Gesammelte Werke 7 : Buch der Träume
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Jorge Luis Borges Ge sammelteWerke Bueh der Träume Nachwort von Carotine Neubanr Hanser

Jorge Luis Borges Gesammelte Werke Band 7

Jorge Luis Borges Buch der Träume Übersetzt von Curt Meyer-Clason Nachwort Caroline Neubaur

Carl Hanser Verlag

Titel der Originalausgabe >Libro de Suenos< © 1976 Torres Agüero Editor, Buenos Aires

ISBN 3-446-12998-7 Alle Rechte vorbehalten © 1981 Carl Hanser Verlag München Wien Ausstattung: Klaus Detjen Satz: LibroSatz, Kriitel/Taunus Druck: Kösel, Kempten Printed in Germany

Buch der Träume

Vorwort In einem Essay im Spectator (September 1712), der in diesen Band aufgenommen ist, bemerkt Joseph Addison, daß die menschliche Seele, wenn sie, des Körpers ledig, träumt, gleichzeitig Bühne, Schauspieler und Zuschauer ist. Wir könnten hinzufugen, daß sie auch der Verfasser der Fabel ist, die sie sieht. Ähnliche Äußerungen finden sich bei Petronius und Luis de Göngora. Wenn wir Addisons Metapher wörtlich nehmen, könnte uns das zu der gefährlich attraktiven These verfuhren, daß Träume die älteste und die am meisten komplexe literarische Gattung sind. Diese merkwürdige These, der wir zum Gelingen dieses Vorworts und der Lektüre der Texte ohne weiteres zustimmen können, könnte es rechtfertigen, eine Weltgeschichte der Träume und ihres Einflusses auf die Literatur zu schreiben. Ein solcher, zur Unterhaltung neugieriger Leser zusammengestellter Sammelband würde mancherlei Material bieten. Diese hypothetische Geschichte würde die Entwicklung und Verzweigung der uralten Gattung erforschen, von den prophetischen Träumen des Orients bis zu den allegorischen und satirischen Träumen des Mittelalters und den reinen Spielen von Lewis Carroll und Franz Kafka. Sie würde von vorneherein die vom Schlaf erfundenen Träume von den vom Wachen erfundenen Träumen trennen. Dieses Buch der Träume, welche die Leser wieder träumen werden, umfaßt Träume der Nacht - die, welche zum Beispiel ich unterzeichne -, Träume des Tags, die eine absichtsvolle Übung unseres Geistes sind, und andere aus verloren gegangenem Wurzelwerk: sagen wir, das angelsächsische Traumgesicht vom Kreuz. Das sechste Buch der Äneis folgt einer Überlieferung der Odyssee und erklärt, daß es zwei Türen sind, durch welche die Träume zu uns gelangen: die aus Elfenbein, die der trügerisehen Träume, und die aus Horn, die der prophetischen 7

Träume. Angesichts des ausgewählten Materials könnte man sagen: der Dichter hat auf dunkle Weise gefühlt, daß die Träume, welche die Zukunft vorwegnehmen, weniger wertvoll sind als die trügerischen, die eine unmittelbare Erfindung des schlafenden Menschen sind. Ein bestimmter Typus des Traums verdient unsere besondere Aufmerksamkeit. Ich spreche vom Alptraum, der auf Englisch nightmare heißt oder Nachtstute, eine Vokabel, die Victor Hugo zu der Metapher cheval noir de la nuit anregte, und die Etymologen zufolge gleichbedeutend ist mit Fiktion oder Fabel der Nacht. Alp, ihr deutscher Name, spielt auf den Elf oder Inkubus an, der den Träumer bedrückt und ihm schreckenerregende Bilder aufzwingt. Ephialtes, die griechische Bezeichnung, geht von analogem Aberglauben aus. Coleridge hat geschrieben, daß im Wachen die Bilder die Empfindungen einflößen, während im Traum die Empfindungen die Bilder einflößen. (Welch geheimnisvolle und verwickelte Empfindung wird ihm Kubla Khan, der Besitzer eines Traums war, diktiert haben?) Beträte ein Tiger dieses Zimmer, wir würden Angst empfinden; wenn wir Angst im Traum empfinden, erzeugen wir einen Tiger. Das wäre der visionäre Grund für unsere Beunruhigung. Ich habe gesagt ein Tiger; da aber die Angst der improvisierten Erscheinung vorausgeht, können wir das Entsetzen, um es zu begreifen, aüfjedwede Gestalt projizieren, die im Wachsein nicht notgedrungen schreckenerregend ist. Eine Marmorbüste, ein Kellergelaß, die Kehrseite einer Münze, ein Spiegel. Es gibt keine einzige Form im Weltall, die sich nicht vom Entsetzen verseuchen ließe. Daher vielleicht der eigenartige Hauch des Alptraums, der sehr verschieden ist vom Schrecken oder von den Schrecken, die uns die Wirlichkeit zufügen kann. Die germanischen Völker scheinen für diese undeutliche Bedrängnis des Bösen empfänglicher gewesen zu sein als die aus lateinischem Geschlecht; wir erinnern an unübersetzbare Vokabeln wie eery, weird, uncanny, unheimlich. Jede Sprache schafft sich, was sie braucht.

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Die Kunst der Nacht ist in die Kunst des Tages eingedrungen. Das Eindringen hat Jahrhunderte gedauert; das kranke Reich der Göttlichen Komödie ist kein Alptraum, ausgenommen vielleicht der vierte Gesang von verhaltenem Unbehagen, ein Ort, an dem sich fürchterliche Dinge ereignen. Die Lehre der Nacht ist nicht einfach gewesen. Die Träume der Heiligen Schrift haben keinen Traumstil; es sind Prophezeiungen, die auf allzu zusammenhängende Weise einen Mechanismus von Metaphern handhaben. Quevedos Träume scheinen das Werk eines Mannes zu sein, der nie so geträumt haben könnte wie die von Plinius erwähnten Kimmerier. Danach werden andere kommen. Der Einfluß der Nacht und des Tages wird wechselseitig sein; Beckford und De Quincey, Henry James und Poe wurzeln im Alptraum und pflegen unsere Nächte zu stören. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Mythologien und Religionen einen analogen Ursprung haben. Ich möchte Roy Bartholomew, ohne dessen lernbeflissenen Eifer die Zusammenstellung dieses Buches unmöglich gewesen wäre, hier schriftlich meinen Dank aussprechen.

Buenos Aires, den 27. Oktober 1975.

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J. L. B.

Geschichte des Gilgamesch Gilgamesch, zwei Drittel Gott, ein Drittel Mensch, lebte in Eresch. Unbesiegbar unter den Kriegern, herrschte er mit eiserner Faust: Die jungen Männer dienten ihm, und er verschonte keine Jungfrau. Das Volk riefden göttlichen Schutz an, und der Herr des Himmels befahl Aruru (der Göttin, die den ersten Menschen aus Lehm geformt hatte), sie solle ein Wesen bilden, imstande, Gilgamesch entgegenzu treten und sein Volk zu beruhigen. Aruru formte ein Geschöpf, das sie Enkidu nannte. Es war behaart, hatte lange Zöpfe, bedeckte sich mit Fellen, hauste mit den Tieren und aß Kräuter. Es zerstörte auch die Fallen und rettete die Tiere. Als Gilgamesch dies erfuhr, befahl er, daß ihm eine nackte Jungfrau vorgefuhrt werde. Enkidu besaß sie sieben Tage und sieben Nächte hindurch und schließlich kannten die Gazellen und die wilden Tiere ihn nicht mehr und er bemerkte, daß seine Beine nicht mehr so leicht waren. Er hatte sich in einen Menschen verwandelt. Das Mädchen fand, daß Enkidu schön geworden war. Es lud ihn ein, den glänzenden Tempel kennenzulernen, in dem der Gott und die Göttin nebeneinander sitzen, und das ganze Eresch, in dem Gilgamesch gebot. Es war der Vorabend des neuen Jahres. Gilgamesch rüstete sich für die Zeremonie der Hferogamie, als Enkidu erschien und ihn herausforderte. Die Menge, wiewohl erschrocken, empfand Erleichterung. Gilgamesch hatte geträumt, er stehe unter den Sternen, als aus dem Himmel ein Speer auf ihn herabfuhr, den er nicht aus seinem Leib herausreißen konnte. Danach hieb sich eine riesige Axt in der Mitte der Stadt ein. Seine Mutter sagte zu ihm, der Traum gehe der Ankunft eines stärkeren Mannes voraus, der später sein Freund werden würde. Sie kämpften, und Gilgamesch wurde in den Staub geschleudert von Enkidu, der gewahrte, daß der andere kein

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ruhmrediger Tyrann war, sondern ein mutiger Mann, der nicht zurückwich. Er hob ihn auf, umarmte ihn, und sie schlossen Freundschaft. In seinem Abenteuergeist schlug Gilgamesch Enkidu vor, eine der Zedern des heiligen Hains zu schlagen. »Das ist nicht leicht«, erwiderte dieser. »Sie wird von dem Ungeheuer Chumbaba bewacht; dieses hat eine Donnerstimme, ein einziges Auge, dessen Blick den versteinert, den es beobachtet, es sprüht Feuer durch die Nüstern und sein Atem ist Pesthauch.« »Was wirst du deinen Söhnen sagen, wenn sie dich fragen, was du an dem Tag tatest, an dem Gilgamesch fiel?« Enkidu gab nach. Gilgamesch ließ seinen Plan den Ältesten bekanntgeben, dem Sonnengott, seiner eigenen Mutter, der Himmelskönigin Ninsun, doch alle sprachen dagegen. Ninsun, die um die Halsstarrigkeit ihres Sohnes wußte, bat den Sonnengott um Schutz für ihn und erhielt ihn. Dann ernannte sie Enkidu zu ihrer Ehrenwache. Gilgamesch und Enkidu gelangten zum Zedemwald. Der Schlaf übermannte sie. Der erste träumte, ein Berg stürze auf ihn herab, als ein stattlicher Mann den von der Last schier Erdrückten befreite und ihm auf die Füße half. Enkidu sagte: »Es ist klar, daß wir Chumbaba niederstrecken werden.« Enkidu träumte, daß der Himmel dröhnte und die Erde erbebte, daß die Finsternis herrschte und ein Blitz niederfuhr und ein Brand ausbrach und daß Tod vom Himmel regnete, bis der Glanz nachließ, das Feuer erlosch und die herabgefallenen Funken zu Asche wurden. Gilgamesch verstand die schlimme Botschaft, lud aber Enkidu ein, fortzufahren. Er fällte eine der Zedern, und Chumbaba stürzte sich auf sie. Zum ersten Mal empfand Gilgamesch Angst. Doch beide Freunde überwältigten das Ungeheuer und hackten ihm den Kopf ab. 12

Gilgamesch reinigte sich vom Staub und legte seine königlichen Kleider an. Die Göttin Ischtar trat vor ihn und bat ihn, ihr Geliebter zu sein: Sie würde ihn mit Reichtümern überhäufen und mit Wonnen verwöhnen. Aber Gilgamesch kannte die verräterische und unbeugsame Ischtar, Mörderin von Tarnmuz und ungezählten Liebhabern. Verschmäht, bat Ischtar ihren Vater, er möge den himmlischen Stier auf die Erde werfen und drohte, die Türen der Hölle zu sprengen und zuzulassen, daß die Toten die Lebenden überwänden. »Wenn der Stier aus den Himmeln niedersteigt, werden siebenJahre Elend und Hunger die Erde bedecken. Hast du das bedacht?« Ischtar antwortete mit einem Ja. Sodann wurde der Stier auf die Erde geschleudert. Enkidu bezwang ihn an den Hörnern und stieß ihm das Schwert in den Hals. Mit Gilgamesch zusammen riß er ihm das Herz heraus und beide opferten es dem Sonnengott. Von Ereschs Mauern aus wohnte Ischtar dem Kampf bei. Sie sprang auf das Bollwerk und sandte einen Fluch gegen Gilgamesch. Enkidu riß dem Stier die Keulen aus und schleuderte sie der Göttin ins Antlitz. »Ich möchte dir dasselbe tun!« Ischtar wurde niedergerungen, und das Volk klatschte den Tötern des himmlischen Stiers Beifall. Aber der Götter zu spotten ist undenkbar. Enkidu träumte, daß die Götter in einer Ratsversammlung darüber befänden, wer am Tod Chumbabas und des himmlischen Stiers schuldiger sei, er oder Gilgamesch. Der schuldigere würde sterben. Da sie keine Einigung erzielten, sagte der Vater der Götter, Gilgamesch habe nicht nur Chumbaba getötet, sondern auch die Zeder gelallt. Das Streitgespräch wurde heftig, und die Götter beleidigten einander. Enkidu erwachte, ohne das Urteil erfahren zu haben. Er erzählte Gilgamesch seinen Traum und erinnerte sich während der darauffolgenden langen Schlaflosigkeit an sein sorg­

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loses Tierleben. Doch es schien ihm, als höre er Stimmen, die ihn trösteten. Mehrere Nächte später träumte er von neuem. Ein lauter Schrei drang vom Himmel auf die Erde herab und ein furchterregendes Geschöpf mit Löwenantlitz und Adlerschwingen und Adlerkrallen packte ihn und entführte ihn ins Leere. Federn wuchsen ihm an den Armen, und allmählich glich er dem Wesen, das ihn forttrug. Er begrifT, daß er gestorben war und daß eine Harpyie ihn auf dem Weg ohne Wiederkehr mitriß. Sie gelangten zum Wohnsitz der Finsternis, wo die Seelen der Großen der Erde ihn umringten. Es waren schlaffe Dämonen mit gefiederten Flügeln, die sich von Abfällen nährten. Die Höllenkönigin las auf ihrer Tafel und wog das Vorleben der Toten. Als er erwachte, erfuhren die beiden Freunde das Urteil der Götter. Und Gilgamesch bedeckte das Antlitz seines Freundes mit einem Hochzeitsschleier, und dachte in tiefstem Schmerz: Jetzt habe ich das Antlitz des Todes gesehen. Auf einer Insel am Saum der Erde lebte Utnapischtim, ein sehr, sehr alter Mann, der einzige Sterbliche, der dem Tod entgangen war. Gilgamesch beschloß, ihn aufzusuchen und von ihm das Geheimnis des ewigen Lebens zu erfahren. Er gelangte zum Saum der Welt, wo ein ungeheuer hoher Berg seine Zwillingsgipfel gen Himmel streckte und seine Wurzeln in der Hölle vergrub. Ein Portal wurde von schrecklichen, gefährlichen Geschöpfen, halb Mann und halb Skorpion, bewacht. Entschlossen schritt er vorwärts und sagte den beiden Ungeheuern, er suche Utnapischtim. »Niemand ist bis zu ihm vorgedrungen, noch hat jemand das Geheimnis des ewigen Lebens erfahren. Wir bewachen den Weg der Sonne, den kein Sterblicher betreten darf.« »Ich werde es tun«, sagte Gilgamesch, und die Ungeheuer, gewahrend, daß es sich um einen ungewöhnlichen Sterblichen handelte, ließen ihn hindurchgehen. Gilgamesch trat ein; der Tunnel wurde immer dunkler, bis !4

ein Luftzug an sein Gesicht rührte und er einen Lichtschein ahnte. Als er ins Licht trat, befand er sich in einem Zaubergarten, in dem Edelsteine funkelten. Die Stimme des Gottes erreichte ihn: Er befand sich im Garten der Wonnen und genoß eine Gnade, welche die Götter bisher keinem Sterblichen gewährt hatten. »HofTe nicht, mehr zu erreichen.« Doch Gilgamesch schritt über das Paradies hinaus, bis er erschöpft zu einer Herberge gelangte. Die Herbergshüterin Siduri verwechselte ihn mit einem Landstreicher, aber der Reisende gab sich zu erkennen und erzählte sein Vorhaben. »Gilgamesch: Du wirst nie finden, was du suchst. Die Götter haben die Menschen erschafTen und ihnen als Schicksal den Tod gegeben; sie selber haben sich das Leben vorbehalten. Du wirst wissen, daß Utnapischtim auf einer fernen Insel lebt, hoch jenseits des Ozeans des Todes. Doch es trifft sich, daß Urschanabi, sein Ruderer, sich in der Herberge aufhält.« Gilgamesch beharrte solange, bis Urschanabi sich bereitfand, ihn mitzunehmen, nicht ohne ihn zu warnen, unter keinen Umständen das Wasser des Ozeans zu berühren. Sie bewehrten sich mit einhundertzwanzig Stangen, aber Gilgamesch mußte sein Hemd als Segel benutzen. Als sie ankamen, sagte Utnapischtim: »Weh dir, Jüngling, es gibt nichts Ewiges auf der Erde! Der Schmetterling lebt nur einen Tag. Alles hat seine Zeit und seine Epoche. Aber ich habe hier mein Geheimnis, das nur die Götter kennen.« Und er erzählte ihm die Geschichte von der Sintflut. Der gütige Ea hatte ihn gewarnt, und Utnapischtim baute eine Arche, in der er sich mit seiner Familie und seinen Tieren einschifTte. Mitten im Sturm segelten sie sieben Tage, und die Arche strandete auf einer Bergspitze. Er ließ eine Taube fliegen, um zu sehen, ob die Wasser gesunken waren, doch die Taube kehrte zurück, weil sie keinen Landeplatz gefunden hatte. Das gleiche widerfuhr einer Schwalbe. Aber der Rabe kehrte nicht 15

zurück. Sie gingen an Land und brachten den Göttern Dankopfer dar, aber der Gott der Winde zwang sie, sich abermals einzuschiiTen und führte sie zu der Stelle, an der sie jetzt waren, damit sie hier ewig wohnten. Gilgamesch begrifT, daß der Alte keine Formel besaß, die er ihm geben konnte. Er war unsterblich, aber nur durch die einzigartige Gunst der Götter. Was Gilgamesch suchte, würde er nicht diesseits des Grabes finden. Bevor er sich verabschiedete, teilte der Alte dem Helden mit, wo er einen Seestern mit Rosendornen finden könne. Die Pflanze gewährte dem, der sie genoß, neuejugend! Gilgamesch erhielt sie auf dem Grund des Ozeans, doch als er von seiner Anstrengung ausruhte, raubte eine Schlange sie ihm, fraß sie, entledigte sich ihrer alten Haut und gewann die Jugend wieder. Gilgamesch gewahrte, daß sein Schicksal nicht vom Schicksal der übrigen Menschheit abwich und kehrte nach Eresch zurück. Babylonische Erzählung aus dem zweiten Jahrtausend vor Christi Geburt

