Georges Cuvier und die Katastrophen: von Krisen und Chancen 9783534401710, 9783534401734, 9783534401727, 3534401719

Georges Cuvier hat als erster wissenschaftlich arbeitender Paläontologe aus heutiger Sicht mit seiner Katastrophentheori

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Georges Cuvier und die Katastrophen: von Krisen und Chancen
 9783534401710, 9783534401734, 9783534401727, 3534401719

Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
1. Georges Cuvier und seine Katastrophentheorie
Evolutionstheorien
Wer war Georges Cuvier?
Mömpelgard – Montbéliard
Georges Cuvier und die Naturphilosophie
Georges Cuvier und Christoph Heinrich Pfaff
Das Pariser Museum für Naturgeschichte
Georges Cuvier und die Paläontologie
Georges Cuvier und die Evolution
Georges Cuvier und die Katastrophen
Der Streit um die -ismen
2. Katastrophen in der Erdgeschichte
Der Katastrophismus kommt zurück
Die Rolle von Impakten in der Frühphase der Erde
Die Big Five" der Massenaussterben
Welten im Zusammenstoß
Ursachen der Massenaussterben
Muss die Geschichte des Lebens neu geschrieben werden?
Klimagewalten – Treibende Kraft der Evolution
Messel – ein fossiles Tropenökosystem
3. Katastrophen in der Menschheitsgeschichte
Die Sintflut
Atlantis und andere Untergänge
Weitere Katastrophen biblischen Ausmaßes
Dies irae – die Angst vor dem Weltuntergang
Meteoriten und Kometen
Impakte und menschliche Gesellschaft
Vulkanismus
Georges Cuvier und die Vulkane
Die Toba-Katastrophentheorie
Erdbeben und Bergstürze
Fluten, Kälte, Pandemien
Ist der Mensch Verursacher des sechsten Massenaussterbens?
Klimawandel – Folge oder Ursache von Katastrophen?
Der Einfluss des Klimas auf die Entstehung des Menschen
Willkommen im Anthropozän!
4. Evolution oder Revolution?
Macht die Natur doch Sprünge?
Entstand der Mensch zufällig oder zwangsläufig?
Wurden wir durch Schaden klug?
5. Steckt in jeder Krise eine Chance?
Die kulturelle Evolution – eine Geschichte des Fortschritts oder der Katastrophen?
Hat das Getreide den Menschen domestiziert?
Fortschritt durch Naturkatastrophen?
Katastrophen und ihre Folgen für Baden-Württemberg
Bringen uns Revolutionen weiter?
Thomas S. Kuhn und der wissenschaftliche Fortschritt
Lernen wir aus Umweltkatastrophen?
Resilienz
Ordnung und Chaos
Literatur
Bildnachweis
Stichwortregister
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Bernd-Jürgen Seitz

Georges Cuvier und die Katastrophen

Bernd-Jürgen Seitz

Georges Cuvier und die Katastrophen von Krisen und Chancen

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Inhalt 1.   Georges Cuvier und seine Katastrophentheorie ...................................... 7  Evolutionstheorien ....................................................................................... 7  Wer war Georges Cuvier?............................................................................ 9  Mömpelgard – Montbéliard ............................................................... 11  Georges Cuvier und die Naturphilosophie ....................................... 21  Georges Cuvier und Christoph Heinrich Pfaff ................................ 25  Das Pariser Museum für Naturgeschichte ........................................ 38  Georges Cuvier und die Paläontologie .............................................. 44  Georges Cuvier und die Evolution..................................................... 52  Georges Cuvier und die Katastrophen .............................................. 56  Der Streit um die -ismen ..................................................................... 68  2.   Katastrophen in der Erdgeschichte .......................................................... 70  Der Katastrophismus kommt zurück ...................................................... 70  Die Rolle von Impakten in der Frühphase der Erde .............................. 73  Die „Big Five“ der Massenaussterben ...................................................... 74  Welten im Zusammenstoß ........................................................................ 77  Ursachen der Massenaussterben ........................................................ 82  Muss die Geschichte des Lebens neu geschrieben werden? ................. 84  Klimagewalten – Treibende Kraft der Evolution ................................... 94  Messel – ein fossiles Tropenökosystem ............................................. 96  3.   Katastrophen in der Menschheitsgeschichte ........................................ 101  Die Sintflut................................................................................................. 101  Atlantis und andere Untergänge ............................................................ 103  Weitere Katastrophen biblischen Ausmaßes ........................................ 105  Dies irae – die Angst vor dem Weltuntergang ............................... 107  5

Meteoriten und Kometen ........................................................................ 113  Impakte und menschliche Gesellschaft ........................................... 120  Vulkanismus .............................................................................................. 122  Georges Cuvier und die Vulkane ..................................................... 124  Die Toba-Katastrophentheorie ......................................................... 129  Erdbeben und Bergstürze ........................................................................ 132  Fluten, Kälte, Pandemien......................................................................... 135  Ist der Mensch Verursacher des sechsten Massenaussterbens? ... 139  Klimawandel – Folge oder Ursache von Katastrophen? ..................... 140  Der Einfluss des Klimas auf die Entstehung des Menschen ......... 141  Willkommen im Anthropozän! ........................................................ 151  4.   Evolution oder Revolution?..................................................................... 153  Macht die Natur doch Sprünge? ............................................................. 153  Entstand der Mensch zufällig oder zwangsläufig? ............................... 161  Wurden wir durch Schaden klug? .......................................................... 167  5.   Steckt in jeder Krise eine Chance?.......................................................... 172  Die kulturelle Evolution – eine Geschichte des Fortschritts oder der Katastrophen? ..................................................................................... 172  Hat das Getreide den Menschen domestiziert? .............................. 174  Fortschritt durch Naturkatastrophen?................................................... 177  Katastrophen und ihre Folgen für Baden-Württemberg .............. 185  Bringen uns Revolutionen weiter? ......................................................... 189  Thomas S. Kuhn und der wissenschaftliche Fortschritt ............... 190  Lernen wir aus Umweltkatastrophen? ................................................... 192  Resilienz ..................................................................................................... 196  Ordnung und Chaos ................................................................................. 198  Literatur ............................................................................................................ 209  Bildnachweis .................................................................................................... 217  Stichwortregister ............................................................................................. 218 

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1. Georges Cuvier und seine Katastrophentheorie Evolutionstheorien „Abschließend soll erwähnt werden, dass die klassische, von G. Cuvier postulierte Katastrophentheorie des frühen 19. Jahrhunderts seit langem widerlegt ist. Der Begründer der wissenschaftlichen Wirbeltier-Paläontologie untersuchte die Sedimentschichten und Fossilien des Pariser Beckens. Er stellte hierbei fest, dass die Schichten (bzw. die dort eingeschlossenen fossilen Wirbeltierreste) ohne erkennbare Übergangsformen abgelagert wurden. Die hieraus abgeleitete Vorstellung, dass die Evolution durch wiederholte weltweite Katastrophen, ein nachfolgendes vollständiges Artensterben und anschließender‚ übernatürlicher Neuschöpfung‘ aller Lebewesen vorangeschritten sei, gehört heute in den Bereich der Mythologie.“ So steht es in einem aktuellen Lehrbuch zur Evolutionsbiologie (Kutschera 2008). So ähnlich hörte ich es auch während meines Studiums in den 1970er Jahren an der Universität Freiburg von Professor Günther Osche (1926–2009, Abb. 1) in seiner legendären Evolutionsvorlesung. Osche stellte uns drei historische „Evolutionstheorien“ vor (Zitate aus Osche 1972): 1.

Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829) ging davon aus, dass „die Umwelt direkt gerichtete erbliche Veränderungen an den Organismen hervorrufen könne. So sollten sich die Organe der Tiere durch Gebrauch oder Nichtgebrauch entweder in ihrem Bau verstärken oder abschwächen. Diese im Lauf des Lebens erworbenen Veränderungen an den Eigenschaften der Organismen sollten an die Nachkommen vererbt werden und so im Laufe der Generationenfolge zu zunehmend besseren Anpassungen 7

[…] führen.“ Diese „Vererbung erworbener Eigenschaften“ wurde später als Lamarckismus bezeichnet. Als Beispiel wird meist die Giraffe herangezogen, die ihren Hals immer länger machte, um Blätter in größerer Höhe zu erreichen. 2.

Der wie Lamarck am Pariser Naturhistorischen Museum arbeitende Georges Cuvier (1769–1832) glaubte, den Artenwandel im Verlauf der Erdgeschichte „dadurch erklären zu können, dass durch erdgeschichtliche Katastrophen jeweils alle Lebewesen vernichtet wurden und danach eine Neuschöpfung anderen Typen den Ursprung gab […].“

3.

Charles Darwin (1809–1882) „hat sich 50 Jahre nach Lamarck erneut mit dem Problem der Entstehung der Anpassung auseinandergesetzt. Seine Antwort auf diese entscheidende Frage war die von ihm und unabhängig von dem Begründer der Biogeographie, A. R. Wallace, konzipierte Selektionstheorie, die Theorie von der natürlichen Auslese.“

Abb. 1: Günther Osche (1926–2009) konnte mit seinen Vorlesungen begeistern.

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Auch wenn die genetischen Grundlagen der Evolution erst im 20. Jahrhundert erforscht wurden, ist Darwins Evolutionstheorie bis heute als gültig anerkannt. Können die oben erwähnten Theorien von Lamarck und Cuvier daher als Anekdoten der Wissenschaftsgeschichte abgehakt werden? Da der „Lamarckismus“ nicht Gegenstand dieses Buchs ist, soll lediglich am Ende nochmal kurz darauf eingegangen werden. Georges Cuvier war bereits zu Lebzeiten als Wissenschaftler so berühmt, dass sogar Charles Darwin in seinen Werken vom „berühmten Cuvier“ sprach. Dass Cuvier der erste wissenschaftlich arbeitende Paläontologe war, steht außer Zweifel. Er wies durch seine Untersuchungen auch als erster nach, dass Arten aussterben können. Aber was hat ihn dann geritten, als er seine Katastrophentheorie formulierte? Und wieso reichte ihm eine Schöpfung nicht aus, wieso mussten es gleich mehrere sein? Bevor ich darauf eingehe, möchte ich zunächst einmal das damalige Umfeld Cuviers beleuchten.

Wer war Georges Cuvier? Um sich dieser Frage anzunähern, sollen hier zunächst die ersten 26 Lebensjahre von Georges Cuvier betrachtet werden, die eng mit Württemberg verknüpft waren. Diese Zeit hat sein weiteres Leben sehr stark geprägt – etliche Kontakte, die Cuvier in dieser Zeit geknüpft hat, rissen auch später nicht ab. Die Zeit von der Geburt Cuviers 1769 bis zu seiner Ankunft in Paris 1795 wird im ersten und bisher einzigen Teil der Biografie von Philippe Taquet, von 1981 bis 2000 Direktor des Labors für Paläontologie am Pariser Naturhistorischen Museum, anschaulich und unter Zuhilfenahme zahlreicher Quellen geschildert (Taquet 2006). Cuvier kam am 23. August 1769 in Mömpelgard zur Welt (Abb. 2), heute als Montbéliard in der französischen Franche-Comté gelegen. Sein Vater Jean-Georges war bereits 53 Jahre alt und diente in einem Regiment des Königs von Frankreich, seine Mutter Anne-Clemence Catherine war mit 33 Jahren 20 Jahre jünger als ihr Ehemann.

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Abb. 2: Cuviers Geburtshaus in Montbéliard. Getauft wurde Cuvier auf die Vornamen seines Vaters und seiner drei Paten: Jean, Léopold, Nicolas und Frédéric. Den Namen Georges erhielt er erst später von seiner Mutter in Erinnerung an seinen mit zwei Jahren verstorbenen älteren Bruder. Im Jahr 1769 kamen weitere Kinder zur Welt, die später sehr berühmt werden sollten: Acht Tage vor Georges Cuvier erblickte ein gewisser Napoleon Bonaparte (1769–1821) in Ajaccio das Licht der Welt, am 14. September wurde Alexander von Humboldt (1769–1859) in Berlin geboren.

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Mömpelgard – Montbéliard Mömpelgard wurde im Jahre 1769 von einer auch heute noch erhaltenen imposanten Burg beherrscht, eine auf einem Felsen thronenden Festung am Zusammenfluss der beiden Flüsse Allan und Lizaine (Abb. 3). Zu ihren Füßen liegt eine Stadt von damals wenig mehr als dreitausend Einwohnern, Zentrum eines kleinen Territoriums im Herzen der Burgundischen Pforte, 42 Kilometer lang und maximal 25 Kilometer breit. Die geografische Lage und die strategische Bedeutung sorgten dafür, dass die deutschen Kaiser seit dem zehnten Jahrhundert die Oberhoheit über dieses kleine Gebiet zwischen ihrem Reich und dem Königreich von Burgund behielten.

Abb. 3: Das Château des Ducs de Wurtemberg in Montbeliard, in dem sich ein naturkundliches Museum mit einer „Galerie Cuvier“ befindet. 1397 kam Montbéliard an das Haus Württemberg, der deutsche Name Mömpelgard tauchte als Mümppellgart erstmals 1464 auf. Im Jahr 1524 versuchte Herzog Ulrich die Reformation einzuführen, die erste evangelische

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Kirchenordnung (in französischer Sprache) wurde jedoch erst 1537/38 veröffentlicht. Durch das gemeinsame lutherische Bekenntnis entstand eine starke Verbindung zwischen Württemberg und den elsässischen Gebieten. Nachdem Mömpelgard immer wieder von Frankreich bedroht wurde, befestigte der württembergische Baumeister Heinrich Schickhardt die Residenzstadt und baute unter anderem das Renaissance-Schloss und den Temple SaintMartin, die große lutherische Kirche (Abb. 4). Zwischen 1617 und 1723 regierte ein Zweig der Herzöge von Württemberg in Mömpelgard, das staatsrechtlich unabhängig von Württemberg war. 1723 fiel Mömpelgard wieder an die Stuttgarter Line des Hauses Württemberg, seit 1769, Cuviers Geburtsjahr, residierte dort Friedrich Eugen von Württemberg. Im Zuge der Französischen Revolution kam es zu Aufständen, 1793 waren Stadt und Grafschaft Mömpelgard endgültig in französischer Hand.

Abb. 4: Der Temple Saint-Martin, die erste lutherische Kirche Frankreichs, erbaut 1601–1607 vom württembergischen Baumeister Heinrich Schickhardt.

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Von 1780 bis 1784 besuchte Georges Cuvier das Gymnasium von Mömpelgard, wo er neben Französisch, seiner Muttersprache, als weitere Fächer Geschichte, Geographie, Arithmetik, Algebra, Geometrie, Latein, Griechisch und Hebräisch praktizierte. Auch Recht und Philosophie waren Bestandteile des Unterrichts, weiterhin der lutherische Katechismus und die reformierte Bibel. Während seine Klassenkameraden Vergil und Cicero übersetzten, verschlang Georges Cuvier die Allgemeine und spezielle Geschichte der Natur (Histoire naturelle générale et particulière) von Georges-Louis Leclerc de Buffon (1707– 1788), ein Buch, das seinen weiteren Lebensweg vorbestimmen sollte. Vor allem Cuviers Mutter wollte, dass ihr Sohn Pfarrer wurde, und so bewarb er sich um ein Stipendium für ein Theologiestudium im Tübinger Stift. Die wenigen Stipendien wurden jedoch anderweitig vergeben. 1784 ergab sich für ihn die Chance, an der Hohen Karlsschule in Stuttgart (Abb. 5) zu studieren, was für seinen Werdegang entscheidend war. Als er im Mai in Stuttgart ankam, musste er zunächst ein zweitägiges „Assessment-Center“ durchlaufen, wie man heute sagen würde. Die Zugangsvoraussetzungen zur Karls-Akademie: man musste männlich und mindestens sieben (!) Jahre alt sein, gesund und frei von jedem äußerlichen Makel, zumindest lesen und schreiben können und sich zum christlichen Glauben bekennen.

Abb. 5: Hohe Karlsschule in Stuttgart, kolorierter Stahlstich nach einer Zeichnung von Karl Philipp Conz. 13

Cuvier musste unter Eid erklären        

wahre Frömmigkeit zu kultivieren und zu praktizieren, dem durchlauchten Herrscher in Unterordnung und Treue zu dienen, dem Beauftragten des Fürsten, dem Rektor, dem Kanzler und dem gesamten Senat der Akademie zu gehorchen, die Gesetze der Akademie genau und jederzeit treu zu beachten, eine ehrliche Moral zu haben, wie es sich für einen gut erzogenen Mann gehört, sich jederzeit, aus welchem Grund auch immer, der akademischen Rechtsprechung zu unterwerfen, sich niemals gegen die Verfassung und die Würde der Akademie zu stellen oder etwas gegen sie zu unternehmen, die Stadt und ihre Universität bei ernstem Verschulden zum festgesetzten Zeitpunkt zu verlassen.

Zwischen 1770 und 1784 besuchten 1.100 junge Männer die Karls-Akademie, 42 von ihnen starben während ihres Aufenthalts. Im Jahr 1784, dem Eintrittsjahr Cuviers in die Akademie, gab es 7 Todesfälle wegen einer Gallenfieberepidemie. Um optimal vom Unterricht zu profitieren, musste Cuvier so schnell wie möglich Deutsch lernen. Dem widmete er sich sehr eifrig, übte jeden Tag mit seinen Schulkameraden und las deutsche Bücher. Im ersten Winter, sechs Monate nach seiner Ankunft, freundete sich der bis dahin eher auf sich selbst zentrierte Cuvier mit zwei anderen Schülern an, die älter waren als er: Georges-Frédéric Parrot und Karl Friedrich von Kielmeyer. Letzterer erkannte Cuviers genaue Beobachtungsgabe und sein Talent zum Zeichnen von Pflanzen und Tieren, Cuvier wiederum wurde von Kielmeyers „enzyklopädischem Geist, der alle Naturwissenschaften umfasste“ (Taquet) stark beeinflusst. Kielmeyer beeinflusste noch andere, darauf soll später noch eingegangen werden. Christoph Heinrich Pfaff (1773–1852), der 1782 an die Hohe Karlsschule kam und sich später mit Georges Cuvier anfreundete, beschrieb das Leben an der Schule später folgendermaßen (Behn 1845): 14

Es fand nämlich für dieses merkwürdige Institut eine militairische Organisation statt. Die dreihundert und oft mehr Zöglinge, welche in diesem Institute als Pensionaire ihre Erziehung erhielten, waren in sechs grosse Abtheilungen eingetheilt, wovon zwei die Söhne der Edelleute und die vier übrigen die der bürgerlichen Familien enthielten. Jede dieser Abtheilungen hatte ihren grossen Schlafsaal und stand unter der Aufsicht zweier Officiere, eines Hauptmanns und Lieutenants, und zweier Unterofficiere. Diese Abtheilungen, in denen die Zöglinge, nach der Zeit ihrer Aufnahme, ihrem Alter und ihrer Grösse vertheilt waren, blieben, wie sie durch ihr Local von einander getrennt waren, auch in ihren Spielen und Recreationen mehr isolirt, und da Cuvier vier Jahre älter wie ich in einer anderen Schlafabtheilung sich befand, so kam ich in keine weitere Berührung mit ihm. Der grosse Hebel in dieser merkwürdigen Anstalt war der Ehrgeiz, der besonders durch öffentliche Auszeichnungen gestachelt wurde. Am Ende eines jeden Semesters wurden öffentliche Prüfungen angestellt, denen der Stifter des Instituts, der Herzog Carl von Würtemberg, durch seine persönliche Theilnahme ein höheres Interesse verlieh, und für jeden der Hauptgegenstände, Sprachen sowohl als eigentliche Wissenschaften, waren grosse silberne Medaillen zum Werthe von zwölf Gulden der Preis, mit welchem diejenigen Zöglinge belohnt wurden, die sich in der öffentlichen Prüfung in denselben am meisten ausgezeichnet hatten. Ausserdem fand noch jährlich für eine kleine Anzahl derjenigen, die sich in diesen Prüfungen besonders hervorgethan, namentlich in vier Hauptfächern einen Preis errungen hatten, die besondere Auszeichnung statt, dass sie mit einem stattlich goldenen emaillirten Ordenskreuze geschmückt, und was allerdings einem deutschen Ohre etwas sonderbar klingen muss, mit dem Ehrentitel Chevaliers bezeichnet wurden, ihren eigenen gemeinschaftlichen geräumigeren und mit schöneren Möbeln ausgestatteten Wohn- und Schlafsaal einnahmen, auch in dem grossen gemeinschaftlichen Speisesaal, in welchem die Zöglinge nach ihren Schlafabtheilungen zusammensassen, ihren abgesonderten, mit besseren Speisen versorgten Tisch hatten, welchen sie mit den damals in der Carls-Academie erzogenen Prinzen theilten.

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Die Naturwissenschaften spielten beim Studium Cuviers zunächst keine zentrale Rolle. Wegen besserer Karriereaussichten wählte er die Verwaltungsund Finanzwissenschaften als Schwerpunkt – die gleiche Wahl traf übrigens der gleichaltrige Alexander von Humboldt bei seinem Studium in Göttingen. Daneben belegte Cuvier aber auch z.B. Kurse in Botanik, Zoologie, Wasserwirtschaft, Forstwirtschaft, Mineralogie, Chemie und Bergbau. Ab 1786 übersetzte Cuvier das monumentale, aus acht Bänden bestehende Werk seines Gartenbau- und Botaniklehrers Johann Simon Kerner (1755–1830) über die Nutzpflanzen ins Französische. Ab Mitte des Jahres 1786 widmete Cuvier seine ganze Freizeit der Naturgeschichte, Botanik und Zoologie. Er sammelte alles, was ihm in die Hände fiel, begann ein Herbarium und zeichnete in einem Diarium Botanicum und einem Diarium Zoologicum seine Beobachtungen auf, begleitet von Zeichnungen. Dies waren die ersten von insgesamt zehn Diarien: fünf wurden der Botanik und fünf der Zoologie gewidmet, hinzu kam noch ein Diarium Halieuthicon, das sich den Meeresorganismen widmete, und ein Notizbuch für die Insekten. Unter den mit Cuvier befreundeten Studenten befand sich auch Baron Friedrich August Marschall von Bieberstein, später Staatsrat des russischen Zaren und Autor einer Flora von Südrussland, des Taurusgebirges und des Kaukasus, und seine zwei Brüder, die ebenfalls berühmt werden sollten. Ein Teil des Herbariums von Cuvier blieb bis heute erhalten; es enthält 77 Blätter, angeordnet in alphabetischer Reihenfolge der Gattungen und Arten von Blütenpflanzen, manchmal auch mit ihren Früchten. Die Pflanzen sind mit verdünntem Gummi Arabicum auf weiße Papierblätter geklebt, verstärkt mit Papierstreifen. Sie wurden gemäß der Linnéschen Nomenklatur benannt. 1787 bestand Cuvier mehrere Prüfungen mit Bravour, erhielt drei erste Preise der Fakultät für Ökonomie und wurde zum Chevalier (Ritter) ernannt, damals offenbar eine akademische Auszeichnung. Seine Abschlussprüfung fand am 20. April 1788 statt. Einstimmig erhielt er von den Prüfern den ersten Preis der Fakultät für Wirtschaft und Verwaltung. Nach der Prüfung erfüllte sich Cuvier zusammen mit zwei Freunden (Christoph Friedrich Ihm und Ernst Franz Ludwig Freiherr Marschall von Bieberstein) einen Herzenswunsch: Eine große Wanderung auf die Schwäbische Alb zwischen Stuttgart und Tübingen, über die Cuvier einen Reisebericht schrieb. 16

Nach den Spaziergängen von Jean-Jacques Rousseau waren derartige Reisen in Mode, außerdem waren Cuvier und seine Gefährten wohl durch die Reiseberichte und die Arbeiten von Horace-Bénédict de Saussure (1740–1799) beeinflusst, deren erster Band 1779 erschien. Der Schweizer Naturforscher hatte 1787 den Mont Blanc bestiegen. Tatsächlich beabsichtigte Cuvier später, den Bericht über diese Wanderung an de Saussure zu senden. Bereits einen Tag nach der Abschlussprüfung im April 1788 brachen sie auf, um Münsingen über Nürtingen, Kirchheim und Teck zu erreichen und über Pfullingen und Tübingen wieder nach Stuttgart zurückzukehren. Cuvier war nicht sehr sportlich und nahm sich vor, die Natur in Ruhe zu erkunden und seine Kräfte zu schonen. Ein Ausschnitt aus seinem auf Deutsch verfassten Reisebericht (Wörz et al. 2009): "Wir schmachteten schon gleichsam nach einer Aussicht, als sich plötzlich Denkendorf in der Tiefe zeigte. Das schöne grüne Thal, das artige Flüßchen, die romantische Stellung des Klosters, seine schon ältliche Architektur und noch mehr die vorhergegangene Einöde, alles trug dazu bey, uns die Landschaft als ganz vortrefflich darzustellen. Der größte Theil des Klosters verbindet alle Vorzüge einer schönen Lage. Die Mönchen entsagten wohl der Gesellschaft, nicht aber der Welt, wenigstens suchten sie immer durch die Schönheit ihres Aufenthalts, sich der verlassenen Vergnügungen schadlos zu halten.“

oder später: "Nürtingen ist ein sehr artiges Städtchen. Von der Seite wo wir ankamen presentierte sich der Spital, der ein ansehnliches Gebäude ist und einen recht guten Effect macht, auch sind um die Stadt schöne Linden-Alleen. Das Tor ist mit Geschmack und Fresco gemahlt. Die Straßen sind breit, gerade und gut gepflastert; nur ist schade, dass sie sehr uneben sind.“

Besonders anstrengend war für Cuvier der Aufstieg zur Teck. „Der Teckberg ist einer der aeußersten Spitzen der Alb; sein Fuß wird von mehreren aufeinander liegenden Hügeln bedeckt, welche nur Gras

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tragen, und zwar ziemlich schlechtes, soviel ich damahls beurtheilen konnte. Sehr häufig blühte da die schöne Gentiana verna [FrühlingsEnzian], welche überhaupt am Fuß aller Alpen wächst. An einigen Ort war der Boden sehr sumpficht. Wann diese Hügel alle überstiegen sind, kommt man auf den eigentlichen Berg, der ueber alle herrscht; sehr steil wird und ganz von einem dicken Gesträuch bekleidet ist. Wir folgten einem kleinen Fußweg nicht ohne von den Aesten öfters beohrfeigt zu werden, doch ueberstanden wir alles und kamen auf die kahle Spitze des Tecks […]“

Auf dem Breitenstein fühlt Cuvier sich nach Skandinavien versetzt: „Endlich kamen wir nach langem Steigen auf das höchste vom Berg, wo alles wieder flach wurde. Das nun die Alb und zwar die aechte. Das Clima scheint ganz veraendert; wenigstens als wäre man in Schweden. Die Bäume, welche im Neckerthal schon zum Theil zu blühen begannen, hatten hier kaum ihre Knospen geöffnet, und von allen Kräutern blühte keins als das ganz frühe Ornithogalum luteum“ [=Gagea lutea, Wald-Gelbstern]

Besonders karg und armselig erschien ihm Schopfloch, das er durchquerte, nachdem er das in Abtorfung befindliche Schopflocher Moor besucht hatte: „Der Weg geht ueber das Dorf Schopfloch, in einer sehr oeden Ebene. Alles sah aus wie im traurigsten Winter, Wälder ohne allem Laub. Auf der Alb sind wegen Mangel an Sand sehr wenige Nadelhölzer, Aecker voll von Steinen und hie und da noch kleine Haufen von Schnee. Da oben ist nicht ein einziger Obstbaum. Den Dörfern sieht man aber auch tiefe Armuth an, überall Strohdächer, häßliche, meist in Lumpen gekleidete Einwohner, alles trägt dazu bey, diese Gegend als die elendste im Herzogthum vorzustellen.“

Beeindruckend war für ihn das Nebelloch, wie die Nebelhöhle (Abb. 6) damals genannt wurde:

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Abb. 6: Die Nebelhöhle auf einem Stahlstich von 1851. "Die Wände sind ganz mit kleinen Auswüchsen bedeckt von der Figur der Eiszapfen aussehen, die weil sie von der sinternden Feuchtigkeit beständig naß erhalten werden, beym Licht der Fackeln den prächtigsten Effect machen und gerade wie Cristalle glänzen. Ihre Materie aber ist opac und keineswegs cristallisirt. Sie braust stark mit Säuren ist also ein bloßer Kalkichter Ansatz. Das Schönste in der ganzen Höhle ist eine Art von conischer Kuppel, von wenigstens 60 Schuh Höhe, so ganz mit oben beschriebenen Zapfen behängt. Wir vereinigten uns alle unter derselben; die Strahlen der Fackeln und der Lichter wurden von allen Punkten dieser Kuppel zurück geworfen, und also tausendfach vervielfältigt. Es glich in der That der aller prächtigsten Illumination, so groß nun hier unsere Bewunderung war, so groß war auch einige Augenblicke nachher unser Schrecken. Es merkte jemand auf dem Boden einen platten Stein, die gefallen zu seyn schien und sah oben zu, woher er gekommen sein möchte, und da merkte er und wir alle mit ihm, daß uns eine ganze Felsschichte ueber dem Kopf hing, die alle Augenblicke zu fallen drohete.“

