Gesammelte Werke: Band 3 Schriften zur frühen Phänomenologie [Reprint 2012 ed.]
 9783110916195, 9783484641037

Table of contents :
Vorwort des Herausgebers
Die Auffassung der Philosophie bei Franz Brentano
Die wissenschaftliche Tätigkeit Kasimir Twardowskis
Bemerkungen über einige ontologischen Thesen im Buch Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen von Kasimir Twardowski
Vorbemerkung
Über den Aufbau des Vorstellungsgegenstands
Die Bestrebungen der Phänomenologen
I. Über die Erfahrungspsychologie und den Psychologismus
II. Über das Prinzip der unmittelbaren Erfahrung
III. Über die unmittelbare Erkenntnis a priori
IV. Über die immanente Erkenntnis und die phänomenologische Erkenntniseinstellung
Nachruf auf Max Scheler (29.8.1874 – 19.5.1928)
Über die philosophischen Forschungen Edith Steins
Anhang
1. Literaturverzeichnis
2. Personenregister

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R O M A N INGARDEN Gesammelte Werke

ROMAN INGARDEN Gesammelte Werke

Herausgegeben von Rolf Fieguth und Guido Küng Band 3

Max Niemeyer Verlag Tübingen

ROMAN INGARDEN

Gesammelte Werke

Schriften zur frühen Phänomenologie Herausgegeben von Wlodzimierz Galewicz

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1999

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ingarden, Roman: Gesammelte Werke / Roman Ingarden. Hrsg. von Rolf Fieguth und Guido Kiing. -Tübingen : Niemeyer Bd. 3. Schriften zur frühen Phänomenologie / hrsg. von Wfodzimierz Galewicz. - 1 9 9 9 ISBN 3-484-64103-7 ® Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 1999 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Guide-Druck GmbH, Tübingen Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Roman Ingarden, Schriften zurfrühenPhänomenologie

Vorwort des Herausgebers Die Auffassung der Philosophie bei Franz Brentano

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Die wissenschaftliche Tätigkeit Kasimir Twardowskis

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Bemerkungen über einige ontologischen Thesen im Buch Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen von Kasimir Twardowski Vorbemerkung Über den Aufbau des Vorstellungsgegenstands

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Die Bestrebungen der Phänomenologen I. Über die Erfahrungspsychologie und den Psychologismus Π. Über das Prinzip der unmittelbaren Erfahrung III. Über die unmittelbare Erkenntnis a priori IV. Über die immanente Erkenntnis und die phänomenologische Erkenntniseinstellung

92 94 116 148

Nachruf auf Max Scheler (29.8.1874 - 19.5.1928)

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Über die philosophischen Forschungen Edith Steins

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194

Anhang 1. Literaturverzeichnis 2. Personenregister

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Vorwort des Herausgebers Der hier unter dem Titel Schriften zur frühen Phänomenologie vorgelegte Band 3 der Gesammelten Werke Roman Ingardens bringt die Herausgabe von Ingardens kleineren interpretativ-kritischen Arbeiten über die Phänomenologie zum Abschluß. Er folgt den 1998 (als Band S der Gesammelten Werke) edierten Schriften zur Phänomenologie Edmund Husserls und versammelt einige Aufsätze des polnischen Philosophen, die entweder anderen Gestalten aus der frühen Phase der weit verstandenen phänomenologischen Bewegung gewidmet sind oder deren Haupttendenzen überhaupt zur Darstellung bringen. Als erster wird hier der Aufsatz "Die Auffassung der Philosophie bei Franz Brentano" (Filozofia w rozumieniu Fr. Brentany) untergebracht. Zwei weitere Texte, nämlich "Die wissenschaftliche Tätigkeit Kasimir Twardowskis" (Dzialalnoác naukowa Kazimierza Twardowskiego) und "Bemerkungen über einige ontologischen Thesen im Buch Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen von Kasimir Twardowski" (Uwagi o niektórych twierdzeniach ontologicznych w ksiq¿ce Kazimierza Twardowskiego pt. Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen) beziehen sich auf den namhaften polnischen Brentano-Schüler, der besonders durch die genannte Abhandlung über den Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen mit der frühen Phänomenologie im Stile der Logischen Untersuchungen E. Husserls in enger geistiger Verwandtschaft steht. Den größten Raum im vorliegenden Band nimmt ferner Ingardens umfangreicher Aufsatz "Die Bestrebungen der Phänomenologen" (D^zenia fenomenologów) ein. Sodann folgt des Verfassers "Nachruf auf Max Scheler" und schließlich der Text seines Vortrags "Über die philosophischen Forschungen Edith Steins" (O badaniach filozoficznych Edith Stein). Der letztere Text ist als einziger schon früher (in einer Übersetzung von Pawel Taranczewski) auf deutsch veröffentlicht worden und wird hier nur in einer mit Einverständnis des Übersetzers etwas veränderten Form abgedruckt. Die übrigen Texte lagen bisher nur in polnischer Sprache vor und werden hier (in einer Übersetzung des Herausgebers) zum ersten Mal dem deutschsprachigen Leser zugänglich gemacht Die Quellenangaben zu den in diesem Band aufgenommenen Arbeiten sowie die Informationen über spezielle Grundsätze bei der Textgestaltung

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Vorwort des Herausgebers

sind in den Fußnoten auf der ersten Seite des jeweiligen Textes untergebracht. Im allgemeinen wurden bei der editorischen Bearbeitung im vorliegenden Band die gleichen Grundsätze verwendet wie in den vorhergehenden Bänden der Gesammelten Werke Ingardens. Alle Anmerkungen des Herausgebers finden sich also in den Fußnoten unten auf der jeweiligen Seite. Sie stehen dort - im Unterschied zu Anmerkungen des Verfassers - immer in eckigen Klammern [ ]. In eckige Klammern wurden auch alle Zusätze des Herausgebers gesetzt, die innerhalb der Fußnoten des Verfassers erscheinen (wie zusätzliche bibliographische Angaben usw.). Bei den Querverweisen auf andere Werke Ingardens verwenden wir Abkürzungen (wie z.B. "Ingarden [1968]"), die im Literaturverzeichnis erklärt werden. Zum Schluß möchte der Herausgeber wieder seine Dankbarkeit all denjenigen ausdrücken, die bei den Arbeiten am vorliegenden Band mitgeholfen haben. Besonderer Dank gebührt auch dieses Mal Herrn Patrick Büchel, der unermüdlich über die Korrektheit meiner Übersetzungen gewacht hat, Frau Ursula Stohler und Prof. Rolf Fieguth, die liebenswürdigerweise Pawel Taranczewskis Übersetzung des Vortrags über Edith Stein korrigiert haben, sowie Dr. Arkadiusz Chrudzimski, Dr. Jacek Jaátal und Dr. Dariusz Lukasiewicz, die freundlicherweise eine Reihe von bibliographischen Angaben zusammengetragen haben. Der vorliegende Band verdankt seine Entstehung auch einer großzügigen finanziellen Unterstützung, die einerseits vom polnischen Komitee für Wissenschaftliche Forschung (Komitet Badan Naukowych), andererseits vom Forschungsfonds der Universität Freiburg in der Schweiz gewährt wurde.

Die Auffassung der Philosophie bei Franz Brentano1 In der vorliegenden Abhandlung möchte ich einige Ansichten Franz Brentanos über die Philosophie und deren erkenntnistheoretische Grundlagen darstellen. Es ist noch zu früh, um eine synthetische und endgültige Darlegung seiner Ansichten zu geben. Außer einem Buch O. Kraus' - eines Schülers Brentanos - , das u. a. auch die eher als persönliche Erinnerungen gedachten Beiträge C. Stumpfs und E. Husserls enthält, gibt es fast keine synthetischen o

Darstellungen der ganzen Philosophie Brentanos. Man müßte somit den Versuch einer Synthese auf eigene Faust unternehmen. Zum anderen sind bisher noch nicht alle Schriften Brentanos veröffentlicht worden. Denn Brentano hat zu seinen Lebzeiten nur einen kleinen Teil seiner Arbeiten publiziert. Erst nach seinem Tod ist man an die Herausgabe seiner Manuskripte herangetreten, und diese Arbeit ist noch nicht abgeschlossen, obwohl eine ganze Reihe von Werken veröffentlicht worden ist. Man hat auch weder die Einflüsse näher geklärt, unter denen Brentano stand, noch die Zusammenhänge seiner Ansichten mit anderen zeitgenössischen philosophischen Richtungen. Das gehört alles in die Zukunft. Wenn ich mich trotzdem entschlossen habe, einige philosophische Ansichten Brentanos zu skizzieren, so haben mich dazu verschiedene Umstände veranlaßt. In erster Linie die Tatsache, daß zu Brentanos Schülern K. Twardowski gehörte, der die Entwicklung der polnischen Philosophie der letzten vierzig Jahre nachhaltig beeinflußt hat. So kam es dazu, daß eine ganze Reihe von Brentanos Behauptungen für viele [Obersetzung von: "Filozofia w rozumieniu Fr. Brentany", in: Ingarden (1963), S. 195-249 (vgl. auch die französische Version: "Le concept de philosophie chez Franz Brentano", Archives de Philosophie, 32 (1969), S. 458-475 und 609-638). Im polnischen Original beginnt Ingarden seinen Brentano-Aufsatz mit einer kurzen biographisch-bibliographischen Notiz, die wir hier auslassen.] [Franz Brentano. Zur Kenntnis seines Lebens und seiner Lehre. Mit Beiträgen von C. Stumpf undE. Husserl, München 1919.] Nach dem Krieg ist Alfted Kastils Buch u.d.T. Die Philosophie Franz Brentanos (Bern 1951) erschienen, das ein synthetisches Bild der Philosophie Brentanos zu geben versucht Außerdem sind seit der Zeit des Entstehens meiner Arbeit eine Reihe von Brentanos Schriften veröffentlicht worden, die ein vollständigeres Bild seiner Ansichten vermitteln. Meiner Meinung nach wird jedoch der in dieser Arbeit vertretene Standpunkt durch diese Bacher nicht tangiert

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Die Auffassung der Philosophie bei Franz Brentano

zeitgenössische polnische Philosophen eine gängige - manchmal sogar abgegriffene - Münze wurden. - Diese Behauptungen wurden in Polen mehrmals ausgesprochen; ja man gewöhnte sich an sie dermaßen, daß Brentanos Gesicht darauf sich gleichsam verwischte. Im Laufe der Zeit wurden sie des öfteren eine unkritisch wiederholte opinio communis. Eben deswegen muß man sich - um einige von ihnen wiederzubeleben, ihnen den Charakter von Dogmen zu nehmen - mit ihnen bewußt auseinandersetzen und sie kritisch durchdenken. Wir können dadurch nicht nur die Quelle von gewissen im XX. Jahrhundert zur aktuellen philosophischen Atmosphäre in Polen gehörenden Ansichten aufdecken, sondern darüber hinaus die philosophischen Hauptintentionen einer Reihe von westeuropäischen Philosophen aus dem ausgehenden XIX. Jahrhundert und ein paar Jahrzehnten des XX. Jahrhunderts in Deutschland, Österreich und Böhmen besser verstehen, die Brentanos unmittelbare oder mittelbare Schüler waren - wie C. Stumpf, A. Meinong, A. Marty, E. Husserl (und in der Folge auch die Phänomenologen), Chr. Ehrenfels (und mittelbar die Gestaltpsychologen), E. Mally, Fr. Hillebrand und endlich O. Kraus und Kastil. Die Veröffentlichung einer Reihe von Brentanos posthumen Werken enthüllt uns sein ganz anderes Gesicht, als es die von ihm selbst publizierten Schriften zu zeigen schienen. Diese Verschiedenheit des eigenen geistigen und wissenschaftlichen Gesichts Brentanos im Verhältnis zu dem, als welcher Brentano Jahrzehnte lang galt, läßt sich besonders stark in Polen spüren. Auf einem bisher nicht geklärten Wege ist bei uns gleichsam eine spezielle Brentano-Legende entstanden, die mit der Wirklichkeit nicht viel zu tun hat. Brentano galt und gilt bei uns vor allem als der Verfasser der Psychologie vom empirischen Standpunkt4, und es war so, als ob man nicht gewußt hätte, daß er starke metaphysische und erkenntnistheoretische Interessen hatte. Mehr noch, man nahm offenbar an, daß diese Interessen Brentano völlig fremd waren, daß er allein Psychologe war und sein wollte. Das entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit Brentano war eine ziemlich rätselhafte Gestalt. Bis heute weiß man nicht mit Sicherheit, ob seine Rolle in der Geschichte der Philosophie darin besteht, daß er in die europäische Philosophie irgendwelche wesentlich neuen, bedeutsamen

[Vgl Fr. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, hrsg. von O. Kraus, Hamburg 1973 (unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1924).]

Die Auffassung der Philosophie bei Franz Brentano

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Ideen eingeführt hat, oder vielmehr darin, daß er als eine hervorragende Persönlichkeit auf eine Reihe von Gelehrten von hohem Rang eingewirkt und dadurch einen deutlich besonderen Gang der Untersuchungen und Ansichten im allgemeinen Strom des europäischen Denkens der Gegenwart hervorgerufen hat. Daß er auf eine Reihe von namhaften Forschern eingewirkt hat, die trotz ihres eigenen großen wissenschaftlichen Ertrags und manchmal einer viel größeren Originalität und Dynamik nicht aufhören, sich zu Brentano zu bekennen - das unterliegt keinem Zweifel. Es fragt sich nur, womit Brentano auf die anderen einwirkte - mit seinen besonderen Charakterzügen, seinem pädagogischen Talent? Oder mit der Originalität seiner Gedanken, ihrer ungewöhnlichen Tiefe und Spannweite? Lesen wir die Erinnerungen eines der ersten Schüler Brentanos, C. Stumpfs (er war schon 1866 ein Hörer Brentanos), oder eines späteren Schülers von ihm, Edmund Husserls, oder die Bemerkungen O. Kraus' (der Brentano erst gegen Ende seines Lebens kennenlernte)5, dann ersehen wir aus verschiedenen Einzelheiten, daß Brentano eine sehr starke Persönlichkeit war, die sowohl treue Freunde und fanatische Bekenner gewinnen als auch verbissene Feinde schaffen konnte, die ihm viel vorzuwerfen hatten. Es fallt auch auf (darüber spricht sowohl Husserl als auch Stumpf), daß Brentano seine Philosophie nicht nur für die erste wissenschaftlich wertvolle Philosophie, sondern auch für den einzigen wahren und begründeten Standpunkt hielt und daß er eine beträchtliche Portion Intoleranz besaß. Unter seinen Schülern duldete er nur solche, die sich zu seinen Theorien bekannten, Meinungsverschiedenheiten zogen mindestens ein deutliches Abkühlen der persönlichen Beziehungen nach sich, wenn nicht deren Abbrechen. Das gibt sehr zu denken. Waren Brentanos Ansichten in der Tat so bahnbrechend und wegweisend, seine logische Beweisführung so effizient und scharfsinnig (wie viele Schüler betonen) - oder hat vielmehr sein persönlicher Reiz, seine persönliche Suggestionskraft - oder endlich seine besondere Gabe, andere mit seinen eigenen Ideen anzustecken und sie in einen intellektuellen Schwung zu bringen, über seine unzweifelhaft große Rolle in der Philosophie des XX. Jahrhunderts entschieden?

Im Jahre 19S6 hat Emil Utitz einen interessanten Aufsatz Ober Brentano veröffentlicht [Es handelt sich wohl um Utitz! "Erinnerungen an Franz Brentano", die aber in der Wissenschaftlichen Zeitschrift der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg, 4 (1954-55), S. 73-90 veröffentlicht wurden.]

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Die Auffassimg der Philosophie bei Franz Brentano

Auf diese Frage können wir keine befriedigende Antwort geben. Wer Brentano als Persönlichkeit war, können nur diejenigen sagen, die mit ihm direkt verkehrt haben. Ich habe ihn persönlich nie getroffen. - Als ich mein philosophisches Studium antrat, war Brentano schon ein Greis, der sich aus dem Universitätsleben längst zurückgezogen hatte. Ich habe schon die Meinung berührt, derzufolge Brentano manchmal vor allem als Psychologe und zugleich als ein positivistisch eingestellter Gegner der Metaphysik angesehen wird. Es empfiehlt sich zunächst, einige, wenn auch nur äußere Tatsachen zu berücksichtigen, die darauf ein gewisses Licht werfen können. Nun hat Brentano in den ersten Jahren (1868-1870) seiner Lehrtätigkeit in Würzburg außer der Philosophiegeschichte nur die Metaphysik gelesen, und zwar mehrere Male (im Winter 1868 zwei Teile: Tl. I die transzendentale Philosophie und Ontologie, - im Frühjahr 1869 Tl. Π Theologie-Kosmologie und erst im Winter 1869 die deduktive und induktive Logik). Im Zusammenhang damit schreibt C. Stumpf: "Metaphysik war Anfang und Ende seines Denkens (...), (...) im Innersten seiner Seele überwog doch das metaphysische Interesse alles andere."6 Brentano selber schreibt 1886 (also 12 Jahre nach dem Erscheinen seiner Psychologie) an Stumpf: "Ich bin augenblicklich ganz Metaphysiken Ich muß gestehen, nachdem ich ein paar Jahre ganz Psychologe gewesen bin, freut mich der Wechsel". Nach Stumpf knüpften die Würzburger Metaphysik-Vorlesungen nicht an die Scholastiker an (wie man vielleicht von einem Geistlichen erwarten könnte), sondern an Aristoteles, von dem Brentano ein Kenner war, und insbesondere an Aristoteles1 Metaphysik. Einen originellen Teil seiner Vorlesung aus dem Jahre 1868 bildet die sog. "transzendentale" Philosophie, die - obwohl sie einen Teil der Metaphysik ausmachen sollte - die erkenntnistheoretischen Betrachtungen umfaßte. Es empfiehlt sich, hier manche (von Stumpf anhand seiner Notizen referierten) Behauptungen anzuführen. So lautet die allgemeine Erkenntnisaporie, auf die Brentano stößt: "Meiner Erkenntnisfähigkeit kann ich weder blind vertrauen, noch kann ich sie prüfen. Um sie zu prüfen, müßte ich mich derselben Erkenntnisfähig[C. Stumpf, "Erinnerungen an Franz Brentano", in: O. Kraus, op. cit, S. 98.] [C. Stumpf, loc. cit, S. 98.] So kann man wohl nicht sagen, daB die von ihm in der Psychologie vom empirischen Standpunkt vertretene Auffassung endgültig war.

Die Atfffassung der Philosophie bei Franz Brentano

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keit bedienen, deren Zuverlässigkeit ich prüfen will. Also kann ich niemals o einer Erkenntnis mit Zuverlässigkeit gewiß sein." Und so lautet die von Brentano vorgeschlagene Lösung: "Ich kann auch sehend vertrauen. Ist ein Satz unmittelbar evident, so bedarfer zu seiner Erkenntnis keiner Prüfung, auch nicht der Erkenntniskräfte. Wir stützen uns allerdings in gewissem Sinne auf die Zuverlässigkeit unserer Erkenntniskräfte, indem wir uns ihrer bedienen, aber nicht bedienen wirQuns ihrer als Prämisse. Somit kann von einem Zirkelschluß keine Rede sein." Unmittelbar evident sind also nach Brentano die logischen Axiome und die Tatsachen der inneren Wahrnehmung. Daß sie anerkannt werden müssen, liegt nicht am blinden psychischen Drang, sondern an ihrer eigenen inneren Evidenz. Die eventuell naheliegenden Einwände gegen den Wert dieser Evidenz weist Brentano mit den folgenden Überlegungen zurück: Wenn man sagt: "Ich könnte so eingerichtet sein, daß ich gerade dem zustimmen muß, was falsch ist", so heißt das so viel, als wenn man sagt: "Ich bin ungewiß, ob nicht das falsch ist, wovon ich gewiß bin, daß es wahr ist." Und dazu noch: "Wir können keck sagen, daß uns weder die Natur noch Gott hier täuschen. Selbst Gott kann nicht bewirken, daß uns evident wäre, Rot sei ein Ton, 2-1 sei 4. Sein Wille würde damit sich selbst widersprechen. Wer ihm also diese Macht abspricht, der leugnet nicht seine Vollkommenheit, sondern seine Unvollkommenheit."10 Wie wir sehen, ein Standpunkt, der von den Ansichten Descartes' nicht weit entfernt ist. Um Brentanos ursprünglichen Standpunkt zu charakterisieren, ist es sehr nützlich, seine Habilitationsthesen zu berücksichtigen. (Sie wurden von ihm auf lateinisch 1866 veröffentlicht. - Ein Abdruck mit einer deutschen Übersetzung befindet sich im Band Über die Zukunft der Philosophie, der 1929 von Kraus herausgegeben wurde.11)

8 9 10 11

[VgL C. Stumpf, loc. cit, S. 100.] [Ebenda.] Poe. cit, S. 100-101.] [Siehe. Fr. Brentano, "Die 25 Habilitationsthesen (lateinisch und deutsch)", in: derselbe, Ober die Zukunft der Philosophie, hrsg. von O. Kraus, 2. Auflage neu eingeleitet von P. Weingartner, Hamburg 1968, S. 133-141.]

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Die Auffassung der Philosophie bei Franz Brentano

Dieser Thesen gibt es 25. Es sind locker zusammengestellte Behauptungen, die aber entsprechend geordnet sind und die Grundprobleme der Philosophie überhaupt umfassen. Die ersten vier Thesen betreffen methodologische Probleme der Philosophie (ihres Charakters usw.), die Thesen 5-11 ontologische und metaphysische Probleme, die Thesen 12-15 psychologische Probleme, die Thesen 16-21 behandeln logische und sprachphilosophische Probleme, die Thesen 22-23 ethische Probleme, die Thesen 24-25 ästhetische Probleme. Ich bespreche die wichtigsten. 1. "Philosophia negare oportet, scientias in spéculatives et exactas dividi posse; quod si non recte negaretur, esse eam ipsam jus non esset." ("Die Philosophie muß protestieren gegen die Einteilung der Wissenschaften in spekulative und exakte, und die Berechtigung dieses Protestes ist das Recht ihrer Existenz selbst.") Es handelt sich darum (was übrigens in dieser Formulierung nicht deutlich ist), daß Brentano gegen die Gegenüberstellung der Philosophie und der Wissenschaft protestiert. Die Philosophie sei (solle sein) auch eine Wissenschaft, und zwar eine strenge Wissenschaft. ("Philosophie als strenge Wissenschaft" - sagt ein paar Jahrzehnte später Husserl; ein ähnliches Programm (und [ein ähnlicher] Protest) wurde bei uns [in Polen] mehrmals von Twardowski ausgesprochen.) Diese Parole ohne weitere Kommentare sagt nicht viel, gerade diese Kommentare aber werden gewöhnlich leider nicht hinzugefügt. Sie ist begründet, wenn sie sagen soll, daß wir uns in den philosophischen Untersuchungen um ebenso streng formulierte und verantwortungsvoll begründete Behauptungen bemühen sollen, wie wir sie in der sog. Wissenschaft verlangen. Gewöhnlich geht man jedoch im Verständnis dieses Postulats noch viel weiter; man postuliert nämlich, die Philosophie solle auch verschiedene spezielle Methoden befolgen, die in den Einzelwissenschaften (insbesondere in den Erfahrungswissenschaften) befolgt werden, sowie danach streben, dieselben Aufgaben zu erfüllen, die diesen Wissenschaften vorschweben. Bis zu einem gewissen Grad gilt das auch - wie wir bald zeigen werden - für den Standpunkt Brentanos. 2. "Die Philosophie muß protestieren gegen die Zumutung, ihre Prinzipien der Theologie zu entnehmen, und gegen die Behauptung, daß durch die

Die Auffassung der Philosophie bei Franz Brentano

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Existenz einer übernatürlichen Offenbarung ein fruchtbares Philosophieren erst möglich wird" (auch hier kommt es darauf an, die Philosophie als Wissenschaft (Wissen) und nicht als "Glaube" zu charakterisieren). 3. "Nichtsdestoweniger ist es richtig, daß die theologisch festgestellten Wahrheiten der philosophischen Forschung als Fingerzeige zu dienen geeignet sind" ("stellae rectrices"). 4. "Vera philosophiae methodus nulla alia nisi scientiae naturalis est." ("Die wahre Methode der Philosophie ist keine andere als die der Naturwissenschaften.") - Diese These hat später Dilthey in der Einleitung in die Geisteswissenschaften (1883) angegriffen, besonders was die Anwendung von Methoden der Naturwissenschaft auf die Geisteswissenschaften betrifft. Nach Dilthey hat sich gegen sie H. Rickert in seinem Werk Über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung (1896) gewendet. In den Jahren aber, als Brentano das behauptete (sechs Jahre nach Fechners Elementen der Psychophysik), war es eine populäre, wenn nicht sogar die vorherrschende Meinung. Die Schwierigkeit [in der Aufgabe], gegenüber dieser These Stellung zu nehmen, besteht darin, daß es nicht klar ist, was hier "die Methode der Naturwissenschaft", besonders in Anwendung auf die Philosophie überhaupt, bedeuten soll. Wäre nur von der Psychologie die Rede, dann könnte man sich ungefähr vorstellen, daß es um die Verwendung empirischer Erkenntnis, induktiver Verallgemeinerung, experimenteller Methoden usw. geht. In Anwendung auf die Philosophie überhaupt - besonders auf die Metaphysik, Logik usw. - ist es schwierig, sich eine konkrete Vorstellung zu bilden, obwohl der logische Psychologismus in Deutschland in den 80er und 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts versuchte, gerade diese Methode in der Logik zu verwenden. Auf jeden Fall ist diese Behauptung, an der Brentano, ungeachtet verschiedener späterer Veränderungen seines Standpunkts, festgehalten hat, kennzeichnend für die Epoche, in der sie ausgesprochen wurde. Die metaphysischen Probleme: 5. "Rerum multitude pantheismum, imitas atheismum reputai." ("Die Vielheit in der Welt widerlegt den Pantheismus und die Einheit in ihr den Atheismus.")

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Die Auffassung der Philosophie bei Franz Brentano

6. "Kant irrt, indem er behauptet, der physikotheologische Beweis ergebe keine schaffende, wenn auch eine ordnende Intelligenz." 7. "Und weiter irrt er auch darin, daß er sagt, wenn Gott als Schöpfer erwiesen sei, so folge hieraus noch nicht seine unendliche Vollkommenheit." S. "Weder gibt es eine unbegrenzte Zahl oder überhaupt eine Mehrzahl von Welten, noch ist die Welt von unbegrenzter Ausdehnung." 9. "Die Annahme eines leeren Raumes, wie ihn die ältere und neuere Atomistik lehrt, ist unmöglich, nicht sowohl darum, weil der Begriff eines leeren Raumes einen Widerspruch enthielte, als darum, weil Wirkung durch leeren Raum unmöglich ist." 10. "Die Paralogismen Zenos, genauer gesagt die drei ersten unter ihnen, täuschen dadurch, daß sie das Kontinuum als diskrete Größe behandeln" "magnitudinem discretam tractant." 11. "Wer die Unsterblichkeit der Tierseele annimmt, muß auch annehmen, daß es Tiere mit vielen, ja unendlich vielen Seelen gebe." Ich habe keine Absicht, die angeführten Behauptungen sachlich zu diskutieren. Ich gebe sie hier nur als Beispiel von Behauptungen an, die nach Brentano philosophisch sind, um zu fragen, ob derartige Behauptungen tatsächlich mit den Methoden der Naturwissenschaft entdeckt oder begründet werden können. Es scheint, daß dies nicht der Fall ist. Entweder bemerkt also Brentano nicht den Widerspruch, den er begeht, wenn er nicht klar sieht, was "mit den Methoden der Naturwissenschaft" erreicht werden kann, oder er begeht diesen Widerspruch bewußt, kann aber keinen anderen Ausweg finden. Von Brentanos anderen Thesen, die hier Beachtung verdienen, ist für die Charakterisierung seines erkenntnistheoretischen Standpunkts die These 13 wichtig, in der die bekannte Behauptung Leibniz' wiederholt wird: "Nihil est in intellectu, quod non prius ftierit in sensu, nisi intellectus ipse." Sie bildet eine rationalistische Einschränkung der These des Empirismus. Und dazu noch die These 17: "Eine Definition für Akzidenzien im strengen Sinne des Wortes gibt es nicht, eine Substanz zu definieren ist uns aber ganz unmöglich" ("accidentia definitionem excludent; definire autem substantiam prorsus non possumus").

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Beachtenswert sind zwei ethische Thesen: die These 22, eine negative, 12

die leugnet, daß der Mensch von Natur aus Egoist sei, und die These 23, eine positive, derzufolge metaphysische Betrachtungen dem Glauben an die Freiheit des Willens zur Bestätigung dienen. Auffellend ist eine beträchtliche Anzahl von negativen Behauptungen, ζ. B. von Verneinungen anderer Behauptungen - 13 von 25! Sowohl die (übrigens spärlichen) Informationen über Brentanos Vorlesungen nach der Habilitation als auch seine ersten Arbeiten (ausgenommen die historischen, die ich nicht zur Verfugung habe) zeigen uns seinen Standpunkt als die Ansicht eines Menschen, der a) zur Metaphysik positiv eingestellt ist und sie selber betreibt (man kann dabei vermuten, daß Brentanos Metaphysik in dieser Zeit der sog. "christlichen Philosophie" nahe ist), b) der in der Erkenntnistheorie deutlich rationalistische Züge akzeptiert (die These 13 und die aus den Vorlesungen angeführten Behauptungen über die evidenten Wahrheiten), c) der aber trotzdem die Parole der "Wissenschaftlichkeit" der Philosophie und die Forderung nach der Verwendung der Methode der Naturwissenschaft in der Philosophie aufstellt. Der Punkt (c) weist im Verhältnis zu (a) und (b) nicht nur auf einen Keim der weiteren Entwicklung von Brentanos Ansichten hin, sondern er ist auch in diesem Kontrast kennzeichnend für die Epoche. Er wird sich bald bei Brentano selbst festigen und zu Veränderungen in seiner Auffassung der Philosophie fuhren. Zwischen dem Jahr des Habilitierens (1866) und der Thesen und dem Jahr des Erscheinens der Psychologie (1874) liegt eine Periode der wesentlichen Verwandlung in Brentanos Ansichten. Außer einer einzigen Schrift aus dem Jahr 1869 unter dem kennzeichnenden Titel A. Comte und die positive 13

Philosophie (ausgenommen die historischen Arbeiten) ist uns diese Periode aus erster Hand bisher nicht bekannt. Wir wissen nur, daß in diese Zeit einerseits ein gewaltiger Umbruch in Brentanos persönlichem Leben fällt: sein Bruch mit dem Katholizismus und sein Austritt aus der Kirche, andererseits seine Studien über die Philosophie des englischen Empirismus - insbeson12 Vgl. Twardowski, "Handelt der Mensch immer egoistisch?" [K_ Twardowski, "Czy czlo13 wiek zawsze postçpuje egoistycznie?", Iris Lwów 1989, Heft 5, S. 343-56.] [Vgl. Fr. Brentano, Die vier Phasen der Philosophie, hrsg. von O. Kraus, 2. Aufl., Hamburg 1968, S. 99-133.]

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Die Auffassung der Philosophie bei Franz Brentano

dere J. St. Mills (wir verfügen über Informationen über seine Korrespondenz mit Mill und ein geplantes Treffen, das übrigens nicht zustande gekommen ist14). Es ist ziemlich wahrscheinlich, daß die Berührung mit der positivistisch-empiristischen Philosophie und die Veränderung in der religiösen Haltung miteinander nicht ohne Zusammenhang sind, wenn es auch schmerig ist, heute mit Sicherheit zu sagen, daß das erste das andere nach sich gezogen habe, zumal die Veränderung in religiösen Ansichten vielleicht auch durch die Vorkommnisse beeinflußt wurde, die sich gegen 1870 innerhalb der katholischen Kirche ereigneten (die Verkündung des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes, die Abtrennung der sog. "altkatholischen Kirche" usw.). Von Interesse für uns ist besonders die Tatsache, daß Brentano durch die positivistische Philosophie Comte's und die empiristische Philosophie Mills beeinflußt wurde. Diese Beeinflussung kann man sowohl anhand seiner schon erwähnten Arbeit über Comte aus dem Jahr 1869 - also gleichsam am Anfang der Umwandlungsperiode - feststellen, als auch anhand seiner Ansichten in der Psychologie (1874) und vor allem aufgrund einer kleinen Arbeit Über die Gründe der Entmutigung auf philosophischem Gebiete15, die von Brentano in demselben Jahr als Antrittsvorlesung vorgetragen wurde - aufgrund der Schriften aus der Zeit somit, in der die Umwandlung schon vollzogen war und die neue Auffassung der Philosophie sich schon herauskristallisiert hatte. In der Abhandlung über die Philosophie Comtes (die ich hier nicht näher besprechen kann) fallt es auf, daß Brentano es nicht nur für angebracht hält, das deutsche philosophische Publikum mit Comte bekanntzumachen und ihm diese Philosophie bis zu einem gewissen Grad zu empfehlen, sondern auch - trotz gewisser Vorbehalte in puncto des religiösen Glaubens (das war noch vor dem religiösen Umbruch bei Brentano) - sich bemüht, Comte gegen eine Reihe von Einwänden zu verteidigen oder wenigstens eine für ihn wohlwollende Deutung zu finden. Instruktiver in dieser Hinsicht ist die Arbeit, die als Antrittsvorlesung 1874 vorgetragen worden ist. Denn hier spricht Brentano im Augenblick, als seine neue Auffassung der Philosophie schon fest umrissen ist. Er scheint sich dieser Veränderung bewußt zu sein, ja sie mit den allgemeinen Umwandlungen in Verbindung zu 14

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[Vgl. Fr. Brentano, Psychologie vom empirischen Standpunkt, 2. Aufl., hrsg. von O. Kraus, Leipzig 1924, B4 Π, S. 60ff.] [Abgedruckt in: Fr. Brentano, Ober die Zukunft der Philosophie, S. 83-100.]

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bringen, die sich in der philosophischen Atmosphäre in Deutschland nach dem Niedergang des deutschen Idealismus vollzogen haben, wobei er - wie man aus gewissen seiner Redewendungen ersieht - sich selbst als einen der Mitbegründer dieser Veränderung erachtet. Brentano beginnt seinen Vortrag mit der Feststellung, daß "vor wenigen Jahrzehnten" ein Lehrer der Philosophie seinen Zuhörern ein philosophisches System hätte vorlegen wollen - vor wenigen Jahren (!) dagegen hätte er die Probleme der angemessenen Methode der philosophischen Forschung behandelt. Er hätte insbesondere danach gefragt, ob die Philosophie sich apriorischer Konstruktionen oder der "Beobachtung und Erfahrung" (S. 85) zu bedienen habe und sich bemühen solle, "Satz um Satz, Wahrheit um Wahrheit im einzelnen aufzuspüren und zu sichern" (S. 85), anstatt danach zu streben, ein einheitliches System "in einem Wurfe" zu entwerfen. Dieses Streben gehört für Brentano der Vergangenheit an. "Heute" - sagt er - "ist die Sachlage abermals verändert. Der Kampf von damals ist ausgestritten (...). Kein Zweifel mehr besteht, daß es auch in philosophischen Dingen keine andere Lehrmeisterin geben kann als die Erfahrung und daß es nicht darauf ankommt, mit einem genialen Wurfe das Ganze einer vollkommenen Weltanschauung vorzulegen, sondern daß der Philosoph wie jeder andere Forscher nur Schritt für Schritt erobernd auf seinem Gebiete vordringen kann." (S. 85) Zwei Punkte stehen also für Brentano zur Zeit fest: 1) die Verwendung der empirischen Erkenntnis und der Methoden der empirischen Forschimg in der Philosophie (das schon in den Thesen), 2) der Verzicht auf das Streben nach einer "Weltanschauung" und das Proklamieren monographischer Arbeit in der Philosophie. Wie aber seine weiteren Ausführungen zeigen, ist die Veränderung in seiner Auffassung der Philosophie im Grunde viel tiefer. Brentano stellt fest, daß die allgemeine kulturelle Atmosphäre zur Zeit ungünstig für die Philosophie ist; daß man den Glauben verloren hat, daß die Philosophie überhaupt den Anspruch erheben könne, eine "Wissenschaft" zu sein; daß man zweifelt, "ob überhaupt Wahrheit und Sicherheit in philosophischen Fragen erreichbar sei" (S. 86). Brentano erwägt, wo die Gründe für dieses Mißtrauen oder diese Entmutigung liegen. Und wenn er auch versucht, die Philosophie gegen diesen Unglauben zu verteidigen, so ist diese Verteidigung mit der Preisgabe gewisser Postulate bezüglich der Philosophie oder -

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anders gesagt - mit einer Veränderung der Auffassung der Philosophie erkauft. Aus welchen Ursachen entspringt die Entmutigung oder der Mangel an Selbstvertrauen in der Philosophie? - Welche Einwände richten sich gegen ihre "Wissenschaftlichkeit"? Es sind die folgenden: 1. Ein Mangel allgemein anerkannter Lehrsätze oder mit anderen Worten - die Meinungsverschiedenheit nicht nur in einzelnen Fragen, sondern auch in allen grundlegenden Sätzen. (Dahinter steht die Behauptung: "Wo Wissen ist, da ist notwendig Wahrheit, und wo Wahrheit ist, da ist Einigkeit: denn es gibt viele Irrtümer, aber nur eine Wahrheit." S. 87) 2. Die gänzlichen Umwandlungen der Ansichten, welche die Philosophie vom einen zum anderen Mal - von Generation zu Generation - erfährt. 3. Die Unerreichbarkeit der philosophischen Ziele auf dem Wege der Erfahrung. Die Probleme der Philosophie "scheinen von ganz anderem Charakter" (S. 89) zu sein als die Probleme der Wissenschaften. "Die Philosophie scheint eine Weise der Erklärung und Ergründung anzustreben, die für den menschlichen Verstand völlig unmöglich ist" (danach anders!). - Was in der Wissenschaft erreicht werden kann, ist nur 1) die Beobachtung von Erscheinungen und deren Aufeinanderfolge, 2) die Aufsuchung von Ähnlichkeiten zwischen den Erscheinungen und dadurch 3) die Ermittlung allgemeiner und unveränderlicher Beziehungen der Erscheinungen zueinander (der "Gesetze ihres Zusammenhanges", S. 89), 4) die Unterordnung einzelner Fälle unter "allgemeine Gesetze" - bei einer Tendenz, die Zahl dieser Gesetze fortwährend zu verringern. Die Wissenschaft bietet niemals mehr - und sie verlangt niemals, 1) "in das eigentliche Wesen der Dinge einzudringen", 2) "das innere Wie und Warum eines ursächlichen Zusammenhanges zu ergründen" (S. 89). Dagegen scheint die Philosophie sich nichts anderes als dies zur Aufgabe zu stellen, und da dies unerreichbar ist, so ... Unerreichbar sei dies aber deswegen, weil in der Erfahrung weder das Wesen der Dinge, noch der Wesenszusammenhang zwischen den Tatsachen gegeben ist. 4. Die wissenschaftliche Erkenntnis liefere praktische Anwendungen; die philosophische "Erkenntnis" demgegenüber sei ganz unbrauchbar; es sei

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nirgends gelungen, sie fruchtbar anzuwenden. - Es sei somit besser, die Philosophie überhaupt aufzugeben. Diese vier Gründe des Mißtrauens gegen die Philosophie, die in jenen Jahren vor allem von Naturwissenschaftlern vorgebracht wurden, scheinen Brentano unzulänglich. Seine "Verteidigung" der Philosophie beginnt er mit der Festlegung der folgenden Reihe von Wissenschaften: Mathematik, Physik, Chemie, Physiologie ... Jedes vorhergehende Glied in dieser Reihe ist (nach Brentano) abstrakter als das nachfolgende. "Der Gegenstand der später genannten Wissenschaft ist verwickelter, und zwar in der Art, daß die Phänomene, die Gegenstand der früher genannten sind, sich bei ihr durch neue Elemente und Bedingungen komplizieren. Hieraus folgt, daß jede später genannte Wissenschaft von der früher genannten abhängig ist, während das Gegenteil nicht oder doch nur in einem ungleich geringeren Maße der Fall ist. Und eben deshalb wird die später genannte in ihrer Entwicklung langsamer sein (...), zu derselben Zeit (...) um ein Bedeutendes zurückgeblieben erscheinen." (S. 93) Daher habe sich die Mathematik schon bei den Griechen hoch entwickelt, die Physik - von Archimedes abgesehen - erst seit Galilei, die Chemie seit Lavoisier (der Zeit derfranzösischenRevolution), die Physiologie erst in den Zeiten Brentanos. In diesem Zusammenhang lesen wir unerwartet den Satz: "Es ist nun klar, daß, wenn es Phänomene gibt, die sich ähnlich zu den physiologischen, wie diese zu den physischen (...) verhalten: die Wissenschaft, welche sich mit ihnen beschäftigt, in einer noch unreiferen Phase der Entwicklung sich finden muß. Und solche Phänomene sind die psychischen Zustände. (...) Somit ist es offenbar, daß die Psychologie heutzutage, wo sogar die Physiologie noch relativ geringe Fortschritte gemacht hat, nicht über die ersten Anfänge ihrer Entwicklung hinausgeschritten sein kann, und daß in einer früheren Zeit, abgesehen von gewissen glücklichen Antizipationen, von einer eigentlich wissenschaftlichen Psychologie gar nicht geredet werden konnte." (S. 94) Gewiß - das war doch vor mehr als 60 Jahren. Woher aber die Rede von der Psychologie - in welchem Zusammenhang mit dem betrachteten Thema? Die Antwort folgt bald:

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"Mit der Psychologie steht aber die Gesellschaftswissenschaft" (Comte's Soziologie!) "sowie auch alle übrigen Zweige der Philosophie in Zusammenhang. Werden sie ja nur darum zu einer Gruppe zusammengefaßt, weil ihre Forschungen untereinander durch die engsten Beziehungen verknüpft sind." (S. 94) Also: die Psychologie als philosophische "Grundwissenschaft" (vgl. noch die Habilitationsthesen und ihre Anordnung!) - eine bekannte Losung dieser Zeiten. Schon jetzt ist Brentanos weitere Argumentation sehr einfach. Die Philosophie müsse sich noch in einer unreifen Phase der Entwicklung befinden, weil sie - mit den verwickeltsten Fragen beschäftigt - am spätesten das Stadium der wissenschaftlichen Forschung erreichen konnte. Der niedrige Grad der Entwicklung der Philosophie sei also verständlich, und er erkläre wiederum die Tatsache, daß die Philosophie nicht prinzipiell, sondern nur vorübergehend Vorwürfen ausgesetzt ist. Aus der verhältnismäßig frühen Entwicklungsphase der Philosophie flößen ihre Mängel; und diese "Jugendsünden" als solche würden sie sub specie aeternitatis rehabilitieren. Wenn die Philosophie "reif werde", werde sie diese Laster loswerden. Insbesondere: "Nur der zurückgebliebene Stand der Philosophie hat es aber verschuldet, daß die Philosophen sich nun wirklich häufig dieser Fragen (Wesen, wie, warum) bemächtigen. Sie hätten sonst (...) die Forschungen nach dem inneren Wesen der Vorgänge als etwas Unmögliches aufgegeben. Sie hätten, wie der Naturforscher für die physischen, für die psychischen Phänomene aus der Beobachtung einzelner Tatsachen allgemeine Gesetze festzustellen gesucht und dann, durch die Verknüpfung der einzelnen Erscheinungen mit diesen allgemeinen Gesetzen, gewisse Vorgänge zu erklären und andere vorauszubestimmen gestrebt. Und ebenso wären sie auf dem Gebiete der Metaphysik darauf ausgegangen, allgemeine, für das Gebiet der physischen wie psychischen Phänomene und so für das Ganze des Universums gleichmäßig geltende Wahrheiten aufzufinden. Auch sie hätten an der relativen Erkenntnis es sich genügen lassen und nicht mehr durch den Anspruch auf absolute Erkenntnis in das Gebiet des völlig Unbegreiflichen sich verstiegen." (S. 95) (Das heißt "Klärung und Reinigung des Strebens der Philosophie!" S. 96) Im Resultat: Die Philosophie läßt sich im Prinzip "verteidigen" - durch den Verzicht auf die philosophische (das Wesen der Dinge betreffende) Pro-

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blematik, durch die Umwandlung in die Psychologie und die "auf die Psychologie gestützten" Wissenschaften. Kein Wunder: Brentano verfugt in dieser Zeit schon über den ersten Band seiner Psychologie vom empirischen Standpunkt, wo er es als die Hauptsache betrachtet, die psychologische Forschung auf eine empirische Grundlage zu stellen, und wo er die Bedingungen dafür festlegt. {Psychologie war am 7. März 1874 schon im Druck oder schon erschienen - dem Datum des Vorworts, die Antrittsvorlesung fand am 22. April 1874 statt!). Das ist eine Wendung, die Brentano mit seiner ganzen Epoche in Deutschland vollzieht; er hat übrigens hierin hervorragende Vorgänger (früher Fechner, auch Wundt - und Helmholtz ebenso!). Brentano geht jedoch in eine etwas andere Richtung und stellt gewisse Betrachtungen an, die bei anderen fehlen. Wir müssen uns nun Brentanos Psychologie16 zuwenden. Ich habe keine Absicht, hier systematisch Brentanos psychologische Ansichten darzustellen. Das wäre aus zwei Gründen überflüssig. Zum einen deswegen, weil im vorliegenden Studium Brentanos philosophische Ansichten zur Diskussion stehen, aus der Psychologie also nur diejenigen Probleme zu beachten sind, die eine prinzipielle Bedeutung haben; die besonderen Behauptungen müssen hier also unberücksichtigt bleiben. Zum anderen deswegen, weil Brentanos besondere Beschreibungen psychischer "Erscheinungen", obwohl sie in seiner Zeit einen Schritt vorwärts ausmachten, heute in vielen Fällen durch spätere Untersuchungen überholt sind. Bemerkenswert ist die im Vorwort ausgedrückte Überzeugung, daß Brentano in seinem Buch "einen Kern allgemein anerkannter Wahrheit" zu gewinnen trachte, wobei der weitere Fortschritt nur im Anschließen von weiteren Sätzen an die schon gewonnenen bestehen soll. "An die Stelle der Psychologien müssen wir eine Psychologie zu setzen suchen." (S. 2) Das erste Problem, das Brentano betrachtet, betrifft die Bestimmung des Forschungsgegenstandes der Psychologie. Die Naturwissenschaft beschäftige sich mit den "physischen Erscheinungen", die in der äußeren Erfahrung gege^

[Ingardens Seitenangaben zu den angefühlten Stellen der Psychologie vom empirischen Standpunkt werden hier - ähnlich wie im Orignal - direkt im Haupttext untergebracht Wenn nicht anders angegeben, handelt es sich dabei um den I. Band (der oben zitierten Ausgabe) dieses Wakes.]

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ben sind. Das übrige Gebiet der Wirklichkeit müsse der Psychologie zugewiesen werden. Außerdem gibt es nach Brentano Tatsachen, die sowohl in der äußeren als in der inneren Erfahrung gegeben sind, und mit diesen soll sich nach ihm die Metaphysik beschäftigen. Den Gegenstand der Psychologie bestimmt Brentano zuerst als die "Seele" (Wissenschaft von der Seele), dann aber akzeptiert er die Bestimmung der Psychologie als "Wissenschaft von den psychischen Phänomenen". Der Grund dafür ist jedoch nicht der, aus dem man die Naturwissenschaft als Wissenschaft von den physischen "Phänomenen" anzusehen pflegt, sondern ein anderer. In der Naturwissenschaft tut man das - angeblich - deswegen, weil die physischen, in der äußeren Erfahrung gegebenen "Phänomene" uns über die Wirklichkeit der materiellen Welt falsch informieren würden; sie seien nicht "Dinge" selbst, sondern nur "Zeichen" von materiellen Gegenständen und Prozessen. Sie existierten nicht außer uns und stünden im Gegensatz zu dem, was "wahrhaft und wirklich ist", sie seien "bloße Phänomene" (S. 14). "An und für sich tritt das, was wahrhaft ist, nicht in die Erscheinung, und das, was erscheint, ist nicht wahrhaft. Die Wahrheit der physischen Phänomene ist (...) eine bloß relative Wahrheit." (S. 28) Von den Gegenständen der äußeren Erfahrung lasse sich das nicht sagen. "Diese sind wahr in sich selbst. Wie sie erscheinen - dafür bürgt die Evidenz, mit der sie wahrgenommen werden - , so sind sie auch in Wirklichkeit." (S. 28) "(...) wir haben sogar von ihrem Bestände jene klarste Erkenntnis und jene vollste Gewißheit, welche von der unmittelbaren Einsicht gegeben werden." (S. 14). Man kann also nicht zweifeln, ob ein wahrgenommener psychischer Zustand existiert und ob er so ist, wie wir ihn wahrnehmen. Das Zweifeln würde uns hier zum Skeptizismus führen, der sich selbst aufhebt. Erklärt sich Brentano damit einverstanden, die Psychologie als Wissenschaft von den psychischen Phänomenen (und nicht von der "Seele") zu bestimmen, so tut er das deswegen, weil er [folgendes] annimmt: a) den Begriff der Seele als substantiellen Trägers der psychischen Phänomene, b) daß dieser "Träger" - wie die englischen Empiristen behaupten - in der Erfahrung nicht gegeben ist (eine 17 Anmerkung Kraus' ), c) daß bei ihrer Bestimmung als Wissenschaft von den

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[Vgl. O. Kraus, "Anmerkungen des Herausgebers" zu Brentanos Psychologie vom empirischen Standpunkt, speziell Anmeikungen 10 und 12 zum 1. Kapitel (Bd. 1, S. 257-58).]

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psychischen Phänomenen (vgl. die bekannte Losung dieser Zeit: Psychologie ohne Seele) die Psychologie von einer metaphysischen Voraussetzung befreit wird, von der die Psychologie als Wissenschaft von der Seele nicht frei ist. Sie gewinnt dadurch die Anerkennung von verschiedenen Schulen und die Vereinfachung ihrer Forschung, und sie verliert nichts. Das letztere gilt auch für die Frage nach der Unsterblichkeit eines psychischen Individuums, die sowohl dann gestellt werden kann, wenn man einen substantiellen Träger der psychischen Phänomene (die Seele) annimmt, als wenn man nur nach einer unendlichen Kette von psychischen Phänomenen fragt. Weder wird somit das Problem selbst von diesem Standpunkt aus sinnlos, noch ist eine positive Antwort darauf ausgeschlossen. Was die Erkenntnismittel der Psychologie betrifft, so hält Brentano die Psychologie - wie er mehrmals unterstreicht - für eine empirische Wissenschaft. Ihr grundlegendes Erkenntnismittel sei die "innere Wahrnehmung" bzw. die "innere Erfahrung", ohne welche wir gar kein Wissen vom psychischen Leben haben könnten. "Also die innere Wahrnehmung der eigenen psychischen Phänomene ist die erste Quelle der Erfahrungen, welche für die psychologischen Untersuchungen unentbehrlich sind." (S. 48) Man muß jedoch nach Brentano zwischen der "inneren Wahrnehmung" und der Beobachtung unterscheiden. Die innere Beobachtung - die aufmerksame Betrachtung? - ist nach Brentano unmöglich. Nur nebenbei wahrnehmend könnten wir ein Wissen von unseren eigenen psychischen Zuständen erlangen. In diesem Zusammenhang setzt sich Brentano mit Comte, Albert Lange und anderen auseinander, wenn er ausfuhrt, ihr Standpunkt ergebe sich nur aus der Unterlassung, eine Unterscheidung zwischen der "inneren Wahrnehmung" und der inneren "Beobachtung" zu machen. Bedauerlicherweise gibt aber Brentano selbst, wenn er diese Unterscheidung macht und einerseits der inneren Erfahrung einen ungeheuer hohen Erkenntniswert zuschreibt, andererseits jedoch die innere Beobachtung verwirft, keine Erklärung, worin der Unterschied zwischen der einen und der anderen besteht. Er erklärt auch nicht, was eigentlich der inneren Wahrnehmung fehlt, ungeachtet dieses großen Wertes, der ihr zukommt. Daß sie über keine Beobachtung verfügt, ist - wie er behauptet - ein so großer Mangel der Psychologie, daß sie überhaupt als Wissenschaft unmöglich wäre, wenn für diesen Mangel kein Ersatz sich böte. (Vgl. S. 48.) Es ist auch nicht klar - wenn die Beobachtung eigener psychi-

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scher Zustände unmöglich ist - auf welcher Grundlage diese oder jene These über die "innere Erfahrung" (bzw. "Wahrnehmung") aufgestellt werden kann. Vielleicht würde Brentano darauf antworten, gerade dies sei nur auf einem indirekten Weg möglich, durch dessen Benützung die Psychologie eine Wissenschaft sein könne, nämlich unter Zugriff auf das Gedächtnis oder genauer - die Erinnerung, obwohl Brentano vom Gedächtnis spricht: "Das Gedächtnis (...) ermöglicht in der Psychologie zugleich die Beobachtung der Tatsachen selbst." (S. 49) Brentano selbst sieht jedoch, daß dies kein Äquivalent fur die eigentliche Beobachtung gegenwärtiger Erlebnisse darstellt. Das Gedächtnis unterliege Täuschungen, während die innere Wahrnehmung von diesen frei und unbezweifelbar sei. Die Notwendigkeit, auf das Gedächtnis zuzugreifen, bildet in der Psychologie eine Quelle der Ungewißheit und eröffnet die Möglichkeit von verschiedenen Selbsttäuschungen. Es wäre aber übertrieben, wollte man aus diesem Grund der psychologischen Erkenntnis allen Wert abstreiten. Wenn das Zeugnis des Gedächtnisses unbrauchbar oder fur die Zwecke der wissenschaftlichen Forschung ungenügend wäre, dann wären mit der Psychologie auch alle übrigen Wissenschaften unmög18

lieh! (Das scheint aber nicht wahr, weil Brentano stillschweigend voraussetzt, daß diese Wissenschaften existieren. - Natürlich ist diese Argumentation nicht befriedigend.) Eine andere Beschränkung, auf welche die Psychologie angewiesen ist und die sie überwinden muß, bestehe darin, daß die psychischen Erscheinungen in der inneren Erfahrung nur einer einzigen Person gegeben sind - jener, der sie erscheinen. Von allen möglichen psychischen Phänomenen seien nur einige der direkten Untersuchung zugänglich (wobei ihre Anzahl verhältnismäßig klein ist). Diese Tatsache sei für die psychologischen Forschungen um so ungünstiger, als 1) zwischen dem psychischen Leben verschiedener Individuen enorme Unterschiede bestehen und 2) sogar unser eigenes Leben uns nur zum Teil (nämlich bis zum Augenblick der Untersuchung) bekannt ist. Angesichts der Unvollständigkeit des Erkenntnismaterials bleibe immer die Gefahr der Einseitigkeit der Forschung und damit auch der unbegründeten Verallgemeinerungen bestehen. Andererseits habe die erfahrungsmäßige 18 Darin drückt sich Brentanos Standpunkt aus, wonach die Psychologie eine philosophische Grundwissenschaft - oder gar eine Grundlage aller Wissenschaften - ausmacht!

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Zugänglichkeit der psychischen Phänomene nur für ein einziges Individuum zur Folge, daß die von einem Forscher gewonnenen Behauptungen und Beobachtungen von den anderen nicht kontrolliert werden können. Diese Gefahr verringere sich jedoch dadurch, daß zur direkten Wahrnehmung unserer eigenen Phänomene die indirekte Erkenntnis fremder psychischer Phänomene hinzukommt. "Die Erscheinungen des inneren Lebens pflegen (...) sich zu äußern, d. h. sie haben äußerlich wahrnehmbare Veränderungen zur Folge. Am vollkommensten äußern sie sich, wenn jemand geradezu in Worten sie beschreibt"(!). "Freilich würde diese Beschreibung unverständlich oder vielmehr unmöglich sein, wenn das psychische Leben des Einen von dem des Anderen so verschieden wäre, daß sie keinerlei homogene Phänomene enthielten" (S. 53). Das ist aber nicht der Fall. Es zeigt sich im Gegenteil, daß wir sogar die Beschreibung von fremden psychischen Erlebnissen unter abnormen Bedingungen (ζ. B. im Fieber) verstehen können. Es zeigt sich, daß "die individuelle Verschiedenheit (...) doch keine so tiefgreifende ist (...) und daß, wenigstens den Gattungen nach, die psychischen Phänomene jedem, der nicht eines Sinnes beraubt oder sonst abnorm gebildet oder unreif ist, vollzählig in der inneren Erfahrung geboten werden; andererseits aber erwächst uns daraus die Möglichkeit, mit den eigenen inneren Erfahrungen das, was ein anderer in sich beobachtet hat, zu verbinden" (S. 54) und die eigenen Erlebnisse (Beobachtungen) durch die fremden zu kontrollieren. (Daher der Wert des Studiums von Autobiographien fur die Psychologie.) "Minder vollkommen zwar, aber dennoch oft in genügend deutlicher Weise" (S. 55) können sich die psychischen Erscheinungen auch ohne sprachliche Mitteilung in den 1) willkürlichen Handlungen und 2) Tätigkeiten (dem praktischen Verhalten) kundgeben. Der Schluß, den diese Tätigkeiten "auf die inneren Zustände, aus denen sie hervorgehen (!), gestatten, ist oft viel sicherer als der, welcher auf mündliche Aussagen sich gründet" (S. 55) (verba docent, exempla trahunt - Brentano wendet diese Maxime auf den vorliegenden Fall an, als ob es sich in diesem Spruch tatsächlich darum handelte!). Auch unwillkürliche physische Veränderungen, "welche gewisse psychische Zustände naturgemäß begleiten oder ihnen nachfolgen" (die Blässe vor Schrecken, das Zittern vor Furcht, die Röte der Scham usw.) lassen die begleiteten psychischen Phänomene erkennen. Sie seien "sichtbare" Zeichen

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der unsichtbaren psychischen Erscheinungen. Als Zeichen sind sie aber nicht das Bezeichnete selbst. Darum kann diese äußere und, wie man sie nannte, "objektive" Beobachtung psychischer Phänomene nicht, "wie manche töricht genug glauben machen wollten"19 (S. 55), losgelöst von der "subjektiven" inneren Erfahrung eine selbständige Quelle psychologischer Erkenntnis werden. "Aber mit ihr vereint wird sie in hohem Maße dazu dienen, unsere eigenen inneren Erfahrungen durch das, was andere in sich erleben, zu bereichern und zu ergänzen und Selbsttäuschungen, in die wir verfallen sind, zu berichtigen." (S. 55-56) Als eine Ergänzung der obigen prinzipiellen Bemerkungen über die Erkenntnismittel der Psychologie kann man zwei Hinweise eher methodologischer Natur betrachten, die Brentano einschaltet: 1. Es ist sehr nützlich fur die Psychologie, sich "einen Einblick in die Zustände eines einfacheren Seelenlebens als das unsrige" (S. 56) zu verschaffen - also z.B. bei Kindern (minder entwickelt) oder bei Erwachsenen aus primitiven Völkerstämmen - oder auch in die Zustände eines Seelenlebens, das darum einfacher ist, "weil gewisse Gattungen von Phänomenen gänzlich davon ausgeschlossen sind" (S. 56) - ζ. B. bei Blindgeborenen (auch die Tierpsychologie wäre hier von Nutzen). 2. Die Verfolgung krankhafter Seelenzustände liefert für die Psychologie wertvolles Material und ermöglicht ein besseres Verständnis der Gesetze des 20

normalen Seelenlebens (ζ. B. des assoziativen Verbindens komplexer Ideen, des Zusammenhangs zwischen gewissen psychischen Funktionen, der bei "Variationen", Störungen usw. leichter erfaßbar ist). Bevor ich zur Darstellung weiterer Ansichten Brentanos übergehe, möchte ich ein paar kritische Bemerkungen einfügen. Es ist ein Verdienst Brentanos, daß er als einer der ersten (wenn nicht überhaupt als erster) auf eine systematische und allseitige Weise die Erkenntnismittel der Psychologie analysiert und versucht, die "Möglichkeit" und den Wert der psychologischen Erkenntnis als einer Art empirischer Erkenntnis zu begründen. Er ahnt zutreffend die Schwierigkeiten, auf die diese Erkenntnis stoßen muß, es fällt ihm aber zu leicht, sie zu überwinden, 19 Vgl. heute den Behaviorismus! 20 Diese Methode hat Bergson kurz nach dem Erscheinen der Psychologie Brentanos verwendet

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was darauf hinweist, daß er sich nicht immer den Nerv der Schwierigkeit deutlich zum Bewußtsein bringt. Geben wir dafür ein paar Beispiele: 1. Brentano leugnet die Möglichkeit der direkten Beobachtung psychischer Phänomene, nimmt dagegen die Möglichkeit der Beobachtung psychischer Phänomene in der Erinnerung an. Warum - das erklärt er nicht. Man könnte aber in beiden Fällen Bedenken haben - nicht nur deswegen, weil der Begriff der Beobachtung ungeklärt bleibt, sondern auch im Hinblick auf die Konsequenzen: Wenn das erstere unmöglich ist, dann ist auch das letztere unmöglich, und wenn das letztere möglich ist, dann auch das erstere. Denn es wurde nicht erklärt, was sich in der Erinnerung im Vergleich zur "inneren Wahrnehmung" ändert. 2. Was berechtigt uns, zu behaupten, daß das "Gedächtnis" (die Erinnerung) manchmal Täuschungen unterliege, während die "innere Wahrnehmung" "unbezweifelbar" sei. Was gewährleistet im Falle der inneren Wahrnehmung diese Unbezweifelbarkeit und worin liegt die "Täuschbarkeit" der Erinnerungen begründet? 3. Die Annahme, daß das Subjekt nur seine eigenen psychischen Zustände perzipiert, fuhrt zu besonders großen Schwierigkeiten angesichts der Forderung nach der "Objektivität" der allgemeinen Sätze sowie nach der Gewißheit der individuellen Sätze (ζ. B. in Autobiographien). Brentano sieht nicht klar das Ausmaß dieser Schwierigkeiten: Mit der Berufung auf die Erkenntnis fremder psychischer Zustände ist solange nicht viel geholfen, wie wir uns beim Erkennen fremder psychischer Zustände - wie Brentano gerade behauptet - auf die "Introspektion" berufen müssen. Es ist übrigens nicht klar, wie Brentano dieses Sich-Berufen versteht. Das Erkennen fremder psychischer Zustände versteht Brentano, wie es scheint, als ein Schließen per analogiam. Er schreibt das zwar nicht deutlich; daß er es aber als ein Schließen versteht, steht außer Zweifel. Er läßt dabei zwischen der physischen "Äußerung" und dem psychischen Phänomen einmal eine Kausalbeziehung, ein anderes Mal ein Verhältnis des gemeinsamen Auftretens (Begleitens), dann wieder ein Verhältnis wie zwischen dem Zeichen und dem Bezeichneten bestehen. In jedem dieser Fälle stellt sich jedoch die Erkenntnis eines Gliedes des Verhältnisses aufgrund der Erkenntnis des anderen Gliedes anders dar. - Ist die "Berufung" auf die Introspektion notwendig, um die Analogie festzulegen? Brentano übersieht die Gefahr,

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den anderen nur solche Phänomene wie die "eigenen" zu unterschieben, die Gefahr, die Phänomene dort zu hypostasieren, wo sie nicht da sind. Er wird auch der Unmöglichkeit nicht gewahr, in den besprochenen Fällen Schlüsse per analogiam durchzuführen. Diese Unmöglichkeit wurde übrigens auch 21

viel später, nach Brentano, verkannt. 4. Brentano ist der Ansicht, daß die sprachliche Beschreibung einer eigenen psychischen Erscheinung diese am besten "kundgibt", er betont aber zugleich, daß wir eine solche Beschreibung nur in dem Fall richtig verstehen können, wo wir die entsprechenden eigenen psychischen Phänomene haben und kennen. Wie können wir aber dieses entsprechende Phänomen wählen? Entscheidet darüber die Bedeutung der in der Beschreibung verwendeten Worte? Wenn so, dann werden diese Bedeutungen von uns entweder im voraus verstanden oder nicht verstanden. Im ersten Fall ist es nicht nötig, sich auf die eigenen Phänomene zu berufen, im zweiten Fall dagegen ist das nicht möglich, weil die Worte für uns dann nur "leere Laute" sind oder bestenfalls eine nicht näher bestimmte Bedeutung haben, die uns zu einer realen Wahl der entsprechenden Phänomene nicht veranlassen kann. Unklar ist dabei die Beziehung zwischen der Bedeutung der in die Beschreibung eingehenden Sätze und den beschriebenen Phänomenen. An einer Stelle spricht Brentano von einer kausalen Beziehung - er nennt die Worte Ursachen und die Phänomene Wirkungen, wobei wir aus den ersten auf die zweiten schließen sollten (?!). Ist dem wirklich so, wenn wir die Beschreibung "verstehen"? (Die Bedeutungsfunktion wird hier vom Ausdruck in der sog. Äußerung nicht unterschieden; man nimmt zwischen ihnen nur einen Gradunterschied an.) 5. Wenn Brentano die Mängel der Psychologie bespricht, die sich daraus ergeben, daß uns direkt nur unsere eigenen Phänomene [zugänglich] sind, so setzt er einerseits die Verschiedenheit oder das Anderssein der fremden psychischen Phänomene im Verhältnis zu den meinigen voraus, nimmt andererseits aber die Gleichheit der Gattungen der einen und der anderen an. Brentano schreibt: "daß wir einen sicheren Beweis dafür haben, daß keine Grundklasse von psychischen Phänomenen, die sich bei anderen Menschen findet, in dem Bereiche unseres eigenen individuellen Lebens fehle" (S. 63). Was

21 Vgl. meine Abhandlung "O poznawaniu cudzych stanów psychicznych", Kwartalnik Psychologiczny, Bd. ΧΙΠ [vgl. Ingarden (1947)].

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berechtigt ihn aber dazu? Er setzt voraus, daß die Erkenntnis fremder psychischer Phänomene möglich ist - hat er aber bei seinen Voraussetzungen hinsichtlich der Erkenntnisweise dieser Phänomene das Recht, dies zu behaupten? Gibt es bei diesen Voraussetzungen einen Ausweg aus dem Solipsismus? Um Brentanos weitere Ansichten über die Psychologie als Wissenschaft darzustellen, muß man beachten, daß er, wenn er die Psychologie zu den empirischen Wissenschaften hinzuzählt, als Prototyp dieser Wissenschaften die Naturwissenschaft ansieht. Daher teilt er auch der Psychologie im Prinzip die gleichen Aufgaben zu, die den Naturwissenschaften vorschweben. Insbesondere erachtet er als Aufgabe der Psychologie die Ermittlung allgemeiner Gesetze, die sich entweder auf die Eigentümlichkeiten aller psychischen Erscheinungen oder deren bestimmter Klassen beziehen, oder auch [die Ermittlung] der Gesetze ihres Werdens, also der psychischen Prozesse. Diese Gesetze solle man dabei auf induktivem (statistischem) Weg durch Auffindung der entsprechenden Eigentümlichkeiten gewinnen, zuerst an einzelnen Individuen, danach an gewissen engeren Gruppen und schließlich in bezug auf den ganzen Bereich der psychischen Erscheinungen. Brentano kommt es vor allem darauf an, einen allgemeinen Begriff des psychischen Phänomens zu gewinnen, um dann ein Einteilungsprinzip aufzufinden und eine Klassifikation, d. h. Einteilung dieser Phänomene in Klassen, durchzuführen. Er glaubt dabei, daß "trotz der großen Mannigfaltigkeit der Erscheinungen die Zahl ihrer höchsten Klassen eine sehr beschränkte ist" (S. 63). Eine andere Hauptaufgabe der Psychologie ist es nach Brentano, die "letzten" psychischen Elemente aufzufinden, "aus welchen die verwickeiteren Phänomene hervorgehen". "Unmittelbar wäre eine Lösung dieser Frage möglich, wenn die Anfänge unseres psychischen Lebens uns in deutlicher Erinnerung gegeben wären." (S. 64) Brentano vermengt hier offenbar die "atomistische" Auffassung "psychischer Phänomene" - nach der diese aus "Elementen" (vgl. die "einfache Idee" bei Locke) bestehen - mit dem genetischen Gesichtspunkt - nach dem "in den Anfangen" unseres psychischen Lebens, also in unseren frühen Kindheitsjahren, nur jene "Elemente" auftreten, aus denen erst im Laufe der Zeit eine verwickeitere Erscheinung hervorgeht. Folglich erscheint ihm die Lö-

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sung des Problems in dieser genetischen Entstellung als sehr schwierig, denn 1) haben wir unsere frühe Kindheit nicht in Erinnerung, 2) sind die Beobachtungen an Neugeborenen nicht verläßlich und 3) scheint es von einem späteren Stadium des psychischen Lebens her unmöglich, "ein elementares Phänomen später in der Reinheit und Einfachheit, in welcher es ursprünglich auftrat, wieder in sich zu erneuern" (S. 64-65). Trotzdem ist diese Aufgabe nicht hoffnungslos, denn die Elemente des psychischen Lebens, die miteinander zusammen auftreten, verschmelzen nicht, wie in einer chemischen Mischung, in ganz neue Arten, sondern bleiben wenigstens bis zu einem gewissen Grad sichtbar vor dem Hintergrund des Ganzen ("überhaupt hat die Lehre einer psychischen Chemie von Vorstellungen bis jetzt noch keineswegs widerspruchslose Annahme gefunden", S. 65). Unter Beibehaltung einer genetischen Färbung des Problems stellt Brentano fest, die Untersuchung über die "ersten psychischen Elemente" (S. 65) drehe sich um die "Empfindungen", die a) eine "Quelle" für andere psychische Phänomene und b) selbst "Folgen physischer Einwirkungen" seien (Einwirkungen worauf: auf den Menschen oder auf den Organismus?). Als eine weitere Aufgabe der Psychologie erachtet es Brentano, die allgemeinen Gesetze der Sukzession psychischer Phänomene festzustellen. Diese Feststellung soll sich "nach den allgemeinen Regeln der Induktion" (S. 66) vollziehen. Jene Gesetze können aber nach Brentano (in der Psychologie) nur "empirische Gesetze" (mit groben Annäherungen bzw. Abweichungen) sein. Sie sind keine exakten Gesetze, und zwar aus zwei Gründen: a) weil die psychischen Phänomene, auf welche sie sich beziehen, sekundär und von physiologischen Prozessen abhängig sind, die wir bisher nicht genug kennen, die aber den Verlauf psychischer Phänomene beeinflussen, und b) weil die Intensität der psychischen Erscheinungen "bis jetzt einer genauen Messung nicht unterworfen werden kann" (S. 102) (die Messung scheint aber Brentano eine der Bedingungen fur die Exaktheit der Gesetze zu sein). Ich habe hier keine Absicht, Brentanos Ausführungen, mit denen er die angeführten Behauptungen zu begründen versucht, erschöpfend darzustellen und zu erwägen, ob diese Thesen richtig sind und wie sie interpretiert werden sollen. Ich halte es für wichtiger, einen theoretischen Standpunkt zu besprechen, als dessen Vertreter Brentano sich bei der Begründung der zitierten Behauptungen sozusagen verrät.

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Brentano behauptet nämlich, die Tatsachen im Bereich psychischer "Phänomene" würden zeigen, daß die später auftretenden "Phänomene" in ihrem Verlauf und ihren Eigenschaften von den früheren bzw. sich früher mehrmals wiederholenden Phänomenen abhängig sind. Da sich zwischen früheren und späteren Phänomenen Perioden erstrecken können, in denen gar keine psychischen Phänomene auftreten, so sei ein Bestand "habitueller Dispositionen" (S. 86) anzunehmen, die infolge früherer "Akte" entstanden sind. Es sei dabei zuzugeben, daß diese Dispositionen keine psychischen Phänomene sind, weil sie sonst bewußt sein müßten, was jedoch nicht der Fall ist. "Die psychische (statt psychologische) Betrachtung lehrt sie nur als in sich imbekannte Ursachen, welche das Entstehen von späteren psychischen Phänomenen beeinflussen, sowie als in sich unbekannte Wirkungen von früheren psychischen Erscheinungen kennen." (S. 86) Man kann sie entdecken, ohne zur Physiologie Zuflucht zu nehmen; zugleich kann man aber nicht sagen, was sie sind. Die psychologische Betrachtung "kann sie in einem einzelnen Falle nachweisen, daß sie sind; ein Wissen von dem, way sie sind, kann sie uns dagegen niemals und in keiner Weise geben" (S. 86). Auf diese Weise nimmt Brentano nicht näher bestimmte, sich hinter psychischen Phänomenen verbergende reale Ursachen (und zugleich Wirkungen) der psychischen Phänomene und der in deren Bereich stattfindenden Veränderungen an. Ähnlich verhält es sich aber nach Brentano mit den physischen Erscheinungen und ihren realen Ursachen. Auch diese Ursachen müssen wir als existierend setzen, aber wir können kein Wissen von dem haben, was sie sind bzw. wie sie sind. "Denn, wie schon gesagt, geben uns die physischen Phänomene der Farbe, des Tones und der Temperatur, sowie auch das der örtlichen Bestimmtheit von den Wirklichkeiten, durch deren Einfluß sie in uns zur Erscheinung kommen, keine Vorstellung. Wir können sagen, daß es solche Wirklichkeiten gibt, wir können gewisse relative Bestimmungen von ihnen aussagen: was aber und wie sie an und fur sich sind, bleibt uns völlig undenkbar. Und wenn darum die Physiologie des Gehirns sogar eine vollendete Ausbildung erlangt hätte, so würde sie über das, was die Wirklichkeiten, an die sich jene erworbenen Dispositionen knüpfen, in Wahrheit sind, nicht mehr als die rein psychische Betrachtung uns belehren können. Sie würde nichts als gewisse physische Erscheinungen angeben, denen dasselbe unbekannte χ als Ursache zugrunde läge." (S. 86-87)

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Abgesehen von der Frage nach dem Verhältnis zwischen der Psychologie und der Physiologie und nach der Rolle der letzteren für die erstere - einer Frage, die fur die Emanzipierung der Psychologie als deskriptiven Wissens über die psychischen Phänomene zu Brentanos Zeiten große Bedeutung hatte - können wir sehen, wie sich in dieser Argumentation Brentanos ein erkenntnistheoretischer Standpunkt enthüllt, der sich - ungeachtet aller Unterschiede - als dem Standpunkt Kants sehr nahe erweist (den Brentano im übrigen in seiner Tätigkeit mehrmals bekämpft hat): einerseits eine Welt der uns in ihrer Natur und ihren Eigenschaften völlig unbekannten "Dinge an sich", andererseits physische und psychische "Phänomene". Und dazwischen Kausalbeziehungen. [Wir haben hier] gleichsam zwei kausal verbundene Welten - [von denen] die zweite ausschließlich unserer unmittelbaren Erkenntnis zugänglich ist, die erste dagegen für die Erklärung gewisser Tatsachen in der zweiten angenommen wird. Dabei nimmt Brentano in der ersten, phänomenalen Welt zwei Gebiete von Erscheinungen an: a) das Gebiet der physischen Erscheinungen und b) das Gebiet der psychischen Erscheinungen. "In Wahrheit" existiert zugleich allein die Welt der "Wirklichkeit", die nur für die Erklärung der Tatsachen in der zweiten Welt angenommen wird, deren "Wahrsein" in bezug auf die physischen Erscheinungen bloß relativ ist. Wenn ich bemerkt habe, daß Brentano mit seiner Gegenüberstellung "Erscheinung - Wirklichkeit" gleichsam die Kantschen "Dinge an sich" annimmt und sich mit Kant darin einig ist, daß diese "Dinge an sich" (insbesondere "Dispositionen") in ihrer Natur und ihren Eigenschaften unerkennbar seien, so wollte ich damit keineswegs sagen, daß Brentano gleichzeitig auch Kants Ansichten von der Existenz der apriorischen Anschauungsformen und Kategorien sowie die damit verbundene Kantsche Erkenntnistheorie anerkannt habe. Von all dem finden wir bei Brentano gar keine Spur. Ja wir wissen doch, daß Brentano Kant nicht anerkannte und gegen dessen Ansichten auftrat. Trotzdem ist sein Standpunkt dem Kantschen letztlich sehr verwandt, obwohl simplifiziert. Man könnte ihn als "skeptischen Realismus" bezeichnen - Realismus, weil er die Existenz einer realen, von den Erscheinungen selbst verschiedenen Welt annimmt - skeptisch, weil er die Unerkennbarkeit dieser Welt mit Ausnahme a) ihrer Existenz und b) ihrer Beziehung zu den "Erscheinungen" als einer Kausalbeziehung behauptet.

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Dieser "skeptische Realismus", der speziell unter den philosophierenden Naturwissenschaftlern jener Zeit (insbesondere unter den Psychologen) ziemlich verbreitet war, würde von seinen Vertretern eher als "kritischer" Realismus charakterisiert. De facto ist das aber (im Unterschied zur Erkenntnistheorie Kants, die das ganze Problem auf eine andere - die transzendentale Ebene verschiebt) ein Standpunkt von erkenntnistheoretisch Naiven, den man auf dem Boden der von mir so genannten psychophysiologischen Erkenntnis22

theorie erlangt. Er bildet diejenige Version des Realismus, die wir, vom "kritischen Realismus" z. B. J. Lockes ausgehend, durch zwei Schritte gewinnen: a) durch die Durchführung der Berkeleyschen Kritik, derzufolge es unmöglich ist, die NichtObjektivität der Erkenntnis der wirklichen Welt bezüglich sekundärer Qualitäten und zugleich die Objektivität dieser Erkenntnis bezüglich primärer Qualitäten zu behaupten (weil die einen Qualitäten von den anderen untrennbar sind), und b) dadurch, daß Berkeleys "idealistische" Konsequenz abgelehnt wird. Die Bezeichnung "skeptischer" Realismus scheint mir jedoch angemessener als "kritischer", gerade deswegen, weil er bei der Annahme a) einer unerkennbaren Welt und b) deren kausaler Beziehung zu "Erscheinungen" "unkritisch" ist. Dieser Art "skeptischer Realismus" wirft folgende Fragen auf: 1. Aufweiche Gründe stützt sich die skeptische These, daß wir in keiner Hinsicht erkennen können, wie diese "Wirklichkeit" beschaffen ist? 2. Was berechtigt uns dazu, die uns bekannte Welt der (physischen und psychischen) Erscheinungen und die unbekannte "wirkliche Welt" miteinander in eine Kausalbeziehung zu bringen? Erst die Anerkennung des Bestehens dieser Beziehung und die Anerkennimg der "Erscheinungen" als Wirkungen von etwas anderem erlaubt es uns, die Existenz einer wirklichen, außerphänomenalen Welt anzunehmen. 3. Der skeptische Realismus (sei es physikalischer, sei es psychologischer Natur) legt einerseits zwischen den Erscheinungen und der "wirklichen Welt" einen Wesensunterschied hinsichtlich der Seinsweise fest - indem er eine "Wirklichkeit" in sich und die Abgeleitetheit der Erscheinungen im Verhältnis zur Wirklichkeit annimmt - , er verwischt aber andererseits gerade diesen

22 Vgl. R. Iiigarden, Psycho-fizjologiczna teoria poznania i jej krytyka, Lwów 1930 [vgl. Ingarden (1930)].

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Unterschied dadurch, daß er die beiden "Welten" in einen Kausalzusammenhang bringt. Innerhalb der wirklichen Welt (der physischen Prozesse und psychischen Dispositionen) erscheinen gleichsam in sich geschlossene Mikroweiten der "Erscheinungen", in welchen die Erkenntnissubjekte (phänomenale Inseln im Meer der wirklichen Prozesse) gleichsam gefangen sind. Es erhebt sich die Frage: Was berechtigt uns dazu, einen solchen Unterschied in der Seinsweise festzulegen und ihn zugleich zu verwischen? Auf die gestellten Fragen gibt Brentano keine Antwort. Man könnte das damit erklären, daß er sich in erster Linie mit den methodologischen Problemen der Psychologie und deren Verhältnisses zur Physiologie beschäftigt und deswegen auch die Gründe nicht klarlegen kann, die ihn veranlassen, einen "skeptischen Realismus" zu vertreten. Wir wollen somit Brentano daraus keinen Vorwurf machen, wir haben jedoch das Recht, a. uns darüber Klarheit zu verschaffen, in welcher Untersuchungsphase sich Brentanos erkenntnistheoretischer Standpunkt befindet, b. festzustellen, daß dieser Standpunkt unbegründet ist, c. den Zweifel auszudrücken, ob sich dieser Standpunkt überhaupt konse23

quent begründen läßt. In der angeführten Überlegung Brentanos spielt seine Behauptung von der Abgrenzung "physischer" und "psychischer" Phänomene eine gewisse Rolle - eine Behauptung, die Brentanos Standpunkt von den Ansichten anderer Psychologen dieser (aber auch späterer) Zeit - wie ζ. B. Fechner, Helmholtz oder Wundt - ziemlich radikal abhebt. Wir müssen uns somit nunmehr dieser Abgrenzung und speziell der Bestimmung "psychischer Phänomene" zuwenden. Damit hängt auch die Gegenüberstellung "äußerer" und "innerer" Erfahrung (Wahrnehmung) zusammen, die wir auch ins Auge fassen müssen. (Nota bene: Die Bestimmung des "psychischen Phänomens" bringt uns erst in die Lage, die Psychologie in bezug auf ihren Forschungsgegenstand zu bestimmen - das ist das Hauptziel der diesbezüglichen Betrachtungen Brentanos.) An die Bestimmung psychischer Phänomene herantretend, betont Brentano, daß er nicht eine "Definition" "nach den herkömmlichen Regeln der 23 Vgl. meine Arbeit Psycho-fizjologicztia teoría poznania, [vgl. Ingarden (1930),] § 9, S. 39-40.

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Logiker" (S. 110) (wahrscheinlich handelt es sich hier um die Definition per genus proximum et differentiam specificarti), sondern nur die "Verdeutli-

chung der beiden Namen: physisches Phänomen - psychisches Phänomen" (S. 111) anstrebt. Diese Verdeutlichung der beiden Namen vollzieht Brentano auf verschiedene Weisen: A. durch die Anführung der Arten - anhand von Beispielen - psychischer Phänomene. Ein psychisches Phänomen ist also: 1. "jede Vorstellung durch Empfindung oder Phantasie" (S. 111), wobei er unter Vorstellung "nicht das, was vorgestellt wird, sondern den Akt des Vorstellens" versteht, also "das Hören eines Tones, das Sehen eines farbigen Gegenstandes, das Empfinden von warm oder kalt sowie die ähnlichen Phantasiezustände" (die reproduktiven und produktiven Vorstellungen), aber auch das Denken eines allgemeinen Begriffs, 2. "jedes Urteil, jede Erinnerung, jede Erwartung, jede Folgerung, jede Überzeugung" (eigens genannt!) "oder Meinung, jeder Zweifel" (S. 112), 3. "jede Gemütsbewegung, Freude, Traurigkeit, Furcht, Hoffnung, Mut, Verzagen, Zorn, Liebe, Haß, Begierde, Willen, Absicht, Staunen, Bewunderung, Verachtung" (S. 112). Beispiele von physischen Phänomenen: "eine Farbe, eine Figur, eine Landschaft, die ich sehe; ein Akkord, den ich höre", "Wärme, Kälte, Geruch, die ich empfinde; sowie ähnliche Gebilde, welche mir in der Phantasie erscheinen" (S. 112). B. [Die Abgrenzung psychischer Phänomene erfolgt auch] durch eine alternative Bestimmung: Ein psychisches Phänomen ist jede Vorstellung oder jede Erscheinung, der eine Vorstellung als Grundlage dient. Diese Bestimmung umfaßt alle früher genannten "Beispiele" psychischer Phänomene dadurch, daß die Behauptung angenommen wird: "Dieses Vorstellen bildet die Grundlage des Urteilens nicht bloß, sondern ebenso des Begehrens, sowie jedes anderen psychischen Aktes. Nichts kann beurteilt, nichts kann aber auch begehrt, nichts kann gehofft oder gefürchtet werden, wenn es nicht vorgestellt wird." (S. 112) Deswegen bemüht sich Brentano, diese Behauptung gegen mögliche Einwände abzuschirmen. (Eine Kritik und Modifikation dieser Behauptung fuhrt später Husserl im Π. Band seiner Logischen Untersuchungen durch.)

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Diese Bestimmung hält Brentano für einen Schritt vorwärts im Verhältnis zur vorigen Aufzählung, denn sie zerfällt nur in zwei Glieder: in "Vorstellungen" und in "Phänomene, die eine Vorstellung zur Grundlage haben". Dennoch ist sie noch nicht ganz einheitlich - und eine solche "einheitliche" Bestimmung strebt Brentano im folgenden an. C. Die "einheitliche" Bestimmung: 1. "Alle physischen Erscheinungen (...) zeigen Ausdehnung und örtliche Bestimmtheit" (S. 120), während die psychischen "keine Ausdehnung und örtliche Bestimmtheit zeigen" (S. 121) (Descartes, Spinoza, Kant, Bain). Das ist eine negative Bestimmung psychischer Phänomene, der manchmal die folgenden Einwände entgegengestellt wurden: a) Nicht nur die psychischen, sondern auch manche der physischen Phänomene ("Töne", "Gerüche") erscheinen ohne Ausdehnung, b) Nicht alle psychischen Phänomene entbehren der Ausdehnung und der Lokalisation (vgl. die organischen, "leiblichen" Empfindungen).24 Das letztere scheint jedoch Brentano unrichtig, weil er bei der Empfindung zwischen dem Empfinden und dem Empfundenen einen Unterschied macht. Nur das Empfinden ist ein psychisches Phänomen. 2. Deswegen fügt Brentano eine positive Bestimmung hinzu: a. Jedes psychisches Phänomen zeichnet sich - nach den Scholastikern durch die intentionale ("mentale") Inexistenz eines Gegenstandes aus und nach Brentano durch die "Beziehung auf einen Inhalt, die Richtung auf ein Objekt (worunter hier nicht eine Realität zu verstehen ist) oder die immanente Gegenständlichkeit (...). Jedes enthält etwas als Objekt in sich, obwohl nicht jedes in gleicher Weise (...). Diese intentionale Inexistenz ist den psychischen Phänomenen ausschließlich eigentümlich. Kein physisches Phänomen zeigt etwas Ähnliches. Und somit können wir die psychischen Phänomene definieren, indem wir sagen, sie seien solche Phänomene, welche intentional einen Gegenstand in sich enthalten." (S. 125-126) b. Alle [psychischen Phänomene] und nur die psychischen Phänomene sind Gegenstände der inneren Erfahrung (und speziell des "inneren Bewußtseins"), die sich durch die unmittelbare, untrügliche Evidenz auszeichnet. Genau genommen werden nur die psychischen Phänomene im eigentlichen 24

Das zeigt Max Scheler in Idole der Selbsterkenntnis [Abhandlungen und Aufsätze, 1916],

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Sinne wahrgenommen, während die physischen Phänomene Objekte der "äußeren" Wahrnehmung sind, die "streng genommen nicht eine Wahrnehmung" ist. (S. 128-129) c. Alle und nur die psychischen Phänomene sind Phänomene, welchen außer der intentionalen Existenz auch die wirkliche zukommt, während die physischen Phänomene (Farbe, Ton, Wärme) nur "phänomenal" und intentional existieren.25 d. Die psychischen Phänomene werden nur durch ein einziges Subjekt (innerlich) wahrgenommen ([Brentano behauptet], "daß kein psychisches Phänomen von mehr als einem einzigen wahrgenommen wird", S. 129). e. Die psychischen Phänomene (und nur die psychischen) erscheinen, wenn sie jemand wahrnimmt, trotz aller Mannigfaltigkeit immer als Einheit, "während die physischen Phänomene, die er etwa gleichzeitig wahrnimmt, nicht in derselben Weise alle als Teilphänomene eines einzigen Phänomens sich darbieten." (S. 137) Eine beträchtliche Schwierigkeit bereitet es uns, Brentanos Begriff des "physischen Phänomens" zu verstehen. Das liegt teilweise daran, daß Brentano sich sehr unklar über die "äußere Wahrnehmung" äußert. Infolgedessen ist sowohl sein Begriff der "Naturwissenschaft" (Physik) als auch [seine Auffassung] des Verhältnisses zwischen psychischen und physischen Phänomenen nicht klar. Die "physischen" Phänomene bestimmt Brentano: a. durch Anfuhrung von Beispielen (vgl. S. 42), b. durch die (zitierte, aber von Brentano - wie es scheint - zugleich auch akzeptierte) Behauptung, daß jedes physische Phänomen Ausdehnung und örtliche Bestimmtheit aufweist, c. durch die Behauptung, daß die physischen Phänomene nur eine "phänomenale" Existenz haben ("Farbe, Ton, Wärme bestehen nur phänomenal und intentional ", S. 129). 25 Diese Behauptung bringt eine wesentliche Modiiikation dessen, was ich oben als Brentanos "skeptischen Realismus" bezeichnete. Von allen "Phänomenen" werden nämlich die "psychischen Phänomene" gleichsam ausgenommen, denen die "Wirklichkeit" zugeschrieben wird, im Gegensatz zu den "physischen Phänomenen", denen sozusagen eine schwächere Seinsweise zukommen soll. Worin besteht aber der Unterschied in der Seinsweise der einen und der anderen Phänomene? Die einen wie die anderen sind doch Phänomene.

