauf nimmt ; daher hat es an einem kleinen gelegen, daß Turenne (zum Exempel) getroffen worden, und wenn das gleichwohl nicht geschehen, hätte der ganze damalige Krieg anders laufen können, und also wären auch die jetzigen Sachen anders herauskommen. So weiß man auch, daß eine Funke Feuer, so in ein Pulvermaga­ zin fället, eine ganze Weh verderben kann. Und eben diese Wirkung der Kleinigkeiten verursacht, daß die­ jenigen, so den Dingen nicht recht nachdenken, sich einbilden, es geschehe etwas ohngefähr, und nicht durch Verhängniß, da doch der Unterscheid nicht in der That, sondern nur in unsern Verstand, als der die große Menge aller Kleinigkeiten, so zu einer jeden Wir­ kung gehören, nicht begreifet, und die Ursach nicht bedenket,

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die er nicht siehet, also sich einbildet, die Augen in den Würfeln fallen von ohngefähr. Diese Unfehlbarkeit des Verhängnisses kann uns dienen zur Be­ ruhigung des Gemüts ... Nemlichen wir befinden in den Zahlen, Figuren, Kräften und allen gemessenen Dingen, von denen wir ei­ nen genauen Begriff haben, daß sie nicht nur richtig und unfehl­ bar, sondern auch ganz ordentlich und schön, also daß sie nicht zu verbessern, noch von dem, so sie verstünde, besser könnte ge­ wünschet werden. Zwar können wir solche Ordnung nicht sehen, weilen wir nicht in dem rechten Gesicht-Punkt stehen, gleichwie ein prospectivisch Gemählde nur aus gewissen Stellen am besten zu erkennen, von der Seite aber sich nicht recht zeigen kann. Allein wir müssen uns mit den Augen des Verstandes dahin stel­ len, wo wir mit den Augen des Leibes nicht stehen, noch stehn können. Zum Exempel wenn man den Lauf der Sterne auf unsrer Erdkugel betrachtet, darin wir stehen, so kommet ein wunderli­ ches verwirretes Wesen heraus, so die Stern-Kündige kaum in et­ lich tausend Jahren zu einigen gewissen Regeln haben bringen können, und diese Regeln sind so schwer und unangenehm, daß ein König von Castilien, Alphonsus genannt, so Tafeln vom Him­ melslauf ausrechnen lassen, aus Mangel rechter Erkenntniß gesa­ get haben solle, wenn er Gottes Rathgeber gewesen, da er die Welt geschaffen, hätte es besser herauskommen sollen. Aber nachdem man endlich ausgefunden, daß man das Auge in die Sonne stellen müsse, wenn man den Lauf des Himmels recht betrachten will, und daß alsdann alles wunderbar schön heraus­ komme, so siehet man, daß die vermeinte Unordnung und Ver­ wirrung unsers Verstandes schuld gewesen, und nicht der Natur. Ein Gleichmäßiges nun soll man von allen Dingen urtheilen, die uns auffallen. Und ob man gleich nicht jedesmal den rechten Punkt des Anschauens so fort mit dem Verstande finden kann, so soll man sich doch vergnügen, daß man wisse, es sey dem also, daß man einen Wohlgefallen an allen Sachen haben würde, wenn man sie recht verstünde, und also solchen Wohlgefallen daran bereits haben solle, gleichwie man an seines Freundes oder Fürstens Thun ein Wohlgefallen schöpfet, wenn man ein vollkommenes gutes Ver-

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trauen zu ihm hat, das ist, wenn man seines Verstandes und guts Gemüths versichert, ob man schon nicht allemal gleich siehet, wa­ rumb ein und anders geschehn, und es äußerlich oft nicht wohl­ gethan scheinet. Und eben dieses Wohlgefallen an der allgemeinen höchsten Ver­ ordnung, es laufe wie es wolle, wenn man das Seinige gethan, ist der rechte Grund der wahren Religion. Und beruhet dabei in der Vernunft, dienet auch zu unser Vergnügung. Und gleichwie fast nichts den menschlichen Sinnen angenehmer, als die Einstimmung in der Musik, so ist nichts dem angenehmer, als die wunderbare Einstimmung der Natur, davon die Musik nur ein Vorschmack und kleine Probe. Daher stehe ich in den Gedanken, hohe Gemüther, denen es ihr Stand zulässet, sollen ein großes Theil ihrer Lust in der Ergründung der natürlichen Wunderwerke, und herrlichen schönen Wahrheiten suchen, so in denen rechtschaffenen Wissen­ schaften stecken. Die schönen Entdeckungen sind nicht allein de­ nen rühmlich, die solche befördert, sondern sie vermehren auch die Nahrung der Unterthanen, helfen zur menschlichen Bequem­ lichkeit, ja selbst zur Erhaltung der Gesundheit. Aber welches das heiße, so geben sie ein solches Liecht vom ganzen Hauptwerk der Natur und solche daher entstehende Vergnügung, daß die, so des­ sen ermangeln, denen zu vergleichen, die allezeit im Finstern tap­ pen müssen; die aber, so darin erleuchtet, können sich in die Höhe schwingen, und alles von oben herab, gleichsam aus den Sternen unter sich sehen. Wenn auch dem nicht also wäre, würde folgen, daß die Erkenntniß der Wahrheit, das Hauptwerk betreffend, nicht so gut sey, als die Unwissenheit darin. Denn die unwissenden und abergläubischen Menschen vergnügen sich mit allerhand falschen Einbildungen; daher wenn von der Natur nichts von Verstand und Tugend zu gewarten wäre, so wäre es besser sich mit Andern be­ triegen, als die Wahrheit erkennen. Allein das wäre aus der Maa­ ßen ungereimet und aller Ordnung zuwider, wenn sich zuletzt befinden sollte, daß der Unverstand einen Vortheil geben könnte dem, der damit behaftet. Und weil alles in der Natur seine Ursa­ che hat, und daher alles ordentlich, so kann es nicht anders seyn, es muß Verstand und Würkung nach dem Verstand (das ist Tu­ gend), sich besser befinden, als das Gegentheil. Denn die Natur

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bringt alles zur Ordnung, wer nun der Ordnung bereits am näch­ sten stehet, kann am leichtesten zu einer ordentlichen Beschauung oder ordentlichen Begriff, das ist zu einer empfindlichen Vergnü­ gung gelangen, weil doch keine höhere Vergnügung seyn kann, als in der That befinden, und sehen, wie alles wohl und (wir) nicht besser wündschen können. Man möchte dagegen sagen, daß das Böse nicht böse ist an sich selbst, sondern vor den, der es gethan, und also die Strafe zwar da­ zu gehöre, aber, dem Ganzen nach, die Natur aus dem vermein­ ten Bösen dergestalt das Böse zu bringen wisse, daß alles viel besser herauskommt, als wenn es anders hergangen, sonst würde sie es auch gewiß nicht verstattet haben. Zwar wir hätten es lieber, wenn auch kein Schein des Bösen überbliebe und die Sachen so gebes­ sert wären, damit wir nicht nur insgemein wissen könnten, daß alles wohl und gut ist, sondern auch es insonderheit begreifen, ja würklich empfinden möchten. Denn so wäre unsere Vergnügung größer und lebhafter, und die Lust, so wir an solcher Begreifung und Empfindung hätten, würde alle Beschwerlichkeiten versüßen, ja vernichtigen. Allein wir müßten dafür halten, daß solches nicht allemal thunlich, ja dieses selbst also besser sei ; und gleich wie es seine Zeit haben müssen, ehe die Menschen vollkommentlieh aus­ gefunden, daß der rechte Schaupunkt des Himmelslaufs in der Son­ ne ist, also ist dafür zu halten daß unsre Seele, wenn sie sich wohl dazu gerichtet, zu dem Begriff und der Empfindung solcher Schön­ heit der Natur sobald und soviel es immer thunlich, endlich und allmählig mehr und mehr gelangen werde. Und was noch mehr ist, weil alles aufs beste gefasset, so ist da­ für zu halten, daß diejenigen vor andern auch ehe und mehr zu der Vergnügung dieser Beschauung gelangen müssen, welche sich durch den Verstand besser den Weg dazu geöffnet, in so weit sie ihr Thun nach ihrem besten Begriff, mit Ordnung oder der Ver­ nunft nach, und zum Guten gerüstet, worin dann die Tugend ei­ gentlich bestehet, also daß auch die insonderheit zu ihrer eignen Glückseligkeit vor andern arbeiten, so diese Untersuchung der Wahrheit und der herrlichen Wunder der höchsten, alles würken­ den Natur befördern, immaßen auch darin die rechte Erkenntniß beruhet, daß die Menschen diesen Hauptpunkt noch begreifen,

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daran Tugend, Vergnügen und wahre Glückseligkeit hanget. Kommt es also endlich auf diese zwei große Reguln an, so uns die Vernunft bei dem Verhängniß selbst und der darin begriffenen unvergleichlichen Ordnung lehret, erstlich, daß wir alle bereits ver­ gangene oder geschehene Dinge sollen vor gut und wohl gethan halten, als ob wir es schon aus dem rechten Gesicht-Punkt sehen könnten ; vors Andre, daß wir alle künftige oder noch ungesche­ hene Dinge, so viel an Uns, und nach unserm besten Begriff, sol­ len gut und wohl zu machen suchen, und uns dadurch so viel immer müglich näher zu dem rechten Schaupunkte folgen. Deren jenes uns bereits alle vor jetzt mügliche Vergnügung giebt, dieses uns den Weg zu künftiger, weit mehrerer Glückseligkeit und Freude bahnet.