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Taquet fasst die Ausbildung Cuviers und ihre Wirkung folgendermaßen zusammen: Nach der Grundausbildung im Gymnasium von Montbéliard und einer ersten intellektuellen Bildung an der renommierten Karlsschule in Stuttgart erreichte Cuvier das Niveau derjenigen, die im deutschsprachigen Raum Kultur verkörperten. Er war gewissermaßen Teil des kultivierten Bürgertums, des sogenannten Bildungsbürgertums – das Wort wurde von Taquet direkt aus dem Deutschen übernommen. Bildungsbürger waren in Berufen beschäftigt, die Universitätsausbildung erforderten, sie waren also Ärzte, Rechtsanwälte, Geistliche, aber auch Lehrer, Professoren und leitende Beamten. Varianten dieser sozialen Schicht existierten in vielen Ländern, aber ihr sozialer Einfluss war im 19. Jahrhundert in Deutschland besonders stark. Insbesondere wegen der rückständigen ökonomischen Entwicklung war das Bildungsbürgerturm in vielen deutschen Territorien, ob groß oder klein, wichtiger als das wirtschaftende Bürgertum. Da es keinen Staat mit zentralisierter Wirtschaft gab, machte der deutsche Nationalismus die Kultur zur Grundlage der Nation. Was Deutschland seinen Zusammenhalt gab, war vor allem die Produktion von Kultur und Wissen seiner Dichter und Dramatiker, seiner Denker, seiner Komponisten und seiner Wissenschaftler. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass Württemberg mit seinen Exzellenzpolen – vor allem Stuttgart und Tübingen – eine führende Rolle beim Hervorbringen von „edlen und starken“ Persönlichkeiten spielte: den Dichter Friedrich Schiller (1759–1805), dessen Vater Direktor der Parks und Gärten der herzoglichen Residenz Ludwigsburg war; bevor er sich für Poesie und Drama entschied, studierte Schiller von 1773 bis 1780 Jura und Medizin an der Hohen Karlsschule und las dort insgeheim Bücher, die dort verboten waren; die Philosophen Friedrich Wilhelm Josef Schelling (1775–1854), der am Tübinger Seminar studierte und einer der ersten Apostel der Naturphilosophie werden sollte und in einem globalen Erkenntniskonzept versuchte, die Natur und das Denken in seiner Philosophie zu verbinden, und Georg Friedrich Wilhelm Hegel (1770–1831), der Verfechter des systematischen Rationalismus, der Autor der Geschichte der Logik, geboren in Stuttgart, Schüler am Stadtgymnasium und an der Universität Tübingen; schließlich der Dichter und Philosoph Friedrich Hölderlin (1770– 1843), Jugendfreund von Schelling und Hegel in Tübingen. 20

Georges Cuvier und die Naturphilosophie Georges Cuvier verfolgte mit Interesse, aber auch mit Skepsis die Entwicklung der Naturphilosophie, deren Ideen mit der Veröffentlichung von Friedrich Wilhelm Josef Schellings (Abb. 7) Werk Ideen zu einer Philosophie der Natur (1797) formuliert wurden. Der Ausgangspunkt von Schellings Philosophie ist die Annahme, dass sowohl Natur als auch Geist Bestandteile des Absoluten sind und zusammen eine unauflösliche Einheit bilden. "Die Natur ist der sichtbare Geist, der Geist ist die unsichtbare Natur“: die Natur kann nicht verstanden werden nur durch rein mechanische oder physikalische Begriffe, sie kann nur über grundlegende geistige Gesetze verstanden werden, die von der Naturphilosophie aufgeklärt werden sollen. Über Naturphilosophie tauschte sich Cuvier insbesondere mit seinem Freund und Mentor Karl Friedrich Kielmeyer aus, der 1793 – lange, nachdem Cuvier Deutschland verlassen hatte – einen seiner seltenen Texte veröffentlichte: eine Rede mit dem Titel Ueber die Verhältnisse der Organischen Kräfte unter einander in der Reihe der verschiedenen Organisationen, die Gesetze und Folgen dieser Verhältnisse. Es ging Kielmeyer darum, die Wirkkräfte in der gesamten lebenden Natur zu definieren, ihre positiven und negativen Auswirkungen auf die Wechselwirkung von Phänomenen so genau wie möglich zu quantifizieren, um so zur Festlegung der Gesetze des Lebens zu kommen. Von dieser Rede war Schelling so beeindruckt, dass er darin eine neue Periode in der Geschichte des Wissens eröffnet sah. Die in dieser Rede geäußerten Vorstellungen hatte Kielmeyer sicherlich bereits 1786 im Kopf. Cuvier erwähnte später, dass er mit ihm über die Ideen der Naturphilosophie in Stuttgart gesprochen hatte. Er wurde von Kielmeyers Konzepten wohl beeinflusst, folgte ihm aber nicht im philosophischen Teil seiner Arbeit, was Kielmeyer bedauerte. Cuvier wollte sich auf objektives Wissen über Pflanzen, Tiere und die Natur beschränken. Er war sich der philosophischen Probleme bewusst, aber er weigerte sich, dieses oder ein anderes System zu übernehmen. Das galt auch für das auf Platon zurückgehende Konzept der Scala Naturae, der „Stufenleiter der Natur“ oder „Kette der Wesen“, ein Konzept der Naturphilosophie, das über viele Jahrhunderte das europäische Denken über die 21

Natur prägte (Lovejoy 1985). Dieser Idee zufolge können alle Gegenstände, die in der Natur vorkommen, in einer lückenlosen, hierarchisch organisierten Reihe, vom niedersten bis zum höchsten, angeordnet werden. Auch für Kielmeyer war die „Kette der Wesen“ eine wesentliche Voraussetzung bei der Bildung wissenschaftlicher Hypothesen, er wandte das Prinzip aber nur auf die Lebewesen an (Bach 2001). Cuvier hingegen zeigte wenig Begeisterung für dieses Konzept und war skeptisch gegenüber der Idee einer einheitlichen Skala.

Abb. 7: Friedrich Schelling (1775–1854), Gemälde von Joseph Stieler (1835).

Friedrich Schelling wurde schließlich auch von der Katastrophentheorie Cuviers beeinflusst, wenn er die Hypothese aufstellte, „daß der jetzige Zustand der organischen Natur von dem ursprünglichen höchst verschieden sey“, wovon auch „die Trümmer untergegangener Geschöpfe […] einen historischen Beweis“ abgeben würden (Bach 2001, 271). Am 29. April 1788 reiste Georges Cuvier aus Stuttgart ab und machte sich auf den Weg nach Mömpelgard. Die Reise von fast 350 Kilometern dauerte mit 22

der Kutsche wahrscheinlich sieben Tage und führte durch die Pforte von Pforzheim und über den Rhein bei Straßburg. Ende August 1788 verließ Cuvier schließlich Mömpelgard, um eine Stelle als Hauslehrer in der Normandie anzutreten. Zwischen 1788 und 1792 unterhielt Cuvier einen regen Briefwechsel mit seinen Freunden in Württemberg, allen voran Christoph Heinrich Pfaff, der mindestens 30 Briefe erhielt, aber auch mit Ernst Franz Ludwig Marschall von Bieberstein, Gottfried Wilhelm Hartmann, Johann Autenrieth und Karl Friedrich von Kielmeyer. In der Normandie – in der Nähe von Caen – entdeckte Cuvier zunächst einmal das Meer. Seine erste zoologische Arbeit handelte von den essbaren Krebstieren der französischen Küste. Sehr systematisch sammelte und erfasste er alle Tiere, die ihm in die Hände fielen. Dank seiner perfekten Griechischund Lateinkenntnisse überprüfte er, was die antiken Schriftsteller über sie geschrieben hatten. Seine von vielen Zeichnungen begleiteten Notizbücher lieferten das Material für spätere Publikationen. Cuviers großes Vorbild war Aristoteles, der als erster Zeichnungen zur Erläuterung anatomischer Beschreibungen machte und nach Cuviers Ansicht einer der besten Beobachter war, die jemals existierten. Besonders begeistert war Cuvier von der Geschichte der Tiere, dem Hauptwerk von Aristoteles. Während Cuvier weitab von intellektuellen und wissenschaftlichen Kreisen seine Forschungen betrieb, spitzte sich die politische Situation im Landesinneren zu. Es wurde die Aufwertung des Dritten Standes, der mehr als 95 % der Bevölkerung ausmachte, gegenüber Klerus und Adel gefordert. Aber auch in der Normandie wurde die Situation kritisch, da die Getreideernte im Jahr 1788 sehr schlecht ausgefallen war und darauf ein früher und harter Winter folgte, was in der Normandie durch die Nähe zum Meer sehr selten vorkam. Die Temperatur fiel bis 18º unter Null. Die schlechte Ernte von 1788 und der schreckliche Winter von 1789 führten zu einer großen Knappheit und Unzufriedenheit und waren auch eine der Ursachen der Französischen Revolution. In Caen gab es einen Aufstand, nachdem die traditionelle Kuchenverteilung durch Weizenspenden ersetzt werden sollte. Weitere Aufstände folgten in Reims, Marseille und Paris. Beim Sturm auf die Bastille im Juli 1789 war Cuvier beinahe 20 Jahre alt und kaufte zahlreiche Fische auf dem Markt von Caen, um sie zu zeichnen und zu beschreiben. Als er sich Sorgen um seine Eltern machte, erhielt er von seinem Vater die Nachricht, dass es in Mömpelgard noch ruhig war. 23

Nach seinen zahlreichen Studien an allen nur denkbaren Tiergruppen beschäftigte sich Cuvier mit der Frage, welche Merkmale sich am besten zur Differenzierung von Arten eignen würden. Er entschied sich für die Ernährungsorgane, die für das Überleben – damals sagte man für die Ökonomie – der Tiere essentiell waren. An seinen Freund Wilhelm Hartmann schrieb er einen langen Brief zum Thema Entomologie, in dem er auch darauf hinwies, dass Ernährung und Fortpflanzung die Hauptrolle im Verhalten der Tiere spielten; „die Ernährungsorgane müssen daher in Verbindung stehen mit der Ernährung, folglich mit dem Verhalten des Tiers, folglich mit seiner gesamten Organisation. Die Ernährungsorgane sind daher die wichtigsten Merkmale, auf denen die natürliche Klassifizierung der Tiere beruht. Q.E.D.“ [eigene Übersetzung aus dem Französischen] Mit dieser Schlussfolgerung, die er wie ein Mathematiker mit dem Kürzel Q.E.D. (quod erat demonstrandum, was zu beweisen war) abschloss, begründete Georges Cuvier die vergleichende Anatomie als Forschungsdisziplin – Vorlesungen zu diesem Thema hielt bereits 1785 Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) an der Universität Göttingen (Bach 2001).

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Georges Cuvier und Christoph Heinrich Pfaff

Abb. 8: Christoph Heinrich Pfaff (1773–1852), Porträtlithographie, um 1820. Christoph Heinrich Pfaff war vier Jahre jünger als Georges Cuvier, kam aber bereits 1782 im Alter von neun Jahren an die Hohe Karlsschule. Laut dem Kieler Anatomen und Zoologen Wilhelm Friedrich Georg Behn (1808–1878), der 1845 die Briefe von Cuvier an Pfaff aus den Jahren 1788 bis 1792 veröffentlichte, war Pfaff trotz des Altersunterschieds „unter allen Jugendgenossen“ Cuviers „der vetrauteste; das geht deutlich aus den Briefen hervor; dem einsamen auf seine Stuttgardter Freunde angewiesenen Cuvier gaben Pfaff's seltene Antworten schon von Anfang an zu so manchen Klagen Anlass“. Christoph Heinrich Pfaff selbst trug zur Veröffentlichung Behns Biographische Notizen über George Cuvier bei, wo er unter anderem folgendes schreibt:

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Es ist gewiss eben so lehrreich als anziehend, einen hoch hervorragenden Geist, einen Eroberer auf dem Gebiete der Intelligenz in seinem frühen geistigen Entwickelungsgange aufzufassen, die ersten Schritte, die diese Bahn bezeichneten, zu betrachten, und es darf als ein glücklicher Zufall erkannt werden, die reichen Blüthen und Früchte, die ein solcher Geist in seinen gereifteren Jahren entfaltete, bis zu den Keimen seines geistigen Frühlings verfolgen zu können. Unstreitig gehörte George Cuvier zu solchen hervorragenden Geistern; als ein solcher wird er in der wissenschaftlichen Welt einstimmig gefeiert, und wurde von dem geistreichen Royer Collard treffend als der „Napoleon der Intelligenz" bezeichnet. Bei ihm trifft nun dieser glückliche Zufall, den wir besprochen, auf eine höchst überraschende Weise ein. Die Sammlung von Briefen, die wir hier dem Drucke übergeben, stellt uns den Jüngling Cuvier dar, gleichsam im Anfange seiner glänzenden Laufbahn, alle die Erwartungen erweckend, die er so herrlich erfüllte; sie stellen Jedem, der als Naturforscher etwas Bedeutendes leisten will, ein lehrreiches Vorbild auf, wie jene schöne Zeit der Keime anzuwenden ist. Der jugendliche Geist zeigt sich uns in seinem ersten frischen Aufschwunge, und die ganze geistige Individualität, die in ihrer vollen Entfaltung für uns ein Gegenstand der Bewunderung wurde, offenbart sich hier schon in ihren charakteristischen Zügen. […] So führte mich denn ein günstiges Geschick am 15. April 1787 mit Cuvier, der gleichzeitig, mit mir zum Chevalier ernannt wurde, in diese nahe Verbindung. Diese schönere Jugendzeit, diese Zeit meiner ersten Schritte auf dem Gebiete der Naturwissenschaften, tritt freilich in den Hintergrund einer fernen Vergangenheit zurück, aber doch stehen noch viele Erinnerungen aus derselben lebhaft vor meiner Seele; vor Allem leuchtet mir noch das unvergängliche Bild Cuvier's als der Genius meines aufstrebenden Geistes freundlich entgegen. Cuvier studirte damals vorzugsweise die Kameralwissenschaften, die mit den Naturwissenschaften so innig verbunden sind; ich war noch in der philosophischen Lehrclasse, hatte mich aber bereits für die

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Arzneiwissenschaft entschieden, deren Studium ich ein Jahr später beginnen sollte. Gemeinschaftliche Studien und Sympathie der Gefühle knüpften bald das innigste Band zwischen uns, allein dieses schöne Verhältniss war nicht allein das der Freundschaft, sondern zugleich das eines Lehrers zum Schüler. Cuvier war freilich erst 18 Jahre alt, also nur 4 Jahre älter als ich, aber man weiss, wie gross der Unterschied von einigen Jahren in einer früheren Lebensperiode ist. Cuvier hatte ausserdem das Uebergewicht seines angeborenen Genies; er hatte schon grosse Fortschritte auf einer Bahn gemacht, auf welcher ich, ein angehender Jüngling von 14 Jahren, die ersten Schritte versuchte. Die klösterliche Abgeschiedenheit, in der wir in der Academie (wie sie kurz allgemein genannt wurde) lebten, war dem stillen Dienste der Musen in hohem Grade günstig, und steigerte jene schönen Gefühle der Freundschaft, denen die Jugend sich so gerne hingiebt. Mit den herrlichen Zügen des innern Menschen, die alle schon den grossen Mann, den Gesetzgeber in seiner Wissenschaft, den beinahe das ganze menschliche Wissen mit philosophischem Geiste umfassen den grossen Gelehrten ahnen liessen, stand damals die physische äussere Erscheinung Cuvier's in dem auffallendsten Contraste, so dass ich beim Wiedersehen nach 14 Jahren den alten Freund, der sich äusserlich gänzlich umgewandelt, und recht eigentlich von der Puppe zum Schmetterlinge verschönert hatte, kaum wieder erkannt hätte. Ganz seinen Studien hingegeben, vernachlässigte er Alles, was sich unmittelbar auf die Pflege des Körpers und äussere Eleganz bezog, und die Ungunst, mit welcher nach dem damaligen Anscheine Mutter Natur sein Aeusseres behandelt hatte, zu verhüllen im Stande gewesen wäre. Sein in hohem Grade mageres, mehr längliches als rundes blasses und durch Sommersprossen reichlich markirtes Gesicht war wie von einer dicken Mähne von rothen Haaren unordentlich umwallt, seine Physiognomie verrieth Ernst und selbst eine Art von Melancholie. An den gewöhnlichen jugendlichen Spielen nahm er keinen Theil; er erschien einigermassen wie ein Nachtwandler, der unberührt von der gewöhnlichen Umgebung und sie nicht beachtend, das geistige Auge nur für die Welt der Intelligenz offen hatte. Damit soll aber nicht behauptet werden, dass Cuvier für

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die ganze äussere Welt blind gewesen wäre, vielmehr zog ihn die Natur mit ihren Schätzen mächtig an, nur jene gesellige Welt mit ihren Ergötzlichkeiten liess ihn unberührt. Sein geistiger Hunger war nie zu stillen; neben seinen Berufsstudien, nämlich den eigentlichen Kameralwissenschaften, waren es zunächst Botanik und Zoologie und in dieser vorzüglich die Entomologie, die er mit Eifer trieb; aber auch Philosophie, Mathematik, Geschichte und schöne Literatur lagen in dem Kreise seiner rastlosen Beschäftigungen. Ein volles Jahr hindurch war ich so Zeuge seiner unermüdlichen, bis in die späte Nacht fort gesetzten Studien, und so wenig Grösse der Folianten als Zahl der Bände schreckten ihn von ihrer emsigen Lectüre ab. […] Zu den schönsten Erinnerungen dieses unvergesslichen Jahres von 1787–1788 gehört die eines naturhistorischen Vereins zur gemeinschaftlichen Cultur der Naturgeschichte in ihrem ganzen Umfange, durch Anlegung von Sammlungen, Ausarbeitung von Aufsätzen, und wechselseitige Mittheilung der gemachten Beobachtungen. Cuvier entwarf die Statuten dieses Vereins, er selbst, die Seele desselben, war unser Präsident und verschaffte den wöchentlichen Sitzungen desselben ihr vorzügliches Interesse durch seine gehaltvollen Vorträge. Die Anzahl der Theilnehmer war nur gering, um so grösser ihr Eifer. […] Noch jetzt erinnere ich mich lebhaft der grossen Gabe der Deutlichkeit und Anschaulichkeit, welche Cuvier besonders in den optischen Wissenschaften durch die instructivsten Zeichnungen seinem Unterrichte zu ertheilen wusste, und sich die charakteristischen Züge jenes grossen Lehrertalents offenbarten, das sich auf einem grösseren Schauplatze gleichsam vor einem europäischen Publicum so glänzend entfalten sollte. Doch die lebhafteste Erinnerung, die mir aus diesem Zeitpuncte geblieben ist, ist die an das entschiedenste Talent des Zeichnens und des getreuen Nachbildens aller Gegenstände der Natur und der Künste, die sein durchdringender Beobachtungsgeist in ihren kleinsten Zügen auffasste und künstlerisch nachzubilden wusste. Unerschöpflich war mein Freund im Ausmalen von Bilderchen aller Art, mit denen ich meine Schwestern erfreuen sollte; aber noch mehr übte

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sich sein grosses Talent an naturhistorischen Darstellungen, vorzüglich von Insekten, die seinen, unserm naturhistorischen Verein gewidmeten Aufsätzen einen besonderen Werth verliehen […] Zwischen diese erste nur zu flüchtige Periode der Jugendfreundschaft und mein Wiedersehen Cuvier's unter ganz veränderten Umständen fiel nun unser Briefwechsel, der sich an jene erste Periode unmittelbar anschloss. Eben darum tritt jenes Verhältniss des älteren Freundes und Lehrers noch sehr bestimmt in den Briefen hervor; es ist ein Verhältniss der Superiorität, welches sein Alter und sein höherer Geist von selbst herbeiführte und welchem ich mich gern fügte. Man wird sich also nicht wundern, wenn man in manchem dieser Briefe den ermahnenden und selbst den zurechtweisenden Ton eines Hofmeisters finden wird. Warme sentimentale Ergiessungen der Freundschaft, wie sie in einer gewissen Zeit besonders unter den deutschen poetischen Freunden Sitte waren, wird man hier vergeblich suchen. Zwischen Cuvier und mir fand von Anfang an mehr ein Austausch von Ideen als von Empfindungen statt; - aber trotz des Ernstes und einer äusseren Kälte war Cuvier's Temperament nichts weniger als pflegmatisch; sein inneres verborgenes Leben war der inneren Glut unseres Erdkörpers zu vergleichen, die sich gleichsam unter einer kalten Rinde verbirgt, aber ihr Dasein von Zeit zu Zeit durch Erderschütterungen und vulkanische Ausbrüche bekundet. So brachen auch aus Cuvier's tief verborgenem innern Leben Blitze hervor, man wurde durch die Aufwallungen einer Lebendigkeit überrascht, die man nach dem äusseren Scheine der Ruhe und Kälte nicht ahnte; auch dem Scherze war Cuvier in solchen Augenblicken nicht fremd, sein Scherz war immer geistreich, streifte aber leicht an das Sarkastische. Belege zu dieser Charakteristik wird man hie und da in den hier mitgetheilten Briefen finden.

Pfaff kommt dann zu der Epoche, in welcher der Briefwechsel begann. Es ist nicht zu verkennen, wie in den ersten Briefen Cuvier gleichsam noch mehr als Deutscher auftritt, wie er aber sich allmälig mehr seinen wahren Landsleuten identificirt. Höchst interessant ist es besonders,

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den Gang seiner geistigen Entwicklung zu verfolgen, und wie sein Aufenthalt in Fiquainville ihn mehr auf das Studium der Bewohner des Meeres hinlenkte, für deren erfolgreiche Untersuchung seine früheren Arbeiten im Fache der Entomologie eine so vortreffliche Vorübung gewesen waren. Ausser den eigentlich wissenschaftlichen Erörterungen ertheilen aber auch noch andere Mittheilungen diesen Briefen einen eigenthümlichen Werth; Cuvier war gerade zur Zeit der Geburtswehen der Revolution nach Frankreich gekommen. […] Man wird gewiss nicht ohne Interesse in den ersten Briefen manche Bemerkungen und Anekdoten lesen, die sich auf die damalige politische Lage Frankreichs beziehen. Als die Revolution ihren furchtbaren Fortschritt machte, gebot die Klugheit, behutsamer in diesen Mittheilungen zu sein, und die Schreckenszeit musste vollends unserer Correspondenz ein Ende machen.“

Danach geht Pfaff auf das Verhältnis Cuviers zu Kielmeyer ein, das seiner Ansicht nach nicht so eng war, wie es von französischen Biographen Cuviers gesehen wurde, die Cuvier als Schüler Kielmeyers bezeichneten. Pfaff weist zutreffend darauf hin, dass Kielmeyer, dieser „ausgezeichnete und wahrhaft geniale Naturforscher“, die „Lehrkanzel“ erst zwei Jahre nach Cuviers Abreise aus Stuttgart betrat. Erst Pfaff machte Cuvier in seinen Briefen „mit den damals neuen und originellen Ansichten Kielmeyer's bekannt“. Kielmeyer wurde damals von Zeitgenossen als neuer Platon, Cuvier als neuer Aristoteles gesehen, zumindest ersterem stimmt Pfaff jedoch nicht zu: Kielmeyer ist allerdings mehr als ein bloss systematischer Kopf, er ist ein wahrhaft philosophischer Geist, der aber weit entfernt, in der Bearbeitung der Wissenschaft allgemeine metaphysische Ideen zum Grunde zu legen, oder ihre Entwickelung als das höchste Ziel der Naturwissenschaft zu betrachten, […]. Wir kehren zu Cuvier zurück, dem allerdings der Zuname des neuen Aristoteles mehr gebührt, als der eines neuen Plato für Kielmeyer passend ist, und zwischen welchen auf keinen Fall ein Verhältniss bestand,

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wie es durch jene beiden Namen bezeichnet werden sollte. Cuvier übertraf ohne allen Zweifel Kielmeyer sehr weit durch das grosse Talent zur Beobachtung, das durch sein seltenes Talent zur Nachbildung so kräftig unterstützt wurde, durch die unermüdlichste Anwendung dieses Talents, der wir so viele neue Entdeckungen im Gebiete der Natur verdanken, durch eine viel umfassendere Gelehrsamkeit, und wohl auch durch strenge Logik, durch höchste Klarheit und Gründlichkeit, und in allen diesen Rücksichten mag er der Aristoteles unserer Zeit genannt werden.

Abb. 9: Georges Cuvier in jüngeren Jahren, Datum unbekannt.

Den Briefen Georges Cuviers (Abb. 9) ist zu entnehmen – und man spürt es auch an den fast flehentlichen Aufforderungen an Pfaff, schneller und regelmäßiger zu antworten –, dass ihm in der Normandie ein Gesprächspartner „auf Augenhöhe“ fehlt. Einer entweder tadelnden oder fast fehlenden Anrede folgen systematische Abhandlungen verschiedener Tier- und Pflanzengruppen, Berichte aus der Politik, die vor und während der Französischen Revolution 31

natürlich viel Stoff bieten, auch wenn Cuvier vieles nur aus der Ferne erlebt, und „Literaturkritiken“. Das Fehlen von adäquaten Ansprechpartnern drückt Cuvier in einem Brief vom 18. Februar 1790 drastisch aus: Du hast Gehülfen, die mir fehlen; Du kannst beständig Dich mit Deinem Studio beschäftigen und Du hast Freunde, die Dir Rath geben können. Ich dagegen bin von lauter Profanis umgeben, die ich nicht einmal meiden kann; wenn ich gerne ein Insekt, eine Pflanze studiren wollte, so muss ich in einen Cirkel von Frauenzimmern gehen und mich auf Bübereien besinnen, um sie zu amüsiren. Ich sage Bübereien, weil man in solchen Cirkeln (Politik ausgenommen) in der That nichts Anderes sagen kann, und Frauenzimmer, weil die meisten Männer keinen andern Namen verdienen.

Der meist sehr kühle, sachliche Stil von Cuvier wird nur selten von Emotionen unterbrochen wie in einem Brief aus dem Schloss Autiville im Pays de Caux in der oberen Normandie vom 17. November 1788: Meine Reise von Caen hieher war eine der angenehmsten, die ich je gemacht. Sieben Stunden davon machten wir am Meerstrande, der gerade von der Ebbe trocken gelassen worden war. Stelle Dir, wenn Du es kannst, ein schöneres Schauspiel vor. Von der einen Seite hatten wir die schönsten grünen Hügel, die gegen Abend von der niedergehenden Sonne vergoldet wurden; auf der andern das Meer, wo man nur einige Felsen spitzen und in blauer Entfernung die Thürme von Havre de Grace aus den Wellen hervorstehen sah. Auf dem Strande selbst waren eine Menge Vögel aller Art, die sich von den kleinen Thierchen, welche das Meer zurückgelassen hatte, nährten. Fischer aus benachbarten Dörfern machten diesen Thieren tausendfältigen Krieg mit Netzen, Spiegeln, Hacken, Stecken etc. - Nichts aber kam mir so schön vor als der Niedergang der Sonne. Mein Enthusiasmus könnte Dir lächerlich vorkommen; doch Du kannst Deiner Einbildung freien Lauf lassen, und ich bin gewiss, dass sie unmöglich schönere Gemählde schaffen kann.

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Seine Kritik der Literatur auch von ihm verehrter Autoren wie Linné und Buffon fällt bisweilen beißend aus: Büffon hat viel über allgemeine Naturgeschichte, aber da glänzt er meines Erachtens am allerwenigsten. Sein Haupttalent ist der Styl, die angenehme Art, wie er die kleinsten Sachen darzustellen weiss. In den allgemeinen Artikeln überlässt er sich zu sehr seiner Einbildung, und statt seinen Gegenstand mit einer philosophischen Kaltblütigkeit zu untersuchen, bauet er Hypothesen auf Hypothesen, die ihn und seinen Leser zuletzt auf gar Nichts führen. - Ein Haupterforderniss jeder Wissenschaft ist, dass Alles gründlich bewiesen werde.

Am schärfsten kritisiert Cuvier aber seinen Freund Pfaff, der ihm viel zu zögerlich und zu selten antwortet, zudem noch mit schwer lesbarer Schrift: Caen, den 8. Mai 1789. Liebster Pfaff. Ich sehe aus Deinem Briefe, dass Du weit mehr zu einem Advocaten getaugt hättest als zu einem Arzte. Ich habe Dir oft geschrieben, Du mir selten geantwortet, und dennoch weisst Du die Sache so zu wenden, dass ich mich selbst entschuldigen muss. Caen, den 18. Febr. 1790. Endlich habe ich, mein allerliebster Freund, Deinen Brief herausbuchstabirt (dies ist der einzige Deiner diesmaligen Handschrift zukommende Ausdruck). Mühe hat es freilich gekostet, aber die Freundschaftsversicherungen, die Du mir gleich anfangs machtest, gaben mir Herz zum Uebrigen. - Ehe ich Artikel vor Artikel zu antworten anfange, erlaube mir einige allgemeine Reflexionen, die mir letzthin bei Durchlesung der Collection Deiner Episteln in den Kopf kamen. Unsere Correspondenz soll vorzüglich naturhistorisch sein, und von meiner Seite war bloss Mangel an Materialien Schuld, wenn sie darin fehlte. Aber wie ist meistens bei Dir der Artikel Naturhistorica verfasst? „Wir haben wieder sehr schöne Insecten, nächstens nähere Nachricht;“ oder: „Ich habe einen prächtigen Sphegem, nächstens die Beschreibung " oder: „Von all diesem

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genauer im nächsten Briefe." Dieser nächste Brief kam und enthielt nicht ein Wort von allem Versprochenen, sondern nur neue Versprechungen, die eben so wenig erfüllt wurden. Ob das recht sei, lasse ich Deinem Gewissen zu entscheiden. Caen, den 22. Dec. 1790. Ich begreife in der That Dein Stillschweigen ganz und gar nicht, und schreibe diesen Brief, um mir eine Erklärung darüber auszubitten. Willst Du, dass unsere Correspondenz ein Ende habe, so schreibe mir nur einmal noch, um es mir zu melden, oder lass es mir durch Hartmann sagen. Deine vorigen Versprechungen liessen mich etwas ganz Anderes hoffen; hast Du sie schon alle vergessen? Hier ermahne ich Dich noch einmal daran, aber gewiss zum letztenmal, denn ich habe Dich schon zu oft anspornen müssen, und wenn Dir unser Briefwechsel zu leid ist, ich liebe Dich zu sehr, um Dir ein unangenehmes Geschäft aufzutragen. Caen, den 31. Dec. 1790. A propos: prosit das neue Jahr! Dein Brief vom 12. December kam um einen Tag zu spät, denn ich hatte Dir den Tag zuvor einen andern gesandt mit derben Vorwürfen über Dein Stillschweigen. Uebrigens nehme ich diese Vorwürfe nicht zurück, aber statt auf das gar nicht schreiben richte sie auf das zu spät schreiben, und denke nicht, Dich durch Deine Geschäfte gerechtfertigt zu haben; denn so viel Zeit ist nicht zu einem Briefe nöthig, dass man sie nicht in drei oder vier Monaten finden könnte. Sei also zufrieden, wenn ich Dir verzeihe. Deine letzte Epistel ist allerdings eine der interessantesten, die wir bisher gewechselt, und ich eile, sie zu beantworten, damit ich bald eine ähnliche erhalte, worauf ich gewiss ein doppeltes Recht habe, denn schon mehrmalen gab ich Dir zwei Briefe für einen. Fiquainville, Oktober 1791 Noch eine Bitte, ehe ich anfange: bessere Deine Handschrift, bald werde ich Deine Briefe nicht einmal errathen können; denn lesen kann man die Arbeit, die mir die zwei letzten schafften, eigentlich nicht heissen.