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d. Brentano scheint auch die Behauptung anzuerkennen, daß die "physischen Phänomene" in der "äußeren" - "sinnlichen Wahrnehmung" gegeben sind. Jede dieser Behauptungen erweckt jedoch Bedenken, insbesondere hinsichtlich ihrer Eindeutigkeit. ad a. Die angeführten Beispiele können unterschiedlich verstanden werden: - im Sinne von erlebten Empfindungsí/aíen - von Gesichtsdaten (den konkreten empfundenen Farbflecken), von Gehörsdaten usw., - im Sinne von visuellen Ansichten ("eine Landschaft"), - im Sinne von phänomenalen Merkmalen der wahrgenommenen (oder auch vorgestellten) Dinge, - im Sinne des phänomenalen Gegenstandes der Sinneswahrnehmungen (der "gesehenen Dinge"). Es ist auch nicht klar - wenn Brentano von den "Empfindungen" spricht, wobei er das Empfundene im Gegensatz zum Empfinden als einer "psychischen Tätigkeit" meint - ob wir zu den "physischen" Phänomenen auch die somatischen Empfindungsdaten mit rechnen sollen oder ausschließlich die "Empfindungs"daten, die außerhalb unseres Körpers lokalisiert sind. Auf noch größere Schwierigkeiten stoßen wir bei der Interpretation der Beispiele von physischen Phänomenen in der Phantasie. Es ist vor allem nicht klar, was Brentano darunter versteht: den (realen) Gegenstand, welchen wir uns vorstellen und welcher uns während des Vorstellens nicht gegenwärtig ist (z. B. das Mickiewicz-Denkmal auf dem Altmarkt in Krakau) oder den rein intentionalen Gegenstand einer Vorstellung (genau so genommen, wie er durch den Inhalt der Vorstellung bestimmt ist) oder die vorgestellte Ansicht des Vorstellungsgegenstandes (die fur die betreffende Vorstellung charakteristisch ist) oder endlich die von uns während des Vorstellens erlebten "Vorstellungsdaten". ad b. Da man nicht weiß, ob "alle und nur" die physischen Phänomene (z. B. der "Ton" oder der "Geruch"!) ausgedehnt sind, weiß man auch nicht, ob dieses Merkmal als ein Kriterium der physischen Natur eines Phänomens verwendet werden kann. Es ist auch nicht klar, was unter der Bezeichnung "ausgedehnt" zu verstehen ist - ob es sich hier um die konkrete Ausdehnung des Phänomens (bei

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Bergson étendue concrète) oder um die "objektive" Räumlichkeit" - die Ausbreitung im objektiven (phänomenalen!) Raum - handelt. Es fällt in diesem Zusammenhang auf, daß Brentano, wenn er von der "wirklichen" Welt spricht, die wir für die Erklärung der "Empfindungen" annehmen (insbesondere von den darin auftretenden "Kräften"), von dieser Welt als "einer räumlich ausgebreiteten und zeitähnlich verlaufenden Welt" (S. 138) spricht. Man könnte auf Grund dessen vermuten, daß "räumlich ausgedehnt" bei Brentano nur etwas bezeichnet, was in der Sphäre der "Phänomene" und nicht innerhalb der Wirklichkeit - besteht; auch das beseitigt aber nicht alle Bedenken, die ad a vorgebracht wurden. ad c. Beachtenswert sind in diesem Zusammenhang Brentanos Bemerkungen, mit denen er Berkeleys idealistische Argumentation ausdrücklich ablehnt, die durch die Gleichsetzung der "Dinge" mit Gruppen von Ideen zum Satz esse = percipi fuhrt. Brentano setzt sich [darin] übrigens nicht mit Berkeley, sondern mit Bain (Mental Science) auseinander: "So gewiß es auch ist, daß eine Farbe uns nur erscheint, wenn wir sie vorstellen: so ist doch hieraus nicht zu schließen, daß eine Farbe ohne vorgestellt zu sein nicht existieren könne. Nur wenn das Vorgestelltsein als ein Moment in der Farbe enthalten wäre, so etwa wie eine gewisse Qualität und Intensität in ihr enthalten ist, würde eine nicht vorgestellte Farbe einen Widerspruch besagen, da ein Ganzes ohne einen seiner Teile in Wahrheit ein Widerspruch ist. Dieses aber ist offenbar nicht der Fall." (S. 130-131) Die Gründe, warum Brentano den "physischen" Phänomenen der Empfindung nur eine "phänomenale oder intentionale Existenz" zuschreibt, sind somit anderer Natur. "Nicht also das ist richtig, daß die Annahme, es existiere ein physisches Phänomen, wie die, welche intentional in uns sich finden, außerhalb des Geistes und in Wirklichkeit, einen Widerspruch anschließt, nur eines mit dem anderen verglichen, zeigen sie Konflikte, welche deutlich beweisen, daß der intentionalen hier keine wirkliche Existenz entspricht (!). Und gilt dies auch zunächst nur, soweit unsere Erfahrung reicht, so werden wir doch nicht fehl gehen, wenn wir ganz allgemein den physischen Phänomenen jede andere als intentionale Existenz absprechen." (S. 132) Wenn also Brentano diesen Phänomenen nur eine "phänomenale" (intentionale) Existenz zuschreibt, so tut er das - wie es scheint - vor allem mit

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Rücksicht auf die sogenannten "Täuschungen" (vielleicht auch solche Erscheinungen wie Interferenzstreifen). Es ist dabei nicht klar, was diese "phänomenale oder intentionale Existenz" bedeuten soll. Wir erhalten darüber keine nähere Erklärung. Dabei vermengt man hier a) das Problem der Existenz - auf diese oder jene Weise - eines "physischen Phänomens" selbst mit b) dem Problem der Existenz dessen, was in dieser "Erscheinung" erscheint (nur daß der Begriff 26

des Erscheinens bei Brentano eigentlich fehlt; er ersetzt ihn durch den Begriff der "kausalen Beziehung" zwischen der "Wirklichkeit" und der "Erscheinung"). Aus den "Konflikten", von denen Brentano hier spricht, folgt höchstens, daß die "physischen Phänomene" weder Dinge noch Merkmale der materiellen Dinge ausmachen, die von der Wahrnehmung unabhängig sind und nur in den Wahrnehmungsdaten ("Phänomenen") zur Erscheinung kommen. Es fragt sich zugleich, wie diese materiellen Dinge beschaffen sind und in welchem Sinne sie existieren, und man könnte gerade in bezug auf sie die Frage erwägen, ob ihre Existenz nicht rein intentional ist. Indessen hält Brentano die "physischen Phänomene", die diesen Konflikten doch zugrunde liegen, fur rein intentional - und die materiellen Dinge für wirklich. Seine Idee ist - wie es scheint - die, daß wir im Hinblick auf die "Konflikte" unter physischen Phänomenen diese aus dem Bereich der materiellen Welt ausschließen müssen, von der man (dogmatisch) voraussetzt, daß sie "wirklich" ist (obwohl sie uns nicht gegeben und nicht bekannt ist). Dann sind aber die Phänomene selbst, als aus dieser Welt ausgeschlossen, nicht wirklich, existieren mithin bloß intentional. Man weiß aber nicht, warum ihre Existenz als physische Phänomene anders als die Existenz der "psychischen Phänomene" sein sollte. Kommt es unter den letzteren tatsächlich nicht zu Konflikten? Brentano würde vielleicht antworten, dieser Unterschied der Seinsweise der beiden Arten von Phänomenen trete dann hervor, wenn man die Tatsache beachtet, daß die psychischen Phänomene - nicht aber die physischen - in der "inneren Wahrnehmung" gegeben sind. In diesem Zusammenhang wird der Begriff der "inneren Wahrnehmung" oder - wie Brentano sagt - des "in26 Obwohl Brentano das Wort "Erscheinung" gebraucht, bezeichnet er damit die Erscheinung selbst = das anschauliche Erscheinende = das Phänomen. Er gibt aber keine Analyse des "Erscheinens" eines Dinges und dessen Eigenschaften in der "Erscheinung" (den Ansichten).

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neren Bewußtseins" für uns von Wichtigkeit. Bevor ich aber dazu übergehe, muß ich noch anmerken, daß sowohl der Begriff a) der "äußeren Wahrnehmung" als auch b) der "Wahrnehmung" überhaupt bei Brentano nicht klar ist. Man weiß nämlich nicht, ob (a) als Wahrnehmung von physischen Gegenständen (Dingen) (von Schiffen, Bergen, Steinen usw.) bzw. der Merkmale dieser Gegenstände zu verstehen ist oder vielmehr als Wahrnehmung von physischen "Erscheinungen", also von Erscheinungen (Ansichten, Empfindungsdaten), in denen die physischen Gegenstände uns erscheinen. Kraus versucht, Brentanos Standpunkt in dieser Frage so zu interpretieren, daß die äußere Wahrnehmung nichts anderes als die Wahrnehmung der "Erscheinungen" sei; dieser Versuch scheitert jedoch an einer Reihe von Behauptungen Brentanos, die gegen diese Interpretation sprechen. Man würde doch in diesem Fall nicht sagen, daß die physischen Phänomene im eigentlichen Sinne nicht "wahrgenommen" werden. Mit der Frage nach der Erklärung der "äußeren Wahrnehmung" hängt die Frage danach zusammen, was Brentano eigentlich unter der "Wahrnehmung" versteht. Nur die "psychischen Phänomene" werden nach ihm im "eigentlichen" Sinn wahrgenommen, er erklärt aber nicht, wodurch sich dieses "psychische Phänomen" auszeichnet, das selbst die Wahrnehmung im "eigentlichen" Sinn ist. Von der Wahrnehmung überhaupt spricht Brentano - soweit ich weiß - nur an einer Stelle seiner Psychologie, nämlich (in der 3. Aufl.) im II. Band auf S. 50, wo er das Problem bespricht, ob zum Wesen des Urteils das Prädizieren gehört. Daß dies nicht der Fall ist, davon soll die Tatsache zeugen, "daß jede Wahrnehmung zu den Urteilen zählt; ist sie ja eine Er27

kenntnis oder doch ein, wenn auch irrtümliches, Fürwahrnehmen".

Durch

diesen Zusatz "wenn auch irrtümliches" wird hier der Begriff der Wahrnehmung offenbar so weit gefaßt, daß er sowohl diese "eigentliche" als auch eine andere Wahrnehmung umgreift. Daß aber Brentano die Wahrnehmung zu den Urteilen zählt, macht uns nur klar, daß sie immer das Moment der Existenzsetzung des wahrgenommenen Gegenstandes enthält; Brentano erklärt aber nicht näher den Aufbau des Wahrnehmungsaktes. Diese Behauptung ist jedoch bemerkenswert, denn sie wird uns später noch von Nutzen sein. Nur 27 Vgl. dazu: "Erkenntnis aber hat man nur im Urteile" - 3. Kap., Buch Π, § 1 - in 3. Aufl. I. Bd., S. 195.

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indirekt können wir aus der unten angeführten Stelle erschließen, was Brentano zur Behauptung veranlaßt, daß nur die psychischen Phänomene im "eigentlichen Sinne" wahrgenommen werden. Nämlich: "Haben wir doch gesehen, daß die Phänomene der sogenannten äußeren Wahrnehmung auch auf dem Wege mittelbarer Begründung sich keineswegs als wahr und wirklich erweisen lassen; ja daß der, welcher vertrauend sie fur das nahm, wofür sie sich boten, durch den Zusammenhang der Erscheinungen des Irrtums überfuhrt wird. Die sogenannte äußere Wahrnehmung ist also streng genommen nicht eine Wahrnehmung." (S. 128-129) Wie man sieht, bildet die Trüglichkeit der äußeren Wahrnehmung (die Möglichkeit des Auftretens von Irrtümern) sowie die darin, nach Brentano, begründete Unmöglichkeit, den "physischen Phänomenen" eine wirkliche Existenz zuzusprechen, den Grund dafür, daß er den äußeren Wahrnehmungen den Charakter von Wahrnehmungen im "eigentlichen" Sinn abspricht. Daraus kann man folgern, daß Brentano die innere Wahrnehmung deswegen als Wahrnehmung im "eigentlichen" Sinn ansieht, weil sie untrüglich (durch "untrügliche Evidenz" gekennzeichnet) sei. Mit anderen Worten: Zur "Wahrnehmung" im eigentlichen Sinn gehöre die Untrüglichkeit, unmittelbare Evidenz dieses Erkenntnisaktes. Warum soll aber die innere Wahrnehmung (das innere Bewußtsein) unmittelbar und untrüglich evident sein? Man kann das als ein Dogma annehmen bzw. als eine letzte unentbehrliche Voraussetzung (unentbehrlich, weil sie nach der Meinung einiger die letzte Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt ausmacht) - und das scheint das wesentliche Motiv zu sein, warum Brentano die These von der Evidenz der inneren Wahrnehmung (des inneren Bewußtseins) annimmt. Man kann aber auch verlangen, daß diese Behauptung durch die Bestimmung der strukturellen Eigenschaften der inneren Wahrnehmung (des inneren Bewußtseins) begründet werden soll. Ohne deren Bestimmung muß diese Behauptung immer dogmatischen Charakter haben. Um so wichtiger ist es also, die Eigenschaften der inneren Wahrnehmung bzw. des inneren Bewußtseins klarzulegen. Brentano bespricht dieses Problem im Zusammenhang mit der Frage, ob es unbewußte "psychische Phänomene" gibt. Er entscheidet diese Frage negativ (es gebe keine unbewußten psychischen Phänomene), wodurch er auf längere Zeit - bis Freud und in gewissen Kreisen bis zu unserer Zeit - die Richtung der psychologischen Untersuchungen bestimmt. Er stützt aber diese

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These u. a. auf die Behauptung, daß jedes psychische Phänomen "innerlich wahrgenommen" werde, mithin bewußt sei. "Wenn kein psychisches Phänomen ohne ein darauf bezügliches Bewußtsein möglich ist, so hat man mit der Vorstellung eines Tones zugleich eine Vorstellung von der Vorstellung des Tones. Man hat also zwei Vorstellungen und zwar zwei Vorstellungen sehr verschiedener Art." (S. 170-171) Die innere Wahrnehmung ist aber selbst ein "psychisches Phänomen". Wenn die "Bewußtheit" eines psychischen Phänomens darin besteht, daß es innerlich wahrgenommen wird, so scheint es, daß die innere Wahrnehmung entweder selbst in einer weiteren inneren Wahrnehmung wahrgenommen wird oder daß sie nicht bewußt ist. Im ersten Fall müßte man konsequenterweise eine Reihe von weiteren, immer komplizierteren "inneren Wahrnehmungen" annehmen. "Wer also leugnet, daß es unbewußte psychische Phänomene gebe, der wird bei dem einfachsten Akt des Hörens eine unendliche Menge von Seelentätigkeiten anerkennen müssen." (S. 171) "Auch das scheint einleuchtend, daß der Ton nicht bloß im Hören, sondern auch in der gleichzeitigen Vorstellung des Hörens als vorgestellt enthalten sein muß. Und auch in der Vorstellung von der Vorstellung des Hörens wird er nochmals, also zum dritten Male, das Hören aber zum zweiten Male vorgestellt werden." (S. 171) [So ergäbe sich] "eine unendliche Reihe von Phänomenen" "in der die einzelnen Glieder selbst mehr und mehr und ins Unendliche sich verwickeln (...)". (S. 171) Im zweiten Fall müßte man die Behauptung annehmen, die Brentano nicht nur ablehnt, sondern für deren Ablehnung er geradezu diese innere Wahrnehmung (also das Bewußtsein) angenommen hat. Die zweite Möglichkeit kann somit Brentano jedenfalls nicht wählen, er akzeptiert aber auch nicht die erste, weil ihm eine solche unendliche Reihe unmöglich scheint. "Das scheint nun aber eine sehr mißliche Annahme, ja die Annahme ist offenbar absurd." (S. 171) Praktisch würde das zur [Annahme der] Unbewußtheit der psychischen Phänomene (oder wenigstens einiger von ihnen) Miren. Es ist zuzugeben, daß wir aus unserem psychischen Leben keine Tatsachen kennen, welche die These von der Existenz auch nur ein paar erster Glieder dieser Reihe bestätigen würden. Wie vermeidet also Brentano die beiden Möglichkeiten? Auf welchem Weg? Einen der Wege, der nahe liegt, lehnt Brentano ab. Man könnte nämlich meinen, daß das Hören und das Gehörte (der Ton) dasselbe Phänomen seien. Brentano sieht diese Meinung als falsch an, indem er sich

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auf die innere Wahrnehmung beruft, die uns zeige, daß "das Hören einen von ihm selbst verschiedenen Inhalt hat, der im Gegensatz zu ihm an keiner der Eigentümlichkeiten der psychischen Phänomene partizipiert" (S. 172-173). Man darf nicht vergessen, daß Brentano in dieser ganzen Betrachtung stillschweigend voraussetzt, die Tatsache, daß ein psychisches Phänomen bewußt ist, könne auf keinem anderen Weg als dadurch zustande kommen, daß er zum Gegenstand einer Vorstellung wird. Das aber braucht nach Brentano nicht zu einem regressus in infinitum zu fuhren. Um in diesen regressus zu verfallen, muß man noch zusätzlich die Voraussetzung annehmen, daß die Vorstellung, deren Objekt ein psychisches Phänomen bildet, von diesem Phänomen numerisch verschieden ist. Das stellt aber Brentano gerade in Frage. Wie kommt er jedoch dazu? Man muß zuerst, wie oben gesagt, das Hören von dem Gehörten (zum Beispiel einem Ton) unterscheiden. Zweitens: Wenn wir ein psychisches Phänomen haben, das sich auf etwas, ζ. B. auf einen Ton bezieht, dann sind wir uns dessen bewußt, daß wir dieses Phänomen haben; wenn wir also ζ. B. eine Vorstellung eines Tones besitzen, sind wir uns dessen bewußt, daß wir sie besitzen. Es entsteht aber die Frage, wieviel Vorstellungen wir in diesem Fall haben. Um diese Frage zu beantworten, muß man zuerst sagen, in bezug worauf wir die Zahl der Vorstellungen bestimmen sollen. In bezug auf den Gegenstand der Vorstellung oder im Hinblick auf den Akt? Weil in der Vorstellung des Tones der Gegenstand der gehörte Ton ist, in der Vorstellung der Vorstellung des Tones aber nicht der Ton, sondern etwas von ihm Verschiedenes, nämlich die "Vorstellung des Tones", so müßte man auf die gestellte Frage im Hinblick auf die Zahl der vorgestellten Gegenstände antworten, daß wir in unserem Fall zwei Vorstellungen haben. Anders lautet die Antwort, wenn wir die Akte in Betracht ziehen. Nämlich: "Vielmehr scheint die innere Erfahrung unzweifelhaft zu zeigen, daß die Vorstellung des Tones mit der Vorstellung von der Vorstellung des Tones in so eigentümlich inniger Weise verbunden ist, daß sie, indem sie besteht, zugleich innerlich zum Sein der anderen beiträgt." (S. 179) "Dies deutet auf eine eigentümliche Verwebung des Objekts der inneren Vorstellung mit dieser selbst und auf eine Zugehörigkeit beider zu ein und demselben psychischen Akte hin." (S. 179)

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Im Hinblick auf den Akt müssen wir somit sagen, daß hier nur ein einziges psychisches Phänomen vorliegt. "Die Vorstellung des Tones und die Vorstellung von der Vorstellung des Tones bilden nicht mehr als ein einziges psychisches Phänomen, das wir nur" - mit Rücksicht auf die Verschiedenheit ihrer Objekte - "begrifflich in zwei Vorstellungen zergliederten. In demselben psychischen Phänomen, in welchem der Ton vorgestellt wird, erfassen wir das psychische Phänomen selbst, und zwar nach seiner doppelten Eigentümlichkeit, insofern es als Inhalt den Ton in sich hat und insofern es zugleich sich selbst als Inhalt gegenwärtig ist." (S. 179-180) Infolgedessen stellt Brentano einander gegenüber: a) das primären Objekt der Vorstellung, ζ. B. den Ton, b) das sekundäre Objekt der Vorstellung - ζ. B. das Hören. Jede Vorstellung hat also, obzwar sie selbst eine einzige ist, zwei Objekte, wobei die Erfassimg des sekundären Objekts gleichsam nebenbei erfolgt ("scheint... sich selbst nebenbei und als Zugabe mitzuerfassen", S. 180). In letzter Konsequenz: Das innere Bewußtsein ist a) das Bewußtsein der psychischen Akte, b) es ist in diesen eingeschlossen, gleichsam als ein notwendiger Bestandteil des psychischen Aktes, c) es richtet sich auf diese Akte selbst als seine sekundären Objekte. Betont auch Brentano eine innige Verwebung des "inneren Bewußtseins" mit dem psychischen Phänomen, so bezeichnet er doch dieses Bewußtsein gelegentlich als "begleitendes Bewußtsein", als ob dieses "begleitende Bewußtsein" einmal wegfallen könnte, oder wenigstens, als ob es nicht wesentlich für jedes psychische Phänomen wäre. Das würde aber Brentanos eigentlichen Intentionen in dieser Frage nicht entsprechen. So glaubt Brentano, mit seiner Konzeption des so verstandenen "inneren Bewußtseins" den regressus in infinitum vermieden und zugleich die These aufrechterhalten zu haben, daß jedes psychische Phänomen bewußt ist. Ob Brentano den regressus in infinitum tatsächlich vermieden hat bzw. um die Notwendigkeit, die Existenz der unbewußten psychischen Phänomene anzuerkennen, herumgekommen ist, läßt sich erst dann entscheiden, wenn wir uns mit einer Reihe von Behauptungen bekannt machen, die Brentano über das "innere Bewußtsein" ausspricht. Es sind die folgenden:

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1. Das innere Bewußtsein zeichnet sich durch direkte und unbezweifelbare Evidenz aus (das gilt nicht fur das "äußere Bewußtsein", d. h. die Vorstellungen der "physischen Phänomene"). 2. Das innere Bewußtsein und das psychische Phänomen, dessen Bewußtsein es ist, zeigen die gleiche Stärke ("Durchgehend haben die begleitende und die begleitete Erscheinung gleiche Stärke", S. 194). 3. Das innere Bewußtsein tritt in dreifacher Form auf: a) als Vorstellung des psychischen Phänomens, b) als Wahrnehmung - Urteil - des psychischen Phänomens, 28

c) als "Gefühl" des psychischen Phänomens. "(...) somit hat jeder, auch der einfachste psychische Akt eine vierfache Seite, von welcher er betrachtet werden kann. Er kann betrachtet werden als Vorstellung seines primären Objekts, wie ζ. B. der Akt, in welchem ein Ton empfunden wird, als Hören; er kann auch betrachtet werden als Vorstellung seiner selbst, als Erkenntnis seiner selbst und als Gefühl seiner selbst. Und in der Gesamtheit dieser vier Beziehungen ist er Gegenstand sowohl seiner Selbstvorstellung als auch seiner Selbsterkenntnis als auch sozusagen seines Selbstgefühls, so daß ohne weitere Verwickelung und Vervielfältigung nicht bloß die Selbstvorstellung vorgestellt, sondern auch die Selbsterkenntnis sowohl vorgestellt als erkannt, und das Selbstgefühl sowohl vorgestellt als erkannt als gefühlt ist." (S. 218-219) Zur Erläuterung muß man bemerken: 1. Brentano unterscheidet - wie ich erwähnt habe - drei Arten von psychischen Phänomenen: a) Vorstellungen, b) Urteile, c) "Gemütsbewegungen" (Gefühle, Begehrungen, Willensakte). 2. Ein Urteil ist nach Brentano ein "einfaches Anerkennen" oder "Verwerfen", nicht aber Verknüpfen der Begriffe derart, daß mit dem Subjekt ein "Prädikat" verbunden wird. Deswegen betrachtet Brentano u. a. die Wahrnehmung als ein Urteil ("jede Wahrnehmung zählt zu den Urteilen"). 3. Die Erkenntnis ist nur in den Urteilen enthalten.

28 "Selbst im einfachsten Seelenzustand ist ein doppelter Gegenstand immanent gegenwartig, und der eine zum mindesten ist mehrfach bewußt, er ist nicht bloß Gegenstand einer Vorstellung, sondern auch eines Urteils (und Gefühles)." (S. 221)

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4. Brentano begründet ausführlich die These, daß diese Arten des inneren Bewußtseins die psychischen Phänomene "begleiten"; er fuhrt insbesondere aus, daß die Vorstellungen und Urteile die psychischen Phänomene begleiten müssen, was aber das "Gefühl" betrifft, so sei das nur eine Tatsache der inneren Erfahrung. Von diesen Überlegungen sehe ich hier ab. Wie man sieht, nimmt Brentano, um den regressus in infinitum sowie die Anerkennung von unbewußten psychischen Phänomenen zu vermeiden, einen ungeheuer komplizierten Aufbau jedes psychischen Phänomens in Kauf. Diese Komplizierung geht so weit, daß es sich bei näherem Hinsehen erweist, daß die Darstellung des Aufbaus des psychischen Phänomens, die soeben nach Brentanos Text angeführt wurde, verschiedene Einzelheiten dieser Komplizierung übergeht und diesen Aufbau vereinfacht - vereinfacht nicht im Verhältnis zu dem, was man aufgrund der Erfahrung tatsächlich aufweisen kann, sondern im Verhältnis zum Aufbau des psychischen Phänomens, wie er ihm nach Brentanos Behauptungen und Voraussetzungen zukommen sollte. Denn konfrontiert mit Tatsachen der Erfahrung erscheint Brentanos Auffassung eher als eine wissenschaftliche Fiktion. Es stellt sich die Frage, ob Brentano mit seiner Konzeption des Aufbaus des psychischen Phänomens (Aktes) den regressus in infinitum vermeidet, der uns drohte, wenn wir angenommen haben, der psychische Akt werde dadurch bewußt, daß wir ihn uns in einem anderen psychischen Akt vorstellen. Es zeigt sich bei näherem Hinsehen, daß dieser Regreß nach wie vor droht und daß nur eine unendliche Mannigfaltigkeit von Bestandteilen in einen (und zwar jeden!) einzelnen psychischen Akt hineingebracht wurde. Brentano unterscheidet vier verschiedene "Seiten" des psychischen Aktes: den Akt der Vorstellung (ζ. B. eines Tones) und sein "inneres Bewußtsein", das drei Seiten oder "Teilphänomene" enthält: Vorstellung, Urteil und Gefühl, gerichtet auf den Akt der Vorstellung des Tones selbst. Sollen diese Seiten oder Teilphänomene selbst bewußt sein, so ist das - wie es scheint von Brentanos Standpunkt aus nicht anders als dadurch möglich, daß sie selbst die Objekte einer neuen Vorstellung, eines neuen Urteils und Gefühls sind, d. h. daß irgendwelche neuen "Seiten" oder "Teilphänomene" des inneren Bewußtseins vorliegen. Es bestehen dabei zwei Möglichkeiten: Entweder erfordert jede dieser Seiten für sich ein getrenntes Bewußtsein in Form von drei neuen Seiten (Vorstellung, Urteil und Gefühl), oder es kann sich auch

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das Erfassen (Bewußtwerden) aller drei Seiten in einem einzelnen (obgleich dreifachen) Bewußtsein vollziehen. Im ersten Fall müßte die Anzahl der Seiten des inneren Bewußtseins um neun neue Seiten vermehrt werden, im zweiten Fall nur um drei. Zusammen mit den vier Seiten der Vorstellung des Tones hätten wir also im ersten Fall 13 Seiten des ganzen Erlebnisses, im zweiten dagegen nur sieben. Das ist aber natürlich noch nicht das Ende, weil jede der neuen Seiten der ganzen Vorstellung, insofern sie bewußt ist, neue Seiten des ganzen Erlebnisses des inneren Bewußtseins verlangt und so ins Unendliche. Denn im Grunde genommen ändert sich die Situation nicht, ob wir für die "Bewußtheit" eines psychischen Phänomens neue Akte des inneren Bewußtseins oder nur neue Seiten oder Teilphänomene davon verlangen. In beiden Fällen kommen wir zu einer ungeheuren Komplikation des psychischen Phänomens und zu einem regressus in infinitum. Die Situation kompliziert sich noch mehr durch das ausdrücklich aufgestellte Postulat, wonach das Bewußtwerden eines Vorstellungsaktes ein dreifaches inneres Bewußtsein (der Vorstellung, des Urteils und des Gefühlsaktes) erfordert. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß wir es hier mit einer wissenschaftlichen Konstruktion zu tun haben, die empirischer Grundlagen entbehrt. Zu den schon gemeldeten Bedenken kommt noch die Frage hinzu, Avas darüber entscheidet, ob wir es mit einem Akt und nicht mit zwei Akten oder auch mit einem Akt mit mehreren darin enthaltenen Komponenten zu tun haben. Brentano würde vielleicht antworten, zwei Akte seien nicht so "innig verwoben" wie zwei Teilphänomene in einem Akt. Solange wir aber nicht erklärt haben, worin diese "innige Verwebimg" im Unterschied zum bloßen gemeinsamen Auftreten mehrerer psychischer Phänomene besteht, ist die Frage, wann wir es mit einem komplizierten Akt zu tun haben, schwierig zu beantworten. Brentano beschäftigt sich tatsächlich mit der Natur dieser innigen Verwebung. Bevor ich aber dazu übergehe, muß ich noch auf andere Fragen hinsichtlich des inneren Bewußtseins eingehen. Wollen wir die Komplikationen vermeiden, die Brentano in den Aufbau der Bewußtseinsakte hineinbringt, dann müssen wir annehmen, daß 1) nicht jedes psychische Phänomen so oder anders "gefühlt" wird, 2) daß die Wahrnehmung keine Verbindung der Vorstellung mit dem darauf aufgebauten Urteilen darstellt, sondern daß das Urteilen entweder ein unselbständiges Moment der Wahrnehmung oder - genauer gesagt - eine andere Vollzugs-

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weise als bei der einfachen Vorstellung des Aktes der Wahmehmungsvorstellung ist, 3) daß man die von Brentano stillschweigend angenommene Voraussetzung verwerfen muß, derzufolge jedes psychische Phänomen (jeder Akt) nur dadurch bewußt ist, daß es vorgestellt wird (auch wenn es nur das sogenannte "sekundäre" Objekt seiner selbst sein sollte). Man muß vielmehr annehmen, daß das Bewußtsein, und insbesondere der Bewußtseinsakt, ζ. B. [der Akt] der Wahrnehmung, das Durchleben, ein spezifisches Von-sichselbst-Wissen ist, [das stattfinden kann], ohne daß eine "Reflexion", eine 29

"Vorstellung" oder ein Urteil usw. dazu erforderlich wäre. Ich kann hier auf diese Fragen nicht näher eingehen. Es genügt, wenn ich sage, daß in diesem Fall die Gegenüberstellung von Akt und Gegenstand des Durchlebens aufzugeben ist. Wir müssen nun zur Besprechung von Brentanos sehr wichtigen Betrachtungen über die direkte Evidenz und Untrüglichkeit des inneren Bewußtseins übergehen - unabhängig davon, was in den soeben dargestellten Ansichten Brentanos zu korrigieren oder zu verändern wäre. Diese Evidenz kann man als eine unentbehrliche Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis überhaupt ansehen, oder [man kann] auch umgekehrt solche strukturellen Eigentümlichkeiten (Eigenschaften) der inneren Wahrnehmung aufzufinden versuchen, welche diese Evidenz ermöglichen oder nach sich ziehen würden. Brentano schlägt beide Wege ein, indem er behauptet, daß die Anerkennung direkter untrüglicher Evidenz eine unentbehrliche Bedingung jeder Erkenntnis überhaupt bilde, und zugleich diese Behauptung mit der These von der inneren Struktur des Bewußtseins (der Wahrnehmung) begründet. Er sagt nämlich: "Die Richtigkeit der inneren Wahrnehmung ist in keiner Art erweisbar, aber sie ist mehr als dies, sie ist unmittelbar evident; und wer skeptisch diese letzte Grundlage der Erkenntnis antasten wollte, der würde keine andere mehr finden, um ein Gebäude des Wissens darauf zu errichten." (S. 198) Es ist also nach Brentano nicht nötig, die Objektivität der inneren Wahrnehmung nachzuweisen; benötigt wird aber eine Theorie von dem Verhältnis zwischen dieser Wahrnehmung und ihrem Gegenstand, die mit ihrer Evidenz 29 Ich habe diesen Begriff in der Abhandlung "Ober die Gefahr einer petitio principii in der Erkenntnistheorie" {Jahrbuch fir Philosophie, Bd. IV, 1921) eingefühlt [vgl. Ingarden (1921); audi in Ingarden (1994)].

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übereinstimmen würde - und eine solche Theorie ist nach Brentano allein seine Theorie der "innigen Verwebung" des psychischen Aktes mit der inneren Wahrnehmung dieses Aktes in einem einzigen Akt. "Wo immer ein psychischer Akt Gegenstand einer begleitenden inneren Erkenntnis ist, enthält er, außer seiner Beziehung auf ein primäres Objekt, sich selbst seiner Totalität nach als vorgestellt und erkannt." (S. 196) "Dies allein macht auch die Untrüglichkeit und unmittelbare Evidenz der inneren Wahrnehmung möglich. Wäre die Erkenntnis eines psychischen Aktes, welche ihn begleitet, ein Akt für sich, der als zweiter Akt zum ersten hinzukäme; wäre ihr Verhältnis zu ihrem Objekte kein anderes, als das einer Wirkung zu ihrer Ursache, ähnlich wie es auch zwischen der Empfindung und dem physischen Reize besteht, der die Empfindung hervorruft: wie könnte sie dann in sich selbst gesichert sein? ja, wie sollten wir überhaupt von ihrer Untrüglichkeit uns überzeugen?" (S. 196) Und weiter: "Wenn also nicht jene reale Einheit, jene eigentümlich innige Verbindung" (?), "die wir früher zwischen dem psychischen Akte und der begleitenden Vorstellung gefunden, auch zwischen ihm und der inneren Wahrnehmung bestände, so wäre die Evidenz ihrer Erkenntnis eine Unmöglichkeit." (S. 199) "(...) eine solche (seil, unmittelbare Evidenz) ist nicht mehr möglich, wenn man Wahrnehmung und Objekt in zwei verschiedene Akte verlegt, von welchen nur etwa der eine Wirkung des anderen wäre. Das macht schon die bekannte Bemerkung von Descartes klar; denn ein etwa bestehendes, unendlich mächtiges Wesen würde jedenfalls dieselbe Wirkung wie das Objekt hervorzubringen imstande sein." (S. 199) Unabhängig vom Problem der direkten Evidenz der inneren Wahrnehmung selbst erfahren wir bei der Gelegenheit von zwei kennzeichnenden Ansichten Brentanos, die davon zeugen, daß einige erkenntnistheoretische Anschauungen, die in dieser Zeit im Umlauf waren, für ihn keine Geltung mehr haben. Brentano faßt das Verhältnis zwischen der "Empfindung" und dem physischen Reiz als eine kausale Beziehung a u f - kein Wunder, denn besonders in dieser Zeit war das eine vorherrschende Auffassung. Man kann ihm also in diesem Punkt nichts einwenden, solange es sich um ein genetisch-psychologisches Problem handelt. Aus dem angeführten Text geht jedoch hervor, daß

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Brentano geneigt ist, die kausale Beziehung überhaupt in allen Fällen der Erkenntnis zu sehen, in denen das Erkennen und das zu Erkennende zwei im Verhältnis zueinander selbständige Entitäten ausmachen, wo also die Erkenntnis "zum Sein des Objekts nichts beiträgt". Nur bei der inneren Wahrnehmung nimmt er ein anderes Verhältnis an, nämlich a) das Verhältnis des Mitkonsütuierens eines psychischen Ganzen, b) das intentionale Verhältnis des Sichbeziehens der inneren Erkenntnis auf das sekundäre Objekt. 2. Brentano ist sich im klaren darüber, daß in allen Fällen, wo das Verhältnis zwischen dem Erkennen und dem zu Erkennenden in einer Kausalbeziehung besteht, die Objektivität der in diesem Erkennen gewonnenen Erkenntnis sich nicht positiv mit vollkommener Sicherheit nachweisen läßt. Ja er sagt ausdrücklich: "wie sollten wir uns überhaupt von ihrer Untrüglichkeit überzeugen?". Er zweifelt also offenbar, ob man in diesem Fall überhaupt einen Weg finden könnte, um die Objektivität der Erkenntnis nachzuweisen. Die Motive dieses Zweifels sind bei Brentano - wenigstens an dieser Stelle - nicht angegeben, sie dürften aber wohl die folgenden sein: Das Erkenntnisobjekt, das das "physische" (oder "psychische") Phänomen hervorruft, (das "Ding an sich", das sich hinter der Erscheinung verbirgt, deren Ursache es bildet!) ist selbst nicht gegeben - man kann also nie "unmittelbar" wissen, welche Merkmale es hat. Wie könnte man also auf Grund der Beschaffenheit des Wirkungs-Phänomens (der "Empfindung") und des Wissens darum, daß es eine Wirkung ausmacht, erkennen, ob die Merkmale bzw. Elemente des Phänomens die Merkmale des Ursachen-Gegenstands gerade getreu wiedergeben (abbilden)? Eines der Glieder dieser Relation bleibt bei Brentanos Voraussetzungen immer eine Unbekannte. Anders verhält es sich im Falle des inneren Bewußtseins (der inneren Wahrnehmung), wo das Mitkonstituieren eines Ganzen bewirkt, daß das sekundäre Objekt, auf das sich die "innere" Wahrnehmung bezieht, "unmittelbar" gegeben sein kann. 3. Obwohl Brentano die Unmöglichkeit einsieht, das Problem der Objektivität in dem Fall zu lösen, in dem der Erkenntnisgegenstand eine Ursache und die Erkenntnis eine Wirkung wäre, und obwohl er selbst das Moment der Intentionalität der Erkenntnisakte hervorhebt, ist es ihm nicht gelungen, sich von der herkömmlichen Ansicht über die Erkenntnisbeziehung zu befreien, die in seiner Zeit die Entwicklung der erkenntnistheoretischen Problematik

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hemmte. Er ist sich darüber nicht klar geworden, daß man bei der Erörterung des Problems der Objektivität der Erkenntnis an dieser überkommenen Ansicht nicht festhalten kann, sondern daß es notwendig ist, im voraus anzunehmen, daß die Erkenntnisbeziehung zwischen dem Erkenntnisakt und seinem intentionalen - durch die Intention bestimmten - Gegenstand besteht, und nur danach zu fragen, ob diese intentionale Bestimmung rechtmäßig (berechtigt) sei. So ist Brentano mit seiner Stellung zu einem der zentralen Probleme der Erkenntnistheorie - und zwar einem Problem, von dessen Lösung die Abgrenzung der ganzen weiteren erkenntnistheoretischen Problematik abhängt - auf halbem Weg stehen geblieben. Befand er sich auch an der Schwelle der eigentlichen erkenntnistheoretischen Problematik, so blieb er doch trotz allem - wenigstens in der Zeit, als er seine Psychologie vom empirischen Standpunkt schrieb - auf dem Boden der überlieferten psychophysiologischen Erkenntnistheorie stehen. Ob er später seinen Standpunkt in dieser Frage geändert hat, darauf möchte ich hier nicht eingehen. Kehren wir jedoch zum Problem des inneren Bewußtseins zurück und betrachten wir es von einem anderen Gesichtspunkt aus - nämlich im Zusammenhang mit dem Problem der "Einheit des Bewußtseins". Nachdem er festgestellt hat, daß das innere Bewußtsein eines psychischen Phänomens - in seiner dreifachen Form - zu demselben Akt wie der bewußte Akt gehört, legt sich Brentano die Frage vor, ob wir es bei verwickeiteren psychischen Phänomenen mit einem Kollektiv von psychischen Phänomenen (Brentano sagt mehr: einem Kollektiv von Dingen) zu tun haben oder mit einem Phänomen - einer psychischen Realität. "Haben wir bei verwickeiteren Seelenzuständen ein Kollektiv von Dingen anzunehmen, oder gehört, wie bei den einfachsten, so auch bei den am meisten zusammengesetzten Zuständen die Gesamtheit der psychischen Erscheinungen einem Dinge an, in welchem wir nur Divisive als Teile zu unterscheiden vermögen?" (S. 223) Er unterscheidet dabei: a. ein Kollektiv - "eine Gruppe von Phänomenen", "deren jedes ein Ding fur sich ist oder einem besonderen Dinge zugehört" (S. 222) - an einer anderen Stelle - "eine Vielheit von Dingen" (S. 222), b. Dinge bzw. Phänomene, die, obgleich nicht einfach, dennoch einheitlich sind (ein Ganzes bilden) und nur eine Mehrheit von "Teilen" enthalten, die Brentano Divisive nennt ("ein Divisiv - Teil eines

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einheitlichen Dinges"). Wobei: "Einheit und Einfachheit (...) sind Begriffe, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen." (S. 223) Um seine Fragen zu beantworten, macht Brentano zunächst darauf aufmerksam, was die Quelle der Verwicklung bei einem psychischen Phänomen bilden kann. Sie bestehe entweder a) darin, daß dasselbe primäre Objekt (ζ. B. ein Ton) "mehrfach bewußt" ist - auf mehrfache Weise das Objekt des Bewußtseins ist (es kann vorgestellt, "beurteilt", begehrt werden), oder b) darin, daß unsere psychische Tätigkeit sich auf mehrere verschiedene primäre Objekte richtet oder c) daß sowohl a) als b) der Fall ist. Welche Argumente könnten somit gegen die Anerkennung der "Einheit" eines zusammengesetzten psychischen Phänomens vorgebracht werden entgegen der Annahme, daß die darin unterscheidbaren "Teilphänomene" nur "Divisive" sind? a. Wenn unsere sich gleichzeitig abspielenden psychischen Akte (?) nichts anderes als "Divisive" desselben "einen" Dinges wären, wie könnte einer dieser Akte im Verhältnis zu den anderen "selbständig" (danach spricht Brentano auch von der "Unabhängigkeit") sein? Das ist aber gerade der Fall. Es besteht manchmal ein- oder beiderseitige Unabhängigkeit, ζ. B. ist das Sehen einer Farbe unabhängig vom gleichzeitigen Hören eines Tones (beiderseitige Unabhängigkeit). Wir können eine Person, die wir uns vorstellen, [zugleich auch] lieben, aber wir brauchen es nicht zu tun. Wir können sie uns nur vorstellen, es ist aber nicht möglich, etwas zu lieben, das nicht vorgestellt wird. Wie man daraus sieht, gehört es zum Begriff "Divisiv", daß es nicht selbständig ist - bzw. nicht unabhängig von anderen Erfahrungen, die "zu derselben Realität" gehören. Nota bene gebraucht Brentano diese zwei Begriffe 30

als austauschbar bzw. gleichbedeutend, obwohl sie es de facto nicht sind. b. Das Verhältnis zwischen gleichzeitigem Sehen und Hören ist nicht so innig wie das Verhältnis zwischen verschiedenen Formen des inneren Bewußtseins; im ersten Fall zeigt sich nichts von dieser engen Verwebung "wie zwischen den (drei) Momenten des inneren Bewußtseins, von denen jedes auf jedes als seinen Gegenstand sich bezog"(!) (S. 244) 30

Vgl. Spór o istnienie swiata, Bd. I, S. 132ff. [In deutscher Version: Ihgarden 1964/65, Bd. I, S. 115ff.]

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Es scheint also, daß die Gesamtheit von Elementen eines verwickeiteren Seelenzustandes nur ein Kollektiv bildet, nicht aber ein Ganzes, in dem "Divisive" zu unterscheiden sind. Es gibt aber auch Argumente gegen diese Behauptung, also für die Anerkennung der "Einheit" des Bewußtseins. Denn: a. "Wären dieses Vorstellen und das Lieben jedes ein Akt, jedes ein Ding für sich und nur etwa das eine die Ursache des anderen, so wäre es denkbar, daß die Ursache durch eine andere ersetzt würde, und daß wir liebten, was uns in keiner Vorstellung erschiene." (S. 225/226) Zu einem Akte des Liebens gehört somit jedenfalls eine Vorstellung des geliebten Gegenstandes als Element desselben Ganzen (derselben "sachlichen Einheit", S. 226). Wollte jemand trotzdem behaupten, "daß die Vorstellung, weil sie oft bleibt, während die Liebe aufhört, ein Ding fur sich sein müsse" (S. 226), dann müßten wir sagen, "der Gegenstand sei, als wir ihn liebten, zweimal vorgestellt worden" (S. 226), was den Tatsachen der inneren Erfahrung nicht entspricht. b. Man kann auch den kollektiven Charakter derjenigen psychischen Phänomene nicht anerkennen, in denen wir uns auf mehrere verschiedene primäre Objekte beziehen. Denn wie verhält es sich, wenn wir zwei solche Objekte (ζ. B. einen Ton und eine Farbe) miteinander vergleichen und ihre Verschiedenheit feststellen? "Wie sollte die Vorstellung ihrer Verschiedenheit denkbar sein, wenn von den Vorstellungen der Farbe und des Tones jede einem anderen Dinge zugehörte?" (S. 226) Sollten wir die Vorstellung ihres Unterschiedes [der Vorstellung] a) oder [der Vorstellung] (b) oder [der Vorstellung] (a + b) oder schließlich irgendeinem (?) zuschreiben? Das ist absurd, "weil die vergleichende Erkenntnis eine wirkliche sachliche Einheit ist (...)". (S. 226) Ahnlich in dem Fall, wo wir Mittel zu einem Zweck wählen: "Alle diese Ordnungen und Kombinationen würden, wenn wir die einzelnen Glieder unserer Gedanken auf eine Vielheit von Dingen verteilten, in eine Vielheit oder vielmehr in ein Nichts sich auflösen. Schließt nicht das Begehren nach dem Mittel das Verlangen nach dem Zwecke ein und enthält darum mit der Vorstellung des Mittels nicht auch die des Zweckes?" (S. 227) Dasselbe gilt für die verschiedenen Formen des inneren Bewußtseins.

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Wenn wir die Gleichzeitigkeit (oder auch die zeitliche Sukzession) verschiedener unserer psychischer Phänomene feststellen, so ist es klar, daß ζ. B. die innere Wahrnehmung des Sehens und die Wahrnehmung des Hörens zu einer realen Einheit gehören müssen. Und wenn das für das innere Bewußtsein gilt, so muß das auch auf die wahrgenommenen psychischen Phänomene zutreffen. "Es scheint also, als ob weder die eine noch die andere Weise der Verwickelung uns jemals abhalten dürfe, die Gesamtheit unserer psychischen Tätigkeiten als eine sachliche Einheit zu betrachten." (S. 228) Verschiedene "Divisive" sind miteinander nicht identisch, sondern gehören ein und derselben Realität zu. "Und diese gemeinsame Zugehörigkeit zu einem wirklichen Dinge ist die Einheit, von welcher in unserem Falle die Rede ist." (S. 229) Nur wenn verschiedene "Divisive" miteinander identisch sein sollten, müßte die Innigkeit ihrer Verbindung immer gleich sein. "Das Verhältnis der realen Identität ist notwendig immer dasselbe, wo immer es in Wahrheit vorhanden ist." (S. 229) "Nicht so das Verhältnis der Teile, die zu einer realen Einheit gehören." (S. 230) Dieses Verhältnis kann verschieden sein - inniger oder weniger innig. Und das entspricht den Tatsachen. Eine innigere ist die Verbindung des Hörens mit dem inneren Bewußtsein des Hörens. Ebenso ist die Verbindung von zwei auf dasselbe primäre Objekt gerichteten psychischen Tätigkeiten eine innigere als die Verbindung von Tätigkeiten, die auf verschiedene primäre Objekte gehen. Auf diese Weise ist das zweite Argument gegen die Einheit eines komplexen Bewußtseins erledigt. Damit fallt aber auch das erste Argument weg. "Was real identisch ist, kann allerdings keine Lostrennung erfahren; denn das hieße, daß etwas von sich selbst getrennt werde. Was aber als unterschiedener Teil mit anderen zu seinem realen Ganzen gehört, das mag vielleicht ohne Widerspruch aufliören, während die anderen fortbestehen." (S. 231) Alle diese Überlegungen, die in ihrer allgemeinen Art - als Betrachtun31 gen formal-ontologischer Natur - über das Gebiet der Psychologie hinaus^

Daß derartige Betrachtungen bei Brentano vorkommen, ist für sich interessant Sie zeigen ihrerseits, daß die bei uns [in Polen] einst verbreitete Meinung, Brentano sei ausschließlich oder auch nur hauptsächlich Psychologe gewesen, den Tatsachen nicht entspricht Die Psy-

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gehen, zielen darauf ab, nachzuweisen, daß all diese Verwicklungen im Rahmen des Bewußtseins, die sich aus Brentanos Theorie des "inneren Bewußtseins" ergeben, der Einheit dieses Bewußtseins, wie auch des Bewußtseins überhaupt, keinen Abbruch tun. Indessen behebt diese ganze Betonung und Begründung dieser Einheit weder die von ihm eingeführten Verwicklungen, noch verleiht sie diesen Verwicklungen größere Wahrscheinlichkeit. Mehr noch: Die Einführung dieser Verwicklungen in den Aufbau des inneren Bewußtseins nützt uns nichts und ist im Gründe nicht einmal nötig. Zu welchem Zweck stellt Brentano diese ganze Betrachtung an? Handelt es sich allein um die Feststellung einer psychologischen Tatsache, [der Tatsache] gerade einer solchen und nicht anderen Struktur des Bewußtseins? Es geht - wie es scheint - um mehr als das. Es geht einerseits um die Auffindung eines "evidenten" Aktes, der nicht nur durch seine "Intuitivität" allein, sondern auch durch seine eigene Struktur uns, zum einen, eine sichere, durch ihre eigene Struktur nicht bezweifelbare Erkenntnis liefern könnte, und zwar eine Erkenntnis, die u. a. die Existenz des zu Erkennenden feststellen würde, zum anderen aber auch eine Erkenntnis, die das letzte Fundament der Psychologie als Grundwissenschaft der Philosophie bilden würde. Brentanos Psychologie bietet zwar keine Perspektive auf die Problematik, bei der das Vorhandensein einer solchen letzten "evidenten" Erkenntnis uns einigermaßen nützlich sein könnte. Diese Problematik tauchte jedoch seit Descartes in der neueren und gegenwärtigen Philosophie immer wieder auf. Und wir gehen wohl vom Standpunkt Brentanos nicht zu weit ab, wenn wir annehmen, daß eine derartige Problematik ihm nicht fremd war. Es ist nicht ausgeschlossen, daß er sie eben mit Hilfe seiner Konzeption "evidenter" Erkenntnis im Rahmen seiner Untersuchungen über das Bewußtsein selbst in Angriff nehmen wollte und daß er seine Konzeption des "inneren Bewußtseins" als eine Vertiefung und Weiterentwicklung der Cartesischen Lehre vom cogito erachtete. Auf jeden Fall zeugt seine Betrachtung des ganzen Problems des inneren Bewußtseins unter dem Aspekt dessen eventueller Evidenz mit Sicherheit davon, daß nicht die rein psychologische, sondern vielmehr die erkenntnis-

chologie war fur ihn nur die Haupt- oder Grunddisziplin der Philosophie. Sie sollte ihm nur die nötigen Mittel liefern, um viele gar nicht psychologische Probleme in Angriff zu nehmen, und zwar sowohl in der theoretischen Philosophie - z.B. in der Metaphysik - als auch in der praktischen Philosophie, also z.B. im Bereich der ethischen Probleme.

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theoretische Problematik den wichtigsten und wesentlichen Hintergrund seiner Betrachtungen zum inneren Bewußtsein bildete - u. a. etwa mit der Absicht, den Angriff des Comte'schen Positivismus auf die "innere Erfahrung" abzuwehren. Andererseits fuhrt diese Suche nach einer "letzten" Grundlage, auch nur für die psychologische Erkenntnis, gerade durch die sich unendlich türmenden Verwicklungen im Aufbau des inneren Bewußtseins - wie wir oben gesehen haben - zu keinem Erfolg. Und schließlich scheint dieses ganze Bemühen, auf diesem Weg ein "letztes" Fundament der Erkenntnis zu finden, 32

überhaupt nicht nötig. Wie ich an einer anderen Stelle zu zeigen versucht habe, wurde dieser Weg mehrmals von Philosophen betreten, weil sie die Hoffnung hatten, durch einen Nachweis des Erkenntniswertes der Ergebnisse einer Erkenntnis (ζ. B. der äußeren Erfahrung) - gerade durch die Erforschung (in der Reflexion bzw. in der inneren Erfahrung) der Akte des betreffenden Erkennens selbst - den Erkenntniswert dieser Ergebnisse (also ζ. B. ihre Wahrheit, Untrüglichkeit oder - im Gegenteil - gerade ihre Trüglichkeit, Täuschbarkeit) nicht nur aufweisen oder entdecken zu können, sondern mehr noch - diesen Wert gleichsam zu stärken (wie man gewöhnlich sagt zu "begründen") oder auch ihn ihnen überhaupt erst zu verleihen. Als ob einem Erkennen, das zu zweifelhaften oder trüglichen oder - im Gegenteil "objektiven" Ergebnissen führt, etwas in seiner eigenen Effizienz helfen könnte, wenn wir ex post und unter Verwendung einer ganz neuen Erkenntnis, nämlich der Erkenntnis von der Erkenntnis eines Dinges und nicht einfach der Erkenntnis dieses Dinges, das Wissen erlangen, wie dieses Erkennen verläuft, welche Struktur der betreffende Erkenntnisakt hat usw. Indessen kann dieses sekundäre Wissen, mag es selbst auch noch so vollkommen sein, an der eigenen Effizienz des gegebenen Erkennens nichts ändern, es kann diese Effizienz weder erhöhen noch herabsetzen. Mit anderen Worten: Jeder Erkenntnisakt einer Art ist selbst auf einzigartige Weise effizient im Erlangen des in ihm gewonnenen Ergebnisses; er ist selbst verantwortlich für dieses Ergebnis. Keine neue, sekundäre Erkenntnis höherer Ordnung kann ihm den Erkenntniswert verleihen (noch abnehmen), den er selbst seinen Ergebnissen

32 Stanowisko teorii poznania w systemie nauk fllozoficznych, Τοπιή 1925 [vgl. Ingarden (1925b), auch in Ingarden (1994)].

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verleiht. Wenn dieser Akt irgendwie ineffizient ist und durch andere Erkenntnisakte ergänzt oder nachgeprüft werden muß, dann können das allein Akte sein, die sich auf denselben Gegenstand wie er selbst beziehen und die prinzipiell der gleichen Art wie er selbst sind. So ist es ζ. B. möglich, daß die Gegebenheiten einer sinnlichen Wahrnehmung eines Dinges (ζ. B. der Feder, mit der ich diese Worte schreibe) durch andere sinnliche Wahrnehmungen, die sich auf denselben Gegenstand beziehen (ζ. B. durch eine zusätzliche Tastwahrnehmung) ergänzt werden, daß sie durch diese anderen begründet (bestätigt) oder nachgeprüft werden usw. Die innere Wahrnehmung der sinnlichen Wahrnehmung eines Dinges - also eine Wahrnehmung, die etwas anderes als diese Sinneswahrnehmung zum Gegenstand hat - kann jedoch diese weder ergänzen noch bestätigen, noch in deren Effizienz und Berechtigung entkräften, noch ist sie schließlich zu diesem Zweck auch nur im geringsten nötig. So stellen sich Brentanos Betrachtungen über das innere Bewußtsein, weil mit deutlich konstruktiven Momenten belastet, als nicht befriedigend heraus. Sie wären uns auch nicht nützlich, wenn es darauf ankäme, die in der äußeren Erfahrung oder auch in den erkenntnistheoretischen Betrachtungen dieser oder jener Art gewonnenen Ergebnisse durch Rekurs auf das innere Bewußtsein zu begründen. Als ein Versuch aber, die letzten Erkenntnisgrundlagen der psychologischen Forschungen und - bei Brentanos Auffassung der Philosophie - auch aller anderen philosophischen Wissenschaften klarzumachen, ist diese Betrachtung sehr wichtig. Es unterliegt keinem Zweifel, daß sie für verschiedene Brentanisten ein Ansporn wurden, ähnliche Betrachtungen durchzufuhren, die uns erlauben würden, die Grundlagen unseres Wissens von Bewußtseinserlebnissen besser zu verstehen. Das betrifft vor allem Husserl, der - obwohl von Brentano verurteilt - in vielerlei Hinsicht als ein Fortsetzer mehrerer seiner Ideen sowie von ihm gestellter Fragen anzusehen ist.

Die wissenschaftliche Tätigkeit Kasimir Twardowskis1 Die philosophische Forschung erlebt von Zeit zu Zeit Perioden einer raschen und üppigen Entwicklung. Aus kleinen Ansätzen, von einigen einleitenden Fragen und verhältnismäßig primitiven Versuchen ihrer Lösung her, baut sich schnell eine reichhaltige Problematik aus und entsteht eine Reihe von immer tiefer ins Einzelne gehenden Theorien, bis zum Zeitpunkt hin, in der die ganze Bewegung manchmal binnen weniger Jahre zum Stillstand kommt oder sich im ganzen Aufbau der Theorie solche Risse zeigen, daß sie zusammenstürzt. Oft kommen auch entgegengesetzte Richtungen auf, die, indem sie die vorgefundenen Auffassungen bekämpfen, unter deren Trümmern sogar wertvolle Ideen begraben. Wenn wir nach dem Abschluß oder gegen Ende einer solchen Periode auf ihre Anfangsphasen schauen und den zu jener Zeit arbeitenden Denkern gerecht werden möchten, dann können wir ihre Ergebnisse nicht an dem messen, was in der Gipfelphase der betreffenden Strömung erreicht worden ist, sondern müssen beachten, daß sie eine Vorbereitung und einen Weg zu all dem ausmachen, was später entstanden ist, eine Vorbereitung, ohne welche die wichtigsten in der Blütezeit der Richtung erreichten Ergebnisse vielleicht nicht zustande gekommen wären. So müssen wir heutzutage auf das Denkenswerk Kasimir Twardowskis schauen. Seine wissenschaftliche Tätigkeit war nämlich eingeflochten in eine verhältnismäßig frühe Phase einer philosophischen Epoche oder vielmehr in den Entwicklungsgang von zwei verschiedenen, obwohl fast gleichzeitig auftretenden philosophischen Epochen: der einen in der Geschichte der deutschen und der anderen innerhalb der polnischen Philosophie. Die erste hat noch in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts angefangen und ist gegen 1930 zu Ende gekommen, der Anfang der zweiten dagegen fallt mit der Ankunft Twardowskis in Polen zusammen, und ihre Zeit scheint inzwischen auch abgelaufen zu sein. Wenn wir diesen doppelten Hintergrund des philosophischen Werks Twardowskis im Auge behalten, können wir uns besser in

[Obersetzung von: "Dzialalnoác naukowa Kazimierza Twardowskiego", in: Kazimierz Twardowski, navczyciel, uczony, obywatel, Lwow 1938, S. 13-30; neu gedruckt in: Ingarden (1963), S. 253-265 ] Eine Rede, die in der Trauerfeier in Lemberg am 30. April 1938 gehalten wurde.

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den Hauptzügen die Rolle zum Bewußtsein bringen, die er als eine der Kräfte gespielt hat, die in der Philosophie um die Wende des 19. Jahrhunderts gewirkt haben. Es ist jedoch sogleich zu betonen: Was wir heutzutage über das philosophische Werk von Professor Twardowski und über seine Rolle im geschichtlichen Prozeß zu sagen vermögen, muß inkomplett und in vielerlei Beziehung hypothetisch sein. Ein beträchtlicher Teil des wissenschaftlichen Werks Twardowskis ist nämlich bisher nicht veröffentlicht worden. Sein handschriftlicher Nachlaß umfaßt beinahe hundert kleinere Abhandlungen und Aufsätze, darüber hinaus einige zehn umfangreiche Konvolute von Notizen zu seinen Vorlesungen, die nur seinen ehemaligen Hörern bekannt sind. Infolgedessen berufe ich mich in meinen Ausführungen lediglich auf die veröffentlichten Arbeiten, wobei ich mich aus Mangel an Zeit auf die Darstellung nur eines Teils des wissenschaftlichen Werks von Professor Twardowski beschränke. Ich verfuge außerdem über kein ausreichendes historisches Material. Vielleicht werden also spätere Untersuchungen die Hypothesen nicht bestätigen, die ich mir hier heute aufzustellen erlaube. Die erste der intellektuellen Strömungen, in welche die Philosophie Twardowskis eingeflochten ist, ist die Wiedergeburt, die die deutsche Philosophie gegen Ende des 19. Jahrhunderts erlebt hat, nach einer einige Jahrzehnte dauernden Niedergangsperiode, die sich mit dem Zusammensturz des deutschen Idealismus abgezeichnet hatte. Nach einer Zeit, in der es den Anschein hatte, daß die Philosophie überhaupt nicht mehr existieren werde, begann sie sich auf verschiedenen Wegen und auf verschiedene Weise wiederaufzubauen. Eine gewisse Vorbereitung bildeten einerseits großangelegte historische Studien sowohl über die griechische Philosophie - die in diesem Fall eher von Philologen als von Philosophen getrieben wurden - als auch über die deutsche Philosophie. Sie haben im Bewußtsein der Generation das Interesse für die zentralen philosophischen Probleme geweckt. Aus diesem Interesse sind jedoch vor allem der Neukantianismus in seinen mannigfachen Formen sowie eine Reihe von anderen Richtungen hervorgegangen. Andererseits hat sich auch die empirisch-experimentelle Psychophysiologie, die seit den sechziger Jahren von hervorragenden Naturwissenschaftlern - um hier nur Fechner, Helmholtz, Wundt oder Mach zu nennen - betrieben wurde, neben ihr aber auch die deskriptive Psychologie Franz Brentanos und anderer

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trotz den Erwartungen ihrer Schöpfer nicht auf bloß psychologische Untersuchungen beschränkt. Zum Teil vielleicht unter dem Einfluß der englischen Philosophie (J. St. Mills) haben sie schon bei Helmholtz und Wundt 2x1 einer empirischen Betreibungsweise der erkenntnistheoretischen Untersuchungen und gleichzeitig bei anderen Forschern zum sogenannten Psychologismus geführt, d. h. zur Auffassung, der zufolge die Psychologie die Grundwissenschaft der Philosophie sei. Auf ihre Begriffe und Probleme sollten die Begriffe und Sätze der übrigen philosophischen Disziplinen, von der Logik über die Erkenntnistheorie bis hin zu der Ethik und Ästhetik oder sogar der Metaphysik zurückfuhrbar sein. Diese von der Psychologie ausgehende Forschungsrichtung meinte, daß die wissenschaftlichen Methoden in den philosophischen Untersuchungen erst von ihr eingeführt worden seien, und betonte nachdrücklich diese "Wissenschaftlichkeit" in Gegenüberstellung zu der von ihr manchmal kritisierten wissenschaftlichen Unverantwortlichkeit des deutschen Idealismus. Erst gegen 1900 hat diese Richtung einen Zusammensturz erlitten und in der Phänomenologie Husserls eine wesentliche Umwandlung erfahren. In dieser Atmosphäre einer sich entwickelnden und selbstsicheren Psychologie mit deutlichen philosophischen Ambitionen, bei starken Nachklängen des englischen Empirismus und Positivismus und deren deutscher Entsprechungen, unter lebhaften Diskussionen zwischen den auf dem Gebiet des Deutschen Reiches zahlreich aufkommenden philosophischen Richtungen ist der junge Kasimir Twardowski aufgewachsen, der in den Jahren 1885-89 an der Wiener Universität studiert hat. Er stand hier vor allem unter dem überwältigenden Einfluß Franz Brentanos und speziell dessen deskriptiver Psychologie, obwohl dabei wohl auch die Interessen nicht ohne Bedeutung waren, die Brentano mit Aristoteles und der mittelalterlichen Philosophie teilte. Twardowski gehörte zum damals ziemlich zahlreichen Kreis der sich in Wien aufhaltenden Brentanisten, von denen hier nur als Beispiele Höfler, Ehrenfels, Kreibig und Schmidkunz genannt werden mögen. Auch in Wien, obwohl nicht bei Brentano, hat Twardowski gegen Ende des Jahres 1891 mit der Dissertation Idee und Perzeption, eine erkenntnistheoretische Untersuchung aus Descartes promoviert Nach einem kurzen Aufenthalt in Leipzig

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[Wien 1892.]

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bei Wundt und in München bei Stumpf ist Twardowski nach Wien zurückgekommen und hat dort sein bestimmt wichtigstes Buch unter dem Titel Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand. Eine psychologische Untersuchung geschrieben. Auf Grund davon hat er im Sommer 1894 die veniam legendi als Dozent der Philosophie an der Wiener Universität erhalten. Die im folgenden Jahr stattfindende Umsiedlung nach Lemberg, wohin Twardowski auf den Lehrstuhl der Philosophie berufen wurde, schließt nicht nur eine Periode in seinem persönlichen Leben, sondern auch eine Periode seiner individuellen Arbeit im Bereich der deutschen Philosophie ab und eröflhet zugleich seine Tätigkeit in Polen. Denn wenn auch das in Lemberg 1898 herausgegebene Buch Wyobrazenia i pojqcia (Vorstellungen und Begriffe) noch zu einer Gedankenreihe aus der Wiener Zeit gehört und - hinsichtlich der darin enthaltenen Theorie der Begriffe - eine Fortsetzung der Habilitationsarbeit ausmacht, so trägt es doch infolge der radikal anderen Atmosphäre, in der es geschrieben wurde, in methodischer Hinsicht und der schriftstellerischen Technik nach einen anderen Charakter und muß daher zur zweiten Epoche des wissenschaftlichen Schafifens Twardowskis gerechnet werden. Trotz Twardowskis Umsiedlung nach Lemberg reicht die faktische Anwesenheit seiner Ansichten in der deutschen Philosophie weit über das Jahr 1895 zurück und läßt sich in verschiedenen Werken der deutschen Philosophen zirka zur Zeit des Weltkriegs von 1914-1918 und in manchen Fällen sogar danach aufweisen. Infolge seiner nahen Beziehungen zur zahlreichen und damals noch ziemlich geschlossenen Gruppe von Brentanisten waren die deutschen Arbeiten Professor Twardowskis diesem Kreis von Philosophen bekannt und wurden bald auch noch weiteren Kreisen von Gelehrten bekannt, zumal seitdem sich Husserl in seinem viel gelesenen Werk Logische Untersuchungen mit Twardowskis Auffassungen an einigen Stellen befaßt hat. Daher wurden die damaligen Untersuchungen Twardowskis zu einem der Entwicklungsglieder in der Geschichte der sogenannten österreichischen Schule und verschiedener Fraktionen von Brentanoiden und bis zu einem gewissen Grad auch der Phänomenologie Husserls. Sie haben auch verschiedene Reaktionen und Widersprüche bei Gegnern der Brentanisten, ζ. B. bei

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[Wien 1894.] [Max Niemeyer, Halle, 1900-1901.]

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den Neukantianern hervorgerufen. Es empfiehlt sich somit, die Habilitationsschrift Professor Twardowskis etwas genauer ins Auge zu fassen. Man hört bei uns gewöhnlich, das wichtigste Verdienst dieser Abhandlung sei die Durchführung einer Unterscheidung zwischen Akt, Inhalt und Gegenstand der Vorstellung, übrigens in Übereinstimmung mit dem Titel des Werks. Eine nähere Betrachtung zeigt aber, daß es sich damit etwas anders verhält. Denn es werden hierin hauptsächlich drei Themen behandelt: 1) die erwähnte Unterscheidung des Inhalts und des Gegenstands der Vorstellung, 2) ein Umriß einer allgemeinen Gegenstandstheorie und 3) das Problem der sogenannten allgemeinen Vorstellungen und Gegenstände. Von diesen drei Themen ist vielleicht gerade die Gegenüberstellung zwischen dem Inhalt und dem Gegenstand der Vorstellung am wenigsten neu. Zwar war diese Unterscheidung, fur uns heute so einfach und evident, im Verhältnis zu Brentano und den Brentanisten jener Zeit - mit Ausnahme vielleicht von Höfler - eher revolutionär und angesichts der ständigen Verwechslung dieser Sachen und Begriffe bei Brentano zweifellos sehr bedeutsam. Es ist aber gleichzeitig wahr, daß Twardowski in diesem Punkt unter dem deutlichen Einfluß von Kerry und Robert Zimmermann steht, der ja den künftigen Verfasser der Abhandlung Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand promoviert hatte. Kenry hat dagegen in den Jahren von 1885 bis 1891 eine Reihe von Aufsätzen unter dem gemeinsamen Titel "Über Anschauimg und ihre psychische Verarbeitung"5 veröffentlicht. Sie machen eigentlich ein umfangreiches Werk von zirka 400 Druckseiten aus; in diesem Werk "hat Kerry" - wie Twardowski selbst schreibt - "diesen Unterschied für die Vorstellungen von Zahlen, also für Vorstellungen, deren Gegenstände nicht real sind, nachgewiesen"6. Man kann also sagen, daß Twardowski die genannte Unterscheidung nur verallgemeinert und tiefer begründet hat. Durch die Vermittlung Kerrys ist Twardowski auch mit der Wissenschaftslehre B. Bolzanos in Kontakt gekommen, der seine Ansichten wesentlich geprägt hat. Man könnte übrigens ohne Zweifel ähnliche Unterscheidungen in der scholastischen Philosophie finden, obwohl die scholastische Philosophie zu jener Zeit weder so bekannt noch so

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|B. Keny, "Ober Anschauung und ihre psychische Verarbeitung", Vierteljahresschrift fiir wissenschaftliche Philosophie, 1885-1891.] [Twardowski, "Zur Lehre...", S. 17.] [B. Bolzano, Wissenschaftslehre, Sulzbach 1837 ]

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bearbeitet wie heutzutage war. (Die berühmte Enzyklika Aeterni patris von Leon ΧΙΠ wurde zwar 1880 verkündet, aber erst 1889 wurde in Louvain das Institut Supérieur de Philosophie gegründet, dessen Geschichte mit dem Entstehen der neutomistischen Philosophie und mit der Wiederaufnahme der Untersuchungen über die mittelalterliche Philosophie eng verbunden ist.) Nicht so sehr in der Unterscheidung zwischen dem Inhalt und dem Gegenstand der Vorstellung selbst als vielmehr in gewissen im Zusammenhang damit aufgestellten Thesen liegt der Schwerpunkt dieses Teils des in Rede stehenden Buches. Die erste dieser Thesen sagt, es gebe keine gegenstandslosen Vorstellungen. Oder positiv: jeder Vorstellung entspreche ein Gegenstand, und zwar unabhängig davon, ob dieser Gegenstand - wie Twardowski sagt - existierend oder nichtexistierend, ja widersprüchlich und unmöglich ist, sofern er nur vorgestellt wird. Nach der zweiten These dagegen besteht zwischen der Vorstellung und ihrem Gegenstand ein notwendiger Zusammenhang. Eine gewisse Doppeldeutigkeit im Begriff des vorgestellten Gegenstands - der Umstand nämlich, daß dies einmal ein existierender und realer, ein anderes Mal hingegen ein irrealer oder sogar nichtexistierender und nur "vorgestellter" Gegenstand ist - hat zur Folge, daß der Begriff einen Impuls zu weiteren Betrachtungen gibt, die später von anderen Gelehrten durchgeführt worden sind. In weiterer Konsequenz kann aber diese Doppeldeutigkeit, samt den soeben angeführten Thesen, zu zwei einander entgegengesetzten Ansichten führen. Entweder 1) zur These, daß vom vorgestellten (intentionalen) Gegenstand, der jeder Vorstellung entspricht, in manchen Fällen reale oder ideale Gegenstände zu unterscheiden sind, die unabhängig von der Vorstellung existieren; oder 2) zur Ansicht, daß alle Gegenstände der Vorstellungen nur vorgestellt (intentional) sind und daß man von ihnen weder irgendwelche gegenüber den Erlebnissen autonom existierenden Gegenstände unterscheiden noch solche Gegenstände annehmen soll. Wenn man aber gleichzeitig Twardowskis These von der Notwendigkeit des Zusammenhangs zwischen dem Gegenstand einer Vorstellung und der Vorstellung selbst anerkennt, kommt man in diesem Fall letztendlich zu einem ausgeprägt idealistischen Standpunkt. Den ersten der unterschiedenen Wege ist die sog. realistische Richtung der Phänomenologie gegangen, die in den metaphysischen Auffassungen Max Schelers ihren Höhepunkt gefunden hat, den zweiten dagegen

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hat der Schöpfer der Phänomenologie, Husserl, selbst eingeschlagen, der letzten Endes zu einem sog. transzendentalen Idealismus gelangt ist. So haben die oben angeführten Thesen Twardowskis, die er selbst als rein psychologisch erachtet hat, in der Geschichte einer Strömung der zeitgenössischen Philosophie sehr weitgehende, von ihrem Verfasser bestimmt nicht vorausgesehene Konsequenzen nach sich gezogen. Viel bedeutsamer aber als die Unterscheidung zwischen dem Inhalt und dem Gegenstand der Vorstellung sind die Betrachtungen Twardowskis, die sich - wie wir heute sagen würden - auf den formalen Aufbau des Gegenstands beziehen. Sie bilden eine konsequent ausgearbeitete Theorie. Infolge einer Begriffsverschiebung, die sich in der in Rede stehenden Abhandlung vollzieht, geht Twardowski vom Begriff des Gegenstands als Gegenstand einer aktuellen Vorstellung zu einem viel allgemeineren Gegenstandsbegriff über, nämlich zum Begriff des Gegenstands im Sinne dessen, was überhaupt vorgestellt werden kann. Damit erreicht er zugleich den allgemeinsten Begriff des Gegenstands, der überhaupt möglich ist (im Sinne von "etwas überhaupt"), und bietet in Anknüpfung an den aristotelischen Begriff des Seienden (to on) einen Umriß der allgemeinen Theorie von dessen Aufbau, d. h. der Metaphysik; denn die Metaphysik - nach Twardowskis damaliger Ansicht - sei nichts anderes "als die Wissenschaft von den Gegenständen 9 überhaupt" . Dies ist meines Wissens die erste konsequent ausgebaute und ein theoretisches Ganzes bildende Theorie des Gegenstands seit der Zeit der Scholastik und dann seit der Ontologie Christian Wolffs. Sie geht sowohl der Lehre von den Ganzen und Teilen Husserls im Π. Band der Logischen Untersuchungen als auch der Gegenstandstheorie Meinongs und seiner Schüler (Ameseders und Mallys) um viele Jahre voraus. Mehr noch, diese "metaphysische" Betrachtung des Aufbaus des Gegenstands ist bei Twardowski in ihrer faktischen Ausführung direkt sehr verwandt mit derjenigen Betrachtung, die Husserl in seiner apriorisch konzipierten Lehre von den Ganzen und den Teilen realisiert hat und die später Meinong verlangt hat, als er behauptet hat, die Gegenstandstheorie sei "eine daseinsfreie Wissenschaft". Denn Twardowski schreibt ausdrücklich, daß seine Thesen - insbesondere aber diejenigen vom

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[Twardowski, op. cit, S. 39.]

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Gegenstand - einen Anspruch auf Wahrheit unabhängig davon erheben, ob man hinsichtlich der Existenz der Gegenstände einen realistischen, einen idealistischen oder noch einen anderen Standpunkt einnimmt. Denn man betrachtet die Gegenstände ohne Rücksicht darauf, ob sie existieren. Wenn wir aber schon über die Methode der Betrachtung sprechen, so müssen wir hier auch noch darauf aufmerksam machen, daß Twardowski die Erlebnisse und ihre gegenständlichen Korrelate analysiert, ohne sich dabei um deren außerphänomenale äußere Ursachen oder um physiologische Bedingungen zu kümmern. Indem er diese Fragen bewußt aus dem Bereich seiner Untersuchungen ausschließt, nimmt er eine neutrale Stellung zum metaphysischen Problem der Existenz der Welt ein und ist zugleich überzeugt, daß die Ergebnisse seiner psychologistischen Analysen von der Entscheidung dieses Problems unabhängig sind. Als diese besondere Betrachtungsweise der Bewußtseinserlebnisse später von anderen Forschern zum Bewußtsein gebracht und methodisch bearbeitet worden ist, hat sie letztendlich die Gestalt der Phänomenologie als Lehre von den "Phänomenen" angenommen, die an der Schwelle ihrer Analysen die sog. "phänomenologische Reduktion" durchführt, mithin eine neutrale Stellung einnimmt gegenüber der natürlichen, auch von den Einzelwissenschaften vorausgesetzten Überzeugung von der wirklichen Existenz einer Welt, die von den Bewußtseinserlebnissen unabhängig ist. Ich behaupte natürlich nicht, daß dies ausgerechnet unter dem Einfluß der Betrachtungen Twardowskis geschehen sei. Denn Husserl ist sich bekanntlich erst mehrere Jahre nach dem Verfassen der Logischen Untersuchungen eines Unterschieds zwischen der deskriptiven Psychologie und der transzendentalen Phänomenologie bewußt geworden. Die Einflüsse der einen Philosophen auf die anderen ist aber eine Sache und die immanente, historische Entwicklung eines Gedankens, der einmal in Umlauf gebracht worden ist, eine andere. In dieser immanenten Gedankenentwicklung aber bildet die Art und Weise, wie Twardowski seine "psychologistischen" Untersuchungen betrieben hat, - eine Art und Weise, die übrigens in Hauptzügen von Brentano übernommen und bei Twardowski nur in ihrer Rolle deutlicher zum Bewußtsein gebracht worden ist - eine der Phasen der Verwandlung der deskriptiv-psychologischen Untersuchungen in die transzendentalen Analysen der Erlebnisse des reinen Bewußtseins. Es unterliegt übrigens keinem Zweifel, daß sich Twardowski in seinen späteren Jahren der

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transzendentalen Methode der Bewußtseinsanalyse entschieden entgegengesetzt hat und daß er metaphysische Entscheidungen eher vermieden hat, anstatt nach einem Weg zu deren Gewinnung zu suchen. Dies widerspricht jedoch nicht meiner Behauptung. Denn Twardowski hat in den späteren Jahren seines Lebens mehrere Gedanken aufgegeben, deren Keime sich in seiner Habilitationsschrift auffinden lassen. Auf die Theorie des Gegenstands zurückgehend, die Twardowski dargestellt hat, muß man aber noch eines beachten. Diese Theorie analysiert den Gegenstand als ein Ganzes, das aus Teilen verschiedener Art und verschiedener Stufe zusammengesetzt ist, zwischen denen mannigfache Verhältnisse bestehen. Diese Teile nennt Twardowski materiale Bestandteile des Gegenstands, die Verhältnisse zwischen ihnen dagegen formale Bestandteile. Hinter einer solchen Auffassung des Gegenstands verbirgt sich höchstwahrscheinlich eine empiristische Konzeption des Gegenstands als Lockes zusammengesetzte Idee. Es fällt dabei auf, daß Twardowskis Konzeption des Gegenstands keine Spuren eines Einflusses von Ehrenfels' Untersuchungen über die sogenannten Gestaltqualitäten zeigt, die ein paar Jahre früher veröffentlicht worden sind und Twardowski ohne Zweifel bekannt waren. Es kommt dagegen bei Twardowski - vielleicht unter dem Einfluß Sigwarts, auf den Twardowski sich beruft, und wahrscheinlich auch durch die Lektüre des Aristoteles - ein Begriff vor, der daraufhinweist, daß Twardowski, wenn er auch der Auffassung Lockes folgt, den Gegenstand dennoch nicht als eine bloße Klasse von einfachen und gleichgeordneten Elementen betrachtet. Es ist der Begriff des Wesens eines Gegenstands. Twardowski versteht darunter "die Gesamtheit der Eigenschaftsrelationen, aus welchen sich vermöge causaler Abhängigkeit alle anderen Eigenschaftsrelationen eines Gegenstands Q

ableiten lassen" . Die Bestandteile eines Gegenstands sind also nicht alle untereinander gleichgeordnet, sondern bilden eine deutliche Hierarchie im Hinblick auf die Abhängigkeiten, die zwischen dem Wesen eines Gegenstands und dessen übrigen "Bestandteilen" bestehen. Diese Idee wird jedoch von Twardowski nicht verwertet. Und wenn sich auch Echos von ihr noch einige Male hören lassen, so beherrscht doch die Auffassung des Gegenstands als einer gewissen "zusammengesetzten Idee" seine Betrachtungen.

[Twardowski, op. cit, S. 60.]

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Diese Auffassung hat auch zur Folge, daß Twardowskis Analysen zur Annahme von formalen Bestandteilen immer höherer Stufe und zu enormen Verwicklungen fuhren, wobei die Bestandteile einer beliebig hohen Stufe mit den Gegenstandsbestandteilen der niedrigsten Stufe gleichgestellt werden. Wie es sich später herausgestellt hat, führt gerade dieser Zug der Gegenstandstheorie Twardowskis zu sehr wesentlichen Schwierigkeiten und vielleicht sogar zu gewissen Antinomien. Daraufhat einer der Schüler Twardowskis, St. Lesniewski hingewiesen, der infolgedessen versucht hat, eine andere Gegenstandstheorie mit ganz anderen Methoden aufzubauen. Auch der sogenannte Reismus Kotarbinskis, der lediglich Dinge annimmt und den Merkmalen überhaupt eine Existenz abspricht, ist ein Versuch, die Schwierigkeiten zu vermeiden, die Twardowskis Gegenstandstheorie mit sich zu bringen scheint. Jedenfalls hat Twardowskis Theorie auch hierin einen Impuls zu neuen Untersuchungen auf diesem Gebiet gegeben. Das dritte wichtige Problem in der Abhandlung Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand ist schließlich - wie ich schon erwähnt habe - das Problem der allgemeinen Vorstellungen und Gegenstände. Auch in dieser Hinsicht bleibt Twardowski unter dem Einfluß von Lockes Begriff der allgemeinen Idee, ja er baut die Theorie der allgemeinen Gegenstände und Vorstellungen nicht näher aus. Von Belang in dieser Frage ist jedoch nicht so sehr der Inhalt von Twardowskis Auffassungen als vielmehr die Tatsache, daß Twardowski, obwohl er von der empirisch-deskriptiven Psychologie ausgegangen ist, sich den sehr lebendigen anti-aprioristischen Strömungen der Epoche entgegensetzt und sich für die allgemeinen Gegenstände einsetzt. Vielleicht ist es dabei nicht ohne Bedeutung, daß sich Twardowski mit Bolzanos Wissenschaftslehre bekannt gemacht hat. Wie dem aber sei, das Vorkommen dieser These ist eines der Vorzeichen, die daraufhindeuten, daß in der damaligen philosophischen Atmosphäre der extrem psychologistische und empiristische Standpunkt begonnen hat Risse zu bekommen und daß sich eine Rückkehr dazu abzeichnet, neben der empirischen Erkenntnis auch eine apriorische Erkenntnis gelten zu lassen, die auf eine neue Weise, anders als bei Kant verstanden wird. Im Jahre 1900 hat ein Umbruch stattgefunden: Husserls Logische Untersuchungen sind erschienen, die - Frege folgend - die Unmöglichkeit der Aufrechterhaltung des psychologistischen Standpunkts nachgewiesen und einen neuen Versuch geboten haben, eine Theorie der "allgemeinen Gegen-

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stände" und deren Erkenntnis zu begründen. Twardowski war damals - ungeachtet seiner Verteidigung der allgemeinen Gegenstände - noch ein Psychologist und verblieb auf diesem Standpunkt - wie er selbst in seiner "Selbstdarstellung" schreibt - bis zum Jahre 1902, als er sich mit den Logischen Untersuchungen bekannt gemacht hat.10 Wenn ich so einen Umriß der Philosophie Twardowskis vor dem Hintergrund der sich damals entwickelnden Epoche der Untersuchungen gebe, möchte ich heute noch nicht entscheiden, wo ein positiver Einfluß beginnt und wo nur eine sachliche Verwandtschaft oder eine immanente Gedankenentwicklung [vorliegt]. Um eine solche Entscheidung zu treffen, müßte ich bereits über ein ganz anderes historisches Material verfügen als dasjenige, das uns heutzutage zugänglich ist. Ich vergesse auch nicht, wie weit spätere Betrachtungen anderer Gelehrter über das hinausgegangen sind, was Twardowski in seiner Habilitationsschrift gesagt hat. Ich möchte nur behaupten, daß Twardowski, so wie er sich im Leben nie verspätete, dies auch in der Wissenschaft nicht tat: er gehörte nicht zu den Nachfolgern und Epigonen, sondern war ein Wegbereiter in einer Reihe von Problemen, und seine Pionierarbeit war nicht vergeblich auch in den Fällen, in denen spätere Entscheidungen entgegen seinen Theorien ausgefallen sind. Mittlerweile ist jedoch Twardowski 1895 nach Lemberg gekommen, und die Bedingungen der philosophischen Arbeit, die er hier vorgefunden hat, haben ihn gezwungen, seine Pläne zu ändern, und zwar sowohl hinsichtlich dessen, was seitdem seine wichtigste Lebensaufgabe werden sollte, als auch hinsichtlich der Methode und Technik des Schreibens seiner eigenen Werke. Die Philosophie führte damals in Lemberg ein kümmerliches Dasein und wurde wohl in der Ansicht der damaligen hiesigen wissenschaftlichen Welt ziemlich geringgeschätzt. Twardowski begab sich nach Lemberg voller Glauben an das wissenschaftliche Werk Brentanos und der Brentanisten und zugleich stark überzeugt davon, die deskriptiv-psychologische Methode gebe ihm ein ausgezeichnetes Instrument in die Hand, die Philosophie auf streng wissenschaftliche Weise zu betreiben. Er ist auch auf diesem Weg selber weit genug vorgestoßen und hat viele Probleme hinter sich gebracht Indes-

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[K. Twardowski, "Selbstdarstellung", Grazer Philosophische Studien, 1991 Nr. 3, S. 1-23, S. 19-20.]

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sen war hier die Philosophie Brentanos und seiner Schüler - wie wir aus seiner "Selbstdarstellung"11 erfahren - ganz unbekannt (terra incognita, wie er notiert und die Notiz sofort wegstreicht, weil er die Bezeichnung offenbar als zu scharf ansieht); mehr noch, unbekannt war hier sogar die Methode des Philosophierens, in die sich Twardowski in Wien eingelebt hatte. Die Fragen, die dort als längst erledigt, auf jeden Fall aber als mehrfach von verschiedenen Gesichtspunkten aus durchdiskutiert galten, mußten hier als ganz fremd und unverständlich erscheinen. Man hat wohl auch die Bedeutsamkeit dieser Einzelanalysen nicht schätzen können. Man konnte somit nicht weiter gehen, den eigenen Interessen folgend, die immerhin in einer gegebenen Richtung sehr fortgeschritten waren. Man mußte zurückgehen, alles ab ovo anfangen, viele Probleme primitivisieren, um überhaupt ein Gespräch anknüpfen zu können. Mit einem Wort: man mußte wählen: entweder weiterhin an seinen eigenen Problemen arbeiten und die Ergebnisse seiner Arbeit im Ausland veröffentlichen und zugleich in einer fremden intellektuellen Atmosphäre leben, in Abkapsimg gegen die Leute, mit denen man zusammenarbeiten mußte; oder seine weiteren Untersuchungen auf später aufschieben oder jedenfalls in den Hintergrund rücken und sich vor allem einer anderen Aufgabe widmen: der Aufgabe, eine neue philosophische Atmosphäre zu schaffen, neue junge Leute zu erziehen, mit denen man einmal in der Zukunft zusammenarbeiten könnte. Twardowski hat - zum großen Nutzen der polnischen philosophischen Kultur - das letztere gewählt. Er beginnt die Philosophie und das Philosophieren vornehmlich zu lehren, wobei er mit den einfachsten Fragen ansetzt. Dadurch ist in Lemberg - bei seiner großen pädagogischen Gabe und seinem organisatorischen Sinn - nach vielen Jahren Arbeit ein starkes Zentrum der philosophischen Forschimg entstanden. Die Geschichte dieses Zentrums ist uns allen wohl bekannt, und die Verdienste Professor Twardowskis hierin sind gut gewürdigt. Die Gründung dieses Zentrums hatte aber zur Folge, daß seine eigenen rein wissenschaftlichen Publikationen - wie er selbst schreibt - nur unter dem Druck von äußeren Umständen zustande kamen. Und dabei hatten, während die Wiener Arbeiten vor allem seine eigenen Interessen und Nachforschungen zum Ausdruck brachten, die Lemberger Arbeiten vor allem zum Zweck, die jungen Adepten der

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[Vgl. ebenda, S. 14.]