Unendlicher Traum des Pao-yü Pao-yü träumte, er sei in einem Garten, der genau dem seines Hauses glich. Sollte es möglich sein, daß es einen Garten gibt, der dem meinen genau gleich ist? Einige Mädchen kamen auf ihn zu. Pao-yü sagte sich sprachlos: Sollte jemand Mädchen haben, genau gleich wie Hsi-yen, Pin-erh und wie alle zu Hause? Eines der Mädchen rief: »Da ist ja Pao-yü. Wie ist er nur hierher gekommen?« Pao-yü dachte, sie hätten ihn erkannt. Er trat auf sie zu und sagte: »Ich war unterwegs; zufällig kam ich hierher. Gehen wir ein Stück zusammen.« Die Mädchen lachten. »Was für ein Unsinn! Wir verwechseln dich mit Pao-yü, unserem Gebieter, aber du bist nicht so stattlich wie er.« Sie waren die Mädchen eines anderen Pao-yü. »Liebe Schwestern«, sagte er zu ihnen, »ich bin Pao-yü. Wer ist euer 16

Gebieter?« »Es ist Pao-yü«, erwiderten sie. »Seine Eltern haben ihm diesen Namen gegeben, zusammengesetzt aus den zwei Schriftzeichen Pao (kostbar) und Yü (Jade), damit sein Leben lang sei und glücklich. Wer bist du, um dir seinen Namen widerrechtlich anzueignen?« Und sie gingen lachend weg. Pao-yü blieb niedergeschlagen zurück. »Ich bin nie so schlecht behandelt worden. Warum müssen die Mädchen mich ärgern? Sollte es tätsächlich einen anderen Pao-yü geben? Das muß ich prüfen.« Von diesen Gedanken geplagt, gelangte er zu einem Innenhof, der ihm bekannt vorkam. Er stieg die Treppe hinauf und betrat sein Zimmer. Er sah einen Jüngling auf dem Bett liegen, daneben machten einige Mädchen Handarbeiten und lachten. Der Jüngling seufzte. Eines der Mädchen sagte zu ihm: »Was träumst du, Pao-yü? Bist du bekümmert?« »Ich hatte einen sehr sonderbaren Traum. Ich träumte, ich war in einem Garten und ihr erkanntet mich nicht und ließt mich allein. Ich folgte euch bis zum Haus und stand vor einem anderen Pao-yü, der in meinem Bett schlief.« Als er dieses Zwiegespräch hörte, konnte Pao-yü sich nicht länger beherrsehen und rief aus: »Ich kam, um einen gewissen Pao-yü zu suchen; du bist es.« Der Jüngling erhob sich, umarmte ihn und schrie: »Es war kein Traum; du bist Pao-yü.« Eine Stimme rief aus dem Garten: »Pao-yü!« Die beiden Pao-yü zitterten. Der, welcher geträumt hatte, ging fort; der andere sagte: »Komm rasch zurück, Pao-yü!« Pao-yü erwachte. Sein Mädchen Hsiyen fragte ihn: »Was träumtest du, Pao-yü? Bist du bekümmert?« »Ich hatte einen sehr sonderbaren Traum. Ich träumte, ich war in einem Garten und ihr erkanntet mich nicht. . .« Ts’ao Hsüeh-ch’in, Der Traum der roten Kammer (um 1754)

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Gott lenkt die Geschicke Josephs, des Sohnes Jakobs, und durch seine Vermittlung die Geschicke Israels Jakob aber hatte Joseph lieber denn alle seine Kinder, darum daß er ihn im Alter gezeuget hatte; und machte ihm einen bunten Rock. Da nun seine Brüder sahen, daß ihn ihr Vater lieber hatte denn alle seine Brüder, waren sie ihm feind und konnten ihm kein freundlich Wort zusprechen. Dazu hatte Joseph einmal einen Traum und sagte seinen Brüdern davon; da wurden sie ihm noch feinder. Denn er sprach zu ihnen: Höret doch, was mir geträumet hat. Mich deuchte, wir banden Garben auf dem Felde, und meine Garbe richtete sich auf, und stund; und eure Garben umher neigeten sich vor meiner Garbe. Da sprachen seine Brüder zu ihm: Solltest du unser König werden und über uns herrschen? Und wurden ihm noch feinder um seines Traumes und seiner Rede willen. Und er hatte noch einen anderen Traum, den erzählte er seinen Brüdern und sprach: Siehe, ich habe noch einen Traum gehabt; mich deuchte, die Sonne und der Mond und elf Sterne neigten sich vor mir. Und da das seinem Vater und seinen Brüdern gesagt ward, strafte ihn sein Vater und sprach zu ihm: Was ist das für ein Traum, der dir geträumet hat? Soll ich und deine Mutter und deine Brüder kommen und vor dir niederfallen? Und seine Brüder neideten ihn. Aber sein Vater behielt diese Worte. Das erste Buch Moses, xxxvn, 3-11

Joseph, der Mundschenk und der oberste Bäcker Pharaos Der Schenk und der Bäcker Pharaos saßen im Gefängnis. Und es träumte ihnen beiden, in einer Nacht einem jeglichen ein eigener Traum; und eines jeglichen Traum hatte seine Bedeu­ 18

tung. Da nun des Morgensjoseph zu ihnen hinein kam und sah, daß sie traurig waren, fragte er sie und sprach: Warum seid ihr heute so traurig? Sie antworteten: Es hat uns geträumet, und haben niemand, der es uns auslege. Joseph sprach: Auslegen gehöret Gott zu; doch erzählet mir’s. Da erzählte der oberste Schenk seinen Traum Joseph und sprach zu ihm: Mir hat geträumt, daß ein Weinstock vor mir wäre, der hatte drei Reben, und er grünete, wuchs und blühete, und seine Trauben wurden reif; und ich hatte den Becher Pharaos in meiner Hand und nahm die Beeren, und zerdrückte sie in den Becher und gab den Becher Pharao in die Hand. Joseph sprach zu ihm: Das ist seine Deutung. Drei Reben sind drei Tage. Über drei Tage wird Pharao dein Haupt erheben und dich wieder an dein Amt stellen, daß du ihm den Becher in die Hand gebest nach der vorigen Weise, da du sein Schenk wärest. Aber gedenke meiner, wenn dir’s wohlgehet, und tue Barmherzigkeit an mir, daß du Pharao erinnerst, daß er mich aus diesem Hause führe, denn ich bin aus dem Lande der Ebräer heimlich gestohlen; dazu hab ich auch allhie nichts getan, daß sie mich eingesetzt haben. Da der oberste Bäcker sah, daß die Deutung gut war, sprach er zu Joseph: Mir hat auch geträumet, ich trüge drei weiße Körbe auf meinem Haupt. Und im obersten Korbe allerlei gebackne Speise dem Pharao; und die' Vögel aßen aus dem Korbe auf meinem Haupt. Joseph antwortete und sprach: Das ist seine Deutung. Drei Körbe sind drei Tage; und nach dreien Tagen wird dir Pharao dein Haupt erheben, und dich an den Galgen hängen, und die Vögel werden dein Fleisch von dir essen. Und es geschah des dritten Tages, da beging Pharao seinen Jahrstag; und er machte eine Mahlzeit allen seinen Knechten. Und erhub das Haupt des obersten Schenken und das Haupt des obersten Bäckers unter seinen Knechten; Und setzte den obersten Schenken wieder zu seinem Schenkamt, daß er den Becher reichte in Pharaos Hand; aber den obersten Bäcker ließ 19

er henken, wie ihnen Joseph gedeutet hatte. Aber der oberste Schenke gedachte nicht an Joseph, sondern vergaß sein. Das erste Buch Moses, xxxx, 5-23

Joseph deutet die Träume Pharaos Und nach zweien Jahren hatte Pharao einen Traum, wie er stünde am Wasser. Und sähe aus dem Wasser steigen sieben schöne, fette Kühe und gingen auf der Weide im Grase. Nach diesen sah er andere sieben Kühe aus dem Wasser aufsteigen; die waren häßlich und mager und traten neben die Kühe an das Ufer am Wasser. Und die häßlichen und mageren fraßen die sieben schönen, fetten Kühe. Da erwachte Pharao. Und er schlief weiter ein und ihm träumte abermal und sah, daß sieben Ähren wuchsen aus einem Halm, voll und dick. Darnach sah er sieben dünne und versengte Ähren aufgehen. Und die sieben mageren Ähren verschlangen die sieben dicken und vollen Ähren. Und da es Morgen ward, war sein Geist bekümmert; und schickte aus und ließ rufen alle Wahrsager in Ägypten und alle Weisen und erzählte ihnen seine Träume. Aber da war keiner, der sie dem Pharao deuten konnte. Da redete der oberste Schenke zu Pharao und sprach: Ich gedenke heute an meine Sünden. Da war bei uns ein ebräischer Jüngling, der deutete unsere Träume. Da sandte Pharao hin und ließ Joseph rufen; und sie ließen ihn eilend aus dem Loch. Und er ließ sich scheren und zog andere Kleider an und kam hinein zu Pharao. Da sprach Pharao zu ihm: Ich habe gehöret von dir sagen, wenn du einen Traum hörest, so kannst du ihn deuten. Joseph antwortete Pharao und sprach: Das stehet bei mir nicht; Gott wird doch Pharao Gutes weissagen. Dieser erzählte ihm seine Träume. Joseph antwortete Pharao: Beide Träume Pharaos sind einerlei. Denn Gott verkündiget Pharao, was er vorhat. Die 20

sieben schönen Kühe sind sieben Jahre, und sie sieben guten Ähren sind auch die sieben Jahre. Es ist einerlei Traum. Die sieben mageren und häßlichen Kühe, die nach jenen aufgestiegen sind, das sind sieben Jahre; und die sieben mageren und versengten Ähren sind sieben Jahre teure Zeit. Siehe, sieben reiche Jahre werden kommen in ganz Ägyptenland. Und nach denselben werden sieben Jahre teure Zeit kommen. Daß aber dem Pharao zum anderen Mal geträumet hat, bedeutet, daß solches Gott gewißlich und eilend tun wird. Nun sehe Pharao nach einem verständigen und weisen Mann, den er über Ägyptenland setze. Und sammle alle Speisen der guten Jahre, die kommen werden, auf daß man Speise verordnet finde dem Lande in den sieben teuren Jahren, daß nicht das Land vor Hunger verderbe. Die Rede gefiel Pharao. Und er sprach zu Joseph: Du sollst über mein Haus sein. Und tat seinen Ring von seiner Hand und gab ihn Joseph, und kleidete ihn mit weißer Seide und hing ihm eine güldne Kette an seinen Hals. Und nannte ihn den heimlichen Rat. Und gab ihm ein Weib, Asnath, die Tochter Potipheras, des Priesters zu On. Das erste Buch Moses, xxxxi, 1-45

Gott teilt sich seinen Knechten durch Träume mit Höret meine Worte: Ist jemand unter euch ein Prophet des Herrn, dem will ich mich kundtun in einem Gesicht oder will mit ihm reden in einem Traum. Das vierte Buch Moses, xn, 6 Da nun Gideon kam, siehe, da erzählte einer einem anderen einen Traum und sprach: Siehe, mir hat geträumt: Ein geröstetes Gerstenbrot wälzte sich zum Heer der Midianiter; und da es

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kam an die Gezelte, schlug es dieselben und warf sie nieder. Da antwortete der andere: Das ist nichts anderes denn das Schwert Gideons, Gott hat die Midianiter in seine Hände gegeben mit dem ganzen Heer. Buck der Richter, vu, 13-14

Aber Makkabäus tröstete die, so um ihn waren, sie wollten sich vor den Heiden, so wider sie zögen, nicht furchten. Er sagte ihnen auch ein Gesicht, das glaublich war. Onias, der Hohepriester, ein trefflicher, ehrlicher, gütiger, wohlberedter Mann, der sich von Jugend auf aller Tugend geflissen hatte, der reckte seine Hände aus und betete für das ganze Volk der Juden. Darnach erschien ihm ein andrer alter herrlicher Mann in köstlichen Kleidern und in einer ganz herrlichen Gestalt. Und Onias sprach zu Judas: Dieser ist Jeremias, der Prophet Gottes, der deine Brüder sehr lieb hat und betet stets für das Volk und die heilige Stadt. Darnach gab Jeremias mit seinen Händen dem Judas ein gülden Schwert und sprach zu ihm: Nimm hin das heilige Schwert, das dir Gott schenket; damit sollst du die Feinde schlagen. Das zweite Buch der Makkabäer, xv, 6-16

Daniel und die Träume Nebukadnezars Das Gesicht vom Standbild Im zwölften Jahr seiner Herrschaft hatte Nebukadnezar einen Traum, davon er erschrak, daß er aufwachte. Und er hieß alle Stemseher und Weisen und Zauberer und Chaldäer zusammen fordern, daß sie dem König seinen Traum sagen sollten. Die Chaldäer warfen ein, sie könnten nicht erklären, was sie nicht kannten. Der König schwor ihnen, wenn sie ihm nicht den Traum anzeigen und ihn deuten könnten, so würden sie um­ 22

kommen und ihre Häuser schändlich zerstört werden, aber wenn sie den Traum anzeigten, sollten sie Geschenke und große Ehre empfangen. Aber sie vermochten es nicht, und der König befahl, alle Weisen zu Babel umzubringen. Da vernahmen Daniel und seine Gesellen das Urteil. Und Daniel erlangte eine Frist. Und Daniel ging heim und drängte seine Gesellen, den Gott des Himmels um die Offenbarung des Geheimnisses anzuflehen. Da ward Daniel solch verborgenes Ding durch ein Gesicht des Nachts offenbar. Daniel fing an vor dem König Nebukadnezar (der ihn Belsazar nannte) und sprach: Das verborgene Ding, das der König fordert von den Weisen, Gelehrten, Stemsehem und Wahrsagern, steht in ihrem Vermögen nicht, dem Könige zu sagen. Aber Gott vom Himmel, der kann verborgene Dinge offenbaren; der hat dem König Nebukadnezar angezeigt, was in künftigen Zeiten geschehen soll. Dein Traum und dein Gesicht, da du schliefest, kam daher: Du König sähest und siehe, ein sehr groß und hoch Bild stund vor dir, das war schrecklich anzusehen. Desselben Bildes Haupt war von feinem Golde, seine Brust und Arme waren von Silber, sein Bauch und Lenden waren von Erz, seine Schenkel waren Eisen, seine Füße waren eines Teils Eisen und eines Teils Ton: Solches sähest du, bis daß ein Stein herabgerissen ward ohne Hände; der schlug das Bild an seine Füße, die Eisen und Ton waren, und zermalmte sie. Da wurden mit einander zermalmet das Eisen, Ton, Erz, Silber und Gold, und wurden wie Spreu auf der Sommertenne, und der Wind verwehte sie, daß man sie nirgend mehr finden konnte. Der Stein aber, der das Bild schlug, ward ein großer Berg, daß er die ganze Welt fiillete. Das ist der Traum. Nun wollen wir die Deutung vor dem Könige sagen. Du, König, bist ein König aller Könige, dem Gott vom Himmel Königreich, Macht, Stärke und Ehre gegeben hat. Und alles, da Leute wohnen, dazu die Tiere auf dem Felde und die Vögel unter dem Himmel in deine Hände gegeben und dir über alles Gewalt verliehen hat. Du bist das güldne Haupt. Nach dir wird ein ander Königreich aufkommen, gerin­ 23

ger denn deines. Darnach das dritte Königreich, das ehern ist, welches wird über alle Lande herrschen. Das vierte wird hart sein wie Eisen; denn gleichwie Eisen alles zermalmet und zerschlägt, ja, wie Eisen alles zerbricht, also wird es auch diese alle zermalmen und zerbrechen. Daß du aber gesehen hast die Füße und Zehen eines Teils Ton und eines Teils Eisen: das wird ein zerteilt Königreich sein; doch wird von des Eisens Pflanze drinnen bleiben, wie du denn gesehen hast, Eisen mit Ton vermengt. Und daß du gesehen hast Eisen mit Ton vermengt: werden sie sich wohl nach Menschengeblüt unter einander mengen, aber sie werden doch nicht an einander halten, gleichwie sich Eisen mit Ton nicht mengen läßt. Aber zur Zeit solcher Königreiche wird Gott vom Himmel ein Königreich aufrichten, das nimmermehr zerstöret wird; und sein Königreich wird auf kein ander Volk kommen. Es wird alle diese Königreiche zermalmen und verstören; aber es wird ewiglich bleiben. Wie du denn gesehen hast einen Stein, ohne Hände vom Berge herabgerissen, der das Eisen, Erz, Ton, Silber und Gold zermalmte. Also hat der große Gott dem Könige gezeigt, wie es hernach gehen werde, und der Traum ist gewiß, und die Deutung ist recht. Nebukadnezar erhöhte Daniel und gab ihm große und viel Geschenke und erkannte den wahren Gott unter den Göttern und den Herrn der Könige, der die Geheimnisse oflenbart. Der Prophet Daniel, 11, 1 -47

Das Gesicht vom Baum

Ich, Nebukadnezar, da ich gute Ruhe hatte in meinem Hause und es wohl stund auf meiner Burg, sah ich einen Traum und erschrak. Und ich befahl, daß alle Weisen zu Babel vor mich heraufgebracht würden, aber sie konnten mir nicht sagen, was er bedeutete. Bis zuletzt Daniel vor mich kam, (welcher Belsazar heißt nach dem Namen meines Gottes,) der den Geist der heiligen Götter hat. 24