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25. Metaphysische Abhandlung Discours de mhaphysique * 1686 1. Der gebräuchlichste und charakteristischste Begriff, den wir von Gott haben, wird durch die Ausdrücke, daß Gott ein unbedingt vollkommenes Wesen sei, zwar ganz gut wiedergegeben, doch pflegt man sich die Folgerungen, die sich aus diesem Satze ergeben, nicht genügend klar zu machen. Will man hierin weiter eindringen, so muß man vor allem darauf achten, daß es in der Natur gänzlich verschiedene Arten von Vollkommenheit gibt, daß Gott sie alle zugleich besitzt, und daß jede ihm im allerhöchsten Grade ange­ hört. Man muß auch erkennen, was man unter Vollkommenheit zu verstehen hat, wofür es hier ein ziemlich sicheres Kriterium gibt. Diejenigen Formen oder Naturen nämlich, die ihrem Wesen nach keinen höchsten Grad zulassen, wie z. B. die Zahl oder die Figur, können nicht als Vollkommenheiten gelten. Denn die größte aller Zahlen - oder die Zahl aller Zahlen - ebenso wie die größte aller Figuren, schließt einen Widerspruch ein ; das größte Wissen aber und die Allmacht enthalten nichts Unmögliches. Macht und Wis­ sen sind daher Vollkommenheiten und haben, sofern sie Gott an­ gehören, keine Schranken. Daraus folgt, daß Gott, der die höchste und unendliche Weisheit besitzt, auch in der vollkommensten Weise handelt, und zwar nicht nur im metaphysischen, sondern auch im moralischen Sinne. Mit Bezug auf uns kann man dies auch so aus­ drücken, daß wir mit dem wachsenden Fortschritt unserer Einsicht in die Werke Gottes immer geneigter sein werden, sie vortrefflich und allen Forderungen, die man nur stellen kann, gemäß zu fin­ den. 2. Ich bin daher von der Ansicht, es gebe in der Natur der Din­ ge oder in den Ideen, die Gott von ihnen hat, keine Regeln der Güte und der Vollkommenheit, vielmehr seien die Werke Gottes nur aus dem rein formellen Grunde gut, daß sie Gottes Werke sind, weit entfernt. Denn wenn dem so wäre, so brauchte Gott, der sich * Gerh. IV, 427 - 463.

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als ihren Urheber weiß, sie nicht nachträglich zu betrachten und gut zu finden, wie es die heilige Schrift bezeugt, die sich dieser an­ thropologischen Vorstellung wohl nur bedient hat, um uns zu zei­ gen, daß man die Vortrefflichkeit der Werke erkennen kann, wenn man sie in sich selber und sogar ohne die äußere Beziehung auf ihre Ursache betrachtet. Dies gilt um so mehr, als man gerade durch die Betrachtung der Werke den Meister selbst entdecken kann, als diese somit sein Gepräge an sich tragen müssen. Die entgegenge­ setzte Ansicht erscheint mir, offen gesagt, außerordentlich gefähr­ lich und steht derjenigen der modernsten Neuerer sehr nahe, wonach die Schönheit des Universums und die Vortrefflichkeit, die wir den Werken Gottes zuschreiben, nur Chimären der Men­ schen sind, die sich Gott nach ihrer Weise zurechtmachen. Auch vernichtet man, wie mir scheint, ohne sich dessen bewußt zu sein, durch die Behauptung, die Dinge seien durch keine innere Regel der Vorzüglichkeit, sondern allein durch den bloßen Willen Got­ tes gut, alle Liebe zu Gott und seinen ganzen Ruhm. Denn wie sollte man ihn für das, was er geschaffen, loben, wenn er gleich lobenswert wäre, falls er das Entgegengesetzte geschaffen hätte? Wie verhält es sich denn mit seiner Gerechtigkeit und Weisheit, wenn nur eine Art despotischer Macht verbleibt, wenn der Wille an die Stelle der Vernunft tritt und wenn nach dem echten Begriff des Tyrannen das, was dem Mächtigsten gefällt, dadurch allein schon gerecht wird? Außerdem dürfte wohl jeder Wille einen Grund zum Wollen voraussetzen, und dieser Grund muß naturgemäß dem Willen vor­ hergehen. Ich finde daher auch den Satz einiger anderer Philoso­ phen höchst seltsam, daß nämlich die ewigen Wahrheiten der Metaphysik und Geometrie, somit auch die Regeln der Güte, der Gerechtigkeit und der Vollkommenheit, nur aus dem Willen Got­ tes stammen. Mir scheint vielmehr, daß sie aus seinem Verstan­ de folgen, der, so wenig wie sein Wesen, vom Willen abhängig ist. 337 3. Ebensowenig vermag ich die Meinung mancher Modernen zu teilen, die kühn behaupten, daß Gottes Werk nicht den höch­ sten Grad von Vollkommenheit besitzt, und daß er es weit besser hätte machen können. Denn mir scheint, daß die Konsequenzen

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dieser Ansicht dem Ruhme Gottes durchaus zuwiderlaufen. Uti minus malum habet rationem boni, ita minus bonum habet rationem mali. Man handelt unvollkommen, wenn man seinem Werke eine geringere Vollkommenheit gibt, als die, zu der man fähig war. Es heißt einen Tadel an dem Werke eines Architek­ ten aussprechen, wenn man zeigt, daß er es hätte besser machen können. Auch widerspricht dies der heiligen Schrift, die uns der Güte der Werke Gottes versichert. Denn da die Unvollkom­ menheiten eine unendliche Anzahl von Abstufungen haben, so wäre Gottes Werk, wie immer er es auch geschaffen hätte, frei­ lich immer noch relativ und im Vergleich zu den weniger voll­ kommenen Stufen gut zu nennen, wenn dies allein ausreichte; dennoch aber ist eine Sache kaum lobenswert, wenn sie es nur auf diese Weise ist. Auch glaube ich, daß man in der heiligen Schrift und bei den Kirchenvätern eine sehr große Anzahl von Stel­ len finden wird, die meine Ansicht unterstützen, nicht aber die mo­ derne Auffassung, die, soviel ich sehe, dem ganzen Altertum fremd ist und sich nur auf die zu geringe Kenntnis gründet, die wir von der allgemeinen Harmonie des Universums und den verborgenen Gründen für die Wege Gottes haben. Dies allein führt uns zu dem vermessenen Urteil, daß sehr viele Dinge besser hätten gemacht werden können. Übrigens stützen sich die betreffenden Modernen auf manche kaum haltbare Spitzfindigkeiten; denn wenn sie glau­ ben, nichts sei so vollkommen, daß es nicht irgend etwas Vollkom­ meneres gäbe, so ist dies ein Irrtum. Auch meinen sie, hierdurch der Freiheit Gottes zu Hilfe zu kommen, als ob es nicht die höch­ ste Freiheit wäre, gemäß der obersten Vernunft in Vollkommen­ heit zu handeln. Denn zu glauben, Gott führe irgendeine Handlung aus, ohne den geringsten Vernunftgrund für seine Willensentschei­ dung zu haben, das ist, abgesehen davon, daß es unmöglich er­ scheint, eine Meinung, die seinem Ruhme wenig angemessen ist. Nehmen wir z. B. an, Gott treffe eine Wahl zwischen A und B und er entscheide sich für A, ohne den geringsten Grund zu ha­ ben, es B vorzuziehen, so wäre diese Handlung Gottes zum min­ desten nicht lobenswert, denn ein jedes Lob muß doch auf irgendeinem Vernunftgrunde beruhen, der hier unserer Voraus­ setzung nach nicht vorhanden ist. Ich dagegen bin der Meinung,

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daß Gott nichts tut, wofür er nicht gepriesen zu werden verdient. 4. Die allgemeine Erkenntnis dieser großen Wahrheit, daß Gott immer in der vollkommensten und wünschenswertesten Art, die nur möglich ist, handelt, ist meiner Meinung nach der Grund al­ ler Liebe, die wir Gott mehr als allen anderen Dingen schulden, da ja der Liebende seine Befriedigung in der Glückseligkeit oder Vollkommenheit des geliebten Gegenstandes und seiner Handlun­ gen sucht. !dem velle et idem nolle vera amicitia est. Auch dürfte es schwierig sein, Gott die rechte Liebe entgegenzubringen, wenn man sich nicht - vorausgesetzt selbst, daß man die Macht hätte, den göttlichen Willen zu ändern - kraft eigener Neigung ebenso wie er entscheidet. In der Tat sind diejenigen, die mit seinen Hand­ lungen nicht zufrieden sind, mißvergnügten Untertanen zu ver­ gleichen, die sich in ihrer Gesinnung nicht allzusehr von Rebellen unterscheiden. Will man also der wahren Liebe zu Gott gemäß han­ deln, so genügt es nach diesen Grundsätzen nicht, sich gewaltsam in Geduld zu fassen, sondern man muß wahrhaft mit allem zufrie­ den sein, was uns seinem Willen gemäß zugestoßen ist. Ich verste­ he diese Zustimmung mit Bezug auf die Vergangenheit : denn was die Zukunft betrifft, so soll man kein Quietist sein, noch, was lä­ cherlich wäre, mit gekreuzten Armen abwarten, was Gott tun wird, gemäß jenem Sophisma, das die Alten A.6yoNatur>natürlich>Formen>Wesendas Wesen«, ein andres »die Wesen« ; der Plu­ ral aber setzt den Singular voraus, und da, wo es nicht ein Wesen

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gibt, wird es noch weniger eine Mannigfaltigkeit von Wesen ge­ ben. Gibt es etwas Klareres? Ich hielt mich also für berechtigt, bloße Sammelwesen von wirklichen Substanzen zu unterscheiden, da ja diese Wesen ihre Einheit nur in unsrem Geiste haben; eine Ein­ heit, die sich auf die Beziehungen oder Modi der wahrhaften Sub­ stanzen gründet. Ist eine Maschine eine Substanz, dann ist ein Kreis von Menschen, die einander an der Hand fassen, ein Heer, und schließlich jede Vielheit von Substanzen ebenfalls. Ich behaupte nicht, daß es in den Dingen, die keine wahre Ein­ heit haben, nichts Substantielles gibt und daß sie nichts als Schein sind ; denn ich gebe zu, daß sie stets so viel Realität oder Substan­ tialität besitzen wie in den wahrhaften Einheiten, die in ihre Zu­ sammensetzung eingehen, enthalten ist. Sie wenden ein, daß es vielleicht zur Wesenheit des Körpers ge­ hört, daß er keine wahre Einheit ist, aber alsdann gehört es eben zur Wesenheit des Körpers, ein bloßes Phänomen zu sein, das je­ der Realität bar und nicht anders als ein geregelter Traum ist. Denn selbst Phänomene wie der Regenbogen oder ein Steinhaufen wür­ den völlig imaginär sein, wenn sie sich nicht aus Wesen zusammen­ setzten, die eine wahre Einheit haben. Wie Sie sagen, sehen Sie nicht recht ein, was mich dazu veran­ laßt, diese substantiellen Formen oder vielmehr diese körperlichen Substanzen mit wahrer Einheit anzunehmen, doch liegt der Grund darin, daß für mich eine Realität ohne eine wahre Einheit über­ haupt unverständlich ist. Auch schließt meiner Meinung nach der Begriff der Einzelsubstanz Folgen und Forderungen ein, die bei einem bloßen Sammelwesen nicht erfüllt sind. Die Substanz, wie ich sie denke, enthält Eigenschaften, die durch Ausdehnung, Ge­ stalt und Bewegung sich nicht erklären lassen. Dabei sehe ich ganz davon ab, daß es in den Körpern wegen der tatsächlichen Weiter­ teilung des Kontinuums bis ins Unendliche keine genaue und fe­ ste Gestalt gibt, und daß die Bewegung, sofern sie nichts ist als eine Modifikation der Ausdehnung und eine Änderung der gegenseiti­ gen Nachbarschaft, etwas Imaginäres einschließt, so daß man nicht bestimmen kann, welchem der Körper, die ihre gegenseitige Lage wechseln, sie als wahrem Subjekt zugehört, wenn man nicht auf die Kraft zurückgreift , die die Ursache der Bewegung, und die in

