Gerechtigkeit und Leben im hellenistischen Zeitalter: Symposium anläßlich des 75. Geburtstags von Otto Kaiser [Reprint 2015 ed.] 3110168235, 9783110168235

Am 30. November 1999 feierte Professor Dr. Dres. h.c. Otto Kaiser seinen 75. Geburtstag. Zu diesem Anlaß veranstaltete d

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Gerechtigkeit und Leben im hellenistischen Zeitalter: Symposium anläßlich des 75. Geburtstags von Otto Kaiser [Reprint 2015 ed.]
 3110168235, 9783110168235

Table of contents :
Vorwort
Die Gerechtigkeit des Zeus in den Dramen des Euripides
Gerechtigkeit Gottes und Leben nach dem Sirachbuch. Ein Antwortversuch in seinem Kontext
Heilung und Leben nach Weish 16,5-14 vor dem Hintergrund der hellenistischen Zeit
Der Mythos als Grenzaussage

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Gerechtigkeit und Leben im hellenistischen Zeitalter

Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft

Herausgegeben von Otto Kaiser

Band 296

W DE G Walter de Gruyter • Berlin • New York

2001

Gerechtigkeit und Leben im hellenistischen Zeitalter Symposium anläßlich des 75. Geburtstags von Otto Kaiser Herausgegeben von Jörg Jeremias

w DE

G Walter de Gruyter • Berlin • New York 2001

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einbeitsaufnahme Gerechtigkeit und Leben im hellenistischen Zeitalter / Symposium anläßlich des 75. Geburtstags von Otto Kaiser. Hrsg. von Jörg Jeremias. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2001 (Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft ; Bd. 296) ISBN 3-11-016823-5

© Copyright 2001 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen

Vorwort

Am 3 0 . 1 1 . 1 9 9 9 ist der langjährige Herausgeber der BZAW, Dr. Dres. h.c. mult. Otto Kaiser, 75 Jahre alt geworden. Zu seinen Ehren fand am Wochenende, das auf den Geburtstag folgte, in der Alten Aula der Philipps-Universität Marburg ein Symposion unter dem Titel „Gerechtigkeit und Leben im hellenistischen Zeitalter" statt, an dem neben Schülerinnen und Schülern, Freunden und Bekannten des Jubilars auch zahlreiche Kollegen benachbarter Disziplinen sowie aus dem deutsch- und englischsprachigen Ausland teilnahmen. Es lag nahe, dass der Nachfolger Otto Kaisers auf seinem Lehrstuhl die Organisation des Symposions übernahm und gleichzeitig die Herausgeberschaft der vier Vorträge, die auf dem Symposion gehalten wurden. Ebenso lag das Thema des Symposions nahe, und zwar vornehmlich aus drei Gründen. Zum einen hatte sich das Interesse Otto Kaisers seit vielen Jahren - nicht zuletzt als Folge der Arbeiten an seinem bedeutenden Jesajakommentar - der Spätzeit des Alten Testaments zugewandt als der Zeit, in der die alttestamentlichen Texte ihre volle theologische Reife erlangt haben. Innerhalb der Spätzeit andererseits galt seine besondere Aufmerksamkeit und Leidenschaft der Weisheit, was sich nicht nur seinen Veröffentlichungen, nicht nur den Themen, die seine Schüler in Dissertationen bearbeiteten, entnehmen ließ, sondern insbesondere der Tatsache, dass er neben und nach seiner inzwischen auf drei Bände angelegten Theologie des Alten Testaments („Der Gott des Alten Testaments", Bd. 1 1993, Bd. 2 1998) einen Kommentar zu Qohelet zu verfassen plant. Aber der gewichtigste dritte Grund ist mit dem allen noch nicht genannt. Es gehört zu den Eigenarten Otto Kaisers und zu der Weite seines Interesses, dass er über die gesamte Zeit seiner Lehrtätigkeit hinweg und weit über die Emeritierung hinaus bis in die Gegenwart in offiziellen Lehrveranstaltungen mit begabten Studierenden oder aber

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Vorwort

in kleineren privaten Zirkeln mit Kollegen und Doktoranden Texte der griechischen Klassik gelesen hat. Wie kaum ein anderer Forscher unserer Tage ist er neben dem biblischen (und dem semitischen) mit dem griechischen Denken vertraut, und immer wieder haben ihn die thematischen Schnittstellen zwischen beiden Textbereichen in ihren Bann gezogen. Für die Begegnung von spätalttestamentlicher Weisheit mit griechischer Philosophie aber ist kaum ein anderes Problemfeld so charakteristisch wie das Verhältnis von „Gerechtigkeit und Leben". Aus den genannten Gründen ist es nun auch keineswegs zufällig, dass den Auftakt des Symposions der Vortrag eines Schülers Otto Kaisers bildete, der inzwischen Director of Graduate Studies am Department of Classics der renomierten Princeton University geworden ist, Prof. Dr. Christian Wildberg. Er zeigt, wie die Frage nach göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit Jahrhunderte vor der Blütezeit der griechischen Philosophie in einer „noch mit dem Schleier des Numinosen versehenen Welt" tiefsinnige Antworten durch die attische Tragödie erfuhr, die sich freilich dem Versuch einer Systematisierung widersetzen. Im Zentrum der Veranstaltung standen die Vorträge zweier katholischer Kollegen, die ihre Arbeitskraft über viele Jahrzehnte der spät-biblischen Weisheit und insbesondere dem Sirachbuch bzw. der Sapientia Salomonis gewidmet haben, mit diesen Schriften engstens vertraut und zudem Otto Kaiser seit langer Zeit kollegial und freundschaftlich verbunden sind. Auf je verschiedene Weise gehen sie in großer Behutsamkeit und Meisterschaft den Einflüssen griechischer Philosophie auf das Denken der spät-biblischen Weisheit nach. Eine besondere Freude für alle Teilnehmer war es, dass Otto Kaiser selber dafür gewonnen werden konnte, einen Grundsatzvortrag zur Funktion des Mythos als Höhepunkt und Abschluss des Symposions zu halten, in dem er am Beispiel des Mythos vom Totengericht und von der Entrückung der Frommen in spätalttestamentlicher Tradition sowie des Mythos von den unterschiedlichen Geschicken der Seelen Verstorbener bei Piaton Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Leistung des Mythos und in der Aufdeckung seiner Grenze aufweist. Was ein nüchternes Vorwort nicht vermitteln kann, ist die gleicherweise der Sache zugewandte wie heitere und lockere Atmosphäre

Vorwort

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der Veranstaltung, die von musikalischen Einlagen und vielfältigen Ehrungen Otto Kaisers durch in- und ausländische Kollegen, Schüler und Studenten im Zuge des Empfangs geprägt war. Marburg, Juni 2 0 0 0

Jörg Jeremias

Inhalt Vorwort

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CHRISTIAN W I L D B E R G

Die Gerechtigkeit des Zeus in den Dramen des Euripides . . . .

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JOHANNES M A R B Ö C K

Gerechtigkeit Gottes und Leben nach dem Sirachbuch. Ein Antwortversuch in seinem Kontext

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A R M I N SCHMITT

Heilung und Leben nach Weish 16,5-14 vor dem Hintergrund der hellenistischen Zeit

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O T T O KAISER

Der Mythos als Grenzaussage

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Die Gerechtigkeit des Zeus in den Dramen des Euripides1 VON CHRISTIAN WILDBERG

Hochverehrter Jubilar, sehr geehrter Herr Dekan, sehr geehrte Vertreter der Landeskirchen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, liebe Studentinnen und Studenten, meine Damen und Herren! Als ich vor 23 Jahren das Studium an der Theologischen Fakultät der Universität Marburg aufnahm, hätte ich es niemals für möglich gehalten, daß ich so viele Jahre später an eben diesen Ort zurückkehren würde, um einen Vortrag zu Ehren des damaligen Dekans zu halten. Es freut mich außerordentlich, auf diese Weise und in dieser Funktion an meine alma mater zurückkehren zu dürfen. Das Thema meines Vortrages lautet: Die Gerechtigkeit des Zeus in den Dramen des Euripides. Nun werden Sie sich vielleicht fragen: Was hat ein Vortrag über den heidnischen Wettergott in der Vorstellungswelt eines Tragödiendichters bei einem theologischen Kolloquium an der ältesten protestantischen Universität zu suchen? Glücklicherweise habe ich eine hervorragende Erklärung parat: Das Thema wurde mir von den Leitern dieser Veranstaltung gestellt. Ich reiche die Frage also einfach weiter, ohne auch nur ansatzweise den Versuch zu unternehmen, sie zu beantworten, und wende mich dem Thema selbst zu, das mir übrigens ebenso umfangreich wie schwierig zu sein scheint. Aus genau diesem Grund war ich ursprünglich geneigt, das Thema kurzerhand eigenmächtig zu ändern oder doch zumindest mit einem bedeutsamen Fragezeichen zu versehen: „Gerechtigkeit des

Der folgende Text ist eine leicht überarbeitete Fassung des am 3. Dezember 1999 beim Symposion zu Ehren Otto Kaisers in Marburg gehaltenen Vortrags.