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Fiquainville, den 25. Jenner 1792. Wenn ich innerhalb drei Wochen keine Antwort auf meinen Brief vom Monat October 1791 erhalte, so werde ich denken, dass Du aufhören wollest mit mir zu correspondiren. Fiquainville, den 11. März 1792. Wenn ich Dir so schnell antworte, geschieht es gewiss nicht in Rücksicht Deiner, denn jedermann wird eingestehn, dass Du es nicht verdient hast, sondern ich fürchte nur, dass ein längeres Warten von meiner Seite Deinen Brief noch verspäten möchte, oder ist etwa Deine Schnelligkeit ratione inversa der meinigen? Was soll denn diese Trägheit, diese Indolenz sein, die Kielmeyer und Du immer im Munde habt, und zum Vorwande Eurer ewigen Verzögerungen angebt? Seit wann rühmt man sich solch einer Eigenschaft? Sollte die Trägheit ein Grundgesetz der Kielmeyer'schen Schule sein, wie ehemals die Stille in der Pythagorischen? Lerne wenigstens von mir, dass Trägheit und Freundschaft nicht zusammen gehen.

Ohne Ortsangabe und Datum; wahrscheinlich Ende Juli oder Anfang August 1792: Ich werde Dir alle Ermahnungen und Bitten zum schnell antworten diesmal ersparen; denn ich sehe, dass sie ebenso wenig auf Dich wirken, als Deine lächerlichen Entschuldigungen auf mich. Merke Dir indess, dass ich den so merkwürdigen und sonderbaren Umständen gar keinen Glauben beimesse, von welchen Du so viel sprichst; ich kenne das academische Leben viel zu gut, um nicht zu wissen, dass es gar keine Umstände geben kann, und wenn sie noch einmal so merkwürdig und sonderbar sind, die vier Monate lang hindern könnten, einen Brief zu schreiben, und wenn er geschrieben ist, auf die Post zu schicken; besonders einen Brief wie Dein letzter, zu dem gewiss nicht mehr als ein halber Tag nöthig war. Auf meinen gegenwärtigen erwarte ich vor Ende des Septembermonats eine Antwort; merke Dir diesen Zeitpunkt.

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Einmal, im Oktober 1791, bittet Cuvier Pfaff, der bis 1793 an der Hohen Karlsschule Medizin studierte, um medizinischen Rat:

W i c h t i g e B i t t e. Ich leide unendlich an der Brust; besonders fühle ich einen beinahe beständigen Schmerz am Rücken unter dem rechten Schulterblatt. Rathe mir doch, o gelehrter Arzt, was ich dawider thun soll; den hiesigen Medicinern traue ich nicht. Aus den Büchern komme ich nicht heraus, weil jeder anders spricht, und doch fühle ich, dass ich mit diesem innern Feinde nicht weit gehen kann. Seit einigen Tagen lebe ich so: esse kein Fleisch, trinke nur Milch und Wasser und alle Morgen eine Bouteille voll Schneckenbrühe mit Milch. Bisher hat es nichts verändert; es ist mir nicht einmal möglich, eine Stunde lang ununterbrochen zu arbeiten.

Noch kurz zum weiteren Werdegang von Christoph Heinrich Pfaff: Nach Aufenthalten in Kopenhagen und Heidenheim wurde Pfaff als außerordentlicher Professor für Medizin, vorerst ohne Gehalt, an die Universität Kiel berufen. Später erhielt er den Auftrag, Vorlesungen über Physik zu übernehmen, womit ein Gehalt von 300 Reichstalern und der Eintritt als ordentlicher Professor in die Philosophische Fakultät verbunden waren. Aufgrund des hohen Alters des Professors der Chemie in Kiel wurde ihm in Aussicht gestellt, nach dessen Tode diese Professur ebenfalls zu übernehmen. Da er sich dieser Aufgabe nicht gewachsen fühlte, ging er von Frühjahr bis Spätherbst 1801 nach Paris, um praktische Erfahrungen zu erwerben. Hierbei unterstützte ihn Georges Cuvier. Nach seiner Rückkehr übernahm er die Professur für Chemie und trat damit zugleich in die Medizinische Fakultät ein, der die Chemie damals zugerechnet wurde. Wohl schon 1806 bemerkte er ein Nachlassen seines Sehvermögens und lehnte daher Berufungen an andere Universitäten ab. 1845 musste er sein Lehramt aufgeben.

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1792 wurde schließlich auch Mömpelgard von den Revolutionswirren erfasst, der Statthalter des Stuttgarter Fürsten floh, und nachdem sich Württemberg 1793 auf die Seite der Feinde Frankreichs stellte, fielen französische Truppen in Mömpelgard ein. Montbéliard gehörte fortan zu Frankreich. Auch in Paris wurde die Situation wieder kritischer. Das Brot war knapp und teuer, was zu Unruhen führte. Ungefähr 500.000 Menschen wurden verhaftet, die Anführer wurden zum Tode verurteilt. Am 16.10.1793 wurde Königin Marie Antoinette hingerichtet. Cuvier lebte immer noch in der Normandie, konnte sich dort aber nicht mehr aus der Politik heraushalten. Im November wurde er gebeten, als Urkundsbeamter der kleinen Gemeinde Bec-aux-Cauchois zu dienen, da er dort einer der wenigen war, die lesen und schreiben konnten. Im Jahr darauf wurde er zum „Salpeteragenten“, der sich um die Gewinnung von Salpeter (Kaliumnitrat) für Schießpulver zu kümmern hatte. Der Mauersalpeter wurde aus dem Erdboden und von den Mauern von Ställen und Wohnhäusern gewonnen, wo er sich aus dem im Boden vorhandenen Kalk und den nitrathaltigen Exkrementen und Urin der Tiere und Menschen bildete. Cuvier setzte sich für den von ihm sehr bewunderten Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier (1743–1794) ein, der zum Tode verurteilt wurde. In einem Schreiben merkte Cuvier an, dass sich Lavoisier hauptsächlich mit teuren Experimenten zur Landwirtschaft befasst hätte, die er fünfzehn Jahre lang verfolgt und für die er mehr als 120.000 Pfund geopfert hatte. Aber das half nichts, das Revolutionsgericht sprach den berühmten Satz aus: "Die Republik braucht keine Gelehrten“. Lavoisier endete am 8. Mai 1794 auf der Guillotine. Am 5. März 1795 stellte die Gemeinde Bec-aux-Cauchois Georges Cuvier einen Pass aus, damit er die Region verlassen und nach Paris aufbrechen konnte. Das Dokument gab an, dass er französischer Staatsbürger war, 26 Jahre alt; seine Größe betrug fünf Fuß zwei Zoll (1,68 m); er hatte rotbraune Haare, blaue Augen, eine hohe Stirn, Adlernase, mittelgroßer Mund, mehrere fehlende Zähne im Oberkiefer, langes Kinn, hageres Gesicht; schließlich folgte die Aufforderung, Cuvier im Notfall Hilfe und Unterstützung zu gewähren. Kaum war Cuvier in Paris, begann seine unaufhaltsame Karriere, die den jungen, fast unbekannten Naturforscher am 24. April 1795 zum Mitglied des vorübergehenden Ausschusses der Künste, am 26. Mai zum Professor für Naturgeschichte an der Ecole Centrale von Paris, am 2. Juli 1795 zum Stellvertreter 37

auf dem Lehrstuhl für Tieranatomie im Museum für Naturgeschichte machte. Am 13. Dezember 1795 wurde er im Alter von 26 Jahren zum Mitglied der Sektion für Anatomie und Zoologie des neu gegründeten Institut National des Sciences et Arts. Der erste (und bisher leider einzige) Teil der Cuvier-Biografie von Philippe Taquet endet mit dem Satz: En neuf mois, un jeune provincial, désargenté, mais sûr de lui et de ses qualités de naturaliste, passe de l’ombre à la lumière. Georges Cuvier est en route pour la gloire.

[In neun Monaten gelangt ein junger Provinzler, mittellos, aber seiner selbst und seiner Qualitäten als Naturforscher sicher, vom Schatten ins Licht. Georges Cuvier ist auf dem Weg zum Ruhm].

Das Pariser Museum für Naturgeschichte Das Muséum national d’histoire naturelle (MNHN) wurde am 10. Juni 1793 gegründet. Zur Zeit seiner Gründung und in den Pionierjahren der Biologie war das Museum für lange Zeit die wichtigste Naturforschungs- und Bildungseinrichtung der Welt, deren Lehrstühle von den bedeutendsten Biologen und Naturwissenschaftlern besetzt waren. Die Ursprünge des Museums liegen im königlichen Heilpflanzengarten, dem Jardin royal des plantes médicinales, der von Ludwig XIII. (1601–1643) im Jahre 1635 initiiert wurde; die Verwaltung oblag den königlichen Ärzten. 1718 wurde die rein medizinische Funktion aufgehoben, so dass die Anlage nunmehr Jardin royal des plantes genannt wurden – nach der Revolution fiel dann auch das royal weg. Für einen Großteil des 18. Jahrhunderts (1739–1788) wurde der Garten von Georges-Louis Leclerc de Buffon geleitet, der durch seine Arbeit internationalen Ruhm und Prestige für die Einrichtung brachte.

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Abb. 10: Jardins des Plantes (Jardin du Roi), Tafel aus dem Musterbuch Plans raisonnés de toutes les espèces de jardins von Gabriel Thouin, 1820. Der Plan zeigt alle Gebäude, Gewächshäuser und Tiergehege jener Zeit. 39

Die ursprünglich königliche Institution überlebte bemerkenswerterweise die Französische Revolution. Im Juni 1793 wurden der Jardin des Plantes (Abb. 10) und das Cabinet d’histoire naturelle zum Muséum d’histoire naturelle zusammengefasst. Der Hauptzweck dieser Einrichtung war die Lehre der Naturgeschichte in ihrem vollen Umfang, insbesondere in Bezug auf die Förderung der Landwirtschaft, des Handels und der Kunst. Alle Angestellten des Museums trugen den Titel Professor und genossen die gleichen Rechte, der Posten des Direktors wurde abgeschafft. Zwölf Lehrstühle umfassten die gesamte Naturgeschichte: Mineralogie, allgemeine Chemie, chemische Verfahren, Museumsbotanik, botanische Exkursionen, Landwirtschaft, Naturgeschichte der Vierbeiner, Wale, Vögel, Reptilien, Fische, Insekten, Würmer und Mikroben, Anatomie des Menschen, Tieranatomie, Zoologie und Zeichnen nach der Natur. Georges Cuvier wurde im Juli 1795, wenige Monate nach seiner Ankunft in Paris, zum stellvertretenden Professor für Tieranatomie ernannt, fünf Jahre später wurde er Professor für Zoologie. Die jährlich wechselnde Leitung des Museums hatte George Cuvier viermal inne: 1808–1809, 1822–1823, 1826–1827 und 1830–1831.

Abb. 11: Galerie de Paléontologie et d’Anatomie Comparée, im Vordergrund eine Cuvier-Büste. 40

Als im März 1814 Paris von russischen und preußischen Truppen besetzt wurde, begannen marodierende Truppenteile den Jardin des plantes zu zerstören. Durch die Unterstützung von Alexander von Humboldt, der dem preußischen König Friedrich Wilhelm III. als Begleiter diente, konnten die wissenschaftlichen Einrichtungen und Sammlungen vor den Raubzügen der Besatzungstruppen gerettet werden. Heute ist das MNHM ein Naturkundemuseum sowie eine Forschungseinrichtung für Bio- und Geowissenschaften. Seine Fachgebiete umfassen Zoologie, Botanik, Geologie und Paläontologie, einschließlich abgeleiteter Disziplinen wie die Ökologie. Seine wissenschaftlichen Sammlungen – mit dem weltweit drittgrößten Gesamtbestand nach den Naturkundemuseen in Washington und London – umfassen unter anderem 40 Millionen Insekten, 8 Millionen Blütenpflanzen und 7 Millionen sonstige Pflanzen, Algen und Pilze (Kryptogamen). Rund um den Jardin des Plantes, zu dem auch ein Tiergarten (Ménagerie du Jardin des Plantes) gehört, gruppieren sich die Wirkungsstätten des Institutes, darunter mehrere Ausstellungsgebäude wie die Grande Galerie de l’Évolution und die Galerie de Paléontologie et d’Anatomie Comparée (Abb. 11).

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Abb. 12: An der Nordwestecke des Jardin des Plantes steht an der Einmündung der Rue Cuvier in die Rue Linné die Fontaine Cuvier, die 1840 zu Ehren des 1832 verstorbenen Georges Cuvier errichtet wurde. Die Statue ist eine Allegorie der Naturgeschichte, auf der Tafel in ihrer linken Hand stand (inzwischen verwittert) Cuviers Leitspruch „Rerum cognoscere causas“ (den Dingen auf den Grund gehen) nach einem Vers von Vergil.

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Für den weiteren Verlauf der wissenschaftlichen Karriere Cuviers wurde insbesondere das Werk von Martin Rudwick (1997) herangezogen: 1795 wurde die politische Situation in Paris stabiler, die Bedingungen für die wissenschaftliche Arbeit waren wieder besser. Während der radikalsten und gewalttätigsten Phase der Revolution wurden viele der alten wissenschaftlichen Institutionen abgeschafft, viele der einflussreichsten Gelehrten flohen aus Paris. Einige, wie der berühmte Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier, endeten auf der Guillotine. Ein weiterer Staatsstreich hatte Frankreich eine moderatere Regierung gegeben, ein sogenanntes Direktorium, das für die Wissenschaften günstiger war als alle Regierungen seit Beginn der Revolution. Auch eine bescheidene Position am Museum platzierte Cuvier in das damalige Weltzentrum der Naturgeschichte, und seine umfangreichen Sammlungen wurden sofort zu seiner wichtigsten Ressource. Vor Ende des Jahres 1795 zeigte seine Vorlesung zur vergleichenden Anatomie den Pariser Gelehrten, dass er ein Neuankömmling war, mit dem man rechnen musste. Cuviers Aufstieg zur Prominenz in der Pariser Wissenschaft war in den folgenden Jahren kometenhaft, aber nicht ohne Aufwand. Wie jede wissenschaftliche Karriere in dieser Zeit benötigte sie die sorgfältige Bildung von Netzwerken und diskrete Kampagnen gegen Rivalen. Ein Jahr nach seiner Ankunft in Paris reichte Cuvier seine erste Veröffentlichung ein. Darin präsentierte er seine Schlüsse über die beiden lebenden Elefanten-Arten und das Mammut als Triumph seiner eigenen peinlich genauen Methoden des osteologischen Vergleichs. Er betonte, dass sein anatomischer Ansatz den traditionellen zoologischen Schwerpunkt der äußerlich sichtbaren Merkmale der Tiere nur bereichern und vertiefen könne. Dies setzte seine Arbeit taktvoll in Beziehung zu der eines jüngeren Kollegen, dem Zoologie-Professor Étienne Geoffroy Saint-Hilaire (1772–1844), der ihm geholfen hatte, eine Anstellung am Museum zu bekommen. Cuvier demonstrierte mit seiner Arbeit, dass die vergleichende Anatomie zum zusätzlichen, aber notwendigen Werkzeug werden könnte, um die „Theorie der Erde“ oder Geologie auf weniger spekulative Fundamente zu stellen. Cuvier behauptete – wenn auch ohne exakte Argumente – dass es Hinweise auf eine frühere, vormenschliche Welt gibt, die „durch eine Art Katastrophe zerstört wurde.“ Dies war ein Thema, das die geologischen Theorien seines restlichen Lebens durchdringen sollte. Obwohl er nicht erklärte, warum das 43

Ereignis plötzlich auftreten musste, deutete er an, dass es nicht einmalig war und dass es sich in Zukunft wiederholen könnte.

Georges Cuvier und die Paläontologie Wie der britische Paläontologe und Wissenschaftshistoriker Martin Rudwick (*1932) in seinem Buch Georges Cuvier, Fossil Bones, and Geological Catastrophes (fossile Knochen und Geologische Katastrophen) betont, liegt Cuviers nachhaltiges Vermächtnis für die Geologie weniger in seiner Katastrophentheorie, als in seiner gründlichen und akribischen Analyse der Fossilien. Er war damit der erste wissenschaftlich arbeitende Paläontologe. In seiner Veröffentlichung über die Elefanten erwähnte Cuvier eine bisher nicht beschriebene fossile Art und widmete ihr wenig später eine gesonderte Publikation. Normalerweise findet man fossile Knochen in wildem Durcheinander, aber im Jahr 1789 fand man in der Nähe von Buenos Aires eine fast komplette Kollektion von Knochen, die eindeutig von einem einzelnen Individuum von stattlicher Größe stammten. Man brachte den Fund ins Königliche Museum von Madrid, wo ein Konservator die wichtigsten Knochen und das rekonstruierte Skelett zeichnete. 1796 besichtigte ein französischer Beamter das Skelett und erwarb einen Satz der unveröffentlichten Tafeln. Diese wurden ans Museum in Paris geschickt, und Cuvier sollte über sie berichten. In seiner Publikation stellte Cuvier fest, dass das Tier zu den Edentata (Zahnarme, zu denen heute die Ameisenbären und Faultiere zählen) gehört, und nannte es Megatherium („Riesentier“, Abb. 13). Aus der Tatsache, dass es dieses Tier gegenwärtig nicht mehr gab, schloss er, dass es ausgestorben sein musste.

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Abb. 13: Megatherium, Kupferstich aus: Georges Cuvier, Le règne animal distribué d’après son organisation. 45

Wenig später erklärte Cuvier seine Absicht, die vergleichende Anatomie aller fossilen Säugetiere zu untersuchen, und zählte nicht weniger als zwölf verschiedene Arten auf, an denen er bereits zu arbeiten begonnen hatte. Darunter war auch das rätselhafte „Tier von Ohio“, das bereits mehr als ein halbes Jahrhundert bekannt war und im Brennpunkt einer fortlaufenden Debatte unter Naturforschern der gesamten wissenschaftlichen Welt stand. Cuvier lieferte eine maßgebliche Analyse seiner Anatomie und stellte fest, dass es zu einer eigenen Dickhäuter-Gattung gehörte und weiter von den lebenden Elefanten entfernt war als das Mammut. Er nannte es Mastodon (Abb. 14) und unterschied mehrere Arten.

Abb. 14: Künstlerische Lebendrekonstruktion eines Amerikanischen Mastodons (Mammut americanum) von Charles R. Knight Cuviers wichtigste Veröffentlichungen behandelten jedoch die Fossilien in der Umgebung von Paris. Ein relativ kleines Säugetier erkannte Cuvier anhand seines Skeletts und speziell seiner Zähne als Beuteltier. Falls dieser Schluss zutraf, würde das Cuviers Hypothese des Aussterbens unterstützen, da es Beuteltiere nur noch in Australien und Amerika gab. So inszenierte Cuvier einen riskanten Test der anatomischen Prinzipien, auf die sich seine Forschung 46

stützte. Er opferte einen Teil des einzigen gefundenen Fossils, um die speziellen “Beutelknochen” zu finden, die bei Beuteltieren den Beutel stützen. In der Gegenwart von Zeugen, die seine Vorhersage bestätigen konnten, fand er tatsächlich die entscheidenden Knochen. Das war eine spektakuläre Bestätigung seiner zoologischen Prinzipien. Nach weiteren Untersuchungen stellte Cuvier das Beuteltier zur Gattung der Opossums. Cuviers äußerst erfolgreiche anatomische Vorhersage ließ ihn kühn behaupten, dass seine eigene Wissenschaft die gleiche quasi-mathematischen Gewissheit erreichen könne wie Newtons Himmelsmechanik oder Lavoisiers Chemie. Immer wieder betonte Cuvier auch, dass er die „Antiquitäten der Natur“ untersuchen würde wie ein Altertumsforscher – oder in heutiger Zeit ein Archäologe – die „Monumente“ vergangener Zivilisationen.

Napoleon Bonaparte, der sich im November 1799 durch einen Staatsstreich zum ersten Konsul erklärt hatte und damit faktisch zum Diktator wurde, hielt sich für den Patron aller Wissenschaften und machte sich zum Präsidenten des 1795 gegründeten Institut National des Sciences et Arts. Dadurch lernte Cuvier Napoleon persönlich kennen, was ihm ohne Zweifel bei seiner späteren Karriere in der staatlichen Verwaltung half. Im selben Jahr wurde Cuvier als Nachfolger von Louis Jean-Marie Daubenton (1716–1799) in die angesehene Position des Professors für Naturgeschichte im Collège de France berufen; vorher hatte Napoleon Cuviers jüngeren Kollegen Geoffroy Saint-Hilaire auf seine militärische Expedition nach Ägypten mitgenommen. Dies überließ Cuvier in dieser Zeit die beinahe unangefochtene Kontrolle der Wirbeltierzoologie im Museum. Von der Kompetenz seines älteren Kollegen Barthélemy Faujas de Saint-Fond (1741–1819), der als Professor für Geologie ebenfalls über fossile Vertebraten publizierte, hielt Cuvier nicht viel. Cuvier wurde ebenfalls zur Expedition nach Ägypten eingeladen, lehnte dies jedoch ab. Damit hatte er sich letztendlich dafür entschieden, seine Karriere als Naturforscher eher auf die Arbeit im Museum als auf Felduntersuchungen zu stützen. Das war eine kluge Entscheidung, da er sich bereits im „Zentrum der Wissenschaft“ wähnte. Jedenfalls wurde er unter den Gelehrten in ganz Europa wohl bekannt. 47

Frühere Versuche, aus der offensichtlichen Unordnung und Konfusion eine Erdgeschichte zu entwerfen, zum Beispiel der von Georges-Louis Leclerc de Buffon, wurden von Cuvier als reine Phantasien abgestempelt. Sie wurden von Cuvier den Naturforschern des späten 18. Jahrhunderts gegenübergestellt, die solch „spekulative Systeme“ zurückgewiesen hatten und sorgfältige Feldarbeit bevorzugten: nur ein grundlegendes Verständnis der gegenwärtigen Welt konnte zu einem zuverlässigen Wissen über die Vergangenheit führen, so Cuvier. Er reklamierte, dass die großen Säugetiere, die vor diesem Ereignis lebten – der Gegenstand seiner eigenen Forschung – das als Einzige schlüssig belegen konnten, da deren lebende Gegenstücke besser bekannt waren als jede andere Tiergruppe. Seine wichtigste Schlussfolgerung war jedoch, dass alle Fossilien, die er mit Sicherheit identifizieren konnte, sich von heutigen Formen unterschieden und daher „verlorene“ oder ausgestorbene Arten (espèces perdus) waren. Cuvier erkannte, dass dies einige Fragen aufwarf: wie waren die fossilen Arten „zerstört“ worden und wie wurden ihre Nachfolger „geformt“? In der Regel lehnte er es ab, über solche Dinge zu spekulieren. Insbesondere die Entstehung neuer Arten verwies er an die „Metaphysik“ und schloss sie damit aus dem wissenschaftlichen Bereich der „Physik“ aus. Im Jahr 1801 erhielt Georges Cuvier Besuch von Christoph Heinrich Pfaff, der seine Eindrücke in den „Biographischen Notizen“ (Behn 1845) folgendermaßen schildert: Bereits aber fing nun sein Name an, Celebrität zu gewinnen, und er knüpfte frühzeitig diesen Namen an den Ruhm des ersten Consuls; denn kaum hatte dieser [Napoleon] das Heft der Regierung in die Hände genommen, als von ihm aus eine Aufforderung an alle Regierungen Europa's erging, Cuvier in der Ausführung jenes grossen Werkes, das seinen Namen am sichersten auf die entfernteste Nachwelt bringen wird, dessen Idee schon ganz bei ihm gereift war, in der Ausführung seines Werkes über die fossilen Knochen zu unterstützen. Man kann sich denken, […] mit welchen Vorempfindungen ich im April 1801 die Reise nach Paris antrat; 13 Jahre waren nun vorübergangen, seit ich meinen Freund und Lehrer zuletzt gesehen hatte. Ich erwartete allerdings eine grosse Veränderung an demselben, namentlich insbesondere in der Richtung, die durch den längern Aufenthalt

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neben seinen eigentlichen Landsleuten und durch den vielseitigen Verkehr mit der ersten Classe der Gesellschaft in einer so langen Reihe von Jahren bewirkt werden musste, und doch war ich bei dieser Erwartung immer noch durch die Grösse dieser Veränderung überrascht, so ausserordentlich war der Contrast mit dem Bilde des 19jährigen Jünglings, das meiner Phantasie so lebhaft noch vorschwebte. Es war die anmuthigste Umwandlung, die stattgefunden hatte, und ich möchte wohl behaupten, dass dieser Zeitpunct derjenige der schönsten Blüthe Cuvier's war, der nun zum edelsten Manne gereift war. Schon seine äussere Gestalt war gänzlich verändert; man konnte ihn einen schönen Mann jetzt nennen. Statt der Mähne umlockten nun im richtigsten Ebenmasse abgeschnittene Haare sein volleres Gesicht, dessen Farbe nun viel gesunder war; sein ganzer Ausdruck war heiter und lebensfroh, alle seine Bewegungen lebhafter, und wenn gleich ein leichter Zug von Wehmuth aus seinem Blicke nicht ganz verschwunden war, der stets charakteristisch für ihn blieb, so schwand doch dieser leichte Schleier in der Regel vor der Sonne des kräftigen und heitern Genius, der aus seinen Augen strahlte. Auch sein Anzug war gewählt, ohne modische Aefferei, kurz Alles stimmte zur Darstellung eines ächten französischen Gelehrten zusammen. […] Das grossartige Institut des Jardin des Plantes, in welchem besondere hochberühmte Lehrer für jeden Zweig der Naturgeschichte, für Geognosie, Geologie, für theoretische und technische Chemie angestellt waren, mit welchem die grossen National-Museen in Verbindung standen, hatte sich dieser Pflege und Aufmunterung in einem besonderen Grade zu erfreuen. Hier fand sich nun auch die nicht hoch genug zu stellende Werkstätte der unsterblichen Productionen des Geistes, des unermüdlichen Fleisses und des wissenschaftlichen Talentes von George Cuvier. Als eine neue Schöpfung bildete sich in wenigen Jahren unter seiner Leitung das Cabinet der vergleichenden Anatomie. Es fehlte jedoch gänzlich noch jener äusserliche Glanz, durch welchen ich 30 Jahre später geblendet werden sollte. Cuvier's Wohnung bestand in einem wenig imposanten Gebäude, das man eher für einen Pavillon des Gartens ansehen konnte; das untere Stockwerk diente zur Haus-

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haltung; in der zweiten Etage bildeten ein Salon und ein kleiner Esssaal das Local für das gesellschaftliche Leben, und im dritten Stocke, der eine Mansarde vorstellte, waren seine Arbeitszimmer. Für die reiche Sammlung der vergleichenden Anatomie waren Scheunen, die an das Wohngebäude angrenzten, eingeräumt worden, und die äussere Ausstattung der Räume hatte nichts Imposantes, ja entbehrte sogar der nöthigen Helligkeit. Auch Cuvier's Haushaltung war damals noch höchst einfach, eine einzige Haushälterin besorgte die einfache Wirthschaft, kein Bedienter störte die gleichsam noch republikanische Einfachheit, und Cuvier befand sich in jener glücklichen Lage, ganz den Wissenschaften leben zu können, ohne durch einen nach einem erborgten Glanze strebenden Ehrgeiz auf eine diesem heiligen Dienste fremde Laufbahn verlockt zu werden. Cuvier war damals gleichsam noch ein halber Deutscher; wenn er gleich die Leichtigkeit in der deutschen Unterhaltung verloren hatte, so liebte er doch die deutsche Unterhaltung mit mir.

Der Frieden von Amiens von 1802 machte England erstmals seit vielen Jahren für Franzosen wieder zugänglich, und Cuvier plante einen Besuch in London, um die reichen englischen Sammlungen zu begutachten. Kurz bevor er Paris verließ, wurde er nach dem Tod von Jean-Claude Mertrud (1728–1802) zum ordentlichen Professor des Instituts; er nutzte die Gelegenheit und benannte den Lehrstuhl in „Vergleichende Anatomie“ um. Im folgenden Jahr (1803) heiratete Cuvier im Alter von 34 Jahren die Witwe eines Revolutionsopfers und kam so zu einer Familie mit 4 Kindern. Mittlerweile hatten Cuvier und seine Kollegen mit den Annales du Muséum ihr eigenes Publikationsorgan, einschließlich der für die Naturgeschichte unentbehrlichen Möglichkeit zu gravierten Illustrationen. Im ersten Band (1802) berichteten Cuvier und Geoffrey zusammen mit ihrem älteren Kollegen JeanBaptiste de Lamarck (1744–1829, Abb. 15), dem Professor für „Insekten und Würmer“ (d.h. Zoologie der Wirbellosen) gemeinsam, dass die mumifizierten Tiere, die auf der ägyptischen Expedition in alten Gräbern gefunden wurden, alle zu modernen Arten gehörten. Die mögliche Bedeutung dieser Tatsache im Zusammenhang mit „Transformationstheorien“ (Evolution) wurde nicht erwähnt – wahrscheinlich, weil die drei Autoren nicht darin übereinstimmten. 50

Abb.15: Denkmal für Jean-Baptiste de Lamarck (1744–1829), Fondateur de la Doctrine de l’Evolution (Begründer der Evolutionslehre), im Jardin des Plantes (Paris) von Léon Faget, 1908. 1805 hielt Cuvier sowohl am Athenaeum als auch am Collège de France Vorlesungen, die erstmalig den Titel „Geologie“ trugen. Diese Vorlesungen rückten ihn mehr als je zuvor ins öffentliche Rampenlicht, er wurde zu einem der prominentesten Wissenschaftler von Paris. Cuvier beabsichtigte, seine Geologie im Gegensatz zu den meisten seiner Vorgänger zu einer auf Fossilien beruhenden Wissenschaft zu machen, da diese die Veränderungen belegten, denen die Erde unterzogen war. Cuvier legte dar (1) dass in den ältesten Gesteinen Fossilien fehlten, das Leben also nicht ewig existiert hatte; (2) dass nicht nur Festland aus dem Meer aufgestiegen war, sondern dass das Meer auch auf das Festland vordrang; und (3) dass es eine Abfolge verschiedener Lebensformen gab. 51

Er folgerte, dass einige dieser Veränderungen plötzlich eintraten und nicht von einer physikalischen Kraft verursacht wurden, die aktuell wirksam war (siehe Aktualismus).