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Lemberger Philosophie zu lehren, und zwar ihnen nicht so sehr die Philosophie, als vielmehr die Art des Philosophierens beizubringen, die Professor Twardowski als einzig richtig angesehen hat. Infolgedessen wurden die Fragen beiseite geschoben, die, obwohl sie den Verfasser selbst bestimmt anregten, für die junge Generation der erst aufwachsenden Philosophen zu schwierig waren. Dies macht sich bereits im Buch Wyobrazenia i pojqcia (Vorsfelli lungen und Begriffe) bemerkbar, in dem Twardowski, an seine früheren Untersuchungen anknüpfend, viele Probleme vereinfachen und viele einfach verschweigen muß. Im Zusammenhang damit haben sich auch gewisse Veränderungen in der Methode des Philosophierens selbst vollzogen. Diese hat gewisse Züge angenommen, die, obwohl sie nur eine Folge von didaktischen Notwendigkeiten waren, bei uns später oft (obgleich irrtümlich) als ein Muster des wissenschaftlichen Betreibens der Philosophie erachtet wurden. Ich möchte hier nicht ins Einzelne gehen, denn ich müßte zuerst die Methode des Philosophierens darstellen, die sich im Buch Vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen abzeichnet und die sich beträchtlich von dem unterscheidet, was man darüber bei uns manchmal hört. Ich möchte dagegen kurz auf diejenigen der in den Schriften Twardowskis aus den Lemberger Jahren enthaltenen Auffassungen hinweisen, die eine rein theoretische Bedeutung besitzen. Hierzu gehört vor allem eine Theorie der Begriffe, die zuerst im Buch Wyobrazenia i pojçcia vorkommt, sodann 1912 13 auch in deutscher Sprache unter dem Titel Uber begriffliche Vorstellungen und wieder auf polnisch in den Publikationen aus dem Jahre 1923 unter dem Titel O istocie pojçc (Vom Wesen der Begriffe/4 veröffentlicht worden ist. Hierzu gehört auch die Verteidigung der Absolutheit der Wahrheit in der Abhandlung "O tak zwanych prawdach wzglçdnych" ("Über sogenannte relative Wahrheiten")15 aus dem Jahr 1900, wie schließlich die Abhandlung O czynnosciach i wytworach

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14 ^

[Lwöw 1898.] [K. Twardowski, Über begriffliche Vorstellungen, Wien 1903.] [K. Twardowski, O istocie pojec (Vom Wesen der Begriffe), Lwów 1924.] [Κ. Twardowski, "O tak zwanych prawdach wzglçdnych", Lwów 1900, deutsche Version: "Über sogenannte relative Wahrheiten", in: Logischer Rationalismus, herausgegeben von David Pearce und Jan Woleáski, Frankfurt am Main 1988.]

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(Funktionen und Gebildeaus dem Jahr 1911, der ich noch ein paar Sätze widmen muß. Die Unterscheidung, der diese Abhandlung laut ihrem Titel gewidmet ist, ist zwar auf ähnliche Weise ein paar Jahre früher von Stumpf in seiner Arbeit 17

Erscheinungen und psychische Funktionen durchgeführt worden; aber der Schwerpunkt der Abhandlung Twardowskis liegt auch nicht in dieser Unterscheidung für sich selbst, sondern darin, wozu sie dienen sollte. Wie ich erwähnt habe, war Twardowski vor 1902 ein Psychologist, besonders in seinen logischen Ansichten. Unter dem Einfluß des 1. Bandes der Logischen Untersuchungen Husserls ist er zur Überzeugung gekommen, daß der Psychologismus in der Logik nicht zu halten ist. Zugleich konnte er aber, wie es scheint, dem positiven Teil der Ausführungen Husserls (im 2. Band des angeführten Werkes) nicht zustimmen, wonach logische Objekte wie Begriffe, Urteile, Theorien gewisse ideale Gegenstände seien. Obwohl er wußte, was sie nicht sind, wußte er noch nicht, als was sie anzusehen sind. Und nun bemüht sich die erwähnte Abhandlung, die folgende Antwort auf diese Frage zu geben: Sie seien Gebilde von psychischen oder psychophysischen Funktionen und als solche zwar nichts Psychisches, aber dennoch etwas, was von diesen Funktionen abhängig ist, von ihnen stammt und durch sie verändert werden kann. Mit anderen Worten: die Abhandlung Funktionen und Gebilde ist ein weiterer Versuch, den Psychologismus zu überwinden. Man kann mit diesem Versuch einverstanden sein oder ihn, besonders in manchen Einzelzügen, die ihm Twardowski gegeben hat, ablehnen. Es ist jedoch zuzugeben, daß er als ein Versuch, zwischen Szylla und Charybdis durchzuschlüpfen, die größte Aufmerksamkeit und eine sorgfaltige Erwägung verdient. Es ist schließlich noch eines zu erwähnen: Zu einer gewissen Zeit begann die philosophische Strömung allmählich nachzulassen, die sich in erster Linie bemüht hatte, die uns in dieser oder jener Erfahrung gegebene Erscheinung

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[K. Twardowski, O czynnosciach i wytworach, Lwów 1912, Nachdruck in: K. Twardowski, Wybrane pisma fllozoflczne, Warszawa 1965, S. 217-240; eine deutschsprachige Version dieser Abhandlung ist inzwischen anhand eines in der Bibliothek des Instituts für Philosophie der Universität Warschau aufbewahrten Originaltyposkriptes unter dem Titel "Funktionen und Gebilde" in Conceptos XXXIX (1996), Nr. 75, S. 157-189 veröffentlicht worden.] [C. Stumpf: Erscheinungen undpsychische Funktionen, Berlin 1907.]

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zu beschreiben·, gleichzeitig rückte an die Spitze der philosophischen Bewegung in Europa und in Polen eine neue Kraft, die versuchte, der Philosophie eine nicht deskriptive, obgleich schon früher manchmal propagierte Methode, nämlich die mathematische Methode zu verleihen. Die logischen Untersuchungen, die sich vom Konkreten immer weiter entfernten und sich in immer höheren und immer stärker formalisierten Abstraktionen bewegten, haben auch in Polen, und zwar unter den nächsten Schülern Twardowskis, Anhänger gefunden. Und nun hat Professor Twardowski, der als erster in Polen schon 1898 Vorlesungen über die neuen Versuche einer Umgestaltung der Logik gehalten hatte, in dieser neuen Tendenz eine Gefahr für diejenige Philosophie verspürt, die sich bemüht, die in ihr untersuchten Tatsachen vor allem zu verstehen. Er hat sich somit genötigt gesehen, sich der neuen Strömung entgegenzusetzen. Im Jahre 1921 hat er in der Zeitschrift Ruch Filozoficzny einen Aufsatz unter dem Titel "Symbolomania i pragmatofobia" 18

("Symbolomanie und Pragmatophobie") veröffentlicht. Die warnenden Worte, die er dort geäußert hat, sind heutzutage ebenso aktuell wie damals. Wenn wir nun zum Schluß, unter Hintansetzung von all dem, was man hier noch besprechen müßte, uns in letzter Abkürzung die Rolle Kasimir Twardowskis in der Entwicklung der polnischen Philosophie zum Bewußtsein bringen wollen, drängt sich vor allem eine Tatsache auf: daß es ihm nämlich gelungen ist, in der Generation der jüngeren polnischen Philosophen als er - wie auch im allgemeinen Bewußtsein der aufgeklärten Gesellschaft die Überzeugung zu bilden, daß die Philosophie auf eine intellektuell und moralisch verantwortungsvolle Weise betrieben werden kann und soll. Und daß ein solches Philosophieren einen bedeutsamen Einfluß auf das menschliche Leben haben kann und muß. Und obwohl er später manch eine Enttäuschung erlebt hat hinsichtlich dessen, was in den philosophischen Untersuchungen zu erreichen ist, obwohl er nicht alle Thesen bestätigt hat, mit denen er einmal in Lemberg angekommen war, obwohl sich gegenwärtig die allgemeine wissenschaftliche und geistige Atmosphäre radikal verändert hat, oder vielleicht gerade in Anbetracht dieser Veränderung, würde ich auch heute noch, nach 43 Jahren mit voller Überzeugung dieselben Worte aussprechen, lg [K. Twardowski, "Symbolomania i pragmatofobia" ("Symbolomanie und Pragmatophobie"), Ruch Filozoficzny 6,1921, S. 1-10.]

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mit denen er einst seine erste Vorlesung an der Universität Lemberg am 15. November 1895 beendet hat. Sie lauten: "Die Philosophie ist auch eine Wissenschaft, sie ist auch ein Wissensgebiet wie jedes andere; es ist ihr Zweck, Wahrheit zu suchen, und in jeder Frage gibt es nur eine einzige Wahrheit; kein Mensch hçit alle Wahrheiten erobert, in welcher Hinsicht auch immer aber uns jemand eine Wahrheit zeigen mag, wir werden sie von ihm mit Dankbarkeit annehmen. Außer dem Suchen nach der Wahrheit hat die Wissenschaft keinen anderen Ehrgeiz, und wer nach der Wahrheit sucht, will nie die ganze Wahrheit selbst finden oder ihr Entdecken sich selbst als Verdienst anrechnen. Wenn alle, welche die Philosophie treiben, sich deren wissenschaftliche Berufung tief zu Herzen nehmen, dann werden sie sich nicht mehr in größere oder kleinere Richtungen zerspalten; mit gemeinsamen Kräften nach einem gemeinsamen Ziel strebend werden sie vielmehr einen Weg der gewissenhaften und allein auf die sachlichen Argumente geöflheten Forschung zur Wahrheit schreiten, ohne daß sich die einen von ihnen über die andern erheben, sondern immer gedenkend des Wortes von Thomas à Kempis: 'Wen die Wahrheit für sich gewonnen hat, den wird auch die ganze Welt nicht in Hochmut versetzen"'.

Bemerkungen über einige ontologischen Thesen im Buch Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen von Kasimir Twardowski1

Vorbemerkung Es gibt bisher strenggenommen keine wissenschaftliche Bearbeitung der philosophischen Ansichten K. Twardowskis, und zwar weder der Gesamtheit seines wissenschaftlichen Werks noch insbesondere der in der Abhandlung Zur Lehre enthaltenen Thesen. Es gibt zwar viele informative Gelegenheits-, hauptsächlich Jubiläumsschriften. Es fehlt jedoch bisher eine Arbeit, die ins Einzelne gehen und genau untersuchen würde, was eine eigene Errungenschaft Twardowskis ist, was dagegen aus der Literatur stammt, deren er sich bediente, sowie aus der Atmosphäre, in der er damals lebte, eine Arbeit schließlich, die eine sachliche Diskussion mit seinen Thesen durchführen würde. Übrigens wird ein solches Schicksal nicht nur Twardowski zuteil. Man könnte sagen, daß es überhaupt keine polnische, wissenschaftlich bearbeitete Geschichte der polnischen Philosophie gibt, ausgenommen sehr oberflächliche Zusammenfassungen mancher Arbeiten in einigen Lehrbüchern.3 Mein heutiger Vortrag wird diesem Mangel in bezug auf das Buch Zur Lehre nicht abhelfen; zum Teil deswegen, weil ich bei seiner Vorbereitung zu wenig Zeit hatte, zum Teil auch deswegen, weil das Thema den Rahmen eines Vortrags sprengen würde. Er wird eher gleichsam eine Aufforderung

[Obersetzung von: "Uwagi o niektórych twierdzeniach ontologicznych w ksi^zce Kazimierza Twardowskiego pt Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen", Ruch ßlozoftczny, 25 (1966), Nr. 1/2, S. 21-35.] Ein Vortrag in der Jubiläumssitzung anläßlich des 60jährigen Bestehens der Polnischen Philosophischen Gesellschaft am 30. März 1965 in Warschau. Eine zeitliche Beschränkung des Vortrags hat es verursacht, daß er nur eine einzige Frage die verschiedenen ontologischen Probleme im Buch Twardowskis bespricht [K. Twardowski, Zur Lehre vom Inhalt und Gegenstand der Vorstellungen. Eine psychologische Untersuchung, Wien 1894 (unveränderter Kachdruck mit einer Einleitung von Rudolf Haller: München; Wien: Philosophie Verlag, 1982).] [Hier {Ohrt Ingarden ein paar polnische Lehrbücher der Geschichte der Philosophie an, deren Titel wir aber auslassen, weil sie für einen deutschsprachigen Leser wenig interessant sein dürften.]

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Ontologische Thesen im Buch Zur Lehre von K. Twardowsh

sein, mit solchen wissenschaftlichen Untersuchungen über die Philosophie Twardowskis endlich zu beginnen. Wenn vom Buch Zur Lehre die Rede ist, pflegt man bei uns zu sagen, sein Verdienst sei die Durchführung einer Unterscheidung zwischen dem Gegenstand, dem Inhalt und dem Akt der Vorstellung gewesen. Schon im Vortrag, den ich an der Trauerfeier 1938 gehalten habe, 4 habe ich bemerkt, daß dies nur eines der drei Hauptprobleme dieser Abhandlung ist und daß Twardowski bei dieser Unterscheidung nicht so originell war, weil er u. a. von Kerry5 beeinflusst wurde, den er selbst viele Male anfuhrt und dem er eine Unterscheidung zwischen dem Inhalt und dem Gegenstand der Vorstellung im Bereich der Vorstellungen von Zahlen zuschreibt. Ähnlich hat sich einmal auch Husserl 1913 geäußert, indem er in den Ideen geschrieben hat, daß Twardowski in der positiven Ausarbeitung der betreffenden Begriffe "nicht erheblich darüber hinausgekommen ist, was den Philosophen der früheren Generationen (trotz ihrer unvorsichtigen Vermengungen) wohl bekannt war" 6 . Als ich jetzt Zur Lehre erneut gelesen habe, bin ich zur Überzeugung gekommen, daß diese Unterscheidung, obgleich sie im Titel der Abhandlung Twardowskis angekündigt wird, eher eine Vorbereitung zu seinen Betrachtungen über die Form des Gegenstands überhaupt und über den sogenannten allgemeinen Gegenstand ausmacht und daß diese "psychologische" - wie der Titel ankündigt - Abhandlung mit ihrer Problematik weit über den Bereich der Psychologie hinausgeht. Die genannten Probleme umfassen die Paragraphen 7, 9 und 10, hierzu gehören aber auch die Betrachtungen in §§ 11-13, die zugleich auch eine Vorbereitung zu § 15 mit dem Titel "Die Gegenstände der allgemeinen Vorstellungen" ausmachen. Damit hängt

[Vgl. den Text "Die wissenschaftliche Tätigkeit Kasimir Twardowskis" im vorliegenden Band.] Vgl. Kerry, "Ober Anschauung und ihre psychische Verarbeitung" [Vierteljahresschriftfür wissenschaftliche Philosophie, 1885-1891]. Twardowski zitiert übrigens in seinen Betrachtungen eine Reihe von anderen damals bekannten Forschern. Wie Twardowski schreibt, "hat Kerry diesen Unterschied für die Vorstellungen von Zahlen, also für Vorstellungen, deren Gegenstände nicht real sind, nachgewiesen" (op. cit, S. 17). Er beruft sich an dieser Stelle auch auf Zimmermann sowie auf Bolzano, zu dem er auch durch Kerry gelangt ist E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, [Hamburg 1913] Band 1, S. 267.

Vorbemerkung

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aber eng auch § 14 über die sogenannten indirekten Vorstellungen zusammen, der es erlaubt, Twardowskis Auffassung zu verstehen, der zufolge die sogenannten Allgemeinvorstellungen gerade solche indirekten Vorstellungen seien. Rein zahlenmäßig betrachtet, beziehen sich auf die Probleme des Unterschieds zwischen dem Gegenstand und dem Inhalt der Vorstellung die ersten 40 Seiten, auf die ontologischen Probleme dagegen 71 Seiten. Ich muß mich hier auf eine Besprechung der Lösungen der genannten ontologischen Probleme beschränken, die sich in den §§9 und 10 der Abhandlung Zur Lehre befinden; ich werde zugleich versuchen, mir auf Grund des Textes Twardowskis klarzumachen, was in den beiden Fällen offen gelassen wurde (worüber uns übrigens der Verfasser selbst teilweise informiert). Ich kann hier aber - allein schon aus Zeitmangel - weder eine weitergehende Kritik der Stellung Twardowskis in den beiden Fragen durchführen, noch Twardowskis Ansichten über die "allgemeinen Gegenstände" und deren Vorstellungen in Betracht ziehen. Ich verzichte auch auf eine Analyse der Frage, in welchem Verhältnis Twardowskis Ansichten zu den Thesen seiner Vorgänger stehen; dies erfordert eigene ziemlich umfangreiche Untersuchungen. Eine besondere Erwägung erfordert auch der Vergleich der Auffassung Twardowskis mit den Betrachtungen späterer Forscher. Diejenigen unter den verehrten Zuhörern, die sich mit dem 2. Band meines Buches Der Streit um die Existenz der Welt bekannt gemacht haben, zweifeln sicher nicht daran, daß ich weder Twardowskis Ansichten über den formalen Aufbau des Gegenstands noch über die sogenannten allgemeinen Gegenstände teile, obwohl ich - bei einer gewissen Bedeutung des Ausdrucks "allgemeiner Gegenstand" der These beipflichten kann, daß die allgemeinen Gegenstände nicht a limine abzulehnen sind, wie dies ζ. B. aus Lesniewskis "Beweis" folgen würde, daß es keine solchen Gegenstände gebe. Ich glaube jedoch, daß die Probleme selbst, die Twardowski bearbeitet, sehr bedeutsam sind, und ich bin mir dessen bewußt, daß es sehr schwierig ist, eine Lösung [dieser Probleme] zu gewinnen, die keine wesentlichen Bedenken erweckt. Ich glaube schließlich, daß Twardowski, mag er auch von der näheren oder entfernteren philosophischen Tradition noch so abhängig gewesen sein, schon

[Vgl. S. Leániewski, "Kiytyka zasady wylqczonego árodka" ["Kritik des Prinzips des ausgeschlossenen Dritten"], Przeglqd Filozoficzny, Warszawa 1913.]

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Ontologische Thesen im Buch Zur Lehre von K. Twardowski

dadurch allein, daß er diese Probleme aufgenommen hat, zu neuen Untersuchungen über ihre Lösung beigetragen hat. Ein Beweis dafür sind ζ. B. Husserls Studien im 2. Band der Logischen Untersuchungen (Untersuchungen Π und III), die "Gegenstandstheorie" Meinongs und der Gruppe seiner Schüler in Graz, wie auch schließlich die - dem Standpunkt und der Methode Twardowskis so entgegengesetzte - Ontologie Lesniewskis oder der Reismus Kotarbinskis. Während die ersteren gewisse modifizierende Fortsetzungen von Twardowskis Betrachtungen ausmachen, sind die letzteren aus einem prinzipiellen Widerspruch gegen die von Twardowski vorgeschlagenen Lösungen hervorgegangen und versuchen die Schwierigkeiten zu überwinden, zu denen diese Lösungen fuhren. Über den Aufbau des Vorstellungsgegenstands Die Gestalt der Theorie des Gegenstands, die Twardowski angegeben hat, wurde, wenigstens bis zu einem gewissen Grad, durch die Unterscheidung von Form und Materie geprägt. Wie ich viele Jahre später zu zeigen versuchte, gibt es 9 verschiedene Arten, aufweiche diese vieldeutigen und miteinander oft vermengten Begriffe "Form" und "Materie" einander gegenübergestellt werden. Twardowski fuhrt einen dieser Begriffe ein und benimmt sich so, als ob keine anderen, damit durcheinandergebrachten Begriffe vorhanden wären. In seinen weiteren Ausführungen aber versucht er einen dieser anderen Begriffe der Form des Gegenstands, nämlich den Begriff der Eigenschaft, auf den von ihm verwendeten Begriff der Form zurückzuführen und kann dies nicht tun, ohne sich zugleich anderer, von ihm nicht deutlich unterschiedener Formbegriffe zu bedienen. "Wo immer man von den Teilen eines Zusammengesetzten spricht, hat man" - schreibt Twardowski - "neben dem, was man als Teil im gewöhnlig chen Sinne des Wortes bezeichnet, auch noch die Beziehungen zu berücksichtigen, in welchen jene Teile zu einander stehen (...). Die Gesamtheit der zuerst genannten Teile pflegt man als den Stoff zu bezeichnen, aus welchem das Ganze gleichsam besteht, während die Gesamtheit der Bestandteile zweiter Art die Form des Ganzen genannt wird. Wir unterscheiden demnach an

Was ist hier gemeint? Die "Stücke"?

Der Außau des Vorstellungsgegenstands

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jedem Zusammengesetzten die materialen und die formalen Bestandteile, Q

aus denen es besteht." Der Gegenstand wird hier also von vornherein als ein Ganzes, und zwar ein zusammengesetztes Ganzes betrachtet.10 Um zu erklären, wie er aufgebaut ist, müßte man alle Teile angeben, aus denen er besteht, zuerst die materialen, dann die formalen und allgemein gesagt, wenn es sich um alle Gegenstände (bzw. Ganze) handelt, die Teile jeglicher Art. Die Untersuchung, welche Arten von Teilen und welche Arten von Ganzen es überhaupt gibt, gehört nach Twardowski zu einer allgemeinen Relationstheorie, mit der

^

Vgl. Twardowski, op. cit, S. 48 [fortan werden die Seitenangaben zu Ingardens Zitaten aus dieser Abhandlung Twardowskis manchmal - wie im Original selbst - im Haupttext untergebracht], Jemand könnte sagen, daß ich hier zu unrecht von den "zusammengesetzten Ganzen" zu den Gegenständen abergehe. Twardowski betrachtet aber "zusammengesetzte Ganze" bestimmt als Gegenstände bzw. spricht von ihnen lediglich als von solchen. Es wäre von mir unrichtig, wenn ich, anstatt mich hier auf die zusammengesetzten Gegenstände bzw. auf die Gegenstände, die zusammengesetzte Ganze sind, zu beschränken, sofort von den Gegenständen überhaupt spräche. Es liegen jedoch zwei Möglichkeiten vor: Entweder würde Twardowski sagen, es gebe gar keine nicht zusammengesetzten (einfachen) Ganze bzw. Gegenstände; dann wäre es aber unverständlich, warum Twardowski speziell zusammengesetzte Ganze unterscheidet Oder aber Twardowski würde sagen, daß sein Verständnis von Form und Materie die einfachen (nicht zusammengesetzten) Ganzen bzw. Gegenstände nicht betreffe; und dann hätten die letzteren überhaupt keine "Form" in der von Twardowski gewählten Bedeutung oder wären auch in keiner anderen Bedeutung geformt. Wozu würden wir dann [die Eigenschaft] rechnen, daß sie "einfach" (nicht zusammengesetzt) sind? Auf jeden Fall wäre dann die Theorie Twardowskis nicht ganz allgemein und sollte durch eine Analyse der nicht zusammengesetzten Gegenstände (Ganzen) ergänzt werden. Twardowski sagt aber, daß das Wort "Teil" in der allgemeinsten Bedeutung zu verstehen sei, als "überhaupt Alles, was sich an einem Vorstellungsgegenstande unterscheiden läßt" (op. cit., S. 48-49). Daß aber ein Vorstellungsgegenstand einfach, nicht zusammengesetzt ist, gehört wohl zu dem, was in ihm "unterscheidbar" ist; er besitzt somit mindestens einen Teil, ist also zusammengesetzt, was sofort einen Widerspruch ergibt Daher empfiehlt es sich wohl eher anzunehmen, daß nach Twardowski jeder Gegenstand ein zusammengesetztes Ganzes ausmacht und umgekehrt; dann ist aber der von mir vollzogene Obergang von den zusammengesetzten Ganzen zu den Gegenständen nicht unberechtigt. Die Frage der Existenz von nicht zusammengesetzten Gegenständen wird nicht entschieden durch Twardowskis Erklärung: "Indem wir dasjenige, was durch eine Vorstellung vorgestellt ist, als ihren Gegenstand bezeichnen ...". Sie wird auch nicht durch die Behauptung (op. cit, S. 40) geklärt, die ich weiter unten anführe.

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Ontologische Thesen im Buch Zur Lehre von K. Twardowski

er sich nicht befassen will. (Genauer: es handelt sich um "die Arten, in welchen etwas Teil eines Ganzen ist, und die Arten, auf welche ein Ganzes aus Teilen besteht"11.) Twardowski interessiert nur "das allen Arten von Teilen und allen Formen der Zusammensetzung aus Teilen Gemeinsame, der Typus, dem jede Synthese folgt, und der den verschiedensten Weisen, in denen ein 12

Ganzes zusammengesetzt sein kann, zu Grunde liegt" . Während also die Relationstheorie sich mit einzelnen Arten von Teilen und deren Verknüpfungen zu einem Ganzen zu befassen hätte, stellt sich Twardowski noch eine allgemeinere Aufgabe, die sich auf Ganze jeglicher Art bezieht. Hier erheben sich sofort eine Reihe von Fragen. Bei dem von Twardowski eingeführten Begriff von Form und Materie läßt sich nämlich schwierig sagen, was an diesen Ganzen seine Theorie betreffen soll. Man kann jedenfalls nicht sagen, diese Theorie betreffe allein die Form eines Ganzen. Denn sie betrifft alle Teile und deren Zusammenhang miteinander bzw. deren gemeinsames Auftreten im Gegenstand. Was ist aber dieser Zusammenhang von ihnen? Ist er etwas Drittes im Verhältnis zur Form und Materie oder gehört er zu dem, was Twardowski die "Form" nennt? Was ist "das allen Arten von Teilen und allen Formen der Zusammensetzung (...) Gemeinsame"? Ist hier unter "der Form" der Zusammensetzung eine Beziehung zu verstehen? Wovon aber? - der "Zusammensetzung", mithin, wie es scheint, einer bestimmten "Beziehung". Es handelt sich somit um eine Beziehung einer Beziehung, aber einer Beziehung wozu? Zu einer anderen Beziehung oder zu einem Teil, der keine Beziehung ist? Oder wird hier das Wort "Form" in einer ganz anderen Bedeutung gebraucht? Und was ist jenes Gemeinsame im Verhältnis zu einzelnen Teilen oder Arten von Teilen? Ist dies ihre "Form", also - um sich an Twardowskis Begriffe zu halten - die Gesamtheit der Beziehungen der darin enthaltenen Teile? Oder ist es ein Teil davon, der keine weitere Beziehung mehr ausmacht, mithin ein "materialer" Teil derselben Teile? Oder gehört jene Art von Teilen als Teile überhaupt nicht zum Umfang der von Twardowski eingeführten Begriffe "Form" und "Materie" oder "Ganzes" und "Teil"? Und soll "das Gemeinsame" sowohl den Arten von Ganzen als auch den Formen der Zusammensetzung gemein-

11

Op. cit, s. 48.

12

Ebenda.

Der Aufbau des Vorstellungsgegenstands

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sam sein oder jedem der Glieder der Gegenüberstellung für sich? Man könnte meinen, das erstere sei der Fall; dann würde sich aber ein prinzipieller Unterschied abzeichnen zwischen den Teilen als Teilen, die keine Beziehung sind, und den Teilen, die eben diese Beziehimg bilden. Twardowski würde vermutlich antworten, es verhalte sich damit tatsächlich so - die einen seien eben formale, die anderen materiale Beziehungen. Was entscheidet aber darüber, daß sie alle gleichermaßen "Teile" sind? Darauf antwortet Twardowski dadurch, daß er seinen verallgemeinerten Begriff eines Teils einfuhrt. Ich werde noch darauf zurückkommen. Dies sind Schwierigkeiten, die dem Leser in den Sinn kommen, wenn ihm die Aufgabe klar geworden ist, die sich Twardowski stellt. Vielleicht sollten wir uns aber in Geduld fassen und die Ergebnisse der ganzen Betrachtung abwarten; dann werden wir sagen können, welche der zur Zeit vorliegenden Eventualitäten in ihrem Licht zutreffen. Es ist dabei nicht zu vergessen, daß hier nicht von allen Gegenständen (Ganzen) die Rede sein soll, sondern, wie der Verfasser sogleich in den darauffolgenden Sätzen betont, nur von sog. 13

Vorstellungsgegenständen. Da dies aber eine so allgemeine Theorie sein soll, ergibt sich wohl daraus, daß das, womit sie sich befaßt, ein Gegenstand einer ^//ge/nei'«vorstellung ist, nicht die einzelnen Vorstellungsgegenstände, die man einer Untersuchung unterziehen sollte, um durch induktive Verallgemeinerung irgendwelche allgemeinen Sätze zu gewinnen, und daß Twardowski seiner Theorie eine dignitatem veritatis einer höherer Ordnung zuweisen möchte als [die] einer empirischen Verallgemeinerung. Diese Vermutung, die von Twardowski expressis verbis nicht geäußert wird, wird uns durch die Tatsache bestätigt, daß er erklärt, zur Erfüllung dieser Erkenntnisaufgabe sei weder "eine Kenntnis sämtlicher Elemente, aus denen sich die Vorstellungsgegenstände zusammensetzen," noch eine Kenntnis der14Art, "in welcher das Zusammengesetzte aus Einfachem wird", notwendig. (Twardowski setzt das sofort mit einer genetischen Betrachtung gleich, anstatt auf die Arten der 13

14

Diese Bemerkung Twardowskis, es handle sich nur um die " Vorstellungsgegenstände", erlaubt es uns zu verstehen, warum er seine ganze Betrachtung "eine psychologische Untersuchung" nennt - beim damaligen Verständnis der Brentanoschen deskriptiven Psychologie. Darin könnte man auch ein Anzeichen davon sehen, daß Twardowski hier einen ersten Schritt zu dem tut, was Husserl später die Phänomenologie nennt Ebenda, S. 48.

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Zusammensetzung von Ganzen aus Bestandteilen hinzuweisen.15) Es wird nur vorausgesetzt, daß es zusammengesetzte Gegenstände (Ganze) gibt (und dies heißt: daß sie vorgestellt werden), zu Gegenständen aber gehört bekanntlich jedes "etwas", das mit Beziehung auf das Vorstellungssubjekt, dann aber auch abgesehen von dieser Beziehung so genannt wird.16 Gegenstände sind dabei real oder irreal, möglich oder unmöglich, existierend oder nichtexistierend, und mit der Existenz eines Gegenstands hat seine Realität 17

nichts zu tun. All dies im Gedächtnis behaltend, möchten wir nunmehr Twardowskis Thesen über die "materialen" und die "formalen" Teile eines Ganzen (Gegenstands) in Erinnerung rufen. Das Wort "Teil" soll "in dem weitesten Sinne" verstanden werden, nämlich als "alles, was sich an einem Vorstellungsgegenstande unterscheiden läßt, ohne Unterschied, ob von einer wirklichen Zerlegung oder nur einer gedanklichen in das Unterscheidbare gesprochen werden kann" (S. 48/9). Auf diese Weise wird der Teil im Rekurs auf die Erkenntnistätigkeit des Unterscheidens bestimmt; man sollte dabei vermuten, daß diese Unterscheidung in jedem Fall gleich genau ist - sowohl mit Rücksicht darauf, von wem und wann diese Unterscheidung durchgeführt wird, als auch mit Rücksicht auf das, was unterschieden werden kann; ansonsten wäre nämlich nicht immer dasselbe ein Teil eines Ganzen. Oder vielleicht ist dies im Sinne der jeweiligen Effizienz des Unterscheidens zu verstehen, so daß gerade das Teilsein nicht von dem abhängt, was dieser Teil ist, sondern von der sich gerade vollziehenden Unterscheidung und deren Effizienz. Diese Frage ist auch insofern schwierig zu entscheiden, als man hier von jenem "Vorstellungsgegenstand" spricht, obwohl in anderen Fällen nur vom "Gegenstand"

15

16 17

Twardowski weist die Frage nach dem "Werden des Zusammengesetzten aus Einfachem" nicht als sinnlos zurück, er sagt lediglich, daß diese Frage nicht berührt zu werden brauche. Daraus würde wohl folgen, daß hier wenigstens eine Möglichkeit der Existenz "des Einfachen" zugelassen wird. Dem würde auch entsprechen, daß der Gegenstand bei ihm als Korrelat eines Namens aufgefaßt wird und daß er selbst den Namen "das Einfache" akzeptiert, ohne irgendwo zu zeigen, daß dieser mit einem Widerspruch behaftet ist Ebenda, S. 40. Vgl. ebenda, S. 36.

Der Außau des Vorstellungsgegenstands

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für sich selbst gesprochen wird, was - wie es sich zeigen wird - nicht ohne Belang ist. Diese Bestimmung eines Teils ist insofern nützlich, als sie uns sagt, wie weit - nach dem Verfasser - der übliche Begriff "Teil" zu erweitern ist, der in der Umgangssprache im allgemeinen nicht auf reell abtrennbare Teile ("Stücke", wie Husserl sagen wird) beschränkt ist. Sie erklärt uns jedoch nicht den wichtigsten Punkt: was darüber entscheidet, daß das Unterscheidbare ein Teil des Gegenstands ist. Dies sollte das Funktionswort "in" nahelegen, das in der angeführten Bestimmimg vorkommt. Aber dies ist gerade die Frage, was dieses "in" bedeutet und ob es in allen Fällen die gleiche Bedeutung besitzt. Sagen wir z. B. von einer Person, daß sie "in" einem Boot sitzt, dann ist damit noch gar nicht gesagt, daß diese Person ein Teil des Bootes ist; und sie kann sogar "im" Boot von einem Ruder unterschieden werden, das ebenfalls "im Boot" liegt. Ohne eine Präzisierung dieser speziellen Bedeutung - und ich muß zugeben, daß dies gar nicht einfach ist - ist Twardowskis Erklärung darüber, was ein "Teil" eines Ganzen ist, nicht instruktiv genug, zumal man nicht weiß, ob eine Beziehung wirklich in derselben Bedeutung "in" einem Gegenstand ist wie z. B. die Farbe oder ein Bein eines Tisches. Eine Bestimmung, die diesen Begriff klar macht und erweitert, setzt schon voraus, daß "das Unterschiedene" ein Teil ist, mithin zum Gegenstand gehört. Die Behauptung, dies sei ein ursprünglicher oder zum "Ganzen" korrelativer Begriff, kann immer vorausgesetzt werden, dies nützt jedoch in der in Rede stehenden Frage nicht viel. Unter den "Teilen" werden wiederum "materiale" und "formale" Teile unterschieden. Bei den formalen scheint der Umfang [dieses Begriffs] deutlich zu sein, sofern der Begriff einer Beziehung (oder eines Verhältnisses) eindeutig und von scharfem Umfang ist; denn es wird gesagt, daß die formais len Teile Beziehungen zwischen den Teilen seien. Ich habe jedoch keine Bestimmung eines Verhältnisses gefunden, außer daß man von den "Gliedern" eines Verhältnisses spricht; man könnte somit sagen, ein Verhältnis sei etwas, was "Glieder" hat, doch man weiß schon nicht, ob es auch "eingliedrige" Verhältnisse geben kann. Wie übrigens bekannt, hat Twardowski (vielleicht später) behauptet, daß eine Beziehung bestehen oder existieren könne, 18

Vgl. ebenda, S. 48.

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obwohl ihre Glieder nicht existieren. Nach der Analyse des "Gegenstands", die Twardowski in der Abhandlung Zur Lehre angibt, bestehen die Beziehungen als formale Teile immer zwischen "Teilen" eines Gegenstands (Ganzen), sei es zwischen materialen oder formalen (Beziehungen zwischen Beziehungen), wie auch zwischen den Teilen und dem Ganzen. "Beziehungen, in welchen jene Teile zu einander stehen" - "Teil im gewöhnlichen Sinne des Wortes" (S. 48). Ob also Beziehungen möglich sind, deren eines Glied ein materialer Teil und das andere ein formaler Teil ist, kann man nicht leicht sagen, doch aus der Bestimmung eines formalen Teils würde dies eher folgen. Von den materialen Teilen sagt der Verfasser nicht positiv, was sie sind; man kann also entweder dadurch herausbekommen, was Twardowski damit meint, daß man sie von den Beziehungen ausschließt, (alles, was ein Teil eines Gegenstands und keine Beziehung ist, sei ein materialer Teil) oder durch Beispiele. Dies sind also - wie später Husserl gesagt hat - "Stücke" oder "metaphysische Teile" eines Ganzen, d. h. unabtrennbare Teile wie eine Farbe, ein Geschmack, eine Gestalt, eine Glätte usw., was bereits Stumpf in seiner Unterscheidimg von selbständigen und unselbständigen Teilen erfaßt hat. Nach Twardowski sollten sie jedoch nicht mit Rücksicht darauf unterschieden werden, daß die einen getrennt (fur sich) existieren können, während bei den anderen dies nicht möglich ist, weil er selbst die Frage nach ihrer Existenz oder Nichtexistenz überhaupt außer Betracht läßt. Wenn er von Gegenständen und ihren Bestandteilen spricht, sieht er von ihrer Existenz oder Nichtexistenz ab und betrachtet sie lediglich "insoferne sie durch entsprechende Vorstellungen vorgestellt werden, als Vorstellungsgegenstände" (S. 51). Twardowski läßt jedoch die herkömmliche Bestimmung des "metaphysischen Teils" als "das an einem Ganzen vermöge der Abstractionsfahigkeit Unterscheidbare, aber nicht von ihm in Wirklichkeit Trennbare" (S. 58 Anm.). Und er fugt hinzu: "So sind Ausdehnung, Grösse, Farbe, Gewicht, kurz Alles, was der gewöhnliche Sprachgebrauch als Eigenschaften bezeichnet, metaphysische Teile" (ebenda). Was es aber bedeutet, daß diese Teile "in Wirklichkeit" nicht trennbar sind, wenn sich dies nur auf Vorstellungsgegenstände beziehen soll, ist nicht klar und erweckt den Verdacht, daß auf diese Weise die Existenz des Unterscheidbaren dennoch wieder in die Bestimmung einbezogen worden ist oder - wie Twardowski selbst woanders bemerkt - daß sich das Problem auf die getrennte Unterscheidung in der

Der Aufbau des Vorstelhmgsgegenstands

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Vorstellung verschiebt. Es entstellt jedoch noch eine andere Schwierigkeit: der Terminus "Eigenschaft" in der Terminologie Twardowskis bezeichnet nämlich nur das Verhältnis des "Habens" von Teilen durch ein Ganzes. Aus den angegebenen Beispielen und der angeführten Berufung auf den gewöhnlichen Sprachgebrauch geht hervor, daß ein "metaphysischer Teil" ein materialer Teil, mithin für sich selbst kein Verhältnis sein soll, und nach einem anderen Terminus Twardowskis ist er eine "Beschaffenheit". Müssen wir aber mit Rücksicht auf die angegebene Bestimmung des "metaphysischen Teils" nicht anerkennen, daß alle Beziehungen auch zu solchen Teilen gehören? Sie scheinen nämlich von ihren Gliedern "in Wirklichkeit" nicht abtrennbar zu sein, wenn sie sich auch von diesen durch Abstraktion unter19

scheiden lassen. Dann würde aber auch der Begriff eines metaphysischen Teils alle Beziehungen umfassen. Indessen weisen wenigstens die Beispiele und die Gebrauchsweise des Wortes "Beschaffenheit" darauf hin, daß die metaphysischen Teile materiale Teile eines Gegenstands sind; ein solcher Teil müßte somit auch diejenige Beziehung sein, welche die Eigenschaft genannt wird, während sie als Beziehung ein formaler Bestandteil des Ganzen ist. Vielleicht soll man aber noch eine andere Lösung dieser Schwierigkeit suchen. Twardowski betont mehrfach in Zur Lehre, daß die Beziehungen durch die Beschaffenheit der materialen Bestandteile (mithin deren metaphysische Teile) bzw. durch ihre Glieder bestimmt werden. Es liegt somit die Vermutung nahe, daß, wenn zwei Beziehungen Glieder einer zwischen ihnen bestehenden Beziehung ausmachen - worüber Twardowski ja oft spricht - , diese Beziehung dann als dasjenige, was die letztere Beziehung bestimmt, eine "Beschaffenheit", mithin ein metaphysischer Teil ist, d. h. etwas, was gegenüber dieser Beziehung einen materialen Bestandteil eines Ganzen: der 19 Twardowski spricht hier deutlich von der Beziehung des Habens von Teilen durch ein Ganzes: "Die Beziehungen zwischen dem Ganzen als solchem und seinen Teilen sind ja auch etwas an zusammengesetzten Gegenständen Unterscheidbares, aber nicht von ihnen anders als in abstracto Trennbares" (op. cit, S. 59). Gilt dies aber nach Twardowski für alle Beziehungen? Aus den Jahren, in denen ich mit Twardowski im Kontakt war (also vor allem nach 1925) weiß ich, daß Twardowski behauptete, eine Beziehung bestehe ohne Unterschied, ob ihre Glieder existieren oder nicht Sie wäre also wohl "in Wirklichkeit trennbar" von ihren Gliedein.

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Ontologische Thesen im Buch Zur Lehre von K. Twardowski

Beziehung zwischen den Beziehungen bildet. Die Begriffe von materialen und formalen Teilen würden sich dann relativieren und keinen scharfen Gegensatz bilden. Vielleicht würde aber Twardowski anders sagen: Was eine Beziehung zwischen zwei Beziehungen R j und R2 bestimmt, sind nicht diese Beziehungen selbst, sondern deren Beschaffenheit, mithin gewisse "metaphysische Teile" von ihnen, also ihre materialen Bestandteile. Die formalen Bestandteile eines Ganzen würden in diesem Fall für sich selbst gewisse materiale Teile besitzen oder - wie man in einer anderen Terminologie sagen könnte - gewisse Eigenschaften, durch welche verschiedene Beziehungen differenziert würden. Von solchen Eigenschaften oder von einer unterschiedlichen Beschaffenheit der Beziehungen spricht man auch in der allgemeinen Relationstheorie, in der Logik oder Mathematik, wenn man von ihrer "Transitivität" oder "Nichttransitivität" spricht oder wenn man sagt, daß eine Beziehung "reflexiv" sei und eine andere nicht oder daß die eine die "Revers"beziehung zu der anderen sei usw. Indessen macht Twardowski bei allen Einteilungen von Relationen, mit denen er sich in seiner Gegenstandstheorie befaßt, den Charakter ihrer "Relationalität" nicht klar, sondern gibt nur an, welche Glieder in der betreffenden Relation auftreten; er spricht also z. B. von den Beziehungen zwischen den Teilen eines Ganzen und dem Ganzen, von den Beziehungen zwischen einzelnen Teilen desselben Ganzen, von den Beziehungen zwischen Beziehungen usw. Es fragt sich auch, ob, wenn zwischen zwei Gegenständen A und Β eine asymmetrische Beziehung statthat, nur eine einzige Beziehimg R oder zwei zueinander umgekehrte Beziehungen vorliegen. Diese Frage erhebt sich deswegen, weil sich Twardowski einmal 20

so ausdrückt, als ob er sich fur die erste Eventualität erklären würde, andere Mal aber so, als ob er die zweite akzeptieren würde.

das

20 Dies ist z.B. der Fall, wenn Twardowski seinen Begriff der Eigenschaft bzw. Eigenschaftsrelation einführt: Dieser Name soll "die eigenartige Beziehung" benennen, "welche zwischen dem Teil und dem Ganzen insoferne stattfindet, als ersterer dem letzteren zukommt und letzteres ersteren hat" (op. cit, S. 56) [hervorgehoben von Ingarden]. Denselben Eindruck gewinnt man da, wo Twardowski, wenn er zunächst "die Relation selbst, die zwischen Teil und Ganzem als solchem besteht" [hervorgehoben von Ingarden] in Betracht zieht, vorschlägt, den Terminus "Eigenschaft" "ausschließlich zur Bezeichnung des Verhältnisses zu verwenden, in welchem ein Ganzes als solches zu jedem seiner näheren oder entfernteren Teilen als solche steht" (op. cit, S. 58). Als ob das eine ganz dasselbe wie das andere wäre. Es gibt aber auch Stellen, in denen man einen anderen Eindruck gewinnt

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Unter den materialen Teilen unterscheidet Twardowski einfache und sol21

che, die "sich wieder in Teile zerlegen lassen" . Diese Unterscheidung benötigt er, um eine Reihe von Einteilungen materialer Teile durchzufuhren. Es gibt bekanntlich ein paar solche Einteilungen: 1) [Zuerst handelt es sich um die Einteilung] in nähere und entferntere Teile, wobei von materialen Bestandteilen erster, zweiter usw. Ordnung die Rede ist. Diese Unterscheidung ist in verschiedenen Hinsichten relativ, was Twardowski selbst betont. Trotzdem sieht Twardowski diesen Gegensatz als geeignet an, eine Einteilungsgrundlage für die Klassifikation der materialen Teile eines Ganzen abzugeben. 2) Eine andere Einteilung der materialen Teile wird im Hinblick darauf durchgeführt, ob sie Teile sind, "welche immer nur in einer und derselben Weise als Bestandteile in ein zusammengesetztes Ganzes eingehen können", oder solche, "die in verschiedener Weise als Bestandteile eines 22 Gegenstands fungieren können" . So sei ζ. B. "Rot" (als eine Farbe) "in anderer Weise Bestandteil einer rothen Kugel, in anderer Weise Bestandteil des Specktrums und in einer dritten Weise Bestandteil aller Mischfarben, in 23 denen es enthalten ist" . Eine dritte Einteilung von Teilen, die manchmal durchgeführt wird, unterscheidet Teile, "welche auch getrennt vom Ganzen, 24

dessen Bestandteile sie sind, für sich existieren können" , und solche, bei denen dies nicht möglich ist. Diese Einteilung wird aber von Twardowski wie ich schon erwähnt habe - zurückgewiesen. Unter den formalen Teilen unterscheidet Twardowski zwei Gruppen: a) die Beziehungen zwischen den einzelnen Teilen einerseits und dem Gegenstand als ganzem andererseits und b) die Beziehungen zwischen den einzelnen Bestandteilen. Die ersteren nennt er "primäre", die letzteren "sekundäre" formale Bestandteile. Die Definition der primären formalen Bestandteile eines Ganzen als "die Beziehungen seiner Teile zu ihm selbst 25 als dem aus ihnen bestehenden Ganzen" hält Twardowski für doppelsinnig. Denn damit ist einmal die Beziehung gemeint, kraft deren ein Teil eben Teil eines Ganzen ist - wobei es sich darum handelt, daß das Ganze seine Teile 21 22 23 24 25

[Twardowski, op. cit, S. 49.] [Ebenda, S. 50.] [Ebenda, S. 50-51.] [Ebenda, S. 51.] [Ebenda, S. 52.]

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Ontologiche Thesen im Buch Zur Lehre von K. Twardowski

irgendwie verknüpft und umfaßt, was Twardowski in Anknüpfung an Sigwart eine "kausale" Relation nennt. Ein anderes Mal handelt es sich um das Verhältnis "des Habens von Teilen durch ein Ganzes" (einen Gegenstand) und dasjenige "des Bildens des Ganzen durch Teile" - [die Verhältnisse], die Twardowski als die formalen primären Bestandteile im eigentlichen Sinne bezeichnet. Von diesen müssen noch die formalen Bestandteile im uneigentlichen Sinne unterschieden werden, wie z. B. [das Verhältnis, das darin besteht], daß der Gegenstand als Ganzes größer ist als seine Teile einzeln genommen oder daß er seinen Teilen in mannigfacher Hinsicht ähnlich oder von ihnen verschieden (ihnen nicht ähnlich) sein kann usw. Die ersteren bestehen zwischen den Teilen als Teilen (als solchen) und dem Ganzen als Ganzem, mit den letzteren verhält es sich dagegen irgendwie anders, obwohl Twardowski nicht sagt, worin sich die uneigentlichen Beziehungen (formalen Bestandteile) von den eigentlichen unterscheiden. Es ist zu betonen, daß sich Twardowski sowohl bei der Einteilung der materialen Bestandteile als auch bei der Gegenüberstellung der formalen Bestandteile im eigentlichen und im uneigentlichen Sinne von einer richtigen Intuition leiten läßt, deren er sich aber in Zur Lehre offenbar nicht bewußt wird, weil er sie nicht expliziert. Die materialen Teile werden nur "als solche", mithin als Teile, ebenso die Ganzen "als solche", d. h. als Ganze betrachtet. Ihr Teil-Sein - und zwar einer bestimmten Art! - wie auch das Ganzes-Sein der Ganzen wird bei der Durchführung der Einteilungen der materialen Bestandteile ins Auge gefaßt. Und ihre Beziehungen im "eigentlichen" Sinne, wie es bei Twardowski kennzeichnenderweise heißt, sind solche, die sich aus dem Teil-Sein eines ihrer Glieder und aus dem Ganzes-Sein des anderen (oder auch aus dem Teil-Sein der beiden Glieder) ergeben und die eine gewisse Verknüpfung zwischen ihnen schaffen, so daß sie voneinander untrennbar werden. Die Beziehungen im uneigentlichen Sinn ergeben sich dagegen daraus, welche die Gegenstände in ihrer Beschaffenheit sind, die, während sie zugleich Teile sind, zueinander z. B. im Verhältnis der Ähnlichkeit oder des Größer-Seins stehen usw. Das "Teil-Sein", das "GanzesSein", das Glied-einer-Beziehung-Sein, schließlich das Beziehung-Sein - all dies sind, wie wir sagen würden, formale Momente dieser Gegenstände in Gegenüberstellung zu deren "materialer" Ausstattung, z. B. von dem, was ein Teil oder ein Ganzes ist, wodurch einer dieser Gegenstände im Verhältnis zu

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einem anderen "größer" oder "ähnlich" sein kann. Der Begriff der "Form", den ich hier gebraucht habe, ist ein ganz anderer Begriff von "Form" und "Materie", und auch deren Gegenüberstellung ist ganz anders als diejenige, die Twardowski selbst expresses verbis einführt. Diese "Form" im neuen Sinne sowie ihre möglichen Arten sind es, von denen sich Twardowski in seinen verschiedenen Differenzierungen von "formalen" und "materialen" Teilen eines Ganzen leiten läßt und im Hinblick worauf er die formalen Teile im "eigentlichen" (denn aus ihrer "Form" - in der neuen Bedeutung - resultierenden) Sinne zu Recht abgrenzt. Es ist bedauernswert, daß sich Twardowski, in Zur Lehre wenigstens, dieses anderen Verständnisses der Form und der Materie nicht klar geworden ist. Er hätte dann entweder eine ganz andere Gegenstandstheorie aufgebaut oder sie wenigstens durch eine ganz andere Betrachtungsweise ergänzt. Auf Twardowskis Unterscheidungen zurückgehend, müssen wir jedoch in Erinnerung rufen, daß zwischen seinen eigentlichen und seinen uneigentlich formalen primären Bestandteilen eines Gegenstands neue Beziehungen bestehen, und dies sind formale Beziehungen zweiter Ordnung - Beziehungen, deren Glieder Beziehungen ausmachen. Unter der Voraussetzung, daß die Mehrheit der materialen Teile eines Gegenstands zusammengesetzte Teile ausmachen, kann man darunter - wenn man wiederum diese als Gegenstände (Ganze) betrachtet - all die primären formalen Bestandteile auffinden, die wir besprochen haben. Entsprechend den materialen Teilen erster Ordnung, zweiter Ordnung usw. kommen primäre formale Teile erster Stufe, zweiter Stufe usw. vor. Die Situation kompliziert sich ferner dadurch, daß die primären formalen Teile "zusammengesetzt" sein und sich in formale Teile zerlegen lassen können, die im Verhältnis zum ganzen Gegenstand sekundäre formale Teile bilden. Und da wiederum Beziehungen zwischen diesen Beziehungen bestehen können, können nun diese sekundären formalen Teile des Gegenstands Teile zweiter Stufe, dritter Stufe usw. sein. Auf diese Weise entstehen ganze Gruppen von Teilen verschiedener Ordnung und Stufe. Dieses ganze mannigfache Netz von materialen und formalen Teilen kompliziert sich immer mehr und baut sich gleichsam übereinander auf, und die zwischen den Teilen bestehenden Beziehungen sind verschiedener Art, auch im Hinblick auf "das Haben von Teilen" durch ein Ganzes, weil sie durch eine verschiedenartige Beschaffenheit der

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einzelnen materialen Teile, der ersten und der zweiter Ordnung, bestimmt werden. Ich kann hier auf Einzelheiten dieser sich ungeheuer (vielleicht ins Unendliche? - Twardowski ist hierin selbst nicht fest entschlossen) komplizierenden Theorie des Aufbaus des Gegenstands als Ganzen nicht eingehen. Man könnte den Zweifel anbringen, ob eine so weit gehende Verallgemeinerung der Begriffe "Bestandteil" und "Ganzes" es nicht nach sich zieht, daß die prinzipiellen Unterschiede zwischen sog. "Bestandteilen" verschiedener Art zum mindesten außer acht gelassen, wenn nicht verwischt werden. Ich möchte jedoch diese Frage nicht ausführlicher besprechen, obwohl ich glaube, daß darin der Grund liegt, warum [bei Twardowski] gewisse wichtige formal-ontologische Unterscheidungen nicht durchgeführt und gewisse von alters her gebrauchte Begriffe der "Formen" nicht geklärt worden sind, durch deren Mangel an gebührender Präzisierung die Philosophie sich mehrfach in erhebliche Schwierigkeiten verwickelt hat. Denn man kann sagen, daß Twardowski - der, wie aus dem ganzen Stil seiner Betrachtungen hervorgeht, unter dem Einfluß von Lockes Auffassungen der einfachen und zusammengesetzten Ideen und vielleicht auch von Lockes Auseinandersetzung mit dem Begriff "Substanz" oder "Substrat" steht - andere Konzeptionen des Gegenstands absichtlich von sich gewiesen und einen Begriff der Form und Materie gewählt hat, der die sich aus den anderen Auffassungen des formalen Aufbaus des Gegenstands ergebenden Schwierigkeiten zu vermeiden scheint. Man kann somit sagen, daß sich Twardowski bewußt und gezielt dazu entschlossen hat, nur mit einem einzigen Begriffspaar "Teil" und "Ganzes" zu operieren, und einen Versuch unternommen hat, mit Hilfe dieser Begriffe den allgemeinen ("formalen") Aufbau des Gegenstands durchzudenken, wobei er zu den endgültigen Konsequenzen gelangt ist. Er hat diesen Versuch auch mit einer großen Energie und Eindringlichkeit durchgeführt. All dies völlig anerkennend, muß man jedoch erwägen, ob diese ganze Auffassung des Gegenstands auf irgendwelche Schwierigkeiten stößt, und wenn ja, aufweiche. Ich lasse hier die Schwierigkeiten beiseite, die den Anlaß zu Lesniewskis Versuch einer Ontologie und zu den aus dieser stammenden Gebilden gegeben haben. Ich glaube, daß man hier darüber nicht mehr zu sprechen braucht, obwohl - meines Wissens - weder Leániewski selbst noch jemand aus seinem Kreis eine Kritik an Twardowskis Ansichten

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ausdrücklich durchgeführt hat, die deutlich gegen ihn gerichtet gewesen wäre. Ich möchte hingegen noch ein paar andere Probleme berühren. Eines dieser Probleme betrifft die schon erwähnten Bedenken in bezug auf Twardowskis Grundbegriffe, ein anderes Problem dagegen den von Twardowski unternommenen Versuch, die "formalen" Begriffe - bei einem ganz anderen Formbegriff - zu definieren im Rekurs auf den Begriff der Form als einer Beziehung bzw. der Gesamtheit der Beziehungen (denn so wurde dies formuliert) zwischen den Bestandteilen eines Ganzen (einer Menge?). Twardowski selbst ist sich darüber im klaren, daß zumindest in zwei Punkten Bedenken entstehen, die diese ganze Konstruktion ins Wanken zu bringen drohen. Obwohl er aber daraufhinweist, verzichtet er auf einen Versuch, die naheliegenden Schwierigkeiten zu lösen oder wenigstens zu erwägen. Der erste Punkt betrifft den Begriff eines Ganzen. Das Ganze wird in seiner ganzen Betrachtung radikal den Teilen entgegengestellt - was man auch schon daraus sieht, daß die Beziehungen zwischen einem Teil und dem Ganzen nach Twardowski ganz anders sind als die Beziehungen zwischen ζ. B. zwei Teilen desselben Ganzen. Was ist aber denn dieses Ganze? Ist es nicht die Gesamtheit - eine Menge, Vielheit - von denselben Teilen (materialen und formalen oder nur materialen)? Twardowski selbst spricht von den "Schwierigkeiten, die seinen Begriff (seil, den Begriff des Ganzen) umgeben", und sagt: "Wir haben immer von Relationen zwischen dem Ganzen und seinen Teilen gesprochen. Aber im Ganzen ist ja der Teil bereits enthalten" (S. 56). Ist dem aber so, dann ist die Beziehung eines Teils zu demselben Ganzen im Prinzip keine andere als seine Beziehung zu anderen Teilen (der gleichen Stufe). Dadurch verwischt sich also der prinzipielle Unterschied zwischen zwei Arten von formalen Teilen. Twardowski beruft sich hier übrigens in Anlehnung an Prantl

- auf Abelards De divisione et definitione,

versucht aber nicht, diese Schwierigkeit auszuräumen. Es fällt ihm gar nicht ein, daß dieses Ganze gegenüber seinen Teilen einen Gegenstand höherer Ordnung (oder, wenn jemand will, höheren Typus) ausmacht, der durch ganz andere Eigenschaften gekennzeichnet ist als diejenigen, die seinen Teilen (sogar allen insgesamt) zukommen. Twardowski weicht also vor einem Pro-

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[K. Prantl, Geschichte der Logik, 4 Bände, Leipzig 1858-70.]

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Ontologiche Thesen im Buch Zur Lehre von K. Twardawski

blem, dessen Lösung ihn viel Mühe kosten würde, und verteidigt sich nur mit der These, daß, wie auch diese Schwierigkeit beseitigt werden mag, seine Unterscheidungen gültig bleiben würden. Hier besteht jedoch eine wesentliche Lücke, deren Vorliegen der Autor selbst feststellt. Zweitens handelt es sich um Schwierigkeiten mit dem gar nicht analysierten, wenngleich so wichtigen Begriff der Beziehung. Nur in einer einzigen Hinsicht spürt aber Twardowski, daß hier etwas fehlt, nämlich hinsichtlich der Möglichkeit, eine Beziehung in mehrere verschiedene Beziehungen aufzulösen, einer Möglichkeit, die er in gewissen Fällen zuzulassen scheint (indem er aber dabei von der Teilbarkeit der Glieder der Beziehung spricht), letzten Endes jedoch als fraglich erachtet. Dies bezieht sich insbesondere auf die Frage, ob die primären formalen Bestandteile im eigentlichen Sinn in solche zweiter Ordnung zerfallen oder nicht, und bei diesen primären formalen Bestandteilen handelt es sich ja um die grundlegende Beziehung zwischen dem Ganzen und seinem materialen Teil (wie auch vielleicht allen anderen Teilen). Denn diese Beziehung ist es, die Twardowski eine "Eigenschaft" oder "Eigenschaftsrelation" eines Ganzen (Gegenstands) nennt. Er kann sich jedoch nicht entscheiden, ob diese Beziehung wiederum in formale Bestandteile zerfallt, weil - wie er expressis verbis erklärt - "das Wesen der zwischen einem Ganzen und seinen Teilen als solchen bestehenden Eigenschaftsrelationen nicht erforscht ist" (S. 73). Es stellt sich somit heraus, daß gerade das, was mit Hilfe des Begriffspaars "Ganzes-Teil" und des dazu gewählten Begriffspaars "Form-Materie" durch Verknüpfung dieser Begriffe mit demjenigen der "Eigenschaft" erläutert werden sollte, ganz ungeklärt bleibt. Trotzdem schließt Twardowski die formalen Teile zweiter Ordnung mindestens als Möglichkeit nicht aus; er verzichtet also nicht auf die Auffassung, daß die Eigenschaften wiederum Eigenschaften usw. ins Unendliche hätten, was bei anderen Autoren (Lesniewski) bekanntlich einen prinzipiellen Widerspruch hervorgerufen und sie dazu veranlaßt hat, die Eigenschaft bzw. das in ihrer Terminologie so genannte "Merkmal" überhaupt zu verwerfen und die These aufzustellen, es gebe gar keine Merkmale. Und noch eines: Die ganze Gegenüberstellung "Ganzes-Teil" ergibt sich aus der Annahme, daß es zusammengesetzte Gegenstände (aus Teilen bestehende Ganze) und einfache Gegenstände (nicht zusammengesetzte Teile) gebe. Indessen sieht sich Twardowski in einem Fall wenigstens genötigt, zu sagen, daß es eigent-

Der Aufbau des Vorsteìlungsgegemtands

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lieh keine einfachen Gegenstände gibt (dies soll nämlich auf die "Einheit" zutreffen); und wenn wir behaupten, es gebe solche, so nur im Falle der Dinge, bei denen wir irgendwie im voraus ihre Beziehungen zu allen anderen Gegenständen außer acht lassen. Warum sollten wir uns aber ihnen gegenüber so verhalten? Es scheint ja vielmehr, daß, wenn von den Dingen die Rede ist, nur irgendwelche Elemente der Welt in Betracht kommen, in der sie existieren oder bestehen sollen, und daß infolgedessen, was wir auch immer übergehen oder durch Abstraktion auslassen mögen, sie sowieso in mannigfachen Beziehungen zu ihrer ganzen Umgebung stehen müssen und - den eigenen Postulaten der Gegenstandstheorie Twardowskis gemäß - bestimmt nicht als "einfach" gelten können, egal ob es sich dabei um Dinge im alltäglichen Sinne oder um letzte, unteilbare Elementarteilchen im Verständnis der zeitgenössischen Physik handelt. Das zweite prinzipielle Bedenken, das sich mir aufdrängt, resultiert daraus, daß sich Twardowski in seiner Auffassung des Gegenstands nicht darauf beschränkt, diesen als aus Teilen bestehendes Ganzes zu betrachten und lediglich mit Hilfe dieser zwei Begriffe sowie des Begriffspaars "MaterieForm" in der von ihm festgelegten Bedeutung zu beschreiben, sondern auch den Begriff der "Eigenschaft" einfuhrt und versucht, den letzteren mit Hilfe seiner Grundbegriffe zu bestimmen. Es ist dabei nicht wesentlich, daß er sich dabei entschließt, die Eigenschaft als eine - wie er sagt - Relation (Eigenschaftsrelation) zu definieren (und zwar als den eigentlichen Begriff der Eigenschaft), und den "nichtrelationalen" Begriff der Eigenschaft als Beschaffenheit im Sinne eines metaphysischen Teils beiseite schiebt. In beiden Fällen kann man - und soll man wohl - dagegen Protest erheben, ohne übrigens zu leugnen, daß ein anders bestimmter Begriff der Eigenschaft auch eine - im Verständnis Twardowskis - "formale" Betrachtungsweise dieser, wie sie der Verfasser von Zur Lehre vorschlägt, zulassen kann. Aber diese Kennzeichnung erfaßt nicht das, was eine Eigenschaft innerhalb des sie besitzenden Gegenstands ist, und ihr "Teil-Sein" reicht nicht aus, um zu erklären, worin eigentlich der Unterschied zwischen zwei Eigenschaften besteht, die ein und demselben Gegenstand zukommen. Um dies zu erklären, braucht man andere Begriffe der Eigenschaften und desjenigen, dem sie zukommen d. h. des Subjekts der Eigenschaften. Diese andere Auffassung der "Eigenschaft" - deren "Form" und "Materie" in ganz anderen Bedeutungen als bei

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Ontologische Thesen im Buch Zur Lehre von K. Twardowski

Twardowski - verbirgt sich, wie dies einst Kant klar gesehen hat, hinter jeder kategorischen Behauptung wie ζ. B. "Diese Kugel ist weiß" oder "... ist glatt" 27

oder "... ist aus Stahl". Allein hat es Kant bei einer rein statischen Zusammenstellung seiner Kategorien unterlassen, den Begriff der "Form" und den diesem entgegengestellte Begriff der "Materie" zu erläutern, von denen er sich dabei leiten lassen hat, wenn sie sich auch aus den Texten seiner Kritik herausholen lassen. Er hat es auch versäumt, den Sinn der einzelnen Kategorien klarzumachen, hat sich dagegen auf seine "aprioristischen" Konzeptionen eingelassen - auf "Formen", die dem Erkenntnissubjekt die Dinge an sich verhüllen. Doch die Klarlegung dieser "Formen" - die etwas ganz anderes sind als die Form von etwas, was einen Teil oder sogar einen metaphysischen Teil eines Teils eines Ganzes ausmacht - ist eine Aufgabe für sich, die hier nur postuliert werden kann. Die Realisierung dieser Aufgabe widerlegt für sich selbst die in Zur Lehre gebotene Gegenstandstheorie noch nicht, sondern macht - meiner Meinung nach - deren unerläßliche Ergänzung aus, die mit dem Postulat zusammenhängt, in dieser Theorie gewisse Modifikationen durchzuführen. Hier stellt sich dagegen die Frage, ob es Twardowski tatsächlich gelungen ist, alle anderen kategorialen Begriffe - außer den von ihm eingeführten - aus dem Spiel zu lassen, ob also - anders gesagt - die Begriffsapparatur seiner Gegenstandstheorie tatsächlich für sich selbst zulänglich ist und uns in die Lage versetzt, jede andere Begrififsapparatur, insbesondere jede andere Konzeption der "Form" und "Materie" beiseite zu schieben. Jemand könnte dies verneinen, mit Hinweis darauf, daß Twardowski selbst aus seiner Begrififsapparatur ausbricht, indem er ζ. B. die Begriffe "Beschaffenheit", "Art", "Gattung", "Wesen" verwendet, von der "Verknüpfungsform" zur Einheit eines Gegenstands spricht usw. Twardowski würde aber darauf wohl antworten, daß ζ. B. die "Beschaffenheit" in seiner Deutung ein metaphysischer Teil entweder des Ganzen oder eines materialen Teils dieses Ganzen sei, und er wäre wohl in der Lage, die Begriffe "Art" und "Ganzes" entsprechend zu definieren, so wie er auf seine Weise "das Wesen" des Gegenstands oder sogar "den allgemeinen Gegenstand" definiert hat. Es kommt darauf an, welche Rolle im Ganzen bzw. im Gegenstand Twardowski ζ. B. der Beschaffenheit zuschreibt. Welche metaphysischen (materialen oder

27 [Im Original wohl irrtümlich "statistischen".]

Der Aufbau des Vorstellungsgegenstands

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formalen) Teile eines materialen Bestandteils sollen ζ. B. die Gattung oder die Art oder schließlich das Wesen des Gegenstands ausmachen? Jene Beschaffenheit der materialen Bestandteile soll ja die Art (?) der Beziehungen bestimmen, die zwischen dem entsprechenden materialen Bestandteil und dem Ganzen oder anderen materialen Bestandteilen bestehen sollen. Ich frage jedoch: wodurch sollen sie dies bestimmen? Dadurch, daß sie metaphysische Teile eines Teils des Ganzen ausmachen? Dies reicht wohl nicht aus. Es muß also wohl in Betracht gezogen werden, wie beschaffen ¡ene metaphysischen Teile sind, nicht als Teile, sondern als dasjenige, was in dieser - erlauben Sie mir, dies zu sagen! - Form des "Teil-Seins" steht. Jemand würde sagen: Ausgezeichnet! Dies ist ein neuer metaphysischer Teil dieses metaphysischen Teils. Und es ist nicht zu leugnen, daß die Beschaffenheit dieses metaphysischen Teils formal betrachtet vielleicht wiederum ein metaphysischer Teil ist; nicht dadurch aber, daß sie ein metaphysischer Teil eines metaphysischen Teils ist, determiniert sie die Beziehungen, in denen der gegebene materiale Bestandteil zum Ganzen oder zu anderen materialen Bestandteilen steht, sondern nur dadurch, daß sie eine Qualität ist, die in der Form eines metaphysischen Teils steht. Dies ist nicht zu vermeiden, wenn wir an der These festhalten wollen, daß etwas ein anderes etwas innerhalb des Gegenstands bestimmt. So wie es früher notwendig war, einen neuen Begriff der "Form" als des Teil-Seins eines Teils oder des Ganzes-Sein eines Ganzen einzuführen, so muß man jetzt dementsprechend einen neuen Begriff der "Materie" einfuhren, neben dem Begriffspaar "Form" und "Materie", dessen sich Twardowski bedient. Zu demselben Ergebnis fuhrt der Begriff des "Wesens eines Gegenstands", das von Twardowski bestimmt wird als eine Gruppe von materialen und formalen Bestandteilen eines Gegenstands, die es mit Notwendigkeit nach sich zieht (oder aus der es folgt), daß dem Gegenstand alle anderen "Eigenschaften" (Teile und Verhältnisse) zukom28

men. Ich kann dies nicht im Einzelnen ausführen, denn ich müßte dazu diese neuen Begriffe der Form und Materie klar machen (was ich übrigens an 29

einem anderen Ort gemacht habe). Ich möchte nur noch fragen, ob die Aufgabe, die sich Twardowski zu Beginn seiner Betrachtungen gestellt hat, 28 29

[Vgl. Twardowski, op. cit, S. 69.] [Vgl. Ingarden (1965/65), Bd. Π/l, Kap. Vü ]

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Ontologische Thesen im Buch Zur Lehre von K. Twardowsh

[nämlich] "das allen Arten von Teilen und allen Formen der Zusammensetzung aus Teilen Gemeinsame, der Typus, dem jede Synthese folgt" (S. 48) zur Klarheit zu bringen - gelöst worden ist durch den komplizierten, so komplizierten Aufbau des Gegenstands aus metaphysischen formalen und materialen Bestandteilen verschiedener Ordnung und verschiedener Stufe. Der Typus der Synthese? Auf die Frage, welches dieser Typus ist, werden wir wohl im Buch Twardowskis keine Antwort finden, und erst eine solche Antwort könnte uns vielleicht die Einheit eines zusammengesetzten Gegenstands verständlich machen. Ohne eine Erklärung, auf welche Weise eigentlich die Beschaffenheit die Beziehungen bestimmt, und ohne eine Konzeption des Wesens, das nicht nur den ganzen Rest von "Teilen" und Beziehungen im Gegenstand nach sich ziehen soll, sondern das darüber hinaus eine geschlossene Einheit ist, bliebe vom ganzen Gegenstand nur eine verstreute Mannigfaltigkeit von materialen Teilen und Beziehungen übrig, die sich zu keinem Ganzen zusammenschlössen. Nur dadurch aber, daß wir uns auf jene Beschaffenheit und jenes Wesen und ihre Rolle im Gegenstand durch die Begriffe vom Ganzen, vom Teil und von den Verhältnissen beziehen, und ohne daß wir noch irgendwelche anderen Begriffe der Form und Materie einfuhren, können wir die von Twardowski gestellte theoretische Aufgabe nicht erfüllen. Allein schon wenn wir fragen, was fur ein "materialer" oder "formaler" Teil eines zusammengesetzten Ganzen es ist, daß a) dieses ein Ganzes ist und b) daß es ein zusammengesetztes Ganzes ist, müssen wir uns klarmachen, daß die von Twardowski eingesetzte Begriffsapparatur unzureichend ist. Denn sowohl das "Ganzes-Sein", durch welches ein Gegenstand ein Ganzes ist, als auch das "Zusammengesetzt-Sein" sind weder ein Verhältnis noch ein Verhältnis von Verhältnissen, noch ein "materialer Teil" oder "eine Beschaffenheit" in der Bedeutung Twardowskis. Und dieselbe Schwierigkeit begegnet uns, wenn wir fragen, woran es eigentlich liegt, daß ein Gegenstand "einfach" - nicht zusammengesetzt ist. Auch hier kann nicht annehmen, daß diese "Einfachheit" ein Verhältnis oder ein "materialer Teil" dieses Gegenstands ist. Auch hier können wir nicht umhin, einen ganz anderen - in der philosophischen Tradition übrigens vorkommenden Begriff der "Form" und der "Materie" einzuführen. Und wie ich oben angedeutet habe, führt auch Twardowski - ohne sich dessen bewußt zu werden diesen Begriff deutlich ein.

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Solche Eindrücke habe ich bei der Lektüre dieses Teils des Buches Twardowskis gewonnen. Ich schätze es nicht gering. Es ist ein schwieriges, gar nicht so klares Buch, wie man ein paar Jahrzehnte hindurch zu behaupten pflegte; es fehlt darin auch nicht eine Reihe von sehr wichtigen wahren Sätzen. Es ist ein in seiner Konzeption gewagtes Buch, das vor allem zum Nachdenken über die vielleicht schwierigsten Probleme der Ontologie anregt, und es ist gar nicht "psychologisch". Dies ist sein Verdienst. Und daß es Bedenken regt und manch einen Leser veranlaßt, ganz andere Auffassungen und Betrachtungen vorzuschlagen - ist ebenfalls sein Verdienst. Einer der zeitgenössischen englischen Philosophen, Professor Philip Leon aus Leicester, hat einmal gesagt, ein gutes Buch zeichne sich dadurch aus, daß wir, nachdem wir es durchgelesen haben, alles anders machen möchten. An schlechten Büchern gehen wir gleichgültig vorbei.

Die Bestrebungen der Phänomenologen1

Im ersten Jahrzehnt des XX. Jahrhunderts hat Edmund Husserl mit seinen Arbeiten und seiner Universitätstätigkeit eine neue Richtung der philosophischen Forschung angefangen, die heute unter dem Namen der Phänomenologie bekannt ist und eine relativ zahlreiche Gruppe von Mitarbeitern versammelt. [Obersetzung von: "Díjzema fenomenologów", Przeglqd Filozoflczny, 22 (1919), Nr. 3/4, S. 118-156 und 315-351; neu gedruckt in: Ingarden (1963), S. 269-379.] Ich habe diese Arbeit im Winter 1919/1920 geschrieben, und es hatte mich dazu die Situation der polnischen Philosophie veranlaßt, die ich in Warschau vorgefunden habe, als ich dort im Sommer 1919 angekommen bin. Es ist hier nicht der richtige Ort, diese traurige Lage zu beschreiben, die mir damals begegnet ist Es reicht aus, wenn ich sage, daß mir die fast völlige Unkenntnis darüber aufgefallen ist, was in der zeitgenössischen westeuropäischen Philosophie geschah. Ich war zur Oberzeugung gekommen, daß ich dem nach meinen Möglichkeiten abhelfen sollte. Ich kam verhältnismäßig frisch von einem großen wissenschaftlichen Zentrum, das Göttingen am Anfang des Jahrhunderts war, und [dies] nach ein paar Jahre dauernden Kontakten mit Husserl und [anderen] Phänomenologen. Ich war der Ansicht, es sei meine Pflicht, der polnischen philosophischen Welt das zu vermitteln, was ich dort erlernt hatte. Ob jemand davon profitieren wollte, war mir eher zweitrangig. Wenn ich mich heute, nach ein paar Jahrzehnten, dazu entschlossen habe, diese Jugendarbeit von mir erneut zu veröffentlichen, so deswegen, weil ich dazu von mehreren Seiten überredet wurde. Ich habe mich bemüht, sie ein wenig zu verbessern, obwohl ich sie nicht gründlich überarbeitet, sondern auf der Betrachtungsebene bleiben lassen habe, die ich mir damals abgesteckt hatte, meine Arbeit als eine einleitende Information über die theoretischen Bestrebungen der Phänomenologen betrachtend. Vielleicht kann diese Arbeit jemandem auch heute noch einen Nutzen bringen. Als ich diese Arbeit geschrieben habe, steckte die phänomenologische Bewegung erst in den Anfängen. Heute hat sie schon ein halbes Jahrhundert Entwicklung hinter sich und hat Verschiedenes durchgemacht Es steht schon fest, daß die Phänomenologie in der Geschichte der europäischen Philosophie des XX. Jahrhunderts eine dauernde Spur hinterlassen hat Es ist jedoch nicht möglich, jetzt und an dieser Stelle die Entwicklungen der Phänomenologie bis zur Gegenwart zu beschreiben. Wer sich dafür interessiert, kann in das Buch von H. Spiegelberg, The Phenomenological Movement [third revised and enlarged edition, The Hague 1982] hineinschauen. Dieses Buch bietet, trotz verschiedenen Mängeln, dennoch ein Bild von verschiedenen Phasen der Phänomenologie. (1962) Zu den hervorragendsten Phänomenologen der ersten Generation, die das Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung redigiert hat, gehörten: Edmund Husserl (1859-1938, seit 1901 Professor in Göttingen, seit 1916 in Freiburg i.Br ), Max Scheler

[Einleitung]

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Trotz einer Reihe von hervorragenden Arbeiten ist die Phänomenologie weit davon entfernt, als etwas Vollendetes gelten zu können. Diese Richtung hat jedoch so viele fruchtbare Einfalle bezüglich der wichtigsten philosophischen Probleme gebracht, zeichnet sich durch eine so seltene Gewissenhaftigkeit der Forschung und [einen derartigen] Reichtum an behandelten Fragen aus, daß sie in kurzer Zeit an die Spitze der schöpferischen philosophischen Richtungen in Deutschland und außerhalb seiner Grenzen gerückt ist. Ich föhle mich somit verpflichtet, das polnische Publikum über die wissenschaftlichen Haupttendenzen der Phänomenologen zu informieren. Von den Einzelergebnissen dieser Richtung möchte ich nur diejenigen besprechen, die man benötigt, um zu verstehen, auf welchem Weg die Phänomenologen ihre Untersuchungen fuhren und warum gerade dieser und kein anderer Weg eingeschlagen worden ist. Dieser Weg, die Bestrebungen sind es, die mich interessieren. Eine Reihe von philosophischen Tendenzen haben sich zu dem zusammengefügt, was man die phänomenologische Methode nennen kann. Sie sind in manchen Fällen aus dem Bedürfnis heraus aufgekommen, sich den philosophischen Ansichten entgegenzustellen, die gegen Ende des XIX. Jahrhunderts vorherrschten. Ich möchte somit vor allem die für die Anfange der Phänomenologie wichtigen Standpunkte in allgemeinen Umrissen skizzieren,

(1874-1928, Professor in Köln), Alexander Pfänder (1870-1941, Professor in München), Moritz Geiger (1880-1938, Professor in München), Adolf Reinach (1883-1917, Dozent in Göttingen). Zu Husserls Göttinger Schülern gehörten u.a.: Wilhelm Schapp, H. ConradMartius, Alexander Koyré, Jean Hering, Th. Conrad, Edith Stein, Hans Lipps, Fritz Kaufmann, Roman Ingarden, überdies eine Reihe von Personen, die im ersten Weltkrieg ums Leben gekommen sind und sich daher in der phänomenologischen Literatur keinen Namen gemacht haben. Zur sogenannten Münchener Gruppe gehörten vor dem ersten Weltkrieg u.a.: Johannes Daubert, D. v. Hildebrand, Aloys Fischer, G. Walther (geb. 1897), H. Spiegelberg (geb. 1904, zur Zeit Professor in Appletown, USA) und andere. In der Zeit von Husserls Tätigkeit in Freiburg gerieten unter den Einfluß der Phänomenologie: Martin Heidegger (geb. 1889, seit 1928 Professor in Freiburg, seit 1945 pensioniert), Oscar Becker (geb. 1889, Dozent in Freiburg, dann Professor in Bonn), Ludwig Landgrebe (geb. 1902, nach 1945 Professor in Köln), Eugen Fink (geb. 1905, zur Zeit Professor in Freiburg), außerdem mehrere Amerikaner wie Marvin Farber (geb. 1901, Professor in Buffalo), Alfred Schutz (1899-1959, nach dem zweiten Weltkrieg Professor in New York), Dorion Caims (geb. 1901) u.a. (1962) Es ist natürlich vom Zustand im Jahre 1919 die Rede. (1962)

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

um danach die Wege nachzuzeichnen, auf denen die Phänomenologen versuchen, die begangenen Fehler - wie sie glauben - zu berichtigen, oder die alten und manchmal veralteten philosophischen Tendenzen wiederaufhehmen und sich bemühen, die philosophischen Untersuchungen in die - ihrer Meinung nach - richtige Bahn zu lenken. Meine Betrachtungen haben im allgemeinen den Charakter von Informationen, nicht von selbständig durchgeführten Analysen; sie erheben auch keinen Anspruch auf Originalität, obwohl gewisse Probleme hierin selbständig behandelt worden sind. Ihr Anliegen ist, manche Momente der phänomenologischen Untersuchungen plastischer hervortreten zu lassen, um dadurch eine Reihe von Mißverständnissen zu beseitigen, die manchmal zwischen den Phänomenologen und anderen philosophischen Richtungen aufkommen. Zugleich aber haben meine Betrachtungen keinen historischen Charakter. Der Verfasser dieser Abhandlung - als einer der jungen Mitarbeiter der Phänomenologie - möchte die Richtlinien dieser Bewegung so darstellen, wie er sie selbst versteht und wie er sie geme verwirklicht sehen möchte, ohne daß er im geringsten bestreitet, wie viel er Husserl selbst, dessen Schüler er in den Jahren 1912-1918 war, wie auch den anderen Phänomenologen verdankt.

I. Über die Erfahrungspsychologie und den Psychologismus Im Jahre 1891 hat Husserl sein erstes Buch unter dem Titel Philosophie der Arithmetik veröffentlicht. Zu dieser Zeit war die Psychologie die philosophische Disziplin, der man am meisten Arbeit und Aufmerksamkeit widmete und die nicht als Philosophie gelten wollte. In anderen philosophischen Disziplinen herrschte allmächtig der sog. Psychologismus vor. In der Logik dieser Zeit z. B. war Sigwarts Logik4 das maßgebliche Werk, und andere Bücher aus diesem Gebiet (selbstverständlich außer den Anfängen der sog. logischen Algebra, z.B. Schröders) wichen von dem darin vertretenen Standpunkt nicht weit ab. Daher ist auch die Philosophie der Arithmetik im Grunde ein psychologisches, wenngleich den Grundbegriffen der Arithmetik gewidmetes Werk. Erst die weiteren zehn Jahre Arbeit haben einen Umbruch in Husserls Ansichten gebracht. Der I. Band der Logischen Untersuchungen 4

[3. Aufl., Tübingen 1904.]

Die Etfahrmgspsychologie und der Psychologismus

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(1900) bringt eine prinzipielle Kritik des Psychologismus in der Logik, der II. Band bietet nach Absicht des Verfassers neue philosophische Grundlagen der Logik, nicht aber die Logik selbst. Die Anfange der Phänomenologie stellen somit eine Opposition zum Psychologismus dar. Wir müssen also versuchen, das Wesen des Psychologismus und zugleich auch die Haupttendenzen der damaligen Psychologie zu verstehen. Der Psychologismus beruht auf einem zweifachen Mißverständnis: 1. darauf, daß man die eigenartige Natur der Gegenstände, die mit dem Psychischen des Menschen (das dann mit dem Bewußtsein gleichgesetzt wird) von ihrer Natur her nichts zu tun haben, begrifflich in etwas umdeutet, was zu diesem Psychischen als Bestandteil gehört, mithin dessen allgemeine Natur bewahren soll, und 2. darauf, daß man bei der Erkenntnis dieser Gegenstände eine ungeeignete Untersuchungsmethode verwendet, nämlich diejenige, die damals fur die Psychologie als geeignet galt. Das Aufkommen des Psychologismus hat seine Quelle u. a. im Zustand der philosophischen Forschung im Deutschland der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Naturwissenschaft hat damals einen Aufschwung wie nie zuvor erlebt und im Kampf gegen die konstruktiven Systeme des deutschen Idealismus, ja anscheinend gegen die Philosophie überhaupt, einen Sieg davongetragen. Jedenfalls hat die Philosophie (besonders in Deutschland) ihre Position verloren, die sie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts eingenommen hatte, und wurde von den Naturwissenschaftlern immer häufiger als bedeutungslos betrachtet. Die siegreiche Naturwissenschaft verwendete in ihrer Forschung die sog. Erfahrung; sie setzte sich zum Ziel, die in der unmittelbaren Erfahrung gegebenen Erscheinungen durch Kausalzusammenhänge, experimentelle Methoden und induktive Schlußfolgerungen zu erklären, und bezog in ihr Forschungsgebiet die ganze äußere "Natur" ein, die Welt der "inneren Erscheinungen" dagegen ließ sie unangetastet. Seit der Zeit Kants ist dabei die Meinung üblich geworden, man könne nur auf zweifache Weise Untersuchungsgegenstände erkennen: a) auf "apriorische" Weise und b) mit Hilfe der Erfahrung (a posteriori). Nachdem die "apriorischen" Konstruktionen der Philosophie in der ersten Jahrhunderthälfte - wie es schien - im Kampf gegen die Erfahrung eine Niederlage erlitten hatten, drängte sich der Philosophie direkt ein Dilemma auf: entweder wird die Philosophie keine Daseinsberechtigung haben und bestenfalls eine Systematisierung des von

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

den Naturwissenschaften (sog. positiven Wissenschaften) gelieferten Stoffes darstellen - oder aber sie ist genötigt, 1) für sich ein neues Arbeitsfeld zu erschließen, das durch die Naturwissenschaft bisher nicht bearbeitet worden ist, und 2) die Naturwissenschaft dadurch nachzuahmen, daß sie ebenfalls die Erfahrung und die experimentell-induktive Methode der kausal-genetischen Erklärung der Tatsachen in Gebrauch nimmt. Tatsächlich hat auch die Philosophie, besonders in Deutschland, die zweite Möglichkeit gewählt, was um so natürlicher ist, als nicht so sehr die Philosophen diese neue, "naturwissenschaftliche" Philosophie zu bearbeiten beginnen als vielmehr die philosophierenden Naturwissenschaftler, Physiker und Physiologen. Die Naturwissenschaft hat jedoch die Außenwelt in ihren ausschließlichen Besitz gebracht, für die Philosophie ist dagegen die innere Welt, die Welt des Psychischen des Menschen übrig geblieben. Daher das gesteigerte Interesse für die Psychologie, daher auch das Bemühen, aus der Psychologie eine auf Erfahrung und Experiment gestützte Wissenschaft zu machen, und zwar eine Wissenschaft, die durch Verwendung von Messungen und statistischen Methoden wenn möglich ebenso "exakt" ist wie etwa die Physik. Daher schließlich der Versuch, die Fragen rein psychologischer (bewußtseinsmäßiger) Natur durch die Physiologie mit der Außenwelt zu verbinden.5 Daraus ergab sich eine spezielle Art der Psychologie, die bald die Oberhand gewann. Man hat sich des Gebiets der psychischen "Erscheinungen" bemächtigt, doch anstatt auf diesem neuen Arbeitsfeld unvoreingenommen Erfahrungen zu gewinnen, hat man neben dem richtigen Prinzip der Erfahrung zugleich auch den ganzen Forschungsapparat mit hineingetragen, der von der Naturwissenschaft anhand der Außenwelt ausgearbeitet worden ist. Man wollte ein gewisses Pendant zur Naturwissenschaft bilden, man suchte nach Gegenständen, die eine zu den Gegenständen der Außenwelt analoge Struktur haben, und man wollte sie auch auf analoge Weise betrachten.

Dies bedeutet nicht, daß z.B. die metaphysischen Probleme aus dem Gesichtskreis der neuen Psychologen ganz verschwunden sind Der Begründer der sogenannten Psychophysik, G. T. Fechner (vgl. Elemente der Psychophysik [3. Aufl., Leipzig 1907]) hat bekanntlich seine Untersuchungen über die Abhängigkeiten zwischen den psychischen und den physischen Phänomenen in der Hoffnung unternommen, sich auf diesem Weg mit Hilfe des Experiments über das alte Problem des Verhältnisses zwischen der sogenannten Materie und dem Bewußtsein klarzuwerden.