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Christian Wildberg

Zeus bei Euripides?" Der dahinter stehende Gedanke war der, daß aus einer Reihe zufällig überlieferter Theaterstücke vermutlich nichts Konkretes über einen ethischen Grundbegriff zu erfahren ist, zumal wenn dieser Begriff mit einem Gott assoziiert wird, der in den Stükken mit keiner Geste, keinem Wort als dramatische Figur erscheint - im Gegensatz etwa zu den anderen Olympiern wie Aphrodite, Artemis, Apollon, Athene und Poseidon. Des weiteren gibt zu denken, daß sich Euripides zwar als Regisseur einen Namen gemacht hat, aber eigentlich nicht gerade als Theologe oder Moralphilosoph. Die Versuchung, dem gestellten Thema also zumindest die Form einer Frage zu geben, war fast unwiderstehlich. Allein, es wäre damit wohl wenig gewonnen gewesen, außer daß ein weiterer Vortrag über Euripides unter das in der Forschung mittlerweile übliche Vorzeichen des Problematischen gesetzt worden wäre: Euripides, der intellektuelle Zweifler, der Tradition und Religion radikal in Frage stellt; bei dem man sich nie sicher sein kann, woran man ist; der Dramatiker des kulturellen Niedergangs usw. usf. So etwa lauten ja die geläufigen Einschätzungen, die sich bis auf Friedrich Schlegel zurückverfolgen lassen und weitgehend immer noch in Mode sind. Möglicherweise hat dieser hermeneutische Problematismus (wenn ich dieses Unwort gebrauchen darf) am Ende seine Berechtigung. Nur - eines ist sicher: Wer ein Thema von vornherein unter dem Vorzeichen der Fraglichkeit aufgreift, stellt sich gewissermaßen unter einen Systemzwang, jeden Gedanken soweit zu problematisieren, bis am Ende in der T a t auch weiter nichts als die Fraglichkeit übrigbleibt. Widerstehen wir also der Versuchung - zumal an diesem Ort und zu diesem feierlichen Anlaß - und unternehmen statt dessen den Versuch, uns der Aufgabe mit einer gehörigen Portion hermeneutischen Optimismus zu stellen. Wir fragen daher: Wie weit kommt man mit dem Gedanken der Gerechtigkeit des Zeus, wenn man die Dramentexte selbst sprechen läßt und ihnen dabei aufmerksam zuhört? Hören wir uns so einen Text, der eine Aussage über den höchsten Olympier macht, einfach einmal an. Ich zitiere:

Die Gerechtigkeit des Zeus in den Dramen des Euripides

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Über vieles waltet Zeus im Olymp, Vieles vollenden die Götter wider Erwarten, Und was man erhoffte, das erfüllte sich nicht, Doch für das niemals Erwartete fand der Gott einen Weg. So vollzog sich auch hier das Geschehen. 2 Diese Abschlußverse der ,Medeia' wurden vom Chor als Auszugslied gesungen. Nun finden sich dieselben Verse an vergleichbaren Stellen auch in anderen euripideischen Stücken (,Alkestis', ,Andromache', ,Helena' und in den ,Bakchen'), und sie sind allein aus diesem Grund in der Forschung entweder als unecht oder sekundär athetiert worden. Selbst wo das nicht geschieht, werden sie kaum ernst genommen. Der Dichter mußte ja irgendwie einen Schlußstrich ziehen, der Chor mußte irgendwie die Orchestra freigeben und damit das Ende des Stücks signalisieren; schließlich gab es im attischen Theater keinen Vorhang, den man hätte fallen lassen können. W a s wir also vor uns haben, sei nicht viel mehr als eine fromme Abschlußformel, die mit der dramatischen Handlung wenig oder nichts zu tun habe. So der breite Konsens. Wiederum, diese Auffassung mag ihre Berechtigung haben; allein, nichts hindert uns daran, die Verse etwas genauer auf ihren Gehalt zu prüfen. Schließlich stehen sie an exponierter Stelle am Ende, als letzte Aussage des Dramas, möglicherweise sogar als Kommentar zu dem sich gerade auf der Bühne vollzogenen Geschehen. Wir werden dieses dramatische Geschehen, welches den Versen ihren Kontext gibt, gleich näher betrachten; hier zunächst einige Bemerkungen zu den Versen selbst. V o m olympischen Zeus ist die Rede, der über vieles walte. Das Wort ,vieles' (gen.pl. T T O Ä Ä C Ö V ) ist im Originaltext exponiert an den Anfang der Zeile gesetzt; der Dichter hätte auch das metrisch ebenfalls mögliche TTCCVTCOV schreiben können, „über alles waltet Zeus im Olymp"; er schreibt es aber nicht. Waltet Zeus also nicht über alles, sondern nur über vieles oder manches? Es ist durchaus denkbar, daß Euripides (nehmen wir einmal an, daß er die Verse verfaßt hat) mit

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1 4 1 5 - 1 9 ; Übersetzung nach Ebener. Der Originaltext lautet: Zeus

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Christian Wildberg

der gewählten Formulierung eine Einschränkung signalisieren wollte: E s gibt viele Dinge, über die Zeus waltet, doch über andere waltet er nicht. Der Grund für den Ausdruck ,vieles' wäre dann ein theologischer, doch glaube ich nicht, daß er dem Zuschauer diese Spitzfindigkeit zumuten wollte. Der Grund scheint vielmehr ein poetologischer gewesen zu sein, denn in der nächsten Zeile heißt es: „Vieles vollenden die Götter wider Erwarten". Hier steht wiederum das W o r t ,vieles' (-TToAÄd) anaphorisch am Anfang der Zeile. Offenbar kam es dem Dichter darauf an, die ersten beiden Zeilen des Auszugsliedes mit einer die Aufmerksamkeit auf sich lenkenden Anapher zu beginnen. Die zweite Aussage „Vieles vollenden die Götter wider Erwart e n " ist ein Urteil, welches ganz unmittelbar Zustimmung erheischt; der Satz „Alles vollenden die Götter wider Erwarten" wäre demgegenüber schlichtweg falsch. Wenn es also „vieles" in der zweiten Zeile heißen muß, und wenn der Dichter das Signal einer Anapher setzen wollte, dann muß es in der ersten Zeile ebenfalls ,vieles' heißen, und es ist dem Zuschauer überlassen, dieses .vieles' inklusive im Sinne von ,alles' zu deuten, nicht exklusive im Sinne von ,vieles nicht'. Wir dürfen deshalb verstehen: „Über alles waltet Zeus im O l y m p , und vieles vollenden die Götter wider Erwarten." N u n ist der griechische Text grammatikalisch etwas anders formuliert, als es die von dem hervorragenden Euripides-Übersetzer Dietrich Ebener vorgelegte deutsche Übersetzung nahelegt. Wörtlich heißt es in der ersten Zeile: „Über vieles ist Zeus im Olymp der Tcc|jias." Das W o r t Tobias könnte man etwas blaß mit ,Verwalter' oder ,Steward' übersetzen. Euripides greift damit auf eine aus dem Epos bekannte Formel zurück: In der Ilias ist Zeus der Tapias, der den Sterblichen alle Dinge zuteilt (Ilias 4 . 8 4 ) . In einem Sophoklesfragment heißt es, Zeus sei der Tobias der Zukunft (Frag. 5 9 0 , 3f). N u n ist der Tocpiccs im attischen Staatswesen so etwas wie ein Schatzmeister oder Kassenwart, also ein Beamter, der ein genaues Auge auf die Einkünfte und Ausgaben wirft und die Buchführung macht. Dem Parthenon-Tempel, welcher ja zugleich Heiligtum und Bankhaus w a r , war so ein Schatzmeister zugeordnet, und dem zeitgenössischen Publikum in Athen wird zugleich mit der Erinnerung an die homerische Formel die Vorstellung eines solchen Staatsbeamten vorgeschwebt haben.