Dies ist aber das Gesicht, das ich gesehen habe auf meinem Bette: Siehe, es stund ein Baum mitten im Lande, der war sehr hoch; groß und dick, seine Höhe reichte bis an den Himmel und breitete sich aus bis ans Ende des ganzen Landes; seine Äste waren schön und trugen viel Früchte, davon alles zu essen hatte. Und siehe, ein heiliger Wächter fuhr vom Himmel herab; der rief überlaut und sprach also: Hauet den Baum um und behauet ihm die Äste und streift ihm das Laub ab und zerstreuet seine Früchte, daß die Tiere, so unter ihm liegen, weglaufen, und die Vögel von seinen Zweigen fliehen. Doch laßt den Stock mit seinen Wurzeln in der Erde bleiben; er aber soll in eisernen und ehernen Ketten auf dem Felde im Grase gehen; er soll unter dem Tau des Himmels liegen und naß werden und soll sich weiden mit den Tieren von den Kräutern der Erde. Und das menschliche Herz soll von ihm genommen und ein viehisch Herz ihm gegeben werden, bis daß sieben Zeiten über ihm um sind. Solches ist im Rat der Wächter beschlossen und im Gespräch der Heiligen beratschlagt, auf daß die Lebendigen erkennen, daß der Höchste Gewalt hat über der Menschen Königreiche, und gibt sie, wem er will, und erhöhet die Niedrigen zu denselbigen. Da entsetzte sich Daniel, bei einer Stunde lang, und seine Gedanken betrübten ihn. Und sprach: Ach, mein Herr, daß der Traum deinen Feinden, und seine Deutung deinen Widerwärtigen gölte! Der Baum, den du gesehen hast, das bist du, König, der du so groß und mächtig worden; denn deine Macht ist groß, und reicht an den Himmel und deine Gewalt langet bis an der Welt Ende. Aber man wird dich von den Leuten verstoßen, und mußt bei den Tieren auf dem Felde bleiben, und man wird dich Gras essen lassen wie die Ochsen, und wirst unter dem Tau des Himmels liegen und naß werden, bis über dir sieben Zeiten um sind, auf daß du erkennest, daß der Höchste Gewalt hat über der Menschen Königreiche, und gibt sie, wem er will. Daß aber gesagt ist, man solle dennoch den Stock des Baumes mit seinen 25

Wurzeln bleiben lassen: dein Königreich soll dir bleiben, wenn du erkannst hat die Gewalt des Himmels. Darum, Herr König, laß dir meinen Rat gefallen und mache dich los von deinen Sünden durch Gerechtigkeit und ledig von deiner Missetat durch Wohltat an den Armen, so wird dein Glück lange währen. Dies alles widerfuhr dem König Nebukadnezar. Der Prophet Daniel, iv, 1 -25

Der Traum Mardochais Im andern Jahr des großen Königs Artaxerxes, am ersten Tage des Monats Nisan, hatte Mardochai einen Traum, der ein Jude war, ein Sohn Jairs, des Sohn Simeis, des Sohns des Kis, vom Stamm Benjamin, und wohnte in der Stadt Susan, ein ehrlicher Mann und am königlichen Hofe wohlgehalten. Er war aber der Gefangenen einer, so Nebukadnezar, der König zu Babel, weggeführt hatte von Jerusalem, mit dem Könige Jechonja, dem Könige Judas. Und das war sein Traum: Es erhub sich ein Geschrei und Getümmel, Donner und Erdbeben und Schrecken auf Erden. Und siehe, da waren zween große Drachen, die gingen gegeneinander, zu streiten. Und das Geschrei war so groß, daß alle Länder sich aufmachten, zu streiten wider ein heilig Volk. Und es war ein Tag großer Finsternis, Trübsal und Angst, und war ein großerJammer und Schrecken auf Erden. Und das heilige Volk war hoch betrübt, und fürchteten sich vor ihrem Unglück und verzagten an ihrem Leben. Und schrieen zu Gott. Und nach solchem Geschrei ergoß sich ein großer Wasserstrom aus einem kleinen Brunnen. Und die Sonne ging auf und ward helle; und die Elenden gewannen und brachten um die Stolzen. Als nun Mardochai erwachte nach dem Traum, dachte er, was Gott damit meinte, und behielt den Traum in seinem Herzen. Stücke in Esther, vii 26

Und Mardochai sprach: Gott hat das alles geschickt. Ich denke an meinen Traum; und es ist eben ergangen, wie mir geträumt hat. Der kleine Brunnen, der ein großer Wasserstrom ward, da die Sonne schien und helle ward, das ist Esther, welche der König zum Gemahl genommen und zur Königin gemacht hat. Die zween Drachen sind ich und Haman. Der eine bedeutet die Heiden, so zusammen kamen und den Namen der Juden austilgen wollten; der andere bedeutet mein Volk Israel, welches zum Herrn rief, und der Herr half seinem Volk und erlöste uns von diesem Unglück. Stücke in Esther, vui

Der Traum des Abimelech Abraham aber zog von dannen ins Land gegen Mittag, und wohnete zwischen Kades und Sur, und ward ein Fremdling zu Gerar. Und sprach von seinem Weibe Sara: Es ist meine Schwester. Da sandte Abimelech, der König zu Gerar, nach ihr und ließ sie holen. Aber Gott kam zu Abimelech des Nachts im Traum und sprach zu ihm: Siehe da, du bist des Todes um des Weibes willen, das du genommen hast; denn sie ist eines Mannes Eheweib. Abimelech aber hatte sie nicht berührt, und sprach: Herr, willst du denn auch ein gerecht Volk erwürgen? Hat er nicht zu mir gesagt: Sie ist meine Schwester? Hab ich doch das getan mit einfältigem Herzen und unschuldigen Händen. Und Gott sprach zu ihm im Traum: Ich weiß. Darum habe ich es dir nicht zugegeben, daß du sie berührtest. So gieb nun dem Mann sein Weib wieder, denn er ist ein Prophet; und laß ihn für dich bitten, so wirst du lebendig bleiben. Wo du sie aber nicht wiedergibst, so wisse, daß du des Todes sterben mußt, und alles, was dein ist. Da stund Abimelech des Morgens frühe auf und rief allen 27

seinen Knechten, und sagte ihnen dieses alles vor ihren Ohren. Und die Leute fürchteten sich sehr. Da nahm Abimelech Schafe und Rinder, Knechte und Mägde, und gab sie Abraham, und gab ihm wieder sein Weib Sara. Und sprach: Siehe da,.mein Land steht dir offen; wohne, wo dir’s wohlgefallt. Das erste Buch Moses, xx, 1 -15

Jakobs Traum Aber Jakob zog aus von Ber-Saba, und reiste gen Haran, und kam an einen Ort, da blieb er über Nacht. Und ihm träumte; und siehe, eine Leiter stund auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen dran auf und nieder. Und der Herr stund oben drauf und sprach: Ich bin der Herr, Abrahams, deines Vaters, Gott und Isaaks Gott; das Land, da du auf liegest, will ich dir und deinem Samen geben. Und dein Same soll werden wie der Staub auf Erden und du sollst ausgebreitet werden gegen den Abend, Morgen, Mitternacht und Mittag; und durch dich und deinen Samen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden. Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hin zeuchst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht lassen, bis daß ich tue alles, was ich dir geredet habe. Da nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Gewißlich ist der Herr an diesem Ort, und ich wußte es nicht; und fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hie ist nichts anderes denn Gottes Haus und hie ist die Pforte des Himmels. Das erste Buch Moses, xxvin, 10-17

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Salomons Traum Und Salomo opferte tausend Brandopfer auf demselben Altar. Und der Herr erschien Salomo zu Gibeon im Traum des Nachts, und Gott sprach: Bitte, was ich dir geben soll. Salomo sprach: Du hast an meinem Vater David, deinem Knecht, große Barmherzigkeit getan, wie er denn vor dir gewandelt ist in Wahrheit und Gerechtigkeit und mit richtigem Herzen vor dir; und hast ihm diese große Barmherzigkeit gehalten und ihm einen Sohn gegeben. Nun, Herr, mein Gott, du hast deinen Knecht zum Könige gemacht an meines Vaters David Statt. So bin ich ein junger Knabe, weiß nicht weder meinen Ausgang noch Eingang. So wollest du deinem Knecht geben ein gehörsam Herz, daß er dein Volk richten möge und verstehen, was gut und böse ist. Das gefiel dem Herrn wohl, daß Salomo um ein solches bat. Und Gott sprach zu ihm: Weil du solches bittest, und bittest nicht um langes Leben, noch um Reichtum, noch um deiner Feinde Seele, sondern um Verstand, Gericht zu hören, siehe, so habe ich getan nach deinen Worten. Siehe, ich habe dir ein weises und verständiges Herz gegeben, daß deinesgleichen vor dir nicht gewesen ist, und nach dir nicht aufkommen wird. Dazu, das du nicht gebeten hast, hab ich dir auch gegeben, sowohl Reichtum als Ehre, daß deinesgleichen keiner unter den Königen ist zu deinen Zeiten. Und so du wirst in meinen Wegen wandeln, daß du hältst meine Sitten und Gebote, wie dein Vater David gewandelt ist, so will ich dir geben ein langes Leben. Und da Salomo erwachte, siehe, da war es ein Traum. Und kam gen Jerusalem und trat vor die Lade des Bundes des Herrn, und opferte Brandopfer und Dankopfer, und machte ein großes Mahl allen seinen Knechten. Das erste Buch der Könige, in, 4-15

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Hohlheit der Träume Unweise Leute betrügen sich selbst mit törichten Hoffnungen, und Narren verlassen sich auf Träume. Wer aufTräume hält, der greift nach dem Schatten und will den Wind haschen. Träume sind nichts anderes denn Bilder ohne Wesen. Was unrein ist, wie kann das rein sein? Und was falsch ist, wie kann das wahr sein? Eigne Weissagung und Deutung und Träume sind nichts und machen doch einem schwere Gedanken, und wo es nicht kommt durch Eingebung des Höchsten, so halt nichts davon. Das Bush Jesus Sirach, xxxiv, 1-6

Von der Genügsamkeit Sei nicht übereilt in deinen Worten, und möge Dein Herz nicht hastig ein Wort sprechen vor Gott, denn im Himmel ist Gott und du auf der Erde. Aus der Vielfalt der Beschäftigungen entstehen die Träume und aus der Vielfalt der Worte entstehen die Ungereimtheiten. Das Buch Jesus Sirach, v, 1 -2

Prophetische Gesichter Die vier Tiere

Im ersten Jahr Belsazers, des Königs zu Babel, hatte Daniel einen Traum und Gesicht auf seinem Bette; und er schrieb denselbigen Traum und verfaßte ihn also: Ich, Daniel, sah ein Gesicht in der Nacht, und siehe, die vier Winde unter dem Himmel stürmeten wider einander auf dem großen Meer. Und vier große Tiere stiegen herauf aus dem Meer, eins je anders denn das andre. Das erste wie ein Löwe und hatte Flügel wie ein 3°

Adler. Ich sah zu, bis daß ihm die Flügel ausgerauft wurden; und es ward von der Erde genommen, und es stund auf seinen Füßen wie ein Mensch, und ihm ward ein menschlich Herz gegeben. Und siehe, das andre Tier hernach war gleich einem Bären und stund auf der einen Seite, und hatte in seinem Maul unter seinen Zähnen drei große, lange Zähne. Und man sprach zu ihn: Stehe auf und friß viel Fleisch! Nach diesem sah ich, und siehe, ein ander Tier, gleich einem Parder, das hatte vier Flügel wie ein Vogel auf seinem Rücken; und dasselbige Tier hatte vier Köpfe; und ihm ward Gewalt gegeben. Nach diesem sah ich in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, das vierte Tier war greulich und schrecklich und sehr stark und hatte große eiserne Zähne, fraß um sich und zermalmte und das übrige zertrat’s mit seinen Füßen; es war auch viel anders denn die vorigen, und hatte zehn Hörner. Da ich aber die Hörner schaute, siehe, da brach hervor zwischen denselbigen ein ander klein Hom, vor welchem der vorigen Hörner drei ausgerissen wurden; und siehe, dasselbige Hom hatte Augen wie Menschenaugen und ein Maul, das redete große Dinge.

Der Alte und das Gericht Solches sah ich, bis daß Stühle gesetzt wurden; und der Alte setzte sich, das Kleid war schneeweiß, und das Haar auf seinem Haupt wie reine Wolle; sein Stuhl war eitel Feuerflammen, und desselbigen Räder brannten mit Feuer. Und von demselbigen ging aus ein langer feuriger Strahl. Tausend mal tausend dieneten ihm und zehnhundert mal tausend stunden vor ihm. Das Gericht ward gehalten, und die Bücher wurden aufgetan. Ich sah zu um der großen Reden willen, so das Hom redete ich sah zu, bis das Tier getötet ward und sein Leib umkam und ins Feuer geworfen ward, und der andern Tiere Gewalt auch aus war; denn es war ihnen Zeit und Stunde bestimmt, wie lang ein jegliches währen sollte. 31

Des Menschen Sohn Ich sah in diesem Gesicht des Nachts, und siehe, es kam einer in des Himmels Wolken wie eines Menschen Sohn bis zu dem Alten, und ward vor denselbigen gebracht. Der gab ihm Gewalt, Ehre und Reich, daß ihm alle Völker, Leute und Zungen dienen sollten. Seine Gewalt ist ewig, die nicht vergehet, und sein Königreich hat kein Ende. Ich, Daniel, entsetzte mich davor, und solch Gesicht erschreckte mich. Und ich ging zu der einem, die da stunden, und bat ihn, daß er mir von dem allen gewissen Bericht gäbe. Und er redete mit mir und zeigte mir, was es bedeutete. Diese vier großen Tiere sind vier Reiche, so auf Erden kommen werden. Aber die Heiligen des Höchsten werden das Reich einnehmen und werden’s immer und ewiglich besitzen. Darnach hätte ich gerne gewußt gewissen Bericht von dem vierten Tier, und von demselbigen Hom. Und ich sah dasselbige Hom streiten wider die Heiligen, und es behielt den Sieg wider sie, bis der Alte kam und Gericht hielt für die Heiligen des Höchsten, und die Zeit kam, daß die Heiligen das Reich einnahmen. Das vierte Reich

Er sprach also: Das vierte Tier wird das vierte Reich auf Erden sein, welches wird gar anders sein denn alle Reiche; es wird alle Lande fressen, zertreten und zermalmen. Die zehn Hörner bedeuten zehn Könige, so aus demselbigen Reich entstehen werden. Nach denselbigen aber wird ein andrer aufkommen, der wird mächtiger sein, denn der vorigen keiner, und wird drei Könige demütigen. Er wird den Höchsten lästern und die Heiligen des Höchsten verstören; und wird sich unterstehen, Zeit und Gesetz zu ändern. Sie werden aber in seine Hand gegeben werden eine Zeit und etliche Zeit und eine halbe Zeit. Darnach wird das Gericht gehalten werden; da wird dann seine Gewalt weggenommen werden, daß er zu Grund vertilget und umgebracht werde. 32

Der Widder und der Bock Im dritten Jahr des Königreichs des Königs Belsazer erschien mir, Daniel, ein Gesicht, nach dem, so mir am ersten erschienen war. Ich war aber, da ich solch Gesicht sah, zu Schloß Susan im Lande Elam, am Wasser Ulai. Und ich hub meine Augen auf und sah, und siehe, ein Widder stund vor dem Wasser, der hatte zwei hohe Hörner, doch eines höher denn das andre, und das höchste wuchs am letzten. Ich sah, daß der Widder mit den Hörnern stieß gegen Abend, gegen Mitternacht und gegen Mittag; und kein Tier konnte vor ihm bestehen noch von seiner Hand errettet werden. U nd indem ich drauf merkte, siehe, so kommt ein Ziegenbock vom Abend her über die ganze Erde, daß er die Erde nicht rührete; und der Bock hatte ein ansehnlich Horn zwischen seinen Augen. Und der Ziegenbock ward sehr groß. Und da er aufs stärkste worden war, zerbrach das große Hom, und wuchsen an des Statt ansehnliche vier gegen die vier Winde des Himmels. Und aus derselbigen einem wuchs ein klein Horn; das ward sehr groß gegen Mittag, gegen Morgen und gegen das Werdeland. Und es wuchs bis an des Himmels Heer und warf etliche davon und von den Sternen zur Erde und zertrat sie. Ja, es wuchs bis an den Fürsten des Heeres, und nahm von ihm weg das tägliche Opfer und verwüstete die Wohnung seines Heiligtums. Es ward ihm aber solche Macht gegeben wider das tägliehe Opfer um der Sünde willen, daß es die Wahrheit zu Boden schlüge und, was es tat, ihm gelingen mußte. Ich hörte aber einen Heiligen reden: und ein Heiliger sprach zu dem, der da redete: Wie lange soll doch währen solch Gesicht vom täglichen Opfer und von der Sünde, um welcher willen diese Verwüstung geschieht, daß beide, das Heiligtum und das Heer, zertreten werden? Und er antwortete mir: Bis 2300 Abende und Morgen um sind; dann wird das Heiligtum wieder geweiht werden. 33

Und ich hörte mitten vom Ulai her einen mit Menschenstimme rufen und sprechen: Gabriel, lege diesem das Gesicht aus, daß er’s verstehe! Er aber sprach zu mir: Merke auf, du Menschenkind! denn dies Gesicht gehört in die Zeit des Endes. Ich sank in eine Ohnmacht und er richtete mich auf und sprach: Siehe, ich will dir zeigen, wie es gehen wird zur Zeit des letzten Zorns. Die Erklärung

Der Widder mit den zwei Hörnern sind die Könige in Medien und Persien. Der Ziegenbock ist der König in Griechenland. Das große Hom zwischen seinen Augen ist der erste König. Vier Königreiche werden aus dem Volk entstehen, aber nicht so mächtig. In der letzten Zeit ihres Königreichs, wenn die Übertreter überhandnehmen, wird auikommen ein frecher und tückischer König. Der wird mächtig sein, doch nicht durch seine Kraft; er wird greulich verwüsten, und es wird ihm gelingen, daß er’s ausrichte. Er wird die Starken samt dem heiligen Volk verstören. Er wird sich in seinem Herzen erheben und mitten im Frieden wird er viele verderben und wird sich auilehnen wider den Fürsten aller Fürsten; aber er wird ohne Hand zerbrochen werden. Dies Gesicht vom Abend und Morgen, das ist wahr; aber du sollst das Gesicht heimlich halten, denn es ist noch eine lange Zeit hin. Und ich, Daniel, ward schwach und verwunderte mich des Gesichts; und niemand war, der mir’s auslegte. Die sieben Wochen

Im ersten Jahr des Darius, des Sohnes des Ahasveros, aus der Meder Stamm, der über das Königreich der Chaldäer ward, merkte ich, Daniel, in den Büchern auf die Zahl der Jahre, davon der Herr geredet hatte zum Propheten Jeremia, daß Jerusalem sollte siebzigJahre wüst liegen. 34

Ich kehrte mich zu Gott dem Herrn, zu beten und zu flehen mit Fasten im Sack und in der Asche. Ich aber betete zu dem Herrn, meinem Gott und sprach: Daniels Gebet und Bekenntnis