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der körperlichen Substanz enthalten ist. Ich gebe zu, daß man sich zur Erklärung der besonderen Phänomene um diese Substanzen und Qualitäten nicht zu bekümmern braucht, doch braucht man hierbei ebensowenig die Mitwirkung Gottes, die Zusammensetzung des Kontinuums, die Raumerfüllung und tausenderlei andre Fra­ gen zu untersuchen. Man kann - das leugne ich nicht - die Be­ sonderheiten der Natur rein mechanisch erklären, jedoch erst nachdem man die Prinzipien der Mechanik selbst anerkannt oder vorausgesetzt hat. Diese aber kann man a priori nur dadurch be­ gründen, daß man auf metaphysische Erwägungen zurückgeht, ja selbst die Schwierigkeiten de compositione continui werden nie­ mals ihre Auflösung finden, solange man die Ausdehnung als die Substanz des Körpers ansieht und solange uns daher unsre eignen Trugbilder zu schaffen machen. 379 Ich glaube ferner, daß, wenn man eine wahre Einheit oder Sub­ stantialität fast allein im Menschen finden will, dies ein ebenso be­ schränkter metaphysischer Standpunkt ist, als wenn man in der Physik die Welt in eine Kugel einschließen wollte. Und da die wah­ ren Substanzen ebensoviele Ausdrücke des Universums unter ei­ nem bestimmten Gesichtspunkt und ebensoviel Wiederholungen der göttlichen Werke sind, so ist es der Größe und der Schönheit der Werke Gottes angemessen, von diesen Substanzen, die sich ja einander nicht gegenseitig hindern, im Universum so viele zu er­ schaffen, als möglich ist und als höhere Gründe zulassen. Die An­ nahme der nackten Ausdehnung vernichtet diese ganze wundervolle Mannigfaltigkeit ; die Masse allein - wenn es möglich wäre, sie los­ gelöst zu begreifen - steht ebensoweit unter einer Substanz, die das gesamte Universum gemäß ihrem Gesichtspunkt und gemäß den Eindrücken oder vielmehr Beziehungen, die ihr Körper mit­ telbar oder unmittelbar von allen andren erhält, ausdrückt und vor­ stellt, als ein Leichnam unter einem lebendigen Tiere, oder eine Maschine unter einem Menschen steht. So kommt es auch, daß die Züge der Zukunft im voraus angelegt sind und daß sich die Spu­ ren der Vergangenheit überall und für immer erhalten, und daß ferner Ursache und Wirkung genau und bis in die geringfügigsten Umstände hinein einander entsprechen, wenngleich jede Wirkung von unendlich vielen Ursachen abhängt und andrerseits jede Ur-

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sache eine unendliche Anzahl von Wirkungen ausübt. All dies wäre nicht möglich, wenn die Wesenheit des Körpers lediglich in einer gewissen Gestalt oder in der Bewegung, die nur die Modifikation einer fest bestimmten Ausdehnung wäre, bestände. Auch gibt es in der Natur keine solche, alles ist streng genommen mit Bezug auf die Ausdehnung indefinit, und jede bestimmte Gestalt, die wir den Körpern zuschreiben, gilt nur vom Standpunkt der Phänome­ ne und der Abstraktion. 380 Es zeigt dies, wie sehr man sich auf die­ sem Gebiete in Irrtümer verstrickt hat, weil man es unterlassen hat, diese Reflexionen anzustellen, die so notwendig sind, um zur Erkenntnis der wahren Prinzipien und zu einer richtigen Vorstel­ lung vom Universum zu gelangen. Dieser so vernunftgemäßen Idee seine Zustimmung zu versagen, erscheint uns daher kein geringe­ res Vorurteil, als wenn man die Größe der Welt, die Weiterteilung bis ins Unendliche und die mechanische Naturerklärung nicht an­ erkennt. Man täuscht sich, wenn man die Ausdehnung als einen ursprünglichen Begriff nimmt, ohne den wahren Begriff der Sub­ stanz und der Tätigkeit zu erfassen, ebensosehr, wie man sich frü­ her täuschte, indem man es dabei bewenden ließ, die substantiellen Formen ganz im allgemeinen zu betrachten, ohne im einzelnen auf die Bestimmungen der Ausdehnung einzugehen. Die Vielheit der Seelen - denen ich übrigens keineswegs stets Lust oder Schmerz zuschreiben will - darf uns keine Schwierig­ keiten machen, ebensowenig wie die der Atome der Gassendi­ sten, die genau so unzerstörbar wie diese Seelen, sein sollen. Sie bedeutet im Gegenteil eine Vollkommenheit der Natur : ist doch eine Seele oder eine beseelte Substanz unendlich vollkommener als ein Atom, das gar keiner Mannigfaltigkeit oder Weiterteilung fä­ hig ist, während jedes beseelte Wesen eine Welt von Verschieden­ artigkeiten in einer wahrhaften Einheit enthält. Ferner ist auch die Erfahrung dieser Annahme einer Vielheit der beseelten Dinge günstig. Man findet, daß es in einem mit Pfeffer getränkten Was­ sertropfen eine erstaunliche Menge von Tieren gibt ; man kann Mil­ lionen von ihnen mit einem Schlage töten, und sowohl die Frösche der Ägypter wie die Wachteln der Israeliten, von denen Sie spre­ chen, kommen dem nicht im geringsten nahe. Wenn nun diese Tiere Seelen haben, so wird man von diesen dasselbe sagen müssen, was

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man mit Wahrscheinlichkeit von den Tieren selbst sagen kann : daß sie nämlich schon von der Schöpfung der Welt an lebendig gewe­ sen sind, und daß sie es bis zu ihrem Ende bleiben werden. Denn wie die Zeugung augenscheinlich nichts andres ist als eine Verän­ derung, die sich in einem Zuwachs vollzieht, so wird der Tod nur eine Wandlung in entgegengesetzter Richtung sein, und das Tier wird durch ihn in die Tiefe einer Welt kleinerer Geschöpfe hinab­ tauchen, in der es eingeschränktere Perzeptionen hat, bis vielleicht die Ordnung es eines Tages wieder auf den Schauplatz zurückbe­ ruft. Der Irrtum der Alten besteht darin, daß sie an Seelenwande­ rungen geglaubt haben, während es sich nur um Umgestaltungen ein und desselben Tieres handelt, das stets dieselbe Seele behält : sie haben an einen Seelenwechsel statt an einen Gestaltenwechsel (metempsychoses pro metaschematismis) geglaubt. 3 8 1 Die Geister aber sind diesen Umwälzungen nicht unterworfen, es müßte denn sein, daß die Umwälzungen der Körper der göttlichen Ökonomie, die für die Geister gilt, als Mittel dienen. Gott schafft sie zu ihrer Zeit und löst sie durch den Tod vom Körper - oder doch von dem grobsinnlichen Körper - los, da sie ja ihre moralischen Ei­ genschaften und ihre Erinnerung stets bewahren müssen, um ewi­ ge Bürger jenes allumfassenden, allervollkommensten Staates sein zu können, der unter Gottes Oberherrschaft steht und keines sei­ ner Glieder jemals verlieren kann : eines Staates, dessen Gesetze über denen der Körper stehen. Der Körper für sich, ohne die Seele, hat allerdings lediglich die Einheit eines Aggregats ; die Realität aber, die ihm verbleibt, stammt von den einzelnen Teilen her, die ihn zusammensetzen und die ihre substantielle Einheit wegen der le­ bendigen Körper, die in ihnen in zahlloser Fülle eingeschlossen sind, stets beibehalten. Wenngleich indessen die Seele einem Körper zugehören mag, der sich aus selbständig belebten und beseelten Teilen zusammen­ setzt, so setzt sich doch die Seele oder die Form des Ganzen dar­ um nicht aus den Seelen oder den Formen der Teile zusammen. Was ein Insekt anbetrifft, das man durchschneidet, so ist es nicht notwendig, daß die beiden Teile beseelt bleiben, wenngleich sie ei­ ne gewisse Bewegung behalten. Zum mindesten wird die Seele des Gesamtinsekts nur auf einer einzigen Seite verbleiben, und da bei