Die Gerechtigkeit des Zeus in den Dramen des Euripides

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Verbinden wir diese Assoziation mit dem gleich darauf folgenden ,wider Erwarten' des göttlichen Wirkens, dann ist es ein sonderbarer Gedanke, der auf diese Weise entsteht: Zeus ist ein kosmischer Verwaltungsbeamter, dessen Amtshandlungen häufig unberechenbar sind. Die Dinge werden dabei nicht nach den Verwaltungsrichtlinien des Amtes erledigt, sondern ,wider Erwarten'. Die Verse werden um so rätselhafter, je länger man über sie nachdenkt. Doch fragen wir weiter nach den Grundlagen der Erwartungen, die man an das göttliche Amt stellte. In den nächsten Versen heißt es: „Was man erhoffte, das erfüllte sich nicht, doch für das niemals Erwartete fand der Gott einen Weg." Grundlage waren also gar nicht irgendwelche vorher festgelegten Regeln, Abmachungen oder Gesetzestexte, sondern lediglich die Dinge, welche sich die Menschen vorgestellt oder ausgemalt hatten und an die sie ihre, wie sich herausstellt, leeren Hoffnungen knüpften. Die Hoffnungen wurden durchkreuzt von dem plötzlichen Eintreten des Unverhofften, das jenseits des Erwartungshorizontes lag. Sehen wir einmal von den Zweifeln an der Echtheit der Verse ab. Selbst wenn sie nicht ursprünglich zu dem Stück gehörten und zu späterer Zeit, von wem auch immer, hinzugefügt worden sind, muß man die Frage stellen, ob sie eine angemessene Koda für die Tragödie der Medeia abgeben. Hat sich das, was hier allgemein und im Abstrakten formuliert ist, soeben vor den Augen der Zuschauer im Konkreten abgespielt, oder setzt der unerhörte und fast unvorstellbar brutale Gang der Handlung ganz andere Zusammenhänge voraus? Denys Page, der den Oxford Clarendon Kommentar besorgte, bemerkt, daß die Zeilen an dieser Stelle unangebracht seien.3 Werfen wir einen kurzen Blick auf den Gang der Handlung, um dieses Urteil zu prüfen. Nach dem Argonautenabenteuer in Kolchis, das Iason nur mit Hilfe der Königstochter Medeia bestehen konnte, findet der Held, aus dem heimatlichen Iolkos verbannt, erst nach einigen Wirren in Korinth eine bleibende Zuflucht. Dort gelingt es Iason, seine Beziehungen zum korinthischen Herrscherhaus drastisch zu verbessern: Er wirbt erfolgreich um die Hand der korinthischen Königs3

D.L. Page ( 1 9 3 8 / 1 9 6 7 ) Euripides Medea. Oxford, 1 8 1 : „These lines occur also at the end of Alk., Andr., Hel. (with a different beginning), Ba. Here they seem a little inapposite."

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tochter Glauke und sichert sich somit die Thronfolge. Zweifellos träfe der ausgemusterte Argonautenveteran damit eine glänzende Berufsentscheidung, wenn er nicht bereits mit einer kolchischen Zauberin verheiratet gewesen wäre. Die dramatische Handlung beginnt kurz nach Iasons zweiter Hochzeit. Schwiegervater Kreon, der umsichtige Herrscher über Korinth, will die erste Frau vorsichtshalber des Landes verweisen offenbar mit der Zustimmung des Bräutigams. Medeia ist fassungslos. Sie, die ihrem Gatten gegenüber stets eine Haltung unbedingter Loyalität eingenommen hat, fühlt sich von Iason im Stich gelassen und verraten. Ihr Zorn entspringt dabei weniger der Eifersucht als der Empörung über die Tatsache, daß Iason den Eid brach, den er ihr geschworen hatte. Medeia ruft: „Eide!", und „Der rechten Hand größtes Versprechen!", und sie beschwört die Götter als Zeugen der Verletzung ihrer Rechte (20-23). Euripides bereitet hier die vielleicht wichtigste Voraussetzung für das Verständnis des Dramas vor: Medeia und Iason hatten ihren Liebesbund durch einen Eid bekräftigt und sich einander unter Anrufung göttlicher Zeugen das Wort gegeben. Unmöglich ist es, daß ein Eidbrüchiger straflos ausgehen kann - darüber sind sich Medeia und der ihr zur Seite stehende Chor korinthischer Frauen einig, und Medeia sinnt auf Rache. Unverhofft erscheint der Athenerkönig Aigeus auf dem Schauplatz. Er ist nur auf der Durchreise, fragt nach dem Weg, doch als er erfährt, was geschehen ist, verspricht er Medeia Zuflucht in Athen. Die Kolcherin entläßt ihn nicht eher, als daß er ihr schwört, sein Wort auch zu halten. Die Aigeus-Szene ist ein aufschlußreiches simulacrum der Jahre zurückliegenden Eideshandlung zwischen Iason und Medeia. Dank des Aigeus beginnen sich nun die Rachepläne genauer abzuzeichnen. Kaum ist der König weitergezogen, wird Iasons Braut mit einem vergifteten Gewand, welches ihr Iasons arglose Kinder überbringen, qualvoll umgebracht. Als Medeia erfährt, daß dieser Streich gelang, sinnt sie darauf, wie sie den abtrünnigen Gatten selbst am empfindlichsten treffen kann. Seine Hoffnungen auf die Thronfolge Korinths hat sie bereits zunichte gemacht; jetzt beschließt sie, nach erschütterndem Ringen mit sich selbst, Iasons ganzes Lebenswerk zu zerstören: Sie tötet am Ende des Dramas seine Nachkommen, die auch ihre eigenen sind. Was Medeia als Mutter erhoff-

Die Gerechtigkeit des Zeus in den Dramen des Euripides

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te, das erfüllte sich nicht, doch für das niemals Erwartete fand der Gott einen Weg. Aber weshalb eigentlich der Gott? Ist dies denn nicht die Geschichte einer Barbarin, die aus blinder Rache zur Mörderin ihrer eigenen Nachkommen wird? Was hat der Gott, was hat Zeus mit dieser Perversion der Mutterrolle zu tun? In der Parodos hatte der Chor, voller Sympathie für Medeia, versucht, die Gekränkte mit den Worten zu beschwichtigen: „Wenn dein Gatte eine neue Frau genommen hat, zürne ihm deshalb nicht! Zeus wird dir dafür Ausgleich verschaffen." (155-58) Medeia und Iason hatten sich gegenseitige Treue geschworen und dabei Zeus, Themis und Artemis als Zeugen angerufen. Zeus wird im Stück als Hüter der Eide bezeichnet; hier begegnet uns wieder das Wort Tocuias. Es ist deshalb nur konsequent, wenn der Chor erwartet, daß die göttlichen Garanten des Eides, die ja zugleich mit dem Ehebruch Iasons verletzt worden sind, den Meineidigen auf irgendeine Weise und im Sinne der poetischen Gerechtigkeit bestrafen werden. Zeus wird Medeia den Ausgleich verschaffen. Aber genau das geschieht offenbar nicht. Von Zeus wird zwar geredet, aber man sieht an keiner Stelle, wie er in das Geschehen eingreift und als Tapiccs waltet. Der schwedische Altphilologe Leif Bergson urteilte daher in einer vor fast 30 Jahren veröffentlichten Studie über die Relativität der Werte bei Euripides: „In der Medea wird die Katastrophe ohne jede göttliche Veranlassung herbeigeführt. Der ,Götterapparat' ist in diesem Stück auf ein Nichts reduziert. ... Für den Inhalt und den Ausgang des Dramas haben die Götter gar keine Bedeutung." 4 Diese Auffassung ist in der Euripides-Forschung des öfteren von einflußreichen Stimmen vertreten worden; auf Interpretationsansätzen dieser Art beruht nicht zuletzt die weitverbreitete Ansicht, Euripides sei ein moderner, aufgeklärter Dichter, der den Götterapparat demontiere und statt dessen die innersten Gefühls-

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L. Bergson (1971) Die Relativität der Werte im Frühwerk des Euripides. Stockholm, 2 7 . Ähnlich P.E. Easterling (1977) „The infanticide in Euripides' Medea." Yale Classical Studies 25: 177, und C. Segal (1996) „Euripides' Medea: Vengeance, Reversal and Closure." Medee et la violence. PALLAS 45: 42: „This is a world where the gods, though invoked as the bringers of justice, seem to take no part in human affairs."

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momente der Protagonisten psychologisierend nach außen kehre und dabei meisterhaft analysiere. Doch so einfach liegen die Dinge nicht. Der Oxforder Gelehrte Hugh Lloyd-Jones hat in seiner einflußreichen Studie „The Justice of Zeus" darauf hingewiesen, daß in der Vorstellungswelt der Griechen seit Homer die Götter nicht so sehr eigenständig, sondern in und durch die Menschen wirken und walten. Daran knüpft er den wichtigen Gedanken, daß die Tatsache dieses Wirkens der Götter im Fühlen, Denken und Entscheiden der Menschen ebendiese Menschen nicht der Verantwortung für ihr Tun entbindet. Läßt sich nun dieses Wirkungsschema auf Medeia übertragen, in dem Sinne, daß wir uns vorstellen müssen, Medeia handele so, wie sie handelt, weil sie dazu in ihrem Innersten, in ihrem Quitos, von Zeus angestachelt worden ist? Wenn dies richtig ist, dann könnten wir verstehen, warum der Chor am Ende sagt, es sei Zeus gewesen, der für das Unverhoffte einen Weg fand. Diese Sicht der Zusammenhänge scheint erfolgversprechend zu sein; Euripides stünde dann jedenfalls in dieser Hinsicht - fest in der Tradition Homers, und es gibt Gelehrte, die genau diese möglicherweise etwas überraschende Schlußfolgerung gezogen haben. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß hier ein gravierender Unterschied besteht. Bei Homer wird lebhaft vor Augen geführt, wie die Götter das Fühlen und Denken der Menschen beeinflussen: Athene packt Achilles beim Schopf, Zeus sendet Agamemnon einen Traum, Apollon sendet seine schwirrenden Pfeile usw. In Euripides',Medeia' gibt es dagegen kaum einen Hinweis auf eine derartige Einflußnahme. M a n könnte höchstens auf die heftig umstrittenen Verse 107980 verweisen: Am Ende ihres großen Monologes ruft Medeia, nachdem sie sich schließlich nach langem Hin und Her zum Kindermord entschlossen hat: „Über meine Skrupel siegt der Oupös, der für die Menschen eine Quelle größten Unheils ist." 5 Nach Lloyd-Jones ist genau dieser 6u|j6s, das fühlende Herz, der locus im Innern des Menschen, an dem sich der Anspruch und Wille der Götter bemerkbar macht. Zur Deutung und Bedeutung dieser Verse vgl. am besten H. Erbse (1992) „Medeias Abschied von ihren Kindern (zu Eur. Med. 1078-80)." Hermes 120: 26-43.