Die Etfahrungspsychologie und der Psychologismus

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Wie die konkrete Welt der äußeren Gegenstände im Laufe der Untersuchungen in eine Menge von Teilchen (Atomen) verschiedener Art und in ein immer mehr zu einer Einheit verschmelzendes System von Bewegungen im homogenen Raum zerschlagen worden ist, so ist auch die Welt des Psychischen auf ähnliche Weise in verschiedenartige elementare Zustände differenziert worden (Ernst Mach spricht in den siebziger Jahren geradezu von den "Elementen"6), Zustände, die ihrer Qualität nach unveränderlich sind und die sich durch Assoziationszusammenhänge zu Einheiten höherer Ordnung zusammenschließen und durch andere Assoziationen wieder in neue Gruppierungen zerlegt werden. Dies ist um so leichter passiert, als schon vorher vor allem in England und ebenfalls unter dem Einfluß der naturwissenschaftlichen und empiristischen Einstellung - eine alte, von John Locke stammende Tradition bestanden hatte, mit dem Begriff der sogenannten "einfachen Ideen" zu operieren, aus denen sich die sogenannten komplexen Ideen zusammensetzen sollten, und D. Hume mit seinen Assoziationsgesetzen nur das präzisiert hat, was in nuce bereits bei Locke enthalten war. Seit dieser Zeit hat sich aber in England die Assoziationspsychologie bis hin zu J. St. Mill und seinen Nachfolgern ständig entwickelt und wurde in verschiedenen Fällen auf den europäischen Kontinent übertragen, so daß die Verwendung der ganzen Begriffsapparatur in der Pschophysik oder -physiologie des 19. Jahrhunderts sehr erleichtert war. Und ähnlich wie in der Naturwissenschaft fur die "physischen Erscheinungen" hat man sich in der Psychologie bemüht, die "psychischen Erscheinungen" in gewisse letzte Gesetze zu fassen, die auf exakte, mathematische Weise formuliert waren. Die Analogie zwischen der physischen Welt und der psychischen Realität hat man noch weiter geführt, wobei eine wichtige Rolle der Umstand gespielt hat, daß die experimentellen psychologischen Untersuchungen mit denjenigen "psychischen" Erscheinungen eingesetzt haben, die scheinbar noch am leichtesten zugänglich und - wie es wenigstens zunächst schien - am geeignetsten waren, um sie in den Rahmen von Gesetzen mathematischer η

Art hineinzuzwängen, nämlich mit den "Sinnesempfindungen". Sowohl die konkreten Gegenstände der Außenwelt, als auch die nach ihrem Muster kon[Vgl. E. Mach, Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, 2. Aufl., Jena 1900.] Dagegen wird später bekanntlich Bergson auftreten.

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

zipierten Atome seien ein in sich geschlossenes, auf keine Weise über sich hinausweisendes Datum, und zwar ein solches, das aus "konkreten" (miteinander verwachsenen) - bildlich gesagt - greifbaren Elementen aufgebaut ist. Ähnliche Elemente hat man versucht in der psychischen Welt aufzufinden. Man hat nach den "Inhalten" gesucht, nach den in sich geschlossenen Daten, nach etwas in der Art schwereloser Materie, etwas, was in keiner Hinsicht Meinung, Intention, Wissen von etwas, Sinngebung ist. Alles, was nicht ein derartiger, nach dem Muster materieller Atome konzipierter "Inhalt" war, hat man eo ipso als Wahn, als Täuschung oder einfach als Irrtum, als Verfälschung der Tatsachen verworfen. Dadurch, daß man in erster Linie auf die ο

sogenannten "Sinnesempfindungen" seine Aufmerksamkeit gelenkt hat weil man bestrebt war, die prinzipiellen Abhängigkeiten oder Korrelationen mit der Sphäre der physischen Gegenstände festzulegen - , ist die Täuschung entstanden, daß eine solche Auffassungsweise des Psychischenαrichtig sei, daß also alles in der Welt der psychischen "Erscheinungen" eigentlich nichts anderes sei als ein gewisses System von auf diese Art geschlossenen, in sich toten "Inhalten" bzw. daß es sich auf sie zurückfuhren lasse. Was Ich schreibe "die sogenannten", weil man meiner Meinung nach als "Empfindungen" verschiedene Entitäten angesehen hat, die strenggenommen gar keine "Empfindungen" und nicht einmal "Empfindungsdaten" im modernen Sinne sind, sondern in den meisten Fällen einfach sinnlich gegebene gegenständliche Dingqualitäten darstellen. Auch dies stammte aus einer alten empiristischen Tradition, schon seit der Zeit von Demokrit und später über Lockes einfache "idea of sensation". Es galt zu jener Zeit unter den Naturwissenschaftlern sogar als die einzig "wissenschaftliche" Betrachtungs- und Redeweise, alles in der Erfahrung Gegebene als "Erscheinung" anzusehen. Das, was bei Kant in Wahrheit wichtig und richtig gewesen war, wurde zurückgewiesen oder übersehen - und man mußte es aufs neue ausgraben, als die philosophischen Probleme wieder anfingen, lebendig zu werden. Dasjenige dagegen, was im Grande eine Achillesferse in Kants System war, was sich aber verhältnismäßig am leichtesten mit der physikalischen Betrachtungsweise der Außenwelt in Einklang bringen ließ, - jene "Erscheinung", als welche jetzt alles, sowohl die unmittelbar gegebenen Dingeigenschaften als auch die sich in der Welt der äußeren Erfahrung abspielenden Ereignisse und Prozesse, gedeutet wurde - hat man zum täglichen Gebrauch in der eigenen wissenschaftlichen Arbeit übernommen. Das, was in der Wahrnehmung unmittelbar gegeben ist, wurde als die "Erscheinung" umgedeutet, und an seine Stelle hat man als das einzig Wirkliche die Welt der Atome und der Bewegungen aller Art angenommen (mindestens aber eine Welt "qualitätsloser" Dinge, die lediglich mit "primären Qualitäten" ausgestattet sind). Hierin haben Kants Theorien die alte empiristische Tradition nur verstärkt

Die Erfahrungspsychologie und der Psychologismus

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dagegen aus diesem Rahmen von seiner Natur her herausgebrochen ist, wurde (bewußt oder unbewußt) weggestrichen, aus dem Bereich der Wirklichkeit ausgeschlossen. Infolgedessen sind immer wieder Theorien aufgetaucht, die sich bemüht haben, das faktische Vorkommen der psychischen Zustände, die anders als "Empfindungen" sind, auf verschiedene Weise zu erklären. Im Laufe der Zeit hat sich unter den Psychologen gleichsam eine besondere Blindheit für alles ausgebreitet, was kein "Inhalt" ist, bei einer gleichzeitigen, unwissentlichen Gewandtheit, alles in ein Konglomerat solcher Inhalte umzudeuten. Eine Folge davon war einerseits eine enorme Verarmung des psychischen Lebens, eine enorme Flachheit und Unfruchtbarkeit der Untersuchungen, andererseits aber eine prinzipielle Verfehlung der eigenartigen Natur sowohl der psychischen Zustände als auch der Bewußtseinserlebnisse (was für die Psychologen des in Rede stehenden Typus selbstverständlich ein und dasselbe war).10 Zunächst bleiben wir immer noch im Bereich der Psychologie einer bestimmten Art. Das soeben Gesagte bezieht sich dabei vor allem auf die Gegenstände, die sich eine solche Psychologie zum Ziel ihrer Forschung gesetzt oder, besser gesagt, sich erzeugt hat. Über die Erkenntnisart und die Betrachtungsmethode [dieser Psychologie] werden wir bald noch ein paar Worte zu sagen haben. Um aber zuerst die Bestimmung ihrer Untersuchungsgegenstände zum Abschluß zu bringen, bemerken wir, daß es von hier zum Psychologismus nur ein Schritt ist. Die Naturwissenschaft und speziell die Physik setzt in ihren Untersuchungen die Welt der Atome und mechanischen Prozesse als die einzige

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Ich spreche nicht mehr über die Umdeutung der psychischen Tatsachen als physiologische, denn dies betrifft speziell die Psychophysik als solche. Dies war aber ebenfalls kennzeichnend für diese Psychologie, die Redeweisen wie die, daß z.B. Sinnes"empfindungen" sich in diesem oder jenem Nervenzentrum befänden oder daB sie sich über die Nerven zum Gehirn übertrügen usw. als ganz natürlich angesehen hat. Es ist noch zu betonen, daß diese Reduktion von allem, was im Bewußtsein erscheint, auf "Inhalte" bei den Psychologen zu einer so starken Angewohnheit geworden ist, daß dies sie sehr daran gehindert hat, die nicht-inhaltlichen Elemente im Bewußtsein anzuerkennen, als sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts und dann im 20. Jahrhundert die Psychologie der Bewußtseinsakte und -tätigkeiten entwickelt hat. Dieser Umstand hat überhaupt eine längere Zeit hindurch eine Verständigung zwischen den Psychologen verschiedener Richtungen verunmöglicht

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

wirkliche, "objektive" Welt11, im Gegensatz zur Welt der unmittelbaren Erfahrung, mithin zur Welt der "Sinnesdaten" wie Farben, Töne, Gerüche usw. Diese "sinnlichen Qualitäten" existieren von diesem Gesichtspunkt aus nicht "objektiv", sondern sind etwas "Subjektives". In diesem Augenblick ergreift die Psychologie das Wort. Nachdem sie eine Menge von Verwechslungen begangen hat, die wir hier nicht besprechen können, verwandelt sie die "Subjektivität" im Sinne der (partiellen oder totalen) Abhängigkeit vom realen Erkenntnissubjekt in die "Subjektivität" im Sinne der Zugehörigkeit zum Psychischen bzw. des Enthaltenseins im Psychischen. Farben, Töne, Gerüche usw. - all dies seien "psychische Zustände", "Sinnesempfindungen". Das ist der erste Schritt zum Psychologismus: die Merkmale von Gegenständen (anschaulich gegebenen Dingen) werden als Zustände realer psychischer Subjekte betrachtet. Und diese Mystifikation ist so stark, daß eben hier das wesentliche Feld der psychologischen Untersuchungen zu liegen scheint. Die Farben, die uns offensichtlich im Raum außerhalb von uns selbst und - wenn man so sagen darf - an materiellen Dingen gegeben sind, werden als etwas gedeutet, was "in uns", ja - nach Ansicht mancher - im Gehirn existiert. Und man braucht erst eine spezielle, von den Psychologen ausgedachte Operation, um sie von dort aus sozusagen in den äußeren Raum "hinauszuprojizieren".

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' Man darf nicht vergessen, daß wir hier von der Einstellung der Physiker in der Zeit sprechen, als die experimentelle Psychologie entstanden ist, mithin um 1860. In den letzten Jahrzehnten hat sich nämlich die Deutung dessen, was in der materiellen Welt "wirklich" ist, unter den Physikern sehr verändert. Es hat sich unter ihnen gleichsam eine Art Kommentar oder ein philosophischer Rand ausgebildet, der aber als philosophisch nicht anerkannt, sondern vielmehr als ein integrales Teilgebiet der Physik selbst betrachtet wird Im besonderen gehört es ungefähr seit der Zeit Poincarés zur vorherrschenden Mode, daß man die ganze Welt der Atome (Elektronen) usw. als bequeme "Modelle" betrachtet, die es uns erleichtern, uns in der Welt der konkreten Erscheinungen zu "orientieren" oder diese Erscheinungen auf gewisse Weise anzuordnen, was das Ziel der Wissenschaft sein sollte. Diesen im Grunde skeptischen Standpunkt nehmen aber die Physiker erst Hann ein, wenn sie ihre Laboratorien und ihren eigentlichen Arbeitsbereich verlassen und ihre Untersuchungsergebnisse zu deuten beginnen. Zum immanenten Sinn der eigentlichen physikalischen Untersuchungen im Laufe des Experimentierens gehört jedoch die Tendenz, die letzte Natur der objektiven, wirklichen Welt zu erkennen und zu fixieren. (Im 20. Jahrhundert hat sich die Situation in dieser Hinsicht mehrfach verändert und wurde in verschiedenen Kreisen von experimentellen wie auch theoretischen Physikern unterschiedlich begriffen. (1962))

Die Erfahrungspsychologie und der Psychologismus

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All dies scheint aber irgendwie selbstverständlich. In der natürlichen Einsteilling des Naturwissenschaftlers hat alles, was nicht materiell ist, was keinen Prozeß bildet, in dem materielle Teilchen als seine Grundlage auftreten, oder was schließlich nicht in Zeit und Raum geschieht, weil es an solchen Prozessen nicht teilnimmt, - gar keine Existenz. Mit anderen Worten, jedes Sein beschränkt sich - vom Gesichtspunkt des Naturwissenschaftlers aus - auf die räumlich-zeitliche und letztendlich materielle Wirklichkeit. Andererseits reduziert sich - wie ich schon angedeutet habe - alles in der Sphäre des Psychischen vom Gesichtspunkt der damaligen Psychologie aus auf "Sinnesdaten" oder sogenannte psychische Inhalte, der ganze Rest des psychischen Lebens aber sei Wahn oder Täuschung. Wenn also von irgendeinem nicht materiellen Gegenstand als von einem existierenden noch die Rede sein kann, so kann er nur etwas Psychisches sein, schließlich also ein Konglommerat von "Sinnesempfindungen", "Inhalten" oder auch ein Assoziationsprozeß, an dem jene Inhalte teilnehmen. Alles, was existiert, ist entweder materiell oder psychisch - das ist die prinzipielle Disjunktion dieses Standpunkts. Oder anders gesagt: Alles, was nicht materiell ist und als existierend anerkannt werden soll, ist psychisch. Dabei bestehen zwischen den physischen und den psychischen Erscheinungen - bei dem geschilderten Standpunkt - weitgehende Analogien, die ich schon oben berührt habe. Die psychische Sphäre, die dadurch, daß man sich zunächst auf "Sinnesempfindungen" konzentriert und alles Nicht-materielle auf sie zurückgeführt hat, ungeheuerlich verarmt ist, erfahrt infolge dieser Disjunktion eine enorme Bereicherung. Leider bereichert sie sich um Entitäten, die mit dem Psychischen und speziell mit dem Bewußtsein meistens nichts zu tun haben. Folglich entstehen ganze Reihen von Psychologien, die über alles mögliche sprechen, nur nicht über das Psychische im strengen Sinne des Wortes. Und wo schon der Charakter der Gegenstände selbst diese zu stark vom Psychischen unterscheidet, da spricht man wenigstens von den "auf die Psychologie gestützten" Wissenschaften. Psychisch sei also vor allem - wie ich erwähnt habe - das ganze konkrete Bild der Außenwelt. "Begriffe", "Urteile", "Theorien" seien psychische Zustände, kurzum die ganze logische Sphäre. Zu psychischen Gebilden werden infolgedessen die Untersuchungsgegenstände der Mathematik (man spricht ja bis heute immer noch von den mathematischen "Begriffen" statt von den Zahlen, Dreiecken, Funk-

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Die Bestrebungen der Phânomenologen

tionen usw.), psychisch seien allerlei Werte (sittliche, ästhetische, soziale usw.), die man in Konglomerate von Gefühlen, Affekten, Wünschen, Begehrungen umdeutet, die irgendwie mit den Vorstellungen, Begriffen usw. verbunden seien. Psychisch seien Kunstwerke: die musikalischen, die literarischen Werke, ja sogar Skulpturen seien nichts anderes als Stücke von Materie, an die verschiedene Gefühle, Vorstellungen usw. geknüpft seien. Von Objekten wie z. B. dem Staat, der Universität kann gar keine Rede sein. Es verbreitet sich eine gewisse Blindheit für die eigene Natur von Gegenständen verschiedener Art und verschiedener Seinsweise, bei einer gleichzeitigen ungezügelten konstruktiven Fertigkeit. [Dies ist] ein scheinbarer Reichtum und zugleich eine ungeheure Verarmung der Welt der psychischen Zustände, von denen die meisten in ihrer Eigenart fast ganz verkannt werden - und zwar gerade derjenigen Zustände, in denen sich die charakteristischsten Merkmale 12

des sozialen Individuums, der menschlichen Person bekunden. Wie kann man das erklären? Man könnte nämlich meinen, daß bei einer Umdeutung dieser so verschiedenartigen Gegenstände in psychische Zustände die Welt der letzteren überaus reich sein sollte. Es geschieht [jedoch] etwas, was auf den ersten Blick verwunderlich scheint. Diese ganze Mannigfaltigkeit verschiedener Gegenstände, angeblich psychischer Natur, wird bestenfalls auf ein paar höchst einfache Elemente wie Sinnesempfindungen, Vorstellungen, Gefühle usw. zurückgeführt, und zwar auf Elemente, deren Erkenntnis mit einigen primitiven Bestimmungen abgetan wird; die ganze Bemühung des Forschers richtet sich dann darauf, manchmal sehr raffinierte 12 Als ich das Manuskript dieses Aufsatzes zum Druck verbesserte, fand an der Universität zu Warschau die Vorlesung von Leon Petraiycki unter dem Titel "Wissenschaft und Universität" statt Die Zuhörer erhielten dort (1919) eine klassische psychologistische Auffassung der Wissenschaft als etwas, was im Grunde nichts anderes sei als spezielle psychische Zustande. Mehr noch, es wurde gesagt, daß Avas man außerdem über die Wissenschaft als solche sagt, nur "trockene, wertlose Formeln" seien, die auf keinen Erfahrungsunteisuchungen beruhen würden. Trotz aller Hochachtung für Prof. Petrazycki - der übrigens, wie bekannt, auch das ganze Gebiet des Rechts als eine Menge psychischer Tatsachen angesehen hat kann ich seine Ansichten in dieser Frage nicht teilen. Ich sehe sie als nicht übereinstimmend mit den Ergebnissen der echten "Erfahrung" an, wenn es auch außer Zweifel steht, daß sich in uns im Umgang mit den Gebilden der Wissenschaften eine ganze Reihe von manchmal sehr komplizierten Bewußtseinsoperationen und psychischen Zuständen vollziehen. Die ersteren sind jedoch nicht die letzteren.

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Theorien auszudenken, die sich auf die zwischen diesen Elementen stattfindenden Prozesse beziehen und die kompliziertere psychische Erscheinungen erklären sollen, und jene so verschiedenartige Gegenstände auf diese zu reduzieren. Diese Theorien erklären in Wahrheit gar nichts und fuhren jeden unvoreingenommenen Forscher zur Überzeugung, daß man hier der einzigartigen Natur der Gegenstände Gewalt antut. Ganze Generationen von Psychologen haben sich jedoch so stark daran gewöhnt, nicht-psychische Gegenstände in psychische umzudeuten, daß dies ihnen nicht nur als natürlich, sondern sogar als einzig richtig erschien. Jene Zurückfuhrung von allem auf ein paar einfache Elemente hängt aber unmittelbar mit der Erkenntnisart und der Methode zusammen, die in der oben geschilderten Psychologie bzw. in einer Reihe von verschiedenen psychologistischen Theorien verwendet werden. Ich gehe jetzt dazu über. Es empfiehlt sich wieder, auf die Naturwissenschaften von den Erscheinungen der Außenwelt zurückzugreifen. Was für Erkenntnis wird in ihnen verwendet? Die Naturwissenschaften sind bekanntlich Erfahrungswissenschaften in zweifachem Sinne: 1) Der Erkenntnisakt, auf dem die Gültigkeit (Wahrheit) der naturwissenschaftlichen Theorien letztendlich beruht, ist die sogenannte "Erfahrung", d. h. das System von miteinander motivationsmäßig verbundenen Sinneswahrnehmungen, Beobachtungen und wahrnehmungsmäßigen Erkenntnisakten im engeren Wortsinne, ζ. B. unmittelbaren Vergleichen zweier Gegenstände hinsichtlich eines Merkmals usw. 2) Der auf diesem Weg gewonnene und gedanklich verarbeitete Stoff - nachdem er in Urteile im logischen Sinne gefaßt worden ist, die eventuell durch diese oder jene logischen Abhängigkeiten miteinander verbunden sind - legt dem Naturwissenschaftler eine Reihe von Fragen nahe, auf welche die einfache Beobachtung keine Antwort mehr erteilen kann und die manchmal erst die "Erfahrung" im Sinne des Experiments beantwortet. In diesem Fall schafft man zuerst objektive Bedingungen für einen Prozeß oder ein Ereignis, das wir untersuchen sollen, und bringt dann diesen Prozeß mit Hilfe angemessener Methoden in Gang, um ihn beobachten, eventuell mit Hilfe geeigneter Apparate seinen Verlauf registrieren und ihn einer Messung unterziehen zu können. Genauer gesagt: die Erfahrung in der ersten Bedeutung legt die Vermutung nahe, daß in einer konkreten Erscheinung viele verschiedene Faktoren

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zusammenwirken. Wir möchten sie untersuchen und ihren Einfluß auf die Merkmale der konkreten Erscheinung, eventuell auf den Verlauf des Prozesses einschätzen. Es kommt also darauf an, jene Erscheinung oder diesen Prozeß künstlich so zu realisieren, daß jene Faktoren voneinander getrennt, in ihren verschiedenen Arten und Intensivitätsgraden auftreten können, derart, daß zum Vorschein kommt, welche Elemente der konkreten Erscheinung oder welche Merkmale von ihr und in welchem Grade Folgen der einzelnen zusammenwirkenden Faktoren darstellen. Dadurch, daß man eventuell einen dieser Faktoren stabilisiert (oder fixiert) und gleichzeitig die Intensität der anderen steigert oder eventuell einige davon ganz ausschließt und stattdessen andere einfuhrt, wird es möglich, diese kausalen Abhängigkeiten nicht nur zu realisieren, sondern auch zu beobachten. Das ist die Grundidee des Experiments und der ganzen Methode der experimentellen Untersuchungen, [einer Methode,] die in einzelnen Wissenschaften seit vielen Jahrhunderten zu einer echten Kunst ausgebildet und differenziert worden ist. Schon aus diesem allgemeinen Umriß des Wesens des Experiments geht hervor, worum es sich in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis der Außenwelt eigentlich handelt oder aber worum es sich hierin in erster Linie nicht handelt. Eine zweitrangige Angelegenheit, die sich praktisch auf ein paar ganz simple Bemerkungen beschränkt, ist die anschauliche Erfassung und die Beschreibung des spezifischen Charakters der physischen Erscheinung. Dies geschieht nur insofern, als es für das Hauptziel unumgänglich ist: um die kausalen (oder funktionalen) Zusammenhänge zwischen den eigens unterschiedenen und ausgewählten Elementen der Erscheinung als Wirkungen und den hypothetisch angenommenen "objektiven" Prozessen (Tatsachen) als Ursachen exakt zu bestimmen und schließlich die Zusammenhänge der kausalen Abhängigkeit zwischen den letzteren Prozessen festzulegen und sie in exakte Formeln naturwissenschaftlicher, speziell physikalischer Gesetze zu fassen. Dazu gelangen die Naturwissenschaften - wie ich erwähnt habe - auf dem Weg des Experimentierens. Die Bedingungen des Stattfindens eines Prozesses, der sich in einer konkreten Erscheinung bekundet, sind nichts anderes als eine Reihe von materiellen Prozessen, die mit dem ausgewählten Moment der konkreten Erscheinung vermutlich in einem Kausalzusammenhang stehen. Wir bemühen uns, eine möglichst große Anzahl davon "festzulegen". Dies bedeutet: wir bewirken mit Hilfe verschiedener methodischer Operatio-

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nen, daß sie (wenigstens in Annäherung) unveränderlich wirken und fuhren dann die Mitwirkung eines neuen Prozesses X ein, der nach unserer Hypothese eine Ursache des ausgewählten Moments der konkreten Erscheinung ist. Um das Experiment durchführen zu können, muß der Prozeß X so ausgewählt sein, daß er unserer Kontrolle unterliegt und uns dermaßen bekannt ist, daß wir einzelne Merkmale von ihm bestimmen können (ζ. B. die Stärke, die Spannung oder die Richtung des elektrischen Stroms, der im magnetischen Feld Änderungen hervorruft, die wir zu untersuchen haben und deren Abhängigkeit von den genannten Merkmalen des Stroms wir nachweisen wollen). Indem wir die Mitwirkung des Prozesses X einfuhren, bewirken wir, daß er sich in einer Reihe von uns streng bestimmter Abwandlungen (ζ. B. hinsichtlich der Stärke) abspielt. Jede Abwandlung zieht eventuell eine Änderung im Ganzen der Erscheinung, die wir beobachten, nach sich. Der Idealfall ist dabei die sogenannte "objektive" Beobachtung mit Hilfe speziell konstruierter, möglichst richtig funktionierender Apparate und eine möglichst weitgehende Beschränkung der Verwendung der subjektiven Methode. Bei der objektiven Beobachtung handelt es sich im Gegensatz [zur subjektiven Methode] darum, gewisse wahrgenommene und infolge der eingeführten Abwandlungen des Prozesses X sich entsprechend verändernde Elemente der konkreten Erscheinung auf gewisse schon bekannte (und eventuell mit Hilfe eines schon eingeführten Systems von Einheiten bereits gemessene) objektive Prozesse zurückzufuhren, die in den zuvor untersuchten Erscheinungen zum Vorschein kommen. Eine Voraussetzung ist dabei, daß die Kette von Kausalzusammenhängen zwischen den Prozessen und den sich verändernden Elementen der betrachteten Erscheinung schon erforscht ist und daß die Einwirkungen aller nebensächlichen und zufalligen Ursachen in den Grenzen der praktischen Möglichkeit ausgeschlossen worden sind. Worauf es also letztendlich ankommt, ist die Erforschung der Kausalzusammenhänge zwischen dem Prozeß X und seiner Wirkung xj (bzw. einem System von Wirkungen χι, X2, ... x n , die jeder einzelnen Abwandlung des Prozesses X entsprechen), [einer Wirkung], die auf dem oben nachgezeichneten Weg in neuen Wirkungen (yi, y2,... y„) zum Ausdruck kommt, die schon gemessen und auf analoge Weise erkannt worden sind. Nachdem aber das System von Wirkungen (xj, X2,... Xn), das vom Prozeß X abhängig ist, so untersucht worden ist, fixieren wir wieder den Prozeß X und versuchen, die gleiche Opera-

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tion in bezug auf die anderen Prozesse Ζ, Κ... durchzuführen, die vermutlich an den Ursachen der konkreten Erscheinung bzw. der Erscheinungen der gleichen Art teilnehmen, und wir bemühen uns, das Bestehen der Kausalzusammenhänge zwischen diesem Prozeß und den entsprechenden Elementen der konkreten Erscheinung (zj, Z2, ... Zn), (kj, k2, ... k j festzustellen. Schließlich geht es darum, die Abhängigkeiten zwischen den Prozessen X, Z, Κ ... selbst festzustellen und diese Abhängigkeiten in exakte Gesetze zu fassen. Mit anderen Worten: die konkrete Erscheinung ist gleichsam die Kreuzung (Resultante) von allen Wirkungen der Prozesse, die im gegebenen Fall (bzw. in Fällen derselben Art) miteinander zusammenwirken. Die Abhängigkeiten zwischen diesen Prozessen bilden den eigentlichen Gegenstand der Untersuchungen, die konkrete Erscheinung hingegen ist nur ein Ausgangspunkt, gleichsam ein geschickt entziffertes Alphabet. Die Erscheinung gilt dann als "erkannt", wenn wir die Prozesse Χ, Ζ, Κ ... und die Abhängigkeiten zwischen ihnen angeben können. Sie selbst spielt dabei eine zweitrangige Rolle, fast genauso, wie fur das Erkennen des Inhalts eines Buches das Alphabet zweitrangig ist, in dem es geschrieben worden ist. Oder paradox gesagt: die konkrete Erscheinimg gilt dann als erkannt, wenn wir alles andere, nur nicht die Erscheinung selbst erkennen. Wer sich jedoch die Zusammenhänge, die hinter diesem Paradox stecken, nicht zum Bewußtsein bringt, kommt sehr leicht zur irrtümlichen Identifizierung, die sich im Satz ausdrückt: "die konkrete Erscheinung ist jene (in Wahrheit nur hypothetisch angenommenen) zusammenwirkenden Prozesse". Man sagt ζ. B.: "das Licht ist ein System von Schwingungen des Äthers einer bestimmten Wellenlänge". Dann scheint auch die These richtig zu sein, daß die konkrete Erscheinung zu erkennen nichts anderes heiße, als jene Prozesse zu ermitteln und die Kausalzusammenhänge zwischen ihnen zu bestimmen. Da es aber dabei vor allem darum geht, diese Zusammenhänge auf exakte Weise, mit Hilfe eines Systems von beliebig gewählten berechenbaren Einheiten zu bestimmen, verliert die Erkenntnis der einzelnen Glieder dieser Zusammenhänge hinsichtlich ihrer absoluten Merkmale nur desto mehr an Bedeutung. Denn für die Erkenntnis eines konstanten Verhältnisses zwischen zwei Variablen wird die Erkenntnis der spezifischen Merkmale der konkreten Werte dieser Variablen nicht notwendig benötigt. Es ist nur notwendig, den Bereich ihrer Variabilität zu bestimmen. Außerdem können die Glieder der Verhältnisse

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hinsichtlich ihrer absoluten Merkmale in gewissen Grenzen voneinander verschieden sein, obwohl die Verhältnisse dieselben sind. Daher wird mit der Entwicklung der Erkenntnis der Gegenstände eines gegebenen Gebiets die Anzahl der spezifischen, absoluten Merkmale der Gegenstände immer kleiner und der Bereich der Eigenschaften der Verhältnisse zwischen den Gegenständen immer größer, womit auch die Zunahme an relativen Merkmalen einhergeht. Einerseits bleibt eine geringe Anzahl von Elementen, andererseits ein System von zwischen ihnen bestehenden Verhältnissen übrig, die in einem System von Gesetzen ausgedrückt werden. Da es aber gleichzeitig darauf ankommt, die objektiven Sachverhalte möglichst genau zu bestimmen, jene Elemente aber eine Art Indefinibilia sind, bei denen das Erkenntnissubjekt gewisse "subjektive", von ihm abhängige Veränderungen einfuhren kann, wird das Streben danach verständlich, die Anzahl der Elemente möglichst zu beschränken und von ihnen nicht so sehr ihre spezifische Materie, als vielmehr ihre konstante Form beizubehalten, sie an etwas wie algebraische Konstanten anzunähern, an etwas, was invariabel sein muß, was aber nicht notwendig bekannt zu sein braucht und was de facto im Verhältnis zum Grad und Typus der Erkenntnis der Zusammenhänge zwischen den Elementen bzw. angenommenen Prozessen im Grunde eine "Unbekannte" darstellt. Ich möchte hier nicht auf dasjenige Moment der naturwissenschaftlichen (insbesondere physikalischen) Erkenntnis eingehen, das in der quantitativen Erfassung aller Zusammenhänge besteht Wenn es auch wenigstens manchen Naturwissenschaftlern eine Art conditio sine qua non der Wissenschaftlichkeit der Erkenntnis zu sein scheint, spielt es in unseren weiteren Betrachtungen trotzdem keine größere Rolle. Ich muß dagegen unbedingt noch auf einen wichtigen Zug dieser Erkenntnis aufmerksam machen. Jedes System von Erkenntnissen, die sich auf die Erfahrung stützen, ist zum einen eine synthetische Resultante von allen bis zu diesem Augenblick gemachten Erfahrungen, die mit dem gegebenen Gegenstand oder Gegenstandskomplex im Zusammenhang stehen, zum anderen aber eine zufällige Resultante. Jede Erfahrung eines Gegenstands oder Gegenstandskomplexes motiviert die weiteren Erfahrungen und wird selbst durch die früheren Erfahrungen motiviert. Außerdem besteht immer die Möglichkeit, daß wir neue Erfahrungen gewinnen, welche die Ergebnisse der vorangehenden Erfahrungen auf wesentliche Weise modifizieren oder auch völlig nichtig machen werden. Dies bedeutet,

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daß es zwar prinzipiell möglich ist, daß die neuen, ζ. B. genaueren oder umfassenderen Erfahrungen die bisherigen Ergebnisse bestätigen werden, daß aber die Wahrheit der bisher gewonnenen Ergebnisse auf absolute, endgültige Weise nicht nachgewiesen werden kann. Dies hängt natürlich mit dem Wesen der äußeren und der inneren Wahrnehmung wie auch mit dem Aufbau der realen Gegenstände zusammen, doch wir können darüber erst später mehr sagen. Kommen wir aber auf die Psychologie und den Psychologismus zurück. Die Psychologie der in Rede stehenden Art bedient sich - wie ich gesagt habe - der Erfahrung und der Methode der Naturwissenschaft. Kein Wunder also, daß wir in ihr, wie auch in den sekundären psychologistischen Theorien, ganz ähnliche Tendenzen wie die oben umrissenen vorfinden. Der Psychologe findet in der inneren Wahrnehmung eine psychische Erscheinung. Sie ist jedoch für ihn - ähnlich wie eine physische Erscheinung für den Physiker - nur eine Kreuzung (Resultante) der Wirkungen von einer ganzen Reihe mitwirkender Ursachen. In der von den Naturwissenschaftlern übernommenen Einstellung versucht der Psychologe, jene Erscheinung zu "erkennen", mithin ihre Ursachen aufzufinden, die Zusammenhänge der kausalen Abhängigkeiten festzulegen, letztendlich das konkrete psychische Leben in eine verschwindend geringe Anzahl von Elementen - in der Art der oben erwähnten algebraischen Konstanten - zu zerschlagen und die zwischen ihnen bestehenden Verhältnisse in eine Reihe von möglichst exakten Gesetzen zu fassen. Die psychische Erscheinung als solche ist dem Psychologen dieser Art fast gleichgültig. In seinem Streben danach, von der psychologischen Erkenntnis jede "Subjektivität" auszuschließen, fuhrt er eine Reihe von manchmal ideenreichen Versuchen mit mehreren Personen durch, die er in eine von ihm ausgedachte Situation versetzt und der Einwirkung der ihnen erteilten Stimuli aussetzt. Je passiver die "Versuchsperson" ist, je weniger sie sich bemüht, von den von ihr erlebten psychischen Zuständen etwas aktiv zu erschauen, je "unüberlegter" sie auf die ihr gestellten Fragen oder andere Reize antwortet (bzw. überhaupt irgendwie reagiert), desto besser erfüllt sie ihre Aufgabe. Dies wird damit erklärt, daß der Experimentator darauf abzielt, die Einwirkung von verschiedenen variablen Faktoren auf die hypothetisch angenommenen psychischen "Vermögen" (oder "Dispositionen") wie auch die Rückwirkung dieser Vermögen zu bestimmen, so daß ihre Zusammenwir-

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kung als eine invariable keine zufalligen und flüchtigen Modifikationen in die konkrete psychische Erscheinung hineinbringt. Das Experiment selbst aber verursacht auf eine im voraus bestimmte Weise das Ausüben eines untersuchten Vermögens, ein Ausüben, das sich in verschiedenen Phasen seines Wirkens in den einzelnen Momenten der konkreten psychischen Erscheinung äußert, auf die der Experimentator die Versuchsperson sich konzentrieren läßt. In dem Augenblick aber, wenn die Versuchsperson beginnt, auf ihre psychischen Zustände zu reflektieren, kann sie sehr leicht auf den Verlauf und speziell auf den Inhalt dieser Zustände einen Einfluß ausüben und in den untersuchten Zuständen Veränderungen verursachen, und zwar unabhängig von den im voraus bestimmten Bedingungen des Experimentes, [Veränderungen,] die sich meistens kaum voraussehen und vorausberechnen lassen. Deswegen verlangt der experimentelle Psychologe von der Versuchsperson, daß sie auf die ihr dargebotenen Reize nach Möglichkeit automatisch antworte und ihre Aktivität, u. a. auch im Erkennen dessen, was in ihr oder mit ihr geschieht, auf ein Minimum reduziere. Praktisch hat dies zur Folge, daß die Versuchsperson selbst vom anschaulichen Inhalt der von ihr erlebten psychischen Zustände sehr wenig erkennt, zumal es auch Zustände oder psychische Erlebnisse gibt, die in ihrer Eigenart nur dann erkannt werden können, wenn die betreffende Person ihnen gegenüber eine angemessene und entsprechend lebendige und aktive Einstellung einnimmt. Die sogenannte Versuchsperson sollte - den Wünschen der experimentellen Psychologie gemäß - lediglich das Vorkommen verschiedener Modifikationen eines Momentes von ihrem konkreten Erlebnis auf möglichst einfache Weise feststellen. Diese Modifikationen aber - ähnlich wie jenes Moment wie auch schließlich die ganze konkrete psychische Erscheinung - sind für sich selbst in ihrer Beschaffenheit oder ihrem Verlauf ohne Belang, sie sind nur eine Art Hinweise auf gewisse, sich irgendwo "hinter" der Erscheinung verbergende psychische Prozesse - wie das Entstehen einer Disposition oder physiologische Prozesse. Diese Prozesse machen das Hauptthema der Untersuchungen aus. Daher sagt man in psychologischen Büchern so verschwindend wenig davon, was die Sinnesempfindung ist, was die Wahrnehmung oder Vorstellung ist, was das Gefühl ist oder wie beschaffen die gegebene Empfindung ist, wie sie verläuft und vergeht, wie sie durch das gleichzeitige Auftreten mit den gerade so und so ausgewählten Elementen

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eine Färbung annimmt, während die kausal-genetischen Theorien so viel Platz wegnehmen, die das Erscheinen dieses oder jenes Moments der psychischen Erscheinung unter gegebenen Umständen erklären sollen, wobei dieses Moment gewöhnlich auf sehr allgemeine Weise bestimmt wird.13 Die konkrete psychische Erscheinimg wird hier - ähnlich wie in der Naturwissenschaft - mit einem gewissen System von psychischen Prozessen gleichgesetzt, die zu ihrem Entstehen fuhren, von Prozessen oder Vermögen, die nur hypothetisch angenommen werden. Die psychische Erscheinung gilt folglich als erkannt, wenn das System der psychischen Prozesse oder Vermögen angegeben wird, die zu ihrem Entstehen beitragen. Damit zeichnet sich zugleich eine Tendenz ab, die konkreten psychischen Erscheinungen auf eine minimale Anzahl einfacher Elemente zurückzuführen. Diese Tendenz steht im Zusammenhang mit dem oben erwähnten Streben der Naturwissenschaft, in der Erkenntnis jede "Subjektivität" zu beseitigen oder wenigstens zu beschränken. Daher ergibt sich jene ungeheure Verarmung der psychischen Welt, die ich oben erwähnt habe. Dem empirischen Charakter der Psychologie gemäß wird schließlich jedes ihrer Ergebnisse mit Hilfe zahlreicher sich gegenseitig modifizierender und motivierender Erfahrungen gewonnen, und die erlangten Ergebnisse sind immer vorläufig und nie ganz sicher. Die Psychologie ist bestrebt, allgemeine psychologische Gesetze festzulegen. Damit hängt noch ein anderes Charakteristikum der psychologischen Methode zusammen, das dem entsprechenden Moment der naturwissenschaftlichen Methode überhaupt analog ist. In den Naturwissenschaften handelt es sich nämlich darum, allgemeine Gesetze zu ermitteln, nach denen sich die objektiven, ζ. B. physikalischen Prozesse abspielen. In der unmittelbaren Erfahrung aber trifft der Naturwissenschaftler sehr differenzierte Erscheinungen an, die sich in ihrer konkreten Gestalt nur in verhältnismäßig freien Grenzen in verschiedene Typen einordnen lassen und auf das Bestehen konstanter Gesetze hindeuten. Vergleichen wir irgendein physikalisches Gesetz mit den entsprechenden konkreten Erscheinungen oder Prozessen, dann stellen wir fest, daß es sich nur in gewissen Grenzen bewährt, faktisch aber größere oder kleinere Abweichungen von der durch das Gesetz vorge13

Es wird abrigáis oft gesagt, daß man sowieso gut wisse, wie beschaffen dieses Moment ist, daß man dies aber bloß im unmittelbaren Erlebnis wisse und davon weder mehr sagen noch selbst erfahren könne.

Die Erfahrungspsychologie und der Psychologismus

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zeichneten Linie stattfinden. Wenn wir ein gewisses Gesetz schon besitzen, erklären sich jene Abweichungen damit, daß unter den Ursachen der konkreten Erscheinimg gewisse Prozesse mitwirken, von denen das betreffende Gesetz explicite nichts sagt, sei es deswegen, weil es sich nicht auf sie bezieht oder weil es gewisse Bedingungen des Vorkommens der konkreten Erscheinung verschweigt. Wenn wir die verschwiegenen Bedingungen mitberücksichtigen, wird das Gesetz genauer: der Unterschied zwischen dem faktischen Verlauf des gegebenen Prozesses und dem, was das Gesetz besagt, wird geringer. Praktisch genommen ist ein Gesetz immer nur eine gewisse Annäherung an Einzelfalle,14 eine Annäherung, die aus einer Menge konkreter Erscheinungen als Durchschnittswert errechnet wird. Dies ist aber so, weil die Anzahl der an einem konkreten Prozeß mitwirkenden Ursachen prinzipiell sehr groß, vielleicht sogar unendlich ist. Dadurch kann die weitere Forschung fast immer, wenngleich nicht immer, neue Faktoren entdecken, die auf den Verlauf der Prozesse und die Gestaltung der konkreten Erscheinung einen Einfluß haben. Es scheint somit, daß der approximative Charakter der naturwissenschaftlichen Gesetze gänzlich nicht zu beseitigen ist. Wenn wir aber über ein gewisses Gesetz noch nicht verfügen und wenn es sich uns nur vage andeutet, müssen wir die konkrete physische Erscheinung auf eine charakteristische Weise rekonstruieren, um überhaupt zu einem exakten Gesetz zu gelangen. Hier spielt vor allem die Tatsache mit, daß die Grundwissenschaft der Physik die Mechanik bildet und daß alle physikalischen Prozesse letzten Endes auf mechanische Prozesse zurückgeführt werden.15

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Ich muß betonen, daß diese Sätze zu jener Zeit geschrieben wurden, als weder die Quantenmechanik noch Heisenbergs Unbestimmtheitsprinzip, noch all die Tatsachen bekannt waren, die heutzutage viele Forscher dazu bewegen, in den Gesetzen der Mikrophysik nur "statistische" Gesetze zu sehen und dadurch das Anwendungsfeld der Kausalgesetze zumindest zu beschränken. Zur Zeit würde man den approximativen Charakter der mikrophysischen Gesetze vermutlich anders verstehen und auf andere Gründe zurückführen. Diese Fragen sind jedoch ohne Belang für unsere weiteren Ausführungen. (1962) Ich führe diese Betrachtungen speziell in bezug auf die Physik durch, denn sie ist die repräsentativste Naturwissenschaft, in der sich auch am deutlichsten die charakteristischen Züge der naturwissenschaftlichen Auffassung der Außenwelt ausprägen. Andere Naturwissenschaften weisen in ihrer Methode verschiedene Abweichungen von der physikalischen Methode auf, diese hat aber den anderen Naturwissenschaften immer als Vorbild und als ein gewisses Ideal vorgeschwebt, besonders zu der Zeit, von der ich hier spreche. (1961)

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Diese Prozesse aber werden auf die Weise der Mathematik aufgefaßt, wo die Bewegung nichts anderes ist als eine Funktion der Zeit und des Raums als exakt definierter unabhängiger Variabler. Im Zusammenhang damit findet die soeben erwähnte Rekonstruktion der physischen Erscheinungen statt. Vor allem aber erfolgt mit Hilfe entsprechender Methoden eine Transkription von Qualitäten in Quantitäten bzw. quantitative Verhältnisse. Infolgedessen verlieren die qualitativen Momente der physischen Erscheinung noch mehr an Bedeutung und nehmen allmählich immer mehr die Rolle eines Alphabets an, das die Entzifferung der quantitativen Verhältnisse ermöglicht.16 Außerdem werden auf Grund der Mannigfaltigkeit von Erscheinungen einer gewissen Art (einer Art, die schon für sich selbst ein Durchschnittswert ist) gewisse "Durchschnittswerte" errechnet, von denen die einzelnen Erscheinungen mehr oder weniger abweichen. Nicht die individuellen Merkmale einer Erscheinung, die sie von anderen Erscheinungen unterscheiden, werden dabei berücksichtigt, sondern diejenigen Merkmale, die bewirken, daß die betreffende Erscheinung anderen Erscheinungen ähnlich ist. Von diesen Merkmalen werden die durchschnittlichen Merkmale gewonnen, und erst aus diesen baut sich der Gegenstand auf, den das Gesetz betrifft. Was aber als das durchschnittliche Merkmal gewählt wird, hängt von dem Umfang und der Auswahl der untersuchten Erscheinungen ab. Indessen werden dieser Umfang und diese Auswahl nicht mehr durch bloß erkenntnismäßige Gründe bestimmt, sondern sind entweder ganz zufallig oder ergeben sich aus irgendeinem nicht-erkenntnismäßigen Interesse oder aus einem praktischen Bedürfnis oder aus einer subjektiven Vorliebe. Folglich wird hier "die Art" hinsichtlich der Erkenntnis - durch den zufälligen Umfang der Erscheinungen bestimmt, die der Erfahrung unterzogen worden sind. Je mehr Erscheinungen wir untersuchen, desto mehr weicht der auf diesem Weg gewonnene Durchschnittswert von der individuellen Beschaffenheit der Erscheinungen

Es ist übrigens bezeichnend, daß die Theorie der S innésWahrnehmung, der zufolge diese nur ein System von Zeichen dafür darstellt, was in der Wirklichkeit geschieht, von einem der hervorragendsten Naturwissenschaftler der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgetragen worden ist, der vor allem Physiker war - von Helmholtz. [Vgl. H. Helmholtz, Die Tatsachen in der Wahrnehmung, Berlin 1879 und R. Ingarden, "Herman Heimholte erkenntnistheoretische Auffassungen", in: Ingarden (1997), S. 193-255 (polnische Originalversion in: Ingarden 1995, S. 183-231).]

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ab, das Gesetz umfaßt aber - in verschiedenen Annäherungsstufen - einen immer größeren Bereich von darunter fallenden Fällen. Daher die Tendenz, die Erfahrungen zu vermehren, die Messungen und die Berechnung arithmetischer Mittelwerte auf Grund der gewonnen Resultate zu wiederholen. Nicht anders verhält es sich in der experimentellen Psychologie jener Zeit. Hier ist natürlich keine Rede davon, daß alle Prozesse und Veränderungen auf mechanische Prozesse zurückgeführt werden. Indessen sind die oft gebrauchten - und mißbrauchten - Assoziationsgesetze eine Art Ersatz für die mechanischen Gesetze. Man fuhrt hier jedenfalls eine ähnliche Formalisierung der konkreten Erscheinungen durch und errechnet Durchschnittswerte, indem man gleichzeitig von den individuellen, charakteristischen Merkmalen absieht. Daraus [erklärt sich] auch die größere Gleichgültigkeit gegenüber dem konkreten qualitativen Gehalt einer psychischen Erscheinung und zugleich die immer größere Unstimmigkeit zwischen dem konkreten Verlauf des Erlebnisses und dem Inhalt des "exakten" Gesetzes. Im Endergebnis ist die so betriebene Psychologie ein Nebenzweig der Naturwissenschaft. Die Naturwissenschaft im strengen Sinne habe von der Außenwelt Besitz ergriffen, die Psychologie dagegen - von der Welt des Psychischen, es gebe aber keinen prinzipiellen Unterschied zwischen den beiden. Dies haben die Naturwissenschaftler selbst betont und waren stolz darauf, Naturwissenschaftler zu sein. 17

17 Noch während meines Aufenthalts in Göttingen (1912/16) hat dies Professor Georg Elias Müller nachdrücklich betont, und er war in dieser Hinsicht nicht vereinzelt unter seinen Kollegen, den experimentellen Psychologen sensu stricto, obwohl manche seiner Mitarbeiter, z.B. der damalige Dozent der Universität Göttingen David Katz [vgl. D. Katz, Die Erscheinungsweisen der Farben und ihre Beeinflussung durch die individuelle Erfahrung. Leipzig 1911 (Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Erg. Bd. 7), derselbe, Der Aufbau der Tastwelt, Leipzig 1924 (Zeitschrift fur Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, Erg. Bd. 11)], bald begonnen haben, die Psychologie auf ganz andere Weise zu betreiben, und obwohl zu derselben Zeit die ersten Abhandlungen Wertheimers zur sogenannten Gestaltpsychologie erschienen sind. Außerhalb Deutschlands haben sich schon viel früher Stimmen erhoben, die die experimentelle Methode in der Psychologie in Zweifel gezogen haben (H. Bergson, Essai sur les données immédiates de la conscience, [Paris] 1889) oder dieser Methode eine andere Auffassungsweise der Struktur der Bewußtseinserlebnisse gegenübergestellt haben (William James, The Principles of Psychology, [New York] 1890 und das genannte Buch Bergsons).

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

Ich möchte hier nicht entscheiden, ob und inwiefern eine solche Ausrichtung der psychologischen Untersuchungen richtig ist. Es sei nur bemerkt, daß, wenn manche Psychologen dieser Art (z.B. Fechner, Wundt) eine Zeitlang gehofft haben, durch die beschriebene Arbeitsweise etwas für die Philosophie zu tun, die [tatsächlich] erreichten und übrigens schlußendlich von den Psychologen selbst zugestandenen Ergebnisse beweisen, daß dies eine Täuschung war, daß man also durch diese Art Psychologie fur die Philosophie nichts gewonnen hat. Der Psychologismus aber, auf den wir noch in einigen Worten zurückkommen müßen, hat die Philosophie, oder jedenfalls manche ihrer Teilgebiete, auf einen Irrweg gebracht. Der Psychologismus besteht - wie ich angedeutet habe - erstens darin, daß man Gegenstände, die nichts Psychisches sind, in Konglomerate von Elementen psychischer Zustände umdeutet, und zweitens darin, daß man für ihre Erkenntnis eine unangemessene Methode verwendet. Den ersten Punkt habe ich schon besprochen, es bleibt also übrig, den zweiten zu ergänzen. Es war gegen Ende des vorigen Jahrhunderts ein sakrosanktes philosophisches Dogma, daß die Psychologie die Grundwissenschaft der Philosophie bilde, deren Zweige die einzelnen philosophischen Theorien seien, oder daß sie zumindest das theoretische Fundament und die letzte Grundlegung dieser Theorien ausmache. Und wie sollte man etwas anderes meinen, wenn man als sicher annahm, daß alles Seiende entweder physisch oder psychisch sei? Daher diente die Psychologie - und zwar die Psychologie der in Rede stehenden Art - als theoretische Grundlage für die Logik, Ethik, Ästhetik usw. Man hat auch, in der Regel ohne Bedenken, von der experimentellen 10

Methode Gebrauch gemacht (ζ. B. Fechner, Vorschule der Ästhetik ). So ist man auf die sonderbare Idee gekommen - die aber längere Zeit hindurch als vernünftig galt - , die apriorischen Gesetze der Logik auf dem psychologischexperimentellen Weg zu begründen, ohne zu bedenken, daß die Erfahrung den Erkenntniswert der apriorischen Erkenntnis nicht erreichen kann, der nicht nur von den Ergebnissen der Erfahrung unabhängig ist, sondern auch den Wert der Erfahrung in der oben besprochenen Bedeutung übersteigt. Es

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In Deutschland existierte natürlich die deskriptive Psychologie Brentanos, doch ihr Einfluß außerhalb des Kreises seiner Schüler, insbesondere unter den experimentellen Psychologen, war nicht groB. [2. Aufl., Leipzig 1897/98.]

Die Erfahrungspsychologie und der Psychologismus

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kann nicht meine Aufgabe sein, die Resultate dieser Verfahrensweise kritisch zu besprechen. Bezüglich der Logik hat dies Edmund Husserl im ersten Band seiner Logischen Untersuchungen (1900) gemacht. In bezug auf andere psychologistische Theorien könnte eine solche Kritik ohne Mühe durchgeführt werden, doch dies ist nicht das Ziel, das ich mir hier gesetzt habe. Es sei nur erwähnt, daß das Ergebnis der psychologistischen Betrachtungsweise verschiedener Gegenstände in der Philosophie genau das Gegenteil dessen sein mußte, was sich die Autoren dieser Untersuchungen davon versprochen haben. Ihre Absicht war es, die philosophische Forschung auf eine unbedingt sichere Grundlage zu stellen, um schließlich endgültige "wissenschaftliche" Resultate zu erlangen. Im Effekt sind sie aber zum skeptischen Standpunkt gelangt, was sich deutlich in den erkenntnistheoretischen Werken herausgestellt hat, die auf dem psychologistischen Standpunkt verfaßt worden sind. Nicht anders aber war es z. B. in der Ethik oder Ästhetik, wo der Subjektivismus und Relativismus in bezug auf die sittlichen oder ästhetischen Werte aufgekommen ist. Und das war kein Wunder, denn man hat eine Erkenntnisweise, die (mit einigen Vorbehalten!) nur für eine bestimmte Kategorie von Gegenständen angemessen war, auf prinzipiell andersartige Gegenstände angewendet. Man hat der Eigennatur dieser Gegenstände eine ungeheure Gewalt angetan. Diese Verfahrensweise mußte Bankrott gehen. Die Gegenstände haben ihr Recht verlangt. Es ist zu einem Widerstand gegen den Psychologismus gekommen und in der Konsequenz zu Versuchen, die verschiedenen Gegenstände anders aufzufassen, welche die ganze Generation der 19

Gelehrten vergeblich ins Psychische hineinzuzwängen versucht hatten. Wie aber in der jahrhundertelangen philosophischen Arbeit nichts nutzlos verloren geht, was man mit starkem Willen zur Wahrheit unternommen hat, so haben uns auch die Fehler des Psychologismus nicht nur darüber belehrt, welcher Weg in diesen Angelegenheiten nicht eingeschlagen werden darf, 19 Heutzutage, 40 Jahre nach dem Verfassen dieses Aufsatzes kann man schon sagen, daß es bereits neuartige, nicht-psychologistische Theorien in verschiedenen Bereichen der Philosophie gibt, mithin z.B. sowohl in der Ethik als auch in der Ästhetik oder in der formalen Ontologie oder in der Erkenntnistheorie. Auch die Psychologie selbst hat in großem Maße ihren damaligen Charakter geändert, obwohl auch Richtungen erschienen sind, die auf neue Schwierigkeiten und Bedenken hingewiesen haben. Es würde uns aber zu weit führen, wollten wir darauf genauer eingehen. (1961)

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

sondern auch vielleicht fur längere Zeit von den philosophischen Ausführungen im Stile Schellings oder Hegels befreit. Denn trotz ihren zweifellos falschen Hauptergebnissen, trotz ihrem irrtümlich eingeschlagenen Weg wurden die Psychologisten durch eine prinzipiell richtige Tendenz bewogen. Allein haben sich die Psychologisten diese Tendenz nicht klar genug zum Bewußtsein gebracht und sind deswegen auf Irrwege geraten. Die von ihnen begangenen Fehler haben eine Reaktion ausgelöst, eine Reaktion aber, die von den konstruktivistischen Systemen des deutschen Idealismus weit entfernt ist und sich vielmehr bemüht, sich das im Psychologismus versteckte richtige Postulat klarzumachen und es konsequent zu erfüllen. Eine solche Reaktion gegen den Psychologismus ist - in einigen ihrer Bestrebungen - die Phänomenologie.

Π. Über das Prinzip der unmittelbaren Erfahrung Obwohl die phänomenologische Methode von der Methode der Naturwissenschaft und der sogenannten positivistischen Philosophie weit entfernt ist und obwohl auch die durch sie erlangten Ergebnisse von den Ergebnissen unterschiedlicher psychologistischer Theorien sehr verschieden sind, unterscheidet sich dennoch das Hauptprinzip der phänomenologischen Forschung nicht radikal vom analogen Grundsatz der Naturwissenschaft und von den Maximen des Positivismus. Dieses Prinzip lautet: Die letzte Quelle und 20

Grundlage jeder Theorie ist in jedem Fall eine unmittelbare Erfahrung. Jede unmittelbare Erfahrung besitzt ihren charakteristischen Erkenntniswert, den wir anerkennen müssen. Den Gegebenheiten dieser Erfahrung gegenüber können wir keine andere Stellung einnehmen als die von nur passiven, wenngleich intelligenten Zuschauern (d. h. von Zuschauern, die verstehen, was uns der Gegenstand gleichsam von sich selbst sagt), und wir müssen einfach zur Kenntnis nehmen, was uns die Erfahrung gibt, und zwar genau so genommen, wie sie es uns gibt. Die Gegebenheiten der Erfahrung versetzen uns nicht nur in die Lage, die Gegenstände zu erkennen, sondern haben darüber hinaus eine begründende Autorität, die einerseits unsere Überzeugungen motiviert, andererseits die Begriffe und Urteile verifiziert, die wir über die gegebenen Gegenstände gewonnen haben. Was immer vom Inhalt unserer 20

[Vgl. E. Husserl, Ideen J, S. 43f.]

Das Prinzip der unmittelbaren Erfahrung

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Überzeugungen, unserer unanschaulichen Meinungen sich in den Gegebenheiten der Erfahrung nicht ausweisen läßt, soll als nicht wahr verworfen werden. Und umgekehrt: Was immer wir mit Hilfe bloß intellektueller Operationen erreichen, muß sich in den Gegebenheiten der Erfahrung ausweisen lassen, wenn es als wahr anerkannt werden soll. Wie kann man aber erklären - kann der Leser fragen - , daß dasselbe Prinzip in der Anwendung so verschiedene Resultate ergibt? Warum sind die Betrachtungen des vorigen Kapitels so durchgeführt worden, als ob der Weg der Psychologie, speziell aber des Psychologismus, ganz verfehlt wäre? Ich antworte: Die gestellte Frage müßte den Phänomenologen in Verlegenheit bringen, wenn eine Voraussetzung gälte, die sowohl von den Psychologen als auch von den Philosophen, welche die naturwissenschaftliche Methode in der Philosophie propagieren, stillschweigend gemacht wird. Wir haben gesagt, daß die Erfahrung die Quelle und Grundlage für jedwedes Wissen von Gegenständen ist, wir haben aber gar nicht gesagt, daß es nur eine einzige Art der Erfahrung gebe und daß diese Erfahrung ausgerechnet die "sinnli21

che" , äußere oder innere Wahrnehmung ausmache. Die letztere These ist aber für die Naturwissenschaftler und positivistischen Philosophen so selbstverständlich und natürlich, daß sie sich nicht einmal die Mühe geben, sie als bewußte Voraussetzung zu formulieren. Diese scheinbar evidente These ist aber bei weitem nicht evident. Es würde genügen, zu fragen, ob ihre Gültigkeit selbst auf der "Erfahrung" im Sinne der äußeren oder inneren Wahrnehmung beruht, um zu bemerken, daß dies nicht nur nicht der Fall ist, sondern auch nicht der Fall sein kann. Und zwar nicht deswegen, weil uns die Erfahrung welcher Art auch immer ausschließlich Gegebenheiten böte, die dem Inhalt der angeführten These widersprechen, sondern vor allem deswegen, weil unter den Gegebenheiten der äußeren und der inneren Wahrnehmung diese Wahrnehmung selbst nicht auftritt und nicht auftreten kann. In der sinnlichen Wahrnehmimg sind uns Gegenstände dieser oder jener Art, nicht dagegen die Wahrnehmung selbst gegeben. Um die Wahrnehmung selbst zu untersuchen, müssen wir, außer daß wir wahrnehmen, auch die Wahr21

In dem so weiten Sinne, in dem z.B. Kant vom "inneren Sinn" spricht [Vgl. Kritik der reinen Vernunft, A 22, Β 37.]

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

nehmung selbst zum Erkenntnisgegenstand machen. Was berechtigt uns jedoch dazu, diese neue Erkenntnis mit der Erkenntnis gleichzusetzen, die jetzt den Gegenstand unserer Untersuchung ausmacht? Und zweitens: In der (äußeren wie auch inneren) Wahrnehmung sind uns immer nur gewisse individuelle Gegenstände gegeben (bzw. in den auf diesen Wahrnehmungen aufgebauten prädikativen Erkenntnisakten gewisse individuelle Sachverhalte). Auf Grund der so gewonnenen Erfahrungen dürfen wir nur einzelne oder besondere Urteile, nie aber allgemeine Urteile (wie "Jedes S ...") fällen. Entweder begehen also die Philosophen, die das Prinzip von der Rolle der Erfahrung in der Erkenntnis verkünden und unter der Erfahrung ausschließlich die äußere oder innere Wahrnehmung verstehen, einen Fehler, indem sie etwas behaupten, was sie laut ihrer eigenen Thesen nicht behaupten dürfen, oder sie müssen zugeben, daß die auf die soeben angedeutete Weise vollzogene Beschränkung der Erfahrung unrichtig ist. Um also unser Hauptprinzip aufstellen zu können, ohne dabei eine Inkonsequenz zu begehen, müssen wir den Begriff "unmittelbare Erfahrung" ebenfalls auf diejenigen Akte erweitern, welche die Wahrheit der allgemeinen Urteile sensu stricto nachwei22

sen. Daher verstehen die Phänomenologen unter der "unmittelbaren Erfahrung" jeden Erkenntnisakt, in dem ein Gegenstand uns selbst, im Original gegeben oder - wie Husserl sagt - "leibhaft selbstgegeben" ist. Einen Spezialfall der so verstandenen Erfahrung bildet das, was die Naturwissenschaftler die Erfahrung nennen, wie auch die innere Erfahrung, d. h. die innere Wahrnehmung. Es gibt aber viele Arten der Erfahrung, in der uns individuelle Gegenstände gegeben sind, wie etwa die Erfahrung des Fremdpsychischen, die ästhetische Erfahrung, in der uns Kunstwerke gegeben sind usw. Die Erfahrung reicht jedoch noch über die Sphäre des Individuellen hinaus - und es kommt darauf an, dies näher zu erläutern. Der in der naturwissenschaftlichen Einstellung verbleibende Forscher bemerkt nicht - und kann es nicht bemerken, solange er sich in dieser Einstellung befindet - , daß es Gegenstände gibt, die anders beschaffen sind als die realen Gegenstände der äußeren oder inneren Welt. Und auch wenn er im täglichen Leben auf solche andersartige Gegenstände stößt, ist er unwill22 Vgl. dazu E. Husserl, Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch, 1. Aufl. [Halle 1913], S. 34f.

Das Prinzip der unmittelbaren Erfahrung

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kürlich geneigt, sie als reale Gegenstände anzusehen, indem er sie auf verschiedene Weise umdeutet, oder aber er weist sie als "Fiktionen" zurück. Oder dasselbe vom erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt aus gesagt: Der Naturwissenschaftler setzt ohne weiteres voraus, daß, welcher Art auch immer ein (von seinen Erlebnissen verschiedener) Gegenstand seiner Erkenntnis sein mag, die unmittelbare Erkenntnis stets ein und derselben Art sei: der Art der sinnlichen Erfahrung. Der erste Schritt der Phänomenologie besteht darin, diese unbegründete Überzeugung ins Wanken zu bringen. Der Phänomenologe rechnet also im voraus mit der prinzipiellen Möglichkeit, daß es viele grundverschiedene Gegenstände gibt und daß diese Gegenstände vielleicht nur in entsprechend verschiedenen Erkenntnisakten unmittelbar erkannt werden können. Diese Möglichkeit wird dem Phänomenologen - zunächst nur als eine nicht sinnlose Vermutung - durch die Tatsache nahegelegt, daß es Wissenschaften anderer Art als die Naturwissenschaften gibt, Wissenschaften, deren Untersuchungsgegenstände keine individuellen realen Gegenstände (seien sie physischer oder psychischer Natur) ausmachen, Wissenschaften, die aber trotzdem weder "gegenstandslos" sind, noch sich in ihren Untersuchungen der sinnlichen Erfahrung bedienen, die jedoch - sogar für einen Laien - trotzdem ein Höchstmaß an Strenge und an erkenntnismäßiger Sicherheit darstellen. Ich habe hier die mathematischen Wissenschaften im Auge. Auf jeden Fall besteht aber keine Notwendigkeit, daß es nur eine einzige Kategorie von Gegenständen und dementsprechend nur eine einzige Art der unmittelbaren Erkenntnis gebe. Sobald er aber die Möglichkeit der Existenz (eventuell in verschiedenen Seinsweisen) von Gegenständen grundverschiedener Typen sowie verschiedener grundlegender Arten der unmittelbaren Erkenntnis eingeräumt hat, stellt der Phänomenologe als sein Hauptprinzip das folgende Postulat auf: Man soll in allen Gegenstandssphären - wie sie auch sonst beschaffen sein mögen — "erfahren", d. h. zu den unmittelbar gegebenen Untersuchungsgegenständen vorstoßen und sich diesen unterwerfen, d. h. sie so und in denjenigen Grenzen erfas23

sen, in denen dies die Gegebenheiten selbst beanspruchen. Negativ gesagt hingegen: Man soll die Gültigkeit aller Überzeugungen, Meinungen oder Urteile im logischen Sinne solange neutralisieren, als die entsprechende un23

[Vgl. E. Husserl, Ideen I, S. 43f ]

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

mittelbare Erkenntnis (Erfahrung im weiten Wortsinne) ihre Wahrheit nicht nachweist. Bezüglich der realen Gegenstände der Außenwelt haben die Naturwissenschaftler dieses Prinzip längst angenommen und in die Tat umgesetzt. Auch die positivistische Philosophie hat dieses Prinzip übernommen, sie hat aber die Bedeutung des Ausdrucks "Erfahrung" auf die sinnliche Wahrnehmimg (im weiten Wortsinne) und bisweilen sogar nur auf die äußere Wahrnehmung beschränkt. Infolgedessen war sie gezwungen, ihr Prinzip oft zu brechen oder den Begriff ihrer Untersuchungsgegenstände zu verfalschen. Dieses Prinzip im ganzen Umfang zu realisieren, ist das Anliegen der Phänomenologie. Indem wir dieses Prinzip annehmen, stellen wir uns der im 19. Jahrhundert mehrfach um sich greifenden, in Deutschland so genannten Begrififsphilosophie entgegen, d. h. der Philosophie, die mit einer Reihe von aus der Umgangssprache übernommenen, oft ganz willkürlichen und gar nicht nachgeprüften Begriffen operiert hat und sich bemüht hat, durch das bloße Operieren mit ihnen, blindlings, ohne einen anschaulichen Kontakt mit dem Untersuchungsgegenstand einen Satz über die Gegenstände der Begriffe zu erlangen. Im Grunde genommen hat sie gewöhnlich eine Art begriffliche Mythologie betrieben, wobei sie sich in verwickelten Kombinationen und Begriffskonstruktionen verloren hat. Besonders diejenigen Philosophen, die selbst strenggenommen nicht philosophierten, sondern nur philologischhistorische Abhandlungen über Abhandlungen anderer Philosophen schrieben - eine Art von Büchern, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr verbreitet war! - haben wohl am meisten zur Verwirrung in der Philosophie und dazu beigetragen, daß sie zu einem unfruchtbaren, wenn auch manchmal kunstvollen "Begriffsspiel" entartet ist. Zu den unmittelbaren Gegebenheiten, zu den Gegenständen selbst, zur Wirklichkeit dieser oder jener Art zurückzukehren, anstatt mit vagen und willkürlichen Begriffen zu operieren und sich über die Begriffe zu verbreiten - ist eine Tendenz, die sich in verschiedenen philosophischen Richtungen gegen Ende des vorigen Jahrhunderts (zum Beispiel bei Bergson) abgezeichnet hat. Die Phänomenologie ist hierin nur bestrebt, diese Tendenz richtig zu deuten und konsequent durchzufuhren. Die grundlegende Parole, die von Husserl und seinen Mitarbeitern im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts in Göttingen mehrfach ausgesprochen wurde, war die Maxime: Zurück zu den Sachen! Alles liegt

Das Prinzip der unmittelbaren Erfahrung

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aber daran, wie man diese "Rückkehr zu den Sachen" zu realisieren vermag. Deswegen bildet die oben angegebene Formulierung des Postulats der Rückkehr zur Erfahrung, zu den unmittelbaren Gegebenheiten nur einen allgemeinen Rahmen, der für sich allein weder die charakteristischen Merkmale der Bestrebungen der Phänomenologen in dieser Hinsicht wiedergibt noch uns in die Lage versetzt, die Motive völlig zu verstehen, welche die Phänomenologie dazu bewegen, diesen Weg einzuschlagen und sich dem Psychologismus entgegenzusetzen. Dies ist jetzt zu ergänzen. Wie ich versucht habe zu zeigen, betrachtet der die naturwissenschaftliche Methode unkritisch verwendende Philosoph die konkrete Erscheinung als eine Kreuzung von mehreren hypothetisch angenommenen "objektiven Prozessen". Deswegen glaubt er, daß er die konkrete Erscheinung erkenne, wenn er jene Prozesse in ihren Motivationszusammenhängen untersucht, d. h. wenn er erklären kann, durch welche Ursachen sie entstanden ist, und wenn er ermittelt, welche konstanten Zusammenhänge zwischen diesen Prozessen bestehen. Daher herrscht der genetische Gesichtspunkt in dieser Art Forschung vor, auch wenn er nicht ausschließlich ist, wie es sich verhält, wenn die Erkenntnis aus den Ursachen mit der Erkenntnis überhaupt gleichgesetzt wird. Sogar aber wenn das letztere nicht der Fall ist, hat die Bevorzugung der genetischen Betrachtungen zur Folge, daß der anschauliche Gehalt der konkreten Erscheinung in den Untersuchungen dieser Art eine zweitrangige Position einnimmt und meistens mit ein paar Gemeinplätzen abgetan oder geradezu mehr oder weniger übersehen wird. Der Phänomenologe verneint weder die Existenz der genetischen Probleme, noch spricht er ihnen eine theoretische Bedeutung ab. Indem er aber an seiner Forderung der Rückkehr zu den Sachen und zu ihrer immittelbaren Gegebenheitsweise treu festhält, ist er bestrebt, die genetischen Untersuchungen auf Untersuchungen einer anderen Art folgen zu lassen. Oder genauer: Er erkennt die genetischen Probleme nur in dem Maße an, in dem sie sich auf Grund der Ergebnisse der unmittelbaren Erfahrung notwendig aufdrängen. Der Naturwissenschaftler identifiziert die konkrete Erscheinung mit einer Kreuzung von hypothetisch angenommenen Prozessen. Der Phänomenologe könnte diese Identität nur dann gelten lassen, wenn er durch den konkreten Gehalt der Erscheinung (den in der Erfahrung entsprechender Art unmittelbar gegebenen Gegenstand) dazu gezwungen würde. Indessen sind die söge-

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

nannten "objektiven Prozesse", die von den Naturwissenschaftlern angenommen werden, ihrem Wesen nach nicht unmittelbar gegeben und können es nicht sein, sind also keine Erfahrungsgegenstände. (Worin ist ζ. B. das von uns gesehene Licht einem Bündel von Wellen mit entsprechender Länge oder dem Flug eines Photons ähnlich?) Man muß also zuerst den konkreten Gehalt der Erscheinung bzw. der unmittelbaren Gegebenheiten (der anschaulichen Eigenschaften des Gegenstands, des Dinges oder des Prozesses) vom "objektiven Prozeß" unterscheiden. Außerdem könnte, wenn diese Prozesse vom Phänomenologen als existierend anerkannt werden sollten - so daß ihre Zusammenhänge untersucht werden könnten - , dies nur in dem Falle geschehen, daß sie selbst in den unmittelbaren Gegebenheiten zur Erscheinung kommen, d. h. daß sie nicht nur zwecks einer Erklärung der unverständlichen Gegebenheiten der Erfahrung hypothetisch angenommen (erschlossen) werden, so wie ζ. B. die Welleninterpretation des "Lichts", die infolge des Auftretens von "Interferenzstreifen" im Experiment Fresnels für die Zwecke der Theorie angenommen worden ist. Bevor man irgendwelche Hypothesen annimmt, bevor man die Existenz von Gegenständen und Prozessen anerkennt, die verschieden sind von allem, was in der Erfahrung gegeben ist, muß man vor allem diese Erfahrung gewinnen und sich die unmittelbaren Gegebenheiten klarmachen, in denen sich ein gewisser Gegenstand selbst darstellt. Diese Gegebenheiten müssen selbst zur Klarheit gebracht, gleichsam aufs neue belebt werden, denn durch die naturwissenschaftliche Einstellung, in der stets nach etwas gesucht wird, was nicht selbst gegeben ist und nur an die Stelle des Gegebenen als die eigentliche Wirklichkeit hingestellt wird, bildet sich die Gewohnheit, an konkreten Erfahrungsgegebenheiten gleichsam vorbeizugehen, ein gewisser Verlust der Empfindlichkeit für diese Gegebenheiten aus. Das Postulat der Rückkehr zu den Sachen, zur Erfahrung, ist vor allem ein Postulat danach, die Empfindlichkeit für das in der Erfahrung unmittelbar anschaulich Gegebene wieder aufleben zu lassen und sich dessen völlig bewußt zu werden, was eigentlich [darin] gegeben ist und wie es gegeben ist. Dieses völlige Bewußtwerden der neu belebten Gegebenheiten soll ohne Rücksicht darauf durchgeführt werden, was diese oder jene Theorie, in der die Erscheinungen erklärt werden, setzt oder postuliert, mithin auch unabhängig von den Ergebnissen aller wissenschaftlichen Theorien, die mit Hypothesen oder rein begrifflichen Konstruktionen und Kombinationen operieren,

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und nur in der Ausrichtung darauf, die unmittelbaren Gegebenheiten in ihrem einzigartigen Charakter klar und adäquat zu erschauen und - sofern dies möglich ist und nur in den Grenzen des Möglichen - dasjenige, was wir uns von den unmittelbaren Gegebenheiten klar zum Bewußtsein gebracht haben, deskriptiv wiederzugeben. Und nur wenn uns diese zur ursprünglichen Lebhaftigkeit gebrachten Gegebenheiten der unmittelbaren Erfahrung selbst - immer in der weiten Bedeutung - dazu berechtigen, Gegenstände anzuerkennen, die sowohl von diesen Gegebenheiten verschieden sind als auch von den Gegenständen, die sich in diesen Gegebenheiten originär darstellen - erst dann muß man eine Untersuchung dieser neuen Gegenstände unternehmen, die jedoch immer so genommen werden sollen, wie uns die Erfahrungsgegebenheiten dazu veranlassen würden. Dies ist um so wichtiger, als die eingewurzelten Gewohnheiten, immer nach Gegenständen zu suchen, die in der Erfahrung gar nicht gegeben sind, sowie das dogmatische Annehmen verschiedener als wissenschaftlich geltender Sätze nicht nur zur Folge haben, daß die unmittelbare Erfahrung bis zu einem gewissen Grad und manchmal sogar ganz verlischt, sondern auch - schlimmer noch! - , daß die unmittelbaren Erfahrungsgegebenheiten auf verschiedene Weise verfälscht werden. So kommen nicht nur idola fori, sondern auch speziell i'dola scientiae zustande, die sowohl darin bestehen, daß manche Gegebenheiten erlöschen und dadurch in der Erfahrung übergangen werden, als auch darin, daß in die Erfahrung Momente hineingedeutet werden, die effektiv nie gegeben sind. Dies betrifft nicht nur die Naturwissenschaften, die sich mit der Außenwelt beschäftigen, sondern auch verschiedene psychologische Theorien (z. B. die Mißdeutungen dessen, was bei der Dingwahrnehmung geschieht), die durch das Prestige des wissenschaftlichen Ergebnisses unterstützt bewirken, daß wir zu glauben beginnen, die Wahrnehmung sei in der Tat das, was die betreffende Theorie darüber behauptet, und daß wir unwillkürlich zur Überzeugung gelangen, wir nähmen so wahr, wie es der betreffenden psychologischen Theorie zufolge sein sollte.24 Die Rückkehr zu den Sachen, 24 Hierzu gehören die sensual istischen und atomistischen Theorien der Sinneswahrnehmung im Stile der Auffassung E. Machs aus seinem Buch Die Analyse der Empfindungen [und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, 2. Aufl., Jena 1900], aber auch die Theorie, der zufolge die Gegebenheiten der Wahrnehmung durch "Erinnerungen" verflochten seien, usw.

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

zur unmittelbaren Erfahrung bedeutet unter diesen Umständen, daß wir den ganzen Ballast der Theorien und Konzeptionen abwerfen, die - auf die Autorität der sogenannten "Wissenschaft" gestützt - uns daran hindern, einen unvoreingenommenen Blick auf die uns umgebende Wirklichkeit wiederzugewinnen; sie bedeutet auch, daß wir Hindernisse überwinden, die wir auf unserem Weg zur echten Erfahrung durch mannigfaltige Vorurteile antreffen, Vorurteile, die nicht nur aus Ignoranz, sondern manchmal auch aus einer großen Gelehrsamkeit resultieren. Damit übernehmen aber die unmittelbaren Gegebenheiten eine ganz andere Rolle in der Erkenntnis. Aus etwas, was eine eher zweitrangige Bedeutung in der Erkenntnis hatte - gleichsam diejenige eines Durchgangsgegenstands, durch den man möglichst schnell hindurchgehen mußte, um zu etwas völlig anderem zu gelangen, was als die einzige Wirklichkeit erschien - wird nicht nur eine wesentliche Erkenntnisquelle, sondern auch dasjenige, dessen Erreichen in der Erkenntnis die wichtigste Rolle spielt und dessen deutliches Bewußtwerden, die Ausnützung aller darin steckenden Möglichkeiten die Hauptaufgabe der Erkenntnis ausmacht. Mehr noch, diese unmittelbaren Gegebenheiten mit ihrem Charakter und der Funktion, die sie in der Erkenntnis ausüben, müssen in einem bestimmten Zeitpunkt der philosophischen Untersuchungen - da nämlich, wo wir an den Erkenntnisweisen selbst und ihrer erkenntnismäßigen Effizienz interessiert sind, mithin in der phänomenologisch betriebenen Erkenntnistheorie - selbst zu zentralen Untersuchungsgegenständen werden. Außer daß der Schwerpunkt der Untersuchungen verschoben wird, findet aber auch eine viel wichtigere Änderung statt. Sobald die unmittelbaren Gegebenheiten aufhören, nur als eine Kreuzung von mehreren "objektiven Prozessen" zu gelten, und in erster Linie für sich selbst untersucht werden sollen, drängt sich die Notwendigkeit auf, ihren spezifischen Gehalt ohne Rücksicht auf jene Prozesse zu erschauen. Da jedoch der Blick auf diese Prozesse - wie ich erwähnt habe - eine Umgestaltung der unmittelbaren Gegebenheiten verursacht, so daß sich eine andere Art des "Sehens" ausbildet, oder besser gesagt: da er zu einer - meistens unwissentlichen - intellektuellen Verarbeitung der unmittelbaren Gegebenheiten je nach den Interessen des Forschers oder den Zwecken der Theorie fuhrt - ermöglicht es uns der konsequent und bewußt durchgeführte Verzicht auf jedwede Berücksichtigung der vorge-

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fundenen Theorien, die unmittelbaren Gegebenheiten von allen Momenten zu reinigen, die ihnen ihrem Wesen nach fremd sind. Gleichzeitig bedeutet dies eine Rückkehr zum natürlichen Reichtum der Dinge und der konkreten Prozesse. Zu den Momenten, von denen die unmittelbaren Gegebenheiten gereinigt werden können, gehören die Konsequenzen der These, der zufolge die Dinge "Bündel" von einfachen Elementen (Lockes "Ideen") seien, Elementen, die eventuell den hypothetisch angenommenen objektiven Prozessen entsprächen. Wenn wir unvoreingenommen und möglichst adäquat die Gegebenheiten der Erfahrung prüfen, stellen wir fest, daß die Gegenstände gar keine solchen "Bündel" sind, sondern gewisse Ganze bilden, die ein synthetisches Quale an sich tragen, das gar keine Vielheit von einfachen Qualitäten ist. Es ist ohne Zweifel möglich, in diesen Ganzen gleichsam miteinander gleichzeitig auftretende qualitativ verschiedene Momente zu unterscheiden, die jedoch voneinander nicht getrennt sind, sondern miteinander in besonderer Weise gleichsam verschmelzen, wobei die Gesamtheit von ihnen mit diesem einfachen und gewöhnlich spezifischen Quale gar nicht identisch ist. Ihr gleichzeitiges Auftreten hat zur Folge, daß im Ganzen der Dinge eine neue Qualität vorkommt, was für sich selbst in seiner Eigenart in der Erfahrung erfaßt und deutlich hervorgehoben werden muß, damit es wirklich erkannt wird. Die Erfassung dieser Qualität, die das Ganze eines Dinges prägt, läßt sich nicht dadurch ersetzen, daß man das gleichzeitige Auftreten mehrerer qualitativ verschiedener Momente in demselben Ding erkennt und eventuell versucht, sie gleichsam zu addieren. Im Gegenteil, man muß von einer Erfassung des Ganzen ausgehen, um die im Ding enthaltenen Momente zu unterscheiden und verstehen zu können, in welcher Weise sie, miteinander verschwimmend, das Ganze des Dinges bilden. Manchmal ist dieses das Ganze des Dinges prägende Moment derart, daß es uns ungeachtet seiner Eigenart und Einfachheit erlaubt, eine gewisse ihm gleichsam zugrundeliegende verschmolzene Mehrheit von unselbständigen qualitativen Momenten zu unterscheiden, die, miteinander in einer besonderen Harmonie stehend, durch diese übergeordnete Qualität des Ganzen des Dinges umfaßt werden. Dieser Sachverhalt bewirkt, daß sich der mannigfaltige Reichtum der Dinge und überhaupt der in der Erfahrung gegebenen Gegenstände nicht auf ein paar einfache Elemente beschränkt, aus denen alles wie aus Ziegeln aufgebaut werden könnte. Dies bedeutet nicht, daß sich die Gegenstände der unmittel-

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

baren Erfahrung nicht in Gattungen und Arten gruppieren. Eine Art oder Gattung entsteht hier aber nicht dadurch, daß verschiedene Gegenstände ein willkürlich ausgewähltes, in der gegebenen Gruppe jeweils gleiches "Element" besitzen - wie man dies seit der Zeit von Locke zu behaupten pflegt - , sondern durch Verwandtschaften zwischen den Ganzen der Gegenstände (Dinge). Der konkrete Inhalt oder, besser gesagt, der qualitative Charakter des Ganzen bestimmt die Gattung oder die Art einer Mannigfaltigkeit von Gegenständen. Deswegen ist die Klassifikation der Gegenstände nicht so willkürlich wie dann, wenn wir die Gegenstände als Bündel einfacher Elemente betrachten, die in ihrer Qualität voneinander unabhängig und im Ganzen des Gegenstands einander gleichgeordnet sind, so daß es an uns liegt, welches Element wir als das Einteilungsprinzip einsetzen, sondern sie richtet sich nach natürlichen Verwandtschaften zwischen Gegenständen. Die Art ist also weder bestimmt durch einen zufälligen Umfang von Gegenständen, wie es sich gewöhnlich in der Naturwissenschaft verhält, noch ist sie ein auf Grund der bisherigen Gegebenheiten errechneter Durchschnittswert, sondern sie ist eine Art im strengen Wortsinne. Dies letztere deswegen, weil hier die Tendenz wegfällt, die Gegenstände unter dem Aspekt quantitativ bestimmter Gesetze aufzufassen. Aus all diesen Gründen sieht sich der Forscher vor eine viel schwierigere Aufgabe als die naturwissenschaftliche Methode gestellt. Er kann sich nämlich nicht darauf beschränken, eine endliche Anzahl von Elementen mehr oder weniger allgemein zu erforschen, um sich danach einer Untersuchung objektiver Prozesse zuzuwenden und diese oder jene genetische Theorie aufzubauen oder - wie in der mathematischen Methode - mit einmal festgelegten Elementen zu operieren und eine deduktive Theorie zu konstruieren; er muß vielmehr stets bemüht sein, immer neue einfache oder sogar einzigartige Qualitäten zu erschauen, etwas zu sehen, was oft ohnegleichen ist und mit nichts adäquat verglichen werden kam. Es ist aber bekanntlich am schwierigsten, ganz unvoreingenommen zu sein und dem Untersuchungsgegenstand - bildlich gesagt - "gerecht zu werden", das, was der Gegenstand von sich selbst sagt, gewissenhaft zu Ende zu hören und seine spezifische Natur in keiner Hinsicht zu vergewaltigen. Auf diese spezifische Natur, auf das, was die unmittelbaren Gegebenheiten enthalten, bzw. auf das, was den gegebenen Gegenstand in seiner originären Ganzheit konstituiert, muß der

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Phänomenologe seine Aufmerksamkeit lenken. Eine der grundlegenden Bestrebungen der Phänomenologen richtet sich darauf aus, daß man - in allen möglichen Gegenstandssphären - den Gegenstand und seine Eigenschaften genau in den unmittelbaren Gegebenheiten, in denen er in der Erfahrung erscheint, sehen kann und daß man diese Gegebenheiten selbst genau so sieht, wie sie an sich sind; [es handelt sich darum,] erst auf Grund anschaulichen Verkehrs mit dem Gegenstand nach Möglichkeit klare und adäquate Begriffe zu bilden, anstatt in der Sphäre der Gegenstandsbegriffe zu verbleiben und erst mit Hilfe der - blind versteckten und nicht geprüften Begriffe zu den Gegenständen vorzustoßen und sie sub specie dieser Begriffe aufzufassen. Hierin ist die Tendenz der Phänomenologen übereinstimmend mit dem Postulat Bergsons: "von Gegenständen zu Begriffen und nicht von Begriffen zu Gegenständen". Von diesem Standpunkt aus sind alle genetischen Untersuchungen für die Phänomenologen eine, wenn nicht ganz gleichgültige, so jedenfalls sekundäre Aufgabe, die erst unternommen werden kann, nachdem die phänomenologische Analyse durchgeführt worden ist. Solange wir den einzigartigen Gehalt eines konkreten Phänomens oder Dinges noch nicht erschaut haben, kann uns jedwedes Wissen darüber, welche Prozesse zu seinem Entstehen beigetragen haben, trotz einer ziemlich verbreiteten Meinung bei der Erkenntnis dieser Erscheinung nicht behilflich sein. Denn etwas zu "erkennen" heißt gar nicht sein Entstehen aus irgendwelchen Ursachen, die davon verschieden sind, zu erklären, sondern vielmehr seine einzigartige Gestalt zu erschauen, seine Merkmale zu unterscheiden, entsprechende Begriffe zu bilden und zu beschreiben und erst später nach den Ursachen zu fragen. Für die einzigartige Gestalt eines Gegenstands ist es ganz gleichgültig, was zu seinem Entstehen beigetragen hat. Auf jeden Fall setzt aber die Erforschung der Ursachen und ihrer Zusammenhänge die Erkennung des Gegenstands selbst als Wirkung schon voraus. Daraus wird schon verständlich, warum sich die Phänomenologie allen genetischen Theorien überhaupt und der genetischen Psychologie insbesondere entgegenstellt. Die Motive dafür, daß sie sich der Psychologie überhaupt entgegenstellt, werden wir erst viel später darlegen können. Auch die Motive dafür, daß sich die Phänomenologie so entschieden gegen den Psychologismus in allen seinen Formen und in erster Linie gegen den Psycholo-

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

gismus in der Logik gerichtet hat, werden erst dann klar hervortreten, wenn ich das Problem der idealen Gegenstände, des Wesens des Dinges und der apriorischen Erkenntnis besprochen habe. Hier sei nur [eines] erwähnt: Wenn der Psychologismus überhaupt in der denkmäßigen Umbildung der einzigartigen Natur gewisser Gegenstände besteht, so mußte als eine unmittelbare Folge der Bestrebung der Phänomenologen, in allen Gegenstandsgebieten unmittelbare Gegebenheiten einer entsprechenden Erfahrungsart zu gewinnen, dem Psychologismus der Kampf erklärt werden. Husserl hat die Falschheit des Psychologismus in der Logik nachgewiesen, indem er seine Thesen ad absurdum gefuhrt hat. Das stärkste Argument gegen diesen Psychologismus ist jedoch die einfache Feststellung, daß die Gegenstände der Logik, die Begriffe, Urteile (Behauptungssätze), Syllogismen und Theorien von allen psychischen Zuständen (Erlebnissen) verschieden sind und daß infolgedessen alle Versuche, diese so verschiedenartigen Gegenstände miteinander gleichzusetzen, zwangsläufig mißlingen müssen. Ich werde noch darauf zurückkommen. Was ich bisher gesagt habe, gibt nur einen geringen Teil der Bestrebungen der Phänomenologen wieder. Das, was eigentlich das Wesen der Phänomenologie ausmacht, ist noch nicht berührt worden. Es empfiehlt sich aber vielleicht, schon jetzt auf gewisse Einzelzüge der phänomenologischen Methode hinzuweisen, die mit dem Postulat danach zusammenhängen, unmittelbare Gegebenheiten für die betreffenden Erfahrungsgegenstände zu erreichen. Die Phänomenologie befindet sich insofern in einer schwierigeren Lage als die anderen philosophischen Richtungen, als sie sich nicht nur in den meisten Fällen nicht auf die philosophische Tradition berufen und einen schon fertigen methodischen Apparat verwenden kann, sondern auch oft gegen hergebrachte Ergebnisse der philosophischen Forschung und eingewurzelte Betrachtungsweisen der Dinge kämpfen muß. Sie ist also gezwungen, in vielen Fällen ihre Untersuchungen ab ovo anzufangen und gleichzeitig zu versuchen, sich eine angemessenen Verfahrensweise zu erarbeiten, um im betreffenden Gebiet die unmittelbaren Gegebenheiten der entsprechenden Erfahrung zu erreichen. Dazu ist sie auch deswegen genötigt, weil sie dadurch, daß sie in ihren Betrachtungen keine Hypothesen unkritisch annehmen darf, zugleich auch mit keinen Begriffen definitiv operieren kann, die

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sie in der Erfahrung nicht geprüft und deren Gültigkeit sie nicht auf diesem Weg nachgewiesen hat. Dadurch, daß er der Möglichkeit beraubt worden ist, hergebrachte Begriffe zu verwenden, trifft jedoch der Phänomenologe auf eine zweifache methodische Schwierigkeit: zuerst bei der Durchführung seiner Untersuchungen und dann bei der Mitteilung seiner Ergebnisse an andere Philosophen. Denn es ist praktisch nicht möglich, eines Tages aufzuhören, jegliche Begriffe zu verwenden und sich ausschließlich auf "das unmittelbare Sehen" der Gegenstände zu beschränken, bevor man neue, phänomenologisch begründete Begriffe erarbeitet hat. Und dies um so weniger, als nur wenige Gegenstände vor uns "auf der Hand" liegen. Die weitaus meisten davon werden vielmehr von uns in unserem Alltagsleben nicht direkt erfahren, und wir müssen uns zuerst üben, um diese Erfahrung zu erreichen. Ebensowenig ist es möglich, nachdem wir die endgültigen Untersuchungsergebnisse schon erreicht haben, sie dem Leser durch lauter neue Begriffe mitzuteilen, die auf Grund der phänomenologischen Analyse gewonnen worden sind und die ein Nicht-Phänomenologe überhaupt nicht verstehen könnte und dabei zwangsläufig den phänomenologischen Resultaten ihren andersartigen, unangemessenen Begriffsapparat beilegen müßte. Der Phänomenologe muß sich somit um einen Mittelweg bemühen, der weder die Gefahr mit sich bringt, daß in die phänomenologischen Untersuchungen nicht kritisch geprüfte Begriffe hineingeführt werden, noch auf die Hilfe verzichtet, die uns die Begriffe sowohl bei der Forschung selbst als auch beim Mitteilen der Forschungsergebnisse an andere leisten. Dies hängt natürlich aufs engste mit dem Problem zusammen, welche Sprache wir in den beiden unterschiedenen Untersuchungsphasen gebrauchen sollen. Es mag auf den ersten Blick scheinen, die angedeutete Schwierigkeit könne leicht dadurch überwunden werden, daß wir zu Beginn der Betrachtungen exakte Definitionen zumindest von Grundbegriffen der Gegenstände 25 des betreffenden Gebiets angeben. Indessen wäre eine solche Lösung nur 25 Dieses Postulat habe ich fast immer in meinen Gesprächen mit den Vertretern der sog. Lemberger Schule gehört, besonders mit denjenigen, die direkt nach dem ersten Weltkrieg in Polen die Logistik propagiert haben. Sie haben behauptet, man könne gar kein Gespräch führen, ohne daß man solche Definitionen angibt. Auf alle Versuche, dieses Postulat (das, ganz allgemein verwendet, im Grunde widersinnig ist) zu umgehen, haben sie mit dem berühmten [dictum] "Ich verstehe nicht" reagiert, mit dem sie alle ihre Opponenten zum

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

scheinbar, wenn sie überhaupt konsequent durchgeführt werden könnte. Man muß sich vor allem dessen bewußt werden, daß, sobald es sich der Phänomenologe zur Aufgabe macht, die unmittelbaren Gegebenheiten der Erfahrung zu erschauen und adäquat zu erfassen, von den phänomenologischen Untersuchungen jedwede Willkür beim Konstruieren der Untersuchungsgegenstände ausgeschlossen ist. Begriffskonstruktionen, die auf die Wirklichkeit, auf das faktische Wesen der in der Erfahrung zu untersuchenden Gegenstände keine Rücksicht nehmen - wären genau das, was man in der Forschung um jeden Preis zu vermeiden versuchte. Ipso facto konnten die konventionalen Definitionen von was auch immer in den phänomenologischen Untersuchungen - aber nicht nur in ihnen, sondern auch in jeder ernst geführten empirischen Forschung! - nichts Wertvolles ergeben; sie vermochten diese Untersuchungen um keinen Schritt weiter zu bringen, sondern im Gegenteil diese nur irrezuführen. Ein gewisses System von Definitionen zu Beginn der Forschung aufzustellen, ist prinzipiell nur da möglich, wo wir es mit keinen gegebenen Gegenständen zu tun haben, sondern diese Gegenstände nach Belieben konstruieren können und wo die Betrachtungen eigentlich darauf abzielen, aus einem System von Definitionen und Axiomen eine Reihe von Schlußfolgerungen abzuleiten. Das Resultat der Konstruktion von Gegenständen ist eben in der Definition eingeschlossen, die eine Art Imperativ in bezug darauf ausdrückt, wie der konstruierte Gegenstand nach unserem Wunsch beschaffen sein solle und in welcher Bedeutung wir demgemäß den entsprechenden Namen gebrauchen möchten. In der Phänomenologie sind derartige Definitionen nicht möglich, ebensowenig wie in vielen anderen Wissenschaften. Unter einer "Definition" kann man jedoch noch etwas anderes verstehen, und zwar einen Satz, der das Ergebnis der Erkenntnis des durch das Subjekt der Definition bezeichneten Gegenstands in dessen konstitutiven Merkmalen, die durch das Prädikat bestimmt sind, zum Ausdruck bringt. Solche Sätze werden zwar in der Regel dazu angegeben, um dem Leser zu erklären, auf welche Weise die Bedeutung des Namens (definiendum) im Komplex der Bedeutungen des Prädikats zu explizieren ist. Eine solche Definition setzt

Schweigen zu bringen versuchten. Das war einer der Gipfel der "Wissenschaftlichkeit" der damaligen polnischen Philosophie. (1961)

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voraus, daß 1) der durch das Subjekt der Definition bezeichnete Gegenstand in seinen konstitutiven Merkmalen klar erkannt worden ist, 2) daß dieser Gegenstand entweder zusammengesetzt ist oder wenigstens eine Menge von Merkmalen in sich einschließt, die "konstitutiv" sind, mithin im Gegenstand eine besondere Rolle spielen und 3) daß die zur Bestimmung (oder Explikation) der Bedeutung des Subjekts gebrauchten Worte selbst eindeutig und verständlich sind. Aber auch in diesem Fall kann der Phänomenologe nicht damit beginnen, daß er eine solche Definition angibt. Aus den angeführten Voraussetzungen folgt, daß sie sich zu Beginn der Forschung nicht erfüllen lassen und daß sie nicht einmal immer zum Schluß der Forschung erfüllt werden können. Denn: ad 1. Theoretisch könnte zwar das Postulat als richtig erscheinen, daß ein wissenschaftliches Werk vom Verfasser erst dann geschrieben werde (oder anders gesagt: daß der Verfasser erst dann beginne, mit dem Leser zu sprechen), wenn er eine erschöpfende Erkenntnis der Gegenstände, mit denen er sich beschäftigt, schon gewonnen hat, mithin über ein System von Definitionen in dem soeben angegebenen Sinne schon verfügt. In der Praxis läßt sich jedoch dieses Postulat nie erfüllea Erstens fragt es sich, ob es möglich ist, eine Gruppe von Problemen derart herauszusondern, daß sie mit anderen Problemen in keinem Zusammenhang stehen, daß also die Antworten darauf ein System von Sätzen bilden, das von allen übrigen Sätzen isoliert ist. Auch wenn dies möglich wäre, würde die - scheinbar - endgültige Bearbeitung einer Problemgruppe eine Reihe von Fragen unbeantwortet lassen. Zweitens aber ist jedes Werk nur eine vorläufige Berichterstattung von den bisherigen Ergebnissen sogar in einem so im voraus bestimmten Problemgebiet. Immer können also nur manche Probleme endgültig gelöst werden, während für die meisten Untersuchungsgegenstände nur partielle Forschungsergebnisse angegeben werden können.