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der Bildung und Entwicklung des Insekts die Seele schon von An­ fang an in einem bestimmten, bereits lebendigen Teile enthalten war, so wird sie auch nach der Vernichtung des Insekts in einem bestimmten, noch lebenden Teile verbleiben, der stets so klein sein wird, als es notwendig ist, um ihn gegen die Wirksamkeit der Ur­ sache, die den Körper des Insekts zerreißt oder zerteilt, zu schüt­ zen, - ohne daß man darum etwa sich mit den Juden vorzustellen brauchte, daß die Seele sich in einen kleinen Knochen von unüber­ windlicher Härte hineinflüchtet. Daß es auch innerhalb der akzidentellen Einheit verschiedene Abstufungen gibt, daß eine geregelte Gesellschaft eine größere Ein­ heit, als ein wirrer Haufen und ein organisierter Körper oder auch eine Maschine eine größere Einheit, als eine Gesellschaft darstellt, gebe ich zu : doch bedeutet dies nur, daß man im einen Falle mehr Anlaß als im andern hat, von einem einzigen Gegenstand zu spre­ chen, weil unter den Bestandteilen engere Beziehungen vorhanden sind. Schließlich aber ist doch der ganze Bestand all dieser Einhei­ ten lediglich in unsren Gedanken und in den Erscheinungen be­ gründet, ebenso wie die Farben und die andren Phänomene, die man trotzdem als reell bezeichnet. Die Tastbarkeit eines Steinhau­ fens oder eines Marmorblocks beweist seine substantielle Realität ebensowenig, wie die Sichtbarkeit eines Regenbogens die seine be­ weist. Denn da nichts so fest ist, daß es nicht einen gewissen Flüs­ sigkeitsgrad hätte, 382 so ist vielleicht dieser Marmorblock nur die Anhäufung einer Unendlichkeit von lebenden Körpern, also gleich­ sam ein See voller Fische, wenngleich diese Tiere für gewöhnlich nur in halb verfaulten Körpern für das bloße Auge unterscheidbar sind. Man kann also auf diese Zusammensetzungen und derglei­ chen Dinge das treffende Wort Demokrits anwenden : sie beste­ hen nur v6jl(!l, der Meinung und Konvention nach. Auch Pla­ ton ist mit Bezug auf alles rein Materielle derselben Ansicht. Un­ ser Geist bemerkt oder begreift bestimmte wahrhafte Substanzen, die gewisse Modi haben ; diese Modi wiederum schließen nun Be­ ziehungen zu andren Substanzen ein, was der Geist zum Anlaß nimmt, um sie gedanklich miteinander zu vereinigen und sie un­ ter einem gemeinsamen Namen zu befassen. Dies ist nun freilich ein bequemes Hilfsmittel für das Denken ; man darf sich jedoch

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dadurch nicht irre machen lassen, um daraus nun ebensoviele Sub­ stanzen oder wahrhafte, reelle Wesen zu machen. Dies tun nur die, die bei den Erscheinungen stehen bleiben, oder die, die alle gedank­ lichen Abstraktionen zu Realitäten umdeuten, und die Zahl, Zeit, Bewegung, Gestalt und die Sinnesqualitäten als ebensoviele beson­ dere Wesen auffassen. 383 Ich dagegen bin der Meinung, daß man die Philosophie nicht besser rehabilitieren, noch sie auf eine feste­ re Grundlage stellen kann, als wenn man allein die Substanzen oder die in sich vollendeten Wesen, die in all ihren verschiedenartigen, aufeinander folgenden Zuständen eine wahre Einheit bilden, aner­ kennt ; bei allem übrigen handelt es sich lediglich um Phänomene, um Abstraktionen und Beziehungen. Ein sicheres und regelmäßiges Kennzeichen, das imstande wä­ re, aus einer bloß kollektiven Mehrheit eine wahre Substanz zu machen, wird man niemals finden; wenn z. B. der einheitliche Zweck, zu dem die Teile zusammenwirken, mehr als ihre Berüh­ rung geeignet wäre, das Merkmal der wahren Substanz zu bilden, so werden die Offiziere der indischen Kompagnie Hollands in ih­ rer Gesamtheit eher eine reelle Substanz ausmachen als ein Stein­ haufen. Aber was ist denn der gemeinsame Zweck anders als eine Ähnlichkeit oder auch eine Ordnung, die unser Geist in dem akti­ ven und passiven Verhalten verschiedener Dinge wahrnimmt ? Will man dagegen die Einheit der Berührung vorziehen, so wird man wieder andre Schwierigkeiten finden. Der Zusammenhang der fe­ sten Körper beruht vielleicht nur auf dem Druck, den die umge­ benden Körper und die einzelnen Teile aufeinander ausüben ; in ihrer Substanz selbst dagegen kommt ihnen so wenig innere Ein­ heit zu wie einem Sandhaufen: arena sine calce. Warum sollten meh­ rere miteinander zu einer Kette verschlungene Ringe eher eine wahrhafte Substanz ausmachen, als wenn sie Öffnungen hätten, so daß sie sich voneinander loslösen können? Es kann vorkom­ men, daß kein Teil der Kette den andren berührt, ja ihn nicht ein­ mal einschließt, daß sie aber trotzdem so miteinander verschlungen sind, daß man sie, wenn man nicht einen bestimmten Kunstgriff anwendet, nicht voneinander trennen kann ; soll man nun in die­ sem Falle sagen, daß die Substanz eines solchen Kompositums gleichsam in der Schwebe ist, und daß sie von der künftigen Ge-

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schicklichkeit dessen abhängt, der sich die Mühe geben wird, das Gewirre zu lösen? Überall nichts als Fiktionen des Geistes : solan­ ge man kein entscheidendes Merkmal dafür gibt, was wahrhaft ein in sich vollendetes Wesen oder eine Substanz ist, wird man nir­ gends einen Punkt haben, an dem man festen Fuß fassen könnte. Hier liegt das einzige Mittel, um gegründete und reelle Prinzipien festzustellen. Schließlich darf man ja doch keinen Satz ohne gesi­ cherte Grundlage aufstellen ; es ist also an denen, die Wesenheiten und Substanzen ohne wahre Einheit annehmen, zu beweisen, daß in ihnen mehr Realität als die, die wir ihnen soeben zugesprochen haben, enthalten ist. Ich mache mich schon auf einen Begriff von Substanz und Wesenheit gefaßt, der alle diese Dinge zu umfassen vermag und dem gemäß eines Tages die Teile, ja vielleicht sogar auch die Träume Anspruch auf Substantialität erheben könnten ; es müßte denn sein, daß man das Bürgerrecht, das man hier den Kollektivwesen gewähren will, in sehr genau bestimmte Grenzen einschließt.

Leibniz an A rnauld* September 1687 Da ich, sobald es mir gelingt, mich mit Ihnen über den eigentli­ chen Streitpunkt zu verständigen, auf Ihr Urteil jederzeit großen Wert legen werde, so will ich mich hier bemühen, es dahin zu brin­ gen, daß die Ansichten, die ich für richtig halte, Ihnen, wenn nicht gewiß, so doch zum mindesten haltbar erscheinen. Denn, wie mir scheint, ist es gar nicht schwer, auf die Zweifel, die Ihnen noch verbleiben, zu erwidern, Zweifel, die meiner Meinung nach nur daher stammen, daß jemand, der bestimmte Vorurteile hat und des­ sen Aufmerksamkeit durch andre Dinge abgelenkt ist, so tüchtig er auch sein mag, doch zunächst große Mühe hat, sich in einen neuen Gedankenkreis hineinzuversetzen, zumal wenn es sich um eine abstrakte Frage handelt, bei der weder Figuren noch Model­ le, noch auch die sinnliche Anschauung uns zu Hilfe kommen kann. * Gerb. II, 1 1 1 ff.

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Ich hatte gesagt, daß die Seele von Natur das ganze Universum in gewissem Sinne und gemäß der Beziehung ausdrückt, die die an­ dren Körper zu dem ihrigen haben, und daß sie demnach die Vor­ gänge, die sich in den Teilen ihres Körpers abspielen, unmittelbarer wiedergibt. Sie wird daher kraft der Gesetze der Beziehungen, die ihr wesentlich sind, bestimmte außergewöhnliche Bewegungen der Teile ihres Körpers in besonderer Weise ausdrücken ; in diesem Falle sagen wir alsdann, daß sie Schmerz empfindet. Darauf antworten Sie, Sie hätten keine klare Vorstellung davon, was ich unter dem Worte >>ausdrücken>drückt« - nach meinem Sprachgebrauch - »eine andre aus«, wenn eine beständige und geregelte Beziehung zwischen dem be­ steht, was sich von der einen und von der andren aussagen läßt. So drückt eine perspektivische Projektion ihr zugehöriges geome­ trisches Gebilde aus. Diese >>Expression>Gedankendie Verknüpfung der inneren und selbständigen Tätigkeiten nicht begreifen, vermöge de­ rer die Seele eines Hundes, unmittelbar nachdem sie Freude emp­ funden hat, Schmerz empfinden sollte, selbst wenn sie ganz allein im Universum wäre.« Darauf antworte ich, daß mein Satz, die Seele würde all das, was sie jetzt empfindet, auch dann empfinden, wenn nur Gott und sie in der Welt vorhanden wären, auf einer Fiktion beruht, sofern ich hier etwas voraussetze, was auf natürlichem Wege niemals eintreten kann. Ich tat dies nur, um darauf aufmerksam

* Gerh. IV, 517 ff.

29. Aufklärung der Schwierigkeiten Bayles

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zu machen, daß die Empfindungen der Seele aus nichts andrem als aus dem Inhalt folgen, der schon in ihr enthalten ist. Ich weiß nicht, ob Herr Bayle seinen Beweis für die Unbegreiflichkeit, die er in dieser Verknüpfung findet, erst im Folgenden zu führen gedenkt, oder ob er nach ihm schon in dem bloßen Beispiel des selbsttäti­ gen Ü berganges von der Freude zum Schmerze enthalten sein soll, indem er vielleicht zu verstehen geben wollte, daß dieser Ü bergang mit dem Axiome streitet, daß ein Ding stets in dem Zustande ver­ bleibt, in dem es einmal ist, wenn nichts eintrifft, das es zu einer Veränderung nötigt, und daß demnach das Tier, das einmal Freu­ de empfindet, diese stets empfinden wird, wenn es allein ist und nichts Ä ußeres es zum Schmerze übergehen läßt. Mit dem Axiom nun bin ich jedenfalls einverstanden, ja behaupte selbst, daß es für mich günstig ist, da es in der Tat eine der Grundlagen meiner An­ sicht bildet. Schließen wir doch aus diesem Axiom nicht nur, daß ein in Ruhe befindlicher Körper stets in Ruhe verh�ren wird, son­ dern auch, daß ein in Bewegung befindlicher Körper seine Be­ wegung oder Veränderung, d. h. dieselbe Geschwindigkeit und Richtung stets beibehalten wird, wenn kein neu hinzukommen­ der Umstand ihn daran hindert. Demnach verbleibt ein Ding, so­ weit es an ihm liegt, nicht nur in dem Zustande, in dem es sich befindet, sondern setzt auch, wenn dies ein Zustand der Verände­ rung ist, seine Veränderung fort, indem es stets einem und demsel­ ben Gesetze folgt. Nun besteht nach meiner Ansicht das Wesen der geschaffenen Substanz darin, sich unaufhörlich gemäß einer be­ stimmten Ordnung, die sie, wenn ich mich dieses Wortes bedie­ nen darf, spontan durch alle Zustände, die ihr begegnen, führt, zu verändern, so daß der, der alles sieht, in ihrem gegenwärtigen Zu­ stande alle ihre vergangenen und zukünftigen Zustände erblickt. Dieses Gesetz der Ordnung nun, das die Individualität jeder Ein­ zelsubstanz ausmacht, hat eine genaue Beziehung zu dem, was sich in jeder andren Substanz und im gesamten Universum ereignet. Vielleicht ist es nicht zu kühn, wenn ich ausspreche, daß ich dies alles zu beweisen vermag, für jetzt aber handelt es sich nur darum, es als eine mögliche Hypothese zu behaupten, die sich zur Erklä­ rung der Phänomene eignet. Auf diese Weise führt also das Gesetz der Veränderung, das in der Substanz des Tieres enthalten ist, es