Ach lieber Herr, du großer und schrecklicher Gott, der du Bund und Gnade hältst denen, die dich lieben und deine Gebote halten: wir haben gesündigt, unrecht getan, sind gottlos gewesen und abtrünnig geworden; wird sind von deinen Geboten und Rechten gewichen. Du Herr, bist gerecht, wir aber müssen uns schämen; wie es denn jetzt geht denen von Juda und denen von Jerusalem und dem ganzen Israel, denen, die nahe und fern sind in allen Landen. Ja, Herr wir, unsere Könige, unsere Fürsten und unsere Väter müssen uns schämen, daß wir uns an dir versündigt haben. Darum trifft uns auch der Fluch und Schwur, der geschrieben steht im Gesetz Moses, des Knechtes Gottes, weil wir an ihm gesündigt haben. Und nun, Herr, unser Gott, der du dein Volk aus Ägyptenland geführt hast, wende ab deinen Zorn und Grimm von deiner Stadt Jerusalem und deinem heiligen Berge. Siehe gnädig an dein Heiligtum, das verstört ist, blicke auf unsere Ruinen. Durch deine Barmherzigkeit, Herr. Gabriel bringt die Antwort

Gabriel erschien mir zu Stunde des Abendopfers. Und er sprach: Siebenzig Wochen sind bestimmt über dein Volk und über deine heilige Stadt, so wird dem Übertreten gewehret und die Sünden zugesiegelt und die Missetat versöhnet und die ewige Gerechtigkeit gebracht und die Gesichte und Weissa­

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gung zugesiegelt, und der Allerheiligste gesalbet werden. So wisse nun, und merke: Von der Zeit an, so ausgehet der Befehl, daß Jerusalem soll wiederum gebauet werden, bis auf Christum, den Fürsten, sind sieben Wochen, und zweiundsechzig Wochen, so werden die Gassen und Mauern wieder gebauet werden, wiewohl in kümmerlicher Zeit. Und nach den zweiundsechzig Wochen wird Christus ausgerottet werden, und nichts mehr sein. Und ein Volk des Fürsten wird kommen und die Stadt und das Heiligtum verstören, daß es ein Ende nehmen wird, wie durch eine Flut; und bis zum Ende des Streits wird’s wüst bleiben. Er wird aber vielen den Bund stärken eine Woche lang. Und mitten in der Woche wird das Opfer und Speisopfer aufhören. Und bei den Flügeln werden stehen Greuel der Verwüstung. Der Prophet Daniel vu bis rx

Die Bibelkommentatoren behaupten, die vier Tiere entsprechen den verschiedenen Teilen des von Nebukadnezar geschauten Standbilds; das vierte sei Siria und das gotteslästerliche Horn Antiochos IV., schlimmer Verfolger der Juden. Die zehn Könige sind Alexander der Große, Seleukos I. Nikator, Antiochos Soter, Antiochos II. Kalinikos, Seleukos III., Keraunos, Antiochos III. der Große, Seleukos IV. Philopator, Heliodoros und Demetrios I. Soter. Die verschwundenen, Seleukos IV. (von Heliodoros ermordet), Heliodoros und Demetrios I. Der Alte ist Gott, entschlossen, die orientalischen Reiche zu richten. Die einem Menschensohn ähnliche Gestalt ist der Messias: Jesus Christus erinnert an die Stelle in Matthäus, 26,64, vordem Hohepriester. Dann wird auf den Kampf Alexanders gegen die Perser angespielt, auf die Bildung seines Reiches und dessen Zerfall nach dem Tod des Sohnes von Philipp von Mazedonien. Daniels Prophezeiung - die siebzig Wochen - fußt auf der des Jeremias - siebzig Jahre - und wird als »siebzig Wochen von Jahren« gedeutet.



Doppelter Traum Es war aber ein Jünger zu Damaskus, mit Namen Ananias; zu dem sprach der Herr im Gesichte: Ananias! Stehe auf und gehe hin in die Gasse, die da heißt die richtige, und frage in dem Hause des Judas nach Saul mit Namen, von Tarsus; denn siehe, er betet. Und hat gesehen im Gesichte einen Mann, mit Namen Ananias, zu ihm hineinkommen und die Hand auf ihn legen, daß er wieder sehend werde. Ananias aber antwortete: Herr, ich habe von vielen gehört von diesem Manne, wie viel Übels er deinen Heiligen getan hat zu Jerusalem; Und er hat allhie Macht von den Hohenpriestern, zu binden alle, die deinen Namen anrufen. Der Herr sprach zu ihm: Gehe hin; denn dieser ist mir ein auserwählt Rüstzeug, daß er meinen Namen trage vor den Heiden und vor den Königen und vor den Kindern in Israel. Ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muß um meines Namens willen. Und Ananias ging hin und kam in das Haus und legte die Hände auf ihn und sprach: Lieber Bruder Saul, der Herr hat mich gesandt, der dir erschienen ist auf dem Wege, da du her kämest, daß du wieder sehend und mit dem heiligen Geist erfüllet werdest. Und alsobald fiel es von seinen Augen wie Schuppen, und er ward wieder sehend und stund auf und ließ sich taufen. Apostelgeschichte,™, 10-18

Der Engel des Herrn in den Träumen Josephs Als Maria, seine Mutter, dem Joseph vertrauet war, ehe er sie heimholte, erfand sich’s, daß sie schwanger war von dem heiligen Geist. Joseph aber, ihr Mann, war fromm und wollte sie nicht rügen, gedachte aber, sie heimlich zu verlassen. Indem er aber also gedachte, siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sprach: Joseph, du Sohn Davids, furchte dich 37

nicht, Maria, dein Gemahl, zu dir zu nehmen; denn das in ihr geboren ist, das ist von dem heiligen Geist. Und sie wird einen Sohn gebären, des Namen sollst du Jesus heißen; denn er wird sein Volk selig machen von ihren Sünden. Das ist aber alles geschehen, auf daß erfüllet würde, das der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht: Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden seinen Namen Immanuel heißen, das ist verdolmetschet: Gott mit uns. Da nun Joseph vom Schlaf erwachte, tat er wie ihm des Herrn Engel befohlen hatte, und nahm sein Gemahl zu sich. Und erkannte sie nicht, bis sie ihren ersten Sohn gebar, und hieß seinen Namen Jesus. Da die Weisen aber hinweg gezogen waren, siehe, da,erschien der Engel des Herrn dem Joseph im Traum und sprach: Stehe auf und nimm das Kindlein und seine Mutter zu dir und fleuch nach Ägyptenland und bleib allda, bis ich dir sage. Denn es ist vorhanden, daß Herodes das Kindlein suche, dasselbe umzubringen. Und er stund auf und nahm das Kindlein und seine Mutter zu sich bei der Nacht und entwich nach Ägyptenland. Da aber Herodes gestorben war, siehe, da erschien der Engel des Herrn dem Joseph im Traum in Ägyptenland, und sprach: Stehe auf und nimm das Kindlein und seine Mutter zu dir und zeuch hin in das Land Israel; sie sind gestorben, die dem Kind nach dem Leben stunden. Und er stund auf und nahm das Kindlein und seine Mutter zu sich und kam in das Land Israel. Evangelium des Matthäus, 1

Geschichte des Kessi Sein Vater war gestorben; Kessi lebte mit seiner Mutter und war der beste Jäger. Jeden Tag brachte er Wildbret für den mütterlichen Tisch und ernährte die Götter mit seinen Opfergaben. Kessi verliebte sich in Shintalimeni, die jüngste von 3θ

sieben Schwestern. Er vergaß die Jagd und ergab sich dem Müßiggang und der Liebe. Die Mutter schalt ihn: »Der beste Jäger, und jetzt einejagd beute!« Der Sohn ergriff seinen Spieß, rief seine Meute und zog hinaus. Aber der Mensch, der die Götter vergißt, wird von den Göttern vergessen. Die Tiere hatten sich versteckt; drei Monate lang streifte er umher. Erschöpft schlief er am Fuß eines Baumes ein. Dort hausten die Trolle des Waldes, die beschlossen, den jungen Mann zu verschlingen. Doch das war auch das Land, wo die Geister der Toten wohnten, und Kessis Vater erdachte eine List. »Gnome! Warum wollt ihr ihn töten? Raubt ihm seinen Rock, damit er fortgeht!« Die Gnome sind Diebsgesindel, und Kessi erwachte, als der Wind ihm um die Ohren pfiff und ihm den Rücken peitschte. Er wandte sich bergab, einem Lichtschein zu, der mitten im Tal blinzelte. Er träumte sieben Träume: Er sah sich vor einer riesigen Tür, die er vergeblich zu öffnen versuchte. Er sah sich in den Tiefen eines Hauses, wo Mägde arbeiteten und ein gewaltiger Vogel eine von ihnen forttrug. Er sah sich auf einer weiten Wiese, auf der ein Menschenhaufe friedlich dahinwanderte: Ein Blitz zuckte und ein Feuerfunken stieß auf sie herab. Die Szene veränderte sich, und Kessis Vorfahren waren um ein Feuer versammelt und schürten es. Er sah sich an Händen und Füßen mit Ketten wie Frauenhalsbänder gefesselt. Er war bereit, zur Jagd auszuziehen, und sah auf einer Seite der Tür einen Drachen, und auf der anderen furchterregende Harpyien. Er erzählte seiner Mutter, was geschehen war. Die Mutter machte ihm Mut (»Hohe Binsen beugen sich vor Regenwind,/ Und doch erheben sie den Kopf geschwind«) und übergab ihm einen Strang blauer Wolle, in einer Farbe, die vor Zauber und Schaden bewahrt. Kessi machte sich auf den Weg zum Hügel.

Dennoch waren die Götter beleidigt: es gab keine Wildtiere zum Jagen mehr. Kessi strich ziellos umher, bis er erschöpft 39

war. Er stand vor einer großen Tür, die ein Drachen und furchterregende Harpyien bewachten. Weder vermochte er die Tür zu öffnen, noch antwortete jemand auf seinen Ruf, und so beschloß er zu warten. Der Schlaf übermannte ihn. Als er gegen Abend erwachte, sah er ein blinkendes Licht, das näherkam, riesig anwuchs und ihn schließlich blendete: es war ein hochgewachsener, strahlender Mensch. Der sagte ihm, dies sei die Tür des Sonnenuntergangs und dahinter läge das Reich der Toten. Der Sterbliche, der sie durchschritte, könne nicht zurückkehren. »Wie kannst du dann durch sie hindurchgehen?« »Ich bin die Sonne«, antwortete der Gott und trat ein. Aufder anderen Seite warteten die Geister der Toten darauf, den Sonnengott auf seinem nächtlichen Besuch willkommen zu heißen. Dort befand sich Udipsharri, Shintalimenis Vater. Als er die Stimme seines Schwiegersohnes hörte, war er erfreut darüber, daß jener der erste Sterbliche sei, der die Toten besuchte. Er flehte die Sonne an, sie möge ihm den Eintritt gestatten. »Sehr gut, er soll hereinkommen und mir auf dem dunklen Pfad folgen; er wird nicht ins Reich der Lebenden zurückkehren. Fesselt seine Hände und seine Füße, damit er nicht entkörnmen kann. Wenn er alles gesehen hat, werde ich ihn töten.« Kessi fand sich vor einem langen engen Tunnel. Der Sonnengott entfernte sich und schrumpfte zu einem Punkt. Udipsharri fesselte Kessi an Füßen und Händen und lud ihn ein, dem erlöschenden Lichtchen zu folgen. Kessi sah die Geister der Toten, die das Feuer schürten: es waren die Schmiede des Gottes, welche die Strahlen schmieden, die er auf die Erde schleudert. Er fühlte, daß tausende von Vögeln ihn umflatterten. »Das sind die Vögel des Todes«, sagte Udipsharri, welche die Seelen der Toten in die Unterwelt tragen.« Kessi erkannte den riesengroßen Vogel seiner Träume. Schließlich gelangten sie zur Tür des Tagesanbruchs. Kessi sollte sterben, bat jedoch um Verzeihung. Der Sonnengott erinnerte sich daran, wie Kessi sich bei Tagesanbruch erhoben, gejagt und den Göttern

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Opfergaben dargebracht hatte. »Schön«, bestimmte er, »du wirst mit deiner Gattin und ihren sechs Schwestern in den Himmel eingehen, wo ihr gemeinsam die ewigen Sterne betrachten werdet.« In klaren Nächten sieht man auf den Wiesen des Himmels den Jäger, dessen Hände gefesselt und dessen Füße mit Ketten wie Frauenhalsbänder gebunden sind. Neben dem Jäger funkein sieben Sterne. Hethitische Erzählung aus dem zweiten Jahrtausend vor Christi

Der erste Teil dieser Erzählung ist in hethitischen Keilinschriften bewahrt; der zweite Teil in einem Fragment akkadischer Übersetzung, die Ende des 19. Jahrhunderts in Ägypten gefunden wurde. Theodore H. Gaster hat sie übersetzt, hat sie bearbeitet und kommentiert. (The oldest stories in the world, 1952). Die Erzählung beschäftigt sich in der Hauptsache mit dem Tod und dem Reich der Toten: die Tür, die sich nur den Toten öffnet, um ihnen Eingang zum Tode zu gestatten (das Tor zum Hades; siehe Vergil, Äneis VI, 127); der Vogel, der einen Toten ins Reich der Toten trägt; die Geister der Toten, die das Feuer schüren; der Drachen und die Harpyien, welche die Türe bewachen (wiederholt sich in der Geschichte des Gilgamesch und in Vergil, Äneis, VI, 258 bis 289); die Begegnung mit Udipsharri (Odysseus und seine Mutter, Äneas und Anchises, Dante und Beatrice) und dieser als Führer (die Sibylle mit Äneas, Vergil mit Dante). Kessi wäre Orion, Jäger, an den Himmel gekettet, Verfolger der sieben Schwestern, die sich in die Plejaden verwandeln. Die Erwähnung der Gnome ist die älteste, die es gibt.

Die Träume kommen von Zeus her Schon neun Tage durchflogen das Heer die Geschosse des Gottes. Drauf am zehnten berief des Volks Versammlung Achilleus. »Atreus’ Sohn, nun denk ich, wir ziehn den vorigen Irrweg Wieder nach Hause zurück, wofern wir entrinnen dem Tode,

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Weil ja zugleich der Krieg und die Pest hinrafTt die Achaier. Aber wohlan, fragt einen der Opferer oder der Seher Oder auch Traumausleger; auch Träume ja kommen von Zeus her.« Ilias I, 53-54, 59-63

Die zwei Pforten I

Wieder begann dagegen die sinnige Penelopeia: Fremdling, gewiß doch Träume, die sinnlos reden und eitel, Gibt es; und nicht geht Alles den Sterblichen einst in Erfüllung. Denn es gibt zwo Pforten der luftigen Traumgebilde: Diese von Elfenbein, und jen’ aus Hörne gefertigt. Welche nun gehn aus der Pforte geschliffenen Elfenbeines, Solche täuschen den Geist durch wahrheitslose Verkündung; Aber die aus des Hornes geglätteter Pforte herausgeh’n, Wirklichkeit deuten sie an, wenn der Sterblichen einer sie schonet. Odyssee XIX,

II Zwiefach sind die Tore des Schlafs: ist hürnen das eine, öfTnet sich gern und leicht dem Schwarm wahrhaftiger Schatten. Aber von Elfenbein, von geglättetem, leuchtet das andre, Das aus dem Seelengefild die falschen Träume hindurchläßt. Aeneis VI, 993-996

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Penelopes Traum Penelope zu Odysseus (ohne zu wissen, wer es war, der da nach dreiundzwanzig Jahren nach Ithaka zurückkehrte): Aber wohlan, den Traum erkläre mir jetzt und vernimm ihn. Zwanzig hab’ ich der Gans’ im Haus hier, welche den Weizen Fressen mit Wasser gemischt; und ich Treue mich solche betrachtend. Siehe, da kommt vom Gebirg’ ein krummgeschnabelter Adler. Brach den Gänsen die Häls’, und mordete; wild durch einander Lagen sie all’ im Palast, und er Ilog in die heilige Luft auf, Aber ich selbst wehklagt’ und schluchzete laut in dem Traume; Rings auch versammelten sich schönlockige Frauen zur Tröstung Mir, die in Kummer verging, daß gewürgt mir die Gänse der Adler. Plötzlich kam er zurück, und saß auf dem Simse des Balkens; Und mit menschlicher Stimme den Gram mir zähmend, begann er: Mutig, Ikarios Tochter, des femgepriesenen Königs! Traum nicht, sondern Gesicht, zum Heil dir wird es vollendet. Freier sind sie, die Gäns’; und ich war deutender Adler Kurz dir zuvor, doch jetzt als Ehegemahl dir komm’ ich, Daß ich den Freiern gesammt ein schreckliches Ende bereite. Odyssee XIX, 535-550

Die Iden des März Das Schicksal, so scheint es, überfällt den Menschen nicht ohne Warnung - entgehen kann er ihm trotzdem nicht. Auch zu jener Zeit sollen seltsame Zeichen und Erscheinungen beobachtet worden sein. Vielleicht sollte man angesichts des gewaltigen Geschehens gar nicht reden von den Feuern am Himmel, vom Donner, der weithin durch die Nächte dröhnte, von den Vö­ 43

geln, welche aus der Einöde auf die Marktplätze herabkamen. Der Philosoph Strabon hingegen erzählt, man habe feurige Menschen in großer Zahl aufeinander losgehen sehen, und der Bursche eines Soldaten habe eine mächtige Flamme von der Hand geschüttelt. Wer ihn gesehen, sei überzeugt gewesen, er müsse verbrennen. Als aber das Feuer erlosch, sei der Mann ohne Spur einer Verletzung gewesen. Caesar selber sei es beim Opfern widerfahren, daß im Opfertier kein Herz gefunden wurde, ein schreckliches Zeichen: denn auf natürliche Weise hätte ein Tier ohne Herz ja gar nicht bestehen können. Viele wissen auch zu berichten, daß ihm ein Seher bedeutet habe, er möge sich im Monat März am Tage, welchen die Römer die Iden nennen, vor einer großen Gefahr in acht nehmen. Der Tag kam heran, und Caesar grüßte auf dem Weg zum Senat den Seher mit den spöttischen Worten: »Die Iden des März sind da.« Jener erwiderte leise: »Ja, sie sind da, aber noch nicht vorüber.« Den Tag zuvor speiste Caesar bei Marcus Lepidus und unterschrieb bei Tisch wie gewöhnlich einige Briefe. Als sich aber das Gespräch der Frage zuwandte, welcher Tod der beste sei, rief er, ehe überhaupt jemand zum Antworten kam, mit lauter Stimme aus: »Der unerwartete!« Darnach legte er sich wie sonst an der Seite seiner Gattin zur Ruhe. Miteins sprangen alle Türen und Fenster des Schlafgemachs auf, und als er emporfuhr, erschrocken ob dem Geräusch und dem hell ins Zimmer fallenden Mondschein, nahm er wahr, wie Calpurnia in tiefem Schlaf unverständliche Worte und abgerissene Seufzer ausstieß. Ihr träumte, sie weine über ihren Gemahl, den sie ermordet in den Armen halte. Man erzählt diesen Traum auch in anderer Form. An Caesars Haus war, wie Livius berichtet, auf Senatsbeschluß ein Firstschmuck angebracht worden als Zierde und zum Zeichen der Würde. Ihn sah Calpurnia im Traum herabgerissen und brach darüber in Klagen und Tränen aus. Als es Tag geworden, flehte sie Caesar an, zu Hause zu bleiben, wenn es irgend anginge, und die Senatssitzung zu verschieben. Und 44

wenn er ihren Träumen keine Bedeutung zumesse, so solle er doch durch ein anderes Zeichen und durch Opfer sich Rat holen über die Zukunft. Plutarch: Römische Heldenleben Gajus Julius Caesar, CXAIA (um 100)