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Drittens könnte der Ver-

ja Später, in den Essentialen Fragen [Ingarden (1925a)], habe ich versucht, diese Punkte auf Grund einer allgemeinen Analyse der Form des individuellen Gegenstandes genauer her27 auszuarbeiten. Diese Probleme sind in Wirklichkeit viel komplizierter, als dies die im Text angegebenen Formulierungen erkennen lassen, aber leider müßte man, um sie auszuführen, schon umfangreiche Betrachtungen durchgeführt haben, welche die Komposition dieses Aufsatzes

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

fasser, auch wenn er beim Schreiben des Buches eine erschöpfende Erkenntnis bezüglich aller von ihm besprochenen Gegenstände erreichen würde, aus didaktischen Gründen sein Werk sowieso nicht mit einem System von Definitionen beginnen - es sei denn, daß es sich um ein rein deduktives Werk handelte, was in unserem Fall nicht vorliegt. Das Werk soll nämlich dem Leser das beibringen, was der Verfasser selbst im Gange seiner Untersuchungen erlernt hat. Es kann somit nicht an ihrem Ende, sondern muß in ihrem Anfangsstadium beginnen und soll den Leser allmählich zu höheren Betrachtungsstadien hinaufführen. Es soll die Hauptphasen des Verlaufs der Untersuchungen wiedergeben, mithin auch diejenigen, in denen die Erkenntnis des Gegenstands noch nicht abgeschlossen ist und daher auch die Gegenstände noch nicht definiert werden können. ad 2. Die vielleicht wichtigsten Gegenstände der philosophischen Betrachtungen - z.B. alle Kategorien im Sinne der grundlegenden und ursprünglichen Formen, welche die Gesamtform des Gegenstands überhaupt bilden, oder die grundlegenden Funktoren der logischen Operationen - sind etwas ganz Einfaches. Wie kann man also verlangen, daß ihre Definitionen aufgestellt werden? Der sich daraus ergebenden Schwierigkeit werden sich die Mathematiker bewußt, die sich mit der Axiomatisierung deduktiver Systeme befassen. Da sie aber - dadurch, daß sie im allgemeinen positivistischskeptische Überzeugungen hegen - die Möglichkeit der Verwendung der sogenannten "Intuition" (d. h. der entsprechenden Erfahrung) nicht anerkennen und infolgedessen keine andere Art und Weise kennen, die Bedeutung von Termini anzugeben, als diese zu definieren, nehmen sie gewisse Termini - sogenannte primitive Begriffe - ohne Definition an, entweder auf Grund von Konventionen oder durch eine sogenannte in den Axiomen implizierte Definition. Dann sind sie aber zugleich der Meinung, daß die in den Axiomen auftretenden Termini "bedeutungslos" seien und erst dadurch, daß sie in einem Axiom vorkommen, einander gleichsam bestimmen, sich einen Sinn geben würden. All dies sind Auffassungen, die für den Phänomenologen unannehmbar sind. Wir können dies hier nicht näher begründen. Jedenfalls weisen die von den Mathematikern unternommenen Versuche, die hier

sprengen würden. Daß dies aber so ist, zeugt eben davon, wie unbedacht und oberflächlich das Postulat ist, die philosophischen Untersuchungen mit Definitionen zu beginnen. (1961)

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auftauchende Schwierigkeit aus dem Weg zu räumen, am besten darauf hin, daß das Postulat, alle Termini zu Beginn der Betrachtungen zu definieren, 28

nicht realisierbar ist. ad 3. Wie wir gesagt haben, sollten die Wörter, die zur Bestimmimg der Bedeutung eines definierten Wortes verwendet werden, selbst eindeutig und verständlich sein. Wäre also das Definieren - in der oben angegebenen Bedeutung - die einzige Art und Weise, die Bedeutungen von Wörtern zu bestimmen, dann müßten diese Wörter selbst wiederum definiert werden. Da man aber immer mindestens ein neues Wort braucht, um das gegebene Wort zu definieren (gewöhnlich benötigt man dazu mehrere neue Wörter), fuhrt die Forderung, der zufolge jedes gebrauchte Wort definiert werden solle, zu einem regressus in infinitum. Es muß also eine andere Art und Weise zur Verfügung stehen, Wörtern eine Bedeutung zu verleihen bzw. Wörter verständlich zu machen, weil es feststeht, daß wir nicht nur die definierten Wörter verstehen, sondern ebensogut diejenigen, die sich nicht definieren lassen. Außerdem ist es unmöglich, an die Spitze der Betrachtungen in einem Gebiet Definitionen zu stellen. Eine (sogenannte nominale) Definition ist im Grunde genommen jede - nur dann von Nutzen, wenn sie nicht nur genau und den Eigenschaften des Gegenstands angepaßt ist, dessen Namen sie definiert, sondern auch für denjenigen verständlich ist, der den Gegenstand des definierten Namens aus seiner eigenen Erfahrung nicht kennt. Dann sollen aber die definierenden Wörter verständlich und eindeutig sein folglich müssen sie bereits eine für den Leser verständliche Bedeutung von irgendwoher besitzen. Aus all diesen Gründen sieht man, daß es falsch ist, das Postulat des Definierens als ein ganz allgemeines Prinzip zu erachten. Wir müssen auf eine andere Verfahrensweise hinweisen, die es uns erlaubt, ohne Definition zurechtkommen, zumindest in allen Fällen, die uns Schwierigkeiten bereiten. Durch diesen Vorbehalt sprechen wir der Definition gar nicht ihren Wert ab. Wir stellen nur fest, daß die Definition nicht immer möglich (und wohl auch 28 Mit Rücksicht auf die Schwierigkeit oder Unmöglichkeit, alle Termini, insbesondere die ersten Termini zu definieren, haben manche neuerdings den Begriff der sogenannten "deiktischen Definition" eingeführt. Allein schon die Tatsache, daß dieser Begriff eingeführt worden ist, zeugt aber davon, daß man das Postulat, alles zu definieren, im alten klassischen Verständnis der Definition aufgegeben hat (1961)

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nicht immer nötig) ist und daß sie überdies in den analytischen Betrachtungen nicht am Anfang, sondern am Schluß steht. Erst da, wo es sich darum handelt, ein deduktives System aufzubauen, muß man zu Beginn ein System von Axiomen bzw. Definitionen haben, deren Sinn auf einem anderen Weg, nicht durch Definition, gewonnen worden ist. Jeder deduktiven Theorie liegt jedoch eine Sphäre von Untersuchungen voran, die mit Hilfe einer entsprechenden unmittelbaren Erfahrung durchgeführt werden. In dieser Sphäre befindet sich auch das Arbeitsfeld des Phänomenologen. Wie soll er also verfahren, um die auftauchenden Schwierigkeiten auszuräumen? Wenn wir an derartige Betrachtungen herantreten, verfügen wir immer schon über eine Umgangssprache, die wir für die Lösung verschiedener Lebensprobleme gebrauchen, und zwar meistens mit Erfolg. Diese Umgangssprache enthält - sowohl in ihrem Vokabular als auch in mannigfachen syntaktischen Funktionen - viele gewöhnlich festgelegte Begriffe, die sich u. a. auf Gegenstände beziehen, die wir einer Analyse in ihrem unmittelbaren Erkennen unterziehen wollen. Wozu brauchen wir unter diesen Umständen die Umgangssprache? Und welche Gebrauchsweise dieser Sprache kann bei den Untersuchungen, die auf die Gewinnung einer unmittelbaren Erkenntnis der Gegenstände abzielen, ein Hindernis ausmachen? Wir benötigen sie grundsätzlich - obwohl auch dies nicht immer - dazu, um einen Gegenstand oder auch eine ganze Klassen von Gegenständen auszuwählen, mit denen wir uns näher beschäftigen möchten. Die Begriffe, speziell die Allgemeinbegriffe, zeichnen sich dadurch aus, daß sie aus der Gesamtheit der uns umgebenden Gegenstände eine Menge von Gegenständen herauszusondem vermögen, auf die wir unsere Aufmerksamkeit lenken können. Dies kann jedoch bekanntlich in einer Art geschehen, daß die auf diese Weise getroffene Wahl uns aus verschiedenen Gründen nicht befriedigt: die ausgewählte Menge kann entweder heterogene Gegenstände enthalten - wenn der Begriff nicht eindeutig ist - oder aber verschwommene Grenzen haben, oder es stellt sich schließlich heraus, daß sie Gegenstände enthält, die überhaupt ganz anders sind als dies anhand des betreffenden Begriffs der Fall zu sein schien. Würden wir den betreffenden Begriff - bzw. den betreffenden Namen oder ein anderes Wort - auf dogmatische Weise gebrauchen, mithin derart, daß wir beim Gebrauch des betreffenden Wortes blind davon überzeugt wären, die Gegenstände, zu denen das betreffende Wort uns geführt hat, seien genau

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so beschaffen, wie der Inhalt des betreffenden Begriffs (bzw. die Bedeutung des betreffenden Wortes) darauf hinweist, dann könnte uns sogar schon die vorgängige Gebrauchsweise eines fertigen Begriffs bzw. Wortes irrefuhren. Daher sollen wir das Wort in diesem Fall sehr kritisch gebrauchen, damit die Wahl der Klasse der zu lintersuchenden Gegenstände völlig vorläufig ist und wir sofort bereit sind, die Eigenschaften der vorläufig gewählten Gegenstände in unmittelbaren Gegebenheiten zu erfassen und zu untersuchen, ob und inwiefern diese Gegenstände die ihnen durch den verwendeten Begriff zugewiesenen Eigenschaften tatsächlich besitzen, ob sie also eine einheitliche Gruppe bilden und ob die Grenzen ihrer Klasse tatsächlich so verlaufen, wie dies dem Begriff entspricht, der uns als das vorläufige Wahlprinzip gedient hat. Wenn es uns gelingt, einen unmittelbaren Kontakt mit den Gegenständen zu gewinnen, haben die aus der Umgangssprache übernommenen Begriffe ihre Rolle ausgespielt, ja wir müssen uns bemühen, uns von allen Suggestionen, die durch diese Sprache nahegelegt werden, unabhängig zu machen. Denn die Angewohnheit, gerade die und die Worte bzw. Begriffe zu gebrauchen, verursacht ohne Zweifel - oder kann verursachen - gewisse Veränderungen in der Art und Weise, wie wir die Gegenstände sehen (idola foril), Veränderungen, von denen uns allein das Zeugnis der immittelbaren Gegebenheiten der Erfahrung befreien kann. Diese Unabhängigkeit von der vorgefundenen Sprache bzw. von der vorliegenden Begrififsapparatur läßt sich - unter Mitwirkung der Erfahrung - erst dann gewinnen, wenn wir die Geltung der bisher gebrauchten Begriffe und der von uns gehegten Meinungen bewußt suspendieren. Dies ist indes nur ein erster Schritt dazu, uns von den Einflüssen der vorliegenden Sprache zu befreien und eine echte Erfahrung zu gewinnen. Denn es ist, wie ich schon angedeutet habe, sehr schwierig, die originäre lind des öfteren ganz einzigartige Natur des Untersuchungsgegenstandes zu sehen. Jedes Sehen verlangt Übung, bevor man die ausgebildete Fähigkeit erreicht, den Gegenstand mit einem Blick treffsicher zu erreichen und die unmittelbaren Gegebenheiten in voller Klarheit und Deutlichkeit aufzunehmen. Daher versuchen wir, ehe wir diese Übung in Angriff nehmen, die Gegenstände zunächst nicht so sehr zu "erkennen" als vielmehr zu "unterscheiden". Die naiv gewonnenen Begriffe stecken uns vorläufig gewisse Gruppen von Gegenständen ab. Wenn wir beginnen, diese genauer zu betrachten, stellt

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

sich nicht selten heraus, daß zwischen ihnen noch beträchtliche Unterschiede, und zwar sowohl individueller als auch genetischer Natur, bestehen. Es zeigt sich daher des öfteren, daß die Gegenstände, die bisher in ein und dieselbe Gattung eingeordnet wurden, Elemente verschiedener Klassen ausmachen und nur im Hinblick auf einen nebensächlichen Umstand mit ein und demselben Wort bezeichnet wurden. Dadurch, daß wir die Gegenstände anschaulich unterscheiden, beginnen wir auch zwei oder mehr Bedeutungen eines Wortes auseinanderzuhalten, die bisher als ein einziges Wort angesehen wurden, und dadurch sowohl die Wörter als auch die dazugehörenden Begriffe gegeneinander abzugrenzen, indem wir für sie eventuell verschiedene Bezeichnungen einfuhren. Es geht uns aber in erster Linie darum, eine deutliche Erfahrung des Gegenstandes zu gewinnen, und erst sodann bemühen wir uns, neue Begriffe zu bilden. Daher beschäftigen wir uns zunächst noch nicht mit der Präzisierung der unterschiedenen Begriffe, sondern kehren wieder zur anschaulichen Untersuchung der Gegenstände zurück. Denn die anfanglichen Unterscheidungen erlauben es uns gewöhnlich nicht, die spezifischen Merkmale der Gegenstände hervorzuheben. Wir versuchen, diese entweder dadurch herauszuarbeiten, daß wir unsere Konzentration, die Fähigkeit des "Sehens" selbst steigern, oder auch dadurch, daß wir entgegengesetzte Unterscheidungen durchführen. Denn im Kontrast [zueinander] heben sich die spezifischen Gegenstandsqualitäten manchmal deutlicher ab. Wir versuchen auch, verschiedene Situationszusammenhänge zu gewinnen, an denen die Gegenstände selbst teilnehmen oder nicht teilnehmen oder sogar nicht teilnehmen können. Auf diese Weise treten die uns zunächst verborgenen Unterschiede zwischen den Gegenständen wie auch deren Eigenart leichter hervor. Die Zusammenhänge zwischen den Gegenständen hängen davon ab, welche Merkmale den Gegenständen zukommen; daher werden infolge der Erforschung dieser Zusammenhänge leichter die Merkmale sichtbar, die wir ohne diese methodische Maßnahme vielleicht gar nicht oder nur sehr unklar und undeutlich erfassen würden. All diese Mittel sind jedoch nur vorbereitende Operationen, die uns eine endgültige Maßnahme nicht abnehmen können: nämlich, daß wir, uns direkt auf den Gegenstand richtend, diesen "sehen" und in seiner spezifischen Form und Beschaffenheit erschauen. Die spezifische Form bzw. Beschaffenheit eines Gegenstands zu "erschauen" heißt noch nicht, diesen im strengen Sinne

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des Wortes zu "erkennen". Dafür muß er noch mit sich selbst so unfehlbar identifiziert werden, daß er in jedem Fall des Sehens "wiedererkannt" sowie begrifflich erfaßt werden kann. Und so sehen wir uns vor die Notwendigkeit gestellt, einen neuen passenden Begriff zu bilden. Ohne einen solchen Begriffkönnen wir nämlich keine Identifizierung des Gegenstands durchführen, geschweige denn seinen inneren Aufbau mit einem System von Abhängigkeiten zwischen seinen Merkmalen usw. klar und deutlich erfassen; es ist auch 29

unmöglich, die erlangten Ergebnisse anderen Forschern mitzuteilen. Jeder Gegenstand, wie auch seine Merkmale, treten in der unmittelbaren Erfahrung mit einem spezifischen und charakteristischen Quale auf. Dieses Quale völlig klar und deutlich zu erschauen ist der erste, aber zugleich auch entscheidende Schritt im Erkennen. Gleichzeitig damit aber, auch wenn dieses Erschauen zunächst noch nicht ganz klar und deutlich ist, kommt beim Subjekt eine entsprechende Meinung (Intention) zustande. Sie besteht zunächst nur darin, daß sich das Subjekt in gewisser Weise gerade auf diesen und keinen anderen Gegenstand richtet. Man könnte somit sagen, daß sich solche ursprünglichen Verneinungen verschiedener Gegenstände voneinander eher durch eine andere Richtung als durch ihren Inhalt unterscheiden. Denn der Inhalt ist zunächst nur vage. Sie besitzen jedoch den großen Vorzug, daß wir sie unverändert beibehalten bzw. aufs neue aktualisieren können, wenn wir aufhören, den Gegenstand anschaulich zu erfassen. Wenn wir den Gegenstand erneut sehen, versetzen sie uns in die Lage, daß wir feststellen, ob wir es mit demselben Gegenstand wie vorher zu tun haben. [Diese Richtung] ist gleichsam ein Bindeglied zwischen zwei zeitlich verschiedenen Erfahrungen desselben Gegenstandes. Sie ist zugleich der erste Keim des Begriffs, wenn man unter dem "Begriff' eine unanschauliche Vermeinung 30 eines Gegenstands in seinen konstitutiven Qualifikationen versteht. Eine

29 Daß dieser letzte Schritt nötig ist, hat Heidegger nicht verstanden, als er in seinem Werk Sein und Zeit [Halle a.d.S. 1927] das Problem der Methode der phänomenologischen Forschung besprochen hat. Diese Tatsache wirkt sich auch negativ auf die von ihm faktisch durchgeführten Untersuchungen aus, die einigermaßen unvollendet sind Dies wird z.B. in der sehr großen Anzahl von Termini sichtbar, die Heidegger verwendet, ohne daß er dabei 30 über den ersten unmittelbaren Kontakt mit den Gegenstanden hinauskommt. (1961) Vom Begriff in diesem Sinne muß der Begriff in der logischen Bedeutung unterschieden werden, mit dem wir uns hier nicht beschäftigen.

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erneute unmittelbare Erfahrung des Gegenstands - die entweder zufällig verläuft oder durch eine schon vorhandene unanschauliche Meinung gleichsam geleitet wird - fuhrt entweder dazu, daß das Quale des Gegenstands der neuen Erfahrung mit der Richtung der unanschaulichen Vermeinung ganz identifiziert wird, so daß sich diese Vermeinimg eben dadurch mit den unmittelbaren Gegebenheiten "erfüllt", in denen der Gegenstand zur Erscheinung kommt, oder sie fuhrt dazu, daß sie [seil, jenes Quale und diese Richtung] nur teilweise identifiziert werden, oder schließlich fuhrt sie zu einem Widerstreit zwischen ihnen. Da die Richtung der Meinung durch die Gegebenheiten der vorhergehenden Erfahrung bestimmt worden ist, überträgt sich dadurch, daß zwischen dieser Richtung und den Gegebenheiten der Erfahrung bzw. dem Gegenstand eines der früher genannten drei Verhältnisse besteht, dieses Verhältnis gleichsam auf das entsprechende Verhältnis zwischen den Gegenständen beider Erfahrungen. So und nur so können die Gegenstände von zwei verschiedenen - und zeitlich voneinander getrennten - Erfahrungen als identisch, gleich oder verschieden anerkannt werden. Wenn eine totale Identifikation zwischen dem Gehalt der unmittelbaren Gegebenheiten und der Meinung stattfindet, dann sagen wir - wie ich schon erwähnt habe - , 31

daß sich die Meinung in den Gegebenheiten "erfüllt" und daß der entsprechende Gegenstand als derselbe wie der Gegenstand der vorangehenden Erfahrung erkannt worden ist. Diese Identifikation ist jedoch nicht die einzige Folge davon, daß wir eine erneute Erfahrung desselben Gegenstands erreicht haben. Unter ebenso günstigen Umständen tritt nämlich der Gegenstand in der erneuten Erfahrung nunmehr viel klarer und deutlicher hervor. Andererseits schöpft die Meinung, indem sie sich in den Gegebenheiten der Erfahrung erfüllt, aus diesen Gegebenheiten gleichsam eine größere Bestimmtheit ihres Inhalts, sie hört auf, eine einfache Richtung gerade auf diesen Gegenstand zu sein, und wird zu einer Meinung, deren Inhalt, dadurch daß sie sich den Erfahrungsgegebenheiten anpaßt, sich gleichsam innerlich differenziert. Dasselbe ist der Fall, wenn eine "partielle" Identifikation der Meinimg bzw. des Gegenstands der vorangehenden Erfahrung mit dem Gegenstand der erneuten Erfahrung stattfindet. In diesem 31

Dieser Terminus ist von Husserl in seinen Logischen Untersuchungen eingeführt worden; er steht in engem Zusammenhang mit seinen Analysen des Wahrseins der Vermeinungen oder Urteile.

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Fall kommen jedoch noch verschiedene Veränderungen im Inhalt der Meinung hinzu. Unter einer "partiellen" Identifikation verstehe ich den folgenden Fall: Wenn das, was in der Erfahrung gegeben ist, weder eine einfache Qualität noch ein einfaches formales Moment, sondern ζ. B. ein Ding ist, dann tritt einerseits ein solcher Gegenstand - wie wir gesagt haben - unter einem einzigartigen Quale auf, und andererseits bieten uns auch seine 32

Merkmale ihr Quale dar. Das erstere werde ich das Ganzheitsquale nennen. Wenn ich ζ. B. den Tisch wahrnehme, an dem ich täglich arbeite, dann trägt dieser Gegenstand an sich das Gepräge "mein Tisch", das ihn im Ganzen charakterisiert. Das Auftreten von diesem Quale hängt nur in einem gewissen Maße davon ab, welche Eigenschaften dieses Tisches gerade in der betreffenden Wahrnehmung vorkommen. Andererseits unterscheide ich eine Reihe seiner Merkmale wie "hölzern", "vierbeinig", "poliert" usw. Jedes dieser Merkmale tritt wiederum unter einem spezifischen Eigenschaftsquale auf. Es waltet ohne Zweifel eine ganz bestimmte Gesetzmäßigkeit hinsichtlich dessen, bei welchen Eigenschaftsquale ein bestimmtes Ganzheitsquale des Gegenstands als eine unmittelbare Erfahrungsgegebenheit erscheinen kann und bei welchen nicht und inwiefern eine Änderung in der Auswahl der Eigenschaftsquale auf das Ganzheitsquale einen Einfluß ausübt. Ich kann hier darauf nicht näher eingehen. Wichtig in diesem Augenblick ist übrigens nur, daß in gewissen Fällen die Meinung durch das Ganzheitsquale des Gegenstands der erneuten Erfahrung erfüllt werden kann, obwohl in der jetzigen Erfahrung andere Eigenschaftsquale als in der vorangehenden auftreten. Da liegt eben der Fall einer "partiellen Identifikation" vor. Im Alltagsleben geben wir diesen Fall wieder, indem wir sagen: wir nehmen jetzt denselben Tisch wie früher wahr, nur von einer anderen Seite her oder unter anderen Umständen. Oder wir sagen schließlich, daß sich der Gegenstand in dieser oder jener Hinsicht verändert habe, wobei er derselbe (sich selbst) geblieben sei. In den Fällen einer partiellen Identifikation ist zwar das Ganzheitsquale des in der Erfahrung unmittelbar gegebenen Gegenstands derart beschaffen, daß sich die auf den Gegenstand gerichtete Meinung in 32 In den später durchgeführten Betrachtungen über die Form des Gegenstands habe ich dieses "Ganzheitsquale" des Gegenstands als dessen "individuelle Natur" bezeichnet Vgl. Essentiale Fragen [Ingarden (1925a), S. 151] und spater im Streit um die Existenz der Welt [Ingarden (1964/65)], Bd. Π, Teil 1, Kap. Vm. (1961)

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diesem Quale "erfüllt", in der Erfahrung treten aber jetzt gewisse Merkmale viel deutlicher als vorher oder auch ganz neu hervor, und die vorher unklar gesehenen rücken jetzt in den Vordergrund usw. Infolgedessen kommt einerseits - durch Vermittlung der Meinung - eine Identifikation des jetzt gesehenen Gegenstands mit dem früher gesehenen zustande, andererseits aber verursacht die neue Erfahrung eine Umgestaltung oder eine genauere Bestimmimg des Inhalts der ursprünglichen Meinung. Parallel zur Unterscheidung zwischen dem Ganzheitsquale und dem Eigenschaftsquale muß auch die Ganzheitsmeinung von der Eigenschaftsmeinung unterschieden werden. Die eine wie die andere ist ein Moment der Verneinung des ganzen Gegenstandes. Man kann nunmehr sagen: Bei der partiellen Identifikation liegt eine völlige Identifikation des Gegenstands in seinem Ganzheitsquale vor bzw. kommt es zu einer völligen Erfüllung des Ganzheitsmomentes der Meinung im Ganzheitsquale des Gegenstands, während das Vorhandensein der partiell anderen Eigenschaftsquale in der neuen Erfahrung eine gewisse Veränderung oder Bereicherung der Eigenschaftsmomente der Meinung 33

verursacht. Eine ähnliche Operation, in der die Erfahrung des Gegenstands erneut gewonnen, die Meinung erfüllt und eventuell modifiziert wird, kann mehrmals wiederholt werden. Jede neue Verwendung dieser Operation kann eine Modifikation des Meinungsinhalts oder seine genauere Bestimmung herbeifuhren. Je klarer das Ganzheitsquale des Gegenstands wie auch verschiedene Eigenschaftsquale und die zwischen ihnen bestehenden Zusammenhänge gesehen werden, desto klarer und genauer bestimmt sind die einzelnen Meinungsmomente (die einzelnen "intentionalen" Momente), desto genauer bestimmt ist der "Inhalt" der Meinung. Mit anderen Worten: Dadurch, daß man mehrmals einen unmittelbaren Erkenntniskontakt mit dem Gegenstand gewinnt, kommt die Bildung und die Umbildung des konkret gedachten "Begriffs" des Gegenstands zustande, und zwar dahingehend, daß sein Inhalt sofern dabei nicht irgendwelche Fehler begangen werden - immer genauer 33 Dieses ganze Problem der Umwandlung der Meinung würde noch eine weitere Analyse erfordern, dies würde uns aber vom Hauptgang unserer Betrachtungen wegführen. Aus demselben Grund verzichte ich hier darauf, den Fall zu besprechen, wo ein völliger Widerstreit zwischen der schon gewonnenen Vermeinung des Gegenstands und dem in der erneuten Erfahrung Gegebenen stattfindet.

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den unmittelbar gegebenen Eigenschaften des Gegenstands entspricht. Es kann der Fall vorkommen, daß die Entsprechung zwischen den beiden nicht mehr zu vervollkommnen ist. Dann liegt ein adäquat gebildeter und erschöpfender Begriff des Gegenstands vor. 34 Bevor aber dieses endgültige Resultat erreicht wird, unterliegt der Inhalt - wie wir gesehen haben - mehrfachen Umwandlungen, er ist in einem gewissen Sinn "fließend". Der jeweils auf Grund der entsprechenden Erfahrung des gegebenen Gegenstands erreichte Inhalt seines Begriffs ist nur ein Ausdruck des bisherigen Erkenntnisergebnisses. Das also, was in einem gewissen Moment der Erfahrung ein getreuer Ausdruck der bisherigen Sehweise des Gegenstands war, ist später unzulänglich und kann einer Modifikation unterzogen werden. Die erwähnte "fließende" Natur der Begriffe ist also - während die Erfahrung durchgeführt wird und auf ihrer Basis eventuell eine Analyse vollzogen wird - nicht irgendein Fehler im Erkenntnisverfahren, sondern sie hängt wesentlich mit der ganzen Forschungsmethode zusammen. Diese fließende Natur kann im Prinzip zweifach sein: entweder besteht sie darin, daß der ansonsten unveränderte Meinungsinhalt mehr oder weniger klar und kristallisiert ist, oder sie besteht in einer Umgestaltung oder wenigstens Bereicherung dieses Inhalts. Das erstere kann prinzipiell ausgeschlossen werden, wenn wir eine vollkommen klare und deutliche Erfahrung des Gegenstands erreichen. Das letztere hingegen kann - wie es scheint - nicht immer behoben werden. Dies hängt von der Struktur des jeweiligen Gegenstands ab. Es gibt - wie es scheint - Gegenstände, deren konstitutive Merkmale zu einer erschöpfenden Erschauung gebracht werden können. In diesem Fall wäre es auch möglich, einen endgültigen und festen Begriff zu bilden, dessen Inhalt im Verhältnis zum Gegenstand adäquat wäre. Es scheint jedoch ebenfalls Gegenstände zu geben, bei denen dies nicht möglich ist; dann läßt sich auch die "fließende Natur" des Begriffs im zweiten Sinne nicht beseitigen. Der Begriffsinhalt entspricht dann nur dem jeweiligen bisherigen Resultat der immittelbaren Erfahrung. Darauf werden wir noch zurückkommen müssen. Im Augenblick muß nur betont werden, daß die eventuelle fließende Natur der zweiten Art eine dermaßen charakteristische Eigenschaft der Be-

Ob dies auch bei Gegenständen der Ait wie die realen Dinge möglich ist, möchte ich hier nicht entscheiden.

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griffe ausmacht, daß ihr Vorhandensein oder das Fehlen als ein Einteilungsprinzip aller Begriffe überhaupt dienen kann. Im Resultat müssen zwei verschiedene Phasen der Erforschung eines Gegenstands in der Erfahrung unterschieden werden: 1. die Phase, in der die Erfahrung gewonnen und die phänomenologische Analyse durchgeführt wird, und 2. die Phase, nachdem diese Analyse - wo dies überhaupt möglich ist zu einem Letztergebnis geführt hat. hn ersten Fall geht gleichzeitig mit der immer weiter geführten Erfahrung die Bildung der Begriffe (in dem oben angedeuteten Sinne) vonstatten. Sie sind dann infolge ihrer fließenden Natur vorläufig und können somit nicht als eine fertige und zuverlässige Gedankenstruktur gebraucht werden. Es ist dann unmöglich, sie in allen rein intellektuellen, logischen Operationen zu verwenden. Man muß möglichst häufig auf die unmittelbaren Gegebenheiten der Erfahrung rekurrieren. Dem muß die zweite Phase entgegengestellt werden, in der wir schon nicht nur eine endgültige und erschöpfende Erfahrung des Gegenstands, sondern im Zusammenhang damit auch eine endgültige Gestalt der gewonnenen Begriffe erreicht haben. Dann vollzieht sich auch der spezifische Denkakt, der darin besteht, daß der gewonnene Begriff im gewonnenen Inhalt fixiert wird. Und erst dann kann man von einem Begriff im logischen Sinne sprechen, als einem idealen Gebilde, das kraft dieses Entschlusses schon etwas Unveränderliches bleibt. Dann können wir erfolgreich mit dem Aufbau einer Theorie, insbesondere eines deduktiven Systems des betreffenden Gegenstandsgebiets beginnen und müssen bei seiner Bearbeitung keine Zuflucht zur Erfahrung nehmen. Dies kommt jedoch - wie man aus dem schon Gesagten sieht nicht in jedem Gegenstandsgebiet in Frage. Man soll auch nicht immer verlangen, daß ein solches System aufgebaut werde. Alles, was ich letztlich gesagt habe, betrifft die Rolle, welche die Meinungen=Begriffe beim Gewinnen der unmittelbaren Gegebenheiten der Erfahrung spielen. Zu besprechen bleibt aber noch die Situation, in der wir vor der Aufgabe stehen, die gewonnenen Resultate auszudrücken und anderen mitzuteilen. Was jeder von uns unbedingt benötigt, während er auf die Erfahrung rekurriert, ist einerseits die Gewinnimg einer entsprechenden Erfahrung und andererseits die Möglichkeit, den geistigen Blick während des Erfahrungsprozesses und zwischen seinen Phasen mit Hilfe einer Meinung auf ein und demselben Gegenstand sozusagen ruhen zu lassen. Es ist sehr

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nützlich, wenn man ein festgelegtes Symbol als Stützpunkt der Meinung besitzt, denn dadurch kann man leichter eine (in angedeuteten Grenzen) unveränderliche Meinung erhalten; dies ist jedoch nicht unbedingt nötig. Das Besitzen von Wörtern als intersubjektiv - und zwar in ihrer identischen Bedeutung - verständlicher Gebilde ist dagegen in dem Augenblick unbedingt nötig, wenn wir die Ergebnisse der Erfahrung, die von irgendjemandem von uns im individuellen Verfahren gewonnen worden sind, anderen Erkenntnissubjekten mitteilen möchten. Auf welche Weise verschiedene Erkenntnissubjekte die Wörter der Umgangssprache verstehen können, ist ein Problem, das ich hier nicht lösen kann, obwohl es sehr schwierig klarzulegen ist. Hier handelt es sich aber um ein spezielles Problem, nämlich darum, in einem gewissen Sinne über die Umgangssprache hinauszugehen, um eine Erfahrung auch beim Bilden von Vermeinungen zu gewinnen, die in der Umgangssprache überhaupt nicht vorkommen können. Auf welche Weise können diese neuen Bedeutungen (Vermeinungen) so in die Sprache eingeflochten werden, daß sie für Personen verständlich werden, die selbst die Erfahrung nicht gehabt haben und dadurch die Erkenntnisakte mit genau den Meinungen, die jemand durch eine von ihm gewonnene Erfahrung eines Gegenstands erlangt hat, nicht vollzogen haben? Die Verwendung der Wörter einer vorgefundenen Sprache ist in all den Fällen unmöglich, in denen ihre Bedeutungen durch die Erfahrung nicht bestätigt worden sind, sogar wenn auch nur eine geringe Modifikation der Bedeutung eintritt. Unmöglich ist es auch, ganze neue, anderen nicht bekannte Wörter einzuführen, denn sie müssen dann für sich unverständlich sein. Kann eine Meinung für sich allein mitgeteilt werden, ohne daß sie irgendwie geäußert wird? Auch dies scheint nicht möglich zu sein, ebensowenig wie das Lesen in fremden Gedanken. Die Situation scheint somit hoffnungslos, wenn wir uns nicht auf die unmittelbaren Erfahrungsgegebenheiten berufen. Man muß es anderen ermöglichen, die gleiche Erfahrung wie diejenige zu erreichen, die es uns ermöglicht hat, eine neue adäquate Meinung zu bilden. Dies erfordert eine spezielle Kunstfertigkeit oder Technik der Gesprächsfuhrung, die es zur Aufgabe hat, den Gesprächspartner an die eigentliche Erfahrung heranzufuhren. Und 35

Damit soll noch nicht gesagt werden, daß das Fremdpsychische überhaupt auf keine Weise erkannt werden kann Ich habe diese Frage in meiner Abhandlung "O poznawaniu cudzych stanów psychicznych" [vgl. Ingarden (1947)] erörtert (1961)

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

ähnlich, wie wir selbst mit der Verwendung der Umgangssprache begonnen haben, wobei wir uns nur bemüht haben, bei einer kritischen Einstellung zur Triftigkeit der Bedeutungen der von uns gebrauchten Wörter einen Bezug auf die Erfahrung zu gewinnen, müssen wir auch, mit denselben Vorbehalten, die Ausdrücke der Umgangssprache verwenden. Wir wählen dafür Wörter, die allgemein gebräuchlich und daher auch, wenigstens fur die meisten Leute, in gewissen Grenzen verständlich sind. Wir bezeichnen mit ihnen zunächst allgemein die zu untersuchenden Gegenstände, um so einem anderen zu ermöglichen, eine ähnliche vorläufige Auswahl der Untersuchungsgegenstände zu gewinnen. Deswegen wählen wir Wörter, die möglichst "intuitiv" sind, d. h. die Fähigkeit haben, uns die entsprechenden Gegenstände "vor Augen" zu führen. Dafür eignen sich am besten Ausdrücke, die nicht aus Büchern, sondern aus dem Leben entnommen sind, Ausdrücke, die noch nicht im Gebrauch eines reinen Theoretikers ihren prägnanten oder sogar kräftigen Charakter verloren haben, Ausdrücke, die uns Gegenstände eher zeigen als diese abstrakt (wenn auch sehr "streng") bezeichnen sollen. Eine weitere technische Maßnahme besteht darin, dem Gesprächspartner auf eine suggestive Weise - mithin auf eine Weise, die ihn dazu anregt, sich eine Erfahrung zu verschaffen - passend gewählte konkrete Beispiele beizubringen. Man soll sich dabei wenn möglich nicht mit einem einzigen Beispiel begnügen, sondern vielmehr mehrere, oft einander entgegengesetzte Beispiele verwenden, d. h. einerseits solche, in welchen die Erscheinung auftritt, die wir direkt erfassen wollen, und andererseits Beispiele, in denen diese Erscheinung nicht vorkommt oder stattdessen nur eine verwandte Erscheinung auftritt. Im letzteren Fall kann es entweder darauf ankommen, durch die bestehende Verwandtschaft eine Erfahrung dessen nahezulegen, worum es sich für uns eigentlich handelt, oder den Gesprächspartner auf unerhebliche, aber manchmal entscheidende Unterschiede in der Auswahl der von uns analysierten Qualitäten zu sensibilisieren. Wenn es uns schon gelungen ist, eine Erfahrung des von uns gemeinten Gegenstands in seinem Ganzheitsquale zu erwecken, und wir zur Überzeugung kommen, daß sich unser Gesprächspartner schon mit Erfolg eine entsprechende unanschauliche Ganzheitsmeinung gebildet hat, - was mit Hilfe verschiedener Verständigungsmittel erreicht werden kann, ζ. B. durch Beobachtung der Verhaltensweise der Person, mit der wir die Analyse durch-

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fuhren - , müssen wir einen neuen Versuch unternehmen, mit unserem Gesprächspartner zusammenzuarbeiten, dadurch, daß wir ihm eine Erfahrung auch hinsichtlich der Eigenschaftsquale des Untersuchungsgegenstands zu gewinnen helfen. Dies kann man entweder durch verschiedene versuchsweise Bezeichnungen aus der Umgangssprache erreichen, die aber entsprechend kritisch verwendet werden, oder auch dadurch, daß man gewisse übertragene oder "bildliche" Bezeichnungen benutzt, wobei all dies wiederum als vorläufige Versuche [zu betrachten ist], gemeinsam zum Sehen des Gegenstands in seiner vollen Beschaffenheit zu gelangen. Wir suchen dabei manchmal sinnverwandte Wörter, wobei wir auf die Notwendigkeit hinweisen, ihre Bedeutung auf irgendeine Weise zu modifizieren, oder verwenden Vergleiche, Analogien, um schließlich direkt schon mit Bezeichnungen auf die unserem Untersuchungsgegenstand wesentlichen Merkmale hinzuweisen. Infolgedessen können wir uns gleichsam erst im letzten Moment, wenn wir schon zur Überzeugung gekommen sind, daß der Gesprächspartner unseren Hinweisen folgt und dasselbe effektiv zu sehen vermag, was wir selbst vorher gesehen haben, einer strengen Bezeichnung mit Hilfe phänomenologisch festgelegter Begriffe bedienen. All dies erfordert eine aktive Zusammenarbeit des Lesers oder des Gesprächspartners. Sie besteht darin, daß er sich ständig bemüht, sich den Bedeutungsintentionen der an ihn gerichteten Wörter zu unterwerfen, und sich Mühe gibt, das, wovon die Rede ist, unmittelbar zu "sehen". Ein Leser, der im voraus Widerstand leistet, der den Hinweisen des Verfassers nicht folgen will, sondern im Gegenteil: prinzipiell auf seiner Meinung und seiner Redeweise beharrt, der sich wünscht, daß man ihm alles "darlegt" und daß er sich keine Mühe zu geben braucht, den Gesprächspartner zu verstehen, - ein solcher Leser kann die Erfahrung, die ihm das Verständnis der phänomenologischen Betrachtung ermöglichen würde, natürlich nicht erlangen - und an einem solchen Leser ist den Phänomenologen auch gar nicht gelegen. Der phänomenologische Verfasser "legt" seine Lehre dem Leser nicht "dar", sondern versucht nur, diesem die selbständige Erfahrung, die er im Auge hat, gewinnen zu helfen. Einem Leser, der unintelligent ist oder keine Gabe besitzt, unmittelbare Erfahrungsgegebenheiten zu gewinnen und die Intentionen des Verfassers nachzuvollziehen, einem Leser schließlich, der faul oder unwillig ist, - müssen die phänomenologischen Bücher immer als "unver-

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

ständlich" gelten. Dagegen kann man aber nichts machen. Nolenti non fit iniuria. Die phänomenologischen Bûcher sind aber keine politischen oder religiösen Programme, die möglichst viele Bekenner anlocken wollen. Ihre Aufgabe ist vielmehr, für die Erkenntnis neue Gebiete zu erschließen, und dabei muß man unvermeidlich auf Schwierigkeiten und Widerstände stoßen. Sie [d.h. die phänomenologischen Bücher] bilden einen Gegensatz zum Gewinnen von leichtem Erfolg und Beifall, sie befriedigen nur diejenigen, die keine Kraft und Ausdauer sparen, um zu einem echten Verkehr mit Dingen und Tatsachen zu gelangen. Dieser unmittelbare Verkehr im Sehen das ist die größte Gabe für den Phänomenologen. Diese Methode der intellektuellen Zusammenarbeit - die manchmal tatsächlich Probleme bereitet und eine schöpferische Anstrengung wie auch eine mehrmalige Wiederholung der Untersuchungen erfordert - erlaubt es uns zugleich, das im gegebenen Augenblick unmögliche Definieren der Termini zu vermeiden. Die Wörter, die wir in dieser Zusammenarbeit gebrauchen, müssen oft zunächst unbestimmte Bedeutungen haben, müssen auch anfanglich vielleicht vieldeutig sein und sollen in dieser Form als wissenschaftliche "Termini" natürlich nicht beibehalten werden. Wir müssen somit danach streben, verschiedene verwandte Bedeutungen, die manchmal in einem einzigen Wort miteinander verschwimmen, voneinander abzugrenzen, die Eindeutigkeit allmählich, aber ständig zu steigern und Bedeutungen zu fixieren, deren wir uns bei der endgültigen Präzisierung unserer Untersuchungsergebnisse bedienen werden. Wir verwirklichen diese Aufgabe, indem wir die Aufmerksamkeit des Lesers oder Gesprächspartners ständig auf die Untersuchungsgegenstände und ihre Eigenschaften lenken. Dadurch

Es ist kennzeichnend für die Bestrebungen der phänomenologische Forschung, daß sie sich in allen Zentren entwickelte, wo sich die phänomenologischen Untersuchungen in einer kollektiven Zusammenarbeit von vielen Gelehrten, in gemeinsamen Diskussionen abspielten, die manchmal monatelang über dieselben Themen geführt wurden. So war es mehr als zehn Jahre lang in Göttingen, so war es auch fast gleichzeitig in München wie auch in anderen Zentren, wo es den Phänomenologen gelang, eine angemessene Atmosphäre der Zusammenarbeit zu schaffen. Wo sich die phänomenologische Arbeit in individuelle Untersuchungen verwandelte, entartete sie bald zu verschiedenen Strömungen, die nur ihrem Namen nach als phänomenologisch galten, de facto aber mit der Phänomenologie nicht viel zu tun hatten.

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verleihen wir nicht nur den hergebrachten Wörtern neue, auf der Erfahrung beruhende Bedeutungen, vermitteln dem Leser nicht nur einen Begriffsapparat, dessen wir uns selbst bedienen, sondern bilden vor allem den Leser im unmittelbaren Erfahren der Dinge aus, erschließen vor ihm eine Welt, die ihm vorher unbekannt war oder die ihm nur nebelhaft vorschwebte. Denn man darf nicht vergessen, daß der Begriffsapparat nicht nur ein Mittel zum Zweck ist. Es handelt sich hier nicht nur darum, eine strenge Terminologie zu bilden, nicht nur darum - wie manche irrtümlich meinen - , die Bedeutungen der Wörter zu analysieren. Wir sehen es vielmehr darauf ab, den Gegenstand unmittelbar zu erkennen und dem Leser die Gewinnung dieser Erkenntnis zu erleichtern. Es handelt sich hier um ein neues Verhältnis zur Wirklichkeit, um einen direkten Verkehr mit ihr. Daher wäre es unzulänglich, sich in der Sphäre der Begriffe zu verschließen und die Philosophie durch Begriffskombinationen aufzubauen, sogar wenn die auf diesem Weg gewonnenen Begriffe gar nicht fließend wären und wenn sie eine erschöpfende Erkenntnis der Wirklichkeit beinhalten könnten. Die wesentlichste Bestrebung der Philosophie geht dahin, den Menschen der Wirklichkeit näherzubringen, ihm zu ermöglichen, sich ihr einzigartiges, in unmittelbaren Gegebenheiten zur Erscheinung kommendes Angesicht bis zur Sättigung anzuschauen und es denjenigen zu zeigen, welche die unmittelbare Erfahrung noch nicht erlangt haben. Die Notwendigkeit, immer weder auf die Erfahrung des Seienden zurückzugreifen, aus den unmittelbaren Gegebenheiten den Sinn der Begriffe zu schöpfen und durch diese die schon gewonnenen Ergebnisse nachzuprüfen, ist eine der grundlegenden Bestrebungen der Phänomenologen. Wer die Motive dieser Bestrebung nicht versteht, kann nicht begreifen, warum der Phänomenologe auf die ihm gestellte Frage, was die Natur des untersuchten Gegenstands ausmache, nicht dadurch antwortet, daß er eine mehr oder weniger treffende Definition dieses Gegenstands oder eine abstrakt gefaßte These aufstellt, sondern beginnt, den Fragenden an den untersuchten Gegenstand heranzufuhren, und sich bemüht, ihn selbst dazu fähig zu machen, diese Natur zu sehen. So viel kann man einstweilen über die methodologischen Absichten der Phänomenologen sagen. Mehr werden wir darüber erst sagen können, wenn die prinzipiellen Tendenzen der Phänomenologie dargestellt und dadurch

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

diejenigen ihrer Züge angegeben worden sind, die für sie ausschließlich charakteristisch sind. ΙΠ. Über die unmittelbare Erkenntnis a priori Unsere Betrachtungen über das Postulat und das Prinzip der Gewinnung der unmittelbaren Erfahrung könnte - ohne weitere Erklärungen dazu - den Leser zu einer falschen Auffassung der Bestrebungen der Phänomenologen veranlassen. Denn was veranlaßt auf den ersten Blick die Aufstellung dieses Postulats? Im Verhältnis zur positivistischen Philosophie - eine Erweiterung der Untersuchungen über die Sphäre der Erkenntnisse hinaus, die in der äußeren und in der inneren Wahrnehmung gewonnen werden. Im Verhältnis zu dieser Philosophie und der Naturwissenschaft [bedeutet dies] dagegen, daß der Schwerpunkt der Untersuchungen auf die Entdeckung der unmittelbaren Gegebenheiten verschoben wird, daß statt der kausalen Erklärung der Erscheinungen die deskriptiven Probleme in den Vordergrund gerückt werden und daß wir, anstelle von dem durch vorgefaßte Meinungen verfälschten Aspekt der Wirklichkeit, die ursprüngliche und reine Erfahrung wiedergewinnen, indem wir uns von den vorliegenden Theorien unabhängig machen. Zum letzteren würde ζ. B. die Zurückweisung der irrtümlichen psychologistischen Theorien in einer Reihe von philosophischen Disziplinen gehören. Und dies wäre - wie es scheint - schon alles. Der Unterschied zwischen der Phänomenologie und der positivistischen Philosophie wäre trotz allem nicht so groß, zumal wenn die Phänomenologie - wie es zunächst erscheinen kann nichts anderes wäre als eine deskriptive Wissenschaft über die in der Wirklichkeit vorkommenden Tatsachen oder wenn sie insbesondere - wie dies sogar Husserl selbst in der Einleitung zum zweiten Band der Logischen Untersuchungen von 1901 gesagt hat - einfach die deskriptive Psychologie .. 37 ware. Dies wäre jedoch eine aus verschiedenen Gründen irrtümliche Auffassung der Bestrebungen und des Charakters der phänomenologischen Forschung. Denn obwohl der Phänomenologe auf die Erforschimg von Tatsachen prinzipiell nicht verzichtet, liegt sein eigentliches Arbeitsfeld woanders.

37

[Vgl. Husserliana XIX/1, hrsg. von U. Panzer, Den Haag 1984, S. 24.]

Die unmittelbare Erkenntnis a priori

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Seine Hauptaufgabe ist die apriorische Erkenntnis des Wesens von Gegenständen. Im vorigen Kapitel habe ich absichtlich eine so weite - obwohl durch das Wesen der betrachteten Erkenntnisse erforderte - Bestimmung der Erfahrung angegeben, um damit sowohl die Erkenntnis von individuellen Tatsachen als auch die apriorische unmittelbare Erkenntnis zu umfassen. Jetzt müssen wir diese beiden Arten der unmittelbaren Erkenntnis gegenüberstellen. Das Streben danach, eine apriorische Erkenntnis zu erreichen, ist fast so alt wie die Philosophie. Fast in jeder großen Epoche der Philosophie hat man aufs neue einen Versuch unternommen, dieses Postulat zu verwirklichen, und eine neue Niederlage erlitten. Der letzte solche Versuch vor dem Anfang unseres Jahrhunderts waren - man weiß, mit welchem Erfolg - verschiedene Anstrengungen des deutschen Idealismus. Muß man denn diesen Versuch noch einmal unternehmen und Gefahr laufen, wieder zu scheitern? Gewiß, wollten die Phänomenologen noch einmal das realisieren, was so viele Male nicht gelungen ist, dann wäre dies zumindest unvernünftig. Handelte es sich aber bei all den unternommenen Versuchen tatsächlich immer um die Erkenntnis a priori in ein und derselben Bedeutung? Hat der Begriff dieser Erkenntnis selbst nicht mehrfach im Laufe der Geschichte der Philosophie weitgehende Veränderungen erfahren? Hat man je genau erklärt, um welche Art Erkenntnis es sich hier handelt? Hat man nicht bereits beim Bestimmen der zu realisierenden Aufgabe schwerwiegende Fehler gemacht? Und steht es fest, daß alle Einwände, die von den Empiristen verschiedener Prägung gegen die Erkenntnis a priori und deren Möglichkeit erhoben wurden, richtig sind? Man kann hier keine Geschichte dieses Problems schrieben, die spätestens zur Zeit von Piaton beginnen würde. Es ist nur sogleich zu betonen, daß der von den Phänomenologen - trotz so vielen mißlungenen Bemühungen 38

unternommene Versuch, eine "apriorische" Erkenntnis zu gewinnen, davon zeugt, daß dieser Versuch darauf abzielt, die Fehler zu berichtigen, die früher 38 Man muß dabei den Leser sofort warnen, daO die Erkenntnis a priori im Verständnis der Phänomenologen anders begriffen wird als bei Kant, besonders in seiner "kritischen" Philosophie. Sie hat auch nichts zu tun mit dem Problem der Kategorien, der apriorischen Anschauungsformen, deren "Subjektivität" usw., und damit auch nicht mit der Gegenüberstellung von "Erscheinung" und "Ding an sich".

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

- allein schon in der Fassung des Begriffs dieser Art Erkenntnis - begangen wurden, und eine bessere Lösung des alten Problems zu finden. Dieses Problem hängt übrigens nicht nur damit zusammen, daß es zwei Grundformen von Erkenntnis gibt, sondern auch mit [dem Vorhandensein von] - mindestens - zwei verschiedenen Gebieten von Erkenntnisgegenständen bzw. Seinsweisen: der realen und der idealen Gegenstände. Dem Problem der Existenz der idealen Gegenstände und deren Erkenntnis mußte sich Husserl zuwenden, nachdem er die psychologistische Logik zurückgewiesen und die Idee der sog. "reinen Logik" gefaßt hatte und als 39

eine Bearbeitung der letzteren als philosophischer Logik notwendig wurde. Und zwar aus zwei Gründen. Zum einen deswegen, weil die Objekte der Logik - Begriffe, Urteile, Schlüsse, Theorien - idéale Gegenstände sind,40 zum anderen aber deswegen, weil der Aufbau der/ philosophischen Logik nach Husserl die Erforschung von entsprechenden Erkenntnisakten voraussetzt. Man mußte also erwägen, ob die Argumente, die von verschiedenen Seiten gegen die Existenz der idealen Gegenstände vorgebracht werden, einer Kritik standhalten. Daher war die erste Aufgabe, die sich Husserl stellte, als er sich daran machte, gewisse logische Grundbegriffe positiv herauszuarbeiten, der Nachweis, daß dies nicht der Fall ist. Er hat diese Aufgabe in der Π. Untersuchung erfüllt.41 Die Beseitigung der Hindernisse und das 39 Im Unterschied zur mathematischen Logik. Vgl. Logische Untersuchungen, Π. Aufl., 40 BA Π, Einleitung, §§ 1-2, S. 1-8. Diesen Standpunkt hat Husserl in den Logischen Untersuchungen vertreten. Auch in seinem zweiten Werk zur philosophischen Logik unter dem Titel Formale und Transzendentale Logik ([Halle] 1929) ist Husserl der Ansicht, daß diese Objekte ideal sind, zu dieser Zeit erfährt aber seine Auffassungsweise der idealen Gegenstände eine prinzipielle Veränderung. Vgl. dazu meine Abhandlung "Gtówne fazy rozwoju pogl^dów filozoficznych Edmunda Husserla", S. 383ff. [deutsche Übersetzung: "Die Hauptphasen der Entwicklung 41 der Philosophie Edmund Husserls", in: Ingarden (1998), S. 134ff.]. (1961) Man kann hier seine Argumentation nicht darstellen. Das Anliegen seiner Betrachtungen geht dahin, zu zeigen, daß die verschiedenen von ihm analysierten Versuche, die idealen Gegenstände zu verwerfen, zu einem Widerspruch führen. Dies scheint eine unzweifelhafte Errungenschaft zu sein. Es ist aber zugleich nicht zu übersehen, daß sowohl der Begriff des idealen Gegenstands (der Spezies) selbst als auch der Begriff des Aktes der "Ideation" als der Erkenntnisweise dieses Gegenstands von Husserl nicht ausreichend geklärt worden sind und daß erst eine Reihe von Husserls Schülern diese Probleme einen Schritt weiter vorangebracht hat

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gleichzeitige Zeugnis der unmittelbaren Erkenntnis haben ihn aber zur Überzeugung geführt, daß die Annahme der idealen Gegenstände nicht zu vermeiden sei. Dadurch wurde die Möglichkeit der Logik als formaler mathematischer Theorie der Abhängigkeiten und Zusammenhänge zwischen logischen Gebilden gesichert. Für die Zwecke der philosophischen Logik mußte noch in der unmittelbaren, direkt auf logische Gebilde gerichteten apriorischen Erkenntnis das formale Wesen von Gebilden wie dem "Begriff' in der logischen Bedeutung, dem "Urteil" (dem Satz im logischen Sinne), dem "Schluß" usw. herausgearbeitet werdea Nach Husserls methodologischen Prinzipien erforderte dies eine Erkenntnis der Bewußtseinsakte selbst, in denen derartige logische Gebilde zur Gegebenheit kommen.42 Wenn somit 1) jene Erkenntnisakte mit psychischen Tatsachen zusammenfallen würden und wenn 2) sie nur als gewisse Tatsachen erkannt werden könnten, die in der inneren Wahrnehmung gegeben sind und einen Bestandteil psychischer Tatsachen ausmachen, dann würde der Psychologismus in der Logik dennoch zu Recht behaupten, daß die Psychologie die zum Aufbau einer philosophischen Logik unumgängliche Wissenschaft sei. Die Existenz einer philosophischen, nichtpsychologistischen Logik ist also bedingt durch den Unterschied zwischen dem Bewußtsein und dem Psychischen, durch die Verschiedenheit der logischen Gebilde von den psychischen Akten (d. h. dadurch, daß die ersteren 42 Dies hängt mit einem phänomenologischen Prinzip zusammen, das ich im nächsten Kapitel besprechen werde, nämlich mit dem Prinzip, daß die Gegenstände unserer Untersuchungen nur so genommen werden dürfen, wie sie sich selbst in der unmittelbaren Erfahrung darstellen. Dieses Prinzip wird von allen Phänomenologen anerkannt. Die Argumentation von Husserl geht jedoch einen Schritt weiter. Er sagt nämlich, daß die Gegebenheiten der unmittelbaren Erfahrung den entsprechenden Bewußtseinsakten wesentlich zugehörig seien und strenge Korrelate der darin enthaltenen Meinungen ausmachen würden; um sich dieser Gegebenheiten klar bewußt zu werden, sei es daher unumgänglich, auch die Akte selbst einer Untersuchung zu unterziehen, denn erst diese Untersuchung könne den wesentlichen Sinn der Gegebenheiten und dadurch auch der darin zur Erscheinung kommenden Gegenstände zum Vorschein bringen. - Diese Argumentation hat Husserl zur sogenannten transzendentalen Phänomenologie und zu weitgehenden meritorischen Entscheidungen geführt, die manche anderen Phänomenologen nicht mehr anerkennen wollten. Der Verfasser dieses Aufsatzes hat zur Zeit (1961) auch ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Richtigkeit dieser ganzen Verfahrensweise. Dies war aber ohne Zweifel der Weg des Gründers der Phänomenologie, Husserls.

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keine Bestandteile der letzteren sind) wie auch von den Bewußtseinsakten. Den ersten dieser Punkte werde ich später besprechen. Was den zweiten betrifft, so herrschte in der Zeit des Entstehens der Logischen Untersuchungen Husserls das unerschütterliche Dogma, daß, wenn überhaupt von einer apriorischen Erkenntnis von irgend etwas die Rede sein könne, so allein im Bereich der Mathematik als formaler Wissenschaft über gewisse spezielle Gegenstände. Die alte Sokratisch-Platonische Idee der Erkenntnis vom Wesen des Dinges und die späteren Tendenzen des modernen Rationalismus (bis hin zu Leibniz) galten als fur immer begraben. Indessen kommt im Falle der Erkenntnis des Bewußtseins nicht eine formale, sondern nur ein materiale apriorische Erkenntnis in Frage. Man mußte also dieses Problem aufs neue erörtern. Husserl selbst spricht anfänglich - unter dem Einfluß Brentanos von der Phänomenologie als der deskriptiven Psychologie, die er der genetischen Psychologie gegenüberstellt, obwohl die von ihm faktisch durchgeführten Untersuchungen über das Bewußtsein den Charakter von Betrachtungen über das Wesen der intentionalen Erlebnisse hatten, mithin im Verständnis der Phänomenologen in der Art einer unmittelbaren apriorischen Erkenntnis gefuhrt wurden. In den Ideen zu einer reinen Phänomenologie (Bd. I, 1913) begegnet uns bereits die bei Husserl (wie auch bei anderen Phänomenologen, besonders bei Max Scheler in seinen Betrachtungen aus dem Gebiet der Ethik) klar formulierte These, daß die apriorische Erkenntnis nicht nur formal (auf die Form des Gegenstandes bezogen), sondern auch "material" (auf das Wesen der qualitativen Ausstattung der Gegenstände bezogen) sein kann. So können sowohl das Bewußtsein in seiner Form und in seiner materialen Ausstattung, als auch Gegenstände verschiedener Gebiete, u. a. ethische Werte oder Kunstwerke, einer material-apriorischen Erkenntnis unterzogen werden.43 Ich möchte hier nicht länger die Frage erörtern, ob die apriorische Erkenntnis sowohl formal als auch material sein kann; die Phänomenologen 43 Man kann hier die detaillierten Betrachtungen Husserls, Schelers und anderer Phänomenologen zu diesem Thema nicht anführen. Die entsprechenden Betrachtungen kann man bei Husserl im ersten Teil seiner Ideen zu einer reinen Phänomenologie (Bd. I, [Halle] 1913) und bei M. Scheler im Werk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik [Gesammelte Werke, Bd. Π, Bern und München 1966] finden; die beiden Arbeiten befinden sich im I. Band des Jahrbuchs für Philosophie und phänomenologische Forschung.

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erkennen bekanntlich die beiden Arten der apriorischen Erkenntnis an. Ich möchte nur überlegen, was die apriorische (formale und materiale) Erkenntnis mit der durch die sinnliche Erfahrung gewonnenen Erkenntnis gemein hat und worin sie sich von dieser unterscheidet. Danach werde ich noch das Verhältnis der beiden Arten von Erkenntnis zueinander erörtern. Fangen wir mit einem Beispiel an: Ich sehe auf dem Tisch eine Apfelsine. Sie besitzt eine bestimmte Gestalt und Farbe. Wenn ich sie mit der Hand berühre, nehme ich die charakteristische Weichheit der Schale, ihre Kälte usw. wahr. Ich betreibe hier selbstverständlich keine Metaphysik, indem ich sage, daß die Apfelsine die genannten Merkmale "besitze"; ich sage damit noch gar nicht, daß es "in Wahrheit" so sei. Ich stelle nur fest, daß ich diesen Gegenstand als einen solchen wahrnehme, der die genannten Merkmale besitzt. Es ist eine andere Frage, ob und inwiefern diese Wahrnehmung von mir einen Erkenntniswert besitzt, der auf irgendeine Weise das Sein und Sosein der Apfelsine, wie sie mir tatsächlich gegeben ist, garantiert oder nicht garantiert. Die genannten Merkmale sind mir mit dem Ganzen des Gegenstands als selbstgegenwärtig gegeben. Die Apfelsine besitzt im gegebenen Augenblick ohne Zweifel eine ganze Reihe von anderen Merkmalen, die sich nicht in meinem Gesichtsfeld befinden. Unter diesen Merkmalen können jedoch zwei verschiedene Gruppen unterschieden werden. Zur ersten gehören die Merkmale, von denen ich während des Wahrnehmens der Apfelsine nichts weiß und die ich auf keine Weise wahrnehme, z. B. der Prozentsatz an Zucker, den der Saft dieser Apfelsine enthält, ein Prozentsatz, der gewiß eindeutig bestimmt ist, der aber erst mit chemischen Methoden ermittelt werden müßte. Außerdem gehören hierzu Merkmale, von denen ich - auf Grund der Wahrnehmung anderer Apfelsinen - vermuten kann, daß sie auch die gegebene Apfelsine kennzeichnen, z. B. das Merkmal, daß sie drinnen Kerne besitzt. Weder sehe ich aber diese Merkmale, noch kann ich mit Sicherheit meinen, daß es sich damit so verhält. Zur zweiten Gruppe gehören dagegen die Merkmale oder Eigenschaften (eventuell auch Teile), die ich zwar ebenfalls effektiv nicht sehe, die mir aber dennoch irgendwie mitgegeben sind und dieser Apfelsine offensichtlich zugehören. Und zwar: daß sie eine von mir im Augenblick abgewandte Rückseite besitzt, daß sie ein Inneres hat usw. Das eine wie das andere ist im Augenblick "verdeckt", und ich werde es sehen, wenn ich entweder die Apfelsine mit einer anderen

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Seite zu mir wende oder sie durchschneide und ins Innere schaue. Dann werde ich wahrnehmen (sehen), wie beschaffen diese "Rückseite" ist, die inzwischen schon aufgehört hat, die Rückseite zu sein, und wie beschaffen jenes frühere Innere ist; schon jetzt sehe ich aber, daß der Apfelsine weder ihre Rückseite noch ihr Inneres fehlt. Dessen werde ich mir im Normalfall auf deutliche und - wenn man so sagen darf - explizite Weise nicht bewußt. Ich betrachte gleichsam die gesehene Apfelsine ganz einfach als eine solche, die ein Inneres und eine Rückseite besitzt. Und dies kann aus dem Bereich des wahrgenommenen Dinges nicht eliminiert werden. Wenn ich die Apfelsine "mit einer anderen Seite" zu mir wende, existiert eine Rückseite weiterhin, nur ist etwas anderes zur [Rückseite] geworden. Dasselbe gilt für das Innere: nach dem Durchschneiden sind gleichsam zwei neue Innere entstanden, aber ein Inneres überhaupt kann prinzipiell durch kein Durchschneiden beseitigt werden. Wenn ich wahrnehme, sehe ich nicht nur die Apfelsine als eine solche, die jene Rückseite besitzt, sondern bin auch überzeugt, daß diese Rückseite auf bestimmte Weise determiniert ist, mithin daß die Apfelsine "auf der anderen Seite" auch die gleiche Schale mit der kennzeichnenden, porösen Oberfläche und der gleichen "orangen" Farbe besitzt. Der beste Beweis dafür ist die charakteristische Verwunderung, die ich erlebe, wenn ich die Apfelsine umwende und bereits effektiv sehe, daß sie an dieser Rückseite gelb-grünlich ("unreif') ist. Und man kann nicht sagen, daß ich nur "vermute", die Apfelsine habe an der Rückseite eine so gefärbte Schale, oder daß ich "meine"44, es sei so. Normalerweise liegt hier viel mehr vor als nur eine bloße Meinung oder Vermutung oder sogar - wie jemand vielleicht vorschlagen würde - eine Vorstellung der Rückseite der Apfelsine. Die Rückseite und das Innere sind mir "mit-gegeben". Damit soll gesagt werden, daß in der Gesamtheit der konkreten Wahmehmungsgegebenheiten besondere anschauliche Elemente vorkommen (und zwar von einer speziellen Wahrnehmungsanschaulichkeit, die ζ. B. in der Vorstellung45 nicht auftritt),

44 So gemeint ist von mir z.B., daß die Apfelsine sehr teuer sei oder daB sie eine beträchtliche Dosis an Vitaminen enthalte und daß sie für Kinder einen großen Nährwert habe usw. Und noch anders ist es, wenn ich mir die Freude eines Kindes vorstelle, dem ich diese Apfelsine Hause bringe. 45 nach Das Wort "Vorstellung" gebrauche ich im üblichen Sinne, nicht in der Bedeutung, die ihm künstlich in der Terminologie Twardowskis verliehen worden ist In der Umgangssprache

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Elemente, vermöge welcher ich die Apfelsine als eine solche wahrnehme, die eine Rückseite und ein Inneres besitzt, obwohl diese vor meinem Blick - wie ich mich ausgedrückt habe - "verdeckt" sind. Außerdem sind diese "verdeckten" Teile des wahrgenommenen Gegenstands mir ebenso leibhaft selbstgegenwärtig wie die Vorderseite der Apfelsine und speziell der mir zugewandte Teil von deren Oberfläche. Ich treffe hier auf sie als auf etwas, was der Apfelsine auf natürliche und notwendige Weise zugehört. Ich zwinge ihr auch diese Seiten oder Eigenschaften nicht auf, wie ich ihr ζ. B. einen speziellen Aspekt der "Schmackhaftigkeit" aufzwinge, wenn ich denke, wie süß und zugleich säuerlich, saftig usw. sie ist. Es ist aber natürlich nicht zu leugnen, daß die Art und Weise, wie mir das Innere eines Gegenstands oder dessen Rückseite gegeben ist, von der Gegebenheitsweise der Merkmale des Gegenstands, die an seinen mir zugewandten Teilen erscheinen, verschieden ist. Gerade im Hinblick auf diesen Unterschied sage ich, daß die ersteren mir nur mit-gegeben, die letzteren hingegen gegeben sind. Anhänger von verschiedenen genetischen Theorien der sinnlichen Wahrnehmung (Theorien, die in den Kreisen der experimentellen Psychologen gegen Ende des vorigen Jahrhunderts besonders aktuell waren) würden vielleicht sagen, daß jene Rückseite des gesehenen Dinges oder sein Inneres nicht gesehen würden, sondern daß ihre Vorstellung nur assoziiert werde, die mit dem "verschwimme", was aktuell in Form einer "Empfindung" auftritt, wobei sie dadurch assoziiert werde, daß uns in den früheren Wahrnehmungen desselben Dinges (oder der Dinge überhaupt) jene Rückseite bzw. jenes

bezeichnet dieser Terminus nur das, was Twardowski "reproduktive Vorstellung" nennt und auch dies nicht ganz genau, weil der vorgestellte Gegenstand gewöhnlich als existierend vorgestellt wird, wie ich mir z.B. in dem Augenblick das Denkmal des Kopernikus in Warschau vor dem Staszic'-Palais vorstelle. Vorstellen kann ich mir auch Gegenstände, die zur Zeit nicht existieren, wie z.B. den Saski-Platz in Warschau mit den Gebäuden, die dort ehemals standen. Wenn ich mir dies aber so vorstelle, gehe ich in beiden Fälle auf andere Weise über das hinaus, was nach der Terminologie Twardowskis der Terminus "reproduktive Vorstellung" bezeichnen soll. So werden auch die Wörter "wahrnehmen" und "Wahrnehmung" von mir hier im alltäglichen Sinne genommen und decken sich in ihrer Bedeutung nicht mit Twardowskis Terminus "Wahmehmungsvorstellung". Davon wird aber noch die Rede sein. [Vgl. K. Twardowski, "Über begriffliche Vorstellungen", Wissenschaftliche Beilage zum 16. Jahresberichte der philosophischen Gesellschaft an der Universität zu Wien, Leipzig 1903.]

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Innere gegeben gewesen seien. Um zu dem zu gelangen, was - nach dieser Theorie - "in Wahrheit" wahrgenommen wird, müsse man die Wahrnehmung von den bloß "assoziierten" Elementen reinigen, die strenggenommen nicht zur Wahrnehmung gehörten. Diese Theorie übersieht vor allem einen prinzipielleri46 Unterschied zwischen dem Typus der Anschaulichkeit der Wahrnehmungsgegebenheiten und demjenigen der anschaulichen Elemente der Vorstellung sensu stricto. Dieser Unterschied macht es aus, daß die Elemente des anschaulichen Vorstellungsinhalts mit den Wahrnehmungsgegebenheiten in keiner Weise "verschwimmen" können. Es kann somit gar keine Rede davon sein, daß die "assoziierten" Vorstellungen der vergangenen Wahrnehmungen sich in die Gesamtheit der Gegebenheiten der aktuellen Wahrnehmung einfügen könnten. Dies ist eine der typischen Konstruktionen der genetischen Psychologie des vergangenen Jahrhunderts. Diese Konstruktion setzt nota bene voraus, daß wir in der Vergangenheit Wahrnehmungen erlebt hätten, in denen den wahrgenommenen (gesehenen) Dingen ihr Inneres oder ihre Rückseite fehlen würde, und daß das wahrgenommene Ding erst nach einer Reihe von Wahrnehmungen durch die Assoziation gleichsam vervollständigt werde und jenes Moment einer Rückseite oder eines Inneren annehme. Dies ist offenbar auch eine reine Denkkonstruktion, die in der konkreten Erfahrung nicht zu realisieren ist. Nichtsdestoweniger steht diese Theorie im Zusammenhang mit gewissen Tatsachen im Rahmen der (insbesondere visuellen) Wahrnehmung, die hier erwähnt werden sollen. Als ich oben die Gegebenheiten der Wahrnehmung einer Apfelsine beschrieben habe, habe ich die Tatsache, daß die Apfelsine überhaupt eine "Rückseite" oder ein "Inneres" besitzt, davon unterschieden, wie diese Rückseite qualitativ bestimmt ist. Es scheint nun unmöglich, daß auf natürliche

46 Schon seit der Zeit von Hume hat sich unter den Psychologen die Meinung verbreitet, daß der Unterschied zwischen den "Impressionen" und den "Ideen" im Sinne Humes (was dem Unterschied zwischen den Gegebenheiten der Wahrnehmung und dem anschaulichen Inhalt der Vorstellung entspricht) nur ein Gradunterschied sei. Die Phänomenologen sind der Ansicht, daß diese Meinung falsch sei und daß man nicht von den einen Gegebenheiten zu den anderen Übergehen könne, z.B. dadurch, daß man die Lebhaftigkeit oder die Intensität des anschaulichen Inhalts der Vorstellung steigert Ich kann hier darauf nicht eingehen, muß aber andeuten, daß ich in dieser Frage den Standpunkt der Phänomenologen teile.

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Weise eine Wahrnehmung eines materiellen Dinges vorkommen könnte, dem phänomenal die Rückseite oder das Innere fehlen würde; es gibt keinen Grund, das Erscheinen von so etwas in der Wahrnehmung durch eine Assoziation zu erklären. Es ist jedoch nicht zu leugnen, daß die Tatsache, daß ich, während ich die Apfelsine als eine solche sehe, die eine Rückseite besitzt, zugleich in anschaulicher Weise vermeine, an der Rückseite befinde sich ebenfalls eine poröse Schale mit einer "orangen" Färbung, [daß diese Tatsache] irgendwie dadurch bedingt ist, daß frühere Wahrnehmungen stattgefunden haben - nicht notwendigerweise Wahrnehmungen derselben, wohl aber irgendwelcher anderen Apfelsinen, die wir wahrgenommen haben, indem wir sie der Reihe nach von verschiedenen Seiten angeschaut haben. Wenn ich mit Dingen zu tun habe, die ich zum ersten Mal wahrnehme, sehe ich sie zwar ebenfalls als solche, die eine Rückseite und ein Inneres besitzen, darüber aber, wie diese Rückseite bestimmt bzw. wie dieses Innere beschaffen ist, bin ich durch die Wahrnehmungsgegebenheiten nicht ausreichend informiert; deswegen beginne ich, dieses Ding "umzuwenden" und es von verschiedenen Seiten anzuschauen, bzw. schaue ich wenn möglich ins Innere des Dinges hinein und vervollständige erst dann meine erste Wahrnehmung des gegebenen Dinges. Sicherlich berücksichtigt meine aktuelle Wahrnehmung des gegebenen Dinges irgendwie die früheren Erfahrungen und schließt in sich spezielle Anschauungsmomente ein, die es mir ermöglichen, ζ. B. die qualitative Bestimmung der Rückseite oder des Inneren anschaulich zu vermeinen. Wie es geschieht, daß in der aktuellen Wahrnehmung anschauliche Momente vorkommen können, die mich - auf Grund der früheren Erfahrungen - über manche Qualifikationen der aktuell wahrgenommenen Gegenstände informieren, ist eine Frage für sich, die ich hier nicht entscheiden möchte. Auf jeden Fall ist aber die geläufige Theorie von den "Assoziationen" von nur vorgestellten Momenten nicht zu halten. Was aber hier speziell wichtig ist, ist nur die Tatsache, daß die Wahrnehmungen, die sich auf ein und dasselbe Ding oder sogar auf ähnliche Dinge bzw. auf Dinge derselben Gattung beziehen, ein System von Wahrnehmungen bilden, die miteinander im Zusammenhang stehen und infolgedessen verschiedenen Modifikationen oder Ergänzungen unterliegen, wodurch die aktuelle Wahrnehmung den Bereich dessen, was in der Wahrnehmung reell und explizit gegeben ist, gleichsam überschreitet (wie man zu sagen pflegt: "transzen-

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diert"). Jede äußere Wahrnehmung ist auf diese Weise transzendent. Man kann auch sagen, der wahrgenommene Gegenstand transzendiere jede einzelne Wahrnehmung, weil er mit der Gesamtheit seiner Eigenschaften über das 47

hinausgeht, was in einer solchen Wahrnehmung gegeben ist. Die Wahrnehmung ist nur eine partielle Erfassung dessen, was im Gegenstand selbst auftritt. In dem aber, worin eine einzelne Wahrnehmung über die reellen Gegebenheiten hinausschreitet, ist sie abhängig von anderen Wahrnehmungen, die sich auf denselben Gegenstand oder auf ähnliche Gegenstände beziehen. Diese Abhängigkeit ist zweifach. Erstens tragen die vorangehenden Wahrnehmungen zu einer Bereicherung des Inhalts der aktuellen Wahrnehmung bei bzw. beeinflussen die Auswahl der Gegebenheiten, in denen die Eigenschaften des wahrgenommenen Gegenstands zur Erscheinung kommen. Zweitens motivieren sie die aktuelle Wahrnehmung, d. h. tragen zu einer Festigung unserer in jedem Wahrnehmungsakt eingeschlossenen Überzeugung bei, daß der gegebene Gegenstand existiere, und zwar mit dem Komplex von Merkmalen, der in der betreffenden Wahrnehmung gegeben ist. Ein späteres Wahrnehmen desselben Gegenstands - ζ. B. dadurch, daß er mit

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Diese zwei verschiedenen Begriffe des "Transzendierens" müssen somit unterschieden werden. Es gibt noch andere Begriffe der "Transzendenz", die ich hier nicht besprechen kann. Vgl. Der Streit um die Existenz der Welt [Ingarden (1964/65), Bd. Π, Teil 1, S. 224ff.]. (1961) Hier liegt eben der zweite Unterschied im Begreifen der Wahrnehmung nach den Phänomenologen und nach Twardowski. Nach der Meinung Twardowskis, die auch seine Schäler teilen, ist nämlich eine Wahrnehmung ein Erlebnis, das aus einer Vorstellung und einem Urteil besteht Diese Auffassung stammt von Brentano. Was bei Brentano "Urteil" genannt wird, ist das Anerkennen oder Verwerfen von Gegenständen, das zu den "Vorstellungs"akten hinzukommen kann. Ohne mich hier in eine Diskussion dieser Auffassung einlassen zu können, möchte ich nur bemerken, daß dasjenige, was ich hier das Moment der Überzeugung von der Existenz des wahrgenommenen Gegenstandes nenne, mit dem zusammenfallen dürfte, was bei Brentano bzw. bei Twardowski als das in der Wahrnehmung auftretende "Urteil" bezeichnet wird. Bei Husserl wird dieses Moment mit dem Terminus "Daseinssetzung" bezeichnet, die Akte dagegen, die ein solches Moment in sich enthalten, werden "thetische Akte" genannt All dies sind aber nur gewisse Annäherungen, die man genauer herausarbeiten sollte. Dann würde sich auch erweisen, daß dasjenige, was sich im Urteilen als einer speziellen Erkenntnisoperation abspielt, aus der Sätze im logischen Sinne entspringen, sich von dem, was in einem Wahrnehmungsakt zu finden ist, in vielerlei Hinsicht unterscheidet

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einer anderen Seite zu uns gedreht wird, daß wir näher an ihn herankommen, daß die Wahrnehmungsbedingungen günstiger werden usw. - kann uns zur Überzeugung fuhren, daß der Gegenstand de facto andere Eigenschaften besitze als diejenigen, die ursprünglich nur mitgegeben waren. Diese neue Wahrnehmung scheint auf den ersten Blick insofern besser als die vorangehende, als die Merkmale, die zuvor nur mitgegeben (und zwar eventuell unberechtigterweise mitgegeben) waren, jetzt reell gegeben sind (unmittelbar im Gesichtsfeld liegen). In Wahrheit wird jedoch die Mitgegebenheit nur von den einen Merkmalen auf andere verschoben. Und fur das Auftreten der jetzt nur mitgegebenen Merkmale des Gegenstands sind gleichsam die früheren oder die späteren Wahrnehmungen verantwortlich, in denen sie sich wiederum mit reellen Gegebenheiten zeigen. So hängt die Gewißheit einer einzelnen Wahrnehmung immer von anderen (früheren oder späteren, dies hat nur eine sekundäre Bedeutung) Wahrnehmungen desselben Dinges ab und ist dadurch bedingt, ob die anderen Wahrnehmungen es bekräftigen oder in Zweifel ziehen, daß die in der betreffenden Wahrnehmung mitgegebenen Merkmale dem Gegenstand tatsächlich zukommen. Daß die Gewißheit der äußeren (transzendenten) Wahrnehmung so beschränkt und bedingt ist, gehört zu deren Wesen. Mit Rücksicht darauf muß man jedoch feststellen, daß die in einer einzelnen Wahrnehmung gewonnene Erkenntnis ihrem Wesen nach bezweifelbar und gegenüber der vollen Ausstattung des Gegenstands partiell oder - wie andere sagen - inadäquat ist. So viel über die "Erfahrung" im engen Sinne, der sich auf die äußeren Wahrnehmungen bezieht. Dies kann auch auf die "inneren" Wahrnehmungen erweitert werden, doch das ist ein kompliziertes Problem, das ich hier nicht erörtern möchte. Kehren wir jedoch zu unserem Beispiel zurück. Anstatt wie früher eine auf dem Tisch liegende Apfelsine wahrzunehmen, kann ich ihr bzw. ihren Merkmalen gegenüber - um dies zunächst ungenau auszudrücken - eine andere Erkenntnishaltung einnehmen. Jemand fragt mich ζ. B., welchen Farben "Orange" verwandt ist. Nehmen wir an, daß ich darüber nie nachgedacht habe; dann sagt mir dieser jemand: nimm ζ. B. diese Apfelsine da. Diese Farbe, die du da siehst, nenne ich "Orange". Siehe, ob du nicht eine Verwandtschaft zwischen ihr und anderen dir bekannten Farben bemerkst. Diesem Wunsch folgend, schaue ich aufmerksam auf die mir am Beispiel

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demonstrierte Farbe und "nehme" - wie man alltäglich zu sagen pflegt "wahr", daß sie ein Moment oder eine Nuance aufweist, die der mir bekannten Farbe verwandt ist, die ich die "rote" Farbe (oder besser "Rot") nenne, 49

sowie eine andere Nuance, die mir die gelbe Farbe in Erinnerung ruft. Und auf Grund dieser "Wahrnehmung" spreche ich ein Urteil über eine Verwandtschaft der orangen Farbe mit der roten und der gelben Farbe aus, obwohl ich nicht einmal einen Augenblick vermute, daß "Orange" aus Rot und Gelb wie man manchmal sagt - "zusammengesetzt" ist. Es ist klar, daß die "Wahrnehmung" hier in irgendeiner ganz anderen Bedeutung gemeint ist als in den soeben durchgeführten Betrachtungen. ["Ich nehme wahr"] bedeutet hier vielmehr so viel wie: "ich werde gewahr", "ich bemerke" - all dies aber in unbedingt anschaulicher Weise, so daß ich sagen darf, daß ich diese Verwandtschaft zwischen den Qualitäten irgendwie unmittelbar erfasse, daß mir das gegeben ist, daß es sich mir aufdrängt, und zwar mit diesem Charakter nicht nur der Sicherheit, sondern auch der Notwendigkeit. Daß es sich also damit nicht nur so verhält, sondern auch nicht anders verhalten kann, solange die genannten Qualitäten so sind, wie ich sie "gesehen" habe. Bei dieser Erkenntnis, die ein einfaches Beispiel dafür bietet, was die Phänomenologen die unmittelbare apriorische Erkenntnis nennen,50 sieht man klar, daß die Feststellung, daß zwischen den Qualitäten (und nicht den roten Dingen usw.) eine solche Verwandtschaft bestehe, lediglich davon abhängig ist, was mir in unbedingt unmittelbarer Weise als von mir gesehene Qualitäten gegeben ist, nicht aber davon, was ich je zuvor gesehen habe oder welche Assoziation ich momentan habe. An der Wahrheit dieser Feststellung kann auch eine spätere Erfahrung nichts ändern, wenn die genannten Qualitäten tatsächlich ganz klar und deutlich erfaßt worden sind. Was hat sie also mit der äußeren Wahrnehmung, mit der wir uns vorher beschäftigt haben, gemein und worin unterscheidet sie sich davon? Das "gemeinsame" Moment, im Hinblick worauf die beiden Arten der Erkenntnis der "Erfahrung" im weiten Sinne des Wortes, mithin der unmittelba49 Selbstverständlich können die gelbe und die rote Farbe nicht zusammen mit der orangen Farbe in der Wahrnehmung gezeigt werden. Kant würde das z.B. nie so nennen; dies wäre für ihn vielmehr ein Beispiel der Erkenntnis a posteriori. Daraus ersieht man, wie verschieden das phänomenologische Verständnis der Erkenntnis a priori vom Verständnis Kants ist.

