Ausgewählte Werke: Band 9/2 Gesammelte Reden. Zweiter Teil
 9783110857481, 9783110070408

Table of contents :
Zweiter Teil
III. Abtheilung. Vermischte Reden
Verzeichniß der in diesem Werke befindlichen Reden
Variantenverzeichnis
Nachwort des Herausgebers
Quellenverzeichnis

Citation preview

G O T T S C H E D , A U S G E W Ä H L T E W E R K E IX/2

AUSGABEN DEUTSCHER LITERATUR D E S XV. BIS X V I I I . J A H R H U N D E R T S

unter Mitwirkung von Käthe Kahlenberg herausgegeben von Hans-Gert Roioff

JOHANN CHRISTOPH GOTTSCHED AUSGEWÄHLTE WERKE

WALTER D E G R U Y T E R · B E R L I N · N E W Y O R K 1976

JOHANN CHRISTOPH

GOTTSCHED

AUSGEWÄHLTE W E R K E herausgegeben von

P. M. MITCHELL

NEUNTER BAND, ZWEITER T E I L Gesammelte Reden

bearbeitet von

ROSEMARY SCHOLL

WALTER DE GRU YTER · BERLIN · NEW Y O R K 1976

Die Ausgabe wurde von Joachim Birke f begonnen. Unter seiner Verantwortung erschienen die Bände I—IV und VI, 1—3

CIP-Kur^titelaufnähme

der Deutschen

Bibliothek

Gottsched , Johann Christoph [Sammlung] Ausgewählte Werke / hrsg. von P. M. Mitchell. — Berlin, New York : de Gruyter. Bd. 9. Gesammelte Reden / bearb. von Rosemary Scholl.— Teil 2. — 1. Aufl. — 1976. (Ausgaben deutscher Literatur des XV. [fünfzehnten] bis XVIII. [achtzehnten] Jahrhunderts) ISBN 3-11-007040-5 NE: Scholl, Rosemary [Bearb.]

© Copyright 1 9 7 6 by Walter de Gruyter &

Co.» vormals G . J. Göschen'sche Verlagshandlung,

J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — G e o r g Reimer — K a r l J . Trübner — Veit &

Comp.

Printed in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechts der Herstellung von Photokopien — auch auszugsweise — vorbehalten, Satz und D r u c k : Walter de Gruyter & Co., Berlin 30 Bindearbeiten: Lüderitz Sc Bauer, Berlin 61

Vermischte Reden.



I. Huldigungsrede. i. fr. Ν. Durchlauchtigster Königlicher Prinz und C h u r f u r s t , G n ä d i g s t e r Herr.

W a s Eure Königliche Hoheit und Churfûrstliche Durchlaucht. Dero gegenwärtig versammleten treugehorsamsten Ständen, mit so vieler landesväterlichen Gnade vortragen lassen, das erweckt dieselben allerdings aus ihrer bisherigen Betrubniß, als aus einem langen Schlummer, darinn das ganze Land bisher fast begraben gelegen. Ist es nicht weltkundig, daß das Churfürstenthum Sachsen, nebst allen ihm einverleibten Landen, durch den unvermutheten Todesfall, des weyland allerdurchlauchtigsten, großmächtigsten Königes und Herrn, Herrn F r i e d r i c h A u g u s t s , Königs in Pohlen und Großherzogs zu Litthauen je. Herzogs zu Sachsen, Jülich, Cleve und Berg, auch Engern (426s) und Westphalen, des Heil. Röm. Reichs Erzmarschalls und Churfürsten 2C. ein so preiswürdiges Haupt verlohren, desgleichen die Welt sehr wenige gesehen hat? Ganz Europa hat diesen Monarchen bey seinem höchstmerkwürdigen Leben bewundert; und alle Völker desselben scheinen itzo, in Betrauerung desselben, mit dem bekümmerten Sachsenlande gemeine Sache zu machen. So sehr aber auch die entlegensten Theile von Europa durch das allgemeine Gerücht hievon versichert gewesen: so viel gewisser sind wir selbst davon überzeuget, da wir das Gluck genossen haben, diesen unvergleichlichen Monarchen, nicht nur in der Nähe zu bewun-