Caesars Tagebuchbrief an Lucius Mamilius Turrinus aufder Insel Capri (In der Nacht vom 27. zum 28. Oktober)

1013. [Über den Tod Catulis.] Ich wache am Bett eines sterbenden Freundes, des Dichters Catullus. Von Zeit zu Zeit schläft er ein. Dann ziehe ich meinen Schreibstift hervor, vielleicht, um wie gewöhnlich Nachdenken zu vermeiden. Er öfTnete nur ein wenig die Augen, sagte die Namen von sechsen der Pleiaden her und fragte mich dann nach dem der siebenten. Nun schläft er wieder. Abermals ist eine Stunde vergangen. Wir sprachen miteinander. Sterbebetten sind mir nichts Fremdes. Mit den Schmerzen Leidenden spricht man über sie selbst; denen, die klaren Geistes sind, preist man die Welt, die sie verlassen. Es liegt keine Würde darin, eine verachtenswerte Welt zu verlassen, und Sterbende sind oft von der Furcht gequält, daß das Leben am Ende nicht die Anstrengungen wert war, die es sie gekostet hat. Mir fehlt es nie an Dingen, die ich preisen kann. In der eben vergangenen Stunde habe ich eine alte Schuld abgetragen. Vielmals während der zehn Jahre meiner Feldzüge wurde ich von einem immer wiederkehrenden Wachtraum heimgesucht. Ich ging nachts vor meinem Zelt hin und her und improvisierte eine Rede. Ich stellte mir vor, ich hätte ein Schar ausgewählter Männer und Frauen um mich, besonders junger, 45

denen ich zu sagen wünschte, was alles ich - als Knabe und Mann, Soldat und Staatslenker, als Liebhaber, Vater und Sohn, als Leiden und Freuden Erlebender - Sophokles schulde. Einmal, bevor ich sterbe, wollte ich mein von Dank und Lob übervolles Herz ausschütten - das allsogleich wieder geiiillte. Ja! Sophokles war ein Mann, und seines war Manneswerk. Eine alte Frage ist beantwortet. Nicht etwa, daß die Götter sich weigerten, ihm zu helfen, obgleich es gewiß ist, daß sie ihm keine Hilfe leisteten. Das ist nicht ihre Art. Hielten sie sich nicht verborgen, er hätte nicht so ausgespäht, um sie zu finden. Auch ich bin durch die höchsten Alpen gewandert, wann ich nicht die Hand vor den Augen sehn konnte, aber nie mit seiner Gefaßtheit. Ihm genügte es, zu leben, als ob die Gipfel da wären. Und nun ist auch Catullus tot. Thornton Wilder, Die Iden des März (1945).

Der Inzest Cäsar berichtet, er habe vor dem Überschreiten des Rubikon und seinem Marsch auf Rom geträumt, er habe mit seiner Mutter geschlafen. Bekanntlich gelang es den gewalttätigen Senatoren, die Cäsar mit Dolchstichen ermordeten, nicht, das zu verhindern, was von den Göttern beschlossen war. Denn die Stadt ward schwanger von dem Gebieter (»Sohn des Romulus und Abkömmling der Aphrodite«), und der wundersame Sproß war bald darauf das Römische Reich. Rodericus Bartius, Los que son mimerosy los que no 10 son (1964)

Scipios Traum Unter Ciceros Schriften sticht als einzige durch ihre religiöse, besser gesagt, durch ihr religionsphilosophische Tragweite der sogenannte Somnium Sdpionis aus dem Buch VI des Traktates De 46

republica hervor. Es handelt sich um die - dem Scipio Emilianus in den Mund gelegte ‫ ־‬Erzählung eines Traums, in dem dem Scipio sein Vater, Scipio Africanus, erscheint. Der Vater zeigt dem Sohn von einer Höhe herab Karthago und sagt den Sieg des Sohnes über die Stadt innerhalb von zwei Jahren (und den späteren Sieg über Numantia) voraus. Er fügt hinzu, der Sohn werde im Triumphzug zum Kapitol zurückkehren und eine Stadt in völligem Aufruhr vorfinden. Es wird daher notwendig sein, das Licht der Seele, der Intelligenz und der Klugheit mitzubringen. Um ihn dazu zu ermutigen, zeigt der Africanus dem Scipio Emilianus das Schicksal der Seelen, die ihrem Vaterland gut gedient sowie Frömmigkeit und Gerechtigkeit geübt haben. Diese Seelen bewohnen unter dem Vorsitz des pnnceps deus oder Herrschergott die Milchstraße. In einem großartigen und wunderbaren Weltall, aufgeteilt in neun Sphären, die mit ihren Bewegungen eine göttliche Harmonie erzeugen, in der himmlischen Sphäre - der äußersten, die alle übrigen umschließt und wo die Sterne stehen - wohnt der Herrschergott. Unter dieser Sphäre sind sieben andere, die sich in der dem Himmel entgegengesetzten Richtung bewegen. Im unteren Kreis dreht sich der Mond; unter ihm ist die sublunare Welt, in der nichts existiert, das nicht sterblich und hinfällig wäre mit Ausnahme der Seelen der Menschen. Diese wohnen in der letzten und neunten Sphäre, der Erde, die sich nicht bewegt und konzentrisch zu den anderen ist. Um nun Frömmigkeit und Gerechtigkeit zu erreichen, muß man den Blick zum Hohen richten, zu den supralunaren Sphären, wo es nichts Hinfalliges und nichts Sterbliches gibt. Die Seele ist durch ihren höheren Teil an diese Sphären gebunden und vermag tatsächlieh zu ihnen als zu ihrem wahrhaften Vaterland nur zurückzukehren, wenn sie die Hinfälligkeit des Besitzes und des falschen irdischen Ruhms vergißt, das heißt, wenn sie sich bewußt wird, daß in einen sterblichen Körper eingeschlossen zu sein nicht bedeutet, daß sie selbst sterblich ist. Die unsterbliche Seele bewegt den sterblichen Körper wie Gott eine Welt, die in

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mancher Hinsicht für den Tod bestimmt ist. Es gilt daher, die Seele in den edelsten Beschäftigungen zu üben, und die edelsten von allen sind die, welche auf die Rettung des Vaterlandes hinlenken. Die Seelen, welche diese hehre Sendung erfüllen, werden mit dem Aufstieg in die himmlischen Sphären belohnt, während die, welche sich den Freuden der Sinne ergeben, dicht am Erdboden bleiben, und erst nach peinigenden Jahrhunderten aufsteigen werden. Über den Ursprung dieser Ideen ist viel gestritten worden. Einige Autoren wiesen auf die Herkunft aus Posidonios; andere leugnen eine derartige Vaterschaft. Ciceros Bild (vielleicht mit der einzigen Ausnahme des Bürgermotivs im Dienste der Stadt) entspricht vielen der Ideen, die sich zu seiner Zeit Bahn brachen und die einerseits Berührungspunkte mit den Astralreligionen hatten, andrerseits mit der Tendenz, die platonischen Konzeptionen der Unsterblichkeit und Einfachheit der Seele zu erarbeiten, zum dritten endlich mit einer Schau des Kosmos als einer großen Harmonie wie ein Tempel, in dem die tugendsamen Seelen wie Bürger wohnen. Ähnliche Ideen übten beträchtlichen Einfluß auf spätere Autoren aus, unter ihnen stach Macrobius hervor. Zu beachten ist, daß eines der Themen vom Traum die Konzeption von der Bedeutungslosigkeit des individuellen Lebens in dieser Welt ist, verglichen mit der Unermeßlichkeit des Kosmos. Das Thema wird auch im Buch VI der Aneis (OfTenbarung des Äneas zu Anchises) sowie in etlichen stoischen Schriften entwickelt (zum Beispiel in Seneca, Ad Marciam de consolatione, XXI, 1). Jose Ferrater Mora, Diccionario defilosifia (Ausgabe von 1958)

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Woher die Träume kommen und wie sie entstehen Sobald dagegen das .. . Feuer des Tages in Nacht dahingegangen, so wird und bleibt der Sehstrahl vom Auge abgeschnitten; denn da er nunmehr zu Unähnlichem heraustritt, so verändert er auch sich selber und erlischt, indem er nicht mehr mit der umgebenden Luft eine Verbindung eingeht, weil diese kein Feuer hat. Er hört daher auf, eine Gesichtswahmehmung hervorzubringen, und fuhrt überdies den Schlaf herbei. Indem nämlich nun das, was die Götter zum Schutze des Gesichts ins Leben gerufen haben, das Gebilde der Augenlider, indem (sage ich) diese sich schließen, so halten sie die Gewalt des Feuers inwendig zurück, und dieses zerstreut und beschwichtigt sodann die Bewegungen im Inneren, so daß infolgedessen Ruhe eintritt. Ist nun diese Ruhe in einem hohen Grade vorhanden, so entsteht ein nur wenig von Träumen getrübter Schlaf; sind aber einige stärkere Bewegungen zurückgeblieben, so bewirken diese, daß Traumerscheinungen, welche der eigenen Natur dieser Bewegungen sowie der der Orte, an denen sie zurückgeblieben sind, an Art und Zahl entsprechen, sich im Inneren bilden und sodann nach dem Erwachen der Erinnerung auch äußerlich entgegentreten. Platon, Timaios, XLV

Caesars Tagebuchbrief an Lucius Mamilius Turrinus auf der Insel Capri (Die folgenden Eintragungen scheinen während des Januars und Februars geschrieben zu sein.) 1020. Du fragtest mich einmal lachend, ob ich jemals den Traum von der großen Leere hatte. Ich bejahte Dir das, und ich habe ihn seitdem wieder geträumt. 49

Er wird vielleicht durch eine zufällige Lage des schlafenden Körpers hervorgerufen, oder auch durch irgendeine Verdauungsbeschwerde oder andere Störung in uns. Aber das Grauen im Geist ist darum nicht weniger wirklich. Dieser Traum ist nicht, wie ich einst dachte, ein Bild des Todes und das Grinsen des Totenschädels. Er ist ein Zustand, worin man das Ende aller Dinge erahnt. Dieses Nichts stellt sich uns jedoch nicht als eine Leere und Stille dar, sondern als das entlarvte völlig Böse. Es ist Hohn und Drohung zugleich. Es verwandelt alle Wonnen ins Lächerliche und versehrt und verdorrt alles Streben. Dieser Traum ist das Gegenstück zu jener andern Vision, die mir im Krampf meiner Krankheit kommt . * Da scheine ich die schöne Harmonie der Welt zu erfassen. Ich bin von unaussprechlichem Glück und Zuversicht erfüllt. Ich möchte allen Lebenden und Toten zurufen, daß es keinen Teil des Weltalles gibt, der unberührt bleibt von dieser Seligkeit. [Die Eintragung ist aufgriechisch fortgesetzt.] Beide Zustände entstehn aus Dünsten im Körper, doch von beiden sagt der Geist: Hinfort kenne ich dies. Sie können nicht leichthin als Einbildungen abgetan werden. Jedem der beiden bringt unser Gedächtnis gar viele freudige und gar viele schmerzliche Bestätigungen. Wir können den einen nicht leugnen, ohne den andern zu verleugnen. Auch möchte ich nicht wie ein dörfischer Friedensstifter die Zwistigkeiten zweier Bauern ausgleicht - einem jeden ein verkürztes Maß von Recht zuerkennen. Thornton Wilder, Die Iden des März (1945)

Der schlecht gedeutete Traum Huayna Cäpac fühlte, daß er Angst vor der Pest habe. Er schloß sich ein und hatte in seinem Eingeschlossensein einen Traum, in dem drei Zwerge zu ihm kamen und sagten: »Inka, wir sind * Epilepsie



gekommen, um dich zu holen.« Die Pest griff nach Huayana Cäpac, und er hieß das Orakel von Pachacämac den Fall deuten und sagen, was getan werden solle, damit er die Gesundheit wiedererlange. Das Orakel erklärte, man solle ihn in die Sonne stellen, so werde er gesund werden. Der Inka trat in die Sonne hinaus und starb auf der Stelle. Bernabe Cobo, Historia del Nuevo Mundo

Häusliche Träume Ambrosius Theodosius Macrobius, lateinischer Schriftsteller des 5. Jahrhunderts, Verfasser der Saturnalia, schrieb einen weitverbreiteten Kommentar zu Scipios Traum, Kapitel VI von Ciceros Republica, in dem das Regierungssystem empfohlen wird, das im Rom der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts vor Christi herrschte, und in dem eine Kosmogonie platonischen und pythagoreischen Ursprungs beschrieben wird. Macrobius weist auf die gewöhnlichen oder häuslichen Träume, Echo des Alltags hin - Liebe, Essen, Freunde, Feinde, Kleidung, Geld -, die zu deuten die Mühe nicht lohnt: sie ermangeln des göttlichen Hauchs, der die großen Träume beseelt. Im 13. Jahrhundert nahm Albert von Bollstädt (um 1193-1280), bekannter als Albertus Magnus, die scholastische Versöhnung zwischen der griechischen Philosophie und der christlichen Lehre in Angriff und hatte in Paris Thomas von Aquino als Schüler. In seinem Traktat Von der Seele stimmt er mit Macrobius über die Eitelkeit der kleineren Träume überein sowie über die Erhabenheit der von einem göttlichen Hauch beseelten. Albertus war ein großer Reisender, er interessierte sich für die Eigenschaften der Minerale, der Elemente, der Tiere und der Meteore und vermochte sich durch seinen Traktat von der Alchimie mit einem Geruch von Magie zu umgeben. Nichtsdestominder wurde er Bischof von Regensburg, eine Würdenstellung, auf die er verzichtete, um seine Reisen von neuem aufnehmen zu können. Er sollte den

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Traum eines jeden Meisters nicht erfüllt sehen: in seiner Lebenszeit (wenn schon nicht im Wissen) von seinem besten Schüler übertroffen zu werden. Und bei Aquinos Tod (1274) kehrte er nach Paris zurück, um dessen Lehre zu rühmen. Rodericus Bartius, Los que son numerosy los que no 10 son (1964)

Der Beweis Wenn ein Mensch im Traum das Paradies durchwanderte, und man gäbe ihm zum Beweis, daß er darin gewesen ist, eine Blume mit und er sähe beim Aufwachen dieses Blume in seiner Hand - was wäre daraus zu schließen? S. T. Coleridge

Ein gewöhnlicher Traum Der Nil umschattet die schönen Dunkelhaarigen gekleidet in Wasser den Aufputz verschmähend

Entschwunden Guiseppe Ungaretti, L’allegria (1919)

Von der Natur der Träume Hat nun die Glieder der Schlaf mit süßem Schlummer gebunden, So, daß der ganze Leib in die tiefste Ruhe versenkt liegt, Scheinet uns doch, als wachten, als regten sich annoch die Glieder. Ja, wir glauben zu sehn, in dem blinden Dunkel der Nacht selbst, 52

Hoch am Himmel die Sonn’ und das Licht des glänzenden Tages; Glauben, am eingeschlossenen Ort, Meer, Himmel und Berg’ und Flüsse zurückzulassen, zu wandern durch weite Gefilde: Glauben noch Töne zu hören, bei ringsum schweigendem Ernste Einsamer Nacht, und glauben auch selbst noch Reden zu fiihren. Übrigens sehen wir noch der Wundererscheinungen viele, Welche den Glauben in uns an die Sinne versuchen zu schwächen. Aber umsonst; denn es ist in den meisten Fällen der Irrtum Unsres eigenen Gemüts, den selbst zu der Sache wir bringen, Und der sehen uns macht, was nicht uns zeigen die Sinne. Nichts ist schwieriger wohl, als vor Augen liegende Dinge Abzusondern vom Zweifel, den selbst das Gemüt sich hinzutut.

Auf denn, und was das Gemüt uns erregt, wie die äußeren Dinge Kommen zum inneren Geist, das fasse mit wenigem jetzo. Also sag’ ich zuerst, daß der Dinge Bilder in Haufen * Schwärmen nach mancherlei Art, und nach allen Seiten getrieben; Zarte, die leicht in der Luft zusammenfugen sich können, Wann sie einander begegnen - wie etwa die Blättchen des Goldes, * Lukrez vergleicht die Bilder, die sich von den Körpern lösen, mit dem Rauch, der vom Brennholz aufsteigt, mit den Dämpfen, welche die Feuer entlassen, mit den Larven, welche die Zikaden im Sommer verlassen und so weiter, und auch mit dem Licht, das, sich verfärbend, durch die Vorhänge dringt, mit dem Geruch und mit den Bildern, die wir in den Spiegeln sehen. Andere bilden sich im Luftraum. Diese Bilder bewegen sich mit größter Geschwindigkeit und durcheilen unglaubliche Räume in einem Augenblick. (Anmerkung von Aldo Mieli.)