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Aber eine viel prägnantere und durchaus anders gelagerte Aussage findet sich in den Versen 1013f kurz vor dem Beginn des Monologs. Medeia hat gerade erfahren, wie Glauke verendet ist; sie begreift, daß ihr jetzt der schwerste Teil des Racheplanes bevorsteht, nämlich die Ermordung der eigenen Kinder. Was sagt sie? „Die Götter und ich sind an diesem schlimmen Plane schuld." (toOto yocp 0eoi / xäycb KocKcös 9 p o v o 0 a ' !|jrrixacvr|aänr|v). Zwei Dinge sind bemerkenswert: Zunächst ist festzuhalten, daß Medeia ihren Plan nicht deshalb als schlimm (kockcos) bezeichnet, weil ihr Zweifel an ihrer eigenen Rechtsposition gekommen sind, sondern weil sie sich in diesem Moment voll bewußt wird, daß die Strafe, die Iason treffen muß, zugleich die Zerstörung ihrer eigenen Welt bedeutet. Es ist der sonderbare Ausruf „Die Götter und ich", den wir noch tiefer verstehen müssen. Iason hat das bei den Göttern beschworene Bündnis verraten, und nun rächt sich Medeia, nach ihrer eigenen Auffassung, im Bund mit den Göttern. Was zumindest keine Fehleinschätzung zu sein scheint: Der überraschende Auftritt des Athenerkönigs Aigeus als Retter in der Not (und genau in der Mitte des Dramas) hatte bereits aufhorchen lassen. Die Schlußszene zerstreut dann den letzten Zweifel, daß in diesem brisanten Stück von der impulsiven Rache einer betrogenen Ehefrau die Götter ihre Hand im Spiel haben: Medeia entschwebt dem Zugriff ihrer Feinde auf einem von Helios gesandten Drachenwagen. Ohne Zweifel hätte sich der Dichter in seinem unendlichen Einfallsreichtum auch ein anderes Ende ausdenken können. Doch dieses „Taxi nach Athen", wie es bezeichnet worden ist, ist ein unmißverständliches Symbol für das dynamische Ineinandergreifen von Göttlichem und Menschlichem in diesem Drama. Aber wie genau ist der Modus dieses Ineinandergreifens zu bestimmen? Gewiß, Medeia wird aus ihrer Bedrängnis mit göttlicher Unterstützung befreit. Aber ist es richtig, weiter zu gehen und zu sagen, sie sei zu ihrem Tun von den Göttern, von Zeus, getrieben worden? Ist es nicht vielmehr so, daß sie sich aus eigenem Antrieb gleichzeitig zur Richterin und Vollstreckerin erhebt und selbst die Art von Buße auferlegt, welche der Chor von Seiten des Zeus erwartet? Ist sie nicht eher eine Figur wie Sophokles' Antigone, die ihr eigenes Rechtsbewußtsein über das Kalkül der allgemeinen Nützlichkeit stellt und dem Anspruch der Götter eher Folge leistet als den Anweisungen

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der Staatsräson? Antigone und Medeia hoffen nicht gottergeben und passiv auf das Wunder göttlicher Intervention: Sie selbst machen sich zu dieser Intervention. Also nicht: Zeus wirkt den Racheplan in Medeia, sondern: Medeia wirkt mit ihrer Rache auf Zeus hin und in seinem Sinne. So betrachtet erscheinen die Schlußverse in einem ganz anderen Licht. In der griechischen Mythologie und ihren Bearbeitungen gibt es nicht viele solcher Menschen, welche die unmittelbaren Belange um ihre eigene Person, um Familie und gesellschaftliche Konvention hinter sich lassen und sich statt dessen auf die Seite einer Gottheit stellen, um mit ihr im Bunde den göttlichen Willen auf der Welt durchzusetzen. Im Alten Testament finden sich viel eher Menschen dieser Art, Propheten und Knechte Gottes, die in Wort und Tat dafür sorgen, daß die Stimme des Herrn nicht ungehört bleibt; doch in der griechischen Religionsgeschichte sind bei allen Unterschieden vergleichbare Gestalten selten. Dabei denke ich weniger an Seher wie Kalchas und Teiresias, sondern an die großen autonomen Charaktere wie die bereits erwähnten Antigone und Medeia. Aus der Welt der Mythologie könnte man Hippolytos, den Diener der Artemis, hinzufügen und vielleicht auch Alkestis, die aus ehelicher Treue an Stelle ihres Mannes den Tod auf sich nimmt. Ihnen zur Seite steht jedoch eine überragende historische Figur, welche genau diesen Typus des Dienens im Bunde mit einer Gottheit im höchsten Maße verkörpert und dem ebendieser Dienst ebenso zum Verhängnis wird: kein anderer als Sokrates. Was ist Frömmigkeit? fragt Sokrates den in traditionellen Vorstellungen gefangenen Gottesmann Euthyphron im gleichnamigen platonischen Dialog. Die Definition, welche im Verlauf des sokratischen elenchos kurz aufleuchtet, bevor das Gespräch scheinbar ergebnislos abbricht, lautet: Frömmigkeit ist Gottes-Dienst, und zwar ein Dienst, in dem Gott und Mensch ein gemeinsames Ziel verfolgen (Piaton, Euth. 13e). Das Wort, welches Sokrates verwendet, ist die etwas ungewöhnliche Vokabel CmripEcria; neben der literarischen Bedeutung von ,Dienst' war der Begriff in jener Zeit als technischer Ausdruck im attischen Flottenwesen geläufig, wo er den Aufgabenbereich der Offiziersbesatzung eines Dreiruderers bezeichnete. In seiner Verteidigungsrede vor dem Volksgericht der Athener bezeichnet Sokrates seinen unbequemen Lebenswandel des ständigen Prüfens

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ebenfalls als einen Dienst, eine Hyperesie, am delphischen Apollon. Euripides, Sokrates (im Frühwerk Piatons) und zuweilen der späte Sophokles sind die einzigen Autoren jener Zeit, welche den ursprünglich nautischen Begriff der Hyperesie in einem religiösen Sinne von Gottes-Dienst verwenden. Religionsgeschichtlich gesprochen, haben wir es hier offenbar mit einer nicht uninteressanten konzeptionellen Neuerung zu tun. Der Gedanke, der hier am Ende des fünften Jahrhunderts in Literatur und Geschichte greifbar wird, ist, daß sich eine recht verstandene pietas nicht in Gebet, Ritual und Opfer erschöpft, sondern eine aktive Unterstützung derjenigen ethischen Werte und Normen beinhalten muß, für welche die Götter als Garanten gelten. Was wir hier vor uns haben, bei Intellektuellen wie Euripides und Sokrates, ist nichts anderes als der Versuch einer Neubestimmung des rechten Gottesverhältnisses des Menschen. Was bedeutet diese Beobachtung für unsere Frage nach der Gerechtigkeit des Zeus? Folgt man den literarischen Hinweisen des Euripides und den nie ganz ausformulierten Andeutungen des platonischen Sokrates, dann offenbar nichts anderes, als daß die Menschen die Aufgabe haben, sich zu den Göttern in gleicher Weise zu verhalten wie die Offiziere einer Triere zu ihrem Kommandanten. Das pindarische Verhältnis zwischen Gott und Mensch ist gleichsam auf den Kopf gestellt. Während dort der Gott dem würdigen Menschen zu Sieg, Ansehen und Glanz verhalf, ist es hier der Mensch, der die Wirkungsmächtigkeit und den Geltungsbereich einer Gottheit unterstützt. Sokratische Frömmigkeit macht sich selbst die Sache der Götter zu eigen und verschafft ihnen Geltung. Mit anderen Worten ausgedrückt, die Gerechtigkeit des Zeus verwandelt sich in die Gerechtigkeit des Menschen. Dies ist ein bedeutsamer Satz, mit dem man eigentlich einen Vortrag über die göttliche Gerechtigkeit abschließen könnte. Aber gerade an diesem Punkt stellen sich natürlich die eigentlich interessanten Fragen. Denn wenn der Mensch die Verantwortung für das Geschehen in der Welt übernehmen soll, dann müssen vorher wohl einige Dinge geklärt werden. Was genau ist die vom Menschen erwartete Gerechtigkeit? Oder was sind Frömmigkeit und Besonnenheit und überhaupt die übergeordneten Tugenden und Werte? Mit einem Mal stehen wir in der Welt Piatons, und zur Beantwortung