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VI. Schriften zur Monadenlehre

von der Freude zum Schmerz in dem Augenblicke, in dem in sei­ nem Körper irgendein Prozeß der Auflösung vor sich geht, weil es das Gesetz der unteilbaren Substanz dieses Tieres ist, alle Vor­ gänge im Körper in der Art, wie unsre Erfahrung uns dies zeigt, vorzustellen, ja in gewisser Weise und mit Beziehung auf diesen Körper alle Ereignisse in der Welt zum Ausdruck zu bringen. Denn die substantiellen Einheiten sind nichts andres, als verschiedenar­ tige Konzentrationen des Universums, das aus den verschiedenen Gesichtspunkten, durch die jene sich unterscheiden, vorgestellt wird. Herr Bayle fährt fort : »Ich verstehe es, warum ein Hund un­ mittelbar von der Freude zum Schmerze übergeht, wenn man ihm in dem Augenblick, da er mit großem Hunger ein Stück Brot frißt, einen Stockschlag versetzt.« Ich weiß nicht, ob man das wirk­ lich vollkommen versteht. Niemand weiß besser als Herr Bayle selbst, daß die große Schwierigkeit gerade darin besteht, zu erklä­ ren, weshalb die Vorgänge im Körper eine Veränderung in der Seele hervorrufen und daß die Verteidiger der Gelegenheitsursachen ge­ rade durch diese Frage sich gezwungen sahen, Gott die Sorge auf­ zubürden, in der Seele fortwährend die Vorstellung der Verände­ rungen zu erwecken, die in ihrem Körper vor sich gehen. Ich da­ gegen glaube, daß die Natur, die Gott der Seele selbst verliehen hat, kraft ihrer eignen Gesetze die Vorgänge in allen Organen vor­ stellt. Er fährt fort : >>Daß aber seine Seele so eingerichtet sein soll, daß er in dem Augenblicke, in dem er geschlagen wird, Schmerz empfinden würde, selbst wenn man ihn nicht schlüge, und wenn er weiter sein Brot ohne Störung und Hinderung äße, das vermag ich nicht zu begreifen.« Ich erinnere mich auch nicht, dies gesagt zu haben, und man kann es nur vermöge einer metaphysischen Erdichtung behaupten, so wie man z. B. auch annehmen kann, daß Gott einen Körper vernichtet, um den leeren Raum hervorzubrin­ gen. Eine wie die andre Annahme sind in gleicher Weise der Ord­ nung der Dinge zuwider. Da nämlich die Natur der Seele von Anfang an in einer Weise eingerichtet ist, vermöge derer sie sich in sukzessiver Art die Veränderungen der Materie vorzustellen ver­ mag, so kann der angenommene Fall in der natürlichen Ordnung gar nicht eintreffen. Gott hätte zwar jeder Substanz ihre Phäno-

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mene unabhängig von denen der andren geben können, doch würde er auf diese Weise ebensoviele, völlig beziehungslose Welten ge­ schaffen haben als es Substanzen gibt ; so wie man etwa auch sagt, daß man während des Traumes in einer besonderen Welt weilt und beim Erwachen wieder in die gewöhnliche Welt zurückkehrt. Das soll nicht heißen, daß die Träume selbst sich nicht auf die Organe und die übrigen Körper beziehen, sondern nur, daß dies in weni­ ger distinkter Weise geschieht. Fahren wir mit Herrn Bayle fort : >>Ich finde auch« - sagt er - "daß die Selbsttätigkeit dieser Seele mit den Schmerzempfindungen, überhaupt mit allen ihr mißfal­ lenden Vorstellungen nicht zu vereinen ist.« Diese Unverträglich­ keit bestände nun freilich, wenn selbsttätig und freiwillig ein und dasselbe wäre. Alles Gewollte ist selbsttätig, daneben aber gibt es selbsttätige Handlungen, die ohne Wahl vor sich gehen und die daher keineswegs gewollt sind. Es hängt nicht von der Seele ab, sich stets Empfindungen zu geben, die ihr behagen, da ja die Emp­ findungen, die sie haben wird, in Abhängigkeit von denen stehen, die sie gehabt hat. Herr Bayle fährt fort : " ü brigens scheint mir der Grund, aus dem dieser tüchtige Gelehrte das System der Cartesianer abweist, eine falsche Annahme zu sein, denn man kann nicht sagen, daß das System der Gelegenheitsursachen zur Erklärung der wechsel­ seitigen Abhängigkeit von Seele und Körper einen wunderbaren Eingriff Gottes, einen Deus ex machina, annimmt. Da nämlich die Einmischung Gottes nur nach den allgemeinen Gesetzen erfolgt, so wirkt er dabei nicht in außerordentlicher Weise.« Daß ich das System der Cartesianer verwerfe, beruht indes nicht einzig hierauf, und betrachtet man nur das meinige ein wenig näher, so sieht man wohl, daß der Grund, der mich bestimmt, es anzunehmen, in ihm selber gelegen ist. Selbst wenn übrigens die Hypothese der Gele­ genheitsursachen keines Wunders bedürfte, so würde die meinige, wie mir scheint, trotzdem andre Vorzüge besitzen. Ich habe ge­ sagt, daß man sich drei Systeme denken kann, um die vorhandene Gemeinschaft von Seele und Körper zu erklären, nämlich erstens das System des gegenseitigen Einflusses, das, in seinem gewöhnli­ chen Sinne genommen, das scholastische System ist und das ich mit den Cartesianern für unmöglich halte; zweitens das System

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eines ständigen Wächters, der die Vorstellungen des einen so ein­ richtete, daß sie die Ereignisse im andren wiedergeben, wie wenn etwa ein Mensch beauftragt wäre, zwei schlechte Uhren, die von selbst nicht miteinander übereinzustimmen vermöchten, stets nach einander zu richten; dies ist das System der Gelegenheitsursachen ; und drittens bleibt nun noch das System der natürlichen Ü berein­ stimmung zweier Substanzen, wie eine solche zwischen zwei ganz genau gehenden Uhren statthätte. Ich finde, daß diese Annahme ebensogut möglich ist wie das System des Wächters, und daß sie des Urhebers dieser Substanzen, Uhren oder Automaten würdi­ ger ist. Sehen wir indessen zu, ob nicht das System der Gelegen­ heitsursachen in der Tat ein immerwährendes Wunder voraussetzt ! Man behauptet hier, dies sei nicht der Fall, weil Gott gemäß die­ sem System nur auf Grund allgemeiner Gesetze wirke. Das gebe ich zu, aber es genügt meiner Ansicht nach nicht, um die Wunder aufzuheben; denn wenn Gott sie auch unausgesetzt ausübte, so wür­ den sie trotzdem Wunder bleiben, wenn man dieses Wort nicht im populären Sinne, als etwas Seltenes und Erstaunliches, sondern im philosophischen Sinne als einen Vorgang nimmt, der die Kräf­ te der Geschöpfe übersteigt. Es genügt nicht zu sagen, Gott habe ein allgemeines Gesetz erlassen; denn außer der bloßen Verfügung ist noch ein natürliches Mittel erforderlich, um sie zur Ausführung zu bringen, d. h. jedes Ereignis muß sich aus der Natur, die Gott den Dingen verleiht, erklären lassen. Die Naturgesetze sind nicht so willkürlich und indifferent, wie manche sich einbilden. Wenn Gott - um ein Beispiel zu geben - verfügte, daß jeder Körper ein Streben hätte, sich in der Kreislinie zu bewegen, und daß die Ra­ dien dieser Kreise der Masse des Körpers proportional wären, so müßte man entweder nachweisen, daß es Mittel gibt, dies vermöge einfacherer Gesetze auszuführen, oder aber zugestehen, daß Gott es durch ein Wunder oder doch durch Engel, die ausdrücklich hier­ mit beauftragt sind, wie die Intelligenzen welche man früher den himmlischen Sphären beigab, zustande bringt. 409 Ebenso stände es, wenn jemand sagte, Gott habe den Körpern natürliche und ur­ sprüngliche Schwerkräfte verliehen, vermöge derer jeder zum Mit­ telpunkte seines Globus strebte, ohne von andren Körpern gestoßen zu werden; denn meiner Ansicht nach bedürfte dieses System ei-