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Oder wie Spinnengeweb’ indem weit feiner und dünner Jene als diese sind, die das Aug’ erfasset im Sehen. Denn sie dringen hindurch durch die kleinsten Poren des Körpers, Wecken den zarten inneren Geist und reizen den Sinn uns. Ja, und so sehen wir auch Centauren und Glieder der Scyllen, Schlünde des Höllenhunds und Gestalten derjenigen Mensehen, Deren kaltes Gebein schon längst umfasset die Erde. Denn es fliegen umher Gebilde von allerlei Arten, Welche zum Teil in der Luft sich von freien Stücken erzeugen, Teils entweichen und lliehn von dem mannigfaltigen Körpern, Auch zusammengesetzt aus derselben Figuren sich bilden. Denn in der Tat kommt nicht aus dem Leben das Bild des Centauren, Da kein solches Geschöpfjemals in der Dinge Natur war; Sondern wann ungefähr das Bild des Menschen und Rosses TrefTen zusammen, so hängen sie leicht, wie gesagt, aneinander, Ihrer zarten Natur gemäß und dem feinen Gewebe, Mehrere Bilder der Art entstehen auf nämliche Weise; Welche, weil sie so leicht hinschlüpfen mit schneller Bewegung, Wie ich es oben gesagt, auch leicht, mit einzelnem Anstoß, Einzeln auch jedes derselben uns kann erregen die Seele; Denn sie selber ist zart und über die Maßen beweglich. Daß es so sei, wie ich sage, bewährt sich aus folgenden Gründen: Weil das, was mit dem Geiste wir sehn, so ähnlich ist jenem, Das mit dem Auge wir sehn, so muß es auch ähnlich entstehen. Nun, indem ich gelehrt, daß, etwa durch Bilder der Löwen, Ich dasjenige sehe, wodurch das Auge gereizt wird, Läßt sich begreifen, daß ähnlicher Art erreget der Geist auch Werde durch Bilder der Löwen; und so von dem übrigen allen, Welches er ebenso sieht und auf keinerlei Weise geringer, Als die Augen es sehn, obgleich nur feiner und zarter. Nicht aus anderem Grund auch wachet die regere Seele,

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Wann sich der Leib in Schlummer ergießt, als weil uns dieselben Bilder noch reizen im Schlaf, die wachend zuvor uns gereizet: Daß wir nun wahrhaft glauben, denselben vor uns zu sehen, Dessen sich lange zuvor der Tod und die Erde bemächtigt. Dieses geschieht natürlich daher, weil alle Gefühle Ruhn in den Gliedern, gehemmt durch den Schlaf, und weil sie den Irrtum Nicht durch die Gegenwart des Wirklichen können bestreiten. Auch die Erinnerung liegt zu matt und entkräftet im Schlummer, Auszureden der Seele den Trug, als sähe sie lebend Jenen, der lange zuvor in den Tod und hinab in das Grab ging. Wundre dich übrigens nicht, daß Bilder sich scheinen zu regen, Scheinen nach Ordnung und Maß die Glieder und Arme zu werfen, Wie es zuweilen im Traum uns dünkt, daß solches geschehe. Nämlich, das eine verschwindet, dann kommt stattdessen ein ' andres, Anders gestehet; und nun scheint jenes Gebärde zu ändern: Denn es versteht sich, daß dies im schnellsten Momente geschehe. Solche Beweglichkeit ist’s, so groß ist die Fülle der Bilder, Die von den Dingen herbei in jedem nur merklichen Zeitpunkt Strömen, daß nie es hieran gebrechen, noch Mangel entstehn kann. Vieles wäre hierin noch weiter zu forschen, und vieles Noch zu erörtern, wenn alles genau dir entwickeln ich wollte. Eine Frage vor allem: wie kömmt’s, daß unsere Seele Augenblicklich sich denkt, was sie irgend zu denken sich vornimmt? Lauem die Bilder vielleicht auf unseren Willen und stellen Augenblicklich sich dar, sobald wir nur solches verlangen? Erd’ und Himmel und Meer, der Menschen Versammlungen, Festzüg’ 55

Und Gastmähler und Schlachten; sobald es uns immer in Sinn kommt, Schafft die Natur sie auf unseren Wink und stellt sie bereit dar? Ja, sogar an dem Ort, sogar an der nämlichen Gegend, Wo sich andre vielleicht ganz etwas Verschiedenes denken? Sehen wir, ferner, im Schlaf nach Takt die Bilder einhergehn, Biegsam regen die Glieder, gefällig die Arme verschränken, Mit den Augen zugleich die Beugung des Fußes begleiten: Strotzen dann etwa die Bilder von Kunst und schwärmen, belehrt schon, Nächtlicher Zeit herum, wie sie treiben können ihr Scherzspiel? Oder ist’s wahrer vielleicht, daß, da wir im nämlichen Zeitpunkt Dieses zusammen empfinden, daß auch wie im einzelnen Wortlaut Mehrere Zeiten im Punkte versteckt sind, die der Verstand forscht? Daher kömmt’s, daß bereit und gegenwärtig die Bilder Jeglicher Art zu jeglicher Zeit und an jeglichem Ort sind: Solche Reglichkeit ist’s, so groß ist die Menge derselben. Kaum verschwindet das eine, so kömmt stattdessen ein andres, Anders gestellt, und es scheint die Gebärde jenes zu ändern. Da sie nun, ferner, so zart, so kann auch von ihnen die Seele Die nur genauer bemerken, auf welche sie schärfer sich anstrengt. Alle die übrigen gehen vorbei, sind gänzlich verloren, Die sie nicht selbst bereitet aus sich: sie tut es, bereitet Selbst sich die Bilder und hofft, sie werd’ in der Folge das sehen, Jegliches Ding, das zu sehn sie verlangt, und sieht es auch wirklich. Müssen die Augen sich nicht, um feinere Dinge zu sehen, Schon anstrengen und schärfen? und ohne dergleichen Bemühen Wird nichts deutlich bemerkt. Ja, leicht erkennbare Dinge Sind abwesend für uns und entfernet, wofeme die Richtung 56

Unsres Gemütes fehlt. Was könntest du also dich wundern, Daß die Seele die Bilder verliert, auf die sie nicht acht hat? Endlich vermuten wir oft bei kleinen Erscheinungen Großes, Und wir begeben uns selbst ins Netz der trügenden Täuschung. Auch zuweilen geschieht’s, daß dem einen Bild sich ein andres Unterschiebet von anderer Art; daß unter den Händen Das, was ein Weib erst war, zum Mann uns plötzlich geworden; Daß aus dem einen ein andres Gesicht, aus dem Jüngling ein Greis wird: Schlaf und Vergessenheit läßt nicht wunder dergleichen uns nehmen. Lukrez: De rerum natura. IV, 453-468; 722-819

Vom Wesen des Traums Der Traum ist etwas Natürliches, das Gott im Menschen angelegt hat: er räumte ihm eine Zeit ein, während der er sich durch Schläfen von den Arbeiten erhole, die er im Wachzustand verrichtet. Im Schlaf, so behaupten die Verfasser naturkundlieher Werke mit Recht, verharren die Glieder in Ruhe und Bewegungslosigkeit, während der Lebensgeist die Sinne bewegt und mit ihnen ebenso verfährt wie der Körper im Zustand des Wachens. So träumt der Mensch viele Dinge: natürliche und erklärbare, aber auch andersartige, je nachdem, was er ißt und trinkt, was er im Wachzustand unternimmt und denkt oder wie seine vier Körpersäfte zu- oder abnehmen. Seine Fiktionen und Wahnvorstellungen gedeihen mitunter derart, daß er in seinen Träumen für wahr hält, was er im Wachzustand als unwahr erkennt. Deshalb gab man denen, die ihren Glauben auf einem so schwachen Grundstein wie dem Traum errichten, zu verstehen, daß ihr Glaube weder fest und stark noch von langer Dauer sein könne. Alfons der Weise, Setenario (Gesetz XVI)

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Der Alptraum Mir träumt von einem alten König. Eisen Ist die Krone. Alt der Blick und wund. Anditz wie seines geht nicht mehr auf Reisen. Der Degen hält zu ihm, treu wie sein Hund. Sein Land, ist es Northumbrien, Norwegen? Norden ist’s, gleichviel. Sein Bart fällt rot Auf seine Brust. Sein Aug blickt nicht verwegen Zu mir her. Sein Blick ist blind und tot. Aus welch erloschnem Spiegel, welchem Bug Der See, die Abenteuerlust besang, Mag er getaucht sein, grausam grauer Spuk, Der mir sein Einst und seinen Gram aufzwang? Ich weiß, daß er mich richtet und mich träumt. Kaum tagt’s, tritt er in meine Nacht. Und säumt. Jorge Luis Borges

Über die Träume . . . Cum prostrata sopore Urget membra quies, et mens sine pondere ludit. Petronius

Obwohl viele Autoren über Träume geschrieben haben, haben sie diese im allgemeinen nur als Offenbarungen von Ereignissen, die in fernen Teilen der Welt geschehen sind, oder von Begebenheiten, die sich in künftigen Zeitläuften ereignen werden, angesehen. Ich werde diesen Gegenstand in einem anderen Licht betrachten, da Träume uns eine Idee von der Erhabenheit einer menschlichen Seele zu geben vermögen, sowie einige Andeutungen über ihre Unabhängigkeit von der Materie. Zunächst einmal sind unsere Träume große Beispiele jener

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Tätigkeit, die der menschlichen Seele natürlich ist, und welche der Schlaf weder abzutöten noch zu mindern vermag. Wenn der Mensch nach des Tages Mühen müde und erschöpft wirkt, so ist dieser aktive Teil in seinem Gefüge noch beschäftigt und unverbraucht. Wenn die Sinnesorgane ihre gebührende Ruhe und notwendige Erholung wünschen und der Körper nicht mehr imstande ist, mit der geistigen Substanz, mit der er vereint ist, Schritt zu halten, übt sich die Seele in ihren verschiedenen Fähigkeiten und bleibt aktiv, bis ihr Partner wieder in der Lage ist, ihr Gesellschaft zu leisten. In diesem Fall sehen Träume wie Erholungsspiele und Zerstreuungen der Seele aus, wenn sie von ihrer Maschine, ihren Übungen und Unterhaltungen befreit ist, wenn sie ihre Last zur Ruhe gelegt hat. Zum zweiten sind Träume ein Beispiel von jener Agilität und Vollkommenheit, die den Fähigkeiten des Geistes natürlich ist, wenn sie vom Körper gelöst sind. Die Seele ist in ihren Wirksamkeiten gehemmt und gehindert, wenn sie in Verbindung mit einem Gefährten handelt, der so schwer und unbeholfen in seinen Bewegungen ist. Aber in Träumen ist wunderbar zu beobachten, mit welcher Lebhaftigkeit und Munterkeit sie sich übt. Der zögernde Redner hält unvorbereitete Ansprachen oder unterhält sich fließend in Sprachen, mit denen er kaum vertraut ist. Der Ernste ergeht sich in Scherzhaftigkeiten, der Langweilige in Entgegnungen und witzigen Pointen. Es gibt keine mühsamere Handlung des Geistes als die Erfindung; in Träumen hingegen arbeitet er mit der Leichtigkeit und dem Tatendrang, die wir nicht bemerken, wenn diese Fähigkeit gebraucht wird. Ich glaube zum Beispiel, jedermann träumt hin und wieder, daß er Dokumente, Bücher oder Briefe liest, in welchem Fall die Erfindungsgabe so bereitwillig zur Stelle ist, daß der Geist, überwältigt, seine eigenen Eingebungen für die Kompositionen eines anderen hält. Ich werde in dieser Hinsicht eine Stelle aus der Religio medici * * Religio medici: Die Religion eines Arztes (1643) von Thomas Browne (1605-1682); ein Jahr zuvor war ein mit Irrtümern gespickter Raubdruck erschienen. Es

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zitieren, in welcher der erfinderische Verfasser einen Bericht über seine eigenen Gedanken im Träumen und Wachen liefert. »Wir sind im Schlaf gewissermaßen mehr als wir selbst, und der Schlummer des Körpers scheint nur der Wachzustand der Seele zu sein. Es ist das Gebundensein der Sinne, aber die Freiheit der Vernunft; und unsere wachen Vorstellungen entsprechen nicht den Phantasien unseres Schlafs ... Und doch vermag ich in einem einzigen Traum eine ganze Komödie zu komponieren, die Handlung vor mir zu sehen, die Späße zu verstehen und mich über deren Einfälle wach zu lachen. Wäre mein Gedächtnis so zuverlässig wie mein Verstand dann fruchtbar ist, würde ich immer nur in meinen Träumen studieren; und diese Zeit würde ich auch für meine Andachtsübungen wählen: aber unsere gröberen Erinnerungen haben so geringe Macht über unsere abstrakten Einsichten, daß sie die Geschichte vergessen und unseren erwachten Seelen nur einen wirren, bruchstückhaften Bericht von dem Geschehen liefern können. - So ist beobachtet worden, daß Menschen bisweilen in ihrer Todesstunde über sich selbst hinaus sprechen und räsonieren; denn dann beginnt die Seele, im BegrifT, von den Bindungen des Körpers befreit zu werden, selbst zu räsonieren und in einem Gedankenfluß jenseits der Sterblichkeit zu reden.« Wir können außerdem, drittens beobachten, daß die Leidenschäften den Geist mit größerer Stärke befallen, wenn wir schlafen, als wenn wir wachen. Freude und Kummer verleihen uns jetzt stärkere Empfindungen von Schmerz und Freude als zu jeder anderen Zeit. Auch die Frömmigkeit, wie der oben erwähnte vortreffliche Verfasser angedeutet hat, ist auf besondere Weise gesteigert und entflammt, wenn sie sich in der Seele handelt sich um eine Reihe persönlicher Anmerkungen von großer geistiger und religiöser Einsicht, und einer Vielfalt von Themen, geschrieben im Jahre 1 θ35· Vor der Drucklegung zirkulierte sie in Abschriften. Sie war ein Erfolg auf Englisch, Lateinisch, Französisch, Flämisch und Deutsch und erfreute sich der Wertschätzung des Doktor Johnson, und nach ihm von Lamb, Coleridge, Carlyle, Browning und anderen.

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zu einer Zeit erhebt, da der Körper sich zur Ruhe gelegt hat. Jeden wird seine Erfahrung darin unterrichten können, wenn dies auch wahrscheinlich in verschiedenen Konstitutionen auf verschiedene Weise geschehen mag. Was ich hier bemerken möchte, ist die wunderbare Kraft in der Seele, bei diesen Gelegenheiten ihre eigene Gesellschaft herzustellen. Sie unterhält sich mit zahllosen Wesen ihrer eigenen Schöpfung und läßt sich in zehntausende von Szenen ihrer eigenen Regie transportieren. Sie ist selbst Bühne, Schauspieler, Zuschauer. Das erinnert mich an einen Ausspruch, der mir unendlich gut gefällt und den Plutarch Heraklit zuschreibt: »Daß alle Menschen, solange sie wachen, in einer gemeinsamen Welt leben; daß aber jeder von ihnen, wenn er schläft, in einer ihm eigenen Welt lebt. . .« Ich darf das aus Tertullians Werk zitierte Argument fiir die Vortrefllichkeit der Seele, nämlich ihr Vermögen, in Träumen zu weissagen, nicht auslassen. Daß mehrere derartige Weissagungen gemacht worden sind, kann niemand in Frage stellen, der den heiligen Schriften glaubt oder der den geringsten Grad eines gemeinsamen historischen Glaubens besitzt, da es zahllose Beispiele dieser Natur in mehreren alten und neuen, heiligen und weltlichen Verfassern gibt. Ob solch dunkle Voraussagen, solche Nachtgesichte, von einer verborgenen Kraft der Seele während diesem ihrem Zustand der Abgezogenheit herrührt oder von einer Kommunikation mit dem Höchsten Wesen, oder von einem Wirken untergeordneter Geister, hat unter den Gelehrten einen großen Streit ausgelöst; die Tatsache ist meiner Meinung nach unbestreitbar, sie ist auch von den größten Schriftstellern, die des Aberglaubens oder der leichtfertigen Begeisterung nie verdächtigt worden sind, so gesehen worden. Ich vermute nicht, daß die Seele in diesen Augenblicken vom Körper völlig losgelöst und unbehindert ist: es genügt, wenn sie in der Materie nicht so tief versunken und eingetaucht, wenn sie in ihrem Wirken nicht mit solchen Bewegungen aus Blut und Geisteskräften verflochten und verwickelt ist als wenn sie die 61

Maschine in ihren wachen Stunden betätigt. Die körperliche Vereinigung ist genügend gelockert, um dem Geist mehr Spielraum zu geben. Die Seele scheint in sich selbst versammelt zu sein und gewinnt die Feder wieder, die gesprungen und geschwächt ist, wenn sie mehr in Übereinstimmung mit dem Körper operiert. Joseph Addison, The Sputator, No 487, London, den 18. September 1712

Die hochberühmte Gabe Von der Erinnerung insgesamt gilt nur die hochberühmte Gabe Träume wachzurufen. Antonio Machado

Caedmon Caedmon verdankt seinen Ruhm, der dauerhaft sein wird, Gründen, die nichts mit ästhetischem Genuß zu tun haben. Das Heldengedicht von Beowulf ist anonym; Caedmon dagegen ist der erste angelsächsische Dichter, folglich englisch, dessen Namen sich erhalten hat. Im Exodus und in der Apostelgeschichte ist die Nomenklatur christlich, doch das Geiuhl ist heidnisch; Caedmon ist der erste sächsische Dichter aus christlichem Geist. Zu diesen Gründen ist hinzuzuiiigen die seltsame Geschichte Caedmons, wie Beda, genannt Venerabilis, sie im vierten Buch seiner Kirchengeschichte überliefert: »Im Kloster dieser Äbtissin (die Äbtissin Hild von Streoneshealh) gab es einen Bruder, ausgezeichnet von der göttlichen Gnade, weil er Lieder zu komponieren pflegte, die den Mensehen zur Frömmigkeit und zur Religion stimmten. Alles, was er von Menschen, die in den heiligen Schriften bewandert 62

waren, lernte, verwandelte er in eine von tiefster Inbrunst und Süße geprägte poetische Sprache. In England haben ihn viele in der Komposition religiöser Gesänge nachgeahmt. Die AusÜbung des Gesangs war ihm nicht von Menschen oder menschliehen Mitteln gelehrt worden; er hatte göttlichen Beistand empfangen und seine Sangesgabe rührte unmittelbar von Gott her. Daher komponierte er nie trügerische oder müßige Lieder. Dieser Mann hatte bis zur Erreichung eines fortgeschrittenen Alters gelebt, und nichts hatte er von Versen gewußt. Er pflegte an Festen teilzunehmen, wo es, um Fröhlichkeit zu erzeugen, Brauch war, daß alle abwechslungsweise zu Harfenbegleitung sangen, und sobald die Harfe auf ihn zukam, stand Caedmon verschämt auf und machte sich auf den Heimweg. Bei einer dieser Gelegenheiten verließ er das festliche Haus und ging in die Stallungen, weil man ihm für diese Nacht die Betreuung der Pferde aufgetragen hatte. Er schlief ein, und im Traum sah er einen Mann, der ihm befahl: »Caedmon, sing mir was vor.« Caedmon erwiderte und sagte: »Ich kann nicht singen und deshalb habe ich das Fest verlassen und habe mich hier schlafen gelegt.« Der zu ihm gesprochen hatte, sagte: »Du wirst singen.« Darauf sagte Caedmon: »Was kann ich singen?« Die Antwort lautete: »Sing mir den Ursprung aller Dinge.« Und Caedmon sang Verse und Worte, die er nie gehört hatte, in folgender Ordnung: »Rühmen wir jetzt den Wächter des himmlischen Reichs, die Macht des Schöpfers und den Ratschluß seines Geistes, die Werke des Vaters in seiner Glorie, so wie Er, ewiger Gott, jedes Wunder hat entstehen lassen. Zuerst hat er den Himmel gemacht als Dach für die Söhne der Erde; dann hat er, allmächtig, die Erde gemacht, um den Menschen einen Boden unter die Füße zu geben.« Beim Erwachen bewahrte er in seiner Erinnerung alles, was er in seinem Traum gesungen hatte. Zu diesen Worten lugte er viele andere im gleichen Stil, Gottes würdige, hinzu.« Beda berichtet, die Äbtissin habe verfugt, die Ordensbrüder sollten Caedmons neue Fähigkeit prüfen, und als nachgewiesen