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ren Erkenntnis zuzurechnen sind, ist [der Umstand], daß der Gegenstand der Erkenntnis51 uns sowohl im ersten wie im zweiten Fall anschaulich und unmittelbar gegeben ist, im Gegensatz zu den Fällen, in denen wir, ohne die Gegenstände als gegeben zu haben, nur an sie denken, indem wir unanschauliche Vermeinungen vollziehen, oder sie uns nur vorstellen mit Hilfe von Repräsentanten, die zwar anschaulich, aber von den Gegenständen verschieden sind, über die wir diese oder andere Überzeugungen gewinnen und die uns im Original gar nicht gegenwärtig sind. Außer von den Phänomenologen wurde die apriorische Erkenntnis mehrfach als eine begriffliche Erkenntnis par excellence (eine Erkenntnis "aus bloßen Begriffen") angesehen, obwohl die alte rationalistische Tradition, nicht nur von Piaton, sondern auch ζ. B. von Descartes, nicht so war. Und es gibt ohne Zweifel apriorische Erkenntnisse, die durch Erforschung des Inhalts von manchen Begriffen und deren Zusammenhänge gewonnen werden, ohne daß man dabei auf die unmittelbaren Gegebenheiten einer entsprechenden Erfahrung Bezug nimmt, die aber trotzdem für die Gegenstände dieser Begriffe gelten. Eine solche Natur haben ζ. B. alle Erkenntnisse des Mathematikers, die durch Deduktion aus den Voraussetzungen oder Axiomen gewonnen werden. Es gibt somit eine mittelbare, rein begriffliche Erkenntnis a priori. Eine solche Erkenntnis setzt jedoch voraus, daß wir über einen Bereich von schon bestimmten Begriffen der untersuchten Gegenstände sowie über ein für das jeweilige Gebiet angemessenes System von Axiomen verfügen. Die Grundbegriffe können dabei entweder willkürliche wissenschaftliche Konstruktionen oder auch Begriffe sein, deren Inhalt eine adäquate Abbildung der Eigenschaften von gewissen idealen Gegenständen, die unter diese Begriffe fallen, darstellen soll. Handelt es sich um Theorien, die sich der Begriffe der zweiten Art bedienen, dann kann die Wahrheit sowohl ihrer einzelnen Thesen als auch der Theorie im Ganzen - gemäß den Ergebnissen der Betrachtungen des vorigen Kapitels - endgültig nur dadurch

Im Falle der Wahrnehmung die orange Farbe als eine Eigenschaft der gesehenen individuellen Apfelsine, im zweiten Falle dagegen als eine Qualität fur sich selbst, ohne Rücksicht darauf, ob sie überhaupt eine Eigenschaft von etwas ist und speziell ob die Apfelsine, an welcher sie von uns erfaßt worden ist, sie als ihre Eigenschaft besitzt oder nicht, und ohne Rücksicht darauf, ob überhaupt irgendetwas eine solche Qualität als sein Merkmal besitzen kann.

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nachgewiesen werden, daß man auf die entsprechende unmittelbare apriorische Erkenntnis zurückgreift. Und diese ist es, von der ich behaupte, daß ihr Gegenstand uns unmittelbar gegeben ist und daß sie sowohl da möglich ist, wo es sich um formale Probleme handelt, als auch dort, wo wir es mit dem material bestimmten Wesen eines Gegenstands zu tun haben. Außer diesem einen gemeinsamen Moment unterscheidet sich die unmittelbare apriorische Erkenntnis in wesentlicher Weise von der "Erfahrung" im engen Sinne des Wortes. Dieser Unterschied betrifft: 1) den Gegenstand, 2) die Akte, 3) den Inhalt und 4) den Erkenntniswert. 52

Der Gegenstand der Erfahrung sind die realen Dinge und Prozesse, d. h. die individuellen Gegenstände, die in der Zeit existieren und entweder räumlich oder im realen Raum lokalisiert sind oder schließlich mit dem Raum in einem lockereren Zusammenhang stehen. Hierzu gehören ζ. B. die materiellen Dinge und die sich auf ihrer Grundlage abspielenden Prozesse wie auch die gesellschaftlichen und historischen Prozesse, die in den zwischenmenschlichen Beziehungen verlaufen, mithin auch die psychophysischen Individuen und ihre Zustände. All die Gegenstände zeichnen sich dadurch aus, daß sie in einem gewissen Zeitpunkt anfangen zu existieren, eine Zeitlang dauern, während der sie mannigfache Veränderungen erfahren, und nach einer gewissen Zeit aufhören zu existieren. Zu ihrem Entstehen wie auch zu den bei ihnen eintretenden Veränderungen tragen gewisse Ursachen bei, und umgekehrt schließen sie selbst in sich gewisse Ursachen von Veränderungen ein, die bei anderen Gegenständen vorgehen. Jeder reale Gegenstand besitzt einen Komplex von absoluten Eigenschaften und darüber hinaus eine Reihe von relativen Merkmalen, die vermöge der Verhältnisse zwischen den Gegenständen entstehen und bestehen und in ihrer Qualität vom Komplex der absoluten Eigenschaften der entsprechenden Gegenstände abhän53

gen. - Im Gegensatz dazu bilden den Gegenstand der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis die idealen Gegenstände und die zwischen ihnen 52 Der Bequemlichkeit halber spreche ich in meinen nächsten Betrachtungen immer von der "Erfahrung" im engen Sinne des Wortes und stelle ihr die apriorische Erkenntnis gegenüber. 53 In meinen spateren Untersuchungen habe ich versucht zu zeigen, daß diese Einteilung in nur zwei Kategorien unbefriedigend ist Vgl. Der Streit um die Existenz der Welt [Ingarden (1964/65), Bd. Π, Teil 1, § 57 (Ingarden (1947/48), § 55)].

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bestehenden Verhältnisse. Sie existieren weder in der Zeit noch im realen Raum. Das heißt, daß man von ihnen nicht sinnvoll sagen kann, sie hätten einst angefangen zu existieren oder sie würden einmal aufhören zu existieren. Wenn wir von manchen dieser Gegenstände sagen, sie seien "räumlich" ζ. B. in der Geometrie - , dann bedeutet dies nur, daß es einen idealen Raum gibt, der zum realen Raum in keiner realen Beziehung steht. Die idealen Gegenstände sind unveränderlich, d. h. es ist nicht möglich, daß ein Gegenstand S dasselbe Merkmal Ρ besitzt und nicht besitzt.54 Sie können auch in keiner Kausalbeziehung zueinander stehen. Die Verhältnisse zwischen ihnen sind nur durch ihre Qualitäten, nicht durch die Tatsache ihrer Existenz bestimmt.55 Die Existenz der idealen Gegenstände ist nicht durch die Existenz von irgendwelchen realen Gegenständen bedingt und zieht, umgekehrt, die Existenz der letzteren auch nicht nach sich. Sie erlaubt nur nicht die Existenz von realen Gegenständen, deren Merkmale mit den Notwendigkeitszusammenhängen zwischen idealen Gegenständen oder mit deren Ausschlußgesetzen unvereinbar sind. Dies folgt aus gewissen Verhältnissen zwischen den

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Was bei den realen Gegenständen in zwei verschiedenen Momenten ihrer Existenz möglich ist Vgl. eine analoge Bestimmung der Veränderung in der Kritik der reinen Vernunft Kants [A 32, Β 48f.]. (1961) Ich gebe natürlich nur einige, übrigens allgemein bekannte Merkmale der idealen Gegenstände an. Ich übergehe hier das schwierige und wichtige Problem ihrer Struktur wie auch die Frage nach den prinzipiellen Unterscheidungen, die innerhalb der Sphäre der idealen Gegenstände durchzuführen sind Auch dem Verhältnis der idealen Gegenstände zu den realen kann ich hier nur einige allgemeinste Bemerkungen widmen. Die im Text angegebenen Thesen über die idealen Gegenstände entsprechen ungefähr dem Stand des Wissens über sie, in dem sich die Phänomenologen zu jener Zeit befanden. Die Untersuchungen über diese Gegenstände sind erst später in Angriff genommen worden und haben zu einer Reihe von Ergebnissen gefuhrt, die weit über das hinausgehen, was bei Husserl selbst zu finden war. Dies haben die folgenden Abhandlungen bewirkt: Jean Hering, "Bemerkungen über das Wesen, die Wesenheit und die Idee", Jahrbuch [/ìir Philosophie und phänomenologische Forschung], 4 (1921), [S. 495-543]; Roman Ingarden, "Essentiale Fragen", Jahrbuch {für Philosophie und phänomenologische Forschung], 7 (1925) [Ingarden (1925a)]; Herbert Spiegelberg, "Über das Wesen der Idee", Jahrbuch \fiir Philosophie und phänomenologische Forschung], 11 (1930), [S. 1-238]; und Roman Ingarden, Spór o istnienie swiata, Kraków 1948 [Ingaiden (1947/48)], Bd. Π, Kap. XI [vgl. auch Ingarden (1964/65), Kap. X]. (1961)

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idealen und den realen Gegenständen. Manche ideale Gegenstände zeichnen sich nämlich dadurch aus, daß reale Gegenstände existieren können, die ihre Konkretisationen, gleichsam ihre Verkörperungen in einem anderen modus existentiae sind. Dann bleiben alle Gegenstände, die sich nicht auf die ideale Existenz und die mit dieser Seinsweise wesentlich zusammenhängenden Strukturen beziehen, diö dagegen die qualitative Ausstattung dieser Gegenstände, insbesondere aber die Notwendigkeitszusammenhänge zwischen Momenten dieser Ausstattung betreffen, auch fur die realen Gegenstände gültig. Gilt z. B. der Satz, daß jeder Bewußtseinsakt in specie (wie Husserl zu sagen pflegte) einen Inhalt hat, wodurch in ihm ein Gegenstand gemeint ist, so müssen die in der Wirklichkeit existierenden Bewußtseinsakte in individuo die genannte Eigenschaft aufweisen, sofern sie überhaupt Bewußtseinsakte sein sollen. Zwischen einem idealen Gegenstand und dem realen Gegenstand, der seine Verkörperung ausmacht, besteht das Verhältnis, daß derselbe Komplex von Merkmalen des realen Gegenstands, der dem Komplex von Momenten des idealen Gegenstands genau entspricht, das Wesen des betreffenden realen Gegenstands ausmacht. Unter dem Wesen eines realen Gegenstands (das wiederum im Verhältnis zu diesem selbst betrachtet wird) verstehe ich aber den Komplex von dessen absoluten Eigenschaften, die, während sie einander gegenüber unselbständig sind, zusammen ein gewisses Ganzheitsquale bilden, das es bewirkt, daß dieser Gegenstand eben ein Gegenstand einer bestimmten Art ist, und ohne welches er nicht so wäre.56 Nach 57

Husserl hat jeder reale Gegenstand sein Wesen. Im Zusammenhang damit sind die Erkenntnisse, die sich auf manche idealen Gegenstände beziehen, unter angemessener Umformulierung auch fur das Wesen der entsprechenden realen Gegenstände gültig. Und umgekehrt gelten die für das Wesen eines realen Gegenstands gültigen Erkenntnisse - wiederum unter angemessener Umformulierung - auch für die entsprechenden idealen Gegenstände, und zwar unabhängig davon, ob wir uns irren oder nicht, wenn wir meinen, der gegebene reale Gegenstand existiere in Wahrheit. So kann man gleichsam auf der Grundlage gewisser realer Gegenstände und in der Einstellung auf ihr

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Eine genauere Klärung der Frage nach dem Wesen des individuellen Gegenstandes und dessen Verhältnis zum "idealen Gegenstand" findet sich im Q. Band des Streites um die Existenz der Welt [Ingarden (1964/65)], Kap. ΧΙΠ [in Ingarden (1947/48), Kap. XIV]. Vgl. E. Husserl, Ideen I, S. 9.

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Wesen Sätze entdecken, die sich auf die entsprechenden idealen Gegenstände beziehen. Wenn wir uns sodann dem Unterschied zwischen den Akten der Erfahrung und den Akten der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis zuwenden, können wir sagen, daß die Akte der Erfahrung, insbesondere der Sinneswahrnehmung, ihrem Wesen nach derart sind, daß sie immer eine Erkenntnis liefern, die einer Ergänzung bedarf, daß sie fiir sich selbst nicht zulänglich sind. Dies folgt schon davon, daß sie uns immer nur ein partielles Wissen über den betreffenden Gegenstand verschaffen, ohne diesen in erschöpfender Weise umfassen zu können. Mehr noch, das Ergebnis, das durch einen einzelnen Akt solcher Art gewonnen wird, ist immer durch Ergebnisse von anderen Erkenntnisakten mitbedingt, die sich auf denselben Gegenstand beziehen. Indessen können innerhalb der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis Akte vorkommen, die für sich selbst eine Erkenntnis liefern, die sowohl auf die Frage, die sie betreffen, eine erschöpfende Antwort gibt als auch keine ergänzende Begründung mehr erfordert, die somit in sich selbst nicht durch irgendeine andere apriorische Erkenntnis bedingt ist. Dies sind in erster Linie Akte, die ursprüngliche Zusammenhänge oder allgemeiner: Verhältnisse zwischen Qualitäten in specie erfassen. Wer ζ. B. in einem Akt des Sehens die ursprüngliche Verwandtschaft zwischen Orange, Rot und Gelb erfaßt oder wer die Unselbständigkeit der Farbe in specie gegenüber der Ausdehnung [erkennt], wer sich in einem Akt der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis dessen bewußt wird, daß kein Merkmal ohne das erfaßt werden kann, wessen Merkmal es ist usw., erfaßt dies in einem Akt, der für die Wahrheit des in ihm entdeckten Erkenntnisergebnisses völlig verantwortlich ist und weder eine Ergänzung durch irgendwelche weiteren Informationen noch eine Bekräftigung durch irgendwelche anderen Erkenntnisse erfordert, die in anderen Akten ermittelt werden, noch schließlich durch irgendwelche neuen Erkenntnisse entkräftet werden kann. Die Erkenntnis ist in diesem Fall "vollendet", unbedingt gewiß in ihrem Charakter und vollständig in ihrem Gehalt. In diesem Sinne können wir sagen, daß es Akte der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis gibt, die eine "absolute" Erkenntnis verschaffen. Dies scheint eben innerhalb der empirischen Erkenntnis nicht möglich zu sein, und zwar sogar da, wo es nur darauf ankommt, eine Erkenntnis von einem individuellen Gegenstand und nur von diesem zu gewin-

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nen. Dies steht natürlich im Zusammenhang mit dem Charakter des Gegenstands der Erkenntnis - einerseits der Erfahrung, andererseits der immittelbaren apriorischen Erkenntnis. Im ersten Fall ist es nicht möglich, aus dem Ganzen eines Gegenstands (insbesondere eines Dinges) gewisse Momente oder Elemente (eventuell Sachverhalte) so zu isolieren, daß dasjenige, was nach der so vollzogenen Isolation ausgesondert ist, in keiner Weise durch das bedingt ist, was außerhalb des Isolierten geblieben ist, speziell aber, daß es keine qualitative Modifikation durch die Umgebung erfahrt, aus der es künstlich ausgesondert worden ist. Sogar wenn ein Komplex von Erfahrungserkenntnissen ein und denselben Gegenstand (dasselbe Ding) aus dem Bereich der realen Welt betrifft, kann er nicht als ein isoliertes, geschlossenes, von der Umgebung ganz unabhängiges System betrachtet werden. Infolgedessen ist jeder Bestand an empirischen Erkenntnissen immer vorläufig und kann dadurch eine Veränderung erfahren, daß weitere Bedingungen berücksichtigt werden, unter denen sich der untersuchte Gegenstand befindet. Folglich gehören nicht nur die einzelnen Erkenntnisakte (Wahrnehmungen) immer zu einem gewissen Komplex von Akten, die einen gegebenen Gegenstand betreffen und in ihrem Inhalt oder sogar in ihrem thetischen Charakter von anderen Elementen dieses Komplexes abhängig sind; auch der ganze Komplex dieser Akte - und korrelativ die synthetische Erkenntnis des gegebenen Dinges, die darin gewonnen wird - basiert gleichsam in mannigfacher Weise auf den Erkenntnisakten, die sich auf die anderen Gegenstände beziehen, die mit dem gegebenen Gegenstand in realen Zusammenhängen stehen. Die empirische Erkenntnis ist also nie vollendet, weder inhaltlich noch hinsichtlich der darin eingeschlossenen Seinsthese, sie kann nie als abgeschlossen angesehen werden. Indessen ist dies bei der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis ganz gut möglich. Und zwar nicht nur in bezug auf die einzelnen Akte der unmittelbaren Erkenntnis, sondern, mehr noch, auch in bezug auf gewisse - wenn man so sagen darf - zusammengesetzte Operationen, an denen die einzelnen Akte teilnehmen und die ein für sich geschlossenes Ganzes ausmachen, deren Korrelat aber, d. h. das darin gewonnene Erkenntnisergebnis, eine in sich geschlossene theoretische Einheit ausmacht. Sie ist manchmal in sich ganz geschlossen - wie ζ. B. ein deduktives System, manchmal aber in einer Weise geschlossen, daß diese Geschlossenheit zwar einer Entscheidung des Erkenntnissubjekts entspringt, daß sie aber dennoch

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vollziehbar ist, was in den empirischen Wissenschaften auf dieselbe Weise nicht in Frage kommt. So macht ζ. B. ein mathematisches Theorem (ζ. B. ein geometrischer Satz samt allen dazugehörenden Definitionen und einem Beweis) eine solche theoretische Einheit aus, und der Beweis selbst ist das Erzeugnis der Operation des Beweisens, die, wenngleich sie gegebenenfalls aus mehreren Denkakten besteht, ein deutlich abgegrenztes und selbständiges Ganzes bildet. Der Satz samt diesem Beweis (sofern natürlich dieser korrekt ist) bildet ebenfalls eine theoretische Einheit, deren Wahrheitscharakter ein für allemal festgelegt und in seiner Gültigkeit weder von irgendwelchen Erkenntnisakten oder -ergebnissen abhängig ist, noch eine "Nachprüfung" oder eine Korrektur oder schließlich eine Ergänzung erfordert. Es ist wahr, daß eine solche Erkenntnis - die kraft einer Entscheidung des Erkenntnissubjekts herausgesondert wird - sich in ein ganzes deduktives System, ζ. B. dasjenige der Euklidischen Geometrie einfügt. Wahr ist auch, daß erst dieses System eine theoretische Einheit ausmacht, die in sich geschlossen ist und ein selb58

ständiges Ganzes ausmacht. Aber sogar dieses verhältnismäßig künstlich isolierte Theorem ist gegenüber dem ganzen System ζ. B. der Geometrie in einem viel höheren Grade selbständig und unabhängig von den übrigen [Lehrsätzen] (es wird in seinem Inhalt durch den Inhalt von anderen Theoremen desselben Systems nicht modifiziert); es wird auch in seinem Wahrheitscharakter durch die Wahrheit des ganzen Systems nicht vervollkommnet. All dies ist jedoch bei der empirischen Erkenntnis nicht möglich. Und darin besteht ein prinzipieller Unterschied der Erkenntnisweise, mithin auch der

58 Heutzutage, nach der Entdeckung des Satzes von Gödel, kann man zweifeln, ob es deduktive Systeme gibt, die derart geschlossen und selbständig sind. Der Satz Gödels bezieht sich jedoch - was nicht zu vergessen ist - auf die Mathematik und die deduktiven Systeme, die auf formalistisch-konventionalistische Art begriffen werden, mithin gerade von dem Standpunkt aus, der keine Existenz oder sogar keine Möglichkeit der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis anerkennt Ob er sich auch bei der Anerkennung der Existenz einer solchen Erkenntnis anwenden läßt, kann ich hier nicht entscheiden. Dies würde besondere Betrachtungen erfordern, insbesondere [darüber], ob dieser Satz auch bei den hier gemachten Voraussetzungen aufrechterhalten werden kann und überdies was er eigentlich bedeutet Gälte er jedoch auch bei den hier gemachten Voraussetzungen, dann ließe sich die im Text aufgestellte These vom Unterschied zwischen der apriorischen und empirischen Erkenntnis nicht aufrechterhalten. (1961)

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Erkenntnisakte selbst, zwischen den beiden in Rede stehenden Arten von Erkenntnis. Der soeben besprochene Unterschied zwischen den beiden Erkenntnisweisen ist aber nicht der einzige. Ihre Verschiedenheit könnte somit auch dann aufrechterhalten werden, wenn wir gezwungen wären, die oben aufgestellten Thesen aufzugeben. Dies steht im Zusammenhang mit besonderen Eigenschaften der äußeren (und der inneren, darauf möchte ich aber hier nicht eingehen) Wahrnehmung, [Eigenschaften,] auf die ich hier noch nicht hingewiesen habe. Wie ich bereits angedeutet habe, ist in jedem Akt der äußeren oder der inneren Wahrnehmung ein Moment der Setzung des realen Seins des Gegenstands (insbesondere des Dinges) enthalten. Die Wahrnehmungsakte stehen dabei in einem Motivationszusammenhang untereinander, wodurch dieses Moment der Setzung im Laufe der weiteren Erfahrung entweder eine gewisse Bekräftigung erfährt oder in gewissen Grenzen angezweifelt und manchmal ex post, infolge eines Widerstreites zwischen den Gegebenheiten verschiedener Wahrnehmungen, überhaupt durchgestrichen wird (worauf ich noch zurückkommen werde). Indessen tritt im Akt der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis dieses Moment natürlich nicht auf, und an seine Stelle tritt eine Feststellung des idealen Seins des Gegenstands bzw. der diesem zukommenden Merkmale. Diese Feststellung ist völlig autonom, d. h. insbesondere ganz unabhängig sowohl von den in irgendwelchen Erfahrungsakten im engen Sinne des Wortes als auch von den in anderen Akten der unmittelbaren Erkenntnis a priori enthaltenen Feststellungen. Nachdem wir eine solche Erkenntnis einmal erreicht haben, brauchen wir nicht nur keine erneute Erkenntnis desselben Gegenstands zu vollziehen, denn sie kann uns weder etwas Neues bieten noch die in der betreffenden unmittelbaren Erkenntnis a priori enthaltene Setzung bekräftigen oder entkräften. Wir können, wenn wir wollen, die denselben Gegenstand betreffenden Akte wiederholen - zum Beispiel weil wir das Ergebnis der vorangehenden Erkenntnisse vergessen haben oder weil wir die Überzeugung verloren haben, daß uns die vorangegangene Erkenntnis zu einer unerschütterlichen Überzeugung vom Bestand eines schon einmal festgestellten Sachverhalts geführt habe. Das Resultat dieser neuen Erkenntnis ist indessen nicht zu vergleichen mit der Rolle, die gegenüber den bereits gewonnenen Erfahrungen andere Erfahrungen

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spielen, die denselben Gegenstand, eventuell von einer anderen Seite her betreffen. Doch der wohl wichtigste Unterschied, der zwischen der Erfahrung im Sinne der äußeren oder inneren Wahrnehmung und der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis besteht, liegt in einem anders beschaffenen Inhalt, wobei der Begriff "Inhalt" eine mannigfache Komplikation erfährt. Wenn wir nämlich ein Ding wahrnehmen, erfassen wir es zwar "unmittelbar", was heißt, daß es dem Wahrnehmungssubjekt im Original, selbst erscheint. Nichtsdestoweniger spielt sich dies so ab, daß das Subjekt im Laufe des Wahrnehmens veränderliche "Ansichten"59 erlebt, durch welche das wahrgenommene Ding selbstgegenwärtig zur Erscheinung kommt. Der "Blick" des wahrnehmenden Subjekts ruht auf dem Ding, und der gleichzeitig erlebten Ansicht wird sich das Subjekt wenig bewußt, obwohl es sozusagen auf das "empfindlich" ist, was im Gehalt der erlebten Ansicht auftritt. Wenn wir ζ. B. einen rechteckigen Tisch aus einer verhältnismäßig kleinen Entfernung sehen, erleben wir eine Ansicht, in der die Gestalt der entsprechenden perspektivischen "Verkürzung" auftritt: eines Rhomboïdes oder Trapezes, das im Gesichtsfeld mit der entfernteren Seite schräg nach oben gelegen ist (wohingegen der Tisch horizontal gelegen ist). Mit jeder Kopfbewegung60 59 Husserl hat vor den Ideen und oft auch in seinen Vorlesungen den Terminus "Ansicht" verwendet, in den Ideen dagegen den Terminus "Abschattung" eingeführt [vgl. E. Husserl, Ideen I, S. 77, 80f.]. Dieser Terminus ist jedoch nicht ganz eindeutig und läßt sich daher nicht präzis bestimmen. Außerdem gibt das Wort "Abschattung" [in der wörtlichen Bedeutung] nicht das wieder, was Husserl damit meint, besonders, wenn Husserl das Zeitwort "sich abschatten" oder das Substantiv "das Abgeschattete" gebraucht. Dies hätte eine sinnvolle Anwendung nur in dem Fall, wo z.B. eine einheitliche Farbe einer Kugel in vielen verschiedenen Abschattungen dieser Farbe zur Erscheinung kommt, es hat aber keine Anwendung mehr in dem Fall, wo in vielen verschiedenen perspektivischen Verkürzungen dieselbe Gestalt eines Dinges, z.B. die rechteckige Oberfläche eines Tisches erscheint Aus diesem Grund möchte ich lieber beim Terminus "Ansicht" verbleiben, der auf diese verschiedene Fälle eher anwendbar ist. Noch in meinem Buch Das literarische Kunstwerk habe ich versucht, den Begriff der Ansicht von etwas zu präzisieren (vgl. I.e. [Ingarden (1931)] §§ 39-40). Wir erleben gleichzeitig - bei Kopfbewegungen - sich verändernde "okulo-motorische" Eindrücke und Muskelempfindungen, die in unserem Hals lokalisiert sind. Auf diesen Komplex der Muskelempfindungen werden wir im allgemeinen auch nicht aufmerksam, es sei denn, daß etwas Ungewöhnliches eintritt, z.B. daß bei einer Kopfbewegung ein

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verschiebt sich diese Ansicht im Gesichtsfeld und verändert sich zugleich die Gestalt der Ansicht der Oberfläche des Tisches, die im Inneren auf charakteristische Weise gefärbt ist (so daß infolgedessen die Masern des Holzes sichtbar werden, aus dem der Tisch gemacht ist), während der Tisch als ein solcher gesehen wird, der sich nicht verändert und ohne Bewegung im Raum steht. Es besteht also gleichsam eine Unstimmigkeit zwischen der gesehenen Gestalt des Dinges im Raum und der im Gehalt der Ansicht auftretenden Gestalt oder vielmehr einer ganzen Serie von Gestalten in den sich verändernden Ansichten. Aber dies ist eben merkwürdig, daß wir eine solche Serie von sich verändernden Ansichten, in deren Gehalt verschiedene Rhomboide oder Trapeze auftreten, erleben müssen, damit uns bei ihrem Erleben die unveränderliche Gestalt der "Platte" eines rechteckigen Tisches gegeben sein kann. Ähnlich verhält es sich mit dem Moment der Farbe in Ansichtsgehalten. Ich nehme eine gleichmäßig gefärbte rote glatte Kugel wahr, ich erlebe dagegen Ansichten, in denen eine charakteristische kontinuierliche Mannigfaltigkeit von verschiedenen Farbqualitäten auftritt, samt charakteristischen "Lichtern", "Schatten" und "Glänzen", die auf entsprechende Weise nebeneinander angeordnet und innerhalb eines Kreises verlegt sind, eines Kreises, der nota bene - je nach den Bewegungen meines Körpers - größer oder kleiner wird, während mir eine Kugel erscheint, die nicht nur unbewegt und einfarbig ist, sondern zugleich eine stets gleiche Größe besitzt. Zwischen den Gehalten von ganzen Ansichtsmannigfaltigkeiten und den Gegenstandsqualitäten, die ihnen zugeordnet sind und die am wahrgenommenen Ding erscheinen, bestehen hier ganz strenge Gesetzmäßigkeiten. Sie sind allseitig erforscht worden, sowohl theoretisch von den Phänomenolo-

Schmerz im Hals auftritt oder gerade dann die Muskel- und Gelenkempfindungen verschwinden, welche die bestimmten Bewegungen unseres Körpers normal "begleiten". Dann werden wir uns dessen bewußt, daß etwas Ungewöhnliches passiert, im Gesichtsfeld verschieben sich Ansichten, und es gibt gar keine in unserem Körper lokalisierten Erscheinungen, durch welche wir uns einer Bewegung unseres Kopfes oder eines anderen Teils unseres Körpers bewußt werden. Diese uns nur mitgegebene Bewegung unseres Körpers bewirkt, daß die Veränderungen, die im Gesichtsfeld unter den Ansichten der uns umgebenden Dinge vorgehen, nicht zu einer Erscheinung einer Bewegung der uns umgebenden Dinge fuhren, sondern daß diese Dinge vielmehr im Raum unbewegt bleiben, während nur wir uns bewegen.

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gen61 als auch von den Theoretikern der Perspektive als schließlich praktisch von den ganzen Generationen von Malern mehrerer Epochen und Kunststile - mindestens seit den Malern der Renaissance bis hin zu den Impressionisten. Trotzdem sind diese Untersuchungen noch nicht abgeschlossen, weil dieses Gebiet äußerst mannigfache Erscheinungen mit großer Komplikation umfaßt und in der Forschung beträchtliche Schwierigkeiten bereitet. Eine wesentliche Schwierigkeit besteht darin, daß wir die Ansichten erleben, ohne uns deren Gehalts deutlich bewußt zu werden; und dadurch, daß wir auf das, was in ihnen auftritt, unsere Aufmerksamkeit lenken, lahmen wir gleichsam ihre Funktion, Dinge mit ihren anschaulichen Gegenstandseigenschaften zur Erscheinung zu bringen und darzustellen, und entstellen zugleich die Komponenten von Ansichtsgehalten, die für alle Veränderungen in unserem Verhalten außerordentlich empfindlich sind. Wir müssen sie somit stets in der Einstellung auf die erscheinenden Dinge untersuchen und uns nur gleichsam nebenher zum Bewußtsein bringen, was wir dabei erleben und auf welche Weise das, was wir erleben, die Funktion ausübt, Dinge und ihre Eigenschaften zur Erscheinung zu bringen und zu zeigen. Hier stellen sich verschiedene "funktionale" Probleme ein, die sich in mannigfacher Weise gegenseitig bedingen usw. Es handelt sich dabei nicht nur um das, was in den Gesichtswahrnehmungen vorkommt. Analoge Probleme und Phänomene erscheinen in den Wahrnehmungen anderer "Sinne", z. B. den Tast-, Gehör-, Geruchswahrnehmungen usw., wobei sie voneinander gar nicht isoliert sind, sondern miteinander in mannigfachen und sehr komplizierten synthetischen Zusammenhängen und einseitigen oder beiderseitigen Abhängigkeiten stehen, die uns erst alle zusammen den äußerst komplexen Prozeß der Wahmehmungserkenntnis der materiellen Dinge, eventuell auch der in den Dingen 61

Von Belang sind hier die Arbeiten von W. Schapp (Beiträge zur Phänomenologie der Wahrnehmung, [Halle 1910]), E. Husserl (vor allem Ideen I, aber auch andere Schriften), H. Conrad-Maitius ("Zur Ontologie und Erscheinungslehre der realen Außenwelt" [Jahrbuch fiir Philosophie und phänomenologische Forschung 3 (1916)]), Heinrich Hofmann ("Untersuchungen über den Empfindungsbegrifi" [Archiv fiir die gesamte Psychologie, 26 (1913), Heft 1]) und andere. Auch in verschiedenen Arbeiten von mir befinden sich Fragmente von Analysen der Ansichten, z.B. im Buch Das literarische Kunstwerk [Ingarden (1931)]. Meine weiteren Untersuchungen über die sinnliche Wahrnehmung, die ich viele Jahre lang geführt habe, sind bisher weder abgeschlossen noch veröffentlicht worden. (1961) [Vgl. aber Ingarden (1997).]

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vorgehenden Prozesse und Veränderungen verstehen lassen können. Alles, was wir auch immer wahrnehmungsmäßig von den Dingen erfahren, muß seine Grundlage in den Ansichtsmannigfaltigkeiten besitzen, die von uns während des Wahrnehmens erlebt werden. Und erst die Analysen dieser Ansichten und deren Verläufe verschaffen uns ein konkretes Material fur die Untersuchungen über den Prozeß und den Erkenntniswert der sinnlichen Erfahrung. Trotz mehreren Ansätzen in dieser Richtung sind diese Untersuchungen noch nicht abgeschlossen; sie sind es aber, von denen erst die Entscheidung abhängt, ob und wie adäquat wir die uns umgebende Welt der Dinge erkennen, geschweige denn, wie wir von der Erkenntnis der einzelnen Dinge einen Übergang zur Entdeckung der allgemeinen induktiven Gesetze finden können, die uns endgültig zur physikalischen Erkenntnis der Welt fuhren, einer Erkenntnis, die uns - bis heute - ein ganz anderes "Bild" der materiellen Welt bietet als dasjenige, das sich uns in der Sinneswahrnehmung abzeichnet. All dies sind Fragen, die über den Rahmen dieses Aufsatzes hinausgehen; und das, was ich über die "Ansichten" gesagt habe, soll nur als eine erste Information darüber dienen, was unter diesem Wort zu verstehen ist. Diese Information haben wir nötig, weil die Tatsache, daß im Laufe der äußeren Wahrnehmung erlebte Ansichten erscheinen, einen weiteren Unterschied zwischen der "Erfahrungs"erkenntnis und der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis ausmacht. Denn wenn das Erleben von Ansichten bei der Dingwahmehmung einen wesentlichen Faktor des Wahrnehmens ausmacht und die Ansichtsmannigfaltigkeiten in notwendiger Weise die gesehenen (wahrgenommenen) Eigenschaften der Dinge bestimmen, so daß von ihnen abhängt, welche Dinge mit welchen Eigenschaften "objektiv" gegeben sind - so scheint die unmittelbare apriorische Erkenntnis in dem oben geklärten Sinne keine Erkenntnis zu sein, die durch das Erleben von Ansichten gewonnen wird. Und dies trifft nicht nur auf die Fälle zu, in denen wir bei dieser Erkenntnis ganz über die Sphäre hinausgehen, die uns in der Sinneswahrnehmung zugänglich ist - wie bei der Festlegung der Axiome der Mengenlehre usw. - , sondern auch da, wo es sich um Fragen handelt, die sich uns gerade innerhalb, oder genauer, auf der Grundlage des Gebiets der wahrgenommenen Dinge darbieten, mithin wo es ζ. B. um die unmittelbare apriorische Erkenntnis geht, die uns zur apriorischen Theorie der Sinnesqualitäten (ζ. B. der Farben) oder zu den

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Axiomen der Euklidischen Geometrie fuhrt. Wenn wir ζ. B. a priori und unmittelbar die Eigenschaften des gleichseitigen Dreiecks im Sinne der Euklidischen Geometrie erkennen, dann spielt es sogar in dem Fall, wo sich dies mit Hilfe einer an der Tafel gezeichneten "Figur" abspielt, gar keine Rolle, mit welchen Ansichten wir dieses gezeichnete Dreieck wahrnehmen. Diese "Figur" ist auch natürlich gar nicht das Objekt, auf welches sich unsere Erkenntnis bezieht (ζ. B. der Satz, daß alle Innenwinkel einander gleich sind, daß ihre Summe 180° beträgt, daß ihre Höhe eine bestimmte Größe hat, daß alle vier besonderen Punkte an der Höhe liegen und sich decken usw.). Denn dieses [gezeichnete Dreieck] ist nur ein realer individueller Gegenstand, der sich sogar bei einer sehr präzisen Zeichnung vom "idealen" gleichseitigen Dreieck beträchtlich unterscheidet und gewiß nur in einer groben Annäherung die soeben genannten Eigenschaften besitzt, ähnlich wie es kein "flaches" Gebilde ist und seine Seiten keine Abschnitte einer eindimensionalen Geraden ausmachen. Daher ist es fur die genannten apriorischen Erkenntnisse ganz ohne Belang, in welchen Ansichten dieses "Dreieck" da als eine geometrische Figur erscheint. In der apriorischen Erkenntnis sind für uns lediglich rein gegenständliche Bestimmtheiten des mathematischen Dreiecks von Wichtigkeit, für welches die gezeichnete "Figur" nur ein effigium darstellt. Daß wir diese oder jene Mannigfaltigkeit von Ansichten besitzen, die uns diese Figur zur Erscheinung bringen, ist nur insofern wichtig, als es uns erleichtert, uns anschaulich auf das rein geometrische Gebilde einzustellen, dessen Elemente und Momente alle "idealisiert" und "Grenzfälle" sind sowie in specie gefaßt werden gegenüber den individuellen [Elementen und Momenten], die nur annäherungsweise dem verwandt sind, was den Gegenstand der apriorischen, in diesem Fall geometrischen Erkenntnis ausmacht. Man könnte sagen, daß die Erkenntnis a priori von gewissen bereits konstituierten (auf welchem Weg spielt keine Rolle) Gegenstandsqualitäten ausgeht, die zunächst individuell sind; auch diese [individuellen Gegenstandsqualitäten] interessieren uns jedoch in ihrer "Individualität" und "Inexaktheit" nicht. 62 Und man braucht erst eine spezielle Operation (die Husserl die "Ideation" 63 nennt, die er aber meiner Meinung nach nicht zulänglich erklärt) , um von 62

[Vgl. E. Husserl, Ideen I, S. 10.] Es gibt viele empiristische Theorien, die erklären, worin diese Operation besteht. Man spricht dabei hauptsächlich in verschiedenen Modiiikationen von der "Abstraktion" - seit

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ihnen zu den reinen "Qualitäten" in specie überzugehen, die "exakter" gefaßt oder, wenn jemand will, beim Übergang zu einer "Grenze" gefaßt werden. Man kann hier auf diese Fragen nicht näher eingehen, zumal jetzt noch nicht alles auf befriedigende Weise geklärt ist. Es unterliegt aber keinem Zweifel, daß die unmittelbare apriorische Erkenntnis möglich ist und daß sie sich von der Erfahrung im engen Sinne des Wortes in der skizzierten Weise unterscheidet, zugleich aber zu dieser in einem gewissen Bezug steht. Sie baut sich in gewisser Weise auf den Gegebenheiten der Erfahrung auf64 und macht durch die Operation, die Husserl die "Ideation" nennt, eine besondere Modifikation dieser Gegebenheiten aus. Diese Modifikation ist es, die bewirkt, daß sie eine von der Erfahrung unabhängige Erkenntnis darstellt. Diese Unabhängigkeit besteht darin, daß sowohl die Wahrheit der durch sie gewonnenen Ergebnisse als auch deren Gewißheit durch die Wahrheit und Gewißheit der Erfahrung, auf deren Gegebenheiten die Gegebenheiten der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis aufgebaut sind, nicht bedingt ist. Ihre Ergebnisse könnten sogar dann wahr sein, wenn es sich herausstellen sollte, daß die Erfahrung, die uns über das Sein und Sosein der Dinge informiert, Ergebnisse liefert, die fragwürdig sind, ja eine weitgehende Korrektur erfordern (z. B. eine solche, wie sie die physikalische Erkenntnis bietet). Und dies erklärt sich eben damit, daß die apriorische Erkenntnis die in der Erfahrung gegebenen realen Gegenstände mit ihrer Intention nicht erreicht

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der Zeit von Lockes Theorie der allgemeinen Ideen. All diese Theorien sehen es aber nicht so sehr darauf ab, zu zeigen, auf welche Weise man von den Akten, die sich auf individuelle Gegenstände und Qualitäten beziehen, zu allgemeinen Gegenständen kommt, als vielmehr die allgemeinen Gegenstande und Qualitäten (Ideen) psychologistisch auf individuelle Gegenstände "zurückzufuhren", mit der definitiven These, daß es keine allgemeinen Gegenstände gebe, sondern alles individuell sei. Husserl hat in der Π. Logischen Untersuchung nachgewiesen, daß all diese Theorien unhaltbar sind, weil sie zu Widersprüchen führen. Und er selbst hat (in der VI Untersuchung) versucht, das Problem der Erfassung der Qualitäten in specie auf Grund einer Theorie der Ideation bzw. der von ihm so genannten "kategorialen Anschauung" zu lösen [vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. Π, Teil 2 (Husserliana XIX/2, hrsg. von U. Panzer, Den Haag 1984), S. 699ff ] Husserl sagt von ihr in den Logischen Untersuchungen, daß sie "eine fundierte Erkenntnis" sei, d.h. eine Erkenntnis, die eben in den individuellen Gegebenheiten fundiert ist, die durch die Erfahrung geliefert werden. [Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. Π, Teil 2 (Husserliana XIX/2, hrsg. von U. Panzer, Den Haag 1984), S. 708.]

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und infolgedessen diese Gegenstände gar nicht betrifft. Dieses Verhältnis [der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis] zur Erfahrung müßte noch näher geklärt werden. "Abhängig" kann jedoch eine unmittelbare Erkenntnis von einer anderen Erkenntnis in zweifachem Sinne sein: 1) einem psychologischen und 2) einem epistemologischen. Die beiden Bedeutungen wurden oft, besonders unter dem Einfluß von genetisch-psychologischen Theorien, durcheinandergebracht, wodurch die erkenntnistheoretischen Untersuchungen in eine falsche Richtung geführt wurden. In der genetisch-psychologischen Bedeutung ist eine Erkenntnis, oder allgemeiner, ein Erlebnis X von einem anderen Erlebnis Y "abhängig", wenn im faktischen Verlauf der Erlebnisse eines psychischen Individuums das Erlebnis Y real eintreten muß, bevor das Erlebnis X erfolgt. Unter der "Abhängigkeit" in dieser Bedeutung verstehen wir also ein zeitlich-konditionales Verhältnis zwischen X und Y, wobei das Entstehen von X nicht notwendig eine Wirkung des Eintretens von Y zu sein braucht. Zum faktischen Erfolgen von X können ganz andere Umstände beitragen als das vorherige Stattfinden von Y. Das Verhältnis der "Abhängigkeit" ist also verschieden von der Kausalbeziehung. Mehr noch, zwischen dem Eintreten von Y und dem Eintreten von X kann dabei eine längere Zeitperiode verstreichen, was bei einer Kausalbeziehung ausgeschlossen scheint. Ein solches Verhältnis stellen die Psychologen speziell zwischen Vorstellungen und Wahrnehmungen fest (Humes "Ideen" und "Impressionen" - denn von ihm stammt die Feststellung dieses Verhältnisses). Die Vorstellungen werden als eine Art Kopien oder Abbilder des Inhalts der entsprechenden Wahrnehmung betrachtet, ein Abbild kann aber früher existieren als das Abgebildete. Dadurch, daß das Moment des Abbildens oder "Widerspiegeins" eingeführt wird, geht die Abhängigkeit der Vorstellung von der Wahrnehmimg viel weiter, als dies anhand der angeführten Bestimmung sichtbar wird. Sie besteht darin, daß der Inhalt der Vorstellung durch den Inhalt der vorangehenden Wahrnehmungen gleichsam bestimmt wird oder wenigstens der Bereich der Inhalte der schon vollzogenen Wahrnehmungen den Bereich der elementaren Inhalte ("der einfachen Ideen") bestimmt, die zum konkreten Inhalt einer Vorstellung gehören können. Folglich können wir uns zwar ein gewisses compositum (den berühmten gläsernen Berg) vorstellen, das wir vorher nicht wahrgenommen haben, doch seine Elemente müssen zuvor in der Wahmeh-

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mung gegeben sein. Wer niemals die rote Farbe gesehen hat, vermag sie sich - wie man sagt - nie vorzustellen. Wir überlassen es der Psychologie, nachzuprüfen, ob zwischen den Erlebnissen bzw. psychischen Zuständen tatsächlich eine solche Abhängigkeit besteht. Dies ist eine quaestio facti, die die Phänomenologie nicht entscheiden will. Das Bestehen einer solchen Abhängigkeit könnten wir aber auch dann ruhig anerkennen, wenn es sich erweisen sollte - wie dies z. B. Husserl oft behauptete - , daß es unmittelbare apriorische Erkenntnisse gibt, die sich auf der Grundlage einer Vorstellung vollziehen.65 Denn wenn wir die Unabhängigkeit der unmittelbaren Erkenntnis a priori nachweisen möchten, meinen wir damit das Fehlen einer anderen Art von Abhängigkeit als der oben angedeuteten, und zwar einer Abhängigkeit, die lediglich in den erkenntnistheoretischen Betrachtungen maßgeblich ist. Setzen wir mit einem Beispiel ein. Ich tauche einen geraden Stock zu einem Teil und in einem spitzen Winkel in reines Wasser ein. Wenn ich das zum ersten Mal in meinem Leben tue und wenn mir niemand vorher gesagt hat, welche Erscheinung mir begegnen wird, nehme ich mit einer gewissen Verwunderung wahr, daß der zuvor gerade Stock jetzt an der Berührungslinie zwischen dem Wasser und der Luft gebeugt oder gebrochen ist. Ich sehe dies ganz deutlich und kann dies mit völliger Aufmerksamkeit beobachten, während die Erscheinung nicht verschwindet; dabei läßt meine Verwunderung nicht nach, sondern es stellt sich sogar ein gewisses Zweifeln ein. Denn ich verfüge über eine Reihe von zuvor gewonnenen Erfahrungen, deren nunmehr unwillkürlich auftauchende Erinnerung bewirkt, daß die gegebene Wahrnehmung - die ich die Anfangswahrnehmimg nenne - "unglaublich" wird. Ich hatte bisher die Erfahrung gemacht, daß der Prozeß des Brechens eines Stocks anders verläuft, als wie es im vorliegenden Fall aussieht. Er war z. B. von charakteristischem Knacken begleitet, dem ein Einsatz meiner Kraft voranging, wodurch sich der Stock immer mehr beugte und in einem Augenblick plötzlich brach. Nichts derartiges ist im vorliegenden Fall

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Husserl behauptet sogar, daß solchen apriorischen Erkenntnissen eine Art Priorität zuzuerkennen sei vor den Erkenntnissen, die auf der Grundlage einer Wahrnehmung gewonnen werden, da man in diesem Fall leichter die in der Wahrnehmung enthaltenen Suggestionen fernhalten könne, die vortäuschen können, daß wir eine echte apriorische Erkenntnis gewonnen hätten.

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geschehen. Mehr noch, die gebrochenen Stöcke, die ich früher gesehen habe, sahen ganz anders aus als der Stock, den ich jetzt ins Wasser eingetaucht habe. Daher scheint mir das Eintauchen des Stocks ins Wasser - trotz der ganzen Deutlichkeit der Erscheinung selbst - keine ausreichende Ursache dafür zu sein, daß der Stock - übrigens auf eine so andere Weise - gebrochen ist. Ich versuche also, mir weitere Erfahrungen zu verschaffen, nehme den Stock aus dem Wasser, sehe, daß während ich ihn herausnehme, die Brechung nicht an derselben Stelle des Stocks verbleibt, sondern sich dem Stock entlang verschiebt, wobei sie immer an der Grenzlinie zwischen dem Wasser und der Luft verläuft. Schließlich nehme ich den Stock ganz aus dem Wasser, und es zeigt sich, daß er ganz gerade ist. Ich tauche ihn erneut ein, und die Erscheinung der Brechung kommt wieder zustande. Ich prüfe somit anders nach: ich tauche eine Hand ins Wasser ein, und es stellt sich heraus, daß der Stock an der Stelle, wo er augenscheinlich gebrochen ist, fur den Tastsinn nach wie vor ganz gerade bleibt. Dies ist in diesem Fall maßgebend: ich entscheide, daß der Stock durch das Eintauchen ins Wasser nicht gebrochen worden ist, daß er nur so aussieht, als ob er gebrochen wäre, in Wahrheit es aber nicht ist. Ich sage: Es hat eine besondere "Täuschung" stattgefunden, die sich aber sogar dann wiederholt, wenn ich ihr nicht mehr erliege, sondern sie deutlich als eine Täuschung betrachte. Dieses Beispiel lehrt uns, daß einzelne Wahrnehmungen (aktuelle und erinnerte) einander beeinflussen, wobei sie nicht nur eine Veränderung des Inhalts der Anfangswahrnehmung herbeiführen, sondern sogar eine Veränderung im Seinscharakter dessen, was in der Anfangswahrnehmung gegeben war. Was nämlich die Grundlage der Sinnesqualitäten66 betrifft, die dem Gehalt der während der Anfangswahrnehmung erlebten Ansicht zugrunde liegen, so haben sie keine prinzipielle Veränderung erfahren im Vergleich zur Wahrnehmung, in der wir uns schon des Vorkommens der Täuschung

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Von diesen Qualitäten pflegt man unter den Phänomenologen zu sagen, sie seien "Empfindungsdaten". Dies ist indes schon eine Vorentscheidung gewisser Fragen, die den komplizierten Aufbau der Sinneswahrnehmung betreffen, von Fragen, die ich hier nicht erörtern konnte, um Probleme zu vermeiden, die zu komplex wären für einleitende Betrachtungen der Art dieses Aufsatzes. Ich glaube, daß der von mir im Text gebrauchte Terminus eindeutig ist und keine Entscheidungen einschmuggelt, die [hier] keiner Diskussion unterzogen werden können.

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bewußt werden. Wir werden uns auch klar darüber, daß der Unterschied zwischen der Anfangswahrnehmung, in der uns ein gebrochener Stock gegeben ist, und der Endwahmehmung, in der wir uns dessen bewußt werden, daß er nur so aussieht, in Wahrheit aber nicht gebrochen ist, - [daß dieser Unterschied] nicht durch die unter diesen Sinnesqualitäten vorgehenden Veränderungen verursacht wird. Auch der Inhalt der Wahrnehmung wird jedoch durch jene Grundlage von Sinnesqualitäten nicht konstituiert, auf jeden Fall aber konstituieren sie diesen Inhalt nicht für sich selbst. Sie sind vielmehr nur eine Grundschicht, auf der sich erst Elemente oder Momente aufbauen, die zusammen mit ihnen die Inhalte bilden, die den "objektiven" Merkmalen des wahrgenommenen Dinges entsprechen (oder besser gesagt: die diese Merkmale bestimmen). Wir nehmen ζ. B. eine rote Kugel wahr, d. h. ein dreidimensionales Ding mit einer gleichmäßigen Färbung der Oberfläche. Die Sinnesqualität aber, deren Erleben es verursacht, daß uns jene gleichmäßige Färbung gegeben ist, bildet eine kontinuierliche Menge verschiedener Qualitäten (Nuancen von Rot, aber auch von anderen Farben, Lichter, Schatten, Glanzlichter usw.), die ineinander übergehen und sich je nach dem Gesichtspunkt und je nach dem Vorhandensein von noch anderen Qualitäten im gesamten Wahrnehmungsinhalt umwandeln. Man muß somit nicht nur die erlebten Sinnesqualitäten ("die Empfindungsdaten") und das wahrgenommene "objektive" Merkmal des Dinges (der Kugel) auseinanderhalten, sondern auch jene Sinnesqualitäten von unqualitativen (manche sagen in diesem Zusammenhang: "nicht-empfindungsmäßigen") Momenten des Wahrnehmungsinhalts (eventuell genauer: der während des Wahrnehmens erlebten Ansicht). Die "unqualitativen" Momente sind noch verschiedener Art. Eines davon ist das besondere Moment, das diese kontinuierliche Mannigfaltigkeit von verschiedenartigen Qualitäten zu einer einheitlichen Farbe vereint: zu dem diese Kugel kennzeichnenden "Rot" von einer bestimmten Nuance, einer bestimmten Sättigung usw. Es ist so, als wenn von diesen vielen Nuancen eine einzige ausgewählt worden wäre, die sich über die ganze Oberfläche der Färbung (der Kugel) ausbreitet, während andere gleichsam in diese Nuance und z.B. den Schatten differenziert worden wären, der auf einem Teil dieser Kugel liegt, und noch andere wiederum in diese Nuance und in das Licht, das sich auf einem anderen Teil der Oberfläche der Kugel ausbreitet, oder in den "Glanz", der diese Nuance der Färbung

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gleichsam bedeckt Gleichzeitig damit erscheint im Inhalt der erlebten Ansicht ein (ebenso "unqualitatives" oder genauer: keine farbliche Sinnesqualität bildendes) Moment der Gestalt, nämlich "die Kugeligkeit", die gleichsam an die Stelle der ursprünglich erlebten Gestalt des "Kreises" tritt. Das eine wie das andere kleidet sich aber gleichsam in ein besonderes formales Moment, und zwar in das Moment des "Merkmal-Seins" (des EigenschaftSeins) oder, wenn man will, das Moment des einem Ding (nämlich der durch die Ansicht erscheinenden Kugel) Zukommens. Korrelativ stellt sich natürlich das streng damit verbundene Moment des "Subjekt-von-MerkmalenSeins" ein, das die Kugel als ein Ding kennzeichnet. Es gehört auch zu jenen "unqualitativen" Momenten, die hier der Grundlage der Sinnesqualitäten gegenübergestellt worden sind. Selbstverständlich sind all die Momente und Qualitäten nicht - wie dies jemand nach Machs Theorie der "Elemente" behaupten könnte - irgendwelche nebeneinander auftretenden Bestandteile ("Elemente"), die miteinander zu einem "Bündel" von Elementen (in Machs Terminologie einem "Komplex") zusammengebunden sind, sondern stehen miteinander in einer spezifischen funktionalen Einheit, die hier nicht näher Λ7 analysiert werden kann. Die letztgenannten formalen Momente machen das aus, was man gewöhnlich die "Kategorien" nennt. Sie bestimmen insgesamt die Form des wahrgenommenen Gegenstands und in einer gewissen Auswahl die Form jedes beliebigen individuellen Gegenstands als Subjekts seiner Merkmale. Außerdem entspricht der in jedem Wahrnehmungsakt eingeschlossenen Überzeugung von der Existenz (von der schon oben die Rede war) einerseits im Ansichtsgehalt, andererseits im wahrgenommenen Gegenstand selbst noch ein anderes "unqualitatives" Moment, nämlich eine Seinsweise (in diesem Fall diejenige, die für die realen Gegenstände charakteristisch ist). Wir nehmen Dinge als solche wahr, die an sich, unabhängig von uns Wahrnehmenden und unserem Wahrnehmen existieren. Beim Übergang von der Anfangswahrnehmung des gebrochenen Stocks zu der Wahrnehmung, in der

67 Diese Fragen habe ich eist zwanzig Jahre nach dem Verfassen dieses Aufsatzes in den Kap. VIE und IX des E Bandes vom Streit um die Existenz der Welt [Ingarden 1964/65)] behandelt; dort kann also der Leser die Punkte ausgeführt finden, die hier nur angedeutet worden sind. (1961)

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wir uns dessen bewußt werden, daß der Stock nicht gebrochen ist, sondern nur so aussieht, erfahren gerade diese verschiedenen unqualitativen Momente des Wahrnehmungsinhalts bzw. korrelativ des wahrgenommenen Gegenstands selbst eine wesentliche Modifikation. Worin diese Modifikation besteht, werde ich bald zu erklären versuchen. Zuerst müssen jedoch gewisse allgemeine und in ihrem Charakter notwendige Abhängigkeitsgesetze formuliert werden, die unter den genannten Momenten des Wahmehmungsinhalts und zugleich auch unter den Momenten des Wahrgenommenen obwalten. Die Auswahl wie auch die Anordnung der Sinnesqualitäten, die im Gehalt einer Ansicht (bzw. mehrerer zueinander gehörenden Ansichten) auftreten, kann nicht beliebig sein, wenn wir ein Ding mit eindeutig bestimmten Eigenschaften (ζ. B. unsere rote Kugel) wahrnehmen sollen. Es besteht vielmehr eine strenge Gesetzmäßigkeit hinsichtlich dessen, welche Sinnesqualitäten in der von uns erlebten Ansicht vorkommen müssen, damit uns ein Gegenstand mit einem bestimmten Merkmal gegeben sein kann. Zu jedem Gegenstandsmerkmal, das in der Wahrnehmung anschaulich gegeben ist, (selbstverständlich auch zu jeder Gegenstandsnatur - zu jenem Ganzheitsquale, von dem oben die Rede war) - gehört eine streng bestimmte Mannigfaltigkeit von zusammen auftretenden Sinnesqualitäten in der vom Wahrnehmungssubjekt erlebten Ansicht oder sogar, genauer gesagt, eine bestimmte Mannigfaltigkeit von solchen Mannigfaltigkeiten, die in Ansichtsserien auftreten, bei deren Erleben das Subjekt denselben Gegenstand mit demselben Merkmal bzw. derselben Auswahl von Merkmalen wahrnimmt. Es gibt streng bestimmte Grenzen, in denen die einzelnen Elemente eines gegebenen Systems von erlebten Qualitäten variieren können, wobei in der Wahrnehmimg immer noch dasselbe Merkmal eines bestimmten Dinges gegeben ist. Dieselbe Farbe eines Gegenstands sieht ζ. B. unter verschiedenen Umständen - bei einer Änderung der Beleuchtung, einer Verschiebung des Gesichtspunktes, aus einer größeren oder kleineren Entfernung usw. - unterschiedlich aus, doch ihre verschiedenen Weisen des Aussehens wie auch die verschiedenen Zusammenstellungen von Sinnesqualitäten, die vom Subjekt in einer Mannigfaltigkeit von Ansichten erlebt werden, sind streng geregelt und haben, wenn man so sagen darf, sowohl eine streng zugewiesene Art und Weise, sich zu verändern, als auch eine [bestimmte] Reihenfolge des Auftretens als

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schließlich unüberschreitbare Grenzen, wenn das Ding uns als dasselbe und mit denselben Eigenschaften gegeben sein soll. Werden diese Grenzen in eine bestimmte Richtung überschritten, dann stellt sich der wahrgenommene Gegenstand den Augen des Wahrnehmungssubjekts als ein in gewisser Weise veränderter oder sich verändernder dar, wenn das Subjekt gerade Zeuge der Umwandlungen ist, die in der Grundlage der Sinnesqualitäten der entsprechenden Ansichten vorgehen. Natürlich sind nicht alle Veränderungen unter den Eigenschaften des Wahrnehmungsgegenstands zulässig, soll der Gegenstand derselbe bleiben (und als derselbe wahrgenommen werden). Werden diese Grenzen der Variabilität überschritten, dann kann entweder eine anschauliche (in der Wahrnehmung gegebene) Zerstörung des Gegenstands oder aber das stattfinden, was Husserl die "Explosion" des Gegenstands nennt: anstelle des wahrgenommenen Gegenstands (Dinges) erscheinen nur untereinander nicht einstimmige "Phänomene", welche die Konstitution eines einheitlichen Gegenstands nicht erlauben. In all diesen Fällen herrscht keine Beliebigkeit, sondern eine strenge Regelmäßigkeit, die sich in strenge, apriorische Wesensgesetze fassen läßt. Unter anderem betreffen diese Gesetze nicht nur die Abhängigkeiten zwischen Zusammenstellungen von Qualitäten, die die Grundlage der erlebten Ansichten ausmachen, und den Eigenschaften des wahrgenommenen Dinges, sondern auch zwischen Zusammenstellungen von qualitativen Momenten und Momenten der kategorialen Form wie auch schließlich Momenten, welche die Seinsweise des Wahrgenommenen ausmachen. Gewisse bestimmte Gesetzmäßigkeiten in der Zusammenstellung der Qualitäten, die auf der Grundlage der Ansichten auftreten, wie auch die Gesetzmäßigkeiten in der Aufeinanderfolge der Ansichten ziehen es nach sich, daß im Inhalt der Wahrnehmungen unausbleiblich Momente erscheinen, welche die gegenständliche Kategorie eines Dinges, einer diesem zukommenden Eigenschaft sowie seiner Seinsweise bestimmen. Andere Gesetzmäßigkeiten haben zur Folge, daß im Wahrnehmungsgegenstand die Kategorie einer Veränderung unter Erhaltung der Identität des wahrgenommenen Dinges erscheint. Schließlich bewirken es bestimmte Unregelmäßigkeiten in den genannten Qualitäten sowie in der Aufeinanderfolge der sich entwickelnden Ansichten, daß im Wahrnehmungsgegenstand die Kategorie einer Eigenschaft von etwas, was gegenüber dem Wahrnehmungssubjekt autonom existiert, ausgeschlossen wird, und an deren Stelle ein besonderes Phänomen

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eines "Scheins", einer "Täuschung" tritt - [der Charakter] von etwas, was "als etwas erscheint", doch dieses etwas nicht ist usw. Dies geschieht eben im oben besprochenen Beispiel einer Täuschung mit einem "gebrochenen Stock" an der Grenze zwischen dem Wasser und der Luft. In der Anfangswahrnehmung bewirkt die erlebte Ansicht, daß das Ding selbst uns als "gebrochen" gegeben ist, doch die im Ansichtsgehalt auftretenden Qualitäten stehen - gegenüber den anderen, früher erlebten oder erst später gewonnenen Ansichten des wahrgenommenen Stocks - in einer bestimmten Unregelmäßigkeit, und das Bestehen dieser Unregelmäßigkeiten macht, daß bereits in der ersten Wahrnehmung jenes Moment der "Verwunderung" vorkommt und damit zugleich die Überzeugung von der Existenz des gebrochenen Stocks in ein charakteristisches Zweifeln modifiziert wird. Dies verursacht wiederum eine entsprechende Modifikation des Seinscharakters des "gebrochenen" Stocks, dann aber einen Übergang zu einer Serie von neuen Erfahrungen. Das Endergebnis dieser Erfahrungen ist, daß die Form einer "Eigenschaft", in der anfänglich die die "Brechung" bestimmenden Qualitäten standen, und zugleich der Seinscharakter des Zukommens dieser Eigenschaft einem in der Wahrnehmung gegebenen Ding beseitigt und durch ein ganz anderes (obwohl schwer beschreibbares) Moment der Form vom "Schein-Sein", vom "Erscheinen als etwas, was etwas nicht ist" ersetzt werden, wobei sich auch dieser Seinscharakter in einer radikalen Weise verwandelt, die sich nicht so leicht präzisieren läßt. Viele von unseren Lesem würden vielleicht sagen, dies sei gar nicht so schwierig zu bestimmen, denn es liege in diesem Fall ganz einfach nicht ein unabhängig vom Subjekt existierendes Ding vor, sondern nur eine "psychische Erscheinung", die zum Wahrnehmungssubjekt gehöre und ein Element von dessen Wahrnehmungserlebnis bilde. Eine solche Beschreibung träfe jedoch nicht zu, obwohl nach einer ziemlich allgemein verbreiteten Ansicht alles, was nicht physisch ist wie der Stock selbst - , eben damit etwas Psychisches darstelle und ein Element eines Bewußtseinserlebnisses ausmache. Es ist jedoch beachtenswert, daß in diesem Fall die physikalische Erklärung der "Erscheinung" der scheinbaren Brechung des Stocks gar nicht auf der Psychologie basiert und nicht behauptet, die spezifische Konstitution des Menschen sei so, daß ihm unter diesen Umständen so verwunderliche Dinge "erscheinen", sondern vielmehr auf eine physikalische Argumentation zurückgreift, indem sie das

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ganze Vorkommnis auf eine unterschiedliche Dichte der Medien, durch welche die Lichtstrahlen hindurchgehen, zurückfuhrt und erklärt, daß es anders nicht sein könne, daß unter diesen Umständen eine "Brechung des Lichts" eintreten müsse und der Stock infolgedessen in den Augen eines Zuschauers unausbleiblich gerade in dieser Weise "erscheine". Jene "Erscheinung", die bei einem naiven Menschen anfanglich eine irrtümliche Wahrnehmung und damit zugleich auch die Tatsache einer Täuschung verursacht, erweise sich also in ihrem Vorkommen und in ihrem gesamten Gehalt, sekundär aber auch im Vorkommen dessen, was durch sie erscheint, auf wesentliche Weise durch nicht-psychische Tatsachen bedingt, nämlich dadurch, daß bestimmte physische Prozesse - wie das Durchdringen von Medien mit unterschiedlicher Dichte durch Licht - ablaufen, und bis zu einem gewissen Grad auch durch das, was real im Wahmehmungssubjekt geschieht. Wenn sich dieser ganze komplizierte Erkenntnisprozeß abspielt innerhalb des Wahrnehmens, aber auch innerhalb gewisser Schlußfolgerungen, die mit den Ergebnissen des Wahrnehmens selbst zusammenhängen - , dann nimmt die "Erscheinung" der scheinbaren Brechung des Stocks, der weiterhin als real gegeben ist, mithin als ein solcher, der außerhalb unserer Wahrnehmungserlebnisse und unabhängig von diesen existiert, hinsichtlich ihrer Existenz einen besonderen Charakter an, [den Charakter] von etwas, was in seinem Sein sowohl von den autonomen physischen Gegenständen als auch vom Wahrnehmungssubjekt und dessen in bestimmter Weise aufeinanderfolgenden Erlebnissen abgeleitet ist. Diese Umwandlung, die sowohl in der kategorialen Form als auch im Seinscharakter eintritt, macht das Resultat des ganzen Erkenntnisprozesses aus, in dem die einzelnen Glieder nicht nur in bestimmter Ordnung aufeinanderfolgen, sondern auch - was wichtiger ist - in bestimmter Weise einander motivieren. Hier handelt es sich gar nicht mehr um psychologische Kausalabhängigkeiten zwischen sogenannten psychischen Erscheinungen, sondern um ein Problem psychologischer Natur: sozusagen um das Problem eines vernünftigen Motivierens der einen Erkenntnisergebnisse durch die anderen. Diese Motivation aber betrifft nicht nur die nähere Bestimmung des Sinnes von einzelnen Erkenntnisergebnissen, die zum ganzen Erkenntnisprozeß gehören, sondern auch die Begründung des Wahrheitswerts der einen Ergebnisse durch die anderen. Deswegen gilt nicht, was wir vom Stock in der Anfangswahrnehmung seiner Brechung

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erfahren, weil die Gegebenheiten der weiteren Erfahrungen zeigen, daß es anders ist, als es uns anfänglich erschienen ist, und deswegen gilt das Endergebnis, daß der Stock als gebrochen "erscheint", ja daß er unter diesen Umständen nur so erscheinen kann, weil ganze Reihen von anderen Erfahrungen gelten, die den gegebenen Stock oder ähnliche Stöcke wie diesen betreffen. Die Gültigkeit der einen Erkenntnisergebnisse ist "abhängig" von der Gültigkeit der anderen Erkenntnisergebnisse - innerhalb der Erfahrung selbst bzw. auch innerhalb gewisser mit ihr verbundener Schlußfolgerungen. Durch diese anderen - an sich so und so gültigen Erkenntnisergebnisse ist die Gültigkeit des gegebenen Erkenntnisergebnisses mitbestimmt und bedingt. Stellte es sich heraus, daß jene ungültig, unzutreffend, falsch sind, dann würde sich auch die Gültigkeit des Letztergebnisses als grundlos erweisen und eben damit nicht zu Recht bestehen. In derartigen Betrachtungen verlassen wir schon die Sphäre der realen Tatsachen und der zwischen diesen bestehenden Kausalabhängigkeiten und betreten die Sphäre der Abhängigkeiten zwischen den Sinnen der einzelnen Erkenntnisergebnisse, die zueinander gehören und einander hinsichtlich ihres Erkenntniswerts bestimmen. Dies ist keine Psychologie mehr und auch keine Psychophysiologie - sondern eine Erkenntnistheorie, welche die Verläufe gewisser Erkenntnisoperationen und der unter diesen bestehenden Abhängigkeiten hinsichtlich ihres Sinnes sowie ihres Wahrheitswerts und ihrer Begründung erkundet, Prozesse, deren Faktizität und eventuell deren eine oder andere kausale Bedingtheit psychischer oder psychophysischer Natur gar nicht in Frage kommt, obwohl sie gar nicht in Zweifel gezogen werden soll. Die Erforschung dieser real-kausalen Abhängigkeiten ist aber für sich selbst eine Aufgabe der Psychophysiologie und kann uns bei der Erklärung der Erkenntnisabhängigkeiten zwischen den Erkenntnisergebnissen sowie bei der Beschreibung der Erkenntnisoperationen, die zu diesen Ergebnissen fuhren, in keiner Weise behilflich sein.

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ZTQ Die hier durchgeführten Betrachtungen sind nur eine schematische Skizze der Probleme, die sich auf diesem Feld eröffnen. Wir haben hier ein gewaltiges Feld von Untersuchungen vor uns, ohne deren Durchführung ich mir keine befriedigende Theorie der Erfahrung vorstellen kann. Viel in dieser Hinsicht haben Husserl und manche seiner Schüler, insbesondere Hedwig Conrad-Martius gemacht. Die Untersuchungen sind jedoch nicht zum Abschluß gebracht Von ihrer erfolgreichen Durchführung hängt die Lösung der Grundproble-

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Da sowohl bei der Abhängigkeit im psychologischen wie auch im epistemologischen Sinne der Inhalt der Erkenntnis (bzw. der Erkenntniserlebnisse) eine Veränderung erfährt, sofern gleichsam an die Stelle einer Erkenntnis X eine andere Erkenntnis Y tritt, haben viele, besonders naturwissenschaftlich eingestellte Forscher, ζ. B. philosophierende Physiker, diese beiden prinzipiell verschiedenen Bedeutungen der Abhängigkeit verwechselt und die epistemologische Abhängigkeit auf die psychologische zurückgeführt, indem sie vorausgesetzt haben, daß wir, sobald wir das Bestehen der letzteren zwischen zwei Erkenntnissen nachgewiesen haben, eo ipso das Vorhandensein der ersteren annehmen dürfen. Wir stoßen hier wiederholt auf ein Beispiel der irrtümlichen Auffassungsweise von gewissen Problemen - dieses Mal von Erkenntnisproblemen - , die für den Psychologismus kennzeichnend ist. Solange wir Erkenntnisakte als reale Tatsachen erforschen und nach Kausalzusammenhängen suchen, betreiben wir Psychologie, nicht Erkenntnistheorie. Von den Tatsachen kann man nie zur Frage nach der Gültigkeit (der Wahrheit und Begründetheit) der Erkenntnisse übergehen. Von Erkenntnistheorie kann erst die Rede sein, wenn wir bemerken, daß jeder Erkenntnisakt einen durch ihn vermeinten Sinn bestimmt und gleichsam einen Anspruch darauf erhebt, daß dieser Sinn für den Gegenstand gilt, auf den er sich bezieht. Ein weiterer Schritt in Richtung zu den erkenntnistheoretischen Untersuchungen ist die Feststellung, daß zwischen den Sinnen, die den einzelnen Akten zukommen (oder auch nur zugehören) ideale Zusammenhänge und Abhängigkeiten bestehen, durch welche sie einander bekräftigen oder

me der modernen Erkenntnistheorie ab, die trotz den Bemühungen der hervorragendsten Philosophen (Descartes, Hume, Leibniz, Kant, Fichte, Hegel, unter den neueren Bergson, Husserl, Natorp, Ν. Hartmann und anderen) bisher erst im Stadium der Bearbeitung bleiben. - Man muß leider sagen, daß die Untersuchungen, die über die Wahrnehmung oder Erfahrung von der Seite der Positivisten - besonders der sogenannten Wiener Schule der Neupositivisten und deren zahlreicher Nachfolger - wie auch von der Seite der sogenannten analytischen Schule angestellt wurden, seitdem dieser Aufsatz verfaßt worden ist, keine weiteren, [unser Verständnis dieses Problems] vertiefenden Resultate ergeben haben. Sie haben vielmehr die Diskussion auf das Niveau der erneuten Gleichsetzung der Wahrnehmung mit den "Empfindungen" (sense datas) und der Theorie der sogenannten "Protokolarsätze" zurückgebracht (1961)

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Die Bestrebungen der Phänomenologen 69

aufheben. Hier eröffiiet sich ein breites Feld von ganz einzigartigen Problemen und Untersuchungsgegenständen, die mit der psychologischen Methode nicht gelöst werden können, weil diese die Erkenntnisproblematik selbst entstellt. Die Phänomenologie strebt hier wie sonst danach, die spezifische Problematik festzulegen und die Erkenntnistheorie von Beimengungen des Psychologismus zu reinigen. Für die erkenntnistheoretischen Untersuchungen haben auch die Phänomenologen relativ viel Mühe aufgewendet. Die unmittelbare apriorische Erkenntnis wäre im epistemologischen Sinne abhängig von der Erfahrung, wenn ihre Ergebnisse nur in dem Fall gälten, in dem auch die Ergebnisse der Erfahrung gälten, die mit ihr in einem Zusammenhang im psychologischen Sinne steht. Dies ist jedoch nicht der Fall. Keine äußere oder innere Wahrnehmung und keine andere Erkenntnis von Gegenständen der realen Welt begründet eine apriorische Erkenntnis oder kann diese begründen. Es liegen ζ. B. Fälle vor, in denen wir eine unmittelbare apriorische Erkenntnis auf der Grundlage eines anschaulichen Stoffes gewinnen, der uns durch die äußere Wahrnehmung geliefert wird, wie es ζ. B. war, als wir uns auf der Grundlage einer wahrgenommenen Apfelsine eine notwendige Verwandtschaft zwischen Rot, Orange und Gelb zum Bewußtsein gebracht haben. Diese Wahrnehmung kann indes ganz irrtümlich sein, es kann uns nur vorkommen, daß wir es mit einer Apfelsine zu tun haben (dies kann auch eine Attrappe sein), es kann keine Wahrnehmung im wachen Zustand, sondern nur eine fieberhafte Halluzination sein, deren halluzinierter Gegenstand kein Korrelat (keine reale Apfelsine) in der Wirklichkeit besitzt. Die entsprechende apriorische Erkenntnis in bezug auf das Verhältnis zwischen den reinen Qualitäten verliert dadurch nichts an ihrer Gültigkeit. Denn es liegt gar nicht in ihrer Intention, irgend etwas von den Eigenschaften der eventuell gleichzeitig wahrgenommenen Dinge zu behaupten, sie faßt die reinen Farbqualitäten nicht in die kategoriale Form der Dingeigenschaften, und sie faßt sie folglich auch nicht als Eigenschaften der gerade gesehenen Dinge, schreibt ihnen weder ein autonomes und individuelles Sein zu, das die wahrgenommenen Dinge besitzen, noch

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Es gibt noch andere Gründe, weshalb die Erkenntnistheorie weder von den realen Tatsachen ausgehen noch sich mit ihnen beschäftigen kann. Manche von ihnen werde ich in diesem Aufsatz noch besprechen, sofern sie mit den Bestrebungen der Phänomenologen im Zusammenhang stehen.

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betrachtet sie schließlich diese Qualitäten als eine "Erscheinung", die in ihrem Entstehen durch die Dinge und die Umstände bedingt ist, unter denen die (gegebenenfalls täuschende) Wahrnehmung stattfindet. Infolgedessen stellt sie eben kein reales Verhältnis zwischen den realen Dingen fest, die sie eventuell gleichzeitig wahrnimmt. Sofern diese drei Qualitäten: Orange, Rot und Gelb konkret zur Erscheinung kommen, und unabhängig davon, ob die gegebenen Dinge tatsächlich so gefärbt sind oder nicht, ja ob sie überhaupt existieren, behält die apriorische Erkenntnis, welche die Verwandtschaft dieser drei Qualitäten betrifft, ihre Geltung, sie trifft zu. Und dies gilt unabhängig davon, auf welche Weise der Erkenntnisakt bedingt ist, in dem diese Verwandtschaft erfaßt wird, und insbesondere, auf welche Weise er durch die sich eventuell abspielende Sinneswahrnehmung kausal bedingt ist, auf deren Grundlage der Akt der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis vollzogen wird, oder auf welche Weise dieser Akt durch physische Reize bedingt ist, die wir während des Wahrnehmens empfangen, und schließlich, in welchem Verhältnis diese Reize zu den untereinander verglichenen Qualitäten stehen. Vielleicht haben diejenigen recht, die behaupten, die materiellen Dinge würden überhaupt jeder Färbung entbehren; dies tangiert die Gültigkeit der These von den Verhältnissen zwischen den Farbqualitäten gar nicht. Es gibt Autoren, die behaupten, daß Farben etwas "Psychisches" seien. Die Phänomenologen lehnen diese These ab, so wie bereits Franz Brentano die Farben zu den von ihm so genannten "physischen Phänomenen" zählte. Aber sogar wenn sich die Phänomenologen mit Brentano darin im Irrtum befanden, auch dann wäre die apriorische These von den Verwandtschaften zwischen gewissen Farbqualitäten keine empirische These über gewisse psychische Tatsachen. Denn ebensowenig wie sie früher diese Qualitäten in die Kategorie der Eigenschaften eines gegebenen Dinges gefaßt hat, faßt sie sie jetzt in die Kategorie der Eigenschaften von gewissen psychischen Zuständen gewisser Individuen. In beiden Fällen fallen diese Auffassungen einfach weg, dadurch daß wir auf die reinen Qualitäten gerichtet sind und darauf [abzielen], sie als Qualitäten in specie zu erfassen. Und erst wenn es gelänge, das Wesen der Farbe als einen besonderen Komplex von ursprünglicheren Qualitäten zu erfassen, könnte die Frage entschieden werden, ob dergleichen wie das Bewußtseinserlebnis - wiederum durch eine entsprechend Einstellung in specie erfaßt - überhaupt Farbe enthalten oder "farbig" sein kann oder ob es

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

umgekehrt ganz unsinnig ist, so etwas zu behaupten, also daß ζ. B. eine Wahrnehmung einer roten Kugel selbst rot sei, nicht dagegen die Kugel, die sich uns mit dieser Farbe wahrnehmungsmäßig darbietet. Erst dann aber, wenn die Wahrnehmung selbst rot wäre, könnte man in einem berechtigten Sinne sagen, daß das Rot etwas aus der Welt des Psychischen sei. Diejenigen, die behaupten, die Farben seien etwas Psychisches, wissen nicht, was sie überhaupt sagen. Jemand kann uns jedoch vielleicht diesen Einwand bringen: Nehmen wir für einen Augenblick an, daß wir absolut sicher sind, daß die Sätze der Optik über die Natur des "Lichts" richtig sind, daß das Licht also in Wirklichkeit ein Wellenprozeß, eine elektromagnetische Störung ist. Dasjenige aber, was wir die orange Farbe eines Dinges nennen, ist in Wahrheit eine Eigenschaft der Oberfläche dieses Dinges, vermöge welcher manche Lichtwellen abgelenkt werden und zu unserem Auge gelangen. Nehmen wir schließlich an, daß wir ein anders gebautes Auge und ein entsprechendes Gehirnzentrum hätten, so daß das Auge die abgelenkten Lichtwellen als eine Reihe von leichten brennenden Stößen empfinden würde, und zwar derart, daß eine Verwandtschaft bestünde zwischen den Fällen, die wir heute als die Farbe Orange wiedererkennen, und denjenigen, die wir heute als die Farbe Grün empfinden. Wie stünde es dann mit der Wahrheit des apriorischen, von der Erfahrung angeblich unabhängigen Satzes, der eine ganz andere Verwandtschaft zwischen den Farben feststellt? Ist es nicht so, daß wir nur deswegen heute in der Lage sind, einen Satz über die Verwandtschaft zwischen den Farben Orange, Rot und Gelb aufzustellen, weil unser Sehapparat so und so gebaut ist? Und hängt die Gültigkeit dieser Erkenntnis nicht von den Erkenntnisergebnissen ab, die durch das so gebaute Organ geliefert werden? Ich antworte: die in Rede stehende apriorische Erkenntnis würde unter solchen Umständen an ihrem Erkenntniswert nichts einbüßen. Denn sie betrifft nur die Farben und Farbqualitäten, nicht aber diese oder jene (übrigens nur hypothetisch angenommenen70) Wellenprozesse, die je nach der psychophysischen Organisation der wahrnehmenden Individuen in dieser 70 In der Zeit, als ich diesen Aufsatz schrieb, schien die Wellentheorie des Lichts einen definitiven Sieg davongetragen zu haben. Heutzutage verhält es sich damit bekanntlich ganz anders; um so deutlicher tritt der hypothetische Charakter der heutigen Lichttheorie zutage.