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dieser Fragen bedarf es offenbar gemeinsamen Nachdenkens mit dem Ziel philosophischer Erkenntnis dieser Zusammenhänge. Ist diese Einschätzung richtig, dann erkennen wir zumindest eine wichtige Entwicklungstendenz von der Tragödie des fünften Jahrhunderts hin zur Philosophie Piatons, obwohl dieser selbst ja rein äußerlich jede Verbindung zu Drama und Dichtung abgeschnitten hat. Piaton hat bekanntlich die Dichter aus seinem Idealstaat, an dessen Struktur er das unveränderliche Wesen der Gerechtigkeit ablesen wollte, verbannt. Nach Piaton ist Gerechtigkeit die harmonische Einheit eines Organismus, in dem jedes Teil seine ihm zugehörige Funktion ausübt. Was ihm dabei politisch vorschwebte war ein Polis-Olymp der Philosophenkönige, gleichsam Abbilder und Stellvertreter des Zeus, die aufgrund ihrer unfehlbaren Erkenntnis des Guten die Geschicke und Belange der Gesellschaft bis in jede Einzelheit lenken und vertreten. Folgt man der Analyse Karl Poppers, ist dabei nichts anderes als das Vor- und Urbild eines schlechten Unrechtsstaates herausgekommen. Verbannen wir also die Politiker, auch wenn sie Philosophen sind, und halten uns an die Dichter. Selbst wenn die hier vorgeschlagene Interpretation des indirekten Wirkens der Götter über die Hyperesie richtig ist, wäre es falsch anzunehmen, daß ihre Wirksamkeit auf diesen Gottes-Dienst angewiesen und beschränkt ist. Offensichtlich gibt es Stücke, gerade im Œuvre des späten Euripides, in denen die Hyperesie nur eine untergeordnete oder überhaupt keine Rolle spielt, in denen aber sehr wohl Götter an der Handlung beteiligt sind. Stücke wie der ,Hippolytos' oder die ,Bakchen' kommen einem dabei zuerst in den Sinn. Darüber hinaus findet sich immer wieder das überaus schwer zu beurteilende Phänomen der dei ex machina: Am Ende vieler Stücke erscheinen plötzlich Göttergestalten auf oder über der Bühne und lösen den Knoten, in den sich die Menschen unentwirrbar verstrickt haben. Ich kann an dieser Stelle nur kurz auf dieses rätselhafte Wesensmerkmal euripideischer Dramatik eingehen. In der Forschung stehen sich im wesentlichen drei unterschiedliche Einschätzungen gegenüber. Die einen weigern sich, die Maschinengötter überhaupt ernstzunehmen und zu interpretieren. Es könne nicht ernst gemeint sein, so heißt es, wenn für Menschen ganz und gar unlösbare tragische Konflikte mit wenigen Worten per Dekret von

Die Gerechtigkeit des Zeus in den Dramen des Euripides

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oben beiseite geschoben werden (man denke zum Beispiel an das Ende des ,Orest'). Andere sehen dagegen gerade in der für den Zuschauer völlig überraschenden Epiphanie die eigentlich religiöse Aussage der Dramen. Entgegen allen Beschwörungen seiner Modernität lebe Euripides doch noch in einer von Göttern verzauberten Welt. Eine dritte und möglicherweise fruchtbarste Position ist in einer 1964 in Tübingen entstandenen und leider wenig beachteten Dissertation von Wieland Schmidt bezogen worden. 6 Laut Schmidt stellt Euripides mit der Antithese von menschlicher Handlung und göttlicher Epiphanie ganz bewußt einen Verfremdungseffekt her. Dabei verfremde das dramatische Spiel zuerst den vertrauten Mythos, dann verfremde der mythische Epilog umgekehrt das Drama, so daß der Zuschauer am Ende gleichsam dazu aufgefordert wird, das Bühnenspiel im Sinne eines tragischen Gleichnisses überzeitlich zu deuten und nicht etwa als künstlerische Bearbeitung eines historischen Ereignisses mißzuverstehen. Z u m Glück brauchen wir weder den Versuch zu unternehmen, diesen Dauerstreit zu entscheiden, noch uns an ihm zu beteiligen, weil das Rätsel, so scheint mir, welches Euripides mit seinen Theaterepiphanien aufgegeben hat, prinzipiell unlösbar ist. Denn wer davon überzeugt ist, der deus ex machina müsse so oder so verstanden werden, macht eine inhaltliche Aussage über die Intention des Autors, und genau die läßt sich aus keinem dramatischen Kunstwerk mit Sicherheit ableiten. Erlauben Sie mir statt dessen eine kurze Beobachtung, die mir für unser Thema von besonderer Bedeutung zu sein scheint: Soweit wir wissen, hat sich Euripides an die offenbar bestehende Theaterkonvention der Nichtdarstellbarkeit des Zeus gehalten; Zeus betritt nie die Bühne. In der ,Helena' und der ,Elektra' schweben das vergöttlichte Bruderpaar Kastor und Pollux als Retter auf die Bühne, in den ,Hiketiden', der ,Iphigenie bei den Taurern' und im ,Ion' ist es Athene, im ,Orest' Apollon und in der ,Andromache' Thetis. Doch wovon reden diese Maschinengötter? Neben dem Motiv des Trostes, des läuternden Einblicks in die ,wirklichen' Zusammenhänge und schließlich den für das Publikum wichtigen Kultätiologien

W. Schmidt (1964) Der Deus ex machina bei Euripides. Diss. Tübingen.

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findet sich immer wieder der Name des höchsten Olympiers. Zeus wird in euripideischen Tragödien unvergleichlich viel häufiger genannt als irgendein anderer Gott, und besonders in den deus-exmachina-Szenen (vgl. Andr. 1269; Hipp. 1331; El. 1247f; Hei. 1660, 1669; Or. 1634f; Ba. 1349). „Denn was dir beschieden ist, das mußt du ganz ertragen; dies ist der Ratschluß des Zeus." So spricht in typischer Weise zum Beispiel Thetis zu ihrem sterblichen Gatten Peleus am Ende der ,Andromache' (1268f). Immer wieder wird den Personen des Dramas der Wille des Zeus verkündet; das gilt auch dann, wenn lediglich auf die Faktizität des Unabänderlichen verwiesen wird (Hik. 1224; IT 1486). Ohne Zweifel ist es die bedrohte Ordnung des Zeus, die das Einschreiten der Maschinengötter legitimiert. Ich glaube, wir dürfen aus dieser Tatsache den allgemeinen Schluß ziehen, daß - zumindest was die Vorstellungswelt der euripideischen Tragödie betrifft - hinter dem Geschehen als gemeinsamer Bezugsrahmen für Sterbliche wie Unsterbliche, Drama und Mythos, kein anderer als Zeus steht, der Tapias im Olymp. Läßt sich nun dem Wirken des höchsten Olympiers weiter auf die Spur kommen? Es ist eine Leistung der Philosophie Piatons, darauf hingewiesen zu haben, daß es bei der Gerechtigkeit nicht so sehr auf die äußere Handlung, sondern vielmehr auf die innere Konstitution des Handelnden ankommt, und daß diese Konstitution nach Maßgabe der Erkenntnis und Teilhabe am Guten entweder gerecht oder ungerecht ist. Nun ist Zeus spätestens seit Homer der Gott der retributiven Gerechtigkeit, der jeden Verstoß gegen die gesellschaftliche und natürliche Ordnung ahndet. Aber was genau konstituiert so einen Verstoß, und nach welcher Schnur wird gerichtet? Was ist das innere, materiale Prinzip der göttlichen Gerechtigkeit? Bei Homer, Hesiod und der griechischen Dichtung finden wir auf diese Frage noch keine Antwort. Hesiod betont in seinem Lehrgedicht ,Werke und Tage' ausdrücklich, daß Zeus dem Rechtsbrecher zürnt und ihn bestraft (321-34); doch wenig später heißt es, das Denken des Zeus wandele sich zu verschiedenen Anlässen, und für Sterbliche sei es schwer, ihn zu verstehen (483f). Euripides hat diese Tradition aufgegriffen und verarbeitet. An einer berühmten Stelle in den ,Troerinnen' betet zum Beispiel die vom Schicksal geschlagene Königin Hekabe so:

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„Der du die Erde trägst, der du auf Erden thronst, wer du auch seist, den zu bestimmen uns so schwer, Zeus, ob Naturgewalt, ob Menschengeist, dich bete ich an. Denn alles Irdische geleitest du, auf stillem Wege wandelnd, in gerechter Weise." (Ebener) Hekabe bittet um die ihres Erachtens gerechte Bestrafung der verräterischen Helena, deretwegen das blühende Troja in Schutt und Asche gelegt wurde. Genau dieser letzte und einzige Trost in ihrem Leid wird ihr aber nicht vergönnt. Menelaos führt Helena heim nach Griechenland; der Zuschauer weiß aus dem Mythos, daß sie ungeschoren davonkommen, ja daß Zeus seiner Tochter am Ende das ewige Leben schenken wird (vgl. auch das Ende des ,Orestes'). Hekabe erfährt, wie prekär es ist, auf Zeus zu hoffen und dabei zu meinen, die eigene Gerechtigkeitsvorstellung decke sich notwendigerweise mit der des Olympiers. Zeus herrscht, so scheint es, wie die meisten Potentaten jener Zeit, nach Gutsherrenart. Für diejenigen, welche den Schaden tragen, bleiben die Maximen seines Handelns alles andere als durchschaubar. Euripides greift also den Gedanken der Unwägbarkeit des Zeus sehr wohl in seinen Dramen auf; in der Diskussion zur ,Medeia' sahen wir, wie er die Zeusreligion durch den Aspekt menschlicher Hyperesie bereichert. Aber gerade wenn man bereit ist, die Handlung der ,Medeia' als ein Geschehen zu deuten, an dem göttlicher Wille beteiligt ist, dann stellt sich um so brennender das Problem des inhaltlichen Prinzips, des Wesens, der göttlichen Gerechtigkeit. Geht diese Art von Strafjustiz nicht zu weit, zumal wenn unschuldige Kinder als Mittel zum Zweck mißbraucht und geopfert werden? Was ist das für eine Gerechtigkeit, die über die Leichen Unschuldiger gehen zu können glaubt? Wie kein anderes Drama der attischen Bühne stellt das etwa 12 Jahre nach der ,Medeia' entstandene Stück ,Herakles' mit unerhörter Direktheit diese Frage nach dem Wesen der Gerechtigkeit des Zeus. Wenden wir uns dem Herakles-Drama des Euripides zu. Das Stück handelt von der erschütternden dreizehnten Tat des Herakles. Während seiner langen Abwesenheit von Theben, als Herakles in die Unterwelt hinabsteigen mußte, um den Kerberos zu fangen und dabei Theseus von den Fesseln des Todes befreit, erheben sich die Thebaner

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gegen den König Kreon, den Schwiegervater des Herakles, und übertragen einem Euböoten namens Lykos die Macht. Wie das so ist, fällt Kreon der Machtübernahme zum Opfer. Um sich vor potentiellen Rächern zu schützen, will Lykos die ganze Familie des Herakles ausrotten. Im ersten Akt kauern Herakles' Vater Amphitryon mit Herakles' Frau Megara und den Kindern am Altar des Zeus Soter, wohin sie sich geflüchtet haben und wo sie vorübergehend vor dem Zugriff des Lykos sicher sind. Doch die Zeit verrinnt, und die ersehnte Rettung durch Herakles bleibt aus. Als der bevorstehende T o d unausweichlich geworden ist, beginnt Amphitryon rückhaltlos mit Zeus zu rechten (339-47): „Vergeblich, Zeus, gewann ich dich als Mitgemahl, vergeblich nannten wir auch dich den Vater des Sohnes. Als Freund erwiesest du dich wider Erwarten als schwach. Ich, ein Mensch, bin viel besser als du, großer Gott, denn ich verriet die Kinder des Herakles nicht. ... Du bist ein dummer oder ungerechter Gott." Doch die blasphemischen Worte verhallen ungehört. Euripides steigert die Spannung über weitere 2 0 0 Zeilen, fast bis ins Unerträgliche, da tritt der große panhellenische Held unvermutet doch noch auf, gerade rechtzeitig, um die Familie zu befreien und unter Lykos und seinen Schergen ein Blutbad anzurichten. Zeus ist rehabilitiert. Der Chor stimmt ein Siegeslied an, und die Zuschauer werden dieses Paradestück von Hochspannung und Peripetie im Sinne der poetischen Gerechtigkeit mit Erleichterung genossen haben. Doch dann geschieht das Unerhörte. Hera, die Erzfeindin des Herakles, sendet Lyssa, die Göttin des Wahnsinns. Von Wahnvorstellungen geschüttelt, tötet Herakles seine Frau und die Kinder, die er ja eben erst vor dem Zugriff des Lykos gerettet hatte. Als Herakles schließlich seinen eigenen Vater erschlagen will, schreiten die Götter abermals ein. Athene, wohl als Abgesandte des Zeus zu verstehen, betäubt den Rasenden mit einem mächtigen Felsblock. In wenigen Augenblicken hat sich eine erbauliche Bühnentheodizee in ein unerträgliches, weil unverständliches Chaos verwandelt. Als Herakles wieder zur Besinnung kommt und sieht, was er angerichtet hat, will er Selbstmord begehen. Doch da erscheint plötzlich Theseus, der mit Herakles' Hilfe dem Tod entrann, und spendet

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dem verzweifelten Freund Trost. Am Ende führt Theseus einen völlig gebrochenen Helden zur Entsühnung nach Athen und ins nicht mehr heroische Leben zurück. Was hat der strahlende Held und Sohn des Zeus getan, daß ihn ein so hartes Schicksal trifft? Wir müssen uns denken, daß Zeus nach der zwölften und letzten Heldentat die schützende Hand sinken und der Hera freien Lauf läßt. Aber wie soll man es sich vorstellen, daß Zeus einer willkürlichen und in ihrer Brutalität abstoßenden Erniedrigung des panhellenischen Helden zustimmt? Lyssa selbst stellt diese Frage, denn sie führt ihren perfiden Auftrag nur widerwillig aus (843ff). Das Stück schockiert den Zuschauer am Ende mit einer paradoxen Szene, in der Herakles sich weigert, an Götter zu glauben, von denen er selbst ebensogut wie der Zuschauer weiß, daß sie ihn mit ihrer rücksichtslosen Macht zerstört haben ( 1 3 4 0 - 4 6 ) . Es liegt auf der Hand, daß dieses Stück für die Beantwortung der Frage nach dem Prinzip der Gerechtigkeit des Zeus mehr Rätsel aufgibt als Lösungen anbietet. Allenfalls bei näherem Zusehen findet man vielleicht eine indirekte Antwort. Euripides zeichnet seinen Herakles als einen ,modernen' Menschen, der auf seine eigene Körper- und Verstandeskraft vertraut und daher meint, auf nichts und niemanden angewiesen zu sein. Herakles ist gewalttätig, und sein Selbstgefühl der Autonomie grenzt an Hybris; Menschen wie Herakles schaden dem Ansehen der Unsterblichen, so lautet der Vorwurf, den Hera gegen ihn erhebt: „Nichtig sind die Götter, und allzu groß der Mensch, wenn Herakles nicht Buße zahlt." (841f). Von dem Standpunkt der Medeia aus betrachtet könnte man sagen: Herakles ist das Gegenteil einer Hyperesiefigur. Die Strafe, welche ihn trifft, ist hart - zu hart. Aber ist sie deshalb willkürlich? Ich denke nicht. Der Marburger Altphilologe Arbogast Schmitt hat in einer überzeugenden Studie zu Homer 7 darauf hingewiesen, daß der Modus des göttlichen Wirkens abhängig ist von den Charaktereigenschaften, der moralischen Disposition des menschlichen Empfängers. Die einzelnen Götter mit ihren je verschiedenen Zuständigkeitsbereichen erscheinen und handeln nicht immer gleich; ihr Weltverhältnis hat 7

A. Schmitt (1990) Selbständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer. Hermeneutische Untersuchungen zur Psychologie Homers. Stuttgart.

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vielmehr den Charakter eines subtilen reziproken Wechselverhältnisses, dergestalt, daß sich das Göttliche jeweils der menschlichen Vorgabe anpaßt. Eine Epiphanie ist dabei stets zugeschnitten auf die charakterliche Disposition desjenigen Menschen, welcher die Epiphanie erfährt. Schmitt hebt hervor, daß dieser oft übersehene Gedanke der Anpassung in der griechischen Religionsgeschichte durchgehend von den Anfängen bei Homer bis zum Neuplatonismus erscheint. Nicht nur Stücke wie,Herakles', sondern auch der ,Hippolytos' und die ,Bakchen' legen es nahe, daß Euripides mit dem Gedanken vertraut war und in diesen Dramen genau diese Struktur der reziproken Anpassung dramatisch in Szene gesetzt hat. Wenden wir diesen Gedanken auf das Heraklesdrama an, könnte man sagen, daß Zeus dem Bösewicht Lykos in der Gestalt des Herakles begegnet, daß er Herakles mit sich selbst in der Erfahrung des gewalttätigen Blutrausches konfrontiert und schließlich am Ende versöhnend in der Gestalt des Freundes auf ihn zutritt. Dabei ist Zeus stets beides, Rache und Rettung, Niederwerfen und Aufrichten, T o d und Leben. Trotzdem bleibt eine gewisse Unsicherheit. Gewiß ist, daß die Frage nach dem Prinzip der Gerechtigkeit des Zeus in diesem Stück in aller Deutlichkeit gestellt, aber nicht unzweideutig beantwortet wird. Gerade in dieser Mehrdeutigkeit liegt aber offenbar der tragödienspezifische Reflexionsansatz des fünften Jahrhunderts. Zeus ist kein Gott, von dessen Epiphanien man ohne weiteres Recht und Unrecht ableiten könnte. Zeus ist nicht Jahwe. In Griechenland ist die allgemeine, konsequente und kohärente Bestimmung des Gerechten erst eine Leistung der Philosophie des vierten Jahrhunderts, und es ist kein Zufall, daß Zeus in dieser Diskussion zunächst in den Hintergrund tritt, bevor er von den Stoikern wiedereingeführt wird - nachdem man sich über die Gerechtigkeit im Sinne eines globalen rationalen Determinismus geeinigt hatte. In der Tragödie dagegen besteht das Wesensmerkmal des göttlichen Waltens gerade nicht in einer klaren und distinkten Rechtsvorstellung, in einem erkennbaren Prinzip der Gerechtigkeit. Aber es wäre falsch zu behaupten, die Götter seien deshalb irrationale Kräfte der Willkür. Warum falsch? Weil die Tragödie wie kein anderes literarisches Genre darauf aufmerksam macht, daß menschliches Reden und Handeln keine rein äußerlichen Akte sind, sondern immer zugleich innerliche Vorgänge