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war, daß seine poetische Gabe ihm von Gott verliehen worden war, drängte sie ihn, in die Klostergemeinschaft einzutreten. »Er besang die Erschaffung der Welt, den Ursprung des Mensehen, die gesamte Geschichte des Volkes Israel, den Auszug aus Ägypten und den Einzug ins Gelobte Land, Mensch werdüng, Leidensgeschichte und Auferstehung Christi, seine Hirnmelfahrt, die Ausgießung des Heiligen Geistes und die Lehrtätigkeit der Apostel. Er besang gleichfalls den Schrecken des Jüngsten Gerichts, die Schrecken der Hölle und die Glückseligkeiten des Himmels.« Der Geschichtsschreiber iiigt hinzu, Caedmon habe Jahre später die Stunde seines Ablebens prophezeit und sie schlafend erwartet. Gott, oder ein Engel Gottes, hatte ihn singen gelehrt; hofTen wir, daß er seinen Engel wiedergetrofTen hat. Jorge Luis Borges

Es ist ratsam, zu unterscheiden Warum vergleichst du das innere Gebot mit einem Traum? Scheint es wie dieser sinnlos, ohne Zusammenhang, unvermeidlieh, einmalig, grundlos beglückend oder ängstigend, nicht zur Gänze mitteilbar und zur Mitteilung drängend? Franz Kafka, Das vierte Oktavheft

Der letzte Besuch des Gentiluomo Malato Niemand kannte jemals den wahren Namen dessen, den alle den Gentiluomo Malato nannten. Nichts ist von ihm geblieben, nach seinem überraschenden Verschwinden, als die Erinnerung an sein Lächeln und ein Porträt von Sebastiano del Piombo, das ihn eingehüllt in einen Pelzmantel zeigt, mit einer behandschuhten Hand, die schlaff herabhängt wie die eines 64

Schlafenden. Wer ihn sehr liebte - und ich gehörte zu jenen wenigen - erinnert sich auch an seine Haut von einem bleichen, durchsichtigen Gelb und an die fast weibliche Leichtigkeit seines Ganges und an die gewohnte Unstetigkeit seines Blickes. Er war wirklich einer, der Entsetzen verbreitete. Seine Gegenwart gab den einfachsten Dingen eine phantastische Färbung wenn seine Hand etwas berührte, schien es, als trete es damit in die Welt der Träume ein. Niemand fragte ihn jemals, worin sein Leiden bestand und warum er es nicht heilen ließ. Er befand sich immerzu in Bewegung, ohne zu ruhen, Tag und Nacht. Niemand wußte, wo er wohnte; Niemand kannte Eltern oder Verwandte von ihm. Er erschien eines Tages in der Stadt, und nach ein paar Jahren, eines anderen Tages, verschwand er wieder. Am Morgen in der ersten Dämmerung, als der Himmel gerade erst hell zu werden begann, kam er in mein Schlafzimmer, um mich zu wecken. Ich spürte die sanfte Berührung seines Handschuhs auf meiner Stirn und sah ihn vor mir stehen, eingehüllt in seinen Pelz, auf dem Mund wie immer die Spur eines Lächelns, die Augen noch unsteter als gewöhnlich. Ich sah, daß er die ganze Nacht durchwacht hatte, und er mußte die Dämmerung' heftig herbeigesehnt haben, denn seine Hände zitterten und sein ganzer Körper schien wie von Fieber geschüttelt. »Was habt Ihr«, fragte ich ihn, »quält Euch Euer Leiden heute noch mehr als sonst?« »So glaubt also auch Ihr, wie alle, ich hätte ein Leiden? Es gäbe ein Leiden, das mir gehört? Warum sagt Ihr nicht, ich sei ein Leiden? Es gibt nichts, was mein ist, versteht Ihr? Es gibt nichts, was mir gehört! Sondern ich bin im Besitz eines anderen, und es gibt jemanden, dem ich gehöre!« Ich war seine seltsamen Reden gewohnt und antwortete ihm daher nicht. Er trat noch näher an mein Bett heran und berührte noch einmal meine Stirn mit seinem weichen Handschuh.

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»Ihr habt keine Spur von Fieber«, fuhr er fort, »Ihr seid vollkommen gesund und ruhig. Also kann ich Euch sagen, wer ich bin, vielleicht werde ich es nicht zweimal sagen können«. Er warf sich in einen violett bezogenen Sessel neben meinem Bett und erklärte mit fester Stimme: »Ich bin kein realer Mensch, keiner aus Fleisch und Bein, keiner, der von Menschen gezeugt worden ist. Ich bin nichts anderes als die Gestalt eines Traumes. Ein Bild von William Shakespeare ist für mich wörtlich und tragisch Realität geworden: Ich bin vom selben Stoff, aus dem Eure Träume sind! Ich existiere nur, weil es einen gibt, der mich träumt; es gibt einen, der schläft und träumt und mich handeln und leben und herumgehen sieht und der in diesem Augenblick träumt, daß ich dies alles sage. Als dieser eine mich zu träumen begann, begann ich zu existieren. Ich bin ein Gast seiner langen nächtlichen Phantasien. Der Traum dieses einen ist so handfest und intensiv, daß ich sichtbar geworden bin auch für die Menschen, die wach sind. Aber die Welt der Wachen ist nicht die meine. Mein wahres Leben ist jenes, das langsam abläuft im Geist meines schlafenden Schöpfers. Glaubt nicht, daß ich in Rätseln und Symbolen spräche. Was ich Euch sage, ist die Wahrheit: Nicht daß ich Akteur eines Traumes bin, quält mich am meisten. Es gibt Dichter, die gesagt haben, das Leben der Menschen sei nur der Schatten eines Traumes, und es gibt Philosophen, die lehrten, alle Wirklichkeit sei nur Einbildung. Aber: Wer ist es, der mich träumt? Wer ist dieser eine, der mich da im Handumdrehen aus dem Dunkel seines müden Gehirns hat auftauchen lassen und der mich bei seinem Erwachen im Handumdrehen auslöschen wird? Wie oft habe ich an diesen meinen schlafenden Herrn gedacht, der mich träumt! . . . Die Frage quält mich seit langem, seit ich entdeckt habe, aus welchem StofTich gemacht bin. Ihr begreift wohl, wie wichtig dieses Problem für mich ist. Die Protagonisten der Träume genießen eine recht große Freiheit. Anfangs erschreckte mich der Gedanke, daß eine winzige Kleinigkeit genügen könnte, um ihn zu wecken, also mich zu vernichten.

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Ich lebte ein tugendhaftes Leben. Schließlich aber wurde ich müde und empfand Demütigung bei dem Gedanken, diesem unbekannten und unerkennbaren Herrn als Schauspiel dienen zu müssen. Von nun an sehnte ich heiß herbei, was mir zuvor Schrecken verursacht hatte, nämlich sein Erwachen. Vor keiner Scheußlichkeit schreckte ich zurück. Doch anscheinend macht dem, der mich träumt, keine Angst, was euch Menschen erzittern läßt. Oder er empfindet Genuß beim Anblick dessen, was euch Entsetzen verursacht, oder aber er kümmert sich nicht darum. In dieser monotonen Fiktion sage ich meinem Träumer, daß ich ein Traum bin; ich will, daß er zu träumen träumt. Das passiert ja auch manchmal den Menschen, nicht wahr? Und wenn sie dann merken, daß sie träumen, wachen sie auf. Wann werde ich ihn aus seinem Schlaf reißen?« Bei diesen Worten regte sich der Gentiluomo Malato in seinem Sessel und zog sich den Handschuh der linken Hand aus. Es schien, als erwartete er von einem Moment zum anderen etwas Fürchterliches. »Warum kann ich nicht verschwinden? Tröstet mich ein wenig, nennt mir etwas. Habt Ihr denn gar kein Mitleid mit diesem Schreckgespenst?« Aber ich schwieg weiter. Er gab mir die Hand. Er schien mir nun sehr viel größer zu sein als vorher, seine Haut war durchsichtig. Mit einem leisen Murmeln verließ er mein Zimmer, und seit dieser Stunde hat ihn nur noch einer sehen können. Giovanni Papini, II tragico quotidiano (1906)

Konfuzius träumt seinen Tod Zuletzt überfiel ihn Erschlaffung. Er war bereits dreiundsiebzig Jahre alt, es war Sommer (des Jahres 479 vor Christi), und er hatte sehr wohl die Bedeutung seines Traums begriffen. Er bat, man möge Tzu-kung, den letzten seiner großen Schüler, benachrichtigen. Tzu-kung kam eilends herbei und fand, daß K’ung-tzu, statt ihn zu empfangen, ihn verabschiedete:

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Der Meister sagte zu ihm: »Ich träumte, ich saß und empfing die Trankopfer. Ich befand mich zwischen den Säulen. Die der Dynastie Hsia, als herrschten sie noch in dem Palast, stellten ihre Toten auf der östlichen Treppe aus; die der Dynastie Chon stellten sie auf der westlichen Treppe aus, auf der, die sich den Gästen darbietet; die der Dynastie Yin stellten sie zwischen den Säulen aus: dort waren weder Herren noch Gäste. Da ich von den Herrschern Yin abstamme, werde ich zweifellos sterben. Es ist gut, daß es so ist, denn es ist kein intelligenter Fürst mehr übrig, der sich meiner bedienen könnte.« Wenige Tage später starb er im sechzehntenjahr von Aikung von Lu, dem einundvierzigsten von Ching-wang der Chon. Eustaquio Wilde, Un otono m Pekin (1902)

Die weiße Hirschkuh Die weiße Hirschkuh, die ich morgens träumte, Entsprang sie englischem Balladenhort, Den Bildern Persiens oder dunklem Ort Von Nacht und Tag, den unser Gestern säumte? Nur einen Lidschlag sah ich ihre Wiesenspur, Im trügerischen Abendgold verlorenes, Vergessenheits-, erinnerungsbeschworenes Geschöpf, Hirschkuh auf einer Seite nur. Die Numina, Herrscher des Weltenraums, Sie schenkten mir den Traum, nicht deinen Leib; Vielleicht im Künftigen, zum Zeitvertreib, Kehrst du mir wieder, Hirschkuh eines Traums. Ich bin auch Traum, der wachend überlebt Den Traum, von Wiese und vom Weiß durchschwebt. Jorge Luis Borges

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Das kommt vor Mein Sohn beweinte meinen Tod. Ich sah ihn über meinen Sarg gebeugt. Ich wollte zu ihm eilen, um ihm zu sagen, daß es nicht wahr sei, daß es sich um eine andere Person handle, vielleicht um eine mir zum Verwechseln ähnliche, aber ich konnte nicht wegen des Krokodils. Es war weiter vorne, in dem tiefen Graben, um mich zu verschlingen. Ich schrie aus Leibeskräften, und die Trauergäste, statt ihn aufzuklären, blickten mich vorwurfsvoll an, vielleicht weil ich das Raubtier aufhetzte und sie fürchteten, selber angegriffen zu werden. Clide war der einzige, der mich weder sah noch hörte. Als der Mann vom Bestattungsinstitut mit einer Kiste kam, schien er ein Geiger zu sein, doch dann holte er einen Schweißbrenner hervor. Wenn das der Fall ist, war alles verloren, dachte ich; sie würden mich lebendig begraben und ich würde nichts erklären können. Die Nachbarn wollten ihn fortschieben, weil das der schmerzlichste Augenblick war, aber er klammerte sich an den Sarg. Der Mann begann den Deckel auf der Seite der Füße zuzuschweißen, und schon konnte ich nicht mehr: Ich schloß die Augen und rannte zu dem Graben, ohne mich von meinem sicheren Tod beeindrucken zu lassen. Dann erinnere ich mich nur noch an einen Schlag unters Kinn. Etwas wie eine Schneide, die über die Haut schabt. Vielleicht das Reiben gegen einen Zahn. Als ich die Hitze des Schweißens spürte, erwachte ich und begrifT alles. Clide hatte recht: Ich war tot. Derselbe Raum, dieselben Leute. Mein armer Sohn war noch immer da. Der Schweißbrenner fauchte auf der Höhe meiner Wade. Der Beamte hob das freie Ende des Deckels, holt sein Taschentuch hervor und wischte das Blut von meiner Wunde. »Kommt vor«, sagte er. »Wegen des Schweißbrenners.« Jorge Alberto Ferrando, Palo a pique (1975)

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Reklamationen werden nicht angenommen Gott straft niemanden ohne ihn vorher gewarnt zu haben. Origenes

Traum von der Heimat Seit ich nämlich die Phantasie und ihr angewöhntes Gestaltungsvermögen nicht mehr am Tage beschäftigte, regten sich ihre Werkleute während des Schlafes mit selbständigem Gebaren und schufen mit anscheinender Vernunft und Folgerichtigkeit ein Traumgetümmel in den glühendsten Farben und buntesten Formen. Ganz wie es wiederum jener irrsinnige Meister und erfahrene Lehrer mir vorausgesagt, sah ich nun im Traume bald die Vaterstadt, bald das Dorf auf wunderbare Weise verklärt und verändert, ohne je hineingelangen zu können, oder wenn ich endlich dort war, mit einem plötzlichen freudelosen Erwachen. (. . .) Ermüdet eilte ich den Schlaf zu suchen und verfiel gleich wieder dem geschäftigen Traumleben. Ich näherte mich der Stadt, worin das Vaterhaus lag, auf merkwürdigen Wegen, am Rande breiter Ströme, auf denen jede Welle einen schwimmenden Rosenstock trug, so daß das Wasser kaum durch den ziehenden Rosenwald funkelte. Am Ufer pflügte ein Landmann mit milchweißen Ochsen und goldenem Pfluge, unter deren Tritten große Kornblumen sproßten. Die Furche füllte sich mit goldenen Körnern, welche der Bauer, indem er mit der einen Hand den Pflug lenkte, mit der anderen aufschöpfte und weithin in die Luft warf, worauf sie als ein goldener Regen auf mich niederfielen. Gottfried Keller, Der grüne Heinrich (1855)



Der Edle vom Turm träumt I

Aber Gonzalo, der dieses Gespenst haßte, diese stille geköpfte Gestalt, die, den Kopf in den Händen, in Winternächten zwisehen den Zinnen des Turms umherirrte, wandte sich von der Veranda ab und machte der nicht enden wollenden Chronik ein Ende: »Geh zu Bett, Videirinha, hörst du? Es ist drei Uhr vorbei, das ist ja grauenhaft. Schau! Tito und Gouveia kommen am Sonntag zum Abendessen in den Turm. Erscheine auch und bring deine Gitarre und ein neues Lied mit, aber ein weniger düsteres . . .« Er warf die Zigarre weg und schloß das Fenster des Wohnzimmers - des »alten Wohnzimmers«, über und über geschmückt mit jenen nachgedunkelten traurigen Porträts der Ramires, die er seit seiner Kindheit »die Fratzen der Großpapas und Großmamas« nannte. Und während er durch den Gang schritt, hörte er noch in der Feme, in der Stille der mondgebadeten Felder, gereimte Gesänge der Seinen verhallen: »Ha! Dort in der großen Schlacht. . . Der König Don Sebastian . . . Der jüngste der Ramires schritt Als Fahnenjunker voran . . .«