Georges Cuvier und die Evolution Als Cuvier in Paris ankam, kursierten dort wissenschaftlich nicht belegte Vorstellungen, dass sich eine Art aus einer anderen entwickeln könne. Das, was wir heute als Evolution (Entwicklung) bezeichnen, wurde damals Transformation (Umformung) genannt. Für Cuvier gab es keinerlei Beweise, die eine solche Transformation unterstützten. Im Gegenteil: menschliche und tierische Mumien zeigten, dass es seit dem alten Ägypten keine organischen Veränderungen gegeben hatte. Es gab auch keinen Beleg für einen graduellen Wandel zwischen fossilen und heutigen Tierarten, jedoch zahlreiche Belege für das Aussterben von Arten. Insbesondere waren keinerlei menschliche Fossilien bekannt. Bereits in seiner Arbeit über die Elefanten lehnte Cuvier fast beiläufig jede Andeutung ab, dass die Unterschiede mit der Transformation eine Art in andere zusammenhängen könnten und betonte, dass es das Konzept der Taxonomie untergraben würde, wenn man nicht von einer Stabilität der Arten ausging. Cuvier legte wie vor ihm Buffon und der Schweizer Geologe und Meteorologe Jean-André Deluc (1727–1817) dar, dass die Erdgeschichte eine Folge von sechs Perioden war und setzte diese Abfolge mit den sechs „Schöpfungstagen“ der Genesis gleich. Dies war aber sicher nicht vergleichbar mit Delucs glühendem Eintreten für die Parallele zwischen der Geologie und der Schöpfungsgeschichte; es basierte lediglich auf Cuviers Beobachtung, dass fossile Fische immer unten gefunden werden und Säugetiere darüber, niemals fand man jedoch fossile Menschen. Thesen zur Transformation bzw. Evolution der Arten waren – sowohl für ihre Befürworter als auch für ihre Kritiker – unmittelbar verbunden mit dem philosophischen „Materialismus“ und daher mit dem Atheismus. Derartige Spekulationen zirkulierten seit einigen Jahren in Paris, aber konnten von Gelehrten wie Cuvier leicht zurückgewiesen werden, da sie nicht dem Stand 52

der Wissenschaft entsprachen. 1800 wurden solche „transformistischen“ Ansichten jedoch von Cuviers Kollegen Jean-Baptiste de Lamarck in einer Vorlesung im Museum publik gemacht, was die Brisanz aus der Sicht von Cuvier erhöhte. Obwohl Lamarck ein ausgezeichneter Botaniker und Systematiker war, betrachtete er sich vor allem als breitgefächerten „PhilosophenNaturforscher“. Dies stand Cuviers moderner und „disziplinärer“ Konzeption wissenschaftlicher Arbeit diametral entgegen. Cuvier stand zwischen zwei gleichermaßen unattraktiven Fraktionen: Er musste dem allgemeinen Publikum zeigen, dass die neue Wissenschaft der Geologie nicht notwendigerweise antireligiös war, weder im Ton noch in den Schlussfolgerungen. Aber er muss ebenso erkannt haben, dass die Geologie mit einer buchstabengetreuen biblischen Interpretation, wie sie von einigen religiös konservativen Autoren dieser Zeit propagiert wurde, nicht kompatibel war. Cuvier brachte Lamarck ins Spiel, indem er ihn geschickt als überaus sorgfältigen Taxonomen lobte, während er sein spekulatives Gebäude eines „transformistischen Systems“ verurteilte. Die Arbeit seines älteren Kollegen über fossile Mollusken in der Umgebung von Paris hatten gezeigt, dass sehr wenige von lebenden Formen stammten, was Cuviers eigene Folgerungen unterstützte. Vor allem regte er ein Forschungsprogramm zur Geologie an, das sich der Rolle der Fossilien in den geologischen Schichten widmen sollte. Cuvier befasste sich viel mehr mit dem Aussterben von Arten als mit ihrer Herkunft. Jede Art war für ihn eine derart perfekt angepasste „tierische Maschine“, dass nur ein katastrophales Ereignis es zum Aussterben bringen konnte. Gab es graduelle Änderungen, würde eine perfekt angepasste Art einfach wandern und anderswo überleben. Die Möglichkeit, dass eine Art allmählich aussterben konnte, schien Cuvier nicht in Betracht zu ziehen. Wie seine Texte wiederholt zeigen, starben Arten für Cuvier nicht aus [frz. éteints], sondern wurden zerstört [frz. détruits] oder ausgelöscht [frz. anéantis].

Cuviers Ausflug in den Bereich populärer Präsentation wurde im Jahr nach seinen ersten Vorlesungen über Geologie ausgebaut: die Galerien des Museums wurden erstmalig seit dem Höhepunkt der Revolution für das Publikum geöffnet, und seine eigene neue Galerie der vergleichenden Anatomie machte die Konzeption seiner Wissenschaft konkret und sichtbar. 53

Anfang 1808 präsentierte das Institut Napoleon einen großen zusammenfassenden Bericht über den Fortschritt der Wissenschaften seit Beginn der Revolution 1789. Die Verantwortung für den naturwissenschaftlichen Teil des Berichts (es gab noch einen „mathematischen“) machte Cuvier zumindest in diesem Moment der Geschichte zu einem der weltweit bekanntesten Wissenschaftler. Obwohl der Bericht in der Absicht erstellt wurde, dem französischen Imperium, das Napoleon gerade durch Eroberungen auf fast ganz Westeuropa ausdehnte, kulturellen Ruhm zu bringen, wiesen die Autoren ausdrücklich jeden engen Chauvinismus zurück und richteten ihren Überblick über die Wissenschaften an eine internationale Leserschaft. Im Jahr 1808 gliederte Cuvier gemeinsam mit Alexandre Brongniart (1770–1847) die geologischen Schichten im Pariser Becken (älteres Känozoikum bzw. Tertiär). Dabei untersuchten sie die Fossilien in den einzelnen Erdschichten. Sie entdeckten eine Abfolge von insgesamt sieben fossilen Faunen, wobei jede Schicht ihre eigene Fauna aufwies. Dabei wechselten sich Süßwasser- und Meeresfauna ab. Cuvier konnte auch zeigen, dass die fossilen Wirbeltiere wie das Mammut aus geologischer Sicht sehr jung waren, aber dennoch vor dem Menschen auftraten. Danach gingen die Originalarbeiten von Cuvier deutlich zurück, unter anderem, da er auf eine bedeutende administrative Position im Bereich der höheren Bildung berufen wurde. In seiner Verantwortung lag es, die Eingliederung der Universitäten in den neuen Territorien von Napoleons Imperium in das neu gestaltete französische System zu beaufsichtigen. Um seine nahezu abgeschlossenen Forschungen an Fossilien weiter zu verbreiten, fügte Cuvier seine Veröffentlichungen 1812 in drei Bänden mit dem Titel Recherches sur les ossemens fossiles (Untersuchungen zu fossilen Knochen) zusammen. Diesen Bänden stellte er einen Sonderband voran, der zum einen eine überarbeitete Monographie der Geologie der Region um Paris enthielt, zum anderen aber auch einen neu verfassten umfangreichen Discours préliminaire (einleitende Rede), der die Publikation in einen Gesamtzusammenhang stellen sollte. Möglicherweise hatte der Discours auch den Zweck, das Werk attraktiver für Fossiliensammler und andere Amateure zu machen – er beruhte auf Cuviers früheren, an ein allgemeines Publikum gerichteten Vorlesungen. Er galt bei Cuviers Zeitgenossen als Meisterwerk wissenschaftlicher Prosa und wurde während des 19. Jahrhunderts immer 54

wieder neu gedruckt. Cuvier widmete sein Werk dem Mathematiker, Physiker und Astronomen Pierre-Simon Laplace (1749–1827), wohl um zu betonen, dass er eine vergleichbare wissenschaftliche Präzision anstrebte. Dem Discours vorangestellt war ein Vorwort, in dem Cuvier unter anderem darauf eingeht, dass sich sogar die jüngsten Fossilien deutlich von jeder lebenden Art unterschieden. Er beklagte sich darüber, dass es noch immer Naturforscher gab, die nicht erkannt hatten, dass keine graduelle Änderung die fossilen Arten in die heute lebenden umgewandelt haben konnte. Damit meinte er insbesondere seinen Museumskollegen Jean-Baptiste de Lamarck, der 1809 sein Hauptwerk Philosophie zoologique veröffentlicht hatte, das der ausführlichen Darlegung seiner transformistischen Vorstellung vom Leben gewidmet war. In der Einleitung zu seinem Discours benutzte Cuvier wieder die bereits oben erwähnte Metapher des „Altertumsforschers“ und zeigte damit die Einstellung zu seinem Untersuchungsmaterial: In meinem Werke über die fossilen Knochen versuchte ich einen kaum betretenen Weg einzuschlagen und eine Art von Denkmälern bekannt zu machen, welche fast immer vernachläßiget worden sind. Als Alterthumsforscher ganz neuer Art mußte ich lernen, diese Denkmäler zu entziffern und zu ergänzen; die einzelnen Fragmente zu erkennen und in ihrer ursprünglichen Ordnung zusammen zu setzen; die vormaligen Geschöpfe, denen jene Theile angehörten, daraus darzustellen; diese also wieder, nach ihren Kennzeichen und Verhältnissen, gleichsam von Neuem zu schaffen; sie endlich mit den lebenden der Jetztwelt zu vergleichen.(Cuvier/Nöggerath 1822)

So wie Gelehrte in dieser Zeit um die Entzifferung der alten HieroglyphenInschriften kämpften, die Napoleons Expedition aus Ägypten mitgebracht hatte, so musste Cuvier entziffern, was seine fossilen Knochen bedeuteten. Ihre Bedeutung erklärte sich nicht von selbst; sie mussten sozusagen in der Sprache der vergleichenden Anatomie „gelesen“ werden – einer Sprache, die wie jede andere gelernt werden musste. Um die Bedeutung des Themas zum Ausdruck zu bringen, trug Cuvier ziemlich dick auf:

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Aber nach Anaxagoras kamen Copernicus und Kepler, sie bahnten für Newton den Weg; und warum sollte die Naturgeschichte nicht auch einmal ihren Newton erhalten?

Georges Cuvier und die Katastrophen Georges Cuvier verwendete in seinem Discours das Wort Katastrophe (catastrophe) 21-mal, das Wort Revolution – außer im Titel – 31-mal. Er war der erste, der das Wort Revolution im Sinne einer (radikalen) Umwälzung gebrauchte, vorher wurde es in der Astronomie für den Umlauf der Himmelskörper verwendet – in diesem Sinne benutzte Nikolaus Kopernikus das lateinische Wort revolutio im Titel seines berühmten Werks De revolutionibus orbium coelestium (1543). Im England des 17. Jahrhunderts wurde der Begriff in Bezug auf die Glorious Revolution im Jahr 1688 im Sinne einer Wiederherstellung des alten legitimen Zustandes verwendet (ein „Zurückwälzen“ der gesellschaftlichen Verhältnisse). Die heutige Hauptbedeutung „gewaltsamer politischer Umsturz“ kam erst im 18. Jahrhundert auf, ausgehend vom französischen révolution. Das Wort Katastrophe kommt vom altgriechischen katastrophé, was ungefähr dasselbe bedeutet wie das lateinische revolutio, nämlich „Umwendung“. Eine plötzliche und gewaltige „Katastrophe“ war für Cuvier ein spezieller Fall einer „Revolution“. Cuvier unterschied globale „Revolutionen“ und Veränderungen von partiellen, deren Auswirkungen auf bestimmte Regionen beschränkt blieben. Er nahm an, dass die „Revolutionen“ im Verlauf der Erdgeschichte dazu tendierten, eher lokal zu werden. Während heute das Wort Revolution für einen grundlegenden und nachhaltigen strukturellen Wandel verwendet wird, meist im Sinne einer politischen Revolution „von unten“, ist eine Katastrophe ein folgenschweres Unglücksereignis. Nach dem Berliner Katastrophenschutzgesetz sind „Katastrophen […] Großschadenereignisse, die […] von den für die Gefahrenabwehr zuständigen Behörden mit eigenen Kräften und Mitteln nicht angemessen bewältigt werden können.“ Katastrophen sind also heute in erster Linie nach ihren Auswirkungen auf die menschliche Gesellschaft definiert. 56

Für eine sehr große Katastrophe gibt es noch den wenig gebräuchlichen Begriff Kataklysmus (altgriech. Überschwemmung). Speziell in der Geologie bezeichnet Kataklysmus eine erdgeschichtliche Katastrophe, weshalb Cuviers Katastrophentheorie auch als Kataklysmentheorie bezeichnet wird. Cuvier war im Übrigen nicht der erste, der annahm, dass viele „Revolutionen“ auf gewaltigen und plötzlichen „Katastrophen“ beruhten, vor ihm postulierten das unter anderem der französische Geologe Déodat Gratet de Dolomieu (1750–1801), nach dem der Dolomit benannt ist, der Genfer Naturforscher Horace-Bénédict de Saussure (1740–1799), der Vater der modernen Alpenforschung, und der Schweizer Geologe und Meteorologe Jean-André Deluc (1727–1817). Cuvier sprach ausdrücklich davon, dass es in der Erdgeschichte viele plötzliche Umwälzungen gegeben hätte, aber er folgte seinen Mentoren darin, sich auf das jüngste derartige Ereignis zu fokussieren. Dafür lagen nicht nur die klarsten Beweise vor, es war natürlich auch dasjenige, das mit dem Menschen in Verbindung gebracht werden konnte. Wie er in einer seiner ersten Arbeiten angedeutet hatte, hielt Cuvier die jüngste Revolution für diejenige, die die gegenwärtige menschliche Welt von der vormenschlichen trennte. Wenn es vor diesem Ereignis Menschen gegeben hätte, hätte man ihre fossilen Reste finden müssen. Revolutionen, ob plötzlich oder nicht, waren für Cuvier ohne Zweifel Teil der natürlichen Ordnung der Dinge. Cuvier machte wenige Vorschläge für ihre Ursachen, da ihn offensichtlich keine Vermutung zufrieden stellte. Dies zeigt eindeutig, dass er annahm, die Ursachen mussten vollständig natürlichen und physikalischen Charakters sein. Cuvier nahm an, dass seit der jüngsten Revolution nur etwa zehntausend Jahre vergangen waren. Von Interesse war jedoch weniger die Zahl als solche, sondern ihr Verhältnis zur Geschichte des Menschen. Das wissenschaftliche Studium der historischen Chronologie war seit dem 17. Jahrhundert ein ideologisches Minenfeld, da es sowohl zur Unterstützung als auch zu Widerlegung von Ereignissen verwendet wurde, über die in jüdischen Schriften oder im Alten Testament berichtet wurde. Dass ein fossiles Nashorn mit Hautresten in Eis oder gefrorenem Boden gefunden wurde, betrachtete Cuvier als schlüssigen Beweis, dass das Tier nicht von irgendwoher eingeschwemmt wurde, sondern gelebt hatte, wo es gefunden 57

wurde und plötzlich verschüttet worden sein musste, damit seine Weichteile konserviert werden konnten. Diese Art war seiner Ansicht nach nicht durch „langsame und unmerkliche Veränderungen“ verschwunden, sondern durch eine „plötzliche Revolution“. Natürlich hatte dieses Bild eines vorübergehenden Meereseinbruchs auf das Festland Ähnlichkeit mit der traditionellen Vorstellung von der biblischen Sintflut. Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Cuvier insgeheim die Geschichtlichkeit der Genesis unterstützen wollte. Die Beschreibung des dichten Fells des Mammuts sah Cuvier als entscheidenden Hinweis, dass es an das arktische Klima angepasst war, wo seine Reste gefunden wurden (Abb. 16). In dieser Hinsicht bestätigte dies seine generelle Schlussfolgerung, dass in jeder Region das Klima vor der letzten „Revolution“ dasselbe war wie aktuell. Das Ereignis selbst – ob ein Temperaturabfall oder ein plötzlicher Meereseinbruch – war im Hinblick auf ein weit verbreitetes Aussterben drastisch, aber es war vorübergehend. Danach kehrten die physikalischen Bedingungen der Erdoberfläche mehr oder weniger wieder zum vorherigen Zustand zurück.

Abb. 16: Eugen Pfitzenmayer (links) mit dem Berjosowka-Mammut am Fundort, 1901.

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Abb. 17: Titelseite der 6.Auflage des „Discours“.

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In der Einleitung zu seinem Discours (Abb. 17) schreibt Cuvier: Wenn der Reisende die fruchtbaren Ebenen durchstreift, in welchen ruhige Gewässer durch regelmäßigen Lauf eine üppige Vegetation unterhalten, und den Boden betrachtet, der, von zahllosen Menschen betreten, mit blühenden Dörfern, mit reichen Städten, mit prächtigen Denkmälern geschmückt ist, und die Gräuel des Krieges und die Unterdrückungen der Mächtigen nie erfahren hat, so wird er nicht leicht zu glauben bestimmt, daß die Natur auch ihre innerliche Kriege gehabt habe, und daß die Oberfläche der Erde durch eine Folge von Revolutionen und mannichfaltigen Katastrophen verheert worden sey. Aber es ändern sich diese Ansichten, sobald er in das Innere dieses jetzt so friedlichen Bodens einzudringen sucht, oder sobald er die Hügel besteigt, welche die Ebene begrenzen; seine Ideen entwickeln sich sodann, so zu sagen, mit seinem Blicke; sie beginnen die Ausdehnung und Größe dieser vormaligen Ereignisse immer mehr zu erfassen, so wie er die höhern Gebirgsketten, deren Fuß jene Hügel bedecken, hinaufklettert oder wie er dem Laufe der von den Ketten herabfallenden Ströme folgt, und auf diese Weise in das Innere der Gebirge eindringt.

Neben Hinweisen auf plötzliche Katastrophen fand Cuvier auch Formationen von gleichmäßig geschichteten Strata, die auf lange Ruheperioden hinwiesen. Katastrophen waren also nur vorübergehende Ereignisse. Nach der Einleitung führt Cuvier „erste Beweise von Umwandlungen auf der Oberfläche der Erde“ an, zu denen er insbesondere die unterschiedlichen Gesteinsschichten mit ihren charakteristischen Fossilien zählt, die sich – obwohl es sich um Meeresbewohner handelt – zu Höhen erheben, „die das Niveau aller Meere übersteigen, und wohin kein Meer der Jetztzeit sich durch eine der bekannten Ursachen zu erheben vermöchte“. Cuvier stellte auch fest, dass die Gesteinsschichten in größerer Höhe häufig nicht mehr horizontal, sondern geneigt, „zuweilen fast senkrecht“ stehen. Aus heutiger Sicht würden wir sagen, dass dies alleine noch kein Beweis für Katastrophen ist; wir kennen im Wesentlichen die Kräfte der Gebirgsbildung und wissen, dass auch ihre allmähliche Wirkung für diese von Cuvier vorgefundene Situation ausreichen würde. Ein anderer Befund ist daher weitaus 60

denkwürdiger: Cuvier stellte zwischen den verschiedenen „Lagern“ (Gesteinsschichten) einen deutlichen Wechsel bei den auftretenden Fossilien fest: Ihre Arten, selbst ihre Gattungen verändern sich mit den Lagern, und wenn gleich einige Arten in kurzen Entfernungen der Schichten von einander sich wiederkehrend finden, so kann man doch im Allgemeinen sagen, daß die Konchilien [Schalen von Weichtieren] der alten Lager Formen haben, die ihnen eigenthümlich sind; daß diese vor und nach verschwinden und in den jüngern Lagern nicht wieder erscheinen, viel weniger in den heutigen Meeren, worin niemals ähnliche Arten vorkommen und sich selbst mehrere ihrer Gattungen nicht mehr antreffen lassen; daß die Konchilien der jüngern Lager im Gegentheile rücksichtlich der Gattungen denjenigen ähnlich sind, welche in den heutigen Meeren leben, und daß in den letzten und lockersten dieser Lager, einige Arten vorkommen, welche das geübteste Auge nicht von denen, welche der Ocean nährt, unterscheiden kann.

Weiterhin stellt Cuvier fest, dass sich mitten zwischen den Meeresablagerungen „animalische und vegetabilische Producte“ des Festlands finden. Es ist ihm zufolge daher „mehrmals vorgekommen, dass schon aufs Trockne gesetzte Landesstriche wieder von Wassern bedeckt worden sind“. Danach widmet sich Cuvier den Beweisen, „dass diese Umwälzungen plötzlich eintraten“: Und diese Irruptionen, diese wiederholten Rückzüge sind nicht langsam oder stufenweise vor sich gegangen. Der größte Theil der Katastrophen, die sie herbeiführten, trat plötzlich ein. Dieses ist vorzüglich für die allerletzte leicht zu beweisen, deren Spuren noch am meisten zu Tage liegen. Sie hinterließ noch in den Nordländern Kadaver von großen Vierfüssern im Eise eingehüllt, welche sich bis hieran mit Fleisch, Haut und Haaren erhalten haben. Wenn es nicht bei ihrem Absterben gefroren hätte, so würde die Fäulniß sie zerstört haben. Die Entstehung des ewigen Eises an den Orten, wo diese Thiere lebten, muß zugleich die Ursache ihres Absterbens gewesen seyn; diese Ursache ist daher, wie die Wirkung, eine plötzliche gewesen.

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Der Hinweis auf die jüngste Katastrophe war am klarsten von allen, da ihre Auswirkungen am deutlichsten sichtbar waren. Um zu zeigen, dass es sich tatsächlich um eine „Katastrophe“ handelte, erläuterte Cuvier zunächst, dass die maßvollen Prozesse oder „Ursachen“, die derzeit aktiv waren, nicht ausreichten, um ihre zu beobachtenden Auswirkungen zu erklären. Im Gegensatz zu den häufigen Fossilien von marinen Wirbellosen, die von anderen Naturforschern wie Lamarck untersucht wurden, konnten paradoxerweise die viel selteneren Fossilreste von terrestrischen Wirbeltieren mehr entscheidende Hinweise liefern. Dies lag daran, wie Cuvier annahm, dass die noch lebenden Arten, vor allem die größeren, relativ gut bekannt waren, und so eine zuverlässige Basis für den Vergleich mit fossilen Arten liefern konnten. Im Gegensatz dazu hatten die Naturforscher nicht dieselbe Sicherheit über die Beziehung zwischen lebenden und fossilen Arten von marinen Wirbellosen. Er schloss daher, dass die großen fossilen Säuger, die er in seinem Werk detailliert beschrieben hatte, wohl kaum irgendwo überlebt hatten; ihr Verschwinden musste das Ergebnis „allgemeiner Ursachen“ sein. Nachdem Cuvier sich in einem ganzen Kapitel (Die verloren gegangenen Arten sind keine Abarten der noch lebenden) gegen die Transformation von einer Art in eine andere ausspricht, folgt ein entscheidender Satz: Wenn ich nun nach Obigem behaupte, daß die festen Gebirgslager die Knochen mehrerer Gattungen und die angeschwemmten Gebilde dieselben mehrerer Arten enthalten, welche nicht mehr vorhanden sind, so spreche ich noch nicht die Nothwendigkeit aus, daß es einer neuen Schöpfung bedurft hätte, um die jetzt lebenden Arten zu erzeugen; ich sage nur, daß letztere nicht an denselben Orten wohnten und aus anderen Gegenden dahin gekommen seyn müssen. [Frz. Au reste, lorsque je soutiens que les bancs pierreux contiennent les os de plusieurs genres, et les couches meubles ceux de plusieurs espèces qui n’existent plus, je ne prétends pas qu’il ait fallu une création nouvelle pour produire les espèces existantes, je dis seulement qu’elles n’existaient pas dans les mêmes lieux, et qu’elles ont dû y venir d’ailleurs.]

Dieser Satz belegt klar, dass es Cuvier nicht darum ging, Belege für den Wahrheitsgehalt der Bibel zu finden. Im Gegenteil: Um zu belegen, dass lese- und 62

schreibkundige menschliche Gesellschaften nicht älter waren als ein paar tausend Jahre, begutachtete er die ganze Bandbreite der menschlichen Aufzeichnungen, die zu jener Zeit bekannt waren. Seiner Ansicht nach war der älteste Teil des Alten Testaments als wissenschaftliche Quelle in keiner Weise den Aufzeichnungen anderer alten Kulturen überlegen: alle waren „zusammenhanglose traditionelle Geschichten“, die auf eine harte Probe gestellt werden mussten, um überhaupt einen historischen Wert zu erlangen. In seiner generellen Schlussfolgerung stellte Cuvier daher fest, dass eine „große und plötzliche Revolution“ vor nur wenigen tausend Jahren die Position von Kontinenten und Ozeanen verändert hatte. Wie gewöhnlich lehnte er es ab, irgendeinen Vorschlag für die mögliche Ursache dieser großen physikalischen Änderungen zu machen. Er stellte zutreffend fest, dass in einer historischen Wissenschaft, zu der die Geologie nun geworden war, zunächst die Geschichtlichkeit der Ereignisse selbst nachgewiesen werden musste, ausgehend von einer Analyse ihrer Auswirkungen, bevor man versuchte, kausale Erklärungen dafür zu finden. Cuvier schlug vor, von der Gegenwart in die relativ junge Vergangenheit zurückzugehen, bevor man die älteren Formationen in Angriff nahm. Vor allem jedoch untermauerte Cuviers Werk die Metapher, die fast zum Klischee geworden war: der Naturforscher musste Fossilien heranziehen wie der Historiker Dokumente, um eine authentische Geschichte der Erde und des Lebens auf ihrer Oberfläche zu schreiben. Um „die Grenzen der Zeit zu sprengen“, wie er es zu Beginn des Discours ausgedrückt hatte, musste eine vormenschliche Geschichte geschrieben werden.