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des eigenen Werdens. Mit dem gesprochenen Wort und der Tat formen die Protagonisten ihren Charakter und machen sich zu dem, was sie sind. Damit sind aber sie es in erster Linie selbst, die sich ihre unterschiedlichsten Schicksale bereiten, und Zeus ist nichts anderes als das Mysterium dieses spirituellen Zusammenhanges zwischen Tun und Ergehen. Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß. Unsere Vortragsreihe steht unter dem übergreifenden Motto „Gerechtigkeit und Leben im hellenistischen Zeitalter". Euripides lebte vor der Zeit, die man gemeinhin als Hellenismus bezeichnet. Aber er, dem nur mäßiger Erfolg auf der attischen Bühne beschieden war, wurde in dem Moment zum populären Tragiker, als sich die Kultur der Griechen über den Mittelmeerraum auszubreiten begann. Es war eine Epoche, in der immer deutlicher die Frage nach dem Zusammenhang zwischen moralischem Charakter und dem Gelingen des Lebens gestellt wurde. Daß Euripides in dieser Zeit so großen Anklang fand, ist nicht verwunderlich, da er wie kein anderer Tragödiendichter diese Frage auf der Bühne thematisierte. Allerdings erhält man den Eindruck, als stammten seine Antworten, die andeutungsweise im dramatischen Geschehen aufleuchten, aus einer weniger aufgeklärten, noch mit dem Schleier des Numinosen versehenen Welt, die zu dem selbstbewußten und untragischen Rationalismus der hellenistischen Schulphilosophie in Spannung stehen. Vielleicht hat aber gerade dies auf das hellenistische Publikum einen Reiz ausgeübt. Euripides zeigt in den beiden Dramen, die wir hier diskutiert haben, zum einen, daß es die Ansprüche der Gerechtigkeit sind, welche menschliches Leben in der Tat anfechten und zerstören können, und zum anderen, daß dieser Welt schwer durchschaubare Zusammenhänge von Tun und Ergehen zugrunde liegen. Es wäre falsch anzunehmen, er habe damit die Gerechtigkeit oder die göttliche Ordnung diskreditieren wollen. Möglicherweise stellt er die Dinge so dar, wie sie sind. „Gerechtigkeit und Leben" ist jedenfalls bei Euripides keine Gleichung, die ohne weiteres aufgeht; es bleibt ein tragischer Rest. Sokrates, mit seiner Haltung innerer Freiheit in der Stunde der Anfechtung, hat allen Späteren - und unter diesen besonders den Stoikern - in dieser Hinsicht den Weg gewiesen. Sokrates stirbt keinen tragischen Tod kann ihn nicht mehr sterben, weil er den tragischen Aspekt mensch-

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licher Existenz innerlich überwunden hat. Euripides, denke ich, wird dem metaphysischen Optimismus des Sokrates vehement widersprochen haben. Die ,Bakchen' sind der Beweis, daß er bis zu seinem Ende Tragiker geblieben ist und die Zusammenhänge anders gesehen hat als der Lehrer Piatons und die hellenistischen Intellektuellen. Also doch: Gerechtigkeit des Zeus bei Euripides - Fragezeichen? Für den Hermeneuten bleibt der Rest eines Rätsels. Wie sich Göttliches mit Menschlichem in Euripides' Welt tatsächlich verbunden haben mag, wird wohl nur für denjenigen einigermaßen durchschaubar gewesen sein, der von 4 5 5 bis 4 0 6 an den großen Dionysien teilgenommen und sich die Theaterstücke dieses großen attischen Tragikers mit Aufmerksamkeit angeschaut hat. Doch wer von uns Heutigen versteht diese Zusammenhänge schon und kann von sich behaupten, er habe sie begriffen? So gilt in abgewandelter Form von der Tragödie und besonders von Euripides dasselbe, was Luther in seiner allerletzten Aufzeichnung von Vergil, Cicero und der Bibel gesagt hat. Ich zitiere ein berühmtes Wort: „Den Virgil in seinen Bucolicis kann niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre Hirte gewesen. Den Virgil in seinen Georgicis kann niemand verstehen, er sei denn fünf Jahre Ackermann gewesen. Den Cicero in seinen Episteln kann niemand verstehen, er habe denn 2 5 Jahre in einem großen Gemeinwesen sich bewegt. Die Heilige Schrift meine niemand genugsam geschmeckt zu haben, er habe denn hundert Jahre lang mit Propheten wie Elias und Elisa, Johannes dem Täufer, Christus und den Aposteln die Gemeinden regiert. Versuche nicht diese göttliche ¿Eneis, sondern neige dich tief anbetend vor ihren Spuren! Wir sind Bettler, das ist wahr."

Gerechtigkeit Gottes und Leben nach dem Sirachbuch Ein Antwortversuch

in seinem

Kontext

VON JOHANNES

MARBÖCK

,Ben Sira oder die immanente Gerechtigkeit Gottes' - mit dieser Überschrift zu einem Abschnitt im ersten Band seiner Theologie des Alten Testaments 1 hat Otto Kaiser mehrere Bereiche angesprochen, die sein Forschen und Lehren bis zur Stunde bestimmen: die herausfordernde Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, 2 Israels Ringen um seine Identität in der Zeit des Hellenismus, damit verbunden eine intensive, kompetente Beschäftigung mit dem deuterokanonischen Schrifttum. 3 Nach einer großen, faszinierenden Exkursion in die klassische griechische Antike am Beispiel von Euripides soll dieser Vortrag einer jener Schriften ,à la frontière du canon', 4 dem Sirachbuch 5 gelten, dessen Autor, so Otto Kaiser, „dank seines Schrift1

2

3

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Kaiser, Gott I, 2 8 4 - 2 9 2 . - Die vollständigen Titelangaben finden sich im Literaturverzeichnis am Schluss des Beitrages. Die wichtigsten Beiträge dazu sind in zwei großen Aufsatzsammlungen zur Weisheit leicht zugänglich: Kaiser, Mensch; ders., Weisheit. Vgl. u.a. Kaiser, Anknüpfung; ders., Judentum. - Neben einer Fülle von Einzelbeiträgen zum Sirachbuch, von denen eine Reihe im Literaturverzeichnis dieser Studie genannt sind, ist vor allem auf die höchst informative Darstellung des Forschungsstandes zu den deuterokanonischen Schriften in den drei Bänden von Kaiser, Grundriß hinzuweisen. Vgl. Rüger, Siracide 47. Zum derzeitigen Forschungsstand s. den Sammelband von Beentjes, Book; Reiterer (Hg.), Bibliographie; Marböck, Weisheit im Wandel, 2 2 0 - 2 2 3 : Nachwort zur Neuauflage; ders., Sirach/Sirachbuch. - Zu den Bezeichnungen von Buch und Autor s. Reiterer, Bibliographie, 1-10; dort 4 0 - 4 2 auch zur Problematik der Kapitel- und Verszählung mit der Ankündigung einer Zählsynopse als Beiheft 12 in den BN.

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Johannes Marböck

studiums von der Unbedingtheit der göttlichen Gerechtigkeit überzeugt gewesen ist". 6 So werden in einem ersten größeren Arbeitsgang (A) anhand von Texten charakteristische Ansätze und Antwortversuche des Siraziden zur Frage nach dem Gott von Recht und Gerechtigkeit bzw. nach dem Schöpfer einer guten, geordneten Welt dargestellt. Ein zweiter Teil (B) ist der Zielsetzung des Symposiums entsprechend der Frage gewidmet, inwieweit der schriftgelehrte Jerusalemer Weise dabei nur schlichter Hüter, Vermittler bzw. streitbarer Verteidiger traditioneller Positionen des Glaubens Israels ist, oder ob bzw. wie weit die Probleme und Antwortversuche Sirachs positiv vom kulturellen Kontext der hellenistischen Denk- und Lebenswelt mitgeprägt sind. Ein kurzer Blick auf Weiterentwicklungen der Frage in der Überlieferung des Sirachbuches selber (C) soll die Ausführungen beschließen. Die begrenzten Ausführungen dürften m.E. unabhängig von der schwierigen bzw. diskutablen Antwort auf die zweite Frage in „Anknüpfung und Widerspruch" 7 bestätigen, dass mit der Thematik der gerechten Ordnung Gottes nicht nur ein zentrales Thema der kanonischen Weisheitsliteratur des Alten Testaments angesprochen ist, 8 sondern ein Anliegen, das auch Jeschua, den Sohn des Simon, in seinem Weisheitsbuch vom Vorabend der Makkabäerzeit „von Anfang an" beschäftigt hat (vgl. Sir 39,12.32), 9 d. h. wohl ein Leben lang.