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nes immerwährenden Wunders oder zum mindesten des Beistan­ des seitens der Engel. >>Kennt die den Formen der Körper mitgeteilte innere und täti­ ge Kraft die Folge der Tätigkeiten, die sie hervorbringen soll ? Kei­ neswegs ; denn wir wissen aus Erfahrung, daß es uns unmöglich ist, vorauszusehen, daß wir in einer Stunde diese oder jene Vor­ stellungen haben werden.>Die Formen müßten also bei der Hervorbringung ihrer Tätigkeiten durch irgendein äuße­ res Prinzip gelenkt werden ; wäre das nun nicht der »Deus ex ma­ chinaZenon« sagt. 412 Er wird vielleicht selbst bemerken, daß die Folgerungen, die man hieraus ziehen kann, sich besser mit mei­ nem System als mit jedem andren vertragen. Denn was an der Aus­ dehnung und Bewegung real ist, das beruht allein auf der Grundlage der Ordnung und der geregelten Folge der Phänomene und Per­ zeptionen. Es haben sich daher, wie es scheint, sowohl die Aka­ demiker und Skeptiker wie diejenigen, die ihnen entgegentreten wollten, hauptsächlich deshalb in Schwierigkeiten verwickelt, weil sie in den Sinnen-Dingen außer uns eine größere Realität als die von geregelten Phänomenen suchten.413 Wir fassen den Gedanken der A usdehnung, indem wir eine Ordnung in den Koexistenzen denken; aber wir dürfen sie ebensowenig wie den Raum als eine Art von Substanz denken wollen. Es verhält sich mit ihr nicht an­ ders als mit der Zeit, die dem Geiste ebenfalls nichts andres als ei­ ne Ordnung in den Veränderungen darstellt. Was ferner in der

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Bewegung real ist, das ist die Kraft oder die Fähigkeit, d. h. dasje­ nige Moment in dem gegenwärtigen Zustande, was eine Ä nderung für die Zukunft mit sich führt. Alles übrige sind nur Phänomene und Beziehungen. Die Erwägung dieses Systems zeigt auch, daß man, wenn man den Dingen auf den Grund geht, in den meisten philosophischen Sekten mehr Vernunft entdeckt, als man zuvor geglaubt hat. Die geringe substantielle Realität der Sinnen-Dinge, die die Skeptiker, die Zurückführung aller Dinge auf Harmonien oder Zahlen, auf Ideen und Perzeptionen, die die Platoniker ge­ lehrt haben ; das identische, allumfassende Eine des Parmenides und Plotin, das dennoch allem Spinozismus fern bleibt, die stoi­ sche Notwendigkeit, die dennoch mit der Selbsttätigkeit verträg­ lich ist, die Lebensphilosophie der Kabbalisten und Hermetiker, nach denen es überall Empfindung gibt, die Formen und Entele­ chien des Aristoteles und der Scholastiker, die trotzdem die me­ chanische Erklärung aller besonderen Phänomene gemäß Demo­ krit und den Modernen nicht ausschließen: dies alles findet sich hier wie in einem perspektivischen Zentrum vereinigt, aus dem der Gegenstand - der von jeder andren Stelle betrachtet wirr erscheint - seine Regelmäßigkeit und die Ü bereinstimmung seiner Teile er­ kennen läßt. Der größte Fehler, den man begangen hat, besteht in dem einseitigen Sektengeist, vermöge dessen man sich selbst bor­ niert hat, indem man alle andren Meinungen verwarf. Die forma­ listischen Philosophen tadeln die Materialisten und Atomisten und umgekehrt. Man beschränkt mit Unrecht die Teilung und Fein­ heit wie den Reichtum und die Schönheit der Natur, wenn man Atome und das Leere annimmt oder wenn man - wie selbst die Cartesianer - irgendwelche erste Elemente an die Stelle der wahr­ haften Einheiten setzt, statt allenthalben das Unendliche und den genauesten Ausdruck des Größten im Kleinsten zu erkennen : im Verein mit dem Streben eines jeden, sich in vollkommener Ord­ nung zu entwickeln, was die bewundernswürdigste und schönste Wirkung des obersten Prinzips ist, dessen Weisheit und Güte de­ nen nichts zu wünschen übrig ließe, die sein Walten zu begreifen vermöchten.

30. Briefwechsel zwischen Leibniz und de Volder

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30.* Aus dem Briefwechsel zwischen Leibniz und de Volder** Schreiben von Leibniz an Bernoulli

Leibniz an de Volder*** 24. März/3. April 1699 Für Ihren Scharfsinn und für die Reinheit Ihres Wahrheitsstrebens konnte nicht leicht ein glänzenderes Beispiel gegeben werden, als Sie es in Ihrem ausgezeichneten und so außerordentlich freundli­ chen Briefe an mich geliefert haben. Ich wünschte, daß mein Ver­ mögen, Ihnen in allen Punkten Genüge zu leisten, meinem Wun­ sche entspräche. Aber >>est aliquid prodire tenus>. Die­ ser Satz fließt meiner Ansicht nach aus dem Gesetze der Ordnung und stützt sich auf den gleichen Vernunftgrund, kraft dessen allge­ mein anerkannt wird, daß die Bewegung nicht sprungweise vor sich geht, d. h. daß ein Körper, um von einem Orte zum andern zu gelangen, bestimmte Zwischenstellen passieren muß. Nun können wir freilich, wenn wir einmal die Kontinuität der Bewegung als gewiß und vom Urheber der Dinge gewollt annehmen, damit oh­ ne weiteres die Sprünge auch überall sonst ausschließen, wie aber wollen wir diese selbst beweisen, wenn nicht vermöge der Erfah­ rung oder aus rationalen Gründen der Ordnung? Denn da alle Din­ ge aus Gott kraft einer dauernden Neuerzeugung oder, wie man sagt, kraft eines beständigen Schöpfungsaktes hervorgehen : warum hätte er da nicht den Körper sozusagen von einem Orte nach ei­ nem entfernten umschaffen und eine Lücke, sei es in der Zeit oder im Raume, offen lassen können, indem er z. B. den Körper erst in A, dann sogleich in B u. s. w. erschuf. Daß dies nicht geschieht, lehrt die Erfahrung, zugleich aber läßt es sich durch das rationale Ordnungsprinzip erweisen, wonach nämlich die Dinge, je weiter wir sie gedanklich zerlegen, umsomehr dem Verstande Genüge lei­ sten. Dies würde für die Sprünge nicht zutreffen, da hier die Ana­ lysis schließlich zu ä{>(nrra , zu etwas Letztem und Unauflöslichem gelangt. Dies gilt, wie ich glaube, nicht nur für die Ü bergänge von Ort zu Ort, sondern auch für die von Form zu Form, oder von Zustand zu Zustand. Denn auch hier weist die Erfahrung alle sprungweisen Veränderungen zurück, andrerseits aber streitet, so­ viel ich sehe, jeder apriorische Grund, der sich gegen den Sprung von Ort zu Ort beibringen läßt, ebenso auch gegen den Sprung von Zustand zu Zustand. 414 Ich glaube nicht, daß die Ausdehnung allein die Substanz aus­ macht, denn ihr Begriff ist unvollständig. Ebensowenig kann, wie mich dünkt, die Ausdehnung aus sich selbst begriffen werden, viel­ mehr ist sie ein weiter auflösbarer und relativer Begriff. Denn man kann sie in Mehrheit, Kontinuität und Koexistenz, d. h. gleichzei­ tigen Bestand der Teile, auflösen. Die Mehrheit haftet auch der Zahl an, die Kontinuität auch der Zeit und der Bewegung, die Koexi­ stenz dagegen ist das einzige, was bei dem Ausgedehnten hinzu-

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kommt. Demnach muß stets ein Etwas vorausgesetzt werden, das sich kontinuierlich fortsetzt oder ausbreitet wie bei der Milch die weiße Farbe, beim Golde Färbung, Biegsamkeit und Gewicht, bei der Materie der Widerstand. 415 Denn die Kontinuität für sich al­ lein - die Ausdehnung nämlich ist nichts andres als eine Konti­ nuität mit dem Merkmal der Gleichzeitigkeit - vermag ebenso­ wenig eine vollständige Substanz zu konstituieren wie die Vielheit oder die Zahl, bei denen notwendig etwas vorhanden sein muß, was gezählt, wiederholt und fortgesetzt wird. Ich glaube daher, daß unser Denken erst im Begriffe der Kraft, nicht in dem der Aus­ dehnung zur Vollendung und zur Ruhe kommt. Auch dürfte für den Begriff des Vermögens oder der Kraft keine andre Erklärung zu suchen sein, als daß die Kraft das Attribut ist, aus dem die Ver­ änderung folgt und dessen Subjekt die Substanz selbst ist. Ich wüßte nicht, was hierbei unbegreiflich sein sollte. Eine noch genauere Aus­ malung verträgt die Natur der Sache nicht. Eine Einheit des Aus­ gedehnten gibt es meiner Ü berzeugung nach nur in abstracto, solange wir nämlich absehen von der inneren Bewegung der Tei­ le, wodurch ein jeder Teil der Materie tatsächlich wieder in ver­ schiedene Teile zerlegt wird.416 Daß alles erfüllt ist, steht dem gar nicht im Wege. Auch unterscheiden sich die materiellen Teile nicht nur äußerlich, da sie sich zugleich vermöge der dauernd bestehen­ den tierischen Seelen und Entelechien voneinander abheben. Ich habe angemerkt, daß auch Descartes an einer Briefstelle nach dem Beispiele Keplers, die Trägheit (inertia) in der Materie anerkannt hat. 417 Diese wollen Sie aus der Kraft ableiten, die eine jede Sache haben soll, in ihrem Zustande zu verbleiben, und die nichts andres als ihre Natur sein soll. So glauben Sie, der einfache Begriff der Ausdehnung reiche auch für diese Erscheinung zu. Aber schon das Axiom über die Erhaltung des Zustandes muß anders gefaßt werden : es behält nämlich (um ein Beispiel zu geben) das sich in krummer Linie Bewegende an und für sich nicht seine Krüm­ mung, sondern nur seine Richtung bei. Aber selbst zugestanden, daß in der Materie eine Kraft vorhanden sei, ihren Zustand beizu­ behalten, so kann doch diese Kraft aus der Ausdehnung allein kei­ nesfalls abgeleitet werden. Ich gebe zu, daß jede Sache so lange in ihrem Zustande verharrt, bis ein Grund für eine Veränderung vor