Als die Ossemens fossiles fertig waren, widmete Cuvier sich sofort der Veröffentlichung seines anderen Opus magnum, seiner Studie der vergleichenden Anatomie und Klassifikation des gesamten Tierreichs (Règne Animal, 1817). Der Discours preliminaire von Ossemens fossiles wurde fast unmittelbar ins Englische übersetzt, in einer Ausgabe von Robert Jameson, Professor für Naturgeschichte in Edinburgh. Sein Vorwort und Herausgeberkommentar bestimmten die Rezeption von Cuviers Arbeit in der englischsprachigen Welt, da Jameson behauptete, dass Cuviers Hauptabsicht war, die Geschichtlichkeit der Sintflut zu beweisen und damit die Autorität der Bibel zu verteidigen. 63

Jameson wählte auch einen Titel, der Cuvier zumindest sehr ambivalent erschienen sein musste: Englischsprachige Leser wurden mit einem Essay on the theory of the earth (1813) beschenkt. Jamesons Buch war sehr erfolgreich in Großbritannien, und es wurden drei Ausgaben veröffentlicht, zunehmend erweitert durch Jamesons Kommentare, bevor Cuvier eine zweite und stark revidierte Ausgabe von Ossemens fossiles veröffentlichte. Der Discours wurde ebenfalls erweitert, aber ohne wesentliche Änderung des Inhalts. Das war ein Zeichen von Cuviers faktischem Rückzug aus der Geologie. Lediglich seine Diskussion über das Alter von menschlichen Zivilisationen wurde auf das Vierfache ihrer ursprünglichen Länge erweitert. Er befürchtete wohl, dass die Ausdehnung des Alters menschlicher Zivilisationen seine eigenen Folgerungen über eine relativ junge Katastrophe bedrohten. Erst als er eine dritte (fast unveränderte) Auflage der Ossemens fossiles (1825) herausgegeben hatte – kurz nach der Fertigstellung der zweiten – billigte Cuvier die Publikation des Discours als gesonderten schmalen Band. Zu dieser Zeit gab es eine vollständige Übersetzung ins Deutsche (Ansichten von der Urwelt, 1822) und nicht weniger als vier Ausgaben von Jamesons Essay in Englisch. Wahrscheinlich vermutete Cuvier, dass zu dieser Zeit eine Herausgabe auf Französisch den Verkauf des größeren Werks nicht mehr beeinträchtigen würde. Die Publikation unterstrich seinen wachsenden Ruhm beim gebildeten Publikum, weit über den Kreis seiner Wissenschaftler-Kollegen hinaus. Jedenfalls wählte er einen Titel, der keinen Bezug zur „Theorie der Erde“ herstellte, gegenüber der er eine extrem vorsichtige, wenn nicht gar kritische Haltung einnahm. Stattdessen benannte er sein Werk Discours sur les révolutions de la surface du globe (1826). Die Verwendung des Begriffs „Revolutionen“ war auf den ersten Blick bemerkenswert im politischen Klima der Restauration, welche die Uhr nach dem Sturz Napoleons zurückdrehen wollte zur Monarchie vor der Revolution. Aber auch in Cuviers Vision der Erdgeschichte wurden ja die katastrophalen „Revolutionen“ der vormenschlichen Welt glücklicherweise von der geordneten Ruhe der gegenwärtigen Welt abgelöst. Die Erwartung einer möglichen zukünftigen Revolution, flüchtig erwähnt in einer seiner frühesten Artikel, war seit langem verschwunden. So konnte im Discours das Bild der natürlichen Welt als Spiegel der politischen Welt gelesen werden: in beiden gehörte der Aufruhr von heftigen „Revolutionen“ nun der Vergangenheit an. 64

Als Cuvier 1832 starb, hatte sein „Discours“ die sechste Auflage auf Französisch erreicht (einschließlich der beiden in Ossemens fossiles eingebundenen), Jamesons Essay seine fünfte. Drei Jahre vorher, im Jahr 1829, unternahm Christoph Heinrich Pfaff eine zweite Reise nach Paris und schildert seine Eindrücke so (Behn 1845):

Abb. 18: Georges Cuvier, Lithographie nach zeitgen. Bildnis 1830. 65

Nach 28 Jahren unternahm ich eine zweite Reise nach Paris, im Juli 1829. Ungeheure Umwälzungen hatte Frankreich in dieser Zeit erfahren. Die Republik, die ich im Jahre 1801 noch freilich als Schattenbild unter dem ersten Consul, aber in den einzelnen Bürgern und Institutionen in den charakteristischen Eigenschaften der Gleichheit und der nationalen Beziehungen angetroffen, war durch alle Glanzperioden und Blendwerke der Kaiserherrschaft hindurchgegangen, war unter der Restauration von der ungeheuren Höhe ihrer Macht herabgesunken […]. Eingedenk der Worte: „Tempora mutantur, et nos mutamur cum illis", trat ich, nachdem ich einige Stunden nach meiner Ankunft am Vormittage in dem Hotel Washington, in welchem ich mein Quartier genommen, den alten republikanischen Träumen nachgehängt, meinen Weg nach dem Jardin des plantes mit etwas banger Erwartung an. Ich suchte den alten bescheidenen Pavillon, jene frühere Werkstätte der geistreichsten und gediegensten Arbeiten meines Freundes auf - und fand ihn unverändert, aber an denselben einen langen Flügel angränzend, der mir eine grosse Veränderung ankündigte. Ich klopfte an, die Hausthüre ward geöffnet, aber freilich nicht durch die alte Haushälterin, eine ächte Französin aus alter Zeit, sondern durch einen elegant gekleideten Lakei. Est ce que Monsieur Cuvier est chez lui? – war eine alte, auch in jener früheren Zeit nicht mehr ganz republikanische Frage, da ich nach dem Citoyen hätte fragen müssen. - Quel Monsieur Cuvier? Est-ce-que c'est Mr. le Baron Cuvier, dont vous parlez, ou son frere Mr. Frederic Cuvier? Nun war ich plötzlich orientirt. Es war der Baron, durch jene ungeheure Kluft von 30 Jahren von mir geschieden, geschieden durch all' die Herrlichkeit, welche ein grosses Reich dem Ehrgeiz bietet und womit dasselbe ihn verführt. Ich erfuhr, dass der Baron eben in der Galerie des Museums sich befinde, wo ich ihn sprechen könne. Ich trat etwas ängstlich meinen Weg dahin an. Auf halbem Wege sah ich die grosse Allee einen etwas corpulenten und gebückt gehenden, einfach gekleideten Mann herankommen, mit einer cortège von zwei oder drei Männern, die in ihrer Haltung etwas Ehrerbietiges gegen ihn zu haben schienen. Ich glaubte meinen alten Freund wieder zu erkennen, näherte mich ihm mit der etwas ehrerbietig ausgedrückten Anrede: „Est-ce-que j'ai l'honneur de faire mon compliment a Mr.

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le Baron Cuvier ?“ „Ah mon ami Pfaff, quel plaisir inattendu de vous revoir." Mit diesen Worten fasste er mich unter den Arm, die Begleitung entfernte sich und in traulichem Gespräche schlenderten wir dem Pavillon zu; so weit hatte ich den alten Freund wieder gewonnen. Sein äusseres Ansehen hatte sich übrigens sehr verändert; Cuvier war viel stärker geworden, er hatte nichts mehr von der leichten Beweglichkeit, die ihn im Jahre 1801 so vortheilhaft charakterisirte; seine Haltung war auch mehr gebückt und das Alter war schon mehr in seinem Gesichte ausgeprägt, doch hatten die Augen noch ihren vollen Geist, der Verstand thronte auf seiner Stirn und seine Unterhaltung war wie früher lebhaft. Indess der alten Zeiten ward so gut wie nicht gedacht, und ich fühlte, dass eine Art von Scheidewand sich zwischen uns erhoben habe; der vor 30 Jahren noch grossentheils deutsch-gemüthliche Cuvier war nun ganz Franzose geworden.

Vielleicht war es die enge Bindung Cuviers an die protestantische Kirche, die viele annehmen ließ, er wolle mit seinen Theorien die Autorität der Bibel unterstützen. Davon war Cuvier jedoch weit entfernt: Seine Schriften zeigen, dass er allen alten Texten kritisch gegenüberstand und auch niemals für den Wahrheitsgehalt der Schöpfungsgeschichte, der Sintflut oder anderer Bibeltexte eintrat. Vor allem zeigte Cuvier eine völlige Abstinenz gegenüber der damals in England vorherrschenden Naturtheologie. Dennoch wurde Cuvier oft als Erzfeind aller Theorien der organischen Evolution verunglimpft, und er war ja tatsächlich ein unerbittlicher Gegner von Lamarcks Transformismus. Seine Schriften standen jedoch eher für ihre extreme Vorsicht gegenüber Spekulationen über die Entstehung von Arten oder größeren Gruppen, und er trat nie für eine übernatürliche Schöpfung ein. Ihm wurde vorgeworfen, dass er den Fortschritt der Erdwissenschaften aufhielt, indem er einen extremen „Katastrophismus“ vertrat, der die Macht der in der Gegenwart zu beobachtenden „aktuellen Ursachen“ ignorierte. Seine Schriften zeigen aber, dass sowohl seine Anatomie der Fossilien als auch seine Geologie bewusst auf sorgfältigem „aktualistischem“ Vergleich mit lebenden Tieren und gegenwärtigen geologischen Prozessen beruhten, und dass er nur dort Katastrophen bemühte, wo seiner Meinung nach gegenwärtige Prozesse die Beobachtungen nicht erklären konnten. Es war für Cuvier sekundär, die physikalischen 67

Ursachen der Katastrophen zu identifizieren. Beobachtungen wurden für ihn erst zu „Fakten“, wenn sie zuverlässig interpretiert werden konnten.

Der Streit um die -ismen Der deutsche Geologe Abraham Gottlob Werner (1749–1814) war davon überzeugt, dass alle Gesteine Sedimentgesteine sind, die sich aus dem Wasser der Ozeane gebildet haben. Diese Auffassung nennt man nach dem römischen Meeresgott Neptunismus. Dem gegenüber stand der Plutonismus (nach Pluto, dem Gott der Unterwelt), nach dem die Gesteine ursprünglich von vulkanischen Kräften herrühren. Der Plutonismus-Neptunismus-Streit stand zwischen 1790 und 1830 im Zentrum einer Kontroverse um die „Theorie der Erde“ und führte zur Entstehung der modernen Geologie. Da Georges Cuvier zumindest einen Teil seiner „Katastrophen“ in Meereseinbrüchen sah, stand er dem Neptunismus näher. Gegenwind bekam Cuviers Katastrophentheorie schließlich aus England, und zwar von einem Mann, der ähnliche Berühmtheit erlangen sollte wie Georges Cuvier: Charles Lyell (1797–1875), der seinerzeit bekannteste britische Geologe und so etwas wie der „Ziehvater“ Charles Darwins. Wie Cuvier befasste sich Lyell schwerpunktmäßig mit geologischen Schichten, mit der Stratigraphie. Seine epochale Tätigkeit begann mit der Herausgabe der Principles of geology (London 1830–33, 3 Bände; 12. Auflage 1876). In diesem umfassenden Lehrbuch trat er den damals herrschenden Vorstellungen gewaltsamer geologischer Umbrüche der Katastrophentheorie entgegen und postulierte, dass die gegenwärtig beobachtbaren geologischen Vorgänge vollkommen ausreichen, um den Bau der festen Erdkruste zu erklären, wenn sie sich nur oft genug und in hinreichend großen Zeiträumen wiederholen. Lyell arbeitete dabei mit zwei „-ismen“, die immer wieder verwechselt werden, obwohl sie unterschiedliches besagen: Dem Aktualismus und dem Gradualismus. Während der Aktualismus (engl. uniformitarianism) davon ausgeht, dass alle natürlichen Prozesse der Vergangenheit auch heute noch beobachtet werden können – „die Gegenwart ist der Schlüssel zur Vergangenheit“–, bedeutet der Gradualismus, dass alle Vorgänge in der Natur in 68

langsamen Schritten und nicht abrupt verlaufen. Auf diese Weise versetzte Lyell Cuviers Katastrophismus einen Doppelschlag: Er wies sowohl Cuviers Auffassung zurück, dass heutige Vorgänge für eine Erklärung der Veränderungen nicht ausreichen, als auch seine Annahme, dass zumindest einige der Katastrophen abrupt erfolgten. Der Aktualismus wurde erstmals 1785 vom „Plutonisten“ James Hutton (1726–1797) in seinem Werk Theory of the Earth formuliert und danach von Charles Lyell in seinem Hauptwerk Principles of Geology weiterentwickelt. Im Gegensatz zum damals noch herrschenden Erklärungsmodell des Katastrophismus glaubte Lyell, dass es in der Erdgeschichte niemals zu Phasen erhöhter geologischer Aktivität gekommen sei. Selbst umfassende Umwälzungen der Erde seien ausschließlich durch die langsame Summierung von unzähligen kleinen Ereignissen zu erklären, die sich nach und nach, im Laufe riesiger Zeiträume, akkumuliert hätten. Da Lyell die Theorie beständig durch zahlreiche spezielle und unwiderlegbare Beobachtungen stützte, wurde sie bald zur vorherrschenden Lehrmeinung. Georges Cuviers Katastrophentheorie wurde schon um 1850 fast vollständig zurückgedrängt. Auch Charles Darwin übernahm Lyells Gradualismus in seine Evolutionstheorie, indem er eine sehr langsame Entwicklung der Lebewesen in unmerklich kleinen Schritten annahm. Erst im Laufe der 1960er und 1970er Jahre setzten sich verschiedene Autoren wieder kritisch mit dem mehrdeutigen Gleichförmigkeitsbegriff auseinander. Einer von ihnen war der berühmte amerikanische Paläontologe und Evolutionsbiologe Stephen Jay Gould (1941–2002), der zusammen mit dem Paläontologen Niles Eldredge feststellte, dass in Fossilreihen Phasen langer „Stasis“ (Stillstand), also geringer morphologischer Änderungen, mit relativ raschen Änderungen abwechseln. Diese Theorie wandte sich gegen den phyletischen Gradualismus, der eine langsame und mit konstanter Geschwindigkeit fortschreitende Transformation biologischer Arten annimmt. Gould und Eldredge (1972) sprachen von einem „punctuated equilibrium“, was am ehesten mit „unterbrochenem Gleichgewicht“ übersetzt werden kann. Die Theorie erhielt im Deutschen den etwas unglücklichen Namen Punktualismus. Gould und Eldredge brachten ihr Punk Eek, wie es im Wissenschaftler-Jargon bald genannt wurde, jedoch nicht mit Katastrophen in Verbindung, sondern mit genetischen Vorgängen. 69

2. Katastrophen in der Erdgeschichte Der Katastrophismus kommt zurück Über das fast ausnahmslose Aussterben der Dinosaurier am Ende der Kreidezeit vor 65 Millionen Jahren wurde lange gerätselt. In meiner Studienzeit gab es unter anderem die Hypothese, dass die Pflanzen den Sauriern das Leben schwer machten, indem sie immer härter und schwerer verdaulich wurden. Favorisiert wurde schließlich ein drastischer Klimawandel. Ende der 1970er Jahre fanden der amerikanische Physiker und Nobelpreisträger Luis Walter Alvarez und sein Sohn Walter in Ablagerungen an der Grenze zwischen der Kreide und dem nachfolgenden Tertiär (Paläogen) hohe Anreicherungen der Elemente Iridium und Osmium, die in Meteoriten eine wesentlich höhere Konzentration aufweisen als auf der Erde. Daraus schlossen sie auf einen gigantischen Meteoriteneinschlag, der neben den direkten Zerstörungen zu einer weltweiten Klimakatastrophe führte, da der aufgewirbelte Staub die Atmosphäre verdunkelte und einen „nuklearen Winter“ verursachte, wie er aus dem Einschlag von Atombomben bekannt ist. Die Kritiker dieser Hypothese nahmen deutlich ab, als 1990 im Golf von Mexiko ein Krater mit einem Durchmesser von etwa 180 km gefunden wurde, dessen Alter auf rund 65 Mio. Jahre datiert wurde – dem Ende der Kreidezeit! Aus der Größe des Chicxulub-Kraters lässt sich berechnen, dass der Meteorit (oder Komet) einen Durchmesser von etwa 10–15 km gehabt haben muss. Auch wenn der Meteoriteneinschlag vielleicht nicht die alleinige Ursache für das Massensterben war, gilt die „Einschlagtheorie“ als die gängigste und plausibelste für das relativ rasche Aussterben der Dinosaurier. 70

Nach der Entdeckung von Vater und Sohn Alvarez wurde der Katastrophismus wieder salonfähig. Auf der einen Seite wurde er von bibeltreuen Kreationisten aufgegriffen, die solche Katastrophen als Bestätigung ihrer eigenen Vorstellungen sahen. Auf der anderen Seite wurde von Wissenschaftlern vermutet, dass auch andere Massenaussterben in der Erdgeschichte mit Meteoriteneinschlägen zusammenhingen (siehe übernächstes Kapitel). Die Kollision zweier Himmelskörper mit sehr hoher Geschwindigkeit bezeichnet man als Impakt oder Einschlag. Wie man an den zahlreichen Impaktkratern auf dem Mond sieht, sind in der 4,6 Milliarden Jahre alten Erdgeschichte zahlreiche Meteoriten eingeschlagen. Da auf der Erde – anders als auf dem Mond – die Erosionswirkung von Wind und Wasser die eigentlichen Impaktkrater innerhalb geologisch kurzer Zeiträume wieder abträgt, lassen sich die Einschläge meist nicht direkt nachweisen. Kleine Meteoriten, die auf dem Mond, dem Mars oder anderen (nahezu) atmosphärelosen Himmelskörpern sichtbare Spuren in Form von Kratern hinterlassen würden, verglühen wegen der Reibung in der Erdatmosphäre, bevor sie die Erdoberfläche erreichen könnten. Größere Körper hingegen können auf die Oberfläche aufschlagen, doch würden sie mit 71 % Wahrscheinlichkeit in einen der Ozeane stürzen, die den Großteil der Erde bedecken. Auch in diesem Fall hinterlassen sie auf der Erde keine dauerhaften Zeugnisse in Form von Einschlagkratern. Die Spuren der auf Festland treffenden Himmelskörper werden über kurz oder lang ebenfalls getilgt: Krater größerer Meteoriten werden im Verlauf von wenigen Jahrzehnten bis Jahrhunderten durch Pflanzenbewuchs unkenntlich gemacht und durch atmosphärisch bedingte Verwitterung in Jahrtausenden (geologisch eine kurze Zeit) bis zur Unkenntlichkeit verformt. Im Verlauf von mehreren hundert Millionen Jahren bewirken tektonische Prozesse eine Erneuerung nahezu der gesamten Erdoberfläche. Objekte mit einem Durchmesser von mehr als 500 m können weltweite Auswirkungen haben. Wissenschaftler in den USA zählten mehr als 1.100 Asteroiden mit einem Durchmesser von mehr als 1 km, deren Umlaufbahn sie der Erde gefährlich nahe bringen könnten. Einschläge von Körpern dieses Durchmessers würden verheerende Folgen haben: Milliarden von Menschen könnten Flutkatastrophen und einer raschen Abkühlung der globalen Temperaturen infolge einer starken Trübung der Atmosphäre durch Aerosole zum 71

Opfer fallen. Bei einem Einschlag im Meer wäre die Folge ein Megatsunami mit einer Wellenhöhe von 100 m und mehr, der ganze Küstenlandschaften und deren Hinterland weiträumig überschwemmen würde. Rein statistisch gesehen muss man mit einem derartigen Einschlag alle 500.000 bis 10 Millionen Jahre rechnen. Ereignisse wie der ober erwähnte Impakt an der Grenze zwischen Kreidezeit und Paläogen finden statistisch etwa alle 100 Millionen Jahre statt. Die globalen Folgen des Einschlags eines großen Himmelskörpers hängen vor allem mit der explosionsartigen Verdampfung des Meteoriten zusammen, die dabei entstehende Glutwolke kann – ähnlich einem Atompilz – mehrere Dutzend Kilometer aufsteigen. Bei sehr großen Einschlägen verteilen sich die heißen Gesteinstrümmer über den gesamten Erdball und lösen damit einen globalen Brand aus – die Atmosphäre kann sich auf mehrere Hundert Grad erhitzen. Die feineren Aschepartikel bleiben in der Atmosphäre und verdunkeln den Himmel. Bei lang anhaltender Verdunklung spricht man von einem „Impaktwinter“, der noch Monate oder Jahre später die Nahrungskette zum Erliegen bringt.

Abb. 19: Gesteinsprobe von der Kreide-Tertiär-Grenzeaus Colorado, USA. Über dunklen kohligen Tonschichten (Kreide) folgt die hellgraue, nur wenige Zentimeter mächtige Grenztonschicht, die von einer schwarzen Schicht Kohle (Tertiär) überlagert wird. Im Grenzton wurde die höchste Anreicherung von Iridium weltweit gemessen (Rieskratermuseum Nördlingen). 72

Man geht davon aus, dass den Impakt am Ende der Kreidezeit kein Tier von mehr als 25 Kilogramm Körpergewicht überlebt hat. Von den Meeresbewohnern traten am Ende der Kreidezeit einst so bedeutende Gruppen wie die mit den Tintenfischen verwandten Ammoniten und Belemniten („Donnerkeile“) ab. Bei der Analyse alter Meeresböden aus Bohrkernen, die heute von Bohrschiffen sogar aus der Tiefsee gezogen werden können, findet man sogenannte Impakt-Grenztone (Abb. 19), die darauf hinweisen, dass über lange Zeit keine Assimilation durch Meerespflanzen stattfand. An der Kreide-Tertiär-Grenze hielt die geringe Produktivität durch Organismen in seichten Ozeanbereichen mindestens eine Million Jahre an.

Die Rolle von Impakten in der Frühphase der Erde Die zirka 4,6 Milliarden Jahre alte Erdgeschichte ist wesentlich durch Einwirkung von Meteoriteneinschlägen geprägt. Nach der umstrittenen Hypothese des Großen Bombardements (Late Heavy Bombardement, LHB) gab es, als das Sonnensystem etwa 600 Millionen Jahre alt war, eine relativ kurze Phase mit häufigen Einschlägen teils sehr großer Asteroiden. Während die Spuren auf der Erde durch die Plattentektonik längst getilgt sind, ergab die Datierung von Mondgestein ein überraschend einheitliches Alter von 3,95 Milliarden Jahren. Auch der Mond selbst ist vermutlich durch den Zusammenstoß der ProtoErde mit einem etwa marsgroßen Körper, Theia genannt, entstanden. Nach dieser Kollisionstheorie ist ein großer Teil der abgeschlagenen Materie beider Körper in eine Umlaufbahn um die Erde gelangt und hat sich dort zum Mond geballt. Ein erheblicher Teil des Impaktors sank ins Erdinnere und ist bis heute für die hohe Temperatur verantwortlich, die nicht nur die Lithosphärenplatten in Bewegung hält, sondern auch für die Erdwärme sorgt. Ohne diese zusätzliche „Heizung“ wäre es auf der Erde viel kälter und die Plattenbewegungen würden deutlich geringer ausfallen (Lesch/Kamphausen 2016). Auch das Wasser wurde von Asteroiden auf die Erde gebracht. Dies wurde dadurch belegt, dass in bestimmten Steinmeteoriten, den sogenannten kohligen 73

Chondriten, die gleiche Isotopenzusammensetzung des Wassers zu finden ist wie auf der Erde. Die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufgestelle Panspermie-Hypothese, nach der auch das Leben durch Himmelskörper auf die Erde gebracht wurde, ist laut Ward/Kirschvink (2016) seitdem eher wahrscheinlicher als unwahrscheinlicher geworden. Insbesondere wurde zweifelsfrei nachgewiesen, dass Leben vom Mars zur Erde gelangt sein kann und dass man daher die Möglichkeit berücksichtigen muss, dass sich das Leben zunächst auf dem Mars bildete und dann von Meteoriten auf unseren Planeten getragen wurde. Ein großer Einschlag auf der Marsoberfläche würde zahlreiche Meteoriten in Richtung Erde schleudern.

Die „Big Five“ der Massenaussterben 1982 veröffentlichten die US-amerikanischen Paläontologen David M. Raup (1933–2015) und Joseph J. „Jack“ Sepkoski (1948–1999) Aussterbedaten auf der Ebene von Familien und stellten fest, dass die Größenordnung des Aussterbens während bestimmter geologischer Zeitabschnitte es rechtfertigte, von „Massenaussterben“ zu sprechen. Kurz darauf sprachen die Paläontologen von den „Big Five“, den fünf großen Massenaussterben. Allerdings ragen diese fünf Ereignisse anderen Autoren zufolge nicht besonders heraus (MacLeod 2016). Es gibt jedoch einige Besonderheiten der „Big Five“, z.B. die, dass Meeresund Land-Lebensräume gleichermaßen beeinträchtigt wurden.

Abb. 20: Die „Big Five“ der Massenaussterben (aus: Kull 2011) 74

Zu den sogenannten „großen Fünf“ (Big Five) zählen im Einzelnen (Abb. 20, DGD S. 42)     

das Ordovizische Massenaussterben vor 444 Mio. Jahren das nach einem Tal im Harz benannte Kellwasser-Ereignis vor 372 Mio. Jahren das Ereignis an der Perm-Trias-Grenze vor 252 Mio. Jahren die Krisenzeit an der Trias-Jura-Grenze vor 201 Mio. Jahren das Massenaussterben an der Kreide-Paläogen-Grenze vor 66 Mio. Jahren

Bei den großen Fünf lag der jeweilige Artenschwund bei 75 Prozent oder darüber. Obwohl gelegentlich eine Revision dieser Gliederung oder eine Neubewertung zugunsten anderer Massenaussterben vorgeschlagen wird (vor allem hinsichtlich des Kellwasser-Ereignisses), sind die Big Five immer noch die inoffizielle Richtschnur bei der Darstellung der schwerwiegendsten biologischen Krisen während des Phanerozoikums, des “Zeitalters des sichtbaren Lebens“, das mit dem Paläozoikum (Erdaltertum) vor 541 Millionen Jahren begann.

Abb. 21: Lebendrekonstruktion von Lystrosaurus georgi.

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Das größte Massenaussterben der Erdgeschichte war das Perm-Trias-Ereignis vor 252 Millionen Jahren, das die Grenze zwischen Paläozoikum (Erdaltertum) und Mesozoikum (Erdmittelalter) markiert. Es ist das einzige bekannte Massensterben, das auch Insekten betraf und darüber hinaus große Teile der Fauna. Etwa 75 % der an Land lebenden Arten sowie etwa 95 % der marinen Wirbellosen starben aus, unter anderem die Trilobiten, die währen des gesamten Paläozoikums sehr artenreich waren. Interessanterweise überlebte das ungefähr schweinegroße, pflanzenfressende Landwirbeltier Lystrosaurus als eines der wenigen größeren Tiere die Katastrophe, Fossilien des Tiers wurden in Südafrika, Antarktika, China, Indien und dem europäischen Russland gefunden (Abb. 21). Das bekannteste Massenaussterben ist ohne Zweifel das letzte der „Big Five“, das bereits erwähnte Massenaussterben an der Grenze zwischen Mesozoikum und Känozoikum (Erdneuzeit) bzw. an der Kreide-Paläogen-Grenze (früher Kreide-Tertiär-Grenze) vor 66 Mio. Jahren. Die von Vater und Sohn Alvarez aufgestellte Hypothese eines großen Meteoriteneinschlags, der zum Aussterben unter anderem der Dinosaurier führte, wird bis heute diskutiert. Auch nach der Entdeckung des Chicxulub-Kraters auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán war die Wissenschaftskontroverse nicht beendet. Obwohl der Krater hinsichtlich Alter und Größe in das Schema der Kreide-PaläogenKrise zu passen schien, wurden mehrere Gegenhypothesen vorgebracht, darunter jene, dass nicht der Impakt, sondern der magmatische Ausbruch des indischen Dekkan-Trapps, einer durch Vulkanismus geprägten Region, das Massenaussterben an der Kreide-Paläogen-Grenze forciert hatte. Die Anwendung moderner Datierungsmethoden und Analysetechniken führte schließlich zum Resultat, dass das Impaktereignis und die K-P-Grenzschicht zeitlich präzise übereinstimmen. Auch der dem Einschlag folgende Impaktwinter gilt inzwischen als faktisch gesichert. Somit setzte der Chicxulub-Einschlag offenbar doch den Schlusspunkt für die mesozoische Faunenwelt. Auch der kurzfristige Ausstoß von 70 % der Dekkan-Trapp-Flutbasalte ist nach neueren Untersuchungen auf den Impakt zurückzuführen (Richards et al. 2015). Das derzeit wahrscheinlichste Szenario geht davon aus, dass vor rund 66 Millionen Jahren ein etwa 10 km großer Meteorit mit einer Geschwindigkeit von 20 bis 40 km/s im Gebiet des heutigen Golf von Mexiko in einem tropischen 76

Flachmeer detonierte. Der Impaktor verdampfte dabei innerhalb einer Sekunde fast vollständig, schleuderte aber durch die Wucht der Explosion, die wahrscheinlich auf dem gesamten Erdball zu vernehmen war, einige tausend Kubikkilometer glühendes Gestein bis in die Stratosphäre, zu einem kleineren Teil weit darüber hinaus. Neben den unmittelbaren Auswirkungen des Einschlags wie Megatsunamis, einer überschallschnellen Druckwelle sowie Erdbeben im Bereich der Stärke 11 oder 12 traten weltweit Flächenbrände auf, deren Ausdehnung und Dauer noch nicht endgültig geklärt ist. Innerhalb weniger Tage verteilte sich in der gesamten Atmosphäre eine große Menge an Ruß- und Staubwolken, die das Sonnenlicht über Monate hinweg absorbierten und einen globalen Temperatursturz herbeiführten. Zusätzlich könnte laut einer aktuellen und auf Klimamodellen basierenden Studie eine Schicht Schwefelsäure-Aerosole maßgeblich zu einer globalen Dauerfrostperiode über mehrere Jahre beigetragen haben, mit einem Absinken der Oberflächentemperatur um mindestens 26 °C in weiten Teilen der Erde. Von der sich anschließenden biologischen Krise waren die ozeanischen und terrestrischen Ökosysteme gleichermaßen betroffen. 75 Prozent der Arten fielen dem Massenaussterben zum Opfer, darunter nicht nur die Saurier, sondern auch die Ammoniten und Belemniten sowie in hohem Ausmaß die Vögel. Nach einer vermutlich mehrere Jahrzehnte dauernden Kältephase begann eine rasche, zu Hitzestress führende Erwärmung, bedingt durch Milliarden Tonnen Kohlenstoffdioxid, die der Einschlag infolge der Verdampfung ozeanischer Böden freigesetzt hatte. Die Dauer des extremen Treibhauseffekts wird auf rund 50.000 Jahre geschätzt, ehe sich das Klima – wahrscheinlich erst nach mehreren hunderttausend Jahren – stabilisierte.