A. Der Gott der Gerechtigkeit und die Güte all seiner Werke bei Ben Sira Um der Vielfalt und dem Ganzen der Aussagen Sirachs wenigstens einigermaßen gerecht zu werden, werden vorerst zwei Themenkreise skizziert: -

Gerechtigkeit und Leben (Vergeltung) für den einzelnen; der weisheitliche Hymnus über die Güte aller Werke Gottes in Sir 39,12-35.

6

Kaiser, Gott I, 2 7 7 f . Vgl. Kaiser, Anknüpfung. Vgl. Marböck, Weisheit 8-12. Liesen, Praise 2 . 1 2 3 f .

7 8 9

Gerechtigkeit Gottes und Leben nach dem Sirachbuch

1. Aussagen zu Gottes Gerechtigkeit

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und Leben für den einzelnen

Es ist vor allem die im Jerusalem der Zeit des Weisen10 neu herausgeforderte Motivierung des weisheitlichen Handelns in konkreten Bereichen privaten und öffentlichen Lebens, aber auch in grundsätzlichen Mahnungen zu Gesetzeserfüllung, Gottesfurcht und Weisheitssuche, die Gottes gerechtes Walten in den Blick rücken. Dass dabei ein breites Wortfeld zu berücksichtigen ist,11 zeigt abgesehen von der grundsätzlichen Problematik aller Formen und Versionen des Sirachtextes 12 bereits die Beobachtung, dass in den erhaltenen hebräischen Sirachfragmenten die Wurzel plü selber mit Sicherheit nur ein einziges Mal in 35(32),21d(22a) für Gottes Handeln verwendet wird, wenn gesagt wird, dass er als gerechter Richter Recht schaffen wird taatoa ntöSP p-12 tüsitsn; kurz vorher heißt es in 35(32), 15a(b): Ktn JüSttfO Tl^K. In 16,22 ist es eine Frage der Interpretation des Verses im Kontext, ob das Bekanntmachen des plU ntöUO bzw. der ipya SiKociocrüvris vom gerechten Handeln Gottes oder der Menschen zu verstehen ist. 13 Im griechischen Text begegnet in 18,2 noch die Aussage Kupios pövos 6iKaicoGr)a£Tai - der Herr allein wird als gerecht erwiesen werden. Der Großteil der Belege für np~lü/p72 bezeichnet jedoch ein Verhalten des Menschen.14 Für Gottes Vergelten verwendet Ben Sira vor allem l^EH, griechisch ä-rroSiSövai, ä v T a - r r o S i S o v a i , sowohl für positive als auch negative, d.h. strafende Vergeltung (vgl.

10 11

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Vgl. Hengel, Judentum 2 4 1 - 2 5 2 . Dommershausen, Vergeltungsdenken 38f. Eine Auflistung des Konkordanzbefundes nach den Versionen (H, Gr, Syr) ist hier nicht beabsichtigt. - Eine größere Auswahl von Anspielungen auf Vergeltung s. neben Dommershausen bei Hengel, Judentum 2 5 9 f . A. 2 3 6 ; vgl. auch die Darstellung bei Argall, 1 Enoch 2 1 1 - 2 4 7 : Judgement in Ben Sira's Book of Wisdom. Z u m Stand der Diskussion um die Textproblematik s. Gilbert, Texts; Reiterer, Review 2 6 - 3 4 ; Wagner, Septuaginta-Hapaxlegomena 1 7 - 6 4 ; Liesen, Praise 5 - 2 1 . Z u m Text s. Liesen, Praise 2 4 2 . 2 7 2 A. 2 1 2 . - Vom Handeln Gottes verstehen den Text neben Liesen, Praise 2 7 2 u.a. Fritzsche, Weisheit; Knabenbauer, Commentarius; Spicq, Ecclésiastique; Snaith, Ecclesiasticus; Minissale, Siracide; dagegen z.B. Peters, Buch; Skehan/Di Lella, Wisdom sowie Prato, problema 2 6 2 - 2 6 5 . Vgl. zu Sir 3 , 1 - 4 , 1 0 Kondracki, npiS 2 9 7 - 3 0 4 ; vgl. auch Sir 1 6 , 1 2 .

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Johannes Marböck

z.B. 35[32],13), ebenso BSV - Kpiveiv (vgl. 16,12). Als Nomen für Vergeltung findet sich nOl'Pt&n - ävTonroSoiucc (vgl. 12,2; 48,8). Äquivalente für Lohn sind "Dt», n^SJD, ]nO, griechisch PICT96S und 86cris (vgl. z.B. 51,22a.30b; 36,16[21]). Das Strafen Gottes wird umschrieben mit Dp] - Vergeltung (ei'\ «ETI u.a.); vgl. ThWAT V Sp. 546-550. 9. 'Weitere Beobachtungen

am Text

Auffällig in 16,5-14 ist die Häufung der „¿//"-Formulierungen: ... TÖV TrctvTcov crooTTipoc (16,7b); ... o puöiaevos ek ttocvtös KCXKOÜ (16,8b); ... ö iravTa icopevos (16,12b). Die wiederholte Setzung von iräs bezeugt ein starkes Interesse des Autors, Gott als den alleinigen 75

DIN

mnn mnpn).

76

77

ist wahrscheinlich Z u s a t z (Erklärung des

vorausgehenden

„Gesamtheit der Geister" bedeutet aufgrund des Parallelismus „die Menschen insgesamt, alle Menschen" und nicht „die himmlischen Geister". Nach J . ZIEGLER, Sapientia Jesu Filii Sirach (Septuaginta X I I , 2 ) , Göttingen 1 9 6 5 , 1 9 8 .

78

L X X wählt eine freie und zugleich erklärende Wiedergabe: „in der meßlichen

Schöpfung".

des hebräischen Textes DIN "03

zeigen, daß man m n n

rungsbedürftig empfunden hat. 79

uner-

Sowohl L X X als auch der (wahrscheinliche) Zusatz

steht in der Bibel mehrfach anstelle des Personalpronomens.

als erklä-

Heilung und Leben nach Weish 1 6 , 5 - 1 4

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Retter und Heiler herauszustellen. Bei 16,7b. 12b liegt bereits ein besonderer Nachdruck auf der Allwirksamkeit Gottes im Retten und Heilen infolge des Kontextes: Die kupferne Schlange wird zum Symbol der Rettung degradiert (16,6b), und in 16,7a wird eigens vermerkt, daß Heilung vom tödlichen Biß nicht durch den Blick zu dem von Mose errichteten Schlangenbild ausging, sondern allein durch Gott, den Retter aller (vgl. die adversative Konjunktion äXha in 16,7b). In 16,12a erfährt man, daß „weder Kraut noch Wundpflaster"81 Genesung brachten, sondern ausschließlich das Wort des Kyrios82 gesunden ließ. Die zitierten drei „¿//"-Aussagen manifestieren einen Bezug zu 16,13; denn dort wird diese Bekundung aufgrund der polaren Redeform sentenzartig gebündelt und gesteigert. Die genannten Textteile (16,7b.8b.l2b) sind aber auch aus anderen Gründen hervorgehoben: Beginnend mit dem Gebet des fiktiven Salomo in 9,1-12 bis hin zum Ende des Buches wird immer wieder die Anredeform gewählt.83 Bisweilen wird jedoch die Anrede sistiert und stattdessen von Gott in der dritten Person gesprochen.84 16,5-14 bietet durchgehend die Anredeform, die zudem eine besondere Akzentuierung und Pointierung erfährt: In 16,7b.8b findet sich nämlich jeweils das Personalpronomen der zweiten Person CTÜ85, in 16,12b das Possesivpronomen CTÖS86. Dadurch gewinnt die Anrede besonde80

81

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84

85 86

Zu derartigen Häufungen von „all"-Aussagen vgl. l l , 2 0 d . 2 1 a . 2 3 a [ 2 x ] , 2 4 a . 2 6 ; 1 2 , 1 ; ferner 1 2 , 1 3 a . l 5 a . l 6 b [ 2 x ] , „Kraut" und „Wundpflaster" als pars pro toto für die gesamten Heilmittel (der griechisch-hellenistischen Zeit). Gott wird in Weish verschiedenartig (SECTTTÖTTIS, 6EOS, K u p i o s ) angeredet: SECTTTOTCC