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liegt. Das ist ein Prinzip, dem metaphysische Notwendigkeit zu­ kommt ; aber es ist nicht dasselbe, ob etwas nur seinen Zustand beibehält, bis etwas eintritt, was ihn verändert - ein Fall, der auch dann vorkommt, wenn das Subjekt gegen beide Zustände ganz in­ different ist - oder aber, ob es, was weit mehr bedeutet, nicht in­ different ist, sondern eine Kraft und gleichsam eine Neigung hat, seinen Zustand beizubehalten und so der verändernden Ursache Widerstand zu leisten. Ich selbst bin früher in einem Jugendwerke von der Annahme ausgegangen, daß die Materie an und für sich gegen Bewegung und Ruhe indifferent sei, und habe sodann, un­ ter der Voraussetzung, daß ein sehr großer ruhender Körper von jedem beliebigen noch so kleinen stoßenden Körper bewegt wer­ den müsse, ohne daß dieser die geringste Abschwächung erlitte, die in diesem Systeme geltenden Bewegungsregeln zusammenge­ stellt. Man könnte sich in der Tat eine derartige Welt, in der die ruhende Materie dem Bewegenden ohne jeden Widerstand nach­ gäbe, immerhin als möglich denken, aber sie würde ein reines Chaos sein. Zwei Gründe, auf die ich mich in solchen Betrachtungen stets stütze, nämlich der Erfolg in der Erfahrung und die Erwägung der Vernunftordnung, haben mich daher zu der Einsicht geführt, daß die Materie so von Gott geschaffen worden ist, daß ihr eine Art Widerstreben gegen die Bewegung innewohnt und daß ihr mit ei­ nem Worte ein Widerstand eignet, wodurch der Körper als sol­ cher sich der Bewegung widersetzt, so daß er, wenn ruhend, jeder Bewegung, wenn bewegt aber, jeder stärkeren Bewegung - in der­ selben Richtung - derart widersteht, daß er die Kraft des andrin­ genden Körpers abschwächt. Da also die Materie der Bewegung durch eine allgemeine passive Kraft des Widerstandes an und für sich widerstrebt und durch eine besondre Kraft der Tätigkeit oder der Entelechie zur Bewegung getrieben wird, so folgt, daß die Träg­ heit sogar während der ganzen Dauer der Bewegung, die durch die Entelechie oder die bewegende Kraft bewirkt wird, unaufhörlich Widerstand leistet. Daraus habe ich im vorigen Briefe abgeleitet, daß die vereinte Kraft stärker ist oder daß die Kraft doppelt so groß ist, wenn zwei Grade Geschwindigkeit in einem Pfunde vereinigt, als wenn sie auf zwei Pfund verteilt sind, und daß demnach die Kraft eines mit der doppelten Geschwindigkeit bewegten Pfundes

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das Doppelte beträgt von der, die zwei mit einfacher Geschwin­ digkeit bewegte Pfunde haben. Denn wenngleich die Geschwin­ digkeitsgröße auf beiden Seiten gleich ist, so leistet doch bei dem einen Pfund die Trägheit der Materie einen nur halb so großen Wi­ derstand. Die Ungleichheit der Kräfte in beiden Fällen läßt sich allerdings auch in andrer Weise auf Grund unsrer Prinzipien über das Kraftmaß beweisen, andrerseits aber auch aufs beste aus der Betrachtung der Trägheit ableiten; so vollständig stimmt alles mit­ einander überein. Der Widerstand der Materie enthält demnach zweierlei : die Undurchdringlichkeit oder Antitypie und den eigent­ lichen Widerstand oder die Trägheit. Hierin setze ich nun, da sie überall im Körper gleich oder seiner Ausdehnung proportional ist, das Wesen des passiven Prinzips oder der Materie418, sowie ich in der aktiven Kraft, die vermöge der Bewegungen in verschiedener Weise sich äußert, die ursprüngliche Entelechie und, mit einem Worte, etwas der Seele Ä hnliches anerkenne. Denn deren Natur besteht doch darin, das dauernde Gesetz für eine fortlaufende Rei­ he von Veränderungen zu bilden, die sie ohne Anstoß durchläuft. Auch kann dieses aktive Prinzip oder dieser Urgrund der Tätig­ keit nicht entbehrt werden, denn die akzidentellen oder veränder­ lichen tätigen Kräfte und die Bewegungen selbst sind bestimmte, wechselnde Zustände einer substantiellen Sache, Kräfte aber und Tätigkeiten können keine Zustände einer bloß passiven Sache wie der Materie sein. Hieraus folgt also, daß es ein erstes Tätiges oder Substantielles gibt, das sich gemäß der Disposition der Materie oder des Passiven verändert. Es müssen also die sekundären bewegen­ den Kräfte sowie die Bewegungen selbst der zweiten Materie oder dem vollständigen Körper selbst, der sich aus dem Aktiven und dem Passiven zusammensetzt, zugeschrieben werden. 419 Und so komme ich nun zu dem Zusammenhang, der zwischen der Seele oder Entelechie des organischen Körpers und der organi­ schen Maschine selbst besteht. Dabei freut es mich, daß einem so scharfsinnigen und urteilsfähigen Manne wie Ihnen meine Hypo­ these nicht gänzlich mißfällt. Sie erläutern sie in der Tat ganz vor­ trefflich, wenn Sie der Seele eine adäquate Idee der körperlichen Maschine zuschreiben, und eben das will auch meine Behauptung besagen, daß es das Wesen der Seele ausmache, den Körper vorzu-

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stellen. Alles, was aus den Gesetzen des Körpers folgt, muß sich daher die Seele der Ordnung nach vorstellen, und zwar manches deutlich, andres dagegen - was sich auf eine Mehrheit von Kör­ pern, außer dem eignen, bezieht - verworren. Jenes heißt Verste­ hen, dieses Empfinden. Inzwischen stimmen Sie, wie ich denke, mit mir darin überein, daß die Seele und die Idee des Körpers nicht dasselbe bedeuten ; denn die Seele bleibt eine und dieselbe, wäh­ rend die Idee des Körpers immerwährend wechselt, je nachdem der Körper selbst, dessen gegenwärtigen Zustand sie darstellt, sich ver­ ändert. Allerdings wohnt die Idee des gegenwärtigen körperlichen Zustandes stets der Seele inne, doch ist diese Idee weder einfach noch so gänzlich passiv, sondern verbunden mit einer Tendenz auf eine neue, aus der früheren entstehende Idee, so daß also die Seele der Urquell und die Grundlage für all die mannigfaltigen Ideen des­ selben Körpers ist, die auseinander nach bestimmtem Gesetze her­ vorgehen sollen. 420 Wenn Sie nun die adäquate Idee so auffassen, daß sie nicht den einzelnen, wandelbaren Zustand, sondern das bleibende Gesetz der Veränderung selbst bedeutet, so habe ich nichts dagegen einzuwenden und räume in diesem Sinne ein, daß in der Seele die Idee des Körpers und die daraus sich ergebenden Erscheinungen vorhanden sind. Ü brigens müssen bei alledem ei­ nige noch tiefer liegende Probleme erörtert werden, was ich bei gegebener Gelegenheit zu tun nicht unterlassen will. Denn wenn es mir auch - selbst in Fragen, in denen ich persönlich notwendi­ ge Gründe erkenne - nicht leicht ist, alles mit geometrischer Stren­ ge a priori abzuleiten oder völlig zu erklären, so wage ich doch so viel zu versprechen, daß kein Einwand erhoben werden kann, dem ich nicht werde zu begegnen wissen. Schon dies aber ist, wie ich denke, bei Dingen, die so weit vom Sinnlichen abliegen, nicht zu verachten, besonders da es zu den mächtigsten Anzeichen für die Wahrheit gehört, daß die wissenschaftlichen Sätze sowohl mit den Erscheinungen wie untereinander übereinstimmen. Einwen­ dungen aber von einigem Gewichte dienen stets dazu, die Natur der Sache besser aufzuhellen. Ich erkenne daher an, daß ich und alle Freunde der Wahrheit Ihnen ganz außerordentlich verpflich­ tet sind : fällt doch durch Ihre Einwände auf meine Gedanken so viel neues Licht, daß es mir vorkommt, als ob ich selbst sie nun

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besser verstände. Gelingt es mir dereinst, mit Ihrer, mit Bernoul­ lis und andrer Männer Hilfe (möchten es nicht allzu wenige sein !) das, was ich jetzt noch, so gut es geht, verteidige, mit einleuchten­ den Beweisen zu stützen, so will ich das Wissen, das ich Euch zum guten Teile verdanke, niemand vorenthalten. Wenigstens werde ich, wenn ich Eueres Urteils gewiß bin, die Ansichten der übrigen nicht allzu sehr zu fürchten brauchen.

De Valder an Leibniz * 1 3 . Mai 1699 [In seiner Antwort versucht de Valder vor allem den Begriff der Substanz zu fixieren und seine Entstehung und Bildung zu erklä­ ren : der Begriff stamme nicht aus der Betrachtung der Dinge, son· dern aus der der Gedanken, er sei somit wesentlich logischer, nicht metaphysischer Natur. Ich finde unter den Begriffen meines Gei­ stes den Unterschied, daß die einen mir einen völlig einfachen In­ halt darstellen, von dem sich kein Merkmal absondern läßt, ohne daß damit das Ganze gleichfalls vernichtet würde, während ande­ re eine Mehrheit von Bestimmungen in sich enthalten. Im letzte· ren Falle kann unter den verschiedenen Merkmalen (A, B) wie­ derum ein doppeltes Verhältnis stattfinden : sofern einmal sowohl A ohne B, als B ohne A gedacht und begriffen werden kann, wäh­ rend sich im andern Falle zwar A ohne B, nicht aber B ohne A denken läßt. Gilt das erste Verhältnis, so haben wir es mit zwei völlig getrennten Begriffssphären zu tun, wie dies etwa der Fall ist, wenn wir »Ausdehnung>DenkenAttribute>Acta Eruditorum>daß wir (wenn wir den Begriff der aktiven Kraft zugrunde legen) gezwungen seien, etwas im Körper anzunehmen, was wir nicht zu begreifen vermögenob das, was wir neben der Ausdehnung und Undurchdring­ lichkeit annehmen, eine Substanz sei oder ein Modus>wenn es ein Modus wäre, so würde es nichts Neues sein ; wenn eine Substanz, so würde es entweder ein Geist oder ein Kör­ per oder ein Drittes sein und für dieses Dritte gäbe es keine Erklä­ rung, wir müßten denn mit den Alten zu der« - seiner Ansicht nach - >>längst widerlegten substantiellen Form unsre Zuflucht neh­ men.>Unend­ lichgroßenUnendlichkleinen« verschieden. Dieses Letztere nämlich findet, wenigstens beim Kal­ kül und der abstrakten, logischen Betrachtung, seine Anwendung, was, wie ich bereits bemerkte, bei den Begriffen des unbegrenzt Größten und Kleinsten nicht der Fall ist. Ich habe allerdings ge-

* Math. II, 235 ff.