Welten im Zusammenstoß Der Nachweis des Meteoriteneinschlags an der K-P-Grenze durch Vater und Sohn Alvarez haben unter Wissenschaftlern und Laien einen regelrechten Hype ausgelöst. Man hielt es für möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich, dass alle Massenaussterben mit dem Einschlag eines Himmelskörpers zusammenhingen, also extraterrestrische Ursachen hatten. Die beiden bereits 77

erwähnten Paläontologen David Raup und „Jack“ Sepkoski untersuchten 1984 die früheren Artensterben auf der Erde und ordneten diese zeitlich ein. Dabei kamen sie zu dem Ergebnis, dass die großen Massenaussterben in ziemlich regelmäßigen Abständen von 26 bis 33 Millionen Jahren auftraten. Im Abstand von etwa 27 Millionen Jahren traten vermehrt Kometeneinschläge auf, sodass ein Zusammenhang zwischen diesen beiden Ereignissen vermutet wurde. In der Folgezeit wurde nun nach einer Ursache für die periodisch gehäuften Kometeneinschläge gesucht. Eine hypothetische Erklärung war die Existenz eines bisher unerkannten Begleiters der Sonne, der in regelmäßigen zeitlichen Abständen die (ebenfalls hypothetische) Oortsche Wolke – auch zirkumsolare Kometenwolke genannt – durchquert und mit seinem Schwerefeld die Bahnen der dort befindlichen Kometen verändert. Solche Kometen bewegen sich dann in die inneren Bereiche des Sonnensystems, wo es auf Grund der vergrößerten Kometenzahl statistisch auch häufiger zu Einschlägen auf Planeten kommt. Dieser hypothetische Sonnenbegleiter wurde Nemesis genannt. Die Nemesis-Hypothese wird jedoch heute stark angezweifelt, da es bislang nicht den geringsten direkten Hinweis auf den nach der Göttin der Rache benannten Stern Nemesis gibt. Abgesehen von der Nemesis-Hypothese gibt es auch andere Hinweise, dass weitere Massenaussterben mit Meteoriteneinschlägen zusammenhängen könnten, so z.B. das Massenaussterben an der Grenze von Erdaltertum und Erdmittelalter (Perm-Trias-Grenze). Radarbilder lieferten Hinweise auf die Existenz eines 480 km großen Einschlagkraters tief unter dem antarktischen Eisschild mit einem vermutlichen Alter von 250 Millionen Jahren. Der sogenannte Wilkesland-Krater wäre auf den größten bekannten Impakt der Erdgeschichte zurückzuführen, dessen Zerstörungspotenzial das des ChicxulubMeteoriten erheblich übertroffen hätte. Neben dem größten Massenaussterben der Erdgeschichte hat der Einschlag vermutlich zur Bildung eines Grabens im östlichen Indischen Ozean beigetragen und damit letztendlich zur Abspaltung Australiens vom Großkontinent Gondwana geführt. Ein direkter Nachweis, zum Beispiel durch geologische Analysen anhand entsprechender Tiefenbohrungen, konnte noch nicht erbracht werden. Der Großteil der Asteroiden unseres Sonnensystems befindet sich im so genannten Asteroidengürtel zwischen den Bahnen von Mars und Jupiter – dort 78

sind derzeit mehr als 400.000 Objekte erfasst, die überwiegend durch Kollision größerer Asteroiden bzw. Kleinplaneten entstanden sind. Normalerweise werden sie vom Jupiter auf ihren Umlaufbahnen gehalten, es gibt aber auch Ausnahmen. So fand man z.B. heraus, dass es vor 470 Mio. Jahren eine riesige Kollision im Asteroidengürtel gegeben hat, deren Bruchstücke zum Teil bis in das innere Sonnensystem vordrangen und innerhalb von ein bis zwei Millionen Jahren auf die Erde regneten. Sie finden sich heute als fossile Meteoriten in Gesteinen, die zu jener Zeit abgelagert wurden. Selbst heute noch ist jeder dritte die Erde treffende Meteorit auf dieses Ereignis zurückzuführen (Trieloff et al. 2007). Hierzu einige Zitate aus der betreffenden Veröffentlichung in „Sterne und Weltraum“: Nach der Kollision wurden durch Schwerkraftstörungen kleine und große Trümmer in Richtung Erde abgelenkt. Sie bewirkten, dass für etwa ein bis zwei Millionen Jahre etwa hundert Mal so viele Meteoriten wie in der Gegenwart auf die Erde fielen. Die Einschlagrate kilometergroßer Bruchstücke war in den nachfolgenden zwanzig Millionen Jahren ebenfalls erhöht: Unter den irdischen Einschlagkratern gibt es acht große Impaktstrukturen, deren Alter in einem Bereich von 450 bis 470 Millionen Jahren sehr nahe beieinander liegen. Offenbar bildeten sich innerhalb dieser kurzen Zeitspanne viermal so viele Einschlagskrater wie statistisch zu erwarten. Die Energie solch großer Einschläge ist beträchtlich und hat deshalb sehr wahrscheinlich globale Auswirkungen. So entsteht beispielsweise ein 30 Kilometer großer Krater wie Slate Islands in Kanada durch eine Impaktexplosion, deren Energieumsatz etwa dem von 100 Millionen Hiroshima-Bomben entspricht. Dabei schlägt ein Objekt von der Größe des Feldbergs im Schwarzwald mit einer Geschwindigkeit von rund 50.000 Stundenkilometern auf der Erde ein. Infolge der Kollision war auch der Einschlag von kosmischem Staub in die Erdatmosphäre für mehrere Millionen Jahre deutlich erhöht. Heute ist nur etwa die Hälfte aller Staubpartikel in der oberen Atmosphäre, die

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dort lange verweilen können, extraterrestrischen Ursprungs. Damals jedoch war dessen Menge wohl etwa hundert Mal so groß wie heute. Wie sich dies auf das Klima der Erde auswirkte, ist noch nicht bekannt. Im mittleren bis späten Ordovizium entwickelten sich jedoch viele neue Pflanzen- und Tierarten. Wir vermuten, dass die große Biodiversifikation mit den Klimaveränderungen im Gefolge des kosmischen Bombardements in dieser Zeit zusammenhängen könnte. Damit hätte diese gewaltige Kollision, also ein Ereignis weit draußen jenseits der Umlaufbahn des Mars, unsere irdische Biosphäre bedeutend beeinflusst.

Auf der Erde sind neben zahlreichen kleineren Einschlagkratern über 100 Gebilde mit einem Durchmesser von 5 bis 200 km entdeckt worden. Die Bezeichnung Krater trifft allerdings für viele der Strukturen nicht mehr zu, da der eigentliche Krater durch Erosion längst abgetragen wurde. So ist z.B. vom größten Einschlagkrater der Erde, dem Vredefort-Krater in Südafrika, wo der Einschlag eines Himmelskörpers vor 2 bis 3,4 Milliarden Jahren einen bis 320 km langen und 180 km breiten Krater bildete, noch ein Ring mit etwa 50 km Durchmesser vorhanden. Der bekannteste Impaktkrater in Deutschland ist das Nördlinger Ries mit seinem „Begleiter“, dem Steinheimer Becken (Seitz 2017).

Abb. 22: Nördlinger Ries, Steinbruch „Lindle“. Der Weiße (Obere) Jura liegt über dem Braunen (Mittleren) Jura, dieser wiederum über dem Schwarzen (Unteren) Jura. Logisch, oder? Wenn man es aber nun andersherum findet, wenn eine wilde Mischung aus Schwarzem und Braunem Jura über dem Weißen Jura liegt, der zudem völlig zerklüftet und verbogen ist? Da muss etwas passiert sein! 80

Dies war den Geologen, die die Gesteine rund um Nördlingen untersuchten, schon seit Langem klar. Viele dachten an Vulkanismus, einige sogar an lokale Gletscher, die für das Durcheinander verantwortlich sein sollten. Die US-amerikanischen Geologen Eugene Shoemaker und Edward C. T. Chao konnten 1960 schließlich nachweisen, dass der Krater durch einen Meteoriteneinschlag entstanden sein muss. Der Meteorit oder Asteroid, der das etwa 20 mal 24 km große Nördlinger Ries erzeugte, dürfte einen Durchmesser von etwa 1 km gehabt haben und mit einer Geschwindigkeit von über 100.000 km/h eingeschlagen sein. Beim Einschlag wurde geschmolzenes Gestein bis zu 400 km weit verteilt – bis in das heutige Österreich, nach Polen und nach Tschechien. Das zu grünem Glas erstarrte Gestein wird nach seinem wichtigsten Fundgebiet am Oberlauf der Moldau (Tschechien) als Moldavit bezeichnet. Suevit oder „Schwabenstein“ wird die Mischung aus zermahlenem und geschmolzenem Gestein genannt, das durch den Impakt des Meteoriten zunächst explosionsartig ausgeworfen wurde und dann wieder auf die Erde zurückfiel. Ein Großteil des Gesteins und der Meteorit selbst verdampften vollständig, daher sind heute keine Spuren mehr von ihm zu finden. Anhand der Fossilien konnte man feststellen, wann der Meteorit etwa eingeschlagen war: vor knapp 15 Mio. Jahren im Miozän, als sich immergrüne Wälder mit Sümpfen abwechselten, in denen sich Krokodile, Flusspferde und Nashörner tummelten. Durch den Impakt erlosch fast alles Leben im Umkreis von mindestens 100 km. Damit nicht genug: Auch das Steinheimer Becken, 40 km südwestlich des Nördlinger Rieses gelegen, wurde als Impaktkrater mit einem Alter von rund 15 Mio. Jahren identifiziert. Mit einem Durchmesser von etwa 3,5 km ist er jedoch wesentlich kleiner als das Ries. Die Wahrscheinlichkeit, dass beide Krater unabhängig voneinander entstanden, ist extrem gering. Daher nimmt man an, dass es sich um einen Asteroiden mit seinem begleitenden „Mond“ handelte, die fast gleichzeitig einschlugen. Das Nördlinger Ries und das Steinheimer Becken zählen – jeweils in ihrer Größenklasse – zu den am besten erhaltenen Impaktkratern weltweit. Der Meteorit im kleinen Steinheimer Becken hinterließ einen etwa 200 m tiefen Krater und drang nicht bis ins Grundgebirge vor. Das nach dem Einschlag zurückfedernde Gestein bildete einen etwa 100 m hohen Zentralberg. Nach dem Einschlag bildete sich ein Kratersee, der später verlandete. Die dabei 81

entstandenen Sedimente sind reich an Fossilien aus dem Miozän, sodass das Steinheimer Becken zu den bedeutendsten Fundstellen für dieses Erdzeitalter zählt. Bekannt sind sie vor allem wegen der massenhaft gefundenen fossilen Schneckengehäuse, die sich von älteren zu jüngeren Schichten langsam veränderten. Dies fand der Paläontologe Franz Hilgendorf bereits 1862 heraus und lieferte damit die erste Bestätigung der 1859 von Charles Darwin veröffentlichten Evolutionstheorie. Der große Asteroid, der das Nördlinger Ries bildete, durchschlug das etwa 600 m mächtige Deckgebirge aus Kalk und Ton und drang bis in das kristalline Grundgebirge vor, beides wurde herausgeschleudert, vermischte sich und mutierte zum „Schwabenstein“ (Suevit). Bei der Rückfederung des Gesteins entstand kein Zentralberg, sondern ein Ring mit Grundgebirgsmaterial, der sogenannte „innere Ring“. Der äußere Kraterrand ist die Grenze zwischen den Gesteinen, die bei der Entstehung des Kraters verlagert wurden, und solchen, die in ihrer ursprünglichen Position verblieben sind. Die Stadt Nördlingen liegt genau auf dem inneren Ring, in den angrenzenden Höhenzügen macht sich das kristalline Grundgebirge in einer säurezeigenden Vegetation bemerkbar. Der Steinbruch „Lindle“ (Abb. 22) gehört zur „Megablock-Zone“ zwischen innerem Ring und Kraterrand, deren große Gesteinspakete zertrümmert, verkippt oder in Richtung des Zentrums abgerutscht sind. Hier herrscht in der „Bunten Brekzie“ das Kalkgestein des Deckgebirges vor, stellenweise liegt darüber noch der Suevit.

Ursachen der Massenaussterben Nachdem eine Zeitlang eine regelrechte „Meteoriten-Euphorie“ herrschte und manche die Ursache praktisch aller Massenaussterben im Einschlag von Himmelskörpern sahen, weiß man heute, dass es auch andere Ursachen gibt. Bereits beim Kreide-Paläogen-Ereignis wurde ja von manchen Wissenschaftlern der magmatische Ausbruch des indischen Dekkan-Trapps als Ursache des Massensterbens favorisiert; inzwischen nimmt man an, dass der Ausbruch eine Folge des Impakts war.

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Regelmäßig geht ein Massensterben mit einem drastischen Klimawandel einher, aber auch hier ist oft nicht sicher, wodurch der Klimawandel verursacht wurde. Man muss hier zwischen proximaten und ultimaten Aussterbemechanismen unterscheiden (MacLeod 2016): Ein proximater Aussterbemechanismus kann die Ursache des Artensterbens erklären, ist jedoch selbst möglicherweise Folge einer Reihe verschiedener Prozesse, die entweder allein […] oder zusammen […] wirken. […] Ein ultimater Aussterbemechanismus ist einer, der ein Aussterben (meist) dadurch herbeiführt, dass er einen proximaten Aussterbemechanismus in Gang setzt, dessen Effekte weit über die Region seines Auftretens hinauswirken. Proximate Aussterbemechanismen sind z.B.:    

Globale Abkühlung Änderung des Meeresspiegels Marine Anoxie (Sauerstoffarmut) Änderung der Ozean-Atmosphäre-Zirkulation

Ultimate Aussterbemechanismen können sein:    

Schwankungen der Sonnenstrahlung Plattentektonische Prozesse Vulkanismus in magmatischen Großprovinzen Einschläge großer Meteoriten

MacLeod gibt einen Überblick über die wichtigsten Aussterbeereignisse des Phanerozoikums und benennt die bisher bekannten proximaten und ultimaten Faktoren. Er kommt zum Schluss, dass es keine objektive Grundlage dafür gibt, als Ursache von „Massenaussterben“ grundsätzlich andere Prozesse heranzuziehen als beim normalen „Hintergrundaussterben“. Laut MacLeod gibt es äußerst wenige Hinweise darauf, dass irgendeine Einzelursache für die großen Artensterben der Vergangenheit verantwortlich war. Er plädiert für ein „Szenario multipler interaktiver Ursachen (MIU)“, bei dem zwei oder mehr der ultimativen Aussterbemechanismen zufällig und/oder sehr intensiv einsetzten, was weitreichende Folgen für das Artensterben und die Makroevolution 83

haben kann. Als Argument für die MIU-Interpretation führt MacLeod noch ins Feld, dass in den letzten 250 Millionen Jahren anhand der Daten von Einschlagskratern 23 mittelgroße bis große Impakte nachgewiesen werden konnten, von denen nur fünf mit Spitzen der Aussterbeintensität und nur einer mit einem der fünf großen Massensterben zusammenfällt. Drei der größten Artensterben in diesem 250-Millionen-Jahre-Intervall fallen hingegen mit dem Vulkanismus magmatischer Großprovinzen (Large Igneous Province, LIP) und einer Meeresspiegelregression zusammen. Von den Einzelursachen weist nur der „LIP-Vulkanismus“ einen statistisch signifikanten Zusammenhang mit Aussterbespitzen auf, die höchste statistische Signifikanz zeigen MIU-Szenarien.

Muss die Geschichte des Lebens neu geschrieben werden? Ja, meinen zumindest die US-amerikanischen Paläontologen Peter Ward und Joe Kirschvink in ihrem Buch Eine neue Geschichte des Lebens: Wie Katastrophen den Lauf der Evolution bestimmt haben (A New History of Life. The Radical New Discoveries about the Origins and Evolution of Life on Earth, 2015). Joe Kirschvink erlangte insbesondere mit seiner Hypothese vom “Schneeball Erde” internationale Bekanntheit. Der durch neue wissenschaftliche Methoden und fächerübergreifende Ansätze mögliche Blick in die Erdgeschichte zeigt, dass die Entwicklung vor allem durch Katastrophen geprägt wurde, und zwar nicht nur solche, die Meteoriteneinschläge von außen verursachten. Bereits in der Einleitung stellen die beiden Autoren fest, dass der „Uniformitarianismus“ (also der Aktualismus) in seiner Anwendung auf die Welt vergangener Zeiten wie auch auf Art und Geschwindigkeit der Evolution heute im Wesentlichen veraltet und widerlegt ist. Die ältesten bisher gefundenen Lebewesen der Erde sind die Stromatolithen, die seit mehr als 3,5 Milliarden Jahren existieren. In dieser Zeit gab es auf der Erde zahlreiche Meteoriteneinschläge, darunter auch einige der größten bisher 84

nachgewiesene Impakte. Die Atmosphäre enthielt noch keinen Sauerstoff, da es noch keine Lebewesen gab, die Photosynthese betrieben.

Abb. 23: Erdzeituhr, bei der 4,6 Mrd. Jahre Erdgeschichte auf einen Tag projiziert werden. Der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre begann vor etwa 2,4 Mrd. Jahren anzusteigen, verursacht durch Cyanobakterien. Vorher gab es laut Ward und Kirschvink mehrere Phasen einer weltweiten Vergletscherung. Die Sauerstoffmenge reichte jedoch bis vor etwa 1 Mrd. Jahren für mehrzellige Tiere nicht aus, die einen Sauerstoffgehalt von mindestens 10 % benötigen. Der Grund war die Konkurrenz der Cyanobakterien mit Bakterien, die Schwefel verwerten und dabei Sauerstoff verbrauchen. Erste Vielzeller entstanden zwar bereits vor über 2 Mrd. Jahren, diese kamen aber aus dem Pflanzenreich. Vor einer Milliarde Jahren wimmelte es im Wasser von ein- und vielzelligen Lebewesen, darunter war aber kein einziges Tier. Vor etwa 717 Millionen Jahren kühlte sich die Erde stark ab und wurde – wie bereits vor etwa 2,5 Mrd. Jahren – zum Schneeball. Die Ursachen sind noch 85

nicht eindeutig geklärt, im Vordergrund steht wohl eine verstärkte chemische Verwitterung aufgrund der Plattentektonik, aber auch eine rasante Vermehrung pflanzlichen Lebens könnte dazu beigetragen haben. Die Vielgestaltigkeit des Lebens und die Biomasse gingen durch die Vereisung stark zurück. Auf der anderen Seite gab es Bereiche, in denen sich durch vulkanische Tätigkeit, die in dieser Zeit viel stärker war als heute, das Leben nicht nur erhalten, sondern weiterentwickeln konnte. Nach dem Ende der Vereisung vor 635 Millionen Jahren entstanden die ersten Tiere der bizarren „Ediacara-Fauna“ (Abb. 24).

Abb. 24: Ediacara-Fauna. Die Ediacara-Fauna verschwand vor 540 Millionen Jahren fast spurlos, dafür traten aber fast explosionsartig zahlreiche andere Tiere auf. Innerhalb zumindest für Geologen relativ kurzer Zeit tauchten die Vorläufer aller heutigen Tierstämme auf, so dass man von der kambrischen Explosion spricht. Die kambrische Explosion wurde vom berühmten Paläontologen Stephen Jay Gould in seinem Buch Wonderful Life (1989) einem breiteren Publikum bekannt 86

gemacht. Gould bezog sich in seinem Buch auf die zahlreichen Fossilfunde im kanadischen Burgess-Schiefer und stellte zahlreiche „seltsame Wesen“ vor, die aus seiner Sicht am Ende des Kambriums überwiegend wieder ausstarben. Neuere Funde, vor allem in China, haben der Welt des Kambriums neue Facetten hinzugefügt. Die häufigsten Tiere waren Gliederfüßer (zu denen auch die Insekten gehören), und diese entwickelten sich bereits im Kambrium sehr vielfältig. Durch ihre Segmentierung können die jeweiligen Extremitäten ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen, darin gleichen sie laut Ward und Kirschvink einem Schweizer Taschenmesser. Eine neuartige Altersbestimmung der Gesteine, in denen man die Fossilien fand, sorgte für eine Überraschung: Die kambrische Explosion lief 25mal schneller ab, als man erwartet hatte, und glich damit „mehr einer Atomexplosion“. Dies ließ sich nur mit einem Phänomen erklären, das man zwar schon früher erkannt, aber erst in jüngerer Zeit mit der kambrischen Explosion in Verbindung gebracht hat: Der Echten Polwanderung. Proben aus Australien deuten darauf hin, dass sich der Kontinent, der sich über dem Äquator befand, zwischen dem frühen und dem späten Kambrium um fast 70 Grad drehte. Da Australien damals zum Superkontinent Gondwana gehörte, muss an der Drehung mehr als die Hälfte aller kontinentalen Landmassen jener Zeit beteiligt gewesen sein. Der große Nordkontinent Laurentia wanderte zur gleichen Zeit vom Südpol bis zum Äquator. Eine nach geologischen Maßstäben schnelle Massenverschiebung kann durch den Einschlag eines großen Asteroiden oder Kometen oder auch durch Magma verursacht werden, das aus dem Inneren der Erde an die Oberfläche drängt. Massenverschiebungen kann es auch geben, wenn Teile von plattentektonischen Strukturen auftauchen oder verschwinden. Die ungewöhnliche Häufung der Kontinentalbewegungen beschleunigte offenbar die Evolution. Dafür gibt es verschiedene Erklärungsmodelle, die hier nicht näher erläutert werden sollen. Am Ende des Kambriums stand ein Massenaussterben, das aber nicht zu den „Big Five“ gehört, da weniger als 50 % aller im Meer lebenden Arten ausstarben. Der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre war auf einen vorher nie da gewesenen Spitzenwert angestiegen. Kurz nach dem Massenaussterben erschienen die ersten Korallenriffe auf der Bildfläche, und die nächste geologische Periode begann: das Ordovizium. Im Ordovizium gab es zahlreiche neue Tierarten, Trilobiten wurden von Arten mit Gehäusen überflügelt. Die größten Gewinner 87

waren Tierarten, die eine ganz neue Lebensweise entwickelt hatten: die Koloniebildung. Unter anderem entstanden Korallen und viele neue Arten von Schwämmen. Zur Entwicklung der Artenvielfalt trug mehr als jeder andere Faktor der hohe Sauerstoffgehalt der Atmosphäre bei. Im Ordovizium fand auch das erste der fünf großen Massenaussterben statt, dessen Ursachen aber noch weitgehend im Dunkeln liegen. Zwischen Ordovizium und Karbon (475–300 Mio. Jahre) gab es eine Reihe weiterer „Explosionen“. Die Pflanzen entwickelten sich von im Wasser lebenden Grünalgen über kleine Gefäßpflanzen (mit Wurzeln und Stängel) bis zu Bäumen. Am Ende des Devons (vor 360 Mio. Jahren) waren nahezu sämtliche Landflächen von Wäldern bedeckt. Grundlage dieser Entwicklung: die Evolution der Blätter. So erlebten die Pflanzen vor 425 bis 360 Millionen Jahren eine explosionsartige Zunahme der Artvielfalt an Land. Erst am Ende dieser Entwicklung setzten sich Pflanzen mit Blättern durch. Danach waren die Insekten an der Reihe, die nach den Erkenntnissen der Paläontologen bis vor rund 330 Millionen Jahren eine unbedeutende Gruppe landlebender Tiere waren. Dann stieg der Sauerstoffgehalt auf ein Rekordniveau, die Insekten erlebten einen fantastischen evolutionären Aufschwung und erhoben sich in die Lüfte, was sie bei geringerem Sauerstoffgehalt noch nicht geschafft hatten. Die ältesten fossilen Knochen von Vierbeinern findet man in Gestein, das nicht älter als 360 Mio. Jahre ist. Vor der Entstehung weiterer Amphibien klafft jedoch eine große Lücke, da der Sauerstoffgehalt nun wieder absank und die Vierbeiner überwiegend wieder ins Wasser zurückgehen mussten. Erst vor 340 bis 330 Millionen Jahren setzte die erwartete evolutionäre Auseinanderentwicklung der Amphibien ein, und vor rund 318 Millionen Jahren gab es zahlreiche Amphibiengattungen, die man heute auf der ganzen Welt findet. Vor 320 bis 260 Millionen Jahren stieg der Sauerstoffgehalt besonders stark an, gegen Ende dieses Zeitraums war ein Maximalwert von 32 bis 35 Prozent erreicht (heutiger Wert 21 %). Dies ermöglichte Riesenformen wie eine Libelle mit einer Flügelspannweite von 50 Zentimetern (Meganeura), eine Spinne mit 45 cm langen Beinen sowie Tausendfüßler und Skorpione mit einer Länge von zwei Metern und mehr. Der Anstieg des Sauerstoffgehalts hing unter anderem damit zusammen, dass die Bäume viel Sauerstoff produzierten, beim Abbau der schnell wachsenden 88

und umstürzenden Bäume aber kaum Sauersoff verbraucht wurde. Neben dem Riesenwuchs verursachte der hohe Sauerstoffgehalt auch die größten Waldbrände, die jemals auf der Erde tobten. Die Reptilien spalteten sich vor etwa 320 Millionen Jahren von den Amphibien ab, zu Beginn des Perms vor 300 Mio. Jahren stellten die an große Warane erinnernden Pelycosaurier mindestens 70 Prozent der landlebenden Wirbeltierarten. Aus ihnen wurden schließlich „säugetierähnliche Reptilien“ (Therapsiden), die sich im Mesozoikum zu Säugetieren entwickelten. Am Ende des Perm vor etwa 250 Millionen Jahren, am Übergang vom Erdaltertum (Paläozoikum) zum Erdmittelalter (Mesozoikum), gab es das größte Massenaussterben der Erdgeschichte. Auch wenn es in der Frage nach den Ursachen des Aussterbens immer noch hitzige Diskussionen gibt, sind sich alle einig, dass in der Folge des Aussterbens eine tiefgreifende Veränderung der Ökosysteme einsetzte. Die Umweltbedingungen, die im Perm für das Aussterbeereignis sorgten, blieben (im Gegensatz zum Kreide-Paläogen-Ereignis) mehrere Millionen Jahre bestehen. Erst vor rund 245 Millionen Jahren setzte offenbar so etwas wie eine Erholung ein. Es ist zu vermuten, dass das Massenaussterben direkt oder indirekt vom Rückgang des Sauerstoffgehalts verursacht wurde. Im Meer war der Sauerstoffmangel offensichtlich so stark ausgeprägt, dass viele Meereslebewesen ganz plötzlich starben. Vieles spricht dafür, dass es zur Zeit des Aussterbens zu einer globalen Erwärmung kam. Über die Ursache des Aussterbens von über 90 % aller Arten gibt es verschiedene Hypothesen, darunter großflächige Vulkanausbrüche und – wie könnte es anders sein – den Einschlag eines Himmelskörpers. Ward und Kirschvink favorisieren die Hypothese, dass eine große Menge von giftigem Schwefelwasserstoff von der Tiefsee in die Atmosphäre gelangte, was neben der direkten Giftwirkung auch zur Zerstörung der schützenden Ozonschicht geführt hätte. Warum es nach dem Aussterben im Perm so lange gedauert hatte, bis das Leben sich erholte, wurde 2012 von einem chinesisch-amerikanischen Wissenschaftlerteam publiziert. Der Befund: eine Temperatur von 40 Grad Celsius im Meer und 60 Grad an Land! Diese Bedingungen hielten mehrere Millionen Jahre an, dann folgte die „triassische Explosion“. Da ging es aber zunächst nicht um die Dinosaurier, sondern um kleinere Tiere wie Ammoniten und Steinkorallen im Meer oder Reptilien bis hin zu den ersten Säugetieren an Land. Gegen 89

Ende der Triaszeit setzten sich schließlich die Dinosaurier durch, die jedoch noch deutlich kleiner waren als in der darauffolgenden Jurazeit. Dies hing wieder einmal mit dem Sauerstoffgehalt der Atmosphäre zusammen, der in der Triaszeit nur bei 10 bis 15 Prozent lag, am Ende war er sogar niedriger als am Anfang.

Am 18. April 2018, kurz nachdem ich diese Hypothese von Ward und Kirschvink in mein Manuskript übernommen hatte, wurde in der Presse von einer Arbeit berichtet, in der die Ausbreitung der Dinosaurier vor 232 Millionen Jahren angeblich doch auf einen Meteoriteneinschlag zurückzuführen ist. Das italienisch-britische Forscherteam untersuchte Fußabdrücke in den norditalienischen Dolomiten und konstatierte eine rapide Ausbreitung der Dinosaurier in einem relativ kurzen Zeitraum. Dies wurde durch Skelettfunde in Argentinien und Brasilien untermauert. Allerdings ist in der zitierten Originalarbeit (Bernardi et al. 2018) nirgends von einem Impakt die Rede, sondern von einem mehrfachen klimatischen Wandel (trocken-feucht-trocken), der vermutlich mit großen Vulkaneruptionen in Verbindung stand. Dinosaurier und Meteoriteneinschläge sind inzwischen eben sehr populär geworden, und es klingt doch faszinierend, dass die Ära der Dinosaurier nicht nur durch einen Meteoriteneinschlag beendet wurde, sondern auch durch einen Impakt begonnen hatte. Ausgeschlossen ist es natürlich nicht, dass die Vulkaneruptionen durch einen Impakt ausgelöst wurden.

Am Ende der Triaszeit vor etwa 200 Millionen Jahren gab es wiederum ein Massenaussterben, Nummer vier der „Big Five“. Auch dieses wurde zunächst mit einem Meteoriteneinschlag in Verbindung gebracht, heute geht man aber davon aus, dass die Ursache ein Treibhauseffekt mit Zunahme von Kohlendioxid und Abnahme von Sauerstoff war. Die Dinosaurier überlebten wohl vor allem wegen ihrer besonders effizienten Lunge, waren aber am Anfang des Jura bezüglich Individuenzahl, Artenzahl und Größe relativ unbedeutend. Am Ende des Jura waren sie die größten Landtiere aller Zeiten und kamen überall vor. Die Säugetiere waren klein und wohl überwiegend in der Nacht aktiv, um den damaligen „Herren der Schöpfung“ auszuweichen. Auch das 90

Meer war am Anfang des Jura verödet, es gab keine Korallenriffe mehr. Am Ende des Jura wurden die Meere von vielen Lebewesen besiedelt, darunter Reptilien aus den Gruppen der Plesiosaurier und Ichthyosaurier (Abb. 25), die sich in riesigen Korallenriffen tummelten. In den Gesteinshorizonten der Jurazeit wurde bereits im 19. Jahrhundert nachgewiesen, dass man Schichten in weit voneinander entfernten Regionen anhand ihrer Fossilien miteinander in Verbindung bringen kann.