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dem; sondern als getreue Unterthanen, die Früchte seiner großen Eigenschaften, in seinem weisen Regimente zu genießen. In der That haben wir einen Herrn verlohren, der seiner glorwürdigen Vorfahren hohe Tugenden in sich allein vereinigte, und sie daher alle übertroffen hat; einen Herrn, der beydes im Kriege und Frieden groß gewesen; einen Herrn, der sich seinen Feinden so schrecklich, als seinen Unterthanen beliebt zu machen gewußt; einen Herrn, der im Glücke und Unglücke gleiche Großmuth erwiesen; einen Herrn, dessen Ansehen majestätisch, dessen Leibesstärke unerhört, dessen Verstand durchdringend, dessen Gnade gegen sein Volk unermudet, dessen Hof prächtig, dessen Kriegsheere wunderwürdig gewesen: und was noch alles vorige weit übertrifft; einen Herrn, der sein Land so gelinde, so gerecht, so erwünscht regieret hat, daß er von seinen Vasallen und Unterthanen, mehr wie ein Vater geliebet, als wie ein Herrscher gefürchtet worden. Wann wurde man ein Ende finden, wenn man hier alle große Eigenschaften unsers in Gott ruhenden Königes nur erzählen, geschweige denn nach Würden preisen woll-te? Alles dieses würde von dem, durch einen so schmerzlichen Verlust, höchstbetrübten Lande, noch destomehr bedauert werden; wenn uns nicht von des hochseligen Königs Majestät, ein so preiswürdiger Erbe seiner Eigenschaften und Tugenden, zum Nachfolger im Regimente wäre hinterlassen worden. Eure königliche Hoheit und Churfûrstl. Durchl. ganz allein machen es, daß unser Verlust noch erträglich geworden; indem wir námlich an dero geheiligten Person sehen, daß selbiger nicht ganz unersetzlich gewesen ist. Um wie viel größer wurde nicht des ganzen Landes Traurigkeit gewesen seyn, wenn es an die Stelle eines weisen Salomons, einen ihm ganz unähnlichen und tyrannischen Rehabeam, hätte den Thron besteigen gesehen? Wie trostlos würden Stadt und Land gewesen seyn, wenn auf einen gnädigen Kaiser 24

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August, ein strenger Tiberius gefolget wäre? Wehe denjenigen unseligen Lindern, die solche harte Schicksale erfahren müssen I Denn wie groß muß nicht der Jammer, die Furcht und die Noth eines Volkes, bey einer solchen traurigen Veränderung seyn? Allein itzo, da der Allerhöchste unserm lieben Vaterlande, auf einen David nach seinem Herzen, einen andern Salomon folgen lißt, den er selbst mit der Weisheit von oben begäbet hat; da auf einen gütigen Vespasian, ein fast noch gelinderer Titus den Thron besteiget: so muß ja das glückselige Sachsen, nicht nur seinen Schmerz sehr gemildert sehen; sondern auch bey dem Antritte der Regierung Eurer Kônigl. Hoheit und Churfurstl. Durchl. denenselben mit Jauchzen und Frohlocken seinen unterthânigsten Glückwunsch abstatten. Dieses alles ist nun der Wahrheit so gemäß, daß ich ohne den Verdacht der allergeringsten Schmâucheley, nicht nur das bisherige, sondern auch viel ein mehreres machet. Die Seele des Men-

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sehen ist ein freyes Wesen, und der Verstand läßt sich nicht zwingen. Je mehr man ihn nöthigen will, etwas fur wahr anzunehmen, was er für falsch hält, desto mehr empöret er sich. Und wenn gleich der Mund endlich nachgiebt: so bleibt doch das Herz noch immer unbesieget. Sagen sie nunmehr selbst, hochgeehrte Anwesende, ob nicht der Religionseifer eine höchst verderbliche, die Duldung fremder Glaubensgenossen hingegen, eine höchst nützliche und vernünftige Sache sey? Ach! was fur traurige Gedanken erfüllen hier, auf einmal meine Seele ! Ich habe mir bisher Gewalt angethan, mit keinem einzigen Worte an die grausamen Mordgeschichte zu gedenken, die unsern allerliebsten Glaubensbrüdern, im verwichenen Jahre so viel Thrânen ausgepresset, zugleich aber uns das Schwert durchs Herz gestoßen haben. Ach! aber, ich kann diesen Zwang nicht länger erdulden! Ich muß den Bewegungen meines innerlichen Schmerzens einigermaßen Raum geben. O wenn es mir nur nicht an beweglichen Worten hierzu fehlen möchte! O wenn mich doch Natur und Kunst, denen größten Rednern, die jemals gelebet haben, gleich gemacht hätten : so wollte ich diese Geschicklichkeit mit der inwendigen Betrubniß meiner Seelen vereinbaren; und alles so jämmerlich, so beweglich und nachdrücklich abschildern, daß, allen die mich hören, blutige Thrânen aus den Augen dringen sollten. Und welche Gelegenheit wäre wohl geschickter, eine bessere Materie dazu zu verschaffen, als eben diese? Was sehen wir vor unsern Augen? Eine große Anzahl ermordeter Leichname! lauter enthauptete Menschenkörper! Doch was, Menschenkörper? Christenkörper! Körper unserer eigenen Religionsverwandten sind es, welche alle ihre Wohlfahrt in den Händen eines barbarischen (530y Volkes sehen, ihre Häupter dem blutdürstigen Henkerschwerte hinstrecken, und ihr unschuldiges Blut, ach daß ich es sagen muß ! ihr unschuldiges Blut, mitten auf dem Markte einer evangelischen Stadt verspritzen müssen. Ich sehe, wie mich dunket, daß sich die rothbesprengten Steine entsetzen, und gleichsam erzittern. Ich höre diese