(1961)

Die unmittelbare Erkenntnis a priori

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oder jener Forai empfangen werden könnten. Diese Wellen - wie es die positivistische Interpretation will, deren Richtigkeit ich hier nicht erwägen möchte - können höchstens eine Ursache davon sein, daß wir, mit unserer psychophysischen Organisation, eine Perzeption von farbigen Körpern besitzen, wobei die Farben nicht zufällig den Charakter von Eigenschaften dieser Körper annehmen. Die Wellen aber - diese oder andere - haben mit den Farben qualitativ nichts zu tun. Daher bezieht sich der in Rede stehende Satz über die qualitative Verwandtschaft der Farben weder in irgendeiner Weise auf diese oder jene Wellen, noch kann er auf andere Qualitäten (die brennenden Stöße) angewendet werden, sogar wenn diese anderen Qualitäten unter irgendwelchen neuen Umständen denselben Wellen zugeordnet werden könnten. Ob aber die Tatsache, daß in unserer Wahrnehmung die Farben als Eigenschaften von gesehenen Dingen erscheinen, realiter diese oder jene Ursachen hat, ist für die Verwandtschaft zwischen den Farbqualitäten ohne Belang. Eine orange Farbe, solange sie eine solche Farbe ist, kann einer grünen Farbe ihrer Qualität nach nie verwandt sein, mag zwischen den realen Prozessen, welche die beiden Farben verursachen, eine auch noch so große Verwandtschaft bestehen. Nur eines ist zuzugeben: Wären wir Menschen überhaupt unseres Sehorgans beraubt und besäßen wir kein anderes Ersatzorgan, das uns ebenfalls die Farben zugänglich machen könnte, dann könnten wir - da es sich bei Farbqualitäten um ursprüngliche und in vielen Fällen einfache Qualitäten handelt - keine unmittelbaren apriorischen Erkenntnisse in bezug auf die Farben in specie gewinnen. Folgt aber daraus, daß die sie betreffende apriorische Erkenntnis dadurch mehr oder weniger wahr ist? Daß sie nicht unabhängig von allen anderen Umständen an sich selbst gültig ist? Nein, nur der Umfang der Gegenstände, die wir in diesem Fall unmittelbar a priori erkennen könnten, wäre anders, als dies bei unserer psychophysischen Organisation ist (vorausgesetzt, daß die hypothetischen physikalischen und psychologischen Theorien, die heutzutage in der Wissenschaft anerkannt werden, in Wahrheit zutreffen). Daraus aber, daß uns heutigen Menschen gewisse Gegenstände erkenntnismäßig zugänglich sind und andere nicht, folgt weder, daß die letzteren überhaupt unerkennbar sind noch daß die uns im Augenblick unbekannten Sätze in bezug auf sie dadurch ipso facto unwahr werden, noch daß die uns bekannten apriorischen Sätze über die uns

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Die Bestrebungen der Phänotnenologen

erkenntnismäßig zugänglichen Gegenstände nur mit irgendwelchen Vorbehalten wahr sind, die sich aus der Tatsache ergeben, daß sie uns (angeblich) gerade durch unsere, eventuell gar nicht allgemeine, so und so beschaffene psychophysische Struktur zugänglich sind. Es folgt daraus schließlich auch nicht, daß diese Sätze in ihrer Wahrheit oder Gültigkeit epistemologisch von der Art der Erfahrung abhängen, die wir tatsächlich besitzen. Wenn es sich um ideale Gegenstände handelt, die ihre Korrelate in der physikalischen Wirklichkeit besitzen können und infolgedessen auf der Grundlage gewisser Anschauungsdaten erkannt werden können, die uns durch die Erfahrung geliefert werden, so eröffnet uns unsere Erfahrung in diesen Fällen vielleicht einen Zugang zu den Gegenständen der apriorischen Erkenntnis, doch dies ist weder wesensmäßig notwendig, noch beeinträchtigt es die Gültigkeit der von uns gewonnenen Erkenntnisse. Denn die Wahrheit oder Gültigkeit der Erkenntnis ergibt sich aus einem bestimmten Verhältnis zwischen dem Inhalt des gewonnenen Erkenntnisergebnisses und dem dazugehörenden Erkenntnisgegenstand, und sie hängt nicht davon ab, für welchen Umkreis von Erkenntnissubjekten das betreffende Erkenntnisergebnis zugänglich ist. Dieser Umkreis kann auf mannigfache Weise variieren, doch dadurch wird die Gültigkeit der Erkenntnis weder gesteigert noch gesenkt. Erkenntnisse, die nur einem einzigen Subjekt zugänglich sind, sind dadurch nicht "minder" wahr oder gültig als Erkenntnisergebnisse, die ζ. B. allen Menschen zugäng71

lieh sind. Die unmittelbare apriorische Erkenntnis in dem hier dargestellten Verständnis ist also erkenntnistheoretisch unabhängig von der Erfahrung. Es stellt sich jedoch umgekehrt die Frage, ob nicht die Erfahrung von der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis abhängig ist. Darauf kann man auf zweifache Weise antworten. Wenn wir beachten, daß uns die Erfahrung vor allem 71 Der in den letzten Jahrzehnten von den Neupositivisten so nachdrücklich aufgestellte Satz, wonach nur dasjenige Erkenntnisergebnis überhaupt eine Erkenntnis wäre, das "intersubjektiv" nachprüfbar ist, beruht auf einer ganz falschen Auffassung der Wahrheit bzw. Gültigkeit der Erkenntnis, abgesehen davon, daß bei dem Standpunkt, den die Neupositivisten zur Sprache und zum Problem der Erkenntnis des Fremdpsychischen einnehmen, dieser Satz es ihnen nicht gestattet, irgendwelche Erkenntnisergebnisse als "Erkenntnis" anzuerkennen. Denn von ihrem Standpunkt aus ist es unmöglich, irgendein Erkenntnisergebnis intersubjektiv nachzuprüfen, weil ihre Voraussetzungen jede intersubjektive Verständigung ausschließen. (1961)

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eine Feststellung der realen Existenz der in ihr gegebenen Gegenstände verschafft, so ist sie in dieser Hinsicht von der Erkenntnis a priori völlig unabhängig. Denn keine Erkenntnis a priori liefert uns (und kann uns liefern) eine solche Feststellung oder eine Feststellung, aus der eine These von der realen Existenz der Erfahrungsgegenstände folgen würde. In dieser Hinsicht ist somit die Erfahrung völlig autonom und trägt allein die Verantwortung für die in ihr gewonnenen Erkenntnisergebnisse. Dadurch, daß er diese Tatsache übersehen hat, hat der moderne Rationalismus einen Irrweg eingeschlagen, als er versucht hat, auf Grund von gewissen Erkenntnissen die reale Existenz entsprechender Gegenstände zu deduzieren oder schlimmer noch von den realen Gegenständen etwas geradezu a priori auszusagen. Die Reaktion des Empirismus gegen diesen Mißbrauch war hierin völlig gerechtfertigt, ist aber zu weit gegangen, als man versucht hat, alle apriorische Erkenntnis wegzudeuten. Die Phänomenologie will den letzteren Schritt vermeiden, doch sie leugnet der empirischen Erkenntnis ihre berechtigten Ansprüche nicht ab, sondern überläßt sie den Einzelwissenschaften. Man kann diesen Standpunkt gelten lassen, jedoch eine gewisse Abhängigkeit der Erfahrung von der apriorischen Erkenntnis einräumen. Wie wir oben schon gesagt haben, kann alles, was für manche idealen Gegenstände gültig ist, (mit Ausnahme von Sätzen über die Idealität dieser Gegenstände und über ihre besondere Form) eine entsprechende Anwendung auf die realen Gegenstände haben, die - wenn man so sagen darf - eine "Verkörperung" der in den entsprechenden idealen Gegenständen auftretenden Qualitäten sind, sofern derartige reale Gegenstände überhaupt existieren, was in einer entsprechenden Erfahrung eigens festgestellt werden muß. Trifft es ζ. B. zu, daß zur Idee der materiellen Gegenstände ihre Räumlichkeit gehört, dann ist jeder Gegenstand, von dem man auf dem Weg der Erfahrung festgestellt hat, daß er materiell ist, notwendigerweise räumlich. Dies gehört dann zu seinem Wesen. Und umgekehrt, wenn es in specie zutrifft, daß eine bestimmte Qualität eine andere Qualität nicht als ihre nähere Determination haben kann - ζ. B. daß die Farbe in specie nicht durch einen Veilchengeruch näher bestimmt sein kann, so wie sie durch das Rot, durch eine gewisse Helligkeit bestimmt sein kann und durch eine Ausdehnung usw. bestimmt sein muß - , dann können wir sicher sein, daß falls es in der wirklichen Welt irgendeine Farbe gibt, sie selbst (nicht das Ding, dem sie zukommt) nicht auf diese

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Weise riechend sein kann wie der Veilchengeruch. Wenn es stimmt, daß das Veilchen riecht, dann ist dies nicht der Geruch seiner Farbe, sondern (höchstens) einer chemischen Substanz. Als in der Zeit des Jungen Polens das kleine Gedicht rezitiert wurde: "Fließen die seladongrünen Düfte auf das violette Dach meiner Seele" - war dies nur eine dichterische Erfindung, von der man weiß, daß in der realen Welt dergleichen nicht möglich ist. Die apriorische Erkenntnis bestimmt also die Grenzen, in denen gewisse Qualitäten miteinander zu einem Ganzen verbunden sein können sowie andere - wie wir sagen - einander gegenüber seinsunselbständige Qualitäten im Rahmen eines Ganzen zusammen auftreten müssen. Durch das Kombinieren von verschiedenen derartigen apriorischen Feststellungen kann man gewisse Sätze über das Wesen der Gegenstände einer bestimmten Art gewinnen, ohne dabei zu präjudizieren, daß diese tatsächlich existieren. In der Erfahrung finden wir eine ganze Menge von Merkmalen und Merkmalkomplexen dieser oder jener Gegenstände, so daß wir auf Grund der Erfahrung allein nichts darüber sagen können, ob sie zusammen auftreten müssen oder ob ihre Verbindung in ein und demselben Gegenstand nur dieses Mal zustande gekommen ist. Sogar wenn wir mehrmals ihr gleichzeitiges Auftreten in verschiedenen Gegenständen festgestellt haben, sind wir bekanntlich noch nicht berechtigt, die These aufzustellen, daß diese Merkmale in jedem realen Gegenstand der entsprechenden Art zusammen auftreten müssen. Nur eine apriorische Erkenntnis von einem Notwendigkeitszusammenhang - oder dem Einander-Ausschließen - gewisser Qualitäten in specie könnte uns in diesem Fall helfen, sofern wir in der Erfahrung auf unzweifelhafte Weise das Auftreten einer der Qualitäten festgestellt hätten, die - der apriorischen Erkenntnis gemäß - mit einer anderen Qualität in einem [gemeinsamen] Ganzen zusammen auftreten müssen. Wir könnten dann auf unzweifelhafte Weise feststellen, daß jeder Gegenstand, der ein Merkmal A besitzt, ein anderes Merkmal Β besitzen muß. Wo es aber nicht möglich ist, sich auf eine entsprechende Erkenntnis a priori zu berufen, da hat ausschließlich die Erfahrung etwas zu sagen. Auch in diesen Fällen darf man jedoch nicht vergessen, daß, wenn es in bezug auf gewisse reale Gegenstände möglich ist, festzustellen, daß bei ihnen neben wesentlichen Merkmalen ebenfalls verschiedene zufallige Merkmale auftreten, so nur deswegen, weil es das Wesen dieser Gegenstände gestattet, daß sie auch gewisse zufallige Merkmale besitzen, und streng einen Umkreis von

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"möglichen" zufalligen Merkmalen sowie die Grenzen deren Variabilität absteckt. Auch in diesem Fall bestimmt somit die entsprechende apriorische Erkenntnis die Grenzen, in denen sich die Tatsachen der Erfahrung bewegen müssen. In ihrem Streben danach, überall, wo dies möglich ist, eine unmittelbare apriorische Erkenntnis zu gewinnen, bemühen sich die Phänomenologen eben, einerseits fur die apriorischen deduktiven Theorien Grundlagen zu schaffen, andererseits den empirischen Untersuchungen die Grenzen der Möglichkeit abzustecken. Man soll nicht vermuten, daß sich diese verschiedenartigen Grundlagen der Einzelwissenschaften auf ein paar allgemeine und triviale Sätze beschränken. Die Vielfalt der idealen Gegenstände ist enorm. Sie gruppieren sich gleichsam in Familien, indem sie gesonderte Gesamtheiten bilden, welche die Phänomenologen die "Regionen" nennen. In jeder Region besteht eine fur sie kennzeichnende Ordnung, eine Zu- und Unterordnung nach den aufgewiesenen Verwandtschaften, notwendigen Zusammenhängen usw. Die Grenzen jeder dieser Regionen bestimmt ein generelles Moment, das zum Ganzheitsquale (zur Natur) aller Gegenstände gehört, die diese Region umfaßt. Jeder dieser Regionen kann auch eine apriorische Theorie von ihren Gegenständen und deren Zusammenhängen, eine - wie Husserl sagt - Ontologie (ζ. Β. die Ontologie der sittlichen Werte, die Onto72

logie der Kunst usw.) zugeordnet werden. Unter diesen [Ontologien] zeichnet sich die formale Ontologie als formale Theorie der Form der Gegenstände aller Art aus. In engem Zusammenhang mit dieser steht die formale Logik als formale Theorie der logischen Gebilde sowie deren Abhängigkeiten. Korrelativ gehört ihr eine formale Theorie der logischen Operationen (die Operationslogik) zu. All diese Ontologien - mindestens aber ihre in der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis festgelegten Grundlagen - zu schaffen, ist eine Bestrebimg der Phänomenologie. Dies ist indessen nicht ihre einzige oder spezifische Aufgabe. Es gibt noch ein weiteres Arbeitsfeld, das die Phänomenologie - wenigstens so verstanden, wie dies in den Werken Husserls skizziert worden ist - in ihren Besitz bringen will und mit Rücksicht worauf sie

72

[Vgl. E. Husserl, Ideen I, S. 112.]

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ihren Namen angenommen hat , ein Arbeitsfeld, das in mannigfachen Zusammenhängen mit der Erkenntnistheorie und der Metaphysik steht. Darauf bezieht sich das nächste Kapitel. IV. Über die immanente Erkenntnis und die phänomenologische Erkenntniseinstellung Ich möchte mich nunmehr dem Problem des sogenannten reinen Bewußtseins, dessen immanenter Erkenntnis und der Fundierung der philosophischen Untersuchungen in dieser Erkenntnis zuwenden. Die Betrachtungen über diese Fragen werden sich - dem vorangehenden Kapitel gemäß - einer 74 unmittelbaren apriorischen Erkenntnis bedienen. 75

Knüpfen wir noch einmal an die äußere Wahrnehmung an. Ich nehme eine Reihe von Dingen wahr, ζ. B. den Tisch, an dem ich arbeite, verschiedene kleine Gegenstände, die darauf liegen, das Zimmer, in dem ich mich befinde, durch das Fenster sehe ich die Straße, eine Reihe von Häusern, Leute, 73

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Der Name [Phänomenologie] ist meines Wissens zum ersten Mal in der zweiten Hälfte des XVm. Jahrhunderts bei Lambert und auch bei Kant erschienen. Am Anfang des XIX. Jahrhunderts bildete sie einen Bestandteil eines der grundlegenden Werke Hegels (der Phänomenologie des Geistes). Im XX. Jahrhundert hat Husserl wie auch C. Stumpf den Namen gebraucht Von den "phänomenologischen" Sätzen haben zu einer gewissen Zeit die Physiker gesprochen. Sie haben damit deskriptive Sätze gemeint. Diesen Problemen ist Husserls Werk Die Ideen zu einer reinen Phänomenologie gewidmet. Der erste Band dieses Werks ist 1913 erschienen. Die Bände Π und ΙΠ, angeblich schon damals verfaßt, sind erst nach Husserls Tode in der Gesamtausgabe seiner Schriften unter dem Titel Husserliana als die Bände ΙΠ-V in den Jahren 1950-52 erschienen, aber in einer Redaktion, die von Husserls Assistenten L. Landgrebe durchgeführt wurde. [Vgl. dazu K. Schuhmann, "Einleitung des Herausgebers" in: Husserliana m/1, S. ΧΧΧΠΙ-XLI und M. Biemel, "Einleitung des Herausgebers" in: Husserliana IV, S. XVI-XVDI.] Vgl. meinen Aufsatz "Gtówne fazy rozwoju filozofii Husserla" [deutsche Übersetzung: "Die Hauptphasen der Entwicklung der Philosophie Edmund Husserls", in: Ingarden (1998)]. In diesem Kapitel habe ich versucht, Husserls Ansichten in seinen Ideen zurückzuverfolgen. Ich mufl jedoch betonen, daß ich nicht alle Behauptungen, die ich hier bespreche, heutzutage als wahr ansehen kann. Ich kann mich jedoch mit den Behauptungen, die heute bei mir Zweifel erregen, [hier] nicht auseinandersetzen. Dies würde umfangreiche Vorbereitungen erfordern. Mein Buch unter dem Titel Spór o istnienie swiata ([Kraków] 1947/48) [Ingarden (1947/48); vgl. auch Ingarden (1964/65)] enthält einen Teil der Materialien zu derartigen Auseinandersetzungen. (1961)

Die immanente Erkenntnis und die phänomenologische Erkenntniseinstellung

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Autos usw. Außerdem weiß ich, auch wenn ich normalerweise nicht daran denke, daß sich weiter weg noch andere Dinge befinden, die Stadt, in der ich lebe, der Fluß, an dem diese Stadt liegt, Berge, Felder usw. All dies sind Dinge, die ich im Augenblick nicht sehe, die ich aber wahrnehmen kann, wenn ich mich ihnen entsprechend nähere. Dieses Wissen kann weder mit einem begrifflichen Denken noch mit einem anschaulichen Vorstellen gleichgesetzt werden, obwohl ich an all die entfernten Dinge ebenso denken und sie mir mehr oder minder deutlich vorstellen kann. Dies tue ich aber normalerweise nicht und besitze trotzdem irgendwie unwillkürlich dieses Wissen über die übrige Welt. Es ist vielmehr - wenn man so sagen darf - gleichsam ein bis zu einem gewissen Grad potentielles Gefühl der Existenz einer weiteren Umgebung von mir, ein Gefühl, das ich erst dadurch, daß ich darauf meine Aufmerksamkeit lenke, in eine Vorstellung oder ein Denken umwandeln kann. Doch sogar wenn ich das tue, kann sich dieser Gedanke oder diese Vorstellung nur auf eine ausgesonderte Einzelheit aus dieser mich umgebenden Welt beziehen, die als meine entferntere Umgebung für mich weiterhin die Gestalt dieses nicht explizierten oder nicht aktualisierten Wissens von ihr behalten muß. All die Gegenstände, die ich gerade wahrnehme, und ihre nähere oder fernere Umgebung gehören zu der mich umgebenden Welt, der auch ich und 7 ft andere Lebewesen angehören. In dieser Welt lebe ich und bewege mich, und je nach dem Ort, an dem ich mich gerade befinde, nehme ich einen anderen Teil von ihr wahr; die von mir früher gesehenen Dinge und Prozesse vergehen aber nicht, sobald ich aufhöre, sie wahrzunehmen, sondern bleiben Bestandteile dieser einen Welt, während sie irgendwo hinter dem Horizont meines Gesichtsfelds verschwinden, dort ihrem eigenen Schicksal überlassen. Einigermaßen ähnlich wie mit der Welt der räumlichen Dinge verhält es sich mit der Aufeinanderfolge der sich in der Zeit abspielenden Ereignisse und Prozesse. Diese Welt, von der nur dasjenige, was "jetzt" stattfindet, mir teilweise gegenwärtig sein kann, besitzt gleichsam einen Zeithorizont, der sich in die Vergangenheit und in die Zukunft erstreckt - [diejenige Verganηέ Zehn Jahre nach diesem Aufsatz wird dasselbe Heidegger in der Form des Satzes ausdrücken, daß "das Sein" für den Menschen so viel heiße wie "das In-der-Welt-sein". Im Grunde genommen ist das nur ein neues Wort für das, was Husserl in seinen Ideen von 1913 beschrieben hat (1961)

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

genheit], die mir bekannt oder unbekannt ist, die noch "lebendig" oder schon vergessen und gleichgültig ist, und eine solche, von der ich nie etwas gewußt habe. Während ich "jetzt" oder vielmehr in einer immer neu werdenden Gegenwart lebe, kann ich mich in Gedanken oder Wiedererinnerungen gleichsam in die Vergangenheit zurückversetzen, um sie "nachzuleben", oder auch mich in die mir noch unbekannte Zukunft begeben, in bezug aufweiche ich meine Pläne schmieden, gewisse Vorfalle voraussehen kann usw. Mag ich mich aber auch noch so bemühen, mich auf die Gegenwart zu beschränken, es bleibt immer ein mehr oder weniger bestimmter Horizont der Vergangenheit und der Zukunft bestehen. Wenn ich mich mit meinem Alltagsleben beschäftige oder sogar wenn ich an theoretischen Problemen arbeite, nehme ich gegenüber der realen Welt eine natürliche Einstellung ein. Diese Welt ist mir dann - ob mich das interessiert oder nicht - immer gegenwärtig als wirklich, und zwar nicht nur der ausgewählte Teil von ihr, wo ich mich gerade befinde, sondern überhaupt die Welt auch in den Teilen, die außerhalb meines Gesichtsfeldes liegen. Wenn ich mich ζ. B. mit gewissen idealen Gegenstände, sagen wir mit mathematischen Funktionen befasse, befinden sich andere mathematische Objekte nur in einem gewissen Maße im Umkreis meiner Gedanken. Sobald ich aber aufhöre, mich mit diesen Problemen zu beschäftigen, verschwindet die Welt der mathematischen Objekte überhaupt aus meinem Denkfeld und ist mir weder gegenwärtig noch als seiend gegeben. Indessen existiert für mich die reale Welt sogar dann, wenn ich mich ζ. B. mit unendlichen Mengen befasse. Diese "anderen Welten" (der Gegenstände der Geometrie, der Mengenlehre usw.) gehören weder zu dieser Welt, noch liegen sie irgendwo an deren Horizont, wie es sich eben mit den realen Gegenständen verhält (ζ. B. mit den Städten, die ich einmal besichtigt habe), von denen ich nur weiß, daß sie sich da und da befinden. Diese Welt bildet ein in sich geschlossenes Ganzes, innerhalb dessen sich auch andere Menschen und Tiere befinden, mit denen ich mich verständige und diese gemeinsame eine Welt teile. Zu dieser Welt kann ich mich auf verschiedene Weise verhalten: ich kann die in ihr auftretenden Dinge und Prozesse als Forscher betrachten, diese oder jene Sachverhalte feststellen, diese in Begriffe fassen, vergleichen oder unterscheiden, ζ. B. Bäume oder Tiere zählen, aus den erkannten Tatsachen

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diese oder jene Schlußfolgerungen ziehen und auf diese Weise mein oder unser Wissen über die Welt erweitern. Es kann aber geschehen, daß mir gewisse Dinge gefallen und andere nicht, ich kann über sie erfreut oder betrübt sein, sie begehren oder meiden, auf gewisse Ereignisse hoffen oder sie befürchten usw. Ich kann auf Dinge einwirken oder ihre Einwirkungen erfahren. An all meinen Verhaltensweisen gegenüber den Dingen und Prozessen dieser Welt sind jedoch auf irgendeine, mehr oder weniger wesentliche, zentrale oder periphere Weise meine Bewußtseinserlebnisse beteiligt, denen Descartes einst den gemeinsamen Namen "cogitatio" gegeben hat. Solange ich lebe, erlebe ich ständig etwas, wobei ich mich so oder anders verhalte; und indem ich es erlebe, verhalte ich mich nicht nur so oder anders (z. B. wohlwollend oder feindlich) zu den Gegenständen der mich umgebenden Welt, sondern bin auch irgendwie stets mir selbst gegenwärtig als jemand, der denkt, fühlt, sieht oder hört, begehrt oder sich ekelt, liebt oder haßt, sich entzückt oder empört usw. Als ein solcher befinde ich mich in der Welt, und immer finde ich die Welt als wirklich vor, auch dann, wenn ich einer Täuschung erliege und gewisse Gegenstände aus ihrem Bereich ausschließe. Diese natürliche Einstellung zur Welt, diese unwissentliche und unwillkürliche ständige Überzeugung von ihrer Existenz kann ich jedoch beliebig ändern. Ähnlich wie ich die in jedem aktuellen Urteil und in jedem Wahrnehmungsakt eingeschlossene Überzeugung von der Existenz des entsprechenden Sachverhalts oder Gegenstands auf charakteristische Weise ändern kann, und zwar nicht dadurch, daß ich sie durch die Überzeugung von der Nichtexistenz dieses Gegenstands oder durch die Infragestellung [seiner Existenz] ersetze, sondern indem ich die Haltung einer spezifischen Erkenntnisreserve einnehme, mich der Feststellung [der Existenz] enthalte oder, besser gesagt, meine Überzeugung von der Existenz eines Gegenstands neutralisiere, ähnlich kann ich auch die von mir dauernd gehegte und für meine natürliche Einstellung gegenüber der Welt charakteristische Einstellung neutralisieren. Husserl äußert sich darüber auf folgende Weise: "Es ist vielmehr etwas ganz Eigenes. Die Thesis, die wir vollzogen haben, geben wir nicht preis, wir ändern nichts an unserer Überzeugung, die in sich selbst bleibt, wie sie ist, solange wir nicht neue Urteilsmotive einfuhren: was wir eben nicht tun. Und doch erfahrt sie eine Modifikation - während sie in sich

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verbleibt, was sie ist, setzen wir sie gleichsam 'außer Aktion', wir 'schalten sie ans', wir 'klammern sie ein'. Sie ist weiter noch da, wie das Eingeklammerte in der Klammer, wie das Ausgeschaltete außerhalb des Zusammenhanges der Schaltung. Wir können auch sagen: Die Thesis ist Erlebnis, wir 77

machen von ihr aber keinen 'Gebrauch' (...)·" Diese Änderung der Erkenntniseinstellung, diese Neutralisierung der natürlichen Überzeugung von der Existenz der Welt hängt ganz von unserem Willen ab. An etwas zu zweifeln, während wir von dessen Existenz fest überzeugt sind, ist uns nicht möglich oder fallt uns jedenfalls sehr schwer, solange keine dafür erforderlichen Motive vorliegen. Wir zweifeln auch nicht an der Welt, haben dazu keinen Grund. Wir machen nur keinen Gebrauch von unserer ständig verbleibenden Überzeugung, nehmen gleichsam eine abwartende Haltung ein. Dies können wir immer und überall und in bezug auf alles tun. Eine solche Neutralisierung oder, wie Husserl sagt, phänomenologische epoché wenden wir auf die von uns gehegte Überzeugung von der Existenz der Welt an. Indem wir dies tun, verlassen wir die "natürliche Einstellung" gegenüber der Welt und nehmen die phänomenologische Einstellung ein. Vermöge dieser epoché werden alle bisher gefällten Urteile über die Dinge der realen Welt und über die Welt selbst außer Geltung gesetzt, denn sie sind gleichsam auf der Grundlage der von uns in der natürlichen Einstellung gehegten Überzeugung gefallt worden. Infolgedessen dürfen wir kein Urteil über irgendeinen wirklichen Gegenstand oder einen in der Welt bestehenden Sachverhalt fallen. Die Gültigkeit eines solchen Urteils muß suspendiert oder neutralisiert werden, und wir können uns nur um das Verständnis seines Sinnes bemühen. Ebenso dürfen wir nur den Sinn der wirklichen Existenz, der kategorialen Strukturen, der Komplexe von Qualitäten usw. erforschen. Dies können wir aber tun, ungeachtet der phänomenologischen Reduktion, denn die Welt und die Dinge in der Welt hören nicht auf, uns gegeben zu sein. Der Unterschied liegt nur darin, daß [die Welt] uns nicht mehr in naiver Weise als wirklich, sondern als ein in entsprechenden Bewußtseinsakten vermeinter Gegenstand, als ein Phänomen gegeben ist, das zu streng bestimmten cogitationes gehört.

77

Ideen I, S. 54. Vgl. auch ibid. §§ 109-112, die von der "Neutralitätsmodifikation" handeln.

Die immanente Erkenntnis und die phänomenologische Erkenntniseinstellung

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Die phänomenologische epoché dient in der Absicht Husserls dazu, das von ihm so genannte "reine Bewußtsein" aufzudecken. Es stellt sich nämlich heraus, daß, sogar wenn diese epoché auf die ganze reale Welt (mithin samt allen psychophysischen Individuen und mir selbst als einem von ihnen), auf Gott, der eventuell existiert, auf verschiedene Welten der idealen, z. B. mathematischen Gegenstände angewendet wird, immer noch eine Sphäre des individuellen, wenn auch (wie Husserl sagt) "irrealen" Seins übrig bleibt: die Sphäre des reinen Bewußtseins, das der phänomenologischen Reduktion nicht unterliegt. Diese Seinssphäre will die Phänomenologie - und zwar mit Hilfe einer apriorischen Erkenntnis - erforschen. Wie ist das möglich? Zählen wir zur realen Welt nicht alle psychischen Individuen mit? Und ist ein psychisches Individuum nicht dasselbe wie ein bewußtes Individuum? Ist das Psychische nicht dasselbe wie das Bewußtsein? Um auf diese Frage zu antworten - sagt Husserl - , überlegen wir vor allem, was zum Wesen des Bewußtseins überhaupt (in specie) gehört und gehen wieder von der äußeren Wahrnehmung als demjenigen Bewußtseinsakt aus, in dem sich die unmittelbare Erkenntnis der Dinge in der Welt vollzieht, die Erkenntnis, die - erkenntnistheoretisch gesagt - jedem Wissen über die reale Welt zugrunde liegt. Ich nehme also eine auf dem Tisch liegende Apfelsine wahr. Das wahrnehmungsmäßige Sehen oder Berühren dieses Dinges (und zwar genau mit den Qualitäten, in der relativen Helligkeit oder Dunkelheit oder Unbestimmtheit in mancher Beziehung, in derselben Ausrichtung mir, dem Wahrnehmenden, gegenüber usw. - wie dies gerade bei der vorliegenden Wahrnehmung der Fall ist) ist ein Bewußtseinserlebnis, eine cogitatio. Die Apfelsine aber mit ihren Eigenschaften, mit ihrer Ausdehnung und Lage im (gesehenen) Raum usw. ist ein Wahrnehmungsgegenstand, ein cogitatum. Jede cogitatio ist ihrem Wesen nach ein Bewußtsein von etwas, sie betrifft etwas, bezieht sich auf einen Gegenstand, vermeint diesen. Im Hinblick darauf wird sie ein intentionales Erlebnis78 genannt. Liegt dabei ein Moment vor, das darin

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Genauer gesagt: ein Erlebnis, das eine Intention enthält, die sich auf etwas bezieht, die etwas bestimmt Deswegen habe ich später lieber von einem "Intentions"erlebnis gesprochen, um die Vieldeutigkeit eines anderen Terminus zu vermeiden, nämlich des Terminus "inten-

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Die Bestrehungen der Phänomenologen

besteht, daß ich mich bewußt auf den Gegenstand richte und ihn in zentraler (und nicht peripherer, beiläufiger) Weise erfasse, dann sagen wir, daß die 79

Wahrnehmung ein "aktuelles" Erlebnis ist. Wenn ich die Apfelsine wahrnehme, mich ihr aufmerksam zuwende und sie in ihren Eigenschaften erfasse, vollziehe ich somit ein "aktuelles" Erlebnis. Gleichzeitig treten aber in meinem Gesichtsfeld eine ganze Reihe von anderen Dingen (der Tisch, die Bücher, die Papiere usw.) auf, doch auf sie wendet sich mein geistiger Blick nicht, und sie werden von mir nicht erfaßt. Sie gehören zu einem wahrnehmungmäßigen Gesichtsfeld, einem Hintergrund oder Hof 80 [der Wahrnehmung], aus dem ich gleichsam die Apfelsine heraussondere, der ich mich zuwende. Dieses Hintergrunds bin ich mir auch bewußt und kann mich auf ihn richten, ihn in einem Wahrnehmungsakt erfassen; dann wird etwas anderes zum Hintergrund, u. a. vielleicht die von mir soeben wahrgenommene Apfelsine. Die einzelnen Erlebnisse gehen ineinander auf kontinuierliche Weise über, so daß sie nur Phasen eines kontinuierlichen und ununterbrochen mit 81 verschiedenen Inhalten und Akten ausgefüllten Erlebnisstroms sind, in dem immer ein aktuelles Erlebnis auftreten muß, das mit einem ganzen Hinter82

grund des inaktuellen Bewußtseins verknüpft ist. Sowohl die aktuellen wie die inaktuellen Erlebnisse sind intentional. Wenn wir ein Erlebnis einfach erleben, ist dieses selbst uns noch nicht "bewußt", d. h. es bildet keinen intentionalen Gegenstand einer Vermeinung, obwohl es bewußt erlebt wird. 83 Es gehört jedoch zu seinem Wesen, daß es immer zum Gegenstand

tionaler Gegenstand", als Korrelat eines Aktes, der eine Intention enthält, mithin einen Intentionsakt ausmacht Hier verwende ich jedoch die Terminologie Husserls. (1961) 79

Auch dies ist ein Terminus Husserls [vgl. E. Husserl, Ideen I, S. 61-63].

80 Diesen Begriff hat meines Wissens als erster William James in seiner Psychologie einge81 führt [Vgl. W. James, The Principles of Psychology, New York 1950, Bd. Π, S. 13ff.] Dies ist auch ein Terminus von W. James. [Vgl. W. James, The Principles of Psychology, New York 1950, Bd. I, S. 224ff.] 82 Das inaktuelle Bewußtsein des Hintergrunds darf natürlich nicht gleichgesetzt werden mit der Mitgegebenheit mancher Gegenstandsmerkmale in der Wahrnehmung, von der ich im vorigen Kapitel gesprochen habe. Diese Mitgegebenheit ist ein immanentes Moment jeder 83 Wahrnehmung, gehört also zum Wahrnehmungsafc. Den Unterschied zwischen dem Bewußtseinserlebnis, dem Empfinden und dem Wahrnehmen eines äußeren Gegenstands oder auch eines Erlebnisses habe ich näher in meiner Ab-

Die immanente Erkenntnis und die phänomenologische Erkenntniseinsteilung

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eines Erlebnisses werden kann, in dem das Subjekt es als etwas wahrnimmt, was schon früher gewesen war, bevor es im neuen Erlebnis erfaßt wurde, das wir einen Akt der Reflexion nennen. Dasselbe betrifft nicht nur die Bewußtseinsakte, die wirklich erlebt worden sind, sondern auch alle Erlebnisse, die wir uns nur "in" der Phantasie, in der Wiedererinnerung, in der Vorstellung fremder Erlebnisse usw. vorstellen. Ein intentionales Erlebnis, zu dessen Wesen gehört, daß sein intentionaler Gegenstand, sofern er überhaupt existiert, zu demselben Erlebnisstrom gehört wie das Erlebnis selbst, nennt Husserl ein "immanent gerichtetes Erlebnis".84 Dies betrifft nicht nur all die Fälle, in denen sich eine cogitatio auf eine andere cogitatio desselben Subjekts bzw. auf Momente richtet, die in einem solchen Erlebnis reell enthalten sind. Transzendent gerichtete (kürzer: transzendente) Akte nennen wir all die Erlebnisse, die ihrem Wesen nach diese Eigentümlichkeit nicht besitzen. Unter den immanent gerichteten intentionalen Erlebnissen muß die immanente Wahrnehmung hervorgehoben werden. In diesem Fall "bilden Wahrnehmung und Wahrgenommenes wesensmäßig eine unvermittelte Ein85

heit, die einer einzigen konkreten cogitatio." Die immanente Wahrnehmung schließt in sich ihren intentionalen Gegenstand auf solch eine Weise ein, daß er nur durch Abstraktion unterschieden werden kann als etwas, was gegenüber dem ganzen Erlebnis wesentlich unselbständig ist. Diese Einheit ist so untrennbar, daß das Wahrnehmen nicht existieren würde, wenn das wahrgenommene Erlebnis nicht existierte. Dies betrifft jedoch nicht andere immanent gerichtete Erlebnisse, z. B. eine Erinnerung, die sich auf eines meiner vergangenen Erlebnisse, speziell z. B. auf eine Erinnerung richtet. Die gegenwärtige Erinnerung schließt in sich die frühere Erinnerung als ihr reelles Moment nicht ein. Die letztere könnte trotz der Existenz der ersteren nicht existieren, obwohl sie, wenn sie existiert, zu demselben Erlebnisstrom gehört.

handlung "Über die Gefahr einer petitio principii in der Erkenntnistheorie", Jahrbuchför Philosophie und phänomenologische Forschung, 4 (1921), [Ingarden (1921), S. 546-568; auch in Ingarden (1994), S. 201-227] besprochen. 84 85

Vgl. E. Husserl, Ideen I, S. 68. E. Husserl, Ideen I, S. 68.

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

Kehren wir jetzt zur Wahrnehmung eines Dinges, ζ. B. jener Apfelsine zurück, und fragen wir, ob wir es in diesem Fall mit einem transzendenten oder einem immanenten Erlebnis zu tun haben. Zuerst müssen wir uns aber darüber verständigen, was wir damit meinen, wenn wir von einem "Ding" (in diesem Fall: von einer Apfelsine) sprechen. Wenn wir uns in der natürlichen Erkenntniseinstellung befinden, dann halten wir - abgesehen von eventuellen Täuschungen und Ansichten, die durch besondere Wahrnehmungsumstände bedingt sein mögen - den uns in verschiedenen Wahmehmungsmannigfaltigkeiten leibhaftig und selbstgegenwärtig gegebenen Gegenstand fur einen solchen, der autonom in Wirklichkeit existiert und mit den Eigenschaftskomplexen ausgestattet ist, die er in den Wahrnehmungen darbietet. Wenn ich aber - übrigens in derselben Einstellung verbleibend - die Erkenntnis der mich umgebenden Dinge mit den Mitteln fortführe, deren sich die Physik und die Chemie bedienen, dann führe ich gleichsam anstelle dieses wahrgenommenen Gegenstands einen "physikalischen Gegenstand" ein. Dieser Gegenstand unterscheidet sich prinzipiell von den wahrgenommenen Dingen. Er ist nämlich nicht nur kein einzelnes Individuum mehr, sondern gleichsam eine Atomwolke; darüber hinaus besitzen auch diese Atome nicht diejenigen Eigenschaften, die die wahrgenommenen Dinge besitzen oder zu besitzen scheinen, weil ihnen sowohl die "sekundären" Qualitäten (die sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten) als auch sogar die sogenannten primären Qualitäten fehlen sollen, die der sogenannte kritische Realismus zu einer gewissen Zeit (ζ. B. bei Locke, aber auch bei Descartes) den materiellen Dingen zugeschrieben hat. Denn man kann ζ. B. den Elektronen oder dem Atomkern nicht die Eigenschaft einer Gestalt in dem Sinne zuschreiben, in dem die von uns wahrgenommenen Dinge diese oder jene Gestalt besitzen. Die Eigenschaften dieser physikalischen Gegenstände sind letztendlich durch gewisse mathematische Ausdrücke bestimmt und bilden höchstens gewisse Korrelate der primären und sekundären Qualitäten, die jeweils in der Erfahrung erscheinen. Mögen jedoch die ihnen durch die Physikochemie zugeschriebenen Eigenschaften so oder anders sein - diese Frage gehört in den Kompetenzbereich dieser Wissenschaften. Für die hier durchgeführten Betrachtungen sind nur die folgenden Punkte wichtig:

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1. Die existenziale Beziehung des physikalischen Gegenstands zum wahrgenommenen Gegenstand läßt sich nicht ganz leicht bestimmen. Einerseits steht es außer Zweifel, daß der physikalische Gegenstand in der Intention eingeführt wird, daß gerade er im eigentlichen Sinne der reale Gegenstand ist, dasjenige, was gegenüber den Erkenntnistätigkeiten autonom existiert. Dies hat zur Folge, daß der unmittelbar wahrgenommene Gegenstand seinen Charakter der Wirklichkeit gleichsam auf Kosten des physikalischen Gegenstands verliert, selber aber - wie man gewöhnlich sagt, was aber nicht ganz klar ist - zu etwas "Subjektivem" wird, gleichsam zu einem reinen Schein einer Wirklichkeit, etwas, was im Sinne der Seinsautonomie eigentlich nicht existiert, weil das Existierende erst der physikalische Gegenstand ist. Andererseits kann jedoch der wahrgenommene Gegenstand auch nicht zu einer reinen Täuschung bzw. zu etwas, was überhaupt nicht existiert, herabgesetzt werden. Er kann auch nicht zur Rolle einer "Erscheinung" degradiert werden, durch welche der physikalische Gegenstand sich uns in der Erkenntnis bekundet. Die "Erscheinungen" machen nämlich die Ansichten aus, die wir erleben, während wir die Dinge wahrnehmen, und diese Dinge selbst, ihre Eigenschaften bieten uns den physikalischen Gegenstand nicht dar, bringen ihn nicht zur unmittelbaren Selbstgegebenheit. Man könnte vielmehr sagen, daß dasjenige, was uns vom Ding in der Wahrnehmung gegeben ist, den physikalischen Gegenstand gleichsam verdeckt. Nähmen wir jedoch an, daß das wahrgenommene Ding in gar keinem Sinne existiert, dann könnten wir auch dem physikalischen Gegenstand keine Existenz zuerkennen. Denn die Argumentation zugunsten gewisser Eigenschaften des physikalischen Gegenstands verläuft immer so, daß, weil die wahrgenommenen Dinge so und so beschaffen sind, der physikalische Gegenstand diese und nicht andere Eigenschaften besitzt. Der wahrgenommene Gegenstand ist nicht ein Alptraum des Subjekts, sondern etwas, was in seiner Gestalt dem Subjekt gegeben sein muß, wenn in den physikalischen Gegenständen die und die "realen" Prozesse vorgehen. Diese Bedenken regen sich, weil sich das Verhältnis der beiden Gegenstände zueinander auch noch in anderen Hinsichten schwer bestimmen läßt. Einerseits scheinen die beiden Gegenstände sich voneinander ganz zu unterscheiden, zwei getrennte Gegenstände zu sein; dafür würde wie ich schon erwähnt habe - der Umstand sprechen, daß der eine ein einzelner Gegenstand ist, während der andere eine Vielheit von Atomen

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

ausmacht, und darüber hinaus daß die ihnen zugeschriebenen Eigenschaften ganz verschieden sind. Andererseits scheint aber der physikalische Gegenstand gerade derselbe zu sein wie das wahrgenommene Ding; denn er wird eben anstelle des wahrgenommenen Gegenstands eingeführt: er soll dasjenige ausmachen, was in seinem originellen (durch unsere Wahrnehmensweise nicht verfälschten) Wesen das von uns wahrgenommene Ding eigentlich ist, nur daß wir dieses Ding ganz anders sehen als es an sich ist. Es ist gerade so, wie es die Physikochemie bestimmt, und es erscheint nur so, wie wir es wahrnehmen. Wäre es einfach im Verhältnis zum physikalischen Gegenstand etwas anderes, dann ließe sich nicht verstehen, warum wir im Resultat eines (wahrnehmungsmäßig-denkmäßigen) Erkenntnisprozesses nur den physikalischen Gegenstand fur real halten, den wahrgenommenen Gegenstand hingegen existenzial für ein sekundäres Gebilde, das nur vermöge der Wahrnehmung erscheint. Wären sie ganz verschiedene Gegenstände, dann könnten sie gewissermaßen gleichrangig nebeneinander existieren. Zwischen den Eigenschaften des wahrgenommenen Gegenstands und denjenigen des entsprechenden physikalischen Gegenstands bestünde dann kein Verhältnis des Sich-Ausschließens. Indessen besteht dieses Sich-Ausschließen gerade zu Recht. Wenn das Licht in der physikalischen Bedeutung ein Wellenprozeß (eine elektromagnetische Störung) ist, der von einer Atomwolke abgelenkt wird, dann ist es nicht möglich, daß diese "Wolke" rot ist (im Sinne einer uns in der Wahrnehmung gegebenen Qualität), und wenn das Ding rot ist, dann ist es nicht möglich, daß es überhaupt farblos ist und nur die Wellen mit einer bestimmten Länge ablenkt. Es ist nur möglich, daß es, indem es diese bestimmten Wellen ablenkt, jemandem als rot erscheint, jemandem, der sich in seiner Wahrnehmung eines solchen Sehorgans bedient, wie es ein wahrnehmender Mensch besitzt. Man könnte sagen, daß die beiden Gegenstände zunächst nur darauf einen Ansprach erheben, ein und derselbe zu sein; sodann würde aber der erste, d. h. der physikalische, den zweiten, d. h. den wahrgenommenen, aus dem Sein verdrängen und unter Berücksichtigung der psychophysischen Eigenschaften des wahrnehmenden Subjekts dazu fuhren, daß diesem Subjekt sein gleichsam zweites Gesicht, eine gewisse Maske mit bestimmten Eigenschaften erschiene, so daß im Letztergebnis des ganzen Erkenntnisprozesses eine Zuordnung stattfände: einem bestimmten wirklichen realen Gegenstand - dem physikalischen - würde ein nur scheinbar

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wirklicher, "phänomenaler" wahrgenommener Gegenstand zugeordnet, der den physikalischen Gegenstand (so wie dieser an sich ist) gleichsam verdecken würde. "Verdecken", denn - ganz einfach gesagt - wenn uns eine auf dem Tisch liegende Apfelsine gegeben ist, sehen wir weder eine Atomwolke noch die durch diese abgelenkten elektromagnetischen Wellen. 2. Wie aber das Verhältnis der beiden Gegenstände zueinander nicht ganz übersichtlich ist, so bleibt auch die Frage zu klären, auf welche Weise der eine Gegenstand den anderen determiniert. Daß ein Verhältnis der Determination zwischen ihnen besteht, scheint sicher zu sein. Man kann aber fragen, welcher der Gegenstände determinierend und welcher determiniert ist. Und in dieser Frage kann man auf zweifache Weise argumentieren. Man kann nämlich [erstens] diese Frage vom erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt aus erwägen, und dann scheint das in der Wahrnehmung gegebene Ding der bestimmende Faktor und der physikalische Gegenstand der determinierte Faktor zu sein. Das wahrgenommene Ding bildet - wenn man so sagen darf dieses gegenständliche prim, von dessen Eigenschaften ausgehend wir zu erschließen versuchen, wie beschaffen der physikalische Gegenstand ist. Von den Eigenschaften der Dinge "ausgehend", d. h. mit der Tatsache rechnend, daß sich die Dinge uns mit den und den wahrnehmungsmäßig gegebenen Merkmalen darstellen, versuchen wir, den physikalischen Gegenstand entsprechend zu bestimmen. Dies geschieht deswegen, weil uns in der Wahrnehmung unter verschiedenen begleitenden Umständen entweder verschiedene Sachverhalte gegeben sind oder gewisse phänomenal gegebene Prozesse, die entweder mit den uns schon bekannten Eigenschaften der wahrgenommenen Dinge oder mit anderen wahrgenommenen Prozessen in Widerstreit stehen. Infolgedessen erscheinen Gegenstandssituationen, die uns innerhalb der Wahrnehmungsgegebenheiten fur sich allein unverständlich vorkommen, und wir suchen nach einem Ausweg aus der erkenntnismäßig mißlichen Situation gerade dadurch, daß wir gewisse in der Wahrnehmung gegebene Eigenschaften der Dinge oder Prozesse als bloße "Äußerungen" oder Symptome von etwas betrachten, was, während es wirklich ist, für sich selbst in der Wahrnehmung nicht erscheint, sondern nur bewirkt, daß solche unverständlichen "Erscheinungen" zustande kommen. Ein exemplum: die Interferenzstreifen im Experiment Fresnells, die mit der Hypothese eines wellenartigen "Licht"prozesses erklärt werden, so daß sich die Interferenzstreifen später nicht nur

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

als etwas erweisen, was innerhalb der Erfahrungsgegebenheiten mit anderen Gegebenheiten zusammenstimmt, sondern auch als etwas, was unter den Voraussetzungen der Wellentheorie des Lichts als Erscheinung vorkommen muß. Verschiedene Eigenschaften des Wellenprozesses sind so gewählt, daß sie den Eigenschaften der Interferenzstreifen genau entsprechen, ζ. B. ist die Wellenlänge an die Abstände zwischen den Streifen angepaßt usw. Auf diese Weise werden die Eigenschaften des physikalischen Gegenstands durch die Eigenschaften der wahrgenommenen Dinge oder Prozesse bestimmt oder erkenntnismäßig determiniert. Und wenn unter den Wahrnehmungsgegebenheiten neue Tatsachen erscheinen, die erneute Unstimmigkeiten entweder innerhalb der Wahrnehmungsgegebenheiten selbst oder zwischen diesen Gegebenheiten und schon anerkannten Eigenschaften des physikalischen Gegenstands verursachen, dann weichen sozusagen die Eigenschaften des letzteren Gegenstands unter dem Druck der Erfahrungsgegebenheiten, so daß wir gezwungen sind, in der bereits vorliegenden Theorie des physikalischen Gegenstands etwas zu ändern, um die ihm zugeschriebenen Eigenschaften an neue Erfahrungsgegebenheiten anzupassen. So ist es eben mit der Lichttheorie passiert, als der Effekt Comptons entdeckt worden ist, der die Aufrechterhai86

tung der Wellentheorie des Lichts in ihrer früheren Gestalt verhindert und in der Physik de facto eine große Verwirrung verursacht hat. Die Physiker versuchen bis heute, diese Verwirrung zu beseitigen, indem sie verschiedene riskante Hypothesen verwenden, die aber immer so konzipiert sind, daß sie den unzweifelhaften Erfahrungsgegebenheiten, die beim mehrmalig geprüften Experimentieren gewonnen werden, den Vorzug geben. Kurz gesagt: in diesem Aspekt sind der entscheidende und determinierende Faktor die Wahrnehmungsgegebenheiten, die natürlich die Bedingungen mitberücksichtigen, unter denen sie vorkommen (diese Bedingungen werden aber immer auf dem Weg einer Wahrnehmung festgelegt, manchmal einer mittelbaren Wahrnehmung, mit Hilfe von Meßapparaten). Der determinierte Faktor ist dagegen der physikalische Gegenstand bzw. die ganzen Gegenstandssituationen in

or Dasselbe hat das Ergebnis des bekannten Experiments von Michelson verursacht, das ebenfalls etwas Unerwartetes und mit der damaligen Theorie des Lichts Unvereinbares war und die Physiker dazu genötigt hat, diese Theorie zu revidieren, ja die Physik überhaupt umzubauen.

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dieser Welt, die rein denkmäßig auf Grund dessen bestimmt werden, was in der Erfahrung festgestellt worden ist. Die Situation kehrt sich dagegen um, wenn wir das Verhältnis zwischen diesen beiden Gegenständen unter dem Aspekt der zwischen ihnen bestehenden Seinsabhängigkeiten betrachten. Dann ist der grundlegende und bestimmende Faktor der physikalische Gegenstand (die Atomwolke oder die einzelnen Atome) und der sekundäre und determinierte Faktor der wahrgenommene Gegenstand bzw. gewisse Veränderungen und Prozesse, die in der wahrnehmungsmäßig gegebenen Welt vorgehen. Dabei können verschiedene Fälle vorliegen, ζ. B. deijenige, in dem der physikalische Gegenstand und die physikalischen Prozesse einen Faktor ausmachen, der die in der Wahrnehmung gegebenen Dinge und Prozesse ausreichend bestimmt, oder [der Fall, in dem] zu diesen bestimmenden Faktoren auch noch das psychophysische Subjekt gehört, doch so begriffen, daß sein Körper als ein Gegenstand der 87

physikalischen Welt erfaßt wird. Dann ist das in der äußeren Wahrnehmung Gegebene eine gewisse Resultante einer Begegnung zweier physikalischer Gegenstände - der Dinge außerhalb des Menschen und des menschlichen Körpers bzw. der sich an ihnen abspielenden Prozesse. Nur noch der Bewußtseinsverlauf selbst, der das ausmacht, was wir das Wahrnehmen nennen, sowie der Verband von Qualitäten, mit denen die wahrgenommenen Dinge auftreten, brechen dann aus dieser Welt von Atomkernen, Elektronen usw. und elektromagnetischen Prozessen aus als etwas qualitativ prinzipiell Andersartiges, zugleich aber als etwas, dem der Charakter eines Seins zugeschrieben wird, das sowohl seiner Existenz nach als auch in der Zusammenstellung seiner Qualitäten von der Existenz und Beschaffenheit der "materiellen" Gegenstände und Prozesse im Verständnis der Physik bzw. Physikochemie abgeleitet ist. Auf welche Weise aber die Wahmehmungsgegebenheiten und Bewußtseinsverläufe durch die ihnen gegenüber ursprünglich existierenden physikalischen Gegenstände bestimmt werden - bleibt bei dieser Auffassung ein nach wie vor ungeklärtes Rätsel; und diese Frage wird nur scheinbar gelöst durch entweder die Hypothese, der zufolge die Wahmehmungsgegebenheiten 87

Dies ist besonders sichtbar, seitdem die physiologischen Prozesse als biochemische Prozesse betrachtet werden und insbesondere die Nervenprozesse auf gewisse elektrische Strömungen zurückgeführt werden.

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und Bewußtseinsverläufe durch physikalische Prozesse bzw. Gegenstände bedingt werden, oder durch die vorsichtigste, zugleich aber nichtssagende und die Möglichkeit einer Determinierung des einen Gegenstands durch den anderen eigentlich ablehnende Hypothese, wonach diese beiden so prinzipiell verschiedenen Welten einander - im Grunde nur denkmäßig - zugeordnet seien. Die Anwendung der ersten Hypothese hat zur Folge, daß alle Bewußtseinsprozesse "naturalisiert", d. h. zu den Prozessen gezählt werden, die sich innerhalb der realen Welt abspielen, die dabei als die Welt der Materie im physikalischen oder physikochemischen Verständnis begriffen wird. Bei dieser Gelegenheit werden zu jener Welt der Bewußtseins"erscheinungen", der "psychischen" Erscheinungen auf einen Schlag alle gegenständlichen Gegebenheiten der äußeren Wahrnehmung gerechnet, als ob sie ein Bestandteil der entsprechenden Bewußtseinserlebnisse bildeten. Diese Naturalisierung des Bewußtseins geht also gleichsam automatisch einher mit einer "Psychologisierung" des ganzen konkreten "Angesichts" der uns umgebenden Welt, die von der Ebene der wahrgenommenen Dinge zu einem "subjektiven Aspekt" der materiellen wirklichen Welt herabsinkt und sodann ins Bewußtsein als seine besondere Komponente eingeordnet wird. Sobald wir nach Husserls Einweisungen die phänomenologische Reduktion durchführen, müssen wir alle Urteile über die in der äußeren Wahrnehmung gegebenen Gegenstände und zugleich auch alle Urteile über die ent88

sprechenden physikalischen Gegenstände außer Geltung setzen. Eine weitere Folge ist, daß alle Urteile über psychophysische Gegenstände als Bestandteile der realen Welt suspendiert werden, mithin u. a. Urteile, die die Bewußtseinserlebnisse als reale Prozesse betrachten, die in der Welt vorkommen und durch andere, u. a. materielle Prozesse bedingt werden. Dann können die wahrgenommenen Dinge, die sich an ihnen abspielenden Prozesse, die Atome usw. innerhalb der phänomenologischen Untersuchungen lediglich als solche betrachtet werden, die bloß in den Bewußtseinsakten vermeint sind als Korrelate dieser Akte bzw. deren entsprechend zusammengestellter Mannigfaltigkeiten. Wir können von ihnen nur als von durch die Akte bestimmten Gegenstandssinnen sprechen; und anstatt nach der Existenz 88

Wir brauchen strenggenommen nur die Urteile der ersten Art außer Geltung zu setzen, denn dadurch entziehen wir den Urteilen über physikalische Gegenstände ihre Erkenntnisgrundlage.

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und Beschaffenheit der realen Wahrnehmungsgegenstände oder physikalischen Gegenstände zu fragen, fragen wir nur danach, ob die Gegenstandssinne auf rechtmäßige Weise gebildet worden sind, ob sie durch den Verlauf der Erfahrung und insbesondere durch die vom Erkenntnissubjekt erlebten Ansichten gebührend begründet werden. Wenn wir jetzt überlegen, ob die äußere Wahrnehmung transzendent ist, dann sollen wir nicht fragen, ob das darin wahrgenommene Ding zu demselben Bewußtseinsstrom wie der betreffende Wahrnehmungsakt gehört oder nicht, sofern wir vom Ding selbst nichts behaupten dürfen; wir sollen dagegen fragen, ob der Sinn dieses Dings (bzw. das Ding genau so genommen, wie es gemeint ist) derart ist, daß dieses Ding zum Bewußtseinsstrom zu rechnen oder davon auszuschließen ist. Die Antwort lautet, daß das gemeinte Ding (das Phänomen) etwas ist, was über den Bewußtseinsstrom und dessen verschiedene Komponenten hinausgeht. Darauf weist schon die von uns früher durchgeführte Analyse der Wahrnehmung hin, speziell aber der Unterschied zwischen dem Gegenstand, der in der Wahrnehmung gegeben ist (seinem Sinn gemäß in ihr - wie Husserl sagt - "konstituiert" wird) und den 89

einzelnen Ansichten, die uns dieses Ding vergegenwärtigen. Die äußere Wahrnehmung ist also ein "transzendent gerichteter" oder kürzer: transzendenter Akt. A fortiori bildet den transzendenten Gegenstand, seinem charakteristischen Sinn gemäß, der physikalische Gegenstand, der das intentionale Korrelat einer Reihe von Denkoperationen ist, die mit einer bestimmten Mannigfaltigkeit von äußeren Wahrnehmungen in strengem Zusammenhang stehen. Man kann sagen, daß der Unterschied zwischen dem Sinn des wahrgenommenen Gegenstands und dem Sinn des physikalischen Gegenstands vom erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt aus nur darin besteht, daß sie Erzeugnisse von verschiedenen Phasen des Erkennens der physikalischen Gegenstände sind. Husserl sagt, sie seien nur zwei verschiedene "Schichten" im Prozeß der Konstitution des Sinnes eines äußeren (materiellen) Gegenstands in Bewußtseinserlebnissen. Im Gegensatz dazu ist die Wahrnehmung eines eigenen aktuellen Bewußtseinserlebnisses (z. B. einer soeben vollzogenen äußeren Wahrnehmung

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Vgl. unsere Ausführungen in der Abhandlung "Uber die Motive, die Husserl zum transzendentalen Idealismus geführt haben" [deutsche Obersetzung in: Ingarden (1998), S. 274ff.].

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eines bestimmten Dinges) nicht nur "immanent gerichtet", sondern geradezu "immanent" sensu stricto. Das, was in ihr erfaßt wird, ist - seinem eigenen Sinn gemäß - etwas, was sich nicht erst in einer Ansichtsmannigfaltigkeit "konstituiert", was nicht durch die Ansichten zur Erscheinung kommt, sondern was sozusagen ohne Ansichten erfaßt wird und was - seinem eigenen Sinn gemäß - 1) selbst ein Bewußtseinserlebnis ist, 2) ein Erlebnis ist, das zu demselben Bewußtseinsstrom gehört wie der Akt, in dem es erfaßt wird, und 90

3) zusammen mit diesem Akt "eine unvermittelte Einheit" bildet. Es ist darüber hinaus, wie Husserl sagt, ein "reines" Erlebnis, d. h. ein Erlebnis, das von einer Auffassung gereinigt ist, die es "naturalisiert", d. h. es als einen realen Prozeß und eine Äußerung (ein Symptom) von realen Prozessen eines realen psychophysischen menschlichen Individuums betrachtet. Diese Auffassung fällt unter die Klausel der phänomenologischen Reduktion; die Urteile über uns selbst als Menschen, in denen gewisse physische, physiologische und psychische Prozesse ablaufen, werden somit außer Geltung gesetzt, doch ihre "Neutralisierung" tastet die in der immanenten Wahrnehmung eingeschlossene Seinsthese nicht an. Die Bewußtseinserlebnisse werfen nur - bildlich gesagt - ein Gewand ab, das ihrer Natur fremd ist und durch die sie "naturalisierenden" Auffassungen ihnen aufgeworfen worden ist, und bleiben für sich selbst in ihrer reinen originellen Gestalt. So verhält es sich bei der immanenten Wahrnehmung. Neben ihr gibt es aber die "innere Wahrnehmung", in der wir z. B. auf unsere eigenen Charakterzüge gerichtet sind, auf gewisse in uns als psychischen Subjekten eine Zeitlang dauernde Zustände oder in uns vorgehende Veränderungen (z. B. das Altern) usw. In diesem Fall geht - wie es sich zeigen läßt - das in solchen inneren Wahrnehmungen Gegebene ebenfalls über die Wahrnehmungserlebnisse selbst hinaus, erscheint durch einzigartige Ansichten und "konstituiert sich" in diesen Ansichten als ein vom Sinn der äußeren Dinge ganz verschiedener "Sinn" eines Psychischen. Dementsprechend muß man eine Unterscheidung machen zwischen dem sogenannten "reinen Ich" - dem Subjekt, das die Akte des reinen Bewußtseins vollzieht - und dem "Ich" im Sinne eines realen psychophysischen Individuums, einer Person, der dieser oder jener reale Charakter eigen ist usw. Das "Ich" im Sinne einer realen

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[Vgl. E. Husserl, Ideen I, S. 68.]

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menschlichen Person ist gegenüber dem jeweiligen Bewußtseinsstrom und dem die Akte dieses Bewußtseins vollziehenden "reinen Ich" ebenso "transzendent" wie alle Gegenstände der Außenwelt transzendent sind. Der Unterschied zwischen ihnen betrifft einerseits den Gehalt ihres gegenständlichen Sinnes, andererseits die Art und Weise, wie ihr Sinn sich konstituiert. Im Zusammenhang mit der Gegenüberstellung der transzendent gerichteten Erkenntnisakte und der immanenten Wahrnehmung stellt Husserl eine fundamentale These über einen Unterschied auf, der - wenn man so sagen darf - den Erkenntniswert der darin gewonnenen Ergebnisse betrifft: Ein Akt der immanenten Wahrnehmung sensu stricto liefert ein absolut wahres und sicheres Ergebnis: Das, was im betreffenden Akt dieser Wahrnehmung erfaßt (zur Gegebenheit gebracht) worden ist, kann nicht nicht existieren und nicht anders sein, als es gegeben ist. Demgegenüber kann das, was in einer transzendenten (äußeren oder inneren) Wahrnehmung gegeben ist, trotz der Existenz der Wahrnehmungsakte, in denen sein Sinn sich konstituiert, auch nicht existieren. Da es uns zugleich immer nur durch Ansichten gegeben ist, die es nur von einer bestimmten Seite her zur Erscheinung bringen, und [da es immer] nur in verschiedenen perspektivischen Verkürzungen zur Gegebenheit kommt, braucht es nicht so zu sein, wie es gerade gegeben ist. Mit anderen Worten: die in einer immanenten Wahrnehmung gewonnene Erkenntnis ist immer absolut, die in einer transzendenten Wahrnehmung gewonnene Erkenntnis ist dagegen immer relativ und im Prinzip nie ganz sicher. Der weitere Verlauf der Erfahrung kann immer so sein, daß er die Irrtümlichkeit der bisherigen Ergebnisse nachweist. A fortiori gilt dies für die transzendenten Erkenntnisse, die in den Denkoperationen gewonnen werden, die sich auf den in den transzendenten Wahrnehmungen gewonnenen Ergebnissen gleichsam aufbauen. Mit anderen Worten: die phänomenologische Reduktion läßt uns nach Husserl die Existenz eines absoluten Seienden entdecken: des Stroms "meines" reinen Bewußtseins, in Gegenüberstellung zu allem anderen Seienden, das - seinem eigenen Sinn gemäß - transzendent ist und in den entsprechenden Mannigfaltigkeiten von Erlebnissen des reinen Bewußtseins nur "konstituiert" wird. Bei einer Erhaltung aller Bewußtseinserlebnisse kann das transzendente Sein immer noch auch nicht existieren, denn diese Erlebnisse garantieren seine Existenz nicht, gerade deswegen, weil wir es in

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diesem Fall mit etwas Transzendentem zu tun haben. Das reine Bewußtsein macht ein getrenntes, in sich geschlossenes Sein aus, das sich mit nichts zu einem Ganzen verbinden kann, was nicht ein Bewußtsein, und zwar ein Bewußtsein "von mir" ist, und dem jede Wirklichkeit der realen Welt wie auch alle transzendenten idealen Gegenstände gegenüberzustellen sind. Jeder reale Gegenstand dagegen ist eine identische Sinneseinheit, die in einer Mannigfaltigkeit von unterschiedlich - aber dem jeweiligen Gegenstand eigentümlich - gebauten und entsprechend zusammengestellten Ansichten zur Erscheinung kommt, eine Sinneseinheit, die immer über den Gehalt der jeweiligen Ansicht hinausgeht. Die transzendente Wahrnehmung ist somit ihrem Wesen nach stets bezweifelbar, sofern wir uns auf eine endliche Anzahl von Wahrnehmungen beschränken, die sich auf ein und denselben Gegenstand beziehen. Die Sphäre des reinen Bewußtseins ist nach Husserl nicht nur ein Arbeitsfeld für sich, sondern auch eines, von dem alle philosophischen Untersuchungen ausgehen müssen. In Erlebnissen des reinen Bewußtseins konstituieren sich nämlich die Sinne aller möglichen Gegenstände, und nach dem oben besprochenen Prinzip der unmittelbaren Erkenntnis dürfen wir uns erkenntnismäßig allein mit Gegenständen befassen, deren konstituierten Sinn wir aufzuweisen vermögen und bei denen wir zugleich die Art und Weise verfolgen können, wie die Konstitution dieses Sinnes in einer Mannigfaltigkeit von Akten zustande kommt. Irgendein Seiendes im voraus und unkritisch anzunehmen, dessen konstituierten Sinn wir nicht aufweisen können, ja dessen Sinn sich in entsprechend zusammengestellten Bewußtseinsakten nicht konstituiert und sich darin nicht konstituieren kann - ist nicht nur unzulässig, sondern wäre auch ein offensichtlicher Unsinn. Daher kann uns nur die Erforschung von entsprechenden Akten des reinen Bewußtseins den Sinn eines Gegenstands klarmachen und die Frage nach der 91 Rechtmäßigkeit seiner Konstitution lösen. Beachten wir, daß der "Sinn" 91 Von hier aus ist es nur noch ein Schritt zur These, die Husserl tatsächlich bereits in den Ideen von 1913 aufstellt und die übrigens einen Widerspruch von Seiten seiner Göttinger Schüler zu jener Zeit erfahren hat, als Husserl seine Ideen in seinem Seminar im Studienjahr 1913/14 gelesen hat - zur These nämlich, daß alles transzendente Sein nur ein Sein fiir ein Bewußtsein sei, das seine Existenz bedinge. "Streichen wir das Bewußtsein, so streichen wir die Welt" - pflegte Husserl zu jener Zeit in seinen Vorlesungen zu sagen. Vgl. da-

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des Gegenstands etwas anschaulich Gegebenes, Phänomenales ist oder, anders gesagt, daß er ein gewisses "Phänomen" ausmacht, dann wird es verständlich, warum Husserl seinen Standpunkt "Phänomenologie" nennt und seine Methode als "phänomenologische Methode" bezeichnet. Im Rahmen dieser Methode dürfen wir uns erkenntnismäßig mit nichts sozusagen "direkt" beschäftigen; wir müssen vielmehr immer auf die entsprechenden Akte des reinen Bewußtseins und auf die Art und Weise rekurrieren, auf welche es gegeben und gemeint ist, und darauf, wie es dazu kommt, daß dieser Sinn, der sich erst in den Bewußtseinsakten "aufbaut", zur Gegebenheit und zur Erscheinung kommt. Man muß jedoch noch einen Punkt berücksichtigen, der für die Art und Weise, wie Husserl die Phänomenologie begriffen und betrieben hat, sehr wesentlich war. Das reine Bewußtsein kann nämlich auf zwei grundverschiedene Weisen untersucht werden: entweder dadurch, daß wir eine immanente Wahrnehmung vollziehen, die auf unser eigenes aktuelles Erlebnis gerichtet ist - und dann haben wir es mit einer besonderen Erfahrungswissenschaft zu tun: mit der Erforschung der individuellen Erlebnisse des reinen Bewußtseins in ihrem konkreten Verlauf. Oder wir können jene immanente Wahrnehmung auch nicht in der Einstellung auf die individuelle Tatsache eines sich abspielenden Erlebnisses vollziehen, sondern dadurch, daß wir, indem wir diese Einstellung gegen eine für die unmittelbare apriorische Erkenntnis charakteristische tauschen, uns bemühen, z. B. die ideale Struktur des Bewußtseinserlebnisses in specie zu erfassen, die sich uns auf der Grundlage oder - wenn jemand will - am Beispiel des gerade in der immanenten Wahrnehmung erfaßten Erlebnisses zeigt. Dann erreichen wir eine "eidetische" Phänomenologie der Bewußtseinserlebnisse, die uns zu apriorischen Sätzen verschiedener Allgemeinheitsstufen fuhrt, Sätzen, die nicht nur die Struktur der Bewußtseinsakte selbst, deren notwendige und mögliche Verbindungen (alles in specie - oder anders gesagt: alles in bezug auf das Wesen dieser Erlebnisse) betreffen, sondern auch die Struktur ihrer Verläufe in der Zeit und diejenige des damit verbundenen Prozesses des Sich-Bildens, Sich-Umgestaltens und Synthesen von verschiedenartigen "Sinnen" (Vermeintheiten) zu meine Abhandlung "Gtówne fazy rozwoju pogl^dówfilozoficznychEdmunda Husserla", [deutsche Obersetzung: "Die Hauptphasen der Entwicklung der Philosophie Edmund Husserls", in: Ingarden (1998)]. (1961)

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Die Bestrebungen der Phänomenologen

= Intentionen sowie von gegenständlichen Sinnen als Erzeugnisse all dieser Operationen. Die bisher durchgeführten Untersuchungen deuten daraufhin, daß dieses ganze Gebiet sehr reich ist an verschiedenen Strukturen und daß zugleich gewisse Gebilde - wie ζ. B. die Ansicht eines wahrgenommenen Dinges - , die auf den ersten Blick sehr einfach zu sein scheinen, sich de facto, zumal wenn man sie in der Entwicklung des Wahrnehmungsprozesses faßt, in ihrem Aufbau als sehr kompliziert herausstellen, so daß man sagen kann, daß sie verschiedene Schichten von heterogenen Elementen in sich bergen, die miteinander in mannigfachen Zusammenhängen stehen. Wie dieses komplizierte und in seiner zeitlichen Entwicklung veränderliche Ganze, das wir eingangs die "Ansicht" des Dinges genannt haben, gebaut ist und welche Funktionen es in der Darbietung des wahrgenommenen Dinges bzw. in der Konstituierung dessen anschaulichen Sinnes ausübt, hängt - wie es sich herausstellt - von verschiedenen Vollzugsweisen der Bewußtseinsakte ab. Diese Vollzugsweisen aber sind wiederum von verschiedenen Gestalten der Aktivität abhängig, von der Aufmerksamkeit, Konzentration usw. des Subjekts, das diese Akte vollzieht, sowie von der Art und Weise, wie es sein 92

Wissen über die schon abgelaufene Vergangenheit behält. Dies hängt schließlich davon ab, auf welche Weise das Subjekt, ohne seine Aktivität im Erfassen dessen zu verlieren, was gerade gegeben ist bzw. sich abspielt, zugleich auf die herankommende Zukunft eingestellt ist, wie weit also der Zeithorizont in Richtung auf die Vergangenheit und die Zukunft reicht und auf wie lebhafte und anschauliche Weise er sich vor dem Subjekt abzeichnet. In derartigen Analysen begannen sich vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie weite Perspektiven auf die komplizierte Problematik der Erkenntnistheorie zu eröffnen, und zwar nicht nur als ein Feld abstrakter Spekulationen, sondern als ein Gebiet sehr konkreter Untersuchungen, obgleich es sich dabei immer noch nicht um individuelle Tatsachen han92 Diese Probleme hat Husserl in seiner Untersuchung unter dem Titel Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins analysiert, die er noch 1907 abgefaßt, aber erst 1928 in einer von Edith Stein vorbereiteten Redaktion im Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. IX veröffentlicht hat. (1961) [Vgl. E. Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins 1893-1917 (Husserliana X, hrsg. von R. Boehm).]

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delt, sondern um sich in diesen Tatsachen bekundende, allgemeine, notwendige Wesensstrukturen von verschiedenartigen Erkenntnisoperationen und deren Funktion sowie schließlich deren Effizienz im Gewinnen einer Erkenntnis. Hier tut sich uns sozusagen die Quelle der Vernunft und im Kontrast dazu des Widersinns auf. Man kann hier darauf nicht eingehen, zumal diese Analysen sehr schwierig sind und nicht nur eine große Geschicklichkeit im Gewinnen von Intuitionen in bezug auf die ursprünglichen Strukturen von Erkenntnisoperationen erfordern, sondern auch eine große Geübtheit im Gebrauch der Sprache, damit die Ergebnisse dieser Analysen in unversehrter Gestalt ausgedrückt werden. Sie erfordern auch eine große Fähigkeit der Zusammenarbeit vom Leser, der sich mit Hilfe von vorgeführten Analysen letzten Endes selbst dazu aufraffen muß, das, was ihm der Verfasser zeigt, intuitiv zu erleben. Solche Leser gibt es leider nur wenige; im allgemeinen möchten sich Leser nur passiv verhalten, Ergebnisse ohne ihre eigenen Anstrengungen bekommen; daher rührt die von den Phänomenologen oft angetroffene Erscheinung, daß sie bei Nicht-Phänomenologen die seltsamsten Interpretationen ihrer eigenen Untersuchungen finden. Die Anwendung der phänomenologischen Reduktion, wenn sie auch von Husserl nicht vornehmlich zu diesem Zweck eingeführt worden ist, bahnt einen Weg zu einer Weise, die Erkenntnistheorie zu betreiben, bei welcher ein circulus vitiosus vermieden werden kann. Dadurch, daß die in den transzendenten Erkenntnisakten eingeschlossenen Überzeugungen suspendiert werden, wird der Fehler beseitigt, der darin besteht, daß man sich auf die Ergebnisse von Erkenntnissen beruft, deren Leistungsfähigkeit und damit auch die Möglichkeit, wahre und sichere Ergebnisse zu gewinnen, zu allererst einer Untersuchung unterliegt. Die phänomenologische epoché beugt jedoch auch dem Fehler vor, der sich aus dem Zweifeln an der Möglichkeit ergibt, durch die in Untersuchung stehende Erkenntnis wahre Ergebnisse zu erlangen, denn ein solches Zweifeln - das für alle skeptischen Theorien kennzeichnend ist, die sich ihres nicht selten so unkritischen und dogmatischen Skeptizismus rühmen - nimmt ebenfalls in bezug auf ein Erkennen im voraus das an, was gegebenenfalls erst zu ermitteln ist. Nur die phänomenologische epoché, die weder den positiven noch den negativen Erkenntniswert der in einer Art Erkenntnis gewonnenen Ergebnisse im voraus annimmt, erlaubt es, die fur die Erkenntniskritik wesentlichen Untersuchungen in

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rationaler Weise durchzuführen. Ihre letzte Grundlage findet die Erkenntnistheorie nach Husserl darin, daß es uns gelingt, die Unbezweifelbarkeit der immanenten Wahrnehmung der Erlebnisse des reinen Bewußtseins aufzuweisen, und zwar sowohl in der Einstellung auf ein individuelles, sich gerade abspielendes reines Erlebnis, als auch in der Einstellung auf die Erfassung seines allgemeinen Wesens in specie. Auf diese Weise setzt uns die phänomenologische epoché nicht nur in die Lage, eine einzigartige Seinssphäre - das reine Bewußtsein aufzudecken und zu untersuchen, sondern spielt sie auch eine wesentliche Rolle als einer der methodischen Schritte, die für die Bearbeitung einer von prinzipiellen Schwierigkeiten freien Erkenntnistheorie unentbehrlich sind. Welche konkreten Probleme sich in diesem Forschungsgebiet ergeben, ist eine Frage, die schon zu der mit der phänomenologischen Methode betriebenen Erkenntnistheorie selbst gehört. Nach Husserls Ansicht war es aber philosophisch viel wichtiger, das reine Bewußtsein in dessen eigentümlicher Gestalt entdeckt zu haben. Von hier aus haben sich ihm Perspektiven auf eine neue Metaphysik eröffnet, Perspektiven, die vielleicht denjenigen verwandt waren, welche sich vor den deutschen Idealisten abgezeichnet hatten, die aber dieses Mal auf zahlreiche konkrete Analysen gestützt waren und rein begriffliche Konstruktionen unterlassen haben. Man kann hier darauf nicht näher eingehen, zumal da man schon den Ertrag von Husserls ein paar Jahrzehnte dauernden Forschungsarbeit kennen müßte, der bisher zu einem beträchtlichen Teil einem weiteren Publikum nicht zugänglich gemacht worden ist, um sich darüber klarwerden zu können, was Husserl in diesem Bereich tatsächlich zu realisieren vermocht hat, was ihm gelungen ist und was ihn in die Irre gefuhrt hat, was von ihm nur angefangen worden ist und was konkretere Umrisse gewonnen hat. Meine Absicht hier war es lediglich, über die theoretischen Anfänge der phänomenologischen Bewegung, über ihre grundlegenden Bestrebungen zu informieren, wobei ich nur die Ergebnisse berücksichtigt habe, die unentbehrlich sind, um diese Ausgangspunkte anzudeuten. Vielleicht sind meine Bemühungen wenigstens darin erfolgreich, daß ich meine Leser dazu ermuntere, die heute schon (1961) zahlreichen phänomenologischen Werke durchzustudieren, und vielleicht werden sie dadurch die Vorurteile los, die sie bisher davon abgehalten haben, zu diesen Werken zu greifen. Die Phänome-

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nologie ist ohne Zweifel schwierig und erfordert eine Anstrengung seitens des Forschers wie auch des Empfangers; zugleich jedoch vermag die Phänomenologie uns aus einem unkritischen Dogmatismus der Begriffsphilosophie zu befreien sowie aus dem Skeptizismus der Theorien, deren ganze Klugheit sich im Ablehnen von Problemen erschöpft, die in der Philosophie allein interessant sind. Die Phänomenologie kann schließlich bei uns ein Bedürfiiis danach erwecken, mit der Wirklichkeit, besonders der Wirklichkeit des Menschen, direkt zu verkehren, und sie kann den ganzen Reichtum dieser Wirklichkeit vor unseren Augen aufdecken und uns veranlassen, uns ihr mit 93 Liebe zuzuwenden.

93 Die phänomenologische Literatur ist heutzutage (1961) sehr reichhaltig, differenziert und von unterschiedlichem Wert. Sie umfaßt gewiß hunderte Positionen. Man kann sie hier nicht in erschöpfender Weise anführen, zumal wenn man keinen zulänglichen Zugang zur Bibliographie der Zeitschriften usw. der letzten paar Jahrzehnte hat. Sogar H. Spiegelberg in seinem zweibändigen Werk The Phenomenological Movement [A Historical Introduction, third revised and enlarged edition, The Hague 1982] mußte sich auf die Angabe der wichtigsten phänomenologischen Werke beschränken.

Nachruf auf Max Scheler (29.8.1874 - 19.5.1928)1 Im Mai 1928 ist unerwarteterweise im besten Alter Max Scheler gestorben. Sein Tod kam zu einem Zeitpunkt, als die Wende, die in der Entwicklung seiner Ansichten seit der kleinen Schrift Die Formen des Wissens und die Bildung (1925) sichtbar geworden war, noch nicht zur endgültigen Kristallisierung seines neuen Standpunkts geführt hat und die neuen, seit einigen Jahren in Vorbereitung stehenden Werke2 noch nicht zum Abschluß gebracht worden oder aber - wie Das Problem der Realität - nur zum Teil als Aufsatz3 erschienen sind. Auch Schelers umfangreiches Werk Die Wissensformen und die Gesellschaft zeigt einen Übergangscharakter.4 Neben den Behauptungen, die mit dem alten Standpunkt übereinstimmen, enthält es viele Ansichten, die dazu in Widerspruch stehen, und zahlreiche Vorverweise auf die noch nicht veröffentlichten Werke bezeugen, daß wir hier an der Schwelle zu einer neuen Forschungsphase Schelers stehen. Nach diesen Ankündigungen sollte Scheler in seinen neuen Werken die letzten Voraussetzungen für die Entscheidungen darstellen, die bereits in den Wissensformen (speziell in der Abhandlung Erkenntnis und Arbeit) getroffen worden sind; daher erweckt auch dieses Werk durch mehrere seiner Thesen Bedenken und läßt viele Punkte im unklaren. Sogar die letzte zu Schelers Lebzeiten veröffentlichte Arbeit unter dem Titel Die Stellung des Menschen im Kosmos (1928)5

[Übersetzung von: "Max Scheler: Wspomnienie poámiertne", Przeglqd Filozoficzny, (1928), Nr. 4, S. 343-351; neu gedruckt in: Ingarden (1963), S. 629-639.] Philosophische Anthropologie und Metaphysik.

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Vgl. "Idealismus-Realismus", Philosophischer Anzeiger, Bd. Π, Hft. 3, Bonn 1927. [Vgl. Fortsetzung in: M. Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 11, Bern und München 1979.] Dieser Charakter ergibt sich u.a. daraus, daß dieses Werk zum Teil ältere Arbeiten enthalt, wie etwa die Arbeit Probleme einer Soziologie des Wissens, die darin in der zweiten, stark veränderten Ausgabe erschienen ist Außerdem stammt der erste Teil dieser Arbeit, unter dem Titel Erkenntnis und Arbeit, der einer Kritik des Pragmatismus gewidmet war, aus viel früheren Jahren, während die weiteren Teile, insbesondere die Philosophie der Wahrnehmung, wohl kurz vor dem Erscheinen des Ganzen entstanden sein dürften. Es handelt sich dabei übrigens nur um eine erweiterte Überarbeitung eines Vertrags, den Scheler 1927 gehalten hat [Vgl. Schelers Vorrede zw ersten Auflage, in: M. Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 9, Bern und München 1976, S. 9 und Nachwort des Herausgebers, ebenda S. 345f ]

NachrufaufMax Scheler

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läßt eher nur vermuten, in welche Richtung sich Schelers neue Auffassungen entwickeln sollten, als daß sie ein klares Bild von seinem neuen Standpunkt vermitteln würde. Aus all diesen Gründen sind wir zur Zeit, wo uns Schelers Nachlaß noch nicht bekannt ist, weder in der Lage, uns Schelers endgültige Ergebnisse klar zum Bewußtsein zu bringen noch mit Sicherheit die Entwicklungslinie seiner Forschung nachzuzeichnen, noch schließlich zur Endphase seiner Untersuchungen Stellung zu nehmen. Bevor dies möglich sein wird, muß man sein geistiges Bild wenigstens in groben Zügen skizzieren und ihm damit ein ehrenvolles Gedächtnis bewahren. Max Scheler zeichnete sich vor allem durch eine außergewöhnliche Empfindlichkeit für die ganze ihm gegenwärtige philosophische und wissenschaftliche Atmosphäre aus. Im Gegensatz zu Husserl, der als ein großer Autodidakt bezeichnet werden kann, brauchte Scheler immer einen äußeren Ansporn, um seine eigene intellektuelle Tätigkeit zu entwickeln. Daher rührt der polemische Charakter seiner Betrachtungen, der sich an vielen Stellen in seinen Werken zeigt: dadurch, daß er fremde Ansichten überwunden hat, ist er jeweils zu seiner eigenen, neuen Theorie gekommen. Und wenn auch jedes seiner Werke neue Horizonte eröffnet, so hat doch Scheler - ausgenommen seine Untersuchungen im Bereich der Ethik - kein einziges Werk hinterlassen, das ein Versuch gewesen wäre, alles "aufs neue" zu beginnen. Erst die Werke, die er durch seinen Tod nicht zum Abschluß bringen konnte, sollten - wie es scheint - einen solchen wahren "Ansatz" zu einem ganz eigenartigen Weltbild darstellen. Daher hat dieser plötzliche Tod Schelers etwas Tragisches an sich. Ungeachtet dieses deutlichen Bedürfnisses, einen äußeren Ansporn zu empfangen, war Scheler nie ein Eklektiker. Wenn er sich einer Frage zugewendet hat, die im Zentrum seiner Interessen stand, hat er sie immer viel weiter gebracht, als es diejenigen vorgeahnt hatten, denen er den ersten Impuls verdankte und die sein Schaffen auf gewisse Weise beeinflußt haben. Er schrak auch nicht davor zurück, schon gewonnene Meinungen zu ändern, wenn die Ergebnisse seiner eigenen Forschung oder der zeitgenössischen Wissenschaft ihn nötigten, sie zu revidieren. Wer ihn persönlich nicht kannte und nicht wußte, daß er stets getrieben wurde von einem Fieber ununterbrochener intellektueller Arbeit und einem Hunger nach immer neuen Wahrheiten, der von der Unzufriedenheit mit den schon errungenen Ergebnissen her-

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Nackruf aufMax Scheler

rührte, konnte Scheler irrtümlicherweise einer allzu großen Leichtigkeit verdächtigen, seine Meinungen zu ändern. Tatsächlich ist dies aber - wie schon Nicolai Hartmann6 richtig bemerkt hat - damit zu erklären, daß Scheler immer wieder versuchte, über sich selbst hinauszuwachsen. Die Einflüsse, denen Scheler im Laufe seiner fast 30 Jahre dauernden Forschungsarbeit unterlag, waren mannigfach. Am stärksten kamen sie einerseits von Edmund Husserl, insbesondere von dessen Logischen Untersuchungen, andererseits von Henri Bergson und in seinen letzten Jahren auch von den neusten Strömungen der zeitgenössischen Psychologie. Von Husserl hat Scheler seine Ansichten über das Wesen des Gegenstandes und über die apriorische Erkenntnis sowie bis zu einem gewissen Grad auch die phänomenologische Methode übernommen. Diese Einflüsse haben ihn dazu gefuhrt, die apriorische Erkenntnis auf ethische Fragen anzuwenden und speziell Grundlagen für eine materiale Wertethik zu schaffen, die in einem scharfen Gegensatz zu Kant durchgeführt wurde. Der Einfluß Bergsons hat sich zuerst nicht so stark geltend gemacht, aber schon die kleine Abhandlung aus der Vorkriegszeit, unter dem Titel Versuche einer Philosophie des Lebens, die den Auffassungen Bergsons gewidmet war, zeugen von Schelers frühem Interesse an diesem Philosophen. Im Laufe der Jahre wird die Verwandtschaft der Ansichten Schelers und Bergsons immer deutlicher sichtbar, ungeachtet aller Unterschiede zwischen den beiden Philosophen. Sie betrifft nicht nur die prinzipielle Lebensanschauung, sondern auch die Theorie der äußeren Wahrnehmung,7 die pragmatistische Auffassung der Naturerkenntnis und die metaphysischen Grundsätze.8 Im Zusammenhang damit erwachsen Unterschiede und Mißverständnisse zwischen Scheler und Husserl und zeichnen sich zugleich bei dem ersteren immer deutlichere Veränderungen in der Forschungsmethode ab. Wer das Werk Die Wissensformen und die Gesellschaft aufmerksam liest, kann zu Recht die Frage stellen, ob Scheler darin noch ein Phänomenologe ist. Auf jeden Fall steht die Tatsache, daß Scheler in der philosophischen Forschung Hypothesen zuläßt, die sich in der unmittelbaren Erkenntnis nie bewähren lassen, daß er von den positiven Wissenschaften

Vgl. N. Hartmanns Nachruf auf Scheler in den Kantstudien [33 (1928), Heft 1/2; auch in: N. Hartmann, Kleinere Schriften ΙΠ, Berlin 1958, S. 350-357]. Vgl. Schelers Erkenntnis und Arbeit und Bergsons Matière et mémoire. Vgl. "élan vital" bei Bergson und "Drang" bei Scheler in seinen letzten Arbeiten.

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eine Reihe von Sätzen mit rein empirischem Charakter (im engen Sinne des Wortes) übernimmt, sowie sein zunehmender Relativismus, sowohl in der Ethik als auch in der Erkenntnistheorie, zu den Tendenzen der Phänomenologen in krassem Widerspruch. Diese Tendenzen bestehen vor allem darin, daß man in der Philosophie keine Sätze über Gegenstände aufstellt, die nicht in der unmittelbaren Erkenntnis gegeben sein können, und daß man aufgrund einer sorgfältigen Unterscheidung zwischen dem, was das Wesen des Untersuchungsgegenstands betrifft oder daraus fließt, und dem, was zufällig ist, die philosophischen Untersuchungen auf die Probleme beschränkt, die sich auf das Wesen der Gegenstände beziehen. Damit hängt einerseits zusammen, daß man von der Philosophie alle Sätze und Hypothesen der positiven Wissenschaften ausschließt, andererseits aber, daß man der unmittelbaren apriorischen Erkenntnis einen absoluten Erkenntniswert zuerkennt und daß man dementsprechend überzeugt ist, eine solche Erkenntnis könne in allen Gegenstandsbereichen gewonnen werden. Der tatsächliche Gang von Schelers Betrachtungen in seinen letzten Werken stellt aber einen totalen Gegensatz zu diesen Tendenzen dar.9 Die große Sensibilität der Denkweise Schelers macht sich auch in der immensen Mannigfaltigkeit seiner Interessen bemerkbar. Es gibt fast kein philosophisches Forschungsgebiet, das Scheler wenigstens flüchtig nicht berührt hätte. Und wenn man beachtet, daß die Probleme, die er schöpferisch behandelt hat, so vielen Gebieten der Philosophie wie der Ethik, der Werttheorie, der Philosophie der Religion, der Metaphysik, der Psychologie, der Erkenntnistheorie, der Geschichts- und Kulturphilosophie, der Ästhetik und der Soziologie zugehören, wird klar, daß so umfangreiche Horizonte allein von einem äußerst lebendigen und aktiven Geist umfaßt werden konnten, der gleichsam allerseits nach Stoff fur seine fieberhafte, ununterbrochene Arbeit gesucht hat. Es war indes nicht nur ein Hunger nach immer neuen Tatsachen und Problemen, der sich von keinem zentralen Interesse leiten ließ. Es ist kenn-

Dies steht übrigens im Widerspruch auch zu Schelers eigenen Ansichten Aber das Wesen der positiven Wissenschaften und zu der von ihm gemachten Gegenüberstellung zwischen diesen Wissenschaften und der Philosophie. Die früheren Phasen von Schelers Untersuchungen habe ich in meinem Aufsatz "Max Scheler" (vgl. Przeglqd Warszawski 13,1922) ausführlicher besprochen.

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Nachruf aufMax Scheler

zeichnend, daß Scheler, obwohl er in seinen Werken so viele diverse Themen gestreift hat, dennoch keine Abhandlung und nicht einmal eine umfangreichere Betrachtung der reinen Logik gewidmet hat, daß ihm das Gebiet der Mathematik fremd war, daß er sich mit der unbelebten Natur oder der physikalischen Erkenntnis nie befaßt hat 10 , daß also alles Nicht-Menschliche bei ihm kaum Neugier erregte. Bezeichnend ist andererseits die Tatsache, daß es sich in Schelers letzter Arbeit darum handelte, die Stellung des Menschen im Kosmos zu bestimmen, und daß die letzten paar Jahre seiner Untersuchungen in erster Linie mit den Studien ausgefüllt waren, die zu einer neuen philosophischen Anthropologie führen sollten, als ob alle seine vorhergehenden Untersuchungen bloß eine Vorbereitung zu dieser letzten Aufgabe: der Ausarbeitung der Idee des Menschen sein sollten. Betrachten wir Schelers gesamtes Werk von diesem Gesichtspunkt aus, dann können wir bemerken, daß diese auf den ersten Blick so mannigfachen Studien letzten Endes aus ein und derselben Quelle stammen: aus dem Willen, zu verstehen, was der Mensch ist und welche Stellung er im Kosmos einnimmt. Dann können wir auch bemerken, wie sich seine einzelnen Untersuchungen zu einem Ganzen zusammenschließen und wie sie verschiedene Versuche darstellen, dieses Hauptproblem in Angriff zu nehmen. So haben wir es vor allem mit umfassenden Untersuchungen im Bereich der Ethik zu tun, und zwar nicht mit irgendwelchen trockenen, abstrakten Betrachtungen zur formalen Werttheorie (wie sie uns ζ. B. Husserl liefert), sondern mit Untersuchungen, die viele Bezüge auf das konkrete sittliche Leben haben und in der Theorie der menschlichen Person als (unter anderem) Subjekt ethischer Akte gipfeln. Zu dieser Gruppe der Untersuchungen gehören, außer dem Hauptwerk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, Studien wie Das Ressentiment im Aufbau der Maralen, Zur Rehabilitierung der Tugend, Reue und Wiedergeburt, Moralia. Wir finden aber auch interessante Untersuchungen zur Psychologie, insbesondere des emotionalen Le-

Nur in der Schrift Erkenntnis und Arbeit finden wir gewisse Betrachtungen zu diesem Thema, doch sie sind erstens nur eine Deutung der Auffassungen Maxwells und bilden zweitens nur ein Glied in der Betrachtung [der Frage], in welchen Grenzen die pragmatistische Auffassung des Wissens richtig ist

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bens, die hauptsächlich im Werk Wesen und Formen der Sympathie11 enthalten sind, und die damit verbundenen Betrachtungen über die Erkenntnis des eigenen und des fremden psychischen Lebens (vgl. den letzten Teil der soeben genannten Arbeit und die Abhandlung unter dem Titel Die Idole der Selbsterkenntnis). Wichtig ist dabei, daß Scheler - ohne Zweifel zum Teil unter dem Einfluß Pfanders - sich in erster Linie dem Gefühlsleben zugewendet hat (mithin einem Gebiet, das damals aus der "wissenschaftlichen" Psychologie fast verbannt war und das zugleich eine große Bedeutung für das Verständnis des Wesens des Menschen hat) und zugleich sofort begriffen hat, daß das psychische Individuum etwas anderes ist als der Erlebnisstrom, etwas, dessen Leben in dem letzteren nur zur Erscheinung kommt, dies obwohl die erste Ausgabe des Werks Wesen und Formen der Sympathie in einer Zeit erschienen ist, in der die experimentelle Labor-Psychologie vorherrschte, die das Forschungsgebiet fast ausschließlich auf die Sinnesempfindungen beschränkte, und in den Jahren, in denen unter den Psychologen allmächtig die Gleichsetzung des psychischen Individuums und seines Lebens mit dem Bewußtsein dominierte. Der Mensch war also für Scheler nie irgendeine von der übrigen Welt isolierte, verstreute Mannigfaltigkeit von Sinnesempfindungen und nicht einmal ein Strom von Bewußtseinsakten, der auf unbegreifliche Weise an ein speziell beschaffenes materielles Objekt geknüpft ist, sondern immer ein unorganisiertes, lebendiges Individuum mit seiner eigenen Art und Weise, sich im Leben zu verhalten und auf seine unbelebte und belebte Umwelt zu reagieren, insbesondere aber jemand, der in ununterbrochenem Kontakt mit der ihn umgebenden menschlichen Gesellschaft steht.