Abb. 25: Skelett eines Fischsauriers aus dem Ölschiefer von Holzmaden. Auch die Kreidezeit (vor 145 bis 66 Millionen Jahren) wurde von den Dinosauriern beherrscht, in der späten Kreidezeit nahm die Artenvielfalt sogar rapide zu. Dann kam das „berühmteste Massenaussterben aller Zeiten“, das Kreide-Paläogen-Ereignis. In diesem Zusammenhang weisen Ward und Kirschvink auf Georges Cuvier hin, einen der „Vorreiter des Katastrophismus“. Auch sie behaupten jedoch wie so viele, dass sich Cuvier und sein Schüler d’Orbigny „trotz aller wissenschaftlicher Beiträge“ auf übernatürliche Kräfte berufen hätten. Danach gehen sie auf das Hin und Her zwischen Katastrophismus und Aktualismus (in der deutschen Ausgabe wurde das englische uniformitarianism mit Uniformitarianismus übersetzt) ein und darauf, dass sich letzterer schließlich durchsetzte. Im 20. Jahrhundert hatte der Katastrophismus „abgesehen vielleicht von einzelnen verschrobenen Autoren“ keine Unterstützer mehr. Als rühmliche Ausnahme wird Otto Heinrich Schindewolf (1896–1971) genannt, von 1948 bis zu seiner Emeritierung 1964 Professor für Paläontologie an der Universität Tübingen. Im Gegensatz zur überwiegenden Mehrzahl der Evolutionsforscher, die den Fortgang der Evolution durch kleine graduelle Veränderungen annahmen, sprach sich Schindewolf 91

wegen des Fehlens von Übergangsformen für sprunghafte Änderungen durch Großmutationen aus, die z.B. durch zunehmende kosmische Strahlung durch einen nahegelegenen Stern, der zur Supernova wurde, verursacht werden konnten. Schindewolf sprach von Neokatastrophismus. An Land war das Massenaussterben an der K-P-Grenze insbesondere durch das Aussterben der Dinosaurier und den daraus resultierenden Aufstieg der Säugetiere gekennzeichnet. Im Meer verschwanden die Ammoniten, es entwickelten sich Lebensgemeinschaften, die von Schnecken und Muscheln beherrscht wurden. Heute wissen wir allerdings, dass der K-P-Impakt nur der letzte Schlag des Massenaussterbens war, es gab bereits vorher mehrere Aussterbewellen, bei denen der Vulkanismus eine große Rolle spielte und es zu schnellen Änderungen des Meeresspiegels und zu Veränderungen in der chemischen Zusammensetzung des Meerwassers kam. „Nachdem die lange Ära der Dinosaurier ihr krachendes, feuriges Ende erlebt hatte, kam eine Rattenplage über die Welt. Oder zumindest eine Plage von rattengroßen Überlebenden.“ Damit umschreiben Ward und Kirschvink, dass die ersten Säugetiere vor 210 Millionen Jahren nicht größer waren als eine Spitzmaus und in der Ära der Dinosaurier auch keine deutlich größeren Formen auftraten. Allerdings entwickelten sich ihre Hauptgruppen bereits vor dem Aussterben der Dinosaurier auseinander, so erfolgte z.B. die Abspaltung der „modernen“ Plazentatiere von den Beuteltieren vermutlich bereits vor 175 Millionen Jahren. Die Größenzunahme setzte jedoch erst nach der Katastrophe ein, die größten Arten erschienen erst vor rund 55 Millionen Jahren im Eozän. Damals ging die Zunahme der globalen Temperaturen mit einer Ausdehnung der Wälder einher, was stark zur Zunahme der Säugetier-Vielfalt beigetragen hat. Die Temperaturerhöhung hing mit einer starken Zunahme der Vulkantätigkeit vor 58 bis 56 Millionen Jahren zusammen. Wieder einmal kam es durch den Treibhauseffekt zu einem Massensterben, das sich vor allem in den Meeren abspielte. Aber auch an Land ging die Artenzahl zurück, später tauchten neue Gruppen auf wie Paar- und Unpaarhufer und „moderne“ Raubtiere. Vom Eozän bis zum Beginn des Miozäns wurde es allmählich kühler, im Oligozän beschleunigte sich die Abkühlung. Während das Klima zuvor weltweit nahezu gleichförmig gewesen war, entwickelten sich extreme Jahreszeiten. Zudem bildeten sich kontinentale Eiskappen, deren Entstehung mit einem 92

schnellen und dramatischen Absinken des Meeresspiegels verbunden war. In höheren Breiten machten die Wälder vielerorts Graslandschaften und Savannen Platz. Die Evolution der Pflanzen führte aufgrund des sinkenden Kohlendioxidgehaltes zum sogenannten C4-Stoffwechsel, einer effizienteren Form der Photosynthese. Die wichtigsten C4-Pflanzen sind Gräser, von denen sich viele Pflanzenfresser vorwiegend ernähren. Zusammenfassend zählen Ward und Kirschvink nicht nur fünf, sondern zehn Massenaussterben auf: 1.

Die „Große Sauerstoffkatastrophe“ in Verbindung mit der ersten Schneeball-Erde-Episode durch das Auftauchen von sauerstoffproduzierenden Cyanobakterien vor rund 2,5 Mrd. Jahren. Sauerstoff war für die Mehrzahl der Organismen ein „Giftgas“. 2. Die Schneeball-Erde-Episoden im sog. Cryogenium vor 850 bis 635 Millionen Jahren, bei denen die Photosynthese nahezu zum Stillstand kam. Nicht nur die Artenvielfalt schrumpfte enorm, sondern auch die Biomasse. 3. Das Aussterben in der späten Ediacara-Zeit an der Grenze vom Proterozoikum zum Phanerozoikum vor rund 540 Millionen Jahren; 4. Das Aussterben im späten Kambrium, das möglicherweise durch eine „echte Polwanderung“ ausgelöst wurde; 5. Das Massenaussterben im Ordovizium, das mit einer Abkühlung und Veränderungen des Meeresspiegels einherging; 6. Das Massenaussterben im Devon, möglicherweise das erste durch den Treibhauseffekt verursachte Artensterben; 7. Das größte aller Massenaussterben im Perm zwischen Paläozoikum und Mesozoikum; 8. Das Massenaussterben in der Triaszeit; 9. Das berühmteste Aussterbeereignis an der Grenze von Kreidezeit und Paläogen; 10. Das Massenaussterben an der Grenze von Pleistozän und Holozän, das sich bis heute fortsetzt.

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Klimagewalten – Treibende Kraft der Evolution Das war der Titel einer Sonderausstellung 2017/18 im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle (Saale), das unter anderem auch die berühmte Himmelsscheibe von Nebra beherbergt. In der Ausstellung ging es „um das Wechselspiel von Klimaentwicklung und Evolution im Verlauf der letzten 66 Millionen Jahre“, also nach dem Einschlag des Dinosaurier-Killers am Ende der Kreidezeit. Ganz am Anfang des Rundwegs zeigte eine Grafik, dass die weltweite Durchschnittstemperatur zu Beginn des Känozoikums über 25° C lag, also weit über den heutigen 14 Grad. Beim sogenannten „eozänen Optimum“ vor etwa 50 Millionen Jahren, aus der die berühmten Fossilien des Geiseltals bei Halle und der Grube Messel bei Darmstadt stammen (Seitz 2017), wurden sogar fast 30 Grad erreicht. Dann ging es, von kurzen Peaks abgesehen, mit der Temperatur ständig bergab. Die 20 Grad-Linie wird jedoch erst ab dem Oligozän immer wieder unterschritten, in der zweiten Hälfte des Miozäns ab etwa 13 Millionen Jahren sinkt sie dann weiter ab. Im Pliozän (vor 5,3 bis 2,6 Mio. Jahren) gibt es dann erstmals Zeitabschnitte, in denen die Temperaturen unter den heutigen lagen, jedoch nicht unter 12° C. Erst am Ende des Pleistozäns, des Eiszeitalters, lag die weltweite Durchschnittstemperatur in den Kaltzeiten teilweise unter 10 Grad, in den deutlich kürzeren Warmzeiten wurden 16 bis 17 Grad erreicht. Das Holozän soll als Zeitalter der Menschen später betrachtet werden. Als wichtigste irdische Klimafaktoren werden Plattentektonik, Vulkanismus, Zusammensetzung der Atmosphäre, Meeresströmungen, Verwitterungsprozesse und die Biosphäre genannt. Letztere wirkt vor allem über den globalen Kohlenstoffkreislauf auf das Klima und beeinflusst die atmosphärischen Anteile von Sauerstoff und Kohlendioxid. Die „Hauptarbeit“ leistet dabei das Plankton der Ozeane, wo der Kohlenstoff zum Teil in den Sedimenten fixiert wird. Ein großer Teil des CO2 wird von Meeresorganismen als Kalziumkarbonat gebunden, dies stellt auch einen wichtigen Puffer in Zeiten hoher CO2-Angebote dar. Ein Schwerpunkt der Ausstellung war die Entwicklung des Lebens in der Erdneuzeit (Känozoikum). Als Folge des Impakts an der Kreide-TertiärGrenze ging das Klima zunächst auf eine kurze Achterbahnfahrt. Nach der 94

Abkühlung durch den „Impaktwinter“ ging es im Paläozän mit den Temperaturen aber rasch wieder nach oben, vor etwa 62 Millionen Jahren stellte sich ein erstes Optimum ein. Nach einem kleinen Minimum vor etwa 58 Millionen Jahren folgte eine kontinuierliche Erwärmung, die in das oben bereits erwähnte eozäne Optimum vor 52 bis 48 Millionen Jahren mündete. An der Grenze Eozän/Oligozän (vor 34–33 Millionen Jahren) führte die erste großflächige Vereisung der Antarktis zu einem starken Temperatureinbruch mit globalem Meeresspiegelrückgang, gefolgt von allmählich wieder ansteigenden Temperaturen. Die neuerliche Erwärmung kulminierte in einer Warmphase vor 25–24 Millionen Jahren, an der Grenze Oligozän/Miozän sorgte die nächste antarktische Vereisung erneut für einen kurzzeitigen globalen Temperaturrückgang. Anschließend kletterten die Temperaturen zum mittelmiozänen Optimum (vor etwa 16–14 Mio. Jahren), um danach endgültig ins „Eishaus“ des Pleistozän abzustürzen. Ab der Zeit vor etwa 3 Millionen Jahren beschleunigte sich der Temperaturabsturz noch einmal und führte zur extrem kalten Periode der quartären Eiszeiten. Die känozoische Klimaentwicklung ist eng mit der Plattentektonik verknüpft. Im Mesozoikum waren die Südkontinente (Südamerika, Afrika mit Indien, Australien und die Antarktis) im Superkontinent Gondwana vereinigt. Der Zerfall dieses Superkontinents führte zu völlig neuen Bedingungen. Afrika und Indien waren zu Beginn des Känozoikums aus dem Verbund herausgelöst, Madagaskar trennte sich gerade von Afrika. Südamerika und Australien trennten sich erst vor 40 bis 35 Millionen Jahren vollständig von der Antarktis, die seither zentral am Südpol liegt. Ein äquatornaher Ozean, die Neothethys, verband die indopazifische Region über das Mittelmeer mit dem Atlantik, der wiederum mit dem Pazifik im Kontakt stand, so dass sich eine zirkumäquatoriale Meeresströmung einstellen konnte. Indien, das sich schon vor 80 bis 70 Millionen Jahren von Gondwana getrennt hatte, wanderte mit ziemlich hoher Geschwindigkeit nach Norden und kollidierte bald mit der Eurasischen Platte, wobei der Himalaya und andere Gebirge aufgeworfen wurden. Etwas später trennte sich Madagaskar von Afrika und nahm die damals weltweit vorkommenden Lemuren mit, deren Nachfahren heute noch dort leben – ansonsten wurden sie weitgehend von den später entstandenen „echten“ Affen verdrängt (Seitz 2014). Anders als Indien blieb Australien nach der Trennung von der Antarktis bis heute ein 95

isolierter Inselkontinent und behielt seine endemische Beuteltierfauna. Auch Südamerika war bis zur Schließung der mittelamerikanischen Landbrücke isoliert und entwickelt eine endemische Fauna, unter anderem mit Gürteltieren und Faultieren. Dagegen bestand zwischen Eurasien und Nordamerika zeitweise Kontakt über verschiedene Landbrücken. Am Ende des Paläogen (vor etwa 24 Millionen Jahren) gab es vier große biogeografische Reiche: Die Alte Welt mit Eurasien und Afrika, zu der Nordamerika regelmäßig Kontakt hatte, das extrem isolierte Australien, das ebenfalls isolierte Südamerika und die Antarktis. Im mittleren Neogen (vor 16–14 Mio. Jahren) verschwand zunächst der Neotethys-Ozean, daraufhin wurde das Mittelmeer isoliert und trocknete weitgehend aus. Das ermöglichte die Migration der Tiere zwischen Europa, Nordafrika und den Mittelmeerinseln. Durch Schließung der mittelamerikanischen Landbrücke traten auch Nord- und Südamerika in Kontakt. Durch die Landbrücke wurde der karibische Warmwasserstrom durch den Golf von Mexiko umgeleitet, der Golfstrom entstand und war fortan der wesentliche Faktor der Klimaentwicklung. Das Känozoikum war nicht nur das Zeitalter der Säugetiere, auch die „modernen“ Blütenpflanzen entfalteten sich und zielten in ihrer Bestäubungsstrategie in erster Linie auf Insekten, die zusammen mit den Blütenpflanzen eine ungeheure Vielfalt entwickelten und zur artenreichsten Tiergruppe aufstiegen. An Land entwickelten sich die tropischen Regenwälder zu „Hotspots“ der Biodiversität, im Meer die tropischen Korallenriffe.

Messel – ein fossiles Tropenökosystem Einen guten Einblick in Flora und Fauna des Eozäns (vor 56 bis 34 Mio. Jahren) erlauben in Deutschland zwei Fossillagerstätten von Weltrang: die Grube Messel bei Darmstadt und das Geiseltal bei Halle (Saale). Das Klima war damals tropisch bis subtropisch, und das schlug sich auch in einer entsprechenden Tier- und Pflanzenwelt nieder. Zu Messel gibt es ein nagelneues, umfassendes Buch, herausgegeben von der Senckenberg Gesellschaft für Naturforschung (Schaal et al. 2018). Darin werden 96

nicht nur die im Welterbe Grube Messel gefundenen Fossilien abgebildet und ausführlich beschrieben, sondern auch ein 48 Millionen Jahre altes tropisches Ökosystem. Man geht davon aus, dass die durchschnittliche Jahrestemperatur in Messel damals 20°C betrug und die Temperatur im Winter selten unter 10°C fiel. Dennoch herrschten dort Bedingungen, die heute auf der Erde nicht mehr zu finden sind: Trotz gleichmäßiger Temperaturen gab es Tageslichtschwankungen im Jahreslauf, da Messel in mittleren Breiten lag. Die Ökosysteme waren stark von der Topografie des Kraters geprägt, der durch vulkanische Eruptionen entstanden war. Die Basis des aquatischen Ökosystems im Kratersee waren überwiegend Grünalgen, von denen sich Wirbellose wie Wasserflöhe und Köcherfliegenlarven ernährten. Diese wurden von räuberischen Insektenlarven und kleinen Fischen gefressen, die wiederum von großen räuberischen Fischen, Schildkröten und Krokodilen erbeutet wurden. Das seichte Ufer des Kratersees beherbergte neben den erwähnten Wasserorganismen zahlreiche andere Tiere und Pflanzen. Besonders bemerkenswert sind Seerosenbestände, die in Wassertiefen unter 2 Meter im Sediment verankert waren und die Wasseroberfläche mit ihren Blättern und Blüten bedeckten. Zusammen mit anderen Wasserpflanzen bildeten sie einen dreidimensionalen Lebensraum, in dem uferbewohnende Tiere wie Schnecken, Frösche und Fische lebten und Schutz suchten. Außerhalb des Wassers bildete sich in den Uferbereichen teilweise eine Sumpfvegetation, unter anderem mit Sauergräsern, Farnen, Schachtelhalmen, Palmen und Zypressen. Weiter weg vom Ufer wuchs hoher und dichter Wald, am Rand mit einem dichten Vorhang von unterschiedlichen Lianen. Die häufigsten Pflanzengruppen im Wald waren Lorbeerbäume, Walnussbäume, Teestrauchgewächse und Leguminosen. Die diversen Formen dieser Pflanzen – Kräuter, Büsche und Bäume – weisen auf eine Mehrstöckigkeit hin wie bei den heutigen tropischen Regenwäldern. Die Vielfalt der Waldtiere war enorm: Neben zahlreichen Insekten und anderen Gliederfüßern bewohnten pflanzenfressende Wirbeltiere den Waldboden, darunter Urpferde und Tapirartige. Es gab auch viele bodenbewohnende Vögel, darunter der riesige, flugunfähige Gastornis (Abb. 26). In den Bäumen und darüber lebten viele insektenfressende Vögel, darunter auch Segler, die Insekten im Flug fingen. 97

Abb. 26: Im Vordergrund das rekonstruierte Skelett des Laufvogels Gastornis, dahinter das Skelett einer für die damalige Zeit großen Pferdeart. Berühmtheit erlangte das in der Grube Messel gefundene Fossil des Primaten Darwinius masillae, auch „Ida“ genannt (Abb. 27). Das Skelett und der Weichkörper sind möglicherweise deshalb so gut erhalten, da am Ufer des Messelsees bisweilen giftige Gase aufstiegen, die „Ida“ beim Trinken übermannt haben könnten. Der Kadaver sank auf den Seeboden, wo er in die schlammigen Sedimente eingebettet und unter Luftabschluss fossil erhalten wurde.

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Abb. 27: Fast vollständiges Skelett des knapp 60 cm großen Primaten Darwinius masillae aus der Grube Messel.

Die Evolution der Pferde spiegelt sehr gut die klimatische Entwicklung seit dem Eozän wider. Der Temperaturrückgang im Miozän führte zur Ausdehnung von Savannen und Steppen in den Kontinentalbereichen von Zentralasien und Nordamerika. Als Nahrung standen nun hauptsächlich harte Gräser und Kräuter zur Verfügung, außerdem waren die Steppen durch die nächtliche Abkühlung klimatisch rauer als Wälder. Pflanzenfresser reagierten mit besonderen Strategien, wie man besonders eindrucksvoll bei den Pferden sehen kann. Sie entwickelten hochkronige Backenzähne, die genügend Abriebreserven für die harte Nahrung boten, und harte Hufe für den schnellen Lauf. Das etwa ponygroße Hipparion aus dem mittleren Miozän Nordamerikas hatte 99

noch drei Zehen, aber nur der mittlere Zeh war noch in Aktion. Beim modernen Pferd wurden die beiden äußeren Zehen dann komplett zurückgebildet. Die erste große Kältewelle brach zu Beginn des Quartärs vor 2,6 Millionen Jahren über Europa herein, erstmals breiteten sich kalte Steppen aus. Wärmeliebende Tiere verschwanden aus der nord- und mitteleuropäischen Fauna. Aus den Alpen stießen erstmals Gletscher vor, Norddeutschland blieb jedoch noch lange eisfrei und wurde erst rund zwei Millionen Jahre später vom nordischen Eis überdeckt. Im Quartär gab es mehrfache extreme Schwankungen zwischen Kalt- und Warmzeiten, wie es im gesamten vorausgehenden Känozoikum nie der Fall war. Sie lassen sich nicht alleine auf die Sonneneinstrahlung und den Erdbahnverlauf (Milanković-Zyklen) zurückführen, sondern hängen mit verschiedenen Ursachen zusammen; eine wesentliche Rolle dürften die Meeresströmungen und allen voran der Golfstrom gespielt haben. Im Zusammenhang mit der starken Abkühlung setzte in der Nordhemisphäre die Entwicklung von kälteangepassten Organismen ein. Die Zahl der Arten reduzierte sich in den kalten Gebieten im Vergleich zu warmen Regionen erheblich. Dafür traten manche Arten in großen Verbänden auf, z.B. Lemminge oder Rentiere. Besonders elegant lösten die Vögel die jahreszeitlichen Schwankungen: Sie nutzten den kurzen Nordsommer mit seinen fast unerschöpflichen Nahrungsquellen für die Fortpflanzung und zogen sich im Herbst nach Süden zurück. Die großen jährlichen Vogelwanderungen sind ebenso im Zuge der Abkühlung entstanden wie die Züge mancher Fischschwärme. Dem Wechsel von Kalt- und Warmzeiten folgend änderte sich auch die Tier- und Pflanzenwelt. In den Kaltzeiten waren die Böden in Mitteleuropa meist ganzjährig gefroren (Permafrost), sodass kaum Bäume wachsen konnten und sich eine Steppe bildete, die auch als Mammutsteppe bezeichnet wird. Hier weideten zunächst Steppenmammuts, die Vorfahren des späteren Wollhaarmammuts, das in der Saale-Kaltzeit (vor 300.000 bis 126.000 Jahren) unter anderem im Geiseltal (Sachsen-Anhalt) vorkam. Seine maximale Verbreitung erreichte das Mammut aber in der letzten Kaltzeit (vor 115.000 bis etwa 12.000 Jahren), die als Weichsel- (Norden) bzw. als Würm-Kaltzeit (Süden) bezeichnet wird. Die vereiste Fläche war in dieser Zeitspanne erheblich kleiner als in den vorhergehenden Kaltzeiten. Weitere kältegewohnte nordostsibirische Tierarten, die in den Kaltzeiten nach Mitteleuropa einwanderten, waren Moschusochsen, Wollnashörner und Rentiere (Seitz 2017). 100

3. Katastrophen in der Menschheitsgeschichte Die Sintflut Der noch lange in der Geologie beibehaltene Name Diluvium (Flut) für das Pleistozän zeigt, dass die früheren Geologen, die sich an der Bibel orientierten, die Geschichte in eine Zeit vor und nach der Sintflut einteilten. Der englische Theologe und Geologe William Buckland (1784–1856) war einer der letzten dieser religiös eingestellten Geologen, der eine Verbindung zwischen Geologie und Theologie herstellen wollte (Oeser 2011). Wie wir gesehen haben, ging es Georges Cuvier im Gegensatz zu einigen der früheren „Katastrophisten“ nicht darum, den Wahrheitsgehalt der Bibel zu belegen. Im Gegenteil, in seinem Discours kritisierte er die „älteren Systeme der Geologen“: Lange Zeit hat man nur zwei Ereignisse, zwei Haupt-Veränderungs-Epochen der Erdkugel angenommen: die Schöpfung und die Sündfluth. Die ganze Anstrengung der Geologen ging dahin, den gegenwärtigen Zustand der Erde zu erklären, indem sie sich einen gewissen Ur-Zustand derselben dachten, der durch die Sündfluth verändert worden sey. Die Ursache, die Kraftäusserung und die Wirkung dieser Fluth dachte jeder sich in seiner eigenen Art. Nach gründlichem Studium der historischen Überlieferungen kam Cuvier zum Schluss, dass die „Deukalionische Flut“ der Griechen und die „Sündfluth“ ein und dasselbe waren und „die Ueberlieferung von der Sündfluth […] mit einigen Modificationen von den Hellenen in die Epoche gesetzt worden ist. Ansonsten erwähnte Cuvier die Sintflut nicht weiter und setzte sie auch nicht mit der von ihm besonders beachteten „letzten Katastrophe“ gleich. Mit der Anmerkung, dass die Deukalionische Flut, die Zeus wegen ihrer Verdorbenheit über die Menschen gebracht haben soll, vermutlich von der biblischen 101

Sintflut abgeleitet war, verfolgte er eine interessante Spur. Berichte von einer großen Flut als „Strafe Gottes“ sind nämlich nicht nur aus der Bibel (1. Buch Mose) überliefert, sondern unter anderem auch aus dem Gilgamesch-Epos, frühchristlichen Schriften und dem Koran. Da die Flutschilderungen in verschiedenen Kulturkreisen auftraten, die nicht miteinander in Kontakt standen, handelt es sich wohl nicht um übernommene „Plagiate“. Prinzipiell sind zwei Deutungen denkbar: –

Größere Flutkatastrophen kamen in verschiedenen Regionen der Erde vor und wurden unabhängig voneinander beschrieben.



Es gab eine sehr großflächig wirksame Katastrophe, die in verschiedenen Regionen der Erde wahrgenommen wurde.

Die zweite Hypothese vertritt das Wiener Geologen-Ehepaar Alexander und Edith Tollmann in seinem 1993 erschienenen Buch Und die Sintflut gab es doch – Vom Mythos zur historischen Wahrheit. Auf der Grundlage von fast weltweit verbreiteten Weltuntergangs-Mythen postulierten die Tollmanns den Einschlag von sieben Fragmenten eines Himmelskörpers in verschiedenen Teilen der Erde vor rund 9.500 Jahren. Die Krater dieser Bruchstücke wurden ihrer Ansicht nach bisher deshalb nicht gefunden, da sie alle – bis auf kleine „Absprengsel“ – ins Meer fielen. Die Flutwelle wäre demnach auf gewaltige Tsunamis zurückzuführen, die über die Kontinente hereinbrachen. Neben der Sintflut bringen sie auch das Aussterben der Mammuts und den Untergang von Atlantis mit diesem Impakt in Verbindung, womit gleich drei Rätsel auf einmal gelöst wären. Die Sintflut wurde mit lokalen Überschwemmungen, Megafluten durch Aufbrechen von Eisstauseen, Vulkanausbrüchen, Meteoriteneinschlägen sowie See- und Erdbeben in Verbindung gebracht. Am besten belegt ist eine 1997 entwickelte Theorie, die von einem plötzlichen Wassereinbruch in das Schwarze Meer ausgeht. Nach dem Ende der letzten Eiszeit stiegen durch das Abschmelzen der Gletscher alle Meeresspiegel weltweit an, damit hob sich auch der des Mittelmeers und erreichte etwa im 7. Jahrtausend v. Chr. das Niveau des Bosporus. Innerhalb kurzer Zeit erhöhte sich so der Wasserspiegel in der Senke um mehr als 100 Meter. Funde von Süßwassermuscheln aus 102

Sedimentablagerungen in Tiefen von bis zu 120 Metern und Ablagerungen eines Salzwassermeeres darüber stärken diese Theorie, denn sie belegen, dass das Schwarze Meer bis zum Ende der letzten Eiszeit ein großer Süßwassersee war, der dann abrupt zum Salzwassermeer wurde, wobei sich auch der alte Küstenverlauf eindeutig rekonstruieren ließ. Siedlungsfunde im heutigen Küstenbereich des Schwarzen Meeres (Rumänien) legen nahe, dass es sich bei den damaligen Bewohnern um Nachfahren der Menschen handelt, welche die mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenfalls besiedelten tiefergelegenen Gebiete durch die kontinuierliche Salzwasserüberflutung fluchtartig verlassen mussten (Wikipedia: Sintflut, zuletzt aufgerufen am 4.8.18). Möglicherweise war diese Überflutung Auslöser für Wanderungsbewegungen der Neolithiker nach Mitteleuropa (Poschlod 2015).

Atlantis und andere Untergänge Ebenso verbreitet wie die Berichte über große Fluten sind die über untergegangene Inseln. Die berühmteste von ihnen ist ohne Zweifel der Mythos von Atlantis, der bereits Georges Cuvier bekannt war. Er urteilte darüber ähnlich rational wie über die Sintflut: Die Priester von Sais sagten z. B. zu Solon, ohngefähr 550 Jahre vor Christi Geburt: da Aegypten nicht den Ueberschwemmungen unterworfen gewesen sey, so hätten sie nicht allein ihre eigenen Geschichtsbücher, sondern auch die der anderen Völker aufbewahrt; die Städte Athen und Sais seyen von Minerva erbauet worden, erstere seit 9000, die andere aber blos seit 8000 Jahren; und zu diesen Zeit-Angaben fügten sie die bekannten Fabeln über die Atlanten, von dem Widerstande, den ihre Eroberungen bei den alten Atheniensern fanden, so wie die ganze romanhafte Beschreibung der Atlantis, eine Beschreibung, worin sich ähnliche Umstände und Genealogien wie in allen mythologischen Romanen finden.

Cuvier hielt Atlantis also für eine „romanhafte Beschreibung“, die sich nicht von anderen mythologischen Romanen unterschied. 103

Das Inselreich Atlantis wurde vom griechischen Philosophen Platon (428/427 bis 348/347 v. Chr.) in der Mitte des 4. Jahrhunderts v. Chr. erwähnt und beschrieben. Atlantis war laut Platon eine Seemacht, die ausgehend von ihrer „jenseits der Säulen des Herakles“ gelegenen Hauptinsel große Teile Europas und Afrikas unterworfen hat. Nach einem gescheiterten Angriff auf Athen sei Atlantis schließlich um 9600 v. Chr. infolge einer Naturkatastrophe innerhalb „eines einzigen Tages und einer unglückseligen Nacht“ untergegangen. Bereits in der Antike wurde eine mögliche Existenz von Atlantis diskutiert. Während Autoren wie Plinius bestritten, dass es das fragliche Inselreich gegeben habe, hielten andere die Existenz von Atlantis für denkbar. Auch die ersten Parodien des Themas entstanden bereits in der Antike. Im Mittelalter geriet der Mythos Atlantis mehr oder weniger in Vergessenheit, bis er schließlich in der Renaissance wiederentdeckt und verbreitet wurde, da die Gelehrten in Europa nun wieder Griechisch verstanden. Seitdem gibt es fast unüberschaubare „Lokalisierungshypothesen“, d.h. argumentativ gestützte Vermutungen über den Ort, an dem Atlantis gelegen haben soll. Seit 2005 gibt es sogar internationale Konferenzen zu dieser Thematik. Die Mehrheit der Fachwissenschaftler hält Platons Atlantis jedoch für eine Erfindung, so dass eine wissenschaftliche Diskussion kaum stattfindet. Lokalisiert wurde Atlantis z.B. in der minoischen Kultur der Insel Kreta (Vulkanausbruch auf Santorin/Thera), im bronzezeitlichen Troja, in Kleinasien, auf dem Balkan, im Bereich des Schwarzen Meers, auf der Iberischen Halbinsel, auf verschiedenen Mittelmeerinseln, in Afrika, auf den Britischen Inseln, in der Bretagne, in Nordeuropa, in Asien und in der Antarktis. In der utopische Novelle Nova Atlantis von Francis Bacon (1561–1626) wird Atlantis mit Amerika identifiziert. Die Indianer seien die Überlebenden einer apokalyptischen Katastrophe. Bacon korrigiert Platon, wenn er schreibt, Atlantis sei nicht gesunken, sondern von einer ungeheuren Sturmflut verwüstet worden, derselben Katastrophe, die im Buch Mose als Sintflut auftritt (Schenk et al. 2014). Im 17. Jahrhundert forschte der Universalgelehrte Athanasius Kircher (1602–1680) über Vulkanismus, Meere und die Entstehung und das Untergehen von Land. Seine Forschungsergebnisse fasste er in dem Werk Mundus 104

Subterraneus zusammen. Als ein Beispiel führte er das von Platon beschriebene Atlantis im Atlantik auf. Wie Platon und Kircher verortete der US-amerikanische Politiker und Hobby-Historiker Ignatius Donnelly (1831–1901) Atlantis im Atlantik. Sein Buch Atlantis, the Antediluvian World (1882) wurde ein Bestseller. Donnelly verband Platons Bericht mit der biblischen Sintflut und beschrieb Atlantis als untergegangenen Kontinent im Nordatlantik, der – wie von Platon beschrieben – innerhalb eines Tages und einer Nacht versank. Er verwies auf die Inselgruppe der Azoren. Demnach soll diese durch eine Naturkatastrophe so grundlegend zerstört worden sein, dass nur noch die Gipfel des einstigen Inselkontinentes Atlantis aus dem Wasser ragen. Auch der österreichische Techniker und Wissenschaftler Otto Muck (1892–1956) vertrat die Hypothese, dass das untergegangene Atlantis im Gebiet der Azoren zu finden sei, und beschrieb das Folgeszenario – ähnlich wie das Ehepaar Toll – mit zahlreichen Indizien sowie Zitaten aus Sintflutsagen alter Völker. In seinem Buch Atlantis – gefunden. Kritik und Lösung des Atlantis-Problems (1954, Neuauflage 1976 unter dem Titel Alles über Atlantis) untermauerte er dies unter anderem mit der Wanderung der Aale zur Sargassosee, dem Golfstrom, dem Ende der Eiszeit und Sprachverwandtschaften. Der Untergang von Atlantis durch den Einschlag eines Himmelskörpers wurde von ihm anhand des Maya-Kalenders auf den 5. Juni 8498 v. Chr., 13:00 Uhr Greenwich-Zeit auf die Stunde genau festgelegt. Nach aktueller Forschung beginnt der Maya-Kalender allerdings 3114 v. Chr. Bis heute gibt es keinen klaren Nachweis des von Platon beschriebenen Atlantis. Die zahlreichen Lokalisierungsversuche zeigen aber, dass es in der Menschheitsgeschichte viele Katastrophen und untergegangene Inseln gab.