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stumme Creaturen um Rache schreyen. Ihr aber könnt so unempfindlich seyn, ihr grausamen Feinde der Evangelischen? Haben denn eure Herzen die gefühllose Natur dieser unbelebten Steine an sich genommen, daß auch ein so trauriger Anblick keinen Eindruck bey euch zu machen vermögend ist? Ja, ja, ihr seyd kaum Menschen mehr. Selbst wilde Thiere sind mitleidiger, als ihr. Felsen, sinnlose Felsen seyd ihr! wo ich nicht irre. Doch ich irre, ich irre freylich; denn ihr seyd dieser Abbildung nicht einmal Werth. Ja! wenn ihr noch das Blut der Erwurgeten mit gleichgültigen Augen angesehen hättet; wenn ihr weder Freude noch Betrübniß an euch hättet spüren lassen: so könnte man euch noch mit Steinen, mit unempfindlichen Steinen in eine Classe setzen. Itzo aber ist eure Gemûthsart weit abscheulicher. Ihr seht ein so blutiges Mordgerust mit Vergnügen an. Jeder Schwertstreich des Henkers bringt euch eine neue Lust. Und so viel Häupter ihr von den Rümpfen springen sehet, so vielfach ist das Jubelgeschrey, welches von euren Lippen erschallet. O barbarische Tyranney! O unmenschlicher Religionseifer! Saget selbst, ihr blutdürstigen Seelen, wäre es uns zu verdenken, wenn wir euch alles Unglück auf den Kopf, und den allerstrengsten Zorn Gottes zum Lohne anwunschen möchten? Dieß wäre ja die allergeringste Rache, dazu uns eine solche Beleidigung anflammen könnte. Doch behüte uns Gott! daß wir dieses thun sollten. Die christliche Liebe, die Billigkeit, ja selbst die Menschlichkeit verbeut es uns, gegen Brüder so grausam zu seyn. Wir hüten uns selbst vor dem wütenden Religionseifer; der ja nichts anders, als Unheil und Verderben anzurichten geschickt ist. Ihr lebet, grausame Feinde ! und wir wünschen euch, noch so lange zu leben, bis ihr zur Erkenntniß eurer Ungerechtigkeit kommet; und dereinst das unschuldige Blut unserer Brüder, unserer liebsten Glaubensbrüder, mit euren eigenen Thrânen abwaschen werdet.



VI. Akademische Rede, Ein J u r i s t muß ein P h i l o s o p h seyn.

1726.

Meine Herren,

K e i n Satz dunkt mich wahrhafter zu seyn, als der Ausspruch eines der berühmtesten alten Römer: daß nämlich dem menschlichen Geschlechte, von den unsterblichen Göttern, oder damit ich es nach unsrer Art ausdrücke, von dem ewigen Gotte, kein herrlicher Geschenk verliehen worden, als die Weltweisheit. Sie insgesammt, meine Herren, sind öffentliche Lehrer der Philosophie. Wie nun kein Künstler leicht seine Kunst, kein Meister seine Wissenschaft zu verachten pfleget: also überhebet mich dero allerseits vermutheter Beyfall der Muhe, diesen trefflichen Satz weitlàuftig zu erklären und zu behaupten. Wer weis es nicht, daß die Weltweisheit ein vernünftiges und gründliches Erkenntniß derjenigen Dinge sey, die uns glücklich machen können? Und wer gesteht es nicht, daß die Wissenschaft der Glückseligkeit das allervortrefflichste ist, was sich ein verständiges Wesen wünschen, und von dem Urheber aller Dinge hat erlangen können? Ich weis wohl, daß die Verächter der Philosophie, mir gleich bey der Beschreibung der Weltweisheit, Einwürfe genug machen könnten. Ich habe aber ein solches Vertrauen zu meiner guten Sache, daß ich mich vor allen ihren Einwen30 Gottsched Bd. IX/2