Nachdem er rasch das Kreuz geschlagen hatte, schlief der Edle vom Turm ein. Doch im Schlafzimmer begann für ihn eine unruhige, schreckliche Nacht. Andre Cavaleiro und Joäo Gouveia brachen durch die Wand ein, im Kettenhemd auf furch terregenden gebratenen Quappen reitend! Und langsam, mit dem bösen Auge blinzelnd, rückten sie gegen seinen armen Magen mit Lanzenstichen vor, die ihn auf seinem Brasilholzbett stöhnen und sich winden ließen. Dann waren es auf der Caljadinha 7

von Vila-Clara der fürchterliche tote Ramires mit seinen in der Rüstung knirschenden Knochen und der König Alfonso II. mit fletschenden messerscharfen Wolfszähnen, die ihn wütend in die Schlacht von Navas schleppten. Er, fest auf den Fliesen stehend, widerstand und schrie nach der Rosa, nach der Gra(inha, nach Tito! Doch D. Afonso versetzte ihm mit seinem Eisenhandschuh einen so herben Schlag in die Nieren, daß er ihn vom Gasthaus des Stotterers bis zur Serra Morena beförderte, bis zum Kampfplatz, strahlend und tosend von Bannern und Waffen. Und gleich darauf riß sein Vetter aus Spanien, Gomes Ramires, Meister von Calatrava, von seinem schwarzen Streitroß herabgebeugt, ihm die letzten Haare aus, unter dem brandenden Hohngelächter des gesamten Sarazenenheers und dem Wehklagen der Tante Louredo, die wie ein Traggerüst auf den Schultern von vier Königen daherschwebte! . . . Schließlich, zerschlagen, rastlos, während der Tag zwischen den Fensterritzen anbrach und die Schwalben auf den Traufen der Dächer zwitscherten, gab der Edle vom Turm seinen Bettlaken einen letzten Stoß, sprang auf den Fußboden, riß die Fensterladen auf - und atmete erlöst die Ruhe des Gutsgartens. Aber welcher Durst! Ein verzweifelter Durst, der seine Lippen furchte wie Rinde! Jetzt erinnerte er sich an das berühmte fruit salt, und lief im Hemd ins Eßzimmer. Keuchend schüttete er zwei gehäufte Eßlöffel voll in ein Glas Bica Velha-Wasser, das er mit einem Schluck austrank. »Ach, welcher Trost, welch reicher Trost! . . .« Lendenlahm kehrte er ins Bett zurück: und schlief sofort wieder ein, diesmal im tiefen Gras einer afrikanischen Wiese unter säuselnden Kokospalmen zwischen dem pfeffrigen Arom strahlender Blumen, die durch goldenes Geröll hindurch ihre Blüten öfTneten. Aus dieser vollkommenen Glückseligkeit riß ihn Bento um die Mittagsstunde, beunruhigt über »das Säumen des Herrn Doktor«. »Ich habe eine entsetzliche Nacht verbracht. Bento! Alpträume, Schrecknisse, Raufereien, Totengerippe . . . Das waren 72

die verdammten Eier mit Speckwurst; und die Gurke . . . Vor allem die Gurke! Ein Einfall dieses Biests von Tito ... Im Morgengrauen dann nahm ich fruil sali, und bin wieder hergestellt, Mann! . . . Prima hergestellt! Ich verspüre sogar Lust zum Arbeiten. Bring er mir in die Bibliothek eine Tasse grünen Tee, sehr stark . . . Bring er auch Toast.«

II Auf der Straße zum Turm flogen Gonzalos Gedanken unwiderstehlich verlockt zu Dona Ana - zu ihrem Dekollete, zu ihren schmachtenden Badestunden, in denen sie sich beim Zeitunglesen vergaß. Schließlich, Teufel noch eins! . . . Diese Dona Ana, so ehrbar, so duftend, so bezwingend schön, hatte auch als Ehefrau einen Haken - ihr Papa war Fleischer. Aber auch ihre Stimme - eine Stimme, die ihm in Bica Santa eine Gänsehaut verursacht hatte . . . Mendonca freilich versicherte, ihr girrender, zäher Tonfall sinke in der Vertraulichkeit zu sanftem, fast süßem Geflüster ... Im übrigen gewöhnt man sich in Monaten des Zusammenlebens an die unangenehmsten Stimmen - er selbst merkte schon nicht mehr, wie stark Manuel Duarte näselte! Nein! Der hartnäckige Makel war wirklich nur der Fleischer-Vater. Aber wer, unter seinen tausenden von Großvätern bis zu Adam, besitzt nicht irgendeinen Fleischer-Großvater? Sicherlich würde er, Edler alten Geblüts aus einem Königshaus, in dem Dynastien glänzten, würde, wenn er seine Vergangenheit durchschnüßelte, auf einen Fleischer-Ramires stoßen. Und ob der Fleischer gleich in der ersten Generation auftauchte in einem gutbelaubten Zweig oder ob er durch dichte Jahrhunderte hindurch zwischen den dreißigsten Großeltempaaren nur als Nebeldunst sichtbar würde - da war er, Messer in der Faust, Hackblock, Fleischstücke, und die Blutflecken am verschwitzten Arm! . . . Und dieser Gedanke verließ ihn nicht mehr bis zum Turm auch nicht später am Schlafzimmerfenster, während er seine 73

Zigarre zu Ende rauchte und dem Gesang der Grillen lauschte. Er hatte sich schon zu Bett gelegt, seine Lider fielen ihm zu, und noch immer fühlte er, daß seine ungeduldigen Schritte sich rückwärts Bahn brachen, hinein ins vergangene Dunkel seines Hauses, durch die verflochtene Geschichte hindurch, auf der Suche nach dem Fleischer ... Er war bereits jenseits der Grenzen des Westgotenreichs gelangt, wo mit einem goldenen Erdball in der Hand sein bärtiger Großvater Recesvinto herrschte. Erschöpft, keuchend, hatte er Städte durchwandert - und war in Wälder vorgedrungen, welche noch der Mastodon durchpflügte. Im feuchten Urwalddickicht war er bereits unbestimmten Ramires begegnet, die grunzend tote Kälber und Brennholzbündel schleppten. Andere tauchten aus rauchigen Höhlen auf, scharfe grünliche Zähne fletschend, um dem vorüberwandemden Enkel zuzulächeln. Dann, durch trostlose Einöden unter trostlosem Stillschweigen war er zu einer nebelverschleierten Lagune gelangt. Und am Rande des schlammigen Wassers zwischen Röhricht hieb ein Ungeheuer von Mensch, haarig wie ein Raubtier im Lehmboden kauernd, mit einer Steinaxt, hart hämmernd, Lendenstücke menschlichen Fleischs zurecht. Es war ein Ramires. Im aschgrauen Himmel schwebte ein schwarzer Habicht. Sogleich winkte er im Lagunennebel in Richtung Santa Maria de Craquede der bildschönen duftenden Dona Ana zu und brüllte über Herrscherreiche und Zeitläufte hinweg: »Ich habe meinen Fleischer-Großvater gefunden!« 111

Bis in die tiefe Nacht hinein käute Gonzalo, durchs Schlafzimmer wandernd, die bittere Gewißheit wieder, daß er Zeit seines Lebens (fast seit dem Gymnasium) immer nur Demütigungen erlitten hatte. Und alle hatten sich aus höchst einfachen und so sicheren Absichten ergeben Wie es der Flug für irgendeinen Vogel ist - für ihn jedoch gekrönt von Schmerz, Scham oder Verlust! Beim Eintritt ins Leben wählt er begeistert einen Ver­ 74

trauten, einen Bruder, den er in die stille Intimität des Turms einfuhrt - und sogleich bemächtigt dieser Mensch sich Graninhas Herz und läßt sie auf schimpfliche Weise im Stich! Dann faßt er den so üblichen Wunsch, die politische Bühne zu betreten - und schon zwingt ihn der Zufall, sich dem Einfluß dieses selben Mannes zu ergeben und zu beugen, nun eine mächtige Autorität, die er in all den ärgerlichen Jahren so verabscheut und verspottet hat! Dann öfTnet er dem abermals in sein Vertrauen aufgenommenen Freund die Türen der Cunhais, vertrauend auf die Ernsthaftigkeit und den strengen Stolz der Schwester - und schon ergibt die Schwester sich kampflos dem alten Täuscher am ersten Nachmittag, an dem sie sich mit ihm im günstigen Schatten einer Laube trifft! Nun denkt er daran, eine Frau zu heiraten, die ihm mit großer Schönheit ein großes Vermögen bietet - und unverzüglich läßt ihn ein Gefährte aus Vila-Clara wissen: »Die Frau, die du gewählt hast, Gonjalinho, ist eine Schlampe mit einem Schwanz von Liebhabern!« Sicherlieh liebte er diese Frau nicht mit edler, starker Liebe! Dennoch beschloß er, sein unsicheres Los in ihre schönen Arme behaglich zu betten - und schon bricht mit erschütternder Pünktlichkeit die gewohnte Erniedrigung auf ihn herein. Er sank in das weite Bett wie in ein Grab - vergrub das Gesicht im Kopfkissen mit einem Seufzer, einem gerührten Seufzer des Erbarmens mit seinem so widrigen, so wehrlosen Los. Und er erinnerte sich an Videirinhas anspruchsvollen Vers: »Das alte Haus der Ramires Portugals Ehre und Blüte!« Rasch verwelkte Blüte! Kleinliche Ehre! Und welcher Gegensatz zwischen dem letzten Gonzalo, geduckt in seinem Loch von Santa Ireneia, und den großen Großeltern Ramires, die Videirinha besang - sie alle, wenn Geschichte und Sage nicht logen, hatten sieghafte, zu rühmende Leben geführt! Nein! Von denen hatte er nicht einmal die von allen durch die Zeiten hindurch 75

ererbte Eigenschaft geerbt - die frohgemute Tapferkeit. Noch sein Vater war der gute furchtlose Ramires gewesen - der bei dem vielbesprochenen Aufruhr der Wallfahrt nach Riosa mit einem Sonnenschirm gegen drei entsicherte Karabiner vorgerückt war. Aber er war mit einem Defekt geboren worden, dem schändlichsten Defekt, der heillosen Schwäche des Fleischs, die ihn angesichts einer Gefahr, einer Bedrohung, eines Schattens unausweichlich zur Flucht zwang . . . Zur Flucht vor einen Helm. Zur Flucht vor einem Gauner mit blonden Koteletten, der ihn erst auf der Landstraße und dann in einem Kaufladen grundlos beleidigt, nur aus Großmannsucht und Prahlerei. Und die Seele ... Es war diese selbe Schwäche, die ihn jedem Einfluß in die Arme trieb und ihn wie ein dürres Blatt vom ersten Windhauch fortblasen ließ. Nur weil die Kusine Maria eines Abends die schlauen Augen niederschlägt und ihm hinter ihrem Fächer rät, er solle sich für Dona Ana interessieren, errichtet er, von Hoffnung dampfend, auf Dona Anas Geld und Schönheit einen anspruchsvollen Turm aus Glück und Luxus. Und die Wahl? Die verwünschte Wahl? Wer stößt ihn in die Wahl hinein und in die unanständige Aussöhnung mit dem Edelmann, und in die daraus entstehenden Widrigkeiten? Der Gouveia, nur mit leichtfertigen Spitzfindigkeiten, auf der Straße gemurmelt! Herrschalt nochmal! Selbst innerhalb seines Turms wurde er von Bento beherrscht, der ihm überlegen Geschmacksneigungen aufzwang, Diät, Spaziergänge, Meinungen und Krawatten! Ein so gearteter Mann, und mag er mit Intelligenz noch so gesegnet sein, ist eine leblose Masse, der die Welt unablässig die verschiedensten und widersprechendsten Formen aufzwingt. Mit einem neuen Seufzer begrub er sich unter seinem Bettzeug. Die Lackuhr schlug die vierte Stunde der Frühe. Und nun gewahrte Gonzalo durch die geschlossenen Lider uralte Gesichter mit ungebräuchlichen Ahnenbärten, mit Narben, von wütendem Eisen geschlagen, die einen glühten noch wie im 76

Schlachtenlärm, andere lächelten majestätisch wie beim Prunk eines Galaempfangs ‫ ־‬alle gezeichnet vom souveränen Gebrauch des Befehlens und Siegens. Und Gonzalo, über den Rand des Bettuchs spähend, erkannte in diesen Gesichtern die echten Züge der alten Ramires. Und nun tauchten auch die Körper auf, erzstarke Körper im verrosteten Kettenhemd, gezwängt in den Harnisch aus blitzendem Stahl, bewehrt mit allen Waffen der Geschichte von der stachelgespickten Gotenkeule aus Steineichenwurzel bis zum seiden- und goldumflochtenen Galadegen. Seine fabelhaften geschichtlichen Großväter, die aus ihren verstreuten Gräbern zusammengeeilt waren und sich im neun Mal hundertjährigen alten Herrenhaus von Santa Ireneia zusammengefunden hatten. Der dort drüben in seinem weißen Hemd, mit dem roten Kreuz auf der Brust war sicherlich Gutierres Ramires, der »von Übersee«, so wie er aus seinem Zelt zur Erstürmung von Jerusalem losbrach. In jenem anderen, so alt und herrlich, den Arm ausstreckend, erriet er Egas Ramires, der in seinem reinen Edelsitz sich weigerte, den König Don Fernando und die ehebrecherische Leonor zu empfangen! War jener mit dem blonden Krausbart, der, Kastiliens Königsbanner schwingend, sang, nicht Diogo Ramires, »der Troubadour«, noch fröhlich am strahlenden Morgen von Aljubarrota? Und Paio Ramires, der sich bewehrte, um Saint Louis, König von Frankreich, zu retten. Rui Ramires lächelte den englischen Kriegsschiffen zu, die vor dem Bug seines Flaggschiffs diensteifrig die Segel für Portugal strichen. Paulo Ramires, Page der Prozessionsfahne des Königs auf den verhängnisvollen Schlachtfeldern von Alcäcer, ohne Helm, mit zerfetzter Rüstung, neigte ihm sein jungfrauliches Antlitz zu mit der ernsten Zärtlichkeit eines gerührten Großvaters . . . Gonzalo fühlte, daß seine ganze Ahnenschaft ihn liebte - und ihm in seiner Schwäche zu Hilfe kam, ihm das Schwert reichte, das in Ourique gekämpft, ihm die Streitaxt darbot, welche die 77

Tore von Arzila zertrümmert hatte. »Ach meine Großväter, wozu dienen mir eure Waffen - wenn mir eure Seele fehlt? . . .« Er erwachte früh und verwirrt und stieß die Fenster weit auf. Bento begehrte zu wissen, ob der Herr Doktor die Nacht schlecht verbracht habe . . . »Miserabel!« Ega de Queiroz, A Ilustre Casa de Ramires (1900)

Höflichkeit Ich habe geträumt, der unversehrte Hirsch bäte den verhinderten Jäger um Verzeihung Namir b al-Barud

Der Traum ein Leben Das Zwiegespräch fand in Adrogue statt. Mein Neffe Miguel, der fünf oder sechs Jahre alt sein mochte, saß auf dem Fußboden und spielte mit der Katze. Wie jeden Morgen fragte ich ihn: »Was hast du heute nacht geträumt?« Er entgegnete: »Ich habe geträumt, ich hätte mich in einem Wald verirrt und schließlich ein Holzhäuschen gefunden. Die Tür ging auf und du tratst heraus.« Mit plötzlicher Neugierde fragte er mich: »Sag mir, was tatest du in dem Häuschen?« Francisco Acevedo, Memorias de un bibliotecario (1955)

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Ulrike Hann tekr sverthit Gram ok leggr i methal theira bert Völsungen-Saga, 2‫ך‬

Meine Erzählung wird getreulich bei der Wahrheit bleiben, oder jedenfalls bei meiner persönlichen Erinnerung an die Wahrheit, was das gleiche ist. Zugetragen hat sich die Sache erst vor kurzer Zeit, doch ich weiß, daß die literarische Gewohnheit zugleich die Gewohnheit ist, Einzelheiten einzufugen und Höhepunkte hervorzuheben. Ich möchte meine Begegnung mit Ulrike (ihren Nachnamen wußte ich nicht und werde ich vielleicht nie wissen) in der Stadt York schildern. Die Chronik wird eine Nacht und einen Morgen umfassen. Es würde mich nichts kosten, zu behaupten, daß ich sie das erste Mal neben den »Fünf Schwestern« von York erblickte, diesen ungegenständlichen Glasfenstern, die von Cromwells Bilderstürmern verschont wurden, aber Tatsache ist, daß wir uns am Ausgang des »Northern Inn« begegneten, welches sich aufder anderen Seite der Stadtmauern befindet. Wir waren nur zu wenigen, und sie stand mit dem Rücken zu mir. Jemand bot ihr ein Glas an, und sie lehnte ab. »Ich bin Feministin«, sagte sie. »Ich will die Männer nicht nachäfien. Ihr Tabak und ihr Alkohol sind mir ein Greuel.« Der Satz wollte geistreich sein, und ich erriet, daß sie ihn nicht zum ersten Mal gesagt hatte. Später wurde mir klar, daß er nicht charakteristisch war für sie, aber nicht immer gleicht uns das, was wir sagen. Sie erzählte, daß sie zu spät zum Museum gekommen sei, aber daß man sie eingelassen habe, als man erfuhr, daß sie Norwegerin war. Einer der Anwesenden bemerkte: »Es ist nicht das erste Mal, daß die Norweger nach York kommen.«

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»Das stimmt«, sagte sie. »England hat uns gehört, und wir haben es verloren, wenn irgendjemand etwas besitzen oder irgendetwas verloren gehen kann.« Als ich diese Worte hörte, sah ich sie an. In einer Zeile von William Blake kommen Mädchen von mildem Silber und wildem Gold vor, doch in Ulrike begegneten sich Gold und Milde. Sie war leicht und groß, hatte edle Züge und graue Augen. Weniger als ihr Gesicht beeindruckte mich das stille Geheimnis, das in ihrem Aussehen lag. Sie lächelte mit Leichtigkeit, und das Lächeln schien sie zu entrücken. Sie war schwarz gekleidet, eine Seltenheit in den nördlichen Ländern, die ihre verhangene Umwelt mit Farben aufzuheitem versuchen. Sie sprach ein einwandfreies und genaues Englisch mit leicht akzentuierten Rs. Ich bin kein Beobachter; all dies entdeckte ich erst nach und nach Wir stellten uns vor. Ich sagte, daß ich eine Professur an der Andinischen Universität in Bogota hätte. Zur Erläuterung setzte ich hinzu, daß ich Kolumbianer sei. Sie fragte nachdenklich: »Was ist das, Kolumbianer sein?« »Ich weiß nicht«, sagte ich. »Es ist ein Glaubensakt.« »Wie Norwegerin sein«, erklärte sie zustimmend. Von dem, was wir an diesem Abend redeten, habe ich nichts weiter in Erinnerung. Am Tag darauf ging ich früh in den Speisesaal hinunter. Durch die Fenster sah ich, daß es geschneit hatte; die kahlen Felder verloren sich im Morgenlicht. Sonst war niemand da. Ulrike lud mich ein, mich an ihren Tisch zu setzen. Sie sagte, sie gehe gern allein spazieren. Mir fiel ein Scherz Schopenhauers ein, und ich antwortete: »Ich auch. Dann können wir also zusammen gehen.« Auf dem neuen Schnee entfernten wir uns von dem Haus. Keine Seele war auf den Feldern. Ich schlug vor, nach Thorgate zu gehen, das einige Meilen flußabwärts lag. Ich weiß, daß ich bereits in Ulrike verliebt war; keinen anderen Menschen hätte ich an meiner Seite gewünscht. 80

Plötzlich hörte ich das ferne Geheul eines Wolfs. Ich hatte nie einen Wolf heulen gehört, aber ich wußte, daß es ein Wolf war. Ulrike blieb gelassen. Kurz darauf sagte sie, als denke sie laut: »Die wenigen und armseligen Schwerter, die ich gestern im Yorker Münster gesehen habe, haben mich tiefer bewegt ab < I i