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sagt, daß, wenn ich das Unendlichkleine und Unendlichgroße für möglich hielte, ich auch seine Existenz zugestehen würde, habe aber damit nicht apodiktisch behaupten wollen, daß es unmöglich ist, sondern die Sache noch in der Schwebe gelassen. Wenn ich bestritt, daß man zu den kleinsten Teilchen gelangen könne, so bezog sich dies, wie man leicht sehen konnte, nicht nur auf die von uns voll­ zogenen Teilungen, sondern auch auf die, die tatsächlich in der Natur vor sich gehen. Denn wiewohl ich davon überzeugt bin, daß jeder beliebige Teil der Materie wiederum tatsächlich weitergeteilt ist, so folgt daraus meiner Meinung nach dennoch nicht, daß es ein unendlichkleines materielles Teilchen gibt, und noch weniger kann ich zugeben, daß daraus folgt, daß es irgendein allerklein­ stes Teilchen gebe. Wenn man den Schluß auf eine logische Form bringen wollte, so würde man auf die Schwierigkeit aufmerksam werden. Sie sagen nun : >>Wenn kein Teil unendlichklein ist, so werden also alle einzelnen Glieder endlich sein>Wenn die einzelnen Glieder endlich sind, so werden also alle zusammen eine unendliche Größe ausmachen.Ich«, keine Monaden, keine realen Einheiten ; alsdann aber wären auch keine substantiellen Vielheiten vorhanden, ja alles Kör­ perliche würde zum bloßen Trugbild. Daraus folgt ohne weiteres, daß es kein materielles Teilchen gibt, in dem nicht Monaden vor­ handen sind. Ich habe mich gewundert, daß Huygens und Newton den lee­ ren Raum annehmen : doch erklärt sich dies daraus, daß sie bei der Betrachtung der geometrischen Begriffe stehen geblieben sind. Ver­ wunderlicher ist mir noch, daß Newton eine Anziehung angenom­ men hat, die nicht auf mechanische Weise vor sich geht. Wenn er indessen behauptet, die Körper gravitierten gegeneinander, so ist

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dies - wenigstens was die sinnlich wahrnehmbaren Wirkungen bei den großen Körpern unsres Weltsystems betrifft - durchaus nicht zu verachten, wenn auch Huygens damit nicht recht einverstan­ den scheint. Ü brigens billige ich es durchaus, wenn Sie sagen, daß jeder noch so winzige Körper seine ihm eigene Tätigkeitssphäre besitze ; pflege ich doch zu sagen, daß es kein Körperehen gibt das nicht eine Art von Welt mit unendlich vielen Geschöpfen ist [ ... ]

Bernoulli an Leibniz * 1698 [ ... ] Da ich noch in dieser Stunde die Stadt verlassen will, so kann ich für jetzt nicht so ausführlich, wie ich wohl möchte, auf den Inhalt Ihres Briefes eingehen; ich sage also nur so viel, daß auch ich der Meinung bin, daß es eine größte oder geringste Quantität nicht gibt. Daß dagegen das Unendlichgroße und -kleine existiert, läßt sich freilich nicht beweisen, ebensowenig aber das Gegenteil; wahrscheinlich indes ist es wohl, daß es existiert. Daß, wenn alle Glieder der Progression 1 /z, 1 /4 , 1 /s, 1 ft 6, u. s. w. tatsächlich existie­ ren, auch ein unendlichstes Glied samt allen andren, die ihm fol­ gen, existiert, läßt sich, wie mir scheint, aus der tatsächlichen Exi­ stenz der Reihe mit Recht schließen. Auch ich fasse die Punkte nicht als Elemente der Linie, sondern nur als Grenzen auf. Was Sie unter >>erster Materie>Wenn es zehn Glieder gibt, so existiert das zehnte; wenn es also unendlich viele Glieder gibt, so existiert das unendlichste Glied.>es gibt unendlich viele Glieder, also auch ein infinitesimales Glied>jene unsichtbare Welt und jene unendliche Ausdehnung>daß man hier die Gründe und die Prinzipien der Dinge, die ver­ borgensten Wahrheiten, die richtigen und angemessenen Zusam­ menhänge, die Verhältnisse, die wahren Uranfänge und die voll­ kommenen Ideen von all dem entdecken könne, was man sucht. als cpuaet existieren - d. h. eher auf geistige oder logische als auf physische Weise - um mit Demokrit zu reden. Gäbe es aber in den einfachen Dingen keine Veränderung, so würde in den zusammengesetzten ebensowenig eine solche vorhanden sein, da deren gesamte Realität nur in der der einfachen Dinge besteht. Nun sind die innerlichen Veränderungen in den einfachen Dingen von einer und derselben Art wie das, dessen wir uns in unsrem Den­ ken bewußt werden, und man kann sagen, daß im allgemeinen die Perzeption der Ausdruck der Vielheit durch die Einheit ist. Sie, mein Herr, bedürfen dieser Aufklärung über die lmmate­ rialität der Seele, von der Sie ja in bewundernswürdiger Weise an verschiedenen Stellen gesprochen haben, freilich nicht, doch scheint es mir, daß, wenn man diese Erwägungen mit meiner speziellen Grundannahme vereinigt, beides sich wechselseitig zu erhellen ver­ mag.

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VI. Schriften zur Monadenlehre

33. Brief an die Königin Sophie Charlotte von Preu­ ßen. Von dem, was jenseits der Sinne und der Mate­ rie liegt Lettre touchant ce qui est independant des sens et de Ia matiere* 1702 Der Brief, der vor einiger Zeit von Paris aus nach Osnabrück ge­ richtet worden ist und den Ihr mir in Hannover zu lesen gabt, schien mir wahrhaft geistreich und schön zu sein. Und da er die beiden wichtigen Fragen behandelt, ob es in unsren Gedanken et­ was gibt, was nicht aus den Sinnen stammt, und ob es in der Natur etwas gibt, was nicht materiell ist : Fragen, über die ich, wie ich aussprach, mit dem Briefschreiber nicht ganz einer Ansicht bin, so wünschte ich, mich in demselben gefälligen Stil wie er erklären zu können, um den Befehlen Ihrer Majestät nachzukommen und Ihrer Wißbegierde Genüge zu leisten. Wir gebrauchen die äußeren Sinne, wie ein Blinder seinen Stock braucht, und sie geben uns Kenntnis von ihren besondren Objek­ ten, d. h. den Farben, Tönen, Gerüchen, Geschmäcken und den Tastqualitäten. Dagegen geben sie uns nicht zu erkennen, was die­ se sinnlichen Qualitäten sind, noch worin sie eigentlich bestehen. Wenn z.B. das Rote die drehende Bewegung gewisser kleiner Ku­ geln ist, die, wie man behauptet, das Licht ausmachen, wenn die Wärme ein Wirbel eines äußerst feinen Staubes ist, wenn der Ton sich in der Luft in derselben Weise bildet, wie die Kreise im Was­ ser durch einen hineingeworfenen Stein entstehen, wie das einige Philosophen behaupten, so sehen wir dies alles doch nicht, und es bleibt uns unbegreiflich, wie diese Drehung, dieser Wirbel und diese Kreise, wenn sie wahrhaft beständen, gerade die Perzeptionen des Roten, der Wärme und des Geräusches zustande bringen sollten. Man kann demnach sagen, daß die sinnlichen Qualitäten in der Tat verborgene Qualitäten sind, und daß es daher notwendig an­ dre, offenbarere geben muß, die sie erklärbar machen. Weit ent* Gerh. VI,

499 ff.

33. Von dem, was jenseits der Sinne und der Materie liegt 581 fernt davon also, daß wir, wie manche sich einbilden, einzig und allein die Sinnen-Dinge verständen, sind sie es gerade, die wir am allerwenigsten verstehen. Denn wenngleich sie uns vertraut sind, so begreifen wir sie darum doch nicht besser, so wie ein Steuer­ mann nicht besser als ein andrer die Natur der Magnetnadel und ihre Drehung nach Norden versteht, wenngleich er sie im Kom­ paß vor Augen hat, weswegen er sich kaum noch darüber verwun­ dert. Ich leugne nicht, daß man eine Reihe von Entdeckungen über das Wesen dieser dunklen Qualitäten gemacht hat ; so wissen wir z. B., durch welche Art der Strahlenbrechung Blau und Gelb zu­ stande kommen, und daß die Mischung dieser beiden Farben Grün ergibt ; darum aber vermögen wir doch noch nicht einzusehen, wie die Perzeption, die wir von diesen drei Farben haben, aus diesen Ursachen resultiert. Ja, wir besitzen von solchen Qualitäten nicht einmal Nominaldefinitionen, um die Ausdrücke zu erklären. Der Zweck der Nominaldefinitionen ist, genügende Unterscheidungs­ merkmale zu geben, an denen man die Dinge erkennen kann ; so haben z. B. die Münzpräger bestimmte Merkmale, durch die sie das Gold von jedem andren Metalle zu unterscheiden vermögen, und wenn ein Mensch niemals Gold gesehen hätte, so könnte man ihn diese Merkmale lehren, an denen er es, wenn er eines Tages darauf träfe, zweifellos erkennen würde. 475 Mit den sinnlichen Qualitäten dagegen verhält es sich nicht ebenso, es läßt sich z. B. kein Merkmal angeben, vermittels dessen man das Blau erkennen würde, wenn man es noch nie gesehen hätte. Demnach ist das Blau sein eignes Erkennungszeichen, und damit ein Mensch erfahre, was es ist, muß man es ihm notwendig zeigen. Aus diesem Grunde pflegt man zu sagen, daß die Begriffe die­ ser Qualitäten klar sind ; denn sie dienen dazu, von ihnen Kennt­ nis zu geben, nicht aber distinkt, weil man sie weder von andren unterscheiden, noch auch den Gehalt, den sie in sich schließen, ent­ wickeln kann. Es ist ein »ich weiß nicht wasJeder Weise ist lobenswert« keineswegs durch Umkehrung schließen: >>Jeder Lobenswerte ist ein Weiser