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düngen gar nicht fürchte. Es bleibt dabey: von ihr die natürliche Theologie und Sittenlehre: der Rechtsverständige das Recht der Natur, und die Politik; der Arzt aber die Naturwissenschaft erborgen. Alle drey bescháfftigen sich mit der Vernunftlehre, deren Lehrsätze sie unmöglich entbehren

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können, wenn sie nicht, wie die Blinden, im Finstern tappen wollen. Dergestalt hält nun die Weltweisheit alles dasjenige in sich, was die übrigen Facultâten nur stückweise abhandeln: und ohne sie kann und pflegt nicht viel gründliches gesagt zu werden. So fruchtbar ist diese gesegnete Quelle aller Wissenschaften, daß sie sich 2war unaufhörlich, mit vollen Strömen des Erkenntnisses, auf die ganze Gelehrsamkeit ergießt, aber selbst keiner fremden Hülfe bedürftig ist. Und wer dem hellen Sonnenkörper einen Vorzug vor allen dunkeln Planetenkugeln einräumet, die alle ihr Licht und Leben von seinen Stralen empfangen, der wird auch der Weltweisheit vor allen übrigen Theilen der Gelehrsamkeit ihren Vorrang nicht absprechen können. Dieses ist es zum Theil, meine Herren, was ich mich vor einiger Zeit, in einer Rede darzuthun, anheischig gemacht habe. Die Rechtsgelehrsamkeit war es, davon ich zu zeigen versprach, daß sie ohne die Beyhûlfe der Weltweisheit, eine lautere Rabulisterey, und ein so genannter Jurist ohne die Philosophie, ein zänkischer Practikenmacher zu nennen sey. Vermessenes Vorhaben! wurde hier mancher denken, der die Weltweisheit kaum dem Namen nach kennet, und durch den ins Gedächtniß gefaßten Schlendrian, gewisser vor Gericht üblicher Formeln, der gesunden Vernunft und Tugend zum Trotze, sein Brod zu verdienen gelernet hat. Doch zu allem Glücke habe ich itzo solche Leute nicht vor mir: und wenn ich sie gleich vor mir hätte, so wurde ich sie doch nicht eines andern überreden (535)> können. Wem die goldene Praxis einmal Augen und Verstand geblendet hat, der sieht die deutlichsten Wahrheiten, wie ein Maulwurf das Sonnenlicht, an. In so erleuchteten Gemüthern hergegen, als die ihrigen sind, meine Herren, wird es nicht schwer fallen, meinen Satz zu behaupten: wenn ich mich nur, wie ich sehnlich wünsche, ihrer geneigten Aufmerksamkeit versichert halten kann. Ich habe einen Mann von besonderer Einsicht sagen gehöret: daß der allerwenigste Theil der Gelehrten diesen 30«

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Namen mit Recht führe; sondern daß die meisten nur f ü r studirte Handwerksleute zu achten wären. Ein so seltsamer Satz machte mich neugierig, den Beweis davon zu hören; und es kostete mich nichts mehr, als eine Frage, desselben theilhaftig zu werden. Ein Gelehrter, hieß es, wird eigentlich wegen der Vollkommenheiten seines Verstandes dieses Namens werth geachtet. Die besondre Einsicht in die Natur aller Dinge, und in den Zusammenhang der Wahrheiten, macht den Begriff einer gründlichen Gelehrsamkeit aus. Daran fehlt es aber allen denen, die mit dem Gedächtnisse, und nicht mit dem Verstände studiren. Sie lernen das Handwerk eines Predigers, Advocaten und Arztes, eben so, wie andre das Schneider- und Schusterhandwerk lernen. Ihre Absicht ist nicht, am Verstände vollkommener zu werden, die Verknüpfung der Ursachen mit ihren Wirkungen, der Mittel und Absichten einzusehen ; sondern Brod zu verdienen. Daher kömmt es nun, daß wir so viel ungelehrte Gelehrte haben; daher kómmts, daß die Zahl wahrer Gelehrten so klein, der studirten Handwerksleute aber so ungemein groß ist. Wenn ich dieser Sache etwas nachdenke; so finde ich, daß eigentlich die Philosophie einen Studirenden zu einem wahrhaften Gelehrten machet: denn sie ist eigentlich