1

1 Dieses Werk ist in der ersten Ausgabe 1913 unter dem Titel Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefähle und von Liebe und Haß erschienen. In der zweiten, beträchtlich veränderten Ausgabe von 1923 sollte es nur eine Abhandlung in einer ganzen Folge von Abhandlungen bilden, die auf verschiedene grundlegende Aspekte des emotionalen Lebens bezogen waren. Geplant waren: Wesen und Formen des Schamgefühls [vgl. Über Scham und Schamgefühl, in: M. Scheler, Gesammelte Werke, Bd. 10, Schriften aus dem Nachlaß, Beni 19S7] (vermutlich eine erweiterte Bearbeitung eines Aufsatzes ["Zur Funktion des geschlechtlichen Schamgefühls", in: Geschlecht und Gesellschaft, Berlin-Leipzig-Wien 1913], den Scheler zu diesem Thema früher veröffentlicht hat), Wesen und Formen der Angst und Furcht und Wesen und Form des Ehrgefühls. Ob und inwiefern dieser Plan verwirklicht worden ist, werden wir erst erfahren, wenn Schelers Nachlaß veröffentlicht wird.

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Nachruf aufMax Scheler

Deswegen hat sich Scheler vor allem denjenigen psychischen Akten zugewendet, die verschiedene Formen des Umgangs und Zusammenlebens psychischer Individuen ermöglichen. Nachdem er den Menschen so begriffen hatte, mußte er sich (zum Teil unter dem Einfluß Tönnies') mit verschiedenen Typen menschlicher Gesellschaften beschäftigen, weshalb sich ihm weite Perspektiven auf die soziologischen Probleme einerseits und auf die Probleme der Geschichts- und Kulturphilosophie andererseits eröffnet haben. In seinen Schriften trifft man auf Schritt und Tritt auf verstreute Analysen verschiedener Typen von Menschen und von menschlichen Gesellschaften wie auch auf Versuche, gewisse historische Erscheinungen (speziell aus der Neuzeit) gerade vor diesem psychologisch-soziologischen Hintergrund zu erklären. Im Laufe der Jahre machte sich dieser soziologische Gesichtspunkt immer stärker geltend. Die Mannigfaltigkeit an Formen des gesellschaftlichen Lebens und an dazugehörenden Aspekten der realen und der kulturellen Welt wie auch die Veränderlichkeit der beiden im Prozeß der Geschichte haben Scheler mit seinen zunehmenden soziologischen Interessen zu einem immer weiter gehenden Relativismus gefuhrt. Anfanglich machte sich dieser nur innerhalb seiner ethischen Untersuchungen geltend, und der stärkste Ausdruck davon ist das Konzept von verschiedenen "Ethos"12, mithin verschiedenen Systemen sittlicher Werte und Bewertungen, die verschiedenen Typen und Entwicklungsstufen der ethischen Kultur zugehören und auf diese relativ sind, die aber ein absolutes sittliches Wertsystem nicht nur nicht ausschließen, sondern - nach Schelers Ansichten - sogar voraussetzen. Später, besonders in seinen letzten Jahren, ist Scheler dadurch, daß er sich immer intensiver mit soziologischen Problemen beschäftigte, zu einer neuen Formulierung erkenntnistheoretischer Probleme gekommen sowie zu einem Versuch, gewisse Formen des Erkennens auf diese oder jene Typen des sozialen Zusammenlebens (vgl. die Soziologie des Wissens) und auf diese oder jene Typen psychischer Subjekte bzw. auf ihre Entwicklungsphasen im vielgestaltigen Lebensstrom zu relativieren. Zwar wehrt Scheler den möglichen Ein-

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[Im Original fügt hier Ingarden die Anmerkung hinzu: "Ich kann keinen entsprechenden polnischen Ausdruck für den griechischen Terminus 'Ethos' finden, der von Scheler verwendet wird" (vgl. Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik [Gesammelte Werke, Bd. Π, Bern und München 1966, S. 303] und z.B. Zum Phänomen des Tragischen.)]

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wand des Relativismus ab und hat dabei insofern recht, als er nur manche Erkenntnisformen für relativ hält und diesen einen Kanon von Kategorien der reinen Vernunft entgegenstellt, doch legt schon die Tatsache allein, daß er die Möglichkeit eines solchen Einwands sieht, davon Zeugnis ab, wie weit er auf dem Weg zum Relativismus gegangen ist. Dabei ist auch der zunehmende Kontrast zwischen dem Reichtum an Betrachtungen in bezug auf relative Erkenntnisformen und einer gewissen Armut an Untersuchungen, die sich auf absolute Erkenntnisstrukturen beziehen, ein Beweis dafür, daß sich Scheler vom absolutistischen Gesichtspunkt immer weiter entfernt hat: Der sich im Laufe der Geschichte verändernde Mensch und die Welt seiner Kulturgebilde rückte immer mehr in den Vordergrund von Schelers Interessen und wurde zum zentralen Punkt aller seiner Betrachtungen. Ich habe den Eindruck, daß die von mir zu Beginn dieses Aufsatzes erwähnte Wende in Schelers Ansichten u. a. in dieser Tatsache ihre Quelle hat. Diese Wende zeigt sich am deutlichsten in der letzten Gruppe von Untersuchungen in bezug auf das Wesen des Menschen: in Schelers Religionsphilosophie und Metaphysik. Denn wenn sein zentrales Problem die Idee des Menschen war sowie das Anliegen, aus dessen veränderlichen Seinsformen das "Ewige" in ihm herauszuschälen, wenn sich Scheler bemüht hat, Grundlagen für eine neue Ethik und Werttheorie zu schaffen, so mußte er natürlicherweise auch die Philosophie der Religion und des Wesens einer Gottheit näher in Betrachtung ziehen und eine Antwort auf die sich erhebenden Fragen metaphysischer Natur suchen. Indes haben sich die zunehmenden soziologischen Interessen und die damit verbundene Steigerung der relativistischen Tendenzen bei Scheler auf diese Gruppe seiner Untersuchungen ausgewirkt. Denn wenn er in der Periode, in der Husserls Apriorismus (aus der Zeit der Logischen Untersuchungen) sowie der Kreis der Münchener Phänomenologen den stärksten Einfluß auf ihn ausübten, in der Religionsphilosophie danach bestrebt war, eine gewisse Auffassung einer persönlichen Gottheit zu begründen und unter allen positiven Religionen eine auszuwählen, in deren metaphysischen Überzeugungen und deren Wertsystem sich eine wahre Auffassung des Wesens einer Gottheit verbirgt, so hat er in der letzten Arbeitsperiode seine Meinungen auf bezeichnende Weise geändert. Die Tatsache, daß Scheler eine solche "wahre" Religion zuerst ausgerechnet in der katholischen Religion zu finden glaubte und sich offiziell zum Katholizismus

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bekannte, später aber davon abrückte, sehe ich als zweitrangig an. Von Belang scheint mir nur, daß er zuerst von vielen positiven Religionen nur eine einzige "wahre" Religion ausgewählt hat, in seiner letzten Lebensphase dagegen - wie man gewissen Betrachtungen in seinem Büchlein Die Stellung des Menschen im Kosmos entnehmen kann - nicht nur glaubt, daß alle positiven Religionen auf diese oder jene Typen von fundamentalen psychischen und sozialen Strukturen relativ seien, sondern sogar versucht, das Suchen oder das Postulieren des Daseins Gottes selbst vom Wesen des Menschen und dessen Stellung im Kosmos abzuleiten, so daß er jede Auflassung einer Gottheit oder Gottes auf das Wesen des Menschen relativiert. Mehr noch, wenn er diesen relativen Auffassungen von Gott seine eigene Auffassung entgegenzustellen sucht (die er übrigens inkonsequenterweise als die einzig wahre, mithin eine absolute Auffassung erachtet), dann macht sich die dominierende Stellung, die in Schelers Augen der Mensch eingenommen hat, auch an dieser Auffassung bemerkbar: der Mensch ist nämlich seiner Meinung nach der Ort, wo sich der ewig werdende Gott verwirklicht. So sollte fast alles, womit sich Scheler beschäftigte, auf die eine oder andere Weise zur Lösung dieses zentralen Problems: [des Problems] des Wesens vom Menschen beitragen, und dieses Problem prägte immer nachhaltiger alle seine Ansichten und wurde zu ihrem zentralen Punkt.13 Leider ist Schelers Arbeit gerade in dem Augenblick, als er sich dieser Aufgabe widmen und eine philosophische Anthropologie entwickeln sollte, von seinem Tod abgebrochen worden. Und nur im Vortrag Die Stellung des Menschen im Kosmos finden wir einen partiellen Umriß einer künftigen Lösimg dieses Problems. Die Tatsache, daß das Wesen des Menschen so ins Zentrum von Schelers Interessen gerückt ist, hat seine Tätigkeit noch auf eine andere Weise beeinflußt. Scheler hat nämlich seine philosophische Tätigkeit nicht als die Arbeit eines Gelehrten betrachtet, der von der gegenwärtigen Welt abgekapselt ist. Die ihn umgebende Welt und speziell das, was zu seinen Lebzeiten in

Indem ich dies feststelle, mache ich keine wissenschaftliche Entdeckung. Scheler hat sich diese Tatsache selbst klar zum Bewußtsein gebracht, als er einige Wochen vor seinem Tod die Vorrede zur separaten Ausgabe des Büchleins Die Stellung des Menschen im Kosmos geschrieben hat [Vgl. Schelers Vorrede zur ersten Auflage, Gesammelte Werke, Bd. 9, Bern und München 1976, S. 9f.]

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der kulturellen und politischen Welt geschah, interessierte ihn gleich lebhaft. Er hat sich auch bemüht, nicht nur zu verstehen, worauf die Entwicklung der zeitgenössischen europäischen Kultur abzielt, sondern auch selber ihre künftigen Bahnen zu bestimmen. So erklärt es sich, daß er ein paar "aktuelle" Bücher {Der Genius des Krieges, Krieg und Aufbau, Die Ursachen des Deutschenhaßes usw.) veröffentlicht hat und sich mehrfach zu wichtigen, in den letzten Jahren in Deutschland aktuellen Fragen der Kultur geäußert hat. Außerdem hat er sogar in seine rein theoretischen Schriften nicht selten Bemerkungen eingeflochten, die auf die aktuellen Fragen der Kultur bezogen waren. Ob dies seine rein wissenschaftlichen Untersuchungen immer günstig beeinflußt hat, mag hier dahingestellt bleiben. Diese Tatsache ist jedoch noch ein weiterer Beweis dafür, daß er allerseits nach Stoff für eine Lösung des ihn quälenden Rätsels vom Wesen des Menschen suchte und daß seine Probleme ihre Wurzeln im konkreten Leben, nicht in entfernten und lebensfremden Abstraktionen hatten. Was immer man auch über die einzelnen Theorien Schelers sagen mag (und ich muß betonen, daß ich mich persönlich im Laufe der Jahre von seinem Standpunkt immer weiter entfernt gefühlt habe), das eine muß man meines Erachtens schon heute feststellen: Scheler war einer der reichsten Geister im zeitgenössischen Deutschland und vielleicht sogar in Europa. Und wenn wir seinen Ausführungen sehr oft nicht zustimmen können, wenn seine Behauptungen dem Leser mehrfach als zu gewagt und nicht genug begründet erscheinen, wenn es zu bedauern ist, daß der begabteste von Husserls Schülern schließlich eine große Gefahr für die Weiterentwicklung der phänomenologischen Forschung geworden ist, indem er manchmal ein Beispiel davon gegeben hat, wie man phänomenologische Analysen nicht durchführen soll, so ist es trotz allem wahr, daß ein behutsamer und ausreichend kritischer Leser von seinen Büchern, ja sogar von seinen falschen Theorien viel lernen kann: es wird sich ihm vor allem eine ungeheuer reiche Welt von Erscheinungen auftun, die von keinem anderen Forscher untersucht wurden und auf die Scheler immer ein interessantes Licht wirft. Eine sorgfaltige Lektüre seiner Werke wäre besonders bei uns [in Polen] von Nutzen, wo sich seit vielen Jahren eine zunehmende Verengung des Bereichs philosophischer Interessen bemerken läßt.

Über die philosophischen Forschungen Edith Steins1 Zur Zeit bin ich der einzige in Polen, der Edith Stein noch persönlich gekannt hat. Sie war auch meinen polnischen Kollegen, K. Ajdukiewicz, A. Augustowski, Wanda Lempicka und anderen bekannt, welche vor dem ersten Weltkrieg (seit 1913) mit mir in Göttingen studierten; sie alle leben aber heute nicht mehr. Wir gehörten beide derselben philosophischen Gemeinschaft, der Göttinger Gruppe der Phänomenologen, an, und viele Jahre hindurch standen wir in engem wissenschaftlichem Kontakt miteinander (1916-1939). 1916 und 1917 haben wir uns tagtäglich gesehen und fast bis zum Ausbruch des Krieges (1939) haben wir korrespondiert. Nach dem Krieg begann man ihre Schriften herauszugeben; bis jetzt [1968] hegen sieben Bände fertig vor. Man beschränkte sich aber auf eine Auswahl jener Schriften, die entweder nach ihrem Eintritt ins Kloster geschrieben wurden oder den Stempel der sogenannten "christlichen" Philosophie tragen. Ihre im Phänomenologischen Jahrbuch veröffentlichten Werke sowie ihre Dissertation (1917) wurden bis jetzt nicht berücksichtigt. Auch die Veröffentlichungen über Edith Stein, die ihrer Biographie und ihrer Konversion zum Katholizismus gewidmet sind, lassen ihren früheren wissenschaftlichen Ertrag ganz und gar beiseite, so als ob er überhaupt nicht existierte. Meines Erachtens wurde Edith Stein dadurch ein Unrecht angetan. Sie war Philosophin, Wissenschaftlerin, und ist es auch im Kloster geblieben. Auch unter schwierigen Umständen hat sie ihre wissenschaftliche Arbeit wei[Die polnische Originalfassung dieses Textes ist unter dem Titel "O badaniach filozoficznych Edith Stein (12.10.1891-9.8.1942)" von Roman Stanislaw Ingarden in der Zeitschrift Znak 23 (1971), Nr. 4, S. 389-409 herausgegeben worden. Sie wurde von Pawel Taranczewski ins Deutsche übersetzt und ist zuerst in der Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 27 (1979), S. 456-480 veröffentlicht worden. Der vorliegende Text stellt eine korrigierte Version dieser Übersetzung dar. Der Übersetzer möchte Frl. Ursula Stohler und Herrn Prof. Rolf Fieguth für die sprachlichen Korrekturen herzlich danken.] Dieser Vortrag wurde am 6.IV.1968 auf Einladung S. E. Kardinal Karol Wojtyla vor geladenen Gästen in Krakau gehalten. Der Text der Vorlesung ist aufgrund der Notizen aus dem Nachlaß des Autors und der Tonbandaufzeichnung rekonstruiert worden. Die den Text ergänzenden Fußnoten stammen einerseits vom polnischen Herausgeber, dem Sohn des Autors, Dr. Roman Stanislaw Ingarden, andererseits vom Übersetzer. Siehe Fußnote 9.

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tergefîihrt. Sie hat dazu eine spezielle Erlaubnis erhalten, mit dem Auftrag, ein bestimmtes Thema zu bearbeiten, nämlich Aristoteles und Thomas von Aquin. Aber auch da ist sie Phänomenologin geblieben. Bevor sie in den [Karmelitinnen-]Orden eintrat, arbeitete Edith Stein auf einem Forschungsgebiet, das zum Teil den Umfang meiner philosophischen Interessen und folglich meiner wissenschaftlichen Kompetenz überschreitet. Trotzdem habe ich den Eindruck, daß sie auch in diesem Problemgebiet, das ich persönlich nicht bearbeitet habe, eine bemerkenswerte wissenschaftliche Leistung erbracht hat und daß das Niveau dieser früheren Arbeiten dem Niveau der Bücher, die im Kloster geschrieben worden sind, ebenbürtig ist. Somit wäre es gerecht, ihnen mehr Aufmerksamkeit zu widmen. Ich möchte diese Vernachlässigung wiedergutmachen. In allen ihren veröffentlichten Arbeiten führte Edith Stein ihre Untersuchungen leidenschaftlich, d. h. mit persönlicher Hingabe durch - diese Hingabe war der Mittelpunkt ihres intellektuellen Lebens. Notgedrungen werde ich mich bei der Darstellung der Probleme und Problemgruppen, mit denen Edith Stein sich der Reihe nach beschäftigte, einschränken müssen; die Lösungen werde ich nur ganz kurz zu skizzieren versuchen. Ihre Untersuchungen sind nämlich fast ausnahmslos minuziöse phänomenologische Einzelanalysen, welche zur Aufgabe hatten, dem Leser die wesentlichen Züge des Forschungsgegenstandes zu zeigen; ohne diese Analysen würden die Formulierungen ihrer Schlußfolgerungen zum größten Teil fast unverständlich. Wenn wir Analysen solcher Art durchzufuhren versuchten oder auch nur rekonstruieren wollten, würde das zuviel Zeit beanspruchen. Die philosophische Problematik, mit der sich Edith Stein beschäftigte, muß in Beziehung zur philosophischen Atmosphäre, in der sie ausgebildet wurde und in der sie mindestens eine gewisse Zeit lang lebte, gesetzt werden. Nur auf dem umfangreichen Hintergrund der damals lebendigen Kreise der Problematik und Untersuchungen ist ihre Rolle zu begreifen. Das letzte Mal haben wir uns im April (1929), anläßlich von Husserls Jubiläum zu seinem siebzigsten Geburtstag gesehen; aber - wie ich schon sagte - ich habe mit ihr bis zum Ausbruch des Krieges korrespondiert. Die Tatsache, daß sie im Kloster war, hat den Stil unseres geistigen Verkehrs keineswegs verändert. Infolgedessen hatte ich vielleicht Einsicht sowohl in die Richtung ihrer wis-

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senschaftlichen Forschungen wie auch ihrer intellektuellen Entwicklung. Ich bin der Meinung, daß diese intellektuelle Entwicklung in den verschiedenen Phasen ihres Lebens nicht ohne Schwierigkeiten vor sich gegangen ist. Wir haben uns tagtäglich getroffen in der Zeit als wir uns - zwei Göttinger - bei Husserl in Freiburg befanden; wir fühlten uns natürlich sehr nahe, weil der übrige Teil der Studenten aus Schülern Heinrich Rickerts, also aus Leuten der sogenannten Süddeutschen Schule, bestand. Es gab außerdem eine ganze Reihe von Fragen und Themen, die uns - aufgrund ihrer Problematik - sehr verbunden haben. Edith Stein ist im Frühjahr 1913 nach Göttingen gekommen - wie Sie wissen, beginnt das Schuljahr an den deutschen Universitäten im Frühling, nach Ostern - nach einem zweijährigen Studium in Breslau, wo sie in der Michaelisstraße 38 gewohnt hatte. Nach dem Krieg versuchte ich, das Haus ausfindig zu machen, es steht aber nicht mehr. In Breslau - nach dem ziemlich lange dauernden Unterricht an der Oberschule - hat sie auch ihr Universitätsstudium begonnen. Eigentlich hätte sie mit diesem Studium zwei Jahre früher beginnen sollen. In Preußen gab es damals fast keine Möglichkeiten zur Ausbildung der Frauen, weder ein klassisches Gymnasium noch eine andere Art von Gymnasium, das den Mädchen zugänglich gewesen wäre; man mußte verschiedene "Realschulen" besuchen oder irgendwelche anderen Schulen; so hat die Ausbildung sie zwei Jahre mehr gekostet. Sie lernte außer Latein noch Griechisch. Eine Tatsache, die nicht unerwähnt bleiben soll, ist, daß sie bis zu einem gewissen Grad fähig war, Aristoteles im Original zu studieren, obwohl, wie wir wissen, die in der Schule erworbenen Griechischkenntnisse dazu nicht ausreichten. Auf die Breslauer Epoche und den Stil des Studiums, der dort vorherrschte, komme ich noch zurück. Jetzt sei nur hervorgehoben, daß Edith Stein, als sie nach Göttingen kam, das damalige Hauptwerk Husserls, nämlich die Logischen Untersuchungen, die ihr ein Kollege empfohlen hatte, schon kannte. Der Kollege war ein gewisser Dr. Moskiewicz, der später auch in Göttingen weilte. Er leitete dort eine Studentenorganisation, die sogenannte "Philosophische Gesellschaft". Er machte Edith Stein darauf aufmerksam, daß Husserl - im Vergleich zu dem,

Das Haus steht doch noch in Breslau: an der Nowowiejska Str. 38 (Anmerkung des Herausgebers [R. S. Ingarden]).

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was damals in der Philosophie überhaupt und in Breslau insbesondere geboten wurde - einen ganz anderen Arbeitsstil hatte. Edith Stein ist bis zum Ausbruch des Krieges in Göttingen geblieben. Sie konnte dort eine sehr interessante Erfahrung machen. Im Semester 1913/14 las nämlich Husserl im Seminar den ersten Band der Ideen zu einer reinen Phänomenologie.

Das

Seminar wurde außerordentlich interessant, weil es dort - wie Sie wahrscheinlich wissen - eine Opposition unter den Zuhörern (Husserls Schülern) gab; eine Opposition, welche gegen bestimmte Husserlsche Thesen gerichtet war. Dann kam der Krieg. Edith Stein konnte noch einen Teil der Vorlesungen über Logik hören, welche Husserl damals hielt. Im Januar 1915 hat sie das Staatsexamen abgelegt. Dann - was ich unterstreichen möchte - hat sie sich als Krankenschwester zum Militär gemeldet. Sie war deutsche Patriotin und in der deutschen Kultur ganz und restlos verwurzelt. Außer mit Philosophie beschäftigte sie sich mit Geschichte und Germanistik. Mehr noch, sie war Patriotin des preußischen Staates. Als junges Mädchen war sie, wie sie selbst schreibt, sehr liberal, linksorientiert gewesen, wie das damals in den jüdischen Kreisen Mode war. Während des Studiums - teilweise, wie ich meine, unter dem Einfluß Lamprechts, den sie in Göttingen hörte, und welcher, wie bekannt, laudator temporis acti und des wilhelminisch-preußischen Staates war - hat sie sich mehr der konservativen, sogar preußischen Richtung angeschlossen. Das ist insofern wichtig, als sie ein Opfer der späteren Entwicklung wurde. Sie hat jedoch niemals ihre jüdische Herkunft verleugnet. In ihrem Curriculum vitae (das in ihre Dissertation aufgenommen wurde) hat sie geschrieben: "Ich bin preußische Staatsangehörige und Jüdin." Das war also ganz klar. Nachher, als sie Göttingen verließ, schrieb sie ihre Dissertation, und im Juli 1916 kam sie mit der beendeten Arbeit nach Freiburg. Husserl las diese Arbeit während eines Monats. Am 3. August 1916 war das Doktoratsexamen, wonach Edith Stein Assistentin Husserls wurde mit der ganz bestimmten Aufgabe, die Manuskripte, die die Grundlage des sogenannten zweiten und dritten Teils der Husserlschen Ideen bildeten, zu bearbeiten. In dieser Stellung ist sie ungefähr zwei Jahre geblieben. Bemerkenswert ist, daß es auch eine sehr verdienstliche Arbeit war, denn man mußte teilweise den Text erraten. Wir wissen, wie Husserl geschrieben hat. Zuerst mußten die Manuskripte aus dem stenographischen Text entziffert werden, welcher mit

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der speziellen Methode der Husserlschen Stenographie aus den siebziger Jahren geschrieben war, und dann mußte das Stenogramm in normaler Handschrift abgeschrieben werden. Sie hat das alles gemacht; es gibt Hunderte von Handschriftenseiten. Später hat sie von Husserl Abschied genommen in dem Sinn, daß sie - auf eigenen Wunsch - aufhörte, seine Assistentin zu sein. Meiner Meinung nach aus dem Grund, weil Husserl ihrer gerechtfertigten Forderung nicht entsprach: Edith Stein bearbeitete den zweiten und dritten Teil der Ideen·, das bedeutete in der damaligen Redaktion etwa tausend Seiten Maschinenschrift. Sie wollte jedoch, daß Husserl das läse und mit ihr bespräche, ob sie den Text richtig interpretiert habe. Husserl kam aber nie mehr darauf zurück, denn als er den ersten Teil der Ideen herausgegeben hatte, wurde er zu anderen Arbeiten bewogen. Er hat ganz und gar von der Problematik der Ideen Abstand genommen. Er beschäftigte sich bereits mit anderen Dingen und - das müssen wir sagen - er las zwei Tage lang, was ihm Edith Stein vorlegte. Es langweilte ihn, er legte es beiseite und es blieb bei ihm unberührt liegen, ein, zwei, drei Monate, ein halbes Jahr, und wurde nicht weiter bearbeitet. Edith Stein schrieb ihm in einem Brief: "Entweder arbeiten wir zusammen, oder Du arbeitest allein; ich bin immer dazu bereit, Dir zu dienen, aber Du mußt mich als Assistentin aus der Stelle entlassen." Und sie hörte auf, Assistentin zu sein. Nota bene: sie hat - schon als Privatperson - die zweite Redaktion der Ideen vorbereitet, welche wahrscheinlich die Grundlage für das bildete, was nach dem Krieg herausgegeben worden ist. Landgrebe "frisierte" ein wenig, er hat aber fast nichts geändert. Und daß wir heute den zweiten Band der Ideen haben, verdanken wir Edith Stein. Es gab in Göttingen noch einen anderen Professoren fur Philosophie, welchen wir sehr bewunderten. Ich muß sagen: ein junger Mann. Er war vierunddreißig Jahre alt, als er fiel. In der Zeit, wo er unser Lehrer war, war er dreißig. Es war Adolf Reinach. Wenn es um die Fähigkeit ging, ein Seminar zu fuhren, muß ich gestehen, daß er der beste Lehrer war, den ich je getroffen habe. Weder Twardowski noch Husserl konnten ihm das Wasser reichen, sowohl was die Formulierung der Probleme als auch was die Stellungnahme zu ihrer möglichen Lösimg betraf. Er hatte immer ein Beispiel bei der Hand, er verstand alles, was man ihm zu sagen hatte. Diese seine Verstehensbereitschaft war wichtig, weil wir - selbstverständlich - unklar gesprochen haben.

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Ich erwähne ihn deshalb, weil Edith Stein der Familie Reinach sehr nahe stand, das heißt Reinach selbst und seiner Frau, und dies auf theoretischem Gebiet wie auch ganz persönlich und privat. Reinach, "der kleine Knabe", weil er zum Militär nicht fähig war, hat sich selbst gemeldet und sich um seine Annahme bemüht. So außerordentlich war jener Wahn, damals im Jahr 1914, als alle kämpfen wollten. Als wir uns 1914 verabschiedeten, waren die letzten Worte, die ich von Reinach hörte, die folgenden. Ich fragte ihn: "Müssen Sie auch an all dem teilnehmen?" - auch weil ich meinerseits nach Polen fuhr, um zu sehen, was damals geschah. - "Selbstverständlich, wir sehen uns wahrscheinlich das letzte Mal." So war es auch. Dieser Tod, welcher im November 1917 eintraf, hat ohne Zweifel in gewisser Weise das spätere persönliche Schicksal Edith Steins beeinflußt, und das umsomehr, als noch etwas hinzukam: als Reinach noch im Feld war - er war die ganze Zeit an der Westfront und ist eigentlich infolge seiner Tapferkeit gefallen - , machte er gewisse, mir nicht näher bekannte (weil ich ihn nicht mehr sah) religiöse Erfahrungen. Edith Stein hat aber bestimmt davon gehört, da sie ihn mehrmals in Göttingen traf, als er auf Urlaub kam. Ich habe ihre Reaktion nach seinem Tod gesehen. Was für einen schrecklichen Eindruck hat Reinachs Tod auf sie gemacht! Ich bin der Meinung, daß es der Anfang gewisser Wandlungen war, die sich später in ihr vollzogen haben. Von 1923 an arbeitete Edith Stein in Speyer. Es gab dort ein MädchenLyzeum oder Seminar; sie lehrte selbstverständlich Philosophie.4 Das war schon in der Zeit, als sie katholisch war. Ich weiß nicht genau, welches das Datum ihrer Taufe ist. Es gibt deren zwei, die nicht übereinstimmen. Das erste ist März 1921. "Ich fahre nach Göttingen wegen der wichtigsten Sache in meinem Leben", schrieb sie. Was konnte das sein? Ganz offiziell dagegen wurde geschrieben, daß sie die Taufe am 1. Januar 1922 empfangen habe. Mehrmals versuchte sie sich zu habilitieren; aber Husserl - wie die alten Herren jener Zeit - war der Ansicht, daß Frauen sich nicht habilitieren sollten. Also habilitierte sie sich nicht, obwohl sie die wissenschaftlichen Leistungen dafür vorzuweisen hatte. Dasselbe gilt für die zweite Phänomenologin, Hedwig Conrad-Martius. Trotz ihrer Jahre ist sie erst nach dem Krieg

In der Tat wurde sie als Deutschlehrerin in der Schule des Dominikanerinnenklosters St. Magdalena angestellt (Anmerkung des Übersetzers).

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"Honorar-Professor" geworden, das heißt - wie Jean Hering sagte - "Professor ohne Honorar". Etwa 1930 versuchte sich Edith Stein - unabhängig von Husserl - in Göttingen zu habilitieren; die Atmosphäre war aber schon so, daß es ihr nicht gelungen ist. Es hat nicht erst 1933 in Deutschland begonnen, sondern weit früher. Im März 1933, unterwegs von Breslau nach Köln, hat sie mir eine Karte geschrieben: "Ich fahre ins Kloster." Ursache? Es steht eine Bemerkung drin: "Das ist eine alte, unter dem Druck der Verhältnisse beschleunigte Absicht." Und dann befand sie sich im Kloster, zuerst in Köln; später (1938) wurde sie nach Echt in Holland versetzt. In Köln schrieb sie zuerst ihr Tagebuch, das, soweit es erhalten ist, zum Teil jetzt publiziert worden ist. Und dann - wie sie es in diesem Tagebuch bemerkt und was übrigens von anderer Seite bestätigt wurde - hat sie den Auftrag bekommen, ein großes philosophisches Werk zu schreiben. Das Werk wurde unter dem Titel Endliches und ewiges Sein herausgegeben, aber - soviel ich weiß - trug es zuerst einen anderen Titel5 nämlich Akt und Potenz, einen aristotelischen Titel. Im Kloster, in den Jahren 1935 und 1936, hat sie dieses Buch geschrieben, welches 500 Seiten umfaßt. Sie hat noch (in Echt) etwas anderes geschrieben, und zwar die Kreuzeswissenschaft, eine Studie über Johannes vom Kreuz. Es ist ein Werk mystischer Prägung, über welches ich hier nicht sprechen werde. Und dann kam der Tag, an dem der Hirtenbrief der holländischen Bischöfe, der verfolgte Juden in Schutz nahm, veröffentlicht wurde. Als Antwort ging die Gestapo in die Klöster und verlangte die Auslieferung der Juden. Interessant: im Kloster der unbeschuhten Karmelitinnen in Echt haben sie nicht nach "Schwester Theresia", sondern nach "Fräulein Dr. Edith Stein" verlangt. Sie wußten, daß sie da war. Woher, ist schwer mit Sicherheit zu sagen. Pater van Breda, Professor in Louvain, sagte einmal zu mir: "Wissen Sie, sie war Preußin, sie hat sich selbst gemeldet, als der Befehl erlassen wurde, daß sich die deutschen Untertanen zu melden haben." Ich weiß nicht, ob er die Wahrheit sagte, aber es wäre für sie sehr charakteristisch. Eine andere Version hat mir unsere gemeinsame Kollegin, Frau Gerda Walther erzählt, die zwar das ganze Leben lang Sozialistin war, aber in diesem Krieg

Akt und Potenz ist eine unveröffentlichte Vorarbeit zu Endliches und ewiges Sein (Anmerkung des Übersetzers).

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als Spitzel in der deutschen Zensur arbeitete. Sie lautete: "Das Kloster hat ja in die Schweiz geschrieben; man wollte sie in die Schweiz fortberufen. Der Brief wurde mit der staatlichen Post versandt. Sie wußten doch alles; sie mußten keineswegs nachspüren, sie hatten ganz einfach alles in der Hand, sie haben doch alles gelesen, umsomehr als die Post aus einem Besatzungsland in die Schweiz geschickt wurde." Wie es wirklich war, weiß ich nicht; auf jeden Fall kamen sie und haben sie festgenommen. Nach einigen Tagen (es wird, ich weiß nicht aus welchem Grund, vom 9. August 1942 gesprochen) soll Edith Stein mit ihrer Schwester (Rosa) in Auschwitz umgekommen sein. Das sind Informationen von draußen, welche ich mir Ihnen zu erzählen erlaube. Auf die nähere Charakteristik ihres Geistes werde ich aufmerksam machen, wenn ich zum Wesentlichen übergehe. Vielleicht wird es nützlich sein, über die publizierten Schriften Edith Steins zu sprechen. Einen Teil davon bilden diejenigen Werke, die sie selbst veröffentlicht hat. Die Schriften aus dem Nachlaß formen den anderen Teil; sie sind nach dem Krieg von einer gewissen Frau Gelber veröffentlicht worden. Es wird noch jemand von Seiten der holländischen Geistlichkeit6 als Mitherausgeber aufgeführt. Ihre erste Arbeit ist einfach ihre Dissertation aus dem Jahr 1916 mit dem Titel Zum Problem der Einfühlung, welche teilweise 1917 herausgegeben wurde, nämlich der zweite bis vierte Teil. Man mußte die Kosten der Veröffentlichung selbst tragen; deshalb ist nur ein Teil der Arbeit publiziert worden. Spätere Arbeiten sind im sog. Phänomenologischen Jahrbuch (im 5. und 7. Band) erschienen. Die ersten zwei wurden unter dem gemeinsamen Titel Beiträge zur philosophischen Begründung der Psychologie und der Geisteswissenschaften veröffentlicht, tatsächlich aber sind es zwei verschiedene Arbeiten. Die erste - etwa 120 Seiten lang - trägt den Titel Psychische Kausalität, die zweite Individuum und Gemeinschaft. Es ist eine die philosophischen Grundlagen der Soziologie darstellende Arbeit, und zwar die Strukturfragen, und - wie ich sagen würde - die ontologischen Grundlagen der Gemeinschaft. Edith Stein beruft sich ausdrücklich auf die Arbeit von Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Sie bemüht sich aber in ihrer Untersuchung nicht, alle Formen des gesellschaftlichen Lebens zu erfassen, sondern nur die Gemeinschaft, d. h. die Gemeinde, das Gemein-

Es handelt sich um Pater Romaeus Leuven OcD (Anmerkung des Obersetzers).

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schaftsieben. Diese Arbeit wurde 1922 gedruckt; geschrieben aber wurde sie bestimmt früher. Das kann ich behaupten, da eine Arbeit von mir - welche in demselben Jahrbuch erschien - mit dem Datum 1921 als Sonderdruck gekennzeichnet, erst gedruckt wurde, als der Satz der Arbeit Edith Steins schon fertig war. Demgemäß ist sie etwa 1920, vielleicht schon 1919 geschrieben worden. Bemerkenswert ist die Zeit der Entstehung im Hinblick darauf, daß es die Zeit ihres Übergangs von der alten zur neuen religiösen und katholischen Einstellung war. Jemand mag vielleicht fragen, ob überhaupt einige Spuren - und welche - da sind, an denen der Unterschied zwischen der früheren und der späteren Einstellung erkennbar wäre. Diese Symptome sind an zwei oder drei Stellen im Text sichtbar und - mehr noch instruktiv für den, der sie persönlich gekannt hat. Sie sind aufschlußreich hinsichtlich der Gründe und der seelischen Dispositionen, die Edith Steins Übertrtritt zum katholischen Glauben erklären könnten. Ich werde nicht näher darauf eingehen: Ich bin der Ansicht, daß die Gründe, aus welchen sie katholisch wurde, ihre private und persönliche Angelegenheit sind und niemanden etwas angehen. Bemerkenswert ist nur, daß sie katholisch geworden ist, obwohl sie vorher in einer ganz anderen Atmosphäre erzogen wurde; ihre Mutter war tiefgläubige Jüdin. Die dritte, de facto die vierte Arbeit, trägt den Titel: Eine Untersuchung über den Staat. Es ist eine Arbeit aus der philosophischen Staatstheorie. Von dieser Theorie verstehe ich nichts. Die Arbeit ist 1925 erschienen, aber vielleicht schon im Jahr 1923 entstanden. Ich bin dieser Meinung, weil sie vor meiner (Habilitations)Arbeit neugedruckt wurde; zwei Korrekturbogen davon hatte ich bei der Habilitation in der Hand, das heißt im Juni 1924. Der ganze Band kam erst 1925 heraus, weil der Druck sehr lange dauerte. Ich hebe das deshalb hervor, weil die nachfolgende Arbeit Edith Steins im Jahr 1929 veröffentlicht wurde. Das bedeutet eine sechsjährige Unterbrechung. Die Arbeit aus dem Jahr 1929 ist eigentlich ein kleiner Artikel, welcher der Gegenüberstellung der Husserlscher Phänomenologie und der Philosophie des hl. Thomas von Aquin gewidmet ist: 20 Seiten. Das ist das erste Anzeichen ihrer neuen Interessensphäre. Außerdem hat sie auch übersetzt. Im Jahr 1928 ist ihre Übersetzung von Newmans Briefen und Taschenbüchern erschienen. Es ist ein großes Buch von einigen hundert Seiten. Später veröffentlichte sie - das Datum konnte ich leider nicht herausfinden, weil mein

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Exemplar in Lemberg geblieben ist - die Übersetzung, mit Kommentar, der Quaestiones disputatae de vertíate des hl. Thomas von Aquin. Ich habe das damals gelesen und weiß, von welchem Rang diese Übersetzung ist. Zum zweiten Mal ist das Buch nach dem Krieg veröffentlicht worden, in den fünfziger Jahren, als 3. und 5. Band der Gesammelten Schriften. Dazu kommt noch eine aus dem Jahr 1939 stammende Arbeit Über die Stellung der Frau o oder etwas ähnliches. Ich interessierte mich nicht dafür; sie wußte das und hat mir den Text nicht zugeschickt; ich weiß nur, daß so etwas vorhanden sein muß. Später, im Jahr 1935/36 (schon 1923/24 fing sie damit an) wurde Endliches und ewiges Sein geschrieben. In einem gewissen Sinn ist es die Arbeit neuer Prägung, obwohl Edith Stein auch darin Phänomenologin geblieben ist. Obzwar - wie es scheint - das Manuskript (vielleicht in München) zum Druck gesetzt wurde (selbstverständlich aber nicht veröffentlicht werden konnte), ist das Buch erst nach dem Krieg, als zweiter Band ihrer Gesammelten Werke erschienen. Der erste Band, welcher im Jahr 1950 herauskam, ist die Kreuzeswissenschaft - ihre letzte Arbeit. Wann sie sie geschrieben hat, weiß ich nicht genau. Nach Informationen aus zweiter Hand - d. h. nach den Herausgebern - war die Arbeit in dem Moment, wo sie am 3. August 1942 festgenommen wurde, noch nicht fertig, sondern befand sich in der Phase der Bearbeitung. Es sind dies ja die letzten Monate oder das letzte Jahr ihres Lebens. Im ganzen sind bis jetzt sieben Bände erschienen, fünf habe ich schon erwähnt. Dazu kommt der Band Welt und Person, welcher im Jahr 1962 veröffentlicht wurde. Der Band umfaßt verschiedene Aufsätze und Artikel: drei über Phänomenologie, einen über Heidegger, eine Arbeit unter dem Titel Die Seelenburg (eine Beilage zum großen Band Endliches und ewiges Sein); anschließend kommt eine letzte Arbeit, die in diesem Band ihren Platz gefunden hatte: Die ontische Struktur der Person. Endlich hat man als den 7. Band der Gesammelten Werke das schon erwähnte Tagebuch herausgegeben, das mit ihrer Doktorprüfung abschließt und den

Erstauflage 1931 bei Burgmeyer, Breslau; neuherausgegeben von Herder 1952 (Anmerkung des Obersetzers). Wahrscheinlich Frauenbildung und Frauenberuf hrsg. bei Schuele, München, Steiner Verlag 1979; oder Ethos und Frauenberuf, Augsburg, Haas und Grabmann 1932 (Anmerkung des Übersetzers). In der Tat in Breslau.

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Titel Aus dem Leben einer jüdischen Familie trägt. Es ist die Geschichte ihrer Familie. Sie hat aber auch etwas über ihren Aufenthalt in Göttingen und in Freiburg bis zur Promotion geschrieben. Alles zusammen sind das etwa 1500 Druckseiten10. Ich denke, daß es zwei Phasen in der wissenschaftlichen Entwicklung Edith Steins gibt, die durch eine ziemlich lange Periode des Schweigen voneinander getrennt sind. Letztere kann aber keineswegs als Untätigkeitsperiode gelten, sondern muß als die große Vorbereitungszeit zur Wandlung angesehen werden. Diese zwei Arbeitsphasen unterscheiden sich durch den Stil der Arbeit, nicht aber durch die Schaffensmethode. Edith Stein war Phänomenologin, und sie arbeitete in derselben Weise weiter, obwohl es einige Abweichungen gibt, nämlich in der großen Arbeit über das Sein. Der Unterschied tritt aber in der Problematik deutlich hervor. Die Problematik der ersten Periode dreht sich immer um dieselbe Frage; sie ist auf die Aufgabe der "Grundlegung", der - wie die Deutschen es nennen - "Geisteswissenschaften" gerichtet. Seit ihrer ersten Arbeit bis zur Untersuchung über den Staat dient eigentlich alles demselben Zweck; nur später werden noch einige Unterschiede zwischen der Begründung der Psychologie und derjenigen der Geisteswissenschaften hinzugefugt, die im Zusammenhang mit ihrer Konzeption des Menschen, eventuell der menschlichen Person stehen. Was die zweite Periode betrifft, so werde ich im Prinzip nur über das Buch Endliches und ewiges Sein sprechen. Es wird darin die ontologische Problematik erwogen, ontologisch im klassischen Sinn des Wortes seit Aristoteles bis zur sog. Ontologie der Phänomenologen. Tatsächlich unterscheidet sich die letztgenannte teilweise von der ersten: jene war nämlich metaphysisch, diese hütet sich, in bestimmten Problembereichen metaphysische Entscheidungen auszusprechen, und versucht - um es allgemeinverständlich zu sagen - die ontologischen Grundbegriffe herauszuanalysieren. Die neue Problematik, mit der sich Edith Stein jetzt beschäftigt, läuft deutlich auf die Gottesproblematik hinaus, wovon früher keine Rede war. Wie ich schon erwähnt habe, gibt es in der Arbeit Individuum und Gemeinschaft einen in dieser Hinsicht instruktiven Abschnitt, welcher deutlich anzeigt, daß die Autorin eine bestimmte Er-

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Die Bände 8 und 9 erschienen 1976; sie sind ein "Selbstbildnis in Briefen" (Anmerkung des Übersetzers).

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fahrung, eine Gotteserfahrung nämlich, gemacht hat und daß diese Erfahrung eine gewisse positive Antwort bewirkte. Das wurde ausdrücklich gesagt. Die philosophische Gottesproblematik des ewigen Seins wurde von ihr früher nicht berührt. Es gibt auch einen Unterschied - zweiten Ranges vielleicht im Stil der Arbeit. Alle ihre früheren Arbeiten sind - der Methode nach phänomenologisch, das heißt, nicht die Literatur wird als Ausgangspunkt genommen, sondern am Anfang werden konkrete, sachlich gerichtete Fragen gestellt, auf welche man zu antworten versucht. Stellung zur Literatur wird erst später, in der Diskussion, bezogen: das und das kann hier und dort gefunden werden, hier und dort stimme ich der Sache nicht zu, in diesem Punkt aber bin ich mit der Meinung des Verfassers einverstanden. Der Ausgangspunkt ist immer ein rein sachlicher; es geht um diejenigen Fragen, die am Anfang gestellt werden müssen. Alle, die zur phänomenologischen Gemeinschaft gehörten, machten es so. Auch Husserl - außer in einer oder zwei Arbeiten, in denen er anders verfuhr, z. B. polemisierte - arbeitete in dieser Weise. In der großen Arbeit Edith Steins aber, die bereits im Kloster geschrieben wurde, sieht alles anders aus: zuerst eine Darstellung der fremden Meinung, anschließend der Versuch einer Auseinandersetzung mit bestimmten Fragen, in welcher gewisse phänomenologische Entscheidungen verteidigt werden. Ich muß hinzufugen, daß diese Beschäftigung mit der Literatur in doppelter Weise vor sich geht. Zuerst Aristoteles. Es handelt sich hier um die aristotelische Metaphysik, um einige seiner Begriffe: "Akt und Potenz", "Hyle und Morphe", und erst in deren Erörterung beginnt sie, eigene entsprechende Begriffe auszuarbeiten. Es muß zudem festgestellt werden, daß es keineswegs ein "reiner" Aristoteles ist. Es ist Thomas. Und Edith Stein hat bestimmt - dafür habe ich Beweise - zwei Arbeiten von Thomas im Original gelesen: De ente et essentia und Quaestiones de vertíate. Das spürt man sofort aus der Stellungnahme, aus der Diskussion- Was die anderen Texte betrifft, ist das nicht sicher: Ich weiß nicht, wie das mit der ersten und der zweiten Summa ist. Sie beruft sich in einem Abschnitt darauf. Manchmal bezieht sie sich auf Gredt, einen der Interpreten von Thomas ihrer Zeit. So weiß ich nicht, inwieweit Edith Stein in jeder Hinsicht zu den Originaltexten von Thomas gegriffen hat. Es wäre doch eine ungeheure Arbeit gewesen, alle seine Texte zu lesen; so würde es mich nicht wundern, wenn sie andere Quellen herbeigezogen hätte. Noch ein Zug ist meiner Meinung nach für sie cha-

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rakteristisch. Ich bin überzeugt, daß Edith Stein kein einziges Wort schrieb, an welches sie nicht glaubte, und daß sie niemals etwas im Geist des Konformismus getan hätte. Ein Zeugnis dafür ist, daß sie eine Reihe von Sätzen gegen Thomas äußerte, und zwar in der Frage nach den idealen Gegenständen, den Ideen usw. Es gibt noch weitere Stellen, die auch den Begriff der Form und Materie betreffen, gegen die (nachdem die fremde Meinung dargestellt worden ist) der eigene Standpunkt ausdrücklich vertreten wird, ohne sozusagen - Angst davor zu haben. Noch etwas anderes möchte ich hervorheben: bei der Besprechung fremder Meinungen, (insbesondere im De Deo aus dem ersten Teil der Summa) wird deutlich darauf hingewiesen, daß etliche Thesen nicht verstanden werden können, nämlich Behauptungen, die den "Actus puras" betreffen. An weiteren Stellen, die - wie oben erwähnt wurde - die Vereinigung der Form mit der Existenz, entweder mit der Materie zusammen oder ohne Materie betreffen, wird die Stellung des hl. Thomas untersucht, aber an verschiedenen anderen Stellen ist zu lesen: "Das kann ich nicht verstehen." Damit ist ein Art Grenze gezogen zwischen den Abschnitten, wo sich die Autorin kompetent fühlt als Philosophin, und denen, wo sie als Philosophin nichts zu sagen vermag. Auf der einen Seite gibt es eine ganze Reihe von Behauptungen, welche sie von sich aus äußert, wenn sie die Frage untersucht, die - wie ich (meiner Terminologie nach) gerne sagen würde - die Form, die Materie und die Existenz der sog. "reinen Geister", d. h. der Engel betrifft. Wo sie aber die Frage nach der Heiligsten Dreifaltigkeit aufnimmt, spricht sie im Geiste der Tradition einer bestimmten Religion. Das heißt, es geht nicht darum, eine - sozusagen - rationale Theologie zu betreiben oder eine Theologie, die sich zur Aufgabe stellt, einige Fragen und Behauptungen zu besprechen, die in jedweder Religion wahrhaftig sein könnten oder angenommen werden dürften; es geht hier um einige spezielle Behauptungen, welche für die bestimmte [christliche] Religion charakteristisch sind. Hier verschwindet der Unterschied zwischen ihrer philosophischen Stellungnahme und dem, was ohne Zweifel nicht mehr zur Philosophie, sondern zu einer bestimmten Theologie gehört - und was selbstverständlich auf diese oder andere Weise behandelt werden kann. Ich würde nicht zu sagen wagen, daß diese ihre immer wiederkehrende Behauptung, daß sie nicht verstehe, daß man nicht verstehen könne, ausgerechnet mit jenem Moment ihrer geistigen Entwicklung zusammenhänge, wo sie sich selbst sagte:

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mit der Philosophie bin ich eigentlich fertig, jetzt muß ich mich Johannes vom Kreuz zuwenden. Es kann sein; es kann auch sein, daß es das in gewissem Sinne tragische Finale fur die Autorin war, das darin bestand, darauf zu verzichten, weiter Philosophie zu betreiben. Sie hat darauf verzichtet, Philosophie auf die Weise zu pflegen, wie sie von Husserl immer wieder auf seine Fahne geschrieben ward und die auch sie ganz und gar übernommen hatte: In der Philosophie darf nichts angenommen werden, dessen absolute Evidenz nach der durchgeführten Analyse - nicht gewonnen werden kann. Es ist nicht erlaubt, Behauptungen zu äußern, fur welche das Fundament in der Erfahrung - im breitesten Sinne des Wortes - ungeklärt bleibt; ζ. B. zu sagen: es sind die Fragen, die mich bewegen, aber ich verstehe nichts, ich kann keine Intuition oder Evidenz gewinnen ... ganz einfach: ich weiß nicht... Für jemanden, der auf andere Weise als Husserl und die Phänomenologen Philosophie betreibt, kann die Frage nach den radikalen Grundlagen der philosophischen Entscheidungen keine Rolle spielen. Ich habe den Eindruck, daß fur sie diese Frage von Belang war. Deshalb denke ich, daß es eine tiefe innere Krise war, aus welcher sie, meiner Meinung nach, in einer für sie glücklichen Weise herausgekommen ist. Ich möchte aber hier ein Mißverständnis beseitigen: in bestehenden philosophischen Schriften finden sich ganz allgemein viele Behauptungen, die durch keinerlei letztgültige Intuitionen gedeckt sind. Das ist natürlich eine Schwäche, die uns Menschen eigen ist, und wir bereuen es sehr. Dennoch gilt das Prinzip, daß wir versuchen müssen - und eben dies hat sie mit Sicherheit auch versucht - nur das zu sagen, was durch die Evidenz gedeckt ist. (...) Wie kann diese erste Phase, die Problematik der ersten Schaffensperiode, d. h. die Frage nach der Grundlegung der Geisteswissenschaften begriffen werden? Ihr und unser Meister (Husserl) war doch von Beruf Mathematiker. Ich weiß nicht, was ihm aus der Physik bekannt war, es scheint nicht allzuviel gewesen zu sein. Im Geiste aber war er eben Mathematiker, später Logiker; die Fragen nach dem Menschen waren relativ weit von ihm entfernt. Noch im Jahr 1911 - als er die "Philosophie als strenge Wissenschaft" schrieb (ein Artikel in Logos) - polemisierte er. Mit wem? Er setzte sich mit seinem Wohltäter, d. h. mit Dilthey auseinander, gegen Weltanschauungsphilosophie, gegen eine Einbringung der ganzen diltheyschen Problematik in seine eigenen philosophischen Forschungen. "Philosophie als strenge Wis-

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senschaft" sollte fast "more geometrico" gepflegt werden. Und jetzt interessierte sich seine Schülerin fur die Grundlagen der Geisteswissenschaften. Das hatte bestimmte Ursachen. Zunächst ist das so, weil Edith Stein nicht Mathematik, sondern Geschichte, deutsche Literatur usw. studiert hatte. Zweitens studierte sie Philosophie in Breslau, und zwar unter wissenschaftlich ziemlich unglücklichen Umständen. Es gab dort - an den Namen erinnere ich mich nicht - einen gewissen Hauptordinarius11, der ein Buch - wie mir scheint über Goethe und Schiller veröffentlichte, so daß alle Fremden - wie Edith Stein selbst schreibt - glaubten, er sei Literaturwissenschaftler. Philosophie gab es dort kaum. Außerdem waren noch zwei andere dort. Einer, William Stem, war damals außerordentlicher Professor, und - wie bekannt beschäftigte er sich mit der Psychologie und der Sprache des Kindes usw. Auf eigene Weise. Er hat zwar Person und Sache geschrieben, ein großes Werk, auf welches er - wie es scheint - Nachdruck legte; praktisch aber war er ein empirischer, experimenteller Psychologe eines bestimmten Typus. Zum Beispiel hat er Edith Stein empfohlen, ihre Dissertation über die Reaktionen des Kindes auf verschiedene "Bildchen" zu schreiben, was sie mit Empörung abgelehnt hat. Anschließend kam Hönigswald hinzu, welcher Dozent war und auch in dieser Zeit las; er hat irgendein psychologisches Werk geschrieben. Ihre Reaktion ist uns bekannt, weil sie diese selbst in ihrem Tagebuch beschrieb: "Ich habe mich überzeugt, daß es eine Wissenschaft ohne Methode und ohne Grundlagen ist und daß eigentlich nichts Interessantes darin steht." In Göttingen, bei Georg Elias Müller, gab es zwar eine Psychologie mit den großen Methoden, nämlich mit den experimentellen, naturwissenschaftlich-statistischen; aber Wissenschaft vom Menschen gab es auch da nicht. Empfindungen usw., sinnliche Empfindungen, Farbempfindungen ..., man machte alles experimentell, und die untersuchten Personen mußten sich vor Aussagen hüten, welche nicht genau der Empfindung entsprachen, weil diese schon unwissenschaftlich waren. Vom Menschen war dort keine Rede. Das einzige Buch Müllers, welches hier in Betracht gezogen werden kann, ist das Über das Gedächtnis, doch enthält es auch nur experimentelle Untersuchun-

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Anmerkung des Herausgebers [R. S. Ingarden]: Eugen Kühnemann; siehe: Edith Stein, Aus dem Leben einer jüdischen Familie, Louvain 1965, S. 122.

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gen, welche an dem "Zahlenvirtuosen" Rückles durchgeführt wurden, der wunderbare Sachen machen konnte; der Verfasser untersuchte bei dieser Gelegenheit das unvisuelle Gedächtnis Rückles. Worauf ist Edith Stein in Göttingen noch gestoßen? Auf den zweiten Band der Logischen Untersuchungen. Was war das? Man kann sagen, daß es eine Art beschreibende Psychologie des Denkens war. Sie wurde von der Sache ergriffen und auch davon, daß hier bestimmte deskriptive Ergebnisse an Hand einer Methode gewonnen wurden. Jedoch war in ihr das Bedürfiiis nach einer anderen Psychologie, einer anderen Wissenschaft vom Menschen, sehr lebendig, weil sie den Mangel auf Gebiet der Psychologie erkannt hatte. Zugleich darf nicht vergessen werden, daß im Jahr 1912 Wilhelm Dilthey, dessen Theorien erst am Ende seines Lebens und später nach seinem Tod wirksam zu werden begannen, schon gestorben war. Es sind Diltheys Schüler, Spranger und andere, die ihn in den Vordergrund gerückt haben. Dazu kommt noch etwas. In den Arbeiten Edith Steins nämlich, welche entweder die Einfühlung oder das Individuum und die Gemeinschaft betreffen (quasi die Grundlagen der Soziologie), wird eine Frage immer wieder hervorgehoben: die Frage nach der Natur des Menschen, der menschlichen Person. Ihre erste Arbeit, ihre Dissertation, hat zwei Themen: das Thema der Einfühlung und das Thema des Aufbaus dessen, was "psychophysisches Individuum" genannt wird. Hier tritt in einem bestimmten Moment der Geist hervor, und es erscheint auch die Person. Die tiefsten, die interessantesten, obzwar auch die fraglichsten Erwägungen in Individuum und Gemeinschaft sind der Struktur des Menschen gewidmet, seiner Seele - ich werde sofort genauer darauf zu sprechen kommen - und seinem "Geist". Dieses Thema kommt bei ihr immer wider vor bis zum Ende. Da es nicht angegeben wurde, weiß ich nicht, aus welcher Zeit "Die ontische Struktur der Person" 12

stammt; es ist aber eine ihrer letzten Arbeiten vor dem Klostereintritt. Also auch über die menschliche Person. Wer Endliches und ewiges Sein liest, wird sofort sehen, daß dort am meisten und in persönlicher Weise das Wesen des Menschen, das Wesen der menschlichen Person untersucht, erörtert und erwogen wird. Ich muß bemerken und unterstreichen, daß dort vom "ewigen 12

Nach dem Vorwort des Herausgebers der Werke 6 könnte dieser Text zwischen 1930 und 1932 geschrieben worden sein (Anmerkung des Übersetzers).

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Sein" relativ wenig gesprochen wird und daß dieses "Wenige" - soweit ich das beurteilen kann - von geringer Originalität ist. Das Thema des Menschen und seiner psychophysischen Struktur dagegen kommt immer wieder vor; es bewegt sie, darin will sie sich auskennen. Warum aber hat sie sich mit der Einfühlung beschäftigt, anstatt sofort die Person ins Zentrum zu rücken? Nämlich darum, weil in ihr das Interesse für die Grundlegung, fur das Schaffen der Grundlagen der Geisteswissenschaften sehr wach war; und sie dachte auch, daß die Einfühlung der Weg zur Klärung der theoretischen Grundlagen des Wissens nicht nur vom Menschen, sondern auch von der menschlichen Gemeinschaft sei. Außerdem war das Thema zur Zeit "en vogue" und ist von verschiedenen hervorragenden Leuten in verschiedenen Kontexten erörtert worden. Das Thema "Einfühlung" - ich komme gleich zur Frage, ob es möglich ist, sich so zu äußern - ist ein Thema, das im 19. Jahrhundert unter den Ästhetikern erwogen wurde. Es ist Friedrich Theodor Vischer, der bis zur Romantik, zu Novalis zurückgreift; dann kommt sein Sohn Robert; später finden sich eine ganze Menge Psychologen: Theodor Lipps, Hans Volkelt, Moritz Geiger, Witasek usw. Alle beschäftigen sich mit der sog. "Einfühlung" auf dem Sachgebiet der ästhetischen Fragen, obwohl alle, d. h. in erster Linie Lipps und Volkelt, "Einfühlung" im täglichen Leben und "Einfühlung" im Verkehr mit dem Kunstwerk unterscheiden. Es gibt aber nicht nur diese Welle. Auch Scheler hat sich mit diesen Dingen beschäftigt, er hat sich jedoch negativ zu dem Problem geäußert. Unter den Phänomenologen beschäftigte sich Geiger mit der Frage, und auch Husserl. Husserl hat aber einen anderen Aspekt in Betracht gezogen, von dem aus den Vorkriegszeiten keine schriftliche Spur erhalten geblieben ist außer den Méditations Cartésiennes von 1929, d. h. außer den "Pariser Vorträgen". Bei Edith Stein aber ist schon vorgesehen, wie sich diese Problematik weiterentwickeln soll. Husserl beschäftigte sich mit der Einfühlung im Zusammenhang mit der Schwierigkeit, auf die jeder Idealist stößt, wenn er nicht als Solipsist verurteilt werden will. Wie ist Solipsismus zu vermeiden, wenn über ein reines "Ich" und ein reines Bewußtsein des philosophierenden Subjekts gesprochen wird? Der Weg, den Husserl später wirklich in den Méditations Cartésiennes (1929) gegangen ist, um sich dem Solipsismus zu entziehen, führt gerade durch die sog. "Einfühlung" hindurch, welche er auf eigene Weise verstanden hat und welche uns den Weg zu den anderen Subjekten, zu anderen philosophieren-

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den Subjekten, zu anderen Monaden angeblich zugänglich macht. All das gilt für Edith Stein keineswegs als Ausgangspunkt. Wahrscheinlich wußte sie auch nichts darüber, weil sie zu der Zeit keine Husserlschen Manuskripte kannte. Sie kannte die Ideen, in welchen das Thema in einem Abschnitt leicht gestreift worden war. Dennoch hat sie Husserl diese ganze Reihe von Problemen in ihrer Dissertation vorgelegt und gezeigt, auf welche Weise es jetzt der Reihe nach - weitergehen soll, natürlich in einer sehr losen Zusammenstellung, in einer Skizze. Die Frage nach der Klärung der Möglichkeit der gegenseitigen Verständigung zwischen den Menschen hat sie am meisten bewegt, also die Frage nach der Möglichkeit der Schaffung einer menschlichen Gemeinschaft, welche nicht nur theoretisch, sondern auch für ihr Leben, in gewisser Weise für sie selbst, sehr nötig war. Ich habe schon vorhin gesagt, daß es eine solche Gemeinschaft der Göttinger Philosophen gab, daß wir uns manchmal, ohne ein Wort zu sagen, verstanden haben. Als wir uns nach Jahren wiedersahen, wußten wir nach wenigen Worten, womit dieser oder jener sich jetzt beschäftigt. Edith Stein war in dieser Gemeinschaft verwurzelt, und viele Jahre hindurch hat sie mit den Leuten aus dem Freundeskreis Kontakte fortgesetzt, soweit sie nur konnte. Sie brauchte aber - das sehe ich aus ihren persönlichen Erinnerungen - die Gemeinschaft mit der Nation, als deren Glied sie sich fühlte. Den ganzen Krieg erlebte sie in einer merkwürdigen Einstellung, als ob sie allein einen Kampf gegen etwas führen würde. Sie wollte dienen. Als sie noch Husserls Assistentin war, hat sie mir immer wieder geschrieben, ob sie eigentlich das Recht habe, sich jetzt mit Philosophie und solchen dummen Sachen zu beschäftigen, wenn Leute sterben, wenn man ihnen helfen sollte, wenn ... usw. So sehen wir, daß die Existenz einer solchen Gemeinschaft für sie etwas Persönlich-Wesentliches war, und daß sie nach der Grundlage der Entstehensmöglichkeiten von einer Gemeinschaft dieser Art suchte. In ihrer späteren Arbeit (aus den Jahren 1923 oder 1924) Individuum und Gemeinschaft spricht sie über verschiedene Möglichkeiten, wie Gemeinschaft und Kontakt zwischen den Menschen gewonnen werden können. Eine der Möglichkeiten ist gerade die "Einfühlung". Sie hat also alle diese Probleme eng verbunden. Nach dieser allgemeinen Skizze möchte ich noch ein paar Worte zu ihrer ersten Arbeit über die "Einfühlung" sagen. Diese Arbeit ist in Polen eigentlich nur in einem Exemplar vorhanden. Sie wurde im Jahr 1917 als Disserta-

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tion herausgegeben, in ungefähr 150 Exemplaren! Jetzt steht es besser, weil schon eine englische Übersetzung vorliegt; ich vermute jedoch, daß hier niemand dieses Buch besitzt, auch ich nicht. Infolgedessen meine ich, daß einige sehr skizzenhafte Angaben über diese erste Arbeit Edith Steins hier nützlich sein könnten. Als ich das Wort "Einfühlung" benützte, fügte ich gleich hinzu, daß ich nicht wisse, ob es vollkommen korrekt sei, sich so zu äußern. In der polnischen Sprache gibt es zwei passende Wörter, welche zugleich mit den zwei verschiedenen, gewöhnlich nicht voneinander getrennten Begriffen der "Einfühlung" verbunden sind: nämlich "Einfühlung" schlechthin und das "Sichin-etwas-Einfühlen", das "In-etwas-Hineindringen", etwas verstehen - auch mittelbar. Wenn man einfach "Einfühlung" sagt, ist der Unterschied kaum sichtbar. Dieser Begriff hat sich - sagen wir - zwischen den achtziger und neunziger Jahren des 19. und den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts weitgehend verändert, so daß eine umfassende Geschichte der Transformation der Konzeption der Einfühlung in der deutschen Philosophie geschrieben werden könnte. Die Arbeit Edith Steins wurde 1915/16 geschrieben und ist früher als viele andere Arbeiten über dasselbe Thema veröffentlicht worden. Es gibt ζ. B. eine Arbeit von Volkelt "Über das ästhetische Bewußtsein" aus dem Jahr 1920. Edith Stein kannte eigentlich Lipps nur aus einer Periode. Lipps ist zwar 1912 gestorben, aber nicht alles war zu jener Zeit herausgegeben worden; so daß ihre Arbeit als die erste in dieser bestimmten Entwicklungsphase dieses Problems, bzw. der Theorien, welche mit diesen Fragen verbunden waren, anerkannt werden muß. Die allgemeine Entwicklungslinie des Problems ist so, daß man mit der Frage beginnt, wie es eigentlich zugeht, wenn hier, vor mir, ein Stück Marmor liegt, ich aber sage: Frauenleib. Ich sage nicht: das ist Venus, weil mit dieser Feststellung eine literarische Geschichte verbunden ist; ich sage: Frauenleib. Im alten Luxemburgmuseum in Paris stand eine Skulptur von Moreau, "Bacchantin" genannt. Es ist ohne Zweifel - das spürt man sofort - eine in der Liebesextase liegende Frau. Ihr Lächeln sagt eigentlich alles aus; es ist ein Lächeln der Begeisterung, außerordentlicher Begeisterung. Nun gut, sagt man, aber das ist ein Stein, dir gegenüber. Woher stammt eigentlich dieses seltsame Phänomen? Was für ein Wunder hat es geschaffen, daß ich eine Frau sehe, und mehr noch, eine Frau in einer bestimmten Stimmung, eine

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etwas erlebende Frau, die Frau eines bestimmten psychisch-menschlichen Typus, eines bestimmten Charakters usw.? Man kann sagen: "das wird alles eingefühlt" - all das wird in den Stein hineingefühlt, du hast das hineingesteckt, du hast in diesen Stein hier irgendwie deine eigenen Erlebnisse oder Entwürfe, die Idee der Liebe oder der Begeisterung hineingelegt. Der Stein ist aus dem Vordergrund verschwunden und du hast jetzt eine Art Täuschimg vor dir, so wie noch Lessing davon redet: "Täuschung, und die Täuschung gefallt." All das wird von uns in den leblosen Stein hineingelegt, es kann nicht anders sein, weil der Stein doch ein Stein ist. Das ist der Ausgangspunkt der Ästhetik, welcher zum ersten Begriff der "Einfühlung" führt, die als das "Einfühlen-in-etwas" unserer eigenen Stimmungen, unserer eigenen Gefühle erfaßt wird. Dann kommen verschiedene genetische Theorien hinzu, nach welchen es verschiedene Ursachen für einen solchen Schein gibt, sei es Nachahmung oder irgend etwas anderes, der Effekt jedoch sieht letzten Endes so aus. Die Diskussion aber, welche sich über Jahre und sogar Jahrzehnte fortsetzte, hat endlich zur Einsicht geführt, daß diese Lösung als ungenügend betrachtet werden muß. Sei es auch nur deshalb, weil aus einer solchen Skulptur oder einem Bild, aus einem Porträt ζ. B., Daten ausstrahlen, welche nicht nur die Stimmung des entsprechenden Menschen, sondern auch seine psychische Struktur, seine psychische Reife erkennen lassen. Nehmen wir ein Beispiel aus einem mir bekannten Gebiet. Ich möchte auf einige Porträts von Rembrandt aufmerksam machen. Ich habe sie zum ersten Mal gesehen, als ich noch ein Knabe war; damals hatte ich keine Ahnung, wie erfahren und reif ein Mann im Alter ist. Da wurden mir auf Grund des gegebenen Kunstwerkes - psychische Tatsachen bewußt, von welchen ich aus meiner eigenen Erfahrung heraus keine Ahnung hatte. Einfacher gesagt, man verkehrt mit der Kunst, um sich durch fremde psychische Erfahrungen bereichern zu lassen, welche auf irgendeine Weise in die Farben und Gestalten hineingezaubert worden sind. Es ist ja mit den Menschen ähnlich. Ich habe ihn, sage ich, getroffen; ach, wie traurig war er! Warum bist du so traurig? Und jetzt beginnt er eine Geschichte zu erzählen. Hier dagegen wird mir gesagt: du hast es dir nur so eingebildet, du schreibst ihm deine eigene Trauer zu. Er hat nur die Grimasse auf dem Gesicht, dazu kommt nun noch deine eigene Illusion. Oder ein anderes Beispiel - man sagt: Heute ist ein hundsmiserables, wahnsinniges, verzweifeltes Wetter! Du steckst deine

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Stimmung in die ihrerseits doch ganz leblose, dem psychischen Leben fremde Landschaft hinein. Und wie ist es, wenn man guter Laune ins Gebirge geht, plötzlich aber in schlechtes Wetter kommt? Alles wird ekelhaft und widrig, denn jetzt fängt dieses Wetter an, auf mich zu wirken. Ich erlebe eine Wandlung, die gute Laune verläßt mich. Wozu geht man ins Gebirge? Um etwas zu erleben, was im täglichen, privaten Leben nicht zu erleben ist. Verschiedene wie die eben zitierten Tatsachen waren die Ursache, daß eine immer stärkere Tendenz zum Einverständnis führte, die sog. "Einfühlung" als "Eindringen-in-etwas" sei eine bestimmte Erfahrungsart. Es ist keine Telepathie, sondern eine Erfahrung, die sich auf bestimmte psychische Tatsachen stützt, Tatsachen, die ihrerseits diese Erfahrung verursachen und möglich machen. So trat langsam und immer deutlicher die Auffassung hervor, daß die sog. "Einfühlung" eine Art von Erfahrung sei. Was für eine Art der Erfahrung aber? Auch Edith Stein möchte die These verteidigen, daß es eine ganz bestimmte Art der Erfahrung sei. Da wird ganz deutlich gesagt: "Erfahrung". Doch jetzt kommen Bedenken, welche sie veranlassen, sich aus dieser Stellung teilweise zurückzuziehen, oder sie zur Vorsicht mahnen. Wenn Edith Stein "Erfahrung" sagt, kommt selbstverständlich der phänomenologische, Husserlsche Begriff der Erfahrung ins Spiel. Wenn über Erfahrung gesprochen wird, ist vor allem die sinnliche Wahrnehmung gemeint, denn mit dieser Art der Erfahrung, in der mir die Sachen und ihre Eigenschaften selbst - wie Husserl sagt - originell und leibhaft gegeben sind, fängt man an. Es ist eine dem Positivismus widersprechende Meinung; sie widerspricht auch Hume, nach welchem dem Menschen nur seine eigenen Ideen oder Impressionen gegeben sind. Gegeben sind die Sachen, und für diese Art der Erfahrung ist das Charakteristische, daß in ihr der Gegenstand der Wahrnehmung selbstgegenwärtig, selbstgegeben ist. Husserl spricht über "Selbstgegebenheit", über die leibliche Selbstgegebenheit, "Selbstgegenwart" usw., und stellt das alles der "Vergegenwärtigung" entgegen, d. h. dem "Sichgegenwärtig-machen" dessen, was nicht da ist, d. h. dessen, was eingebildet worden ist, also dem bloßen Denken, dieser oder jener Vorstellung, wobei meine ganze Fähigkeit, mir etwas einzubilden, keineswegs verursachen kann, daß hier vor mir Hamlet selbst auftauchte und mit mir zu sprechen begänne. Husserl gebraucht hier den Terminus "originär". Er hat im deutsch-lateinischen, akademischen Jargon geschrieben. "Originär" heißt "ursprünglich";

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wir lernen etwas ursprünglich kennen ohne Hilfe der Ersatzdaten. Edith Stein nimmt den Begriff auf, ohne ihn weiter zu analysieren. Das ist meiner Meinung nach ein Fehler. Ich bin überzeugt, daß das ein Begriff ist, der weiter analysiert werden muß. Edith Stein zeigt nur die Fälle auf, wo diese "Originärität", diese Ursprünglichkeit hervortritt. Und zwar zählt sie die immanente Wahrnehmung, die Wahrnehmung eigener Erlebnisse und auch - sie glaubt an das - die sog. Ideation auf, d. h. die unmittelbare Anschauung notwendiger Zusammenhänge zwischen gewissen ursprünglichen Elementen, welche zu den Axiomen fuhren. Aber das ist keine "Einfühlung". Diese Ursprünglichkeit, diese leibhafte Selbstgegebenheit dessen, was unmittelbar erfaßt worden ist, gibt es in der "Einfühlung" nicht. Edith Stein vergleicht die "Einfühlung" mit der Erinnerung und der Erwartung. Sie sagt: mit der "Einfühlung" verhält es sich ähnlich wie mit dem Wissen, daß der Hinterkopf eines meiner Freunde gut mit Haaren bedeckt ist, obwohl ich nicht den ganzen Kopf sehen kann; wenn er mir aber den Rücken zuwenden wird, werde ich alles sehen. Edith Stein sagt: die fremde Stimmung, der fremde psychische Zustand ist mir in gewisser Weise mitgegeben, etwa wie die Kehrseite einer Medaille. Weil sich aber die Medaille wenden läßt, kann auch die Kehrseite gesehen werden. Die fremde Stimmung dagegen läßt sich nicht so innerlich, so unmittelbar, so leibhaft anschauen. Das ist eben der Unterschied zwischen "Einfühlung" und Erfahrung in diesem Sinne. Warum wird aber gesagt, daß auch das eine Art Erfahrung ist? Weil es anders aussieht, als wenn ich mir etwas sehr lebhaft vorstelle, so, wie ich mir - in dem Moment, als ich über die "Bacchantin" in Paris gesprochen habe - vorstellte, wie diese Skulptur aussieht. Leider konnte ich sie nicht selbstgegenwärtig sehen. Ich habe sie sehr lebendig "gesehen" mit ihrem Lächeln, ihrer Kopfbewegung usw., aber gegenwärtig war sie trotzdem nicht. Falls ich dagegen jemandem in die Augen schaue, so glaube ich trotz allem, daß mir - obwohl es mir nicht so ursprünglich gegeben ist wie sein Gesicht - auf irgendeine Weise seine, sagen wir, Nachdenklichkeit oder Versonnenheit gegeben wird. Wenn ich spreche, weiß ich, ob meine Zuhörer zusammen mit mir denken oder ob sie sich langweilen. Ich brauche nicht herumzuschauen, das fallt mir sofort auf. Diese Art der Selbstgegebenheit, der Qualität des Zustandserlebnisses ist für mich da. Ich kann mich auch irren. Edith Stein hat ein ganzes Kapitel geschrieben, welches speziell den Täuschungen im Rahmen des "Sich-

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Einfühlens" gewidmet ist. Täuschungen sind aber auch in der sinnlichen Wahrnehmung vorhanden. In dieser Hinsicht gibt es da keinen Unterschied. Das ist der Ausgangspunkt. Jetzt kommt eine neue Frage: Was kann mir gegeben sein, nicht mehr beim Kunstwerk, sondern beim anderen Menschen, und zwar dann, wenn ich das Phänomen des fremden psychischen Zustandes, irgendwelcher fremden Erregung wahrnehme? Was kann mir überhaupt gegeben sein? Und hier kommt das zweite Thema zum Vorschein. Was ist der Mensch? Was für ursprüngliche Elemente hat er? Und hier beginnt das für Edith Stein spezifische Thema, welches behandelt werden soll: wie ist der Mensch gebaut, zu dem ich einen Zugang - unter anderem in der "Einfühlung" - gewinnen kann? Und jetzt zeigt sich, daß es eine sehr komplizierte Sache ist. Auf Grund der ersten Arbeit Edith Steins werde ich nur kurz die Probleme nennen, welche hier in Betracht gezogen werden. Weil sie eine Schülerin Husserls ist, kommt zuerst vor allem "das reine Ich", anschließend das Bewußtsein, später etwas, was ich im polnischen nicht ausdrücken kann, nämlich Leib, d. h. menschlicher Leib, welcher sich aber vom Körper wesentlich unterscheidet. Es liegt die ganze Analyse des Themas vor, wonach sich der lebendige Leib - mein eigener Leib, den ich habe - von mir selbst unterscheidet, so ζ. B. wenn mich jetzt jemand erschießen und nur noch ein Leichnam daliegen würde. Es geht nicht darum, daß es einen Unterschied gibt zwischen dem, was lebendig war, und dem, was jetzt leblos ist, sondern auch darum, daß in diesem zweiten Fall alles nur mit Lupe und Skalpell, von außen her, gesehen werden kann. Es ist aber für einen Fremden unmöglich, die ganze Erfahrung zu erreichen, welche ich von mir selbst, von meinem Leib habe, solange ich lebe und in meinem Leib wohne. Ich kann in allen Teilen des Leibes selbst anwesend sein, und sie auf verschiedene Weisen empfinden. Das ist das dritte Element. Bis jetzt haben wir also: reines Ich, das Bewußtsein, den Leib. Jetzt werde ich es auf deutsch sagen müssen: es gibt noch Seele und anschließend Geist. So haben wir fünf verschiedene Elemente. Und eigentlich besteht der ganze wesentliche Inhalt des Buches, sein wesentlicher Wert, darin, daß es ein Versuch ist, diese fünf Elemente herauszuanalysieren. Was das erste und das zweite Element betrifft, so erinnern wir uns, daß es schon bei Husserl so stand; jetzt entsteht aber die Frage nach dem Verhältnis zwischen den reinen Erlebnissen und meinen

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bewußten Erlebnissen: Sind die reinen Erlebnisse den bewußten gleich usw.? Welche Rolle spielen jetzt meine eigenen Erlebnisse in der Erfahrung meines Leibes und in welchem Verhältnis stehen sie zu meiner Seele und zu meinem Geist? Das ist ein großes Thema, doch ich werde es jetzt hier nicht weiterentwickeln. Ich würde nur eines sagen, daß nämlich - meiner Meinung nach - die Einzelanalysen Edith Steins, welche die oben genannten Elemente betreffen, d. h. Leib, Seele und Geist, sehr interessant sind. Ich denke auch, daß dort eine gewisse wesentliche Erfahrung, ein gewisser persönlicher Ertrag Edith Steins eine Rolle spielt. Es ist für mich aber nicht klar und präzise genug, was für ein Unterschied zwischen Seele und Geist besteht. Edith Stein zeigt nur jene Akte an, wo Geist - Person - eine Rolle spielt, nicht aber meine Seele. Wenn ich aber zu sagen hätte: auf diese Weise sind die Elemente abgegrenzt, so aber sind sie miteinander verbunden, und zwar als Folge dessen, daß alle Elemente eine einheitliche Ganzheit bilden, so könnte ich mir die ganze Sache nicht klar genug vorstellen. Aber es gibt noch einen anderen Grund, warum ich darüber spreche. In der Abhandlung Edith Steins wird die Seele auf eine gewisse Weise präzisiert, auf die die Autorin später ausdrücklich verzichtet, nämlich die Seele ist "leibbedingt" (nicht durch den Körper... - aber das ist schon eine andere Sache, welche sie nicht in Betracht gezogen hat). Es gibt so etwas wie ein anschauliches, erlebtes Verhältnis zwischen meinem Leib und meiner Seele. Es sind gegenseitige Einflüsse da: das Erliegen der Seele dem Leib und des Leibes der Seele usw. Jedenfalls gibt es bei Edith Stein eine starke Betonung der Frage nach der Sphäre der Seele, welche mit meinem Leib verbunden ist, zusammen mit der Frage nach der Lokalisierung meiner sinnlichen Empfindungen in meinem Leib usw. Auch meine Seele - das ist deutlich gesagt - "befindet" sich auf irgendwelche Weise im Leib, d. h. - das wird auch deutlich gesagt - ist auf bestimmte Weise im Leib lokalisiert. Es wird aber keineswegs geäußert, daß sie fünf Zentimeter rechts vom Kopf oder irgendwo anders ihre Stelle hat. Infolgedessen werden die leibhaftigen Erlebnisse - wenn es erlaubt ist so zu sagen - , die Erfahrungen, welche den Leib betreffen, sehr stark betont. Später ändert sich alles sehr, und ohne Zweifel ändert sich das sowohl unter dem Einfluß der Erfahrungen, die sie selbst machte, dank ihrer eigenen Wandlungen, wie auch unter dem Einfluß ihrer Freundin, Frau ConradMartius. Hedwig Conrad-Martius hat schon während des ersten Weltkriegs

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einen Dialog unter dem Titel "Gespräch über die Seele" geschrieben. Er wurde später im Buch Metaphysische Gespräche herausgegeben. Die späteren Arbeiten Edith Steins vor ihrem Klostereintritt stehen in diesem Punkt stark unter dem Einfluß von Frau Conrad-Martius. Im Zusammenhang damit änderte sich aber auch der Begriff der Seele. Die Seele ist nicht mehr deutlich "leibbedingt", ist nicht mehr phänomenal mit dem Leib verbunden, sondern steht jetzt sozusagen in näheren Zusammenhängen mit dem Geist. Es sind alles sehr interessante Gesichtspunkte. Es gibt dort auch verschiedene Einzelheiten, welche ich hier beiseite lassen möchte, weil sie die ganze Situation sehr komplizieren. Es ist alles vertieft worden, es gibt dort auch verschiedene Abschnitte über die Seele, über die Schicht der Seele und über die Tiefe, welche sich dort eröffnet; Probleme, über welche Edith Stein zu jener Zeit nicht schreiben konnte. Diese Dinge sind sehr fesselnd, ebendeshalb, weil sie eine Welt enthüllen, zu der man normalerweise keinen Zutritt hat. Dennoch, was die Begriffe betrifft, ist die Sache noch nicht erledigt. Kein Wunder also, daß sie später zum Thema zurückkehrte; es ist eben das Thema, dem sie persönlich am meisten verhaftet war, Endliches und ewiges Sein einschließend. Hier tritt schon eine Struktur hervor, sagen wir (ich weiß nicht, was für einen Terminus ich hier anwenden soll) die Struktur der menschlichen Person. Es wird hier nur hervorgehoben, daß Geist der Person gleich ist; das bedeutet aber, daß dem Leib und der Seele - welche gewissermaßen die letzte Tiefe in mir bildet - ein Unrecht angetan wird. Der Versuch, sich in jenem komplizierten Aufbau des Menschen zu orientieren, muß als ihre große Anstrengung anerkannt werden, obwohl diese - meiner Meinung nach - letzten Endes unbefriedigend ist. Zum Schluß möchte ich nur noch eine Angelegenheit historischer Natur erwähnen. Im allgemeinen hört man - und nicht von alten Leuten wie mir, sondern eher von viel jüngeren - , daß es eine große Wandlung in der Geschichte der Phänomenologie gegeben hat. Es trat nämlich Heidegger hervor, und erst er hat die Problematik "der menschlichen Existenz" geschaffen. Sie heißt nach ihm: die Problematik "des menschlichen Daseins", des Menschen, seiner Natur usw., der Person. Wie Sie aus dem schon Gesagten ersehen, ist diese Meinung falsch. Die Frage nach der Person ist viel früher zum Vorschein gekommen, nicht nur bei Edith Stein, als eine ihrer zentralen Fragen (es war im Jahr 1915/16), sondern auch anderweitig auf eine meines Erach-

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tens unbefriedigende Weise bei Max Scheler. Hans Lipps hat auch über Die menschliche Natur geschrieben, aber später, nach Heidegger. Also hat Heidegger hier keine neue Problematik eingeführt. Er hat nur die Methode seines Philosophierens, seiner Hermeneutik eingeführt, und einen neuen Faktor, der früher bei den Phänomenologen literarisch nicht vorhanden war, nämlich Kierkegaard, zu dem er sich kaum bekennt, von dem er aber sehr viel übernommen hat. Nur soviel darf man sagen: diese Fragen haben viel früher, schon vor dem ersten Weltkrieg, Interesse geweckt und die Leute bewegt. Noch ein Detail möchte ich erwähnen. Das erste Thema meiner Dissertation, welches ich Husserl im Herbst 1913 vorgeschlagen hatte, hieß: "Über die menschliche Person." Ich habe dieses Thema jedoch nicht behandelt, weil Husserl mir sagte: "Sie werden darüber fünf Jahre lang sitzen." Dazu hatte ich keine Zeit.

Anhang 1. Literaturverzeichnis 1921:

1925a:

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1930:

1931:

1947:

1947/48:

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Die hier angegebene Literaturliste umfaßt alle und nur diejenigen Schriften Ingardens, die in diesem Band an irgendwelcher Stelle herangezogen werden.

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1963: 1964/65:

1971: 1972:

1994: 1995: 1996: 1997: 1998:

Literaturverzeichnis

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257 2. Personenregister Abelard 85 Ajdukiewicz, K. 228 Ameseder, R. 59 Archimedes 13 Aristoteles 4; 55; 61; 229; 230; 238-9 Augustowski, A. 228 Bain, Α. 30; 33 Becker, Ο. 92η Bergson, H. 20n; 33; 98n; 113n; 121; 127; 185n; 220 Berkeley, G. 27 Bolzano, B. 57;62;70n Brentano, Fr. 54-57; 60; 63-64; 75η; 113η; 152; 158η; 187 Cairns, D. 92η Compton, Α. Η. 206 Comte, Α. 9-10; 14; 17; 51 Conrad, Th. 92η Conrad-Martius, Η. 92η; 171η; 185η; 233; 251-252 Daubert, J. 92η Demokritos 98η Dilthey, W. 7; 241; 243 Ehrenfels, von, Chr. 2; 55; 61 Farber, Μ. 92η Fechner, Th. 7; 15; 28; 54; 96η; 114

Fink, Ε. 92η Fischer, Α. 92η Frege, G. 62 Fresnel, A. 122; 206 Galilei, G. 13 Geiger, M. 92η, 244 Godei, Κ. 167η Hegel, G. W. Fr. 116; 185η; 194η Heidegger, Μ. 92η; 137η; 196η; 237; 252-253 Heisenberg, W. 111η Helmholtz, Η. 15; 28; 54-55; 112η Hering, J. 92η; 233 Hildebrand, von, D. 92η Hillebrand, Fr. 2 Hofmann, Η. 171η Höfler, Α. 55; 57 Hume, D. 97; 156η; 175; 185η; 248 Husserl, E. 1-3; 6; 29; 52; 55-56; 59-60; 62; 66; 70; 72; 77-78; 92; 94-95; 115; 118; 121; 128; 148; 150-152; 164-165; 174176; 181; 193-194; 198-199; 201; 208-213; 215-217; 219220; 222; 225; 227; 229-234; 236; 239; 241; 244-245; 248; 250; 253

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Personenregister

James, W. 113η; 200η; 201η Johannes vom Kreuz 234; 241 Kant, I. 8; 26-27; 30; 62; 88; 95; 98η; 117η; 150η; 161η; 163η; 185η; 194η; 220 Kastil, Α. 1-2 Katz, D. 113η Kaufmann, F. 92η Kerry, Β. 57; 70 Kierkegaard, S. 253 Koyré, Α. 92η Kotarbióski, T. 62; 72 Kraus, O. 1-3; 5; 16; 35 Kreibig, J. 55 Lambert, J. Η. 194n Lamprecht, K. 231 Landgrebe, L. 92n; 194n; 232 Lange, A. 17 Lavoisier, A. L. 13 Lesniewski, St. 62; 71-72; 84; 86 Leon, Ph. 91 Lessing, Th. 247 Lipps, Η. 92n; 252 Lipps, Th. 244; 246 Locke, J. 23; 27; 61-62; 84; 97; 98n; 125-126; 174n; 203 Lempicka, W. 228 Mach, E. 54; 97; 124η; 179 Mally, E. 2; 59 Marty, Α. 2 Maxwell, J.C. 222η

Meinong, Α. 2; 59; 72 Michelson, Α. Α. 206η Mill, J.St. 10; 55; 97 Müller, G. E. 242 Petrazycki, L. 102η Pfänder, Α. 92η; 223 Poincaré, Η. 100η Prantl, Κ. 85 Reinach, Α. 92η; 232-233 Rickert, Η. 7; 230 Schapp, W. 92η; 171η Scheler, Μ. 30η; 58; 92η; 152; 153η; 218-227 passim; 244; 252 Schelling, F. W. J. 116 Schmidkunz, H. 55 Schröder, E. 94 Schutz, Α. 92η Sigwart, Chr. 61; 82; 94 Spiegelberg, Η. 92η; 163η; 217η Spinoza, Β. 30 Stein, Ε. 92η; 214η; 228-253 passim Stern, E. 242 Stumpf, C. 1-4; 55; 66; 78; 194η Thomas à Kempis 68 Thomas von Aquin 229; 236237; 239-240 Tönnies, F. 224; 235 Twardowski, K. 1; 6; 9n; 53-91 passim; 155n; 158n; 232

Personenregister

Utitz, E. 3n van Breda, P. 234 Vischer, F. Th. 244 Volkelt, H. 244; 246

Witasek, St. 244 Wolff, Chr. 59 Wundt, W. 15; 28; 54-55; 114 Zimmermann, R. 57; 70n

Walther, G. 92n; 234 Wertheimer, Μ. 113n

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