Weitere Katastrophen biblischen Ausmaßes In den Naturwissenschaften war der Katastrophismus auch deshalb lange verpönt, da er in Verbindung zur „Chronologiekritik“ gebracht wurde – Thesen, nach denen der von Historikern rekonstruierte Geschichtsverlauf (Chronologie) fehlerhaft sei. Die meisten dieser Thesen beinhalten eine 105

drastische Verkürzung historischer Zeitabschnitte. Häufig werden dabei Katastrophenberichte in den Mythologien der Völker herangezogen, unter anderem auch aus der Bibel. Am häufigsten wird dabei das „Armageddon“ der Johannes Apokalypse erwähnt. Da ist von sieben Engeln mit sieben Posaunen die Rede. „Der erste Engel blies seine Posaune. Da fielen Hagel und Feuer, die mit Blut vermischt waren, auf das Land.[…] Der zweite Engel blies die Posaune. Da wurde etwas, das einem brennenden Berg glich, ins Meer geworfen. Ein Drittel des Meeres wurde zu Blut. Und ein Drittel der Geschöpfe, die im Meer lebten, kamen um […]. Der dritte Engel blies seine Posaune. Da fiel ein großer Stern vom Himmel […]. Der vierte Engel blies die Posaune. Da wurde ein Drittel der Sonne und ein Drittel des Mondes und ein Drittel der Sterne getroffen, so dass sie ein Drittel ihrer Leuchtkraft verloren und der Tag um ein Drittel dunkler wurde und ebenso die Nacht.“ Beim fünften Engel ist von einem großen Schacht die Rede, der in den Abgrund führt und aus dem Rauch aufsteigt „wie aus einem großen Ofen“, aber auch von Heuschrecken, die ausgesandt wurden, um die Menschen zu quälen. Beim sechsten bringt ein großes Heer von Pferden und Reitern „einem Drittel der Menschen“ durch Feuer, Rauch und Schwefel den Tod. Der siebte Engel „war von einer Wolke umhüllt und ein Regenbogen stand über seinem Haupt. Sein Gesicht war die Sonne und seine Beine waren wie Feuersäulen.“ Es wird noch eine Reihe weiterer Plagen geschildert, bis es heißt: „Die Geister führten die Könige an dem Ort zusammen, der auf hebräisch Harmagedon heißt.“ Danach folgen „Blitze, Stimmen und Donner; es entstand ein gewaltiges Erdbeben, wie noch keines gewesen war, seit es Menschen auf der Erde gibt […]. Und gewaltige Hagelbrocken, zentnerschwer, stürzten vom Himmel auf die Menschen herab.“ Die „Apokalypse“ soll hier nicht neu interpretiert werden; es fällt nur auf, dass einige der „Visionen“ ohne Umschweife vom Aufschlag eines Himmelskörpers auf die Erde berichten und auch die möglichen Folgeerscheinungen wie Finsternis, Erdbeben und Vulkanausbrüche realistisch schildern. Auch die eher bildhaften Beschreibungen lassen sich möglicherweise in diesem Sinne interpretieren, was hier aber nicht im Einzelnen versucht werden soll.

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Dies irae – die Angst vor dem Weltuntergang Die Weltgeschichte ist voller Ereignisse, in deren Zusammenhang immer aufs Neue vom Drohenden Weltuntergang gesprochen wurde und wird. In seiner Ideengeschichte der Apokalypse zeigt der Historiker Johannes Fried (2016), dass Endzeitängste ein besonderes Phänomen der abendländischen, christlichen Kultur sind.

Abb. 28: Hans Memling: Das Jüngste Gericht (um 1470). Das Jüngste Gericht (Abb. 28) ist die Vorstellung eines das Weltgeschehen abschließenden göttlichen Gerichts. Die Offenbarung des Johannes (Apokalypse) als letztes Buch des Neuen Testaments, entstanden vermutlich etwa 95 n. Chr., setzt dabei nur die jüdische bzw. alttestamentarische Apokalyptik fort. Der „falsche Prophet“ der Apokalypse wurde bald mit dem Antichrist oder Satan identifiziert, der seine Truppen an den geheimen Ort Armageddon zum letzten Gefecht gegen Gott und seine himmlischen Heerscharen führen 107

würde. Heute ist laut Fried der apokalyptische Ort wie im Film Armageddon „etwa ein riesiger Meteorit, der unaufhaltsam auf die Erde zurast und erst in letzter Minute – der Sieg über den Antichrist – durch eine Atombombe zersprengt und harmlos gemacht werden kann.“ Im Mittelalter wurde die Ankunft des Antichrist von manchen geradezu sehnsüchtig erwartet, ein englischer Mönch postulierte, dass zwischen der Geburt Christi bis zur Ankunft des Antichrist 999 Jahre vergehen würden. „Endzeitwissen war Sache der Schriftkundigen, die es an die Dichter und Maler und das Volk weitergaben, mitunter auch Stoff für Verführer, Agitatoren und Diktatoren“. Der heilige Thomas von Aquin (um 1225–1275) befasste sich ausführlich mit dem „letzten Feuer der Erde“, doch dessen Flammen vernichteten nicht nur, sondern reinigten und ließen nach der Apokalypse des Johannes eine neue Erde hervortreten. Dies erinnert an die Katharsis der griechischen Tragödie, wo der Zuschauer durch das Durchleben von Jammer und Schrecken eine Läuterung seiner Seele von diesen Erregungszuständen erfahren soll. Im 14. Jahrhundert wurden Katastrophen wie Erdbeben und die grassierende Pest als Vorzeichen der Endzeit gedeutet. Durch die Endzeitangst und die Krisen wurden soziale und religiöse Unruhen geschürt. Die Weltuntergangserwartung begleitete laut Fried „die gesamte Geschichte der Kirche seit deren Anfängen bis tief in die Neuzeit, ja, bis zur Gegenwart.“ Unheilszeichen wie Feuersbrünste, Überschwemmungen, Erdbeben, aber auch Missgeburten und anderes sollten nach Auffassung der Gläubigen das lasterhafte und sündige Volk vor strafenden Heimsuchungen warnen. Um derartige Auffassungen zu verbreiten, wurden ab dem 16. Jahrhundert auch die am Anfang noch handschriftlichen Zeitungen genutzt. Als 1570 eine Sturmflut Antwerpen zerstörte, war laut „Presse“ klar zu erkennen, dass der „große Tag des Herrn nicht weit sein kann. Wann hat die Welt seit der Sintflut jemals solche Wasser gesehen? Desgleichen Erdbeben, durch die ganze Städte und Dörfer zerstört wurden, schreckliche Sonnen- und Mondzeichen, Kometen sowie andere fürchterliche Himmelsgesichte, Korn- und Blutregen, wie sie dieses Jahr gesehen worden sind, des weiteren Krieg und Blutvergießen, schwere Krankheiten, Pestilenz und andere verderbenbringende Seuchen, zudem Mangel an Nahrungsmitteln und so hohe Preise.“ Die Kleine Eiszeit lässt grüßen. Insbesondere Kometen wurden als Unheilsboten gedeutet. Vor dem Dreißigjährigen Krieg hatten, wie viele später glaubten, drei mit seinem Ausbruch 108

in den Jahren 1618/19 erschienene Kometen gewarnt. Selbst Johannes Kepler (1571–1630) war nicht frei von Kometenfurcht. Er widmete den drei Schweifsternen von 1618/19 eine eigene Abhandlung, die zwar astronomisch aufklärend war, sich am Schluss aber der astrologischen Bedeutung der Kometen zuwandte. Er schrieb ihnen unter anderem Trockenheit, Teuerung, Tod oder Wirren der Religion zu, deutete sie aber vor allem als göttliche Warnungen: „Ein Komet ist von Gott gesandt, auf dass er Bote großer Übel sei“. Das Weltende überstand auch das „Säurebad der Aufklärung“ (Fried). In Zedlers Universallexikon aus der Mitte des 18. Jahrhunderts ging der Autor des Artikels Welt hart mit den Zweiflern am überlieferten theologischen Wissen ins Gericht, auch mit René Descartes (1596–1650), der die Welt für unendlich erklärt hatte. Der Weltuntergang würde sich jedoch nicht in einem Augenblick, sondern nach und nach vollziehen. Während dieses Prozesses würden jene Zeichen geschehen, die von den Propheten und Aposteln verkündet wurden. Nicht zuletzt durch „unglaubliche Korrekturen am Alter der Erde“, unter anderem durch die Paläontologie Georges Cuviers, „brach das alte Weltsystem binnen weniger Jahrzehnte zusammen und mit ihm die traditionelle Lehre vom Weltuntergang. […] Die Evolutionstheorie von Charles Darwin schien die göttliche Schöpfung vollends entbehrlich zu machen.“ Was blieb, war allerdings die Kometenfurcht. Als 1680 ein großer Komet erschien („Kirchs Komet“), gab es wieder mancherlei Katastrophenprognosen. Doch gerade zu dieser Zeit wies Isaac Newton (1643–1727) nach, dass Kometen sich in parabolischer Bahn um die Sonne bewegten und daher nichts Geheimnisvolles hatten. Edmond Halley (1656–1742) berechnete 1705 die Umlaufzeit „seines“ Kometen und sagte zutreffend seine Wiederkehr für 1758 voraus. Doch „allen Erfolgen der Wissenschaft zum Trotz befreite das Wissen der Gelehrten das ungelehrte Volk von der jahrhundertealten Kometenfurcht nicht. Im Gegenteil, jetzt erst entfaltete sie ihre volle Wirkung. […] Ihren Höhepunkt erreichte die Weltuntergangsangst im Umfeld des Wiedererscheinens des Kometen Halley im Jahr 1910.“ Im letzten Abschnitt seines Buchs legt Fried dar, wie präsent Weltuntergangs-Szenarien noch heute in Kunst und Wissenschaft sind. Der Untergang „geistert“ vor allem durch Literatur und Filme. So beschwört zum Beispiel Friedrich Dürrenmatts letzter Roman Durcheinandertal Endzeit und Untergang. Unter den Filmen erwähnt Fried Magic in the Moonlight von Woody 109

Allen (2014), der mit der Apokalypse spielt. Im Film Melancholia von Lars von Trier wird der Untergang in Form des Zusammenstoßes der Erde mit einem riesigen Planeten tatsächlich visualisiert. Auch zahlreiche Songs verschiedenster Rock-Gruppen widmen sich dem End of the World. Bob Dylan schrieb und intonierte mehrere Songs, die der Wiederkehr des Herrn und den Erwartungen an das Jüngste Gericht galten, verbreitete jedoch keine Untergangsfurcht, sondern Hoffnung auf eine alles verändernde Wandlung. Der amerikanische Präsident Ronald Reagan war nur ein Exponent jener 42 % US-Amerikaner, die nach einer Umfrage von 1996 an eine letzte Schlacht in Armageddon zwischen dem wiederkehrenden Jesus und dem Antichrist glaubten. Einige glaubten, in den Rauch- und Staubwolken des einstürzenden World Trade Centers am 11.09.2011 den Antichrist zu erblicken. Selbst in den Strichcodes der Waren mit ihren drei verlängerten Doppelstrichen entdecken manche eine Verkündung des Antichrist. Auch die Wissenschaft „hat den Weltuntergang nicht vergessen. […] Mit ungeheurem Aufwand jagt sie den Anfängen des Kosmos nach. […] Das Denken über den Anfang nötigt zur Suche nach dem Ende. […] Ein Planet nach dem anderen verschwindet, eine Sonne nach der anderen, eine Milchstraße nach der anderen. Damit aber verliert das eine, bisher gedachte Weltende seine Exklusivität, und mit ihr droht sich auch die Einzigartigkeit des Menschen zu verlieren.“ Der Einsatz von Atomwaffen hat Untergangsängste nie gekannten Ausmaßes heraufbeschworen. Reaktorunfälle und die zunehmende Verbreitung von Atomwaffen taten ihr Übriges. Als eine Art Gegenbewegung öffneten seit den 1960er Jahren eine Reihe Optimismus verbreitender Zukunftsinstitute ihre Pforten, an der Freien Universität Berlin wurde 2010 ein Masterstudiengang für Zukunftsforschung eingerichtet. Auf der anderen Seite schreckten die Zukunftsszenarien des Club of Rome über Die Grenzen des Wachstums den „Westen“ gewaltig auf. In den letzten Jahren steht der Klimawandel im Mittelpunkt des Interesses, für den bisweilen die Begriffe Klimakatastrophe oder Klima-Apokalypse verwendet werden. Die Angst vor dem Atomkrieg wurde von der Angst vor die Erde treffenden Asteroiden verdrängt, deren Auswirkungen (Impaktwinter) ähnlich beschrieben werden wie der einer Atombombe (atomarer Winter). Dazu kommen Supervulkane wie der 1815 ausgebrochene Tambora, der 1816 zum „Jahr ohne 110

Sommer“ machte. Auch damals wurde die sonnenlose, kalte Zeit als Zeichen des nahen Weltendes interpretiert. „Die Bestandsaufnahme mag freilich als Herausforderung verstanden werden und zu künftigen Sinnstrukturen weisen“, so Fried am Ende seines Buchs.

Ist die Offenbarung des Johannes die einzige „Apokalypse“ der Bibel? Nein, aber man muss schon weit zurückblättern, um etwas Vergleichbares zu finden. Zum Beispiel zu den sieben Plagen im 2. Buch Mose (Exodus), die dem Auszug der Israeliten aus Ägypten vorausgehen. Sie erinnern teilweise frappierend an die Prophezeiungen der „Johannes-Apokalypse“: Rauch, Wolken und Staub verdunkeln den Himmel und färben das Wasser blutrot, der Staub frisst Wunden in die Haut von Mensch und Tier, Ungeziefer (Heuschrecken und anderes) vermehrt sich und fügt dem Land schweren Schaden zu, ein schweres Hagelwetter mit Blitzen geht nieder, wie es Ägypten noch nie erlebt hat, und eine große Finsternis kommt über das Land. Auch die Rauch- bzw. Feuersäule, von der die Israeliten nach dem Exodus begleitet werden, erinnert an den „siebten Engel“ der Apokalypse – oder aber an einen Vulkanausbruch. Weiter geht es mit Josua, dem Nachfolger des Mose. Beim Kampf gegen eine Übermacht kam Gott zu Hilfe: „Als sie auf der Flucht vor Israel an den Abhang von Beth-Horon kamen, warf der Herr große Steine auf sie vom Himmel her ... Es kamen mehr durch die Hagelsteine um, als die Israeliten mit dem Schwert töteten“ (Jos 10,11). Nicht gerade glaubwürdiger wird diese Geschichte dadurch, dass Josua der Sonne und dem Mond befiehlt, stillzustehen, was sie dann auch tun: „...ihr Untergang verzögerte sich, ungefähr einen ganzen Tag lang.“ (10,13). Auch bei Jesaja, dem ersten Buch der Propheten, gibt es eine „Apokalypse“ und andere Drohungen, die sich z.B. so anhören: „Da erzittern die Berge, und die Leichen liegen in den Gassen wie Abfall.....Wohin man blickt auf der Erde: nur Finsternis voller Angst; das Licht ist durch die Wolken verdunkelt“ (Jes 5, 25-30), und weiter: „Die Sterne und Sternbilder am Himmel lassen ihr Licht nicht mehr leuchten. Die Sonne ist dunkel, schon wenn sie aufgeht […]. Dann wird der Himmel erzittern und die Erde beginnt an ihrem Ort zu wanken“ (13, 10-13) und „Wie ein Betrunkener taumelt die Erde, sie schwankt wie eine wacklige Hütte“ (24, 20) und schließlich „Die Vernichtung der ganzen Welt ist beschlossen“ (28, 22). 111

Sind diese teilweise frappierend ähnlichen und realistischen KatastrophenSzenarien nur bildhaft zu verstehen oder beruhen sie auf tatsächlichen Naturkatastrophen? Letzteres versuchte in den 1950er Jahren der aus Russland stammende Althistoriker Immanuel Velikovsky (1895–1979) zu belegen, der mit seinem Buch Welten im Zusammenstoß (Worlds in Collision) Furore machte. Selbst Albert Einstein befasste sich intensiv damit und führte eine umfangreiche Korrespondenz mit Velikovsky, die von Meinungsverschiedenheiten geprägt war, die sich aber laut Velikovsky „zusehends verkleinerten“. Der Inhalt des Buches in Kürze: Velikovsky versucht anhand zahlreicher historischer Dokumente und Befunde darzulegen, dass sich in geschichtlicher Zeit zwei größere kosmische Katastrophen abspielten, die eine vor etwa 3400 Jahren (zur Zeit des Exodus), die andere vor etwa 2600 Jahren. Er behauptet, dass die Venus früher ein Komet war, der seinen Ursprung im Planeten Jupiter hatte, und dass weitere kleinere Kometen aus der Begegnung von Venus und Mars hervorgingen. Auch die Erde soll bei diesen Vorgängen in Mitleidenschaft gezogen worden sein: Die Erdbahn und damit die Länge des Jahres soll sich mehr als einmal geändert, die geographische Lage der Erdachse wiederholt verschoben haben und die Magnetpole der Erde sollen vor wenigen tausend Jahren vertauscht worden sein, was wiederum eine Veränderung der Mondbahn und eine Änderung der Monatslänge bewirkt haben soll. Der englische Astrophysiker Sir Fred Hoyle (1915–2001) geht noch einen Schritt weiter: Er bringt durch Kometeneinschläge verursachte Katastrophen, die nach seiner Auffassung mehrmals in der Menschheitsgeschichte stattgefunden haben, in Verbindung mit dem Ursprung der Religionen. Er beruft sich auf die Arbeiten der britischen Astronomen Victor Clube und Bill Napier, die eine eigene und sehr beunruhigende „Nemesis-Hypothese“ entwickelten: Vor ungefähr 15.000 Jahren soll ein gigantischer Komet die Erdumlaufbahn gekreuzt haben, der explodierte und dessen Bruchstücke seither alle 1.600 Jahre mit der Erde ins Gehege kommen. In diesem Zeitraum steigt die Wahrscheinlichkeit eines Einschlags gewaltig an, es muss etwa einmal pro Jahr mit einem solchen Ereignis gerechnet werden. Folgt man Fred Hoyle, entstanden in diesen „schlechten Perioden […] Religionen mit strenger und dunkler Grundstimmung, während in den längeren freien Intervallen die vorherigen strengen und düsteren Vorstellungen abgemildert und zwangloser wurden“. Die letzte 112

„schlechte Periode“ bringt auch Hoyle mit dem Exodus in Verbindung und begründet damit, dass „der Jahwe der Hebräer […] ein zorniger Gott, ein Gott der Rache“ war. Danach kam dann eine ruhige Periode, die schließlich den „lieben Gott“ des Neuen Testaments hervorbrachte. Die letzte „schlechte Periode“ soll im Übrigen etwa 500 n.Chr. stattgefunden und zum Untergang des Römischen Reiches beigetragen haben; tatsächlich gibt es Hinweise auf eine deutliche Klimaverschlechterung um 540 n. Chr. Es soll hier nicht versucht werden, derartige Thesen, die inzwischen zumindest zum Teil auch widerlegt wurden, zu verteidigen. Es gilt aber als gesichert, dass es sowohl in der Erd- als auch in der Menschheitsgeschichte immer wieder große Katastrophen gegeben hat. Zumindest für einige von ihnen war die Ursache nicht „innerirdisch“, sondern außerirdisch.

Meteoriten und Kometen Außerirdische Körper, die eine erdbahnkreuzende Bahn besitzen und damit auf die Erde fallen könnten, nennt man Meteoroide. Erreicht ein solcher Körper tatsächlich die Erdoberfläche, spricht man von einem Meteoriten. Ein kleines Materieteilchen, das in die Atmosphäre eindringt und aufleuchtet, ist ein Meteor, auch Sternschnuppe genannt. Einen sehr hellen Meteor nennt man auch Feuerkugel (Schultz & Schlüter 2012). Schon früh wurden Meteoriten aufgrund ihrer Zusammensetzung in drei Haupttypen eingeteilt: Steinmeteoriten, Eisenmeteoriten und Steineisenmeteoriten. Steinmeteoriten sind weitaus am häufigsten, sie bestehen hauptsächlich aus Silikaten, die auch die meisten unserer irdischen Gesteine aufbauen. Zu dieser Gruppe zählen zwei sehr unterschiedliche Typen: Chondrite mit millimetergroßen rundlichen Silikat-Kügelchen (Chondren) und meist fein verteiltem Nickeleisen und Achondrite ohne Chondren und mit allenfalls sehr wenig Metall. Eisenmeteoriten bestehen überwiegend aus Legierungen von Eisen und Nickel, während Steineisenmeteoriten aus einer Mischung von Metall und Gestein bestehen (Abb. 29). Über 85 % aller beobachteten Meteoritenfälle sind Chondrite, nur knapp über 1 % Eisenmeteoriten. 113

Abb. 29: Pallasit (Steineisenmeteorit) mit gelben Olivinkristallen aus dem Imilac-Krater in Nord-Chile (MNHN Paris). Meteorite als vom Himmel gefallene Steine wurden früher als Götterboten angesehen und waren daher Gegenstand göttlicher Verehrung. Auch der in Silber gefasste schwarze Stein der Kaaba, des islamischen Heiligtums in Mekka, ist möglicherweise ein Meteorit, was allerdings wissenschaftlich nicht gesichert ist. Auch wurden bis in jüngste Zeit Gebrauchsgegenstände (z.B. Schwerter, Messer, Pfeilspitzen oder Nägel) aus meteoritischem Eisen geschmiedet. Erst vor kurzem wurden vom Römisch-Germanischen Zentralmuseum in Mainz 19 Eisenobjekte aus dem Grab des ägyptischen Pharao Tutanchamun untersucht; in dieser Zeit, im 14. Jahrhundert vor Christus, gab es nur Meteoriteisen, „Eisen des Himmels“, wie es die Ägypter nannten. Es war weit seltener und damit wertvoller als Gold und Edelsteine (Badische Zeitung vom 26.11.2018, Broschat et al. 2018). Der älteste beobachtete Meteoritenfall, von dem noch heute Material erhalten ist, stammt aus Japan. Der 472 kg schwere Meteorit wurde erst 1979 in einem Shinto-Tempel in der Nähe der Stadt Nagota wiederentdeckt. Bis dahin galt der am 7. November 1492 bei Ensisheim (Elsass) gefallene Stein von 127 kg als Rekordhalter für den ältesten erhaltenen Meteoriten. Der Fall von Ensisheim erregte großes Aufsehen, da König Maximilian mit seinem Heer 114

gerade durch Ensisheim kam, um gegen Frankreich in die Schlacht zu ziehen. Sein Berater deutete den Meteoriten als Gotteszeichen dafür, dass der bevorstehende Krieg für Maximilian erfolgreich sein würde. Der Stein wurde daraufhin in die Kirche von Ensisheim gebracht, um an dieses Ereignis zu erinnern. Die Inschrift De hoc lapide multi multa, omnis aliquid, nemo satis (über diesen Stein wissen viele vielerlei, alle etwas, niemand genug) sollte noch jahrhundertelang für Meteoriten gelten. Heute ist der Stein immer noch in Ensisheim zu besichtigen, von den ursprünglich 127 kg sind jedoch nur noch 75 kg übrig. Noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts waren Meteoritenfälle für die Wissenschaft unerklärlich, ihren Ursprung sah man in Vulkaneruptionen oder atmosphärischen Prozessen, an einen extraterrestrischen Ursprung glaubte niemand. Dies änderte sich erst mit dem deutschen Physiker und Astronomen Ernst Florens Friedrich Chladni (1756–1827), der 1794 in einem kleinen Büchlein die Theorie entwickelte, dass Meteoriten von außerhalb der Erde kommen. Anfangs war die Hypothese umstritten, doch bald wurde sie von der Wissenschaft anerkannt. Nun gab es zahlreiche Spekulationen über den Ursprungsort der Meteoriten. Neben dem Mond wurden auch die Asteroiden (Kleinplaneten, Planetoide) oder Kometen als mögliche Mutterkörper der Meteoriten vorgeschlagen. So hielt der französische Mathematiker und Astronom Pierre-Simon Laplace die Entstehung aus Mondvulkanen für möglich. Bereits im Jahr 1800 wurde das Problem des „fehlenden“ Planeten zwischen Mars und Jupiter diskutiert. 1801 wurde ein Objekt beobachtet, das heute unter dem Namen Ceres als Zwergplanet mit der Nummer 1 bekannt ist, mit einem Durchmesser von 913 km ist er der größte aller bekannten Asteroiden. Kurz darauf wurden drei weitere Asteroiden gefunden, 1923 wurde mithilfe der Himmelsfotografie der tausendste entdeckt. Bis zum Jahr 2011 sind die Bahnen von etwa einer halben Million dieser Kleinplaneten im so genannten Asteroidengürtel vermessen worden – ein Aufwand, der auch der Vorhersage einer möglichen katastrophalen Kollision einer dieser Körper mit der Erde dient. Die Theorie, dass die vielen kleinen Körper ursprünglich zu einem großen Planeten gehörten, ist heute widerlegt; die Gravitationskraft des gigantischen Planeten Jupiter hat die Entstehung eines Planeten in seiner Nähe verhindert. Jupiter kann mit seiner Schwerkraft auch die Bahnen der Asteroiden verändern, einzelne Asteroiden können durch Kollisionen unter115

einander in kleinere Körper aufgebrochen werden. Es liegt nahe, dass die Asteroiden damit die Mutterkörper von Meteoriten sein können. Eine potenzielle Quelle von Meteoriten sind auch Kometen. Diese aus den äußersten Bereichen des Sonnensystems stammenden Körper bis zu etwa 10 km Durchmesser bestehen aus gefrorenen Substanzen wie Wasser, Ammoniak, Methan oder Kohlendioxid, durchmischt mit Staubkörnern – sie werden daher als „schmutzige Schneebälle“ charakterisiert. Kometen entstanden am Rande unseres Sonnensystems und werden durch Störungen in das Innere des Sonnensystems gelenkt. Hier wird der Komet erhitzt und entwickelt um seinen Kern eine Gashülle und einen langen Gas- und Staubschweif. Kreuzt die Bahn eines Kometen die Erdbahn, dann werden die freigesetzten Teilchen als Meteore (Sternschnuppen) in der oberen Atmosphäre sichtbar. Es konnte jedoch bisher nicht nachgewiesen werden, dass „normale“ Meteoriten von Kometen stammen. Es wird allerdings diskutiert, ob manche Asteroiden vielleicht „ausgebrannte“ Kometenkerne sind und Stücke davon als Meteoriten auf die Erde fallen können. Der Mond ist das einzige Objekt, das wir durch den Vergleich mit Mondgestein definitiv als Mutterkörper von einigen Meteoriten kennen, sehr viele Indizien weisen auch darauf hin, dass der Mars Meteorite geliefert hat. Auch vom Merkur sind Meteoriten zu erwarten, von der Venus wegen ihrer sehr dichten Atmosphäre eher nicht. Auch im Verlauf der Menschheitsgeschichte gab es Impakte von Asteroiden oder Kometen. Das geologische Zeitalter des Quartär (vor 2,6 Mio. Jahren bis heute) hat möglicherweise mit dem Paukenschlag eines AsteroidenImpakts begonnen (Masse in Bobrowsky & Rickman 2007). Der Asteroid „Eltanin“ schlug vor etwa 2,5 Millionen Jahren im Meer westlich der Antarktischen Halbinsel und südwestlich von Chile ein. Die Region des Einschlags liegt in rund 5.000 Meter Meerestiefe. Sie hat einen Durchmesser von einigen hundert Kilometern und ist durch eine 20–40 Meter dicke Sedimentschicht bedeckt. Der Impaktor hatte einen Durchmesser von über einem Kilometer, eine Geschwindigkeit von etwa 20 km/s und eine Einschlagsenergie von ungefähr 100 Gigatonnen TNT, was etwa fünf Millionen Hiroshima-Bomben entspricht. Bisher wurde noch kaum über den Impakt publiziert, aber der Umweltarchäologe William Bruce Masse hält es für möglich, dass der Eltanin-Impakt nicht nur den häufigen klimatischen 116

Wandel während des Pleistozäns, sondern auch die frühe Evolution des Menschen beeinflusst haben könnte.

Abb. 30: Hauptkrater des Kaali-Kraterfelds, Insel Saaremaa, Estland; der See war im trockenen Jahr 2018 fast verschwunden. Insgesamt zählt Masse etwa 30 dokumentierte Impaktstrukturen im Quartär auf und geht davon aus, dass Impakte von Kometen oder Asteroiden eine wichtige Rolle in der menschlichen Geschichte gespielt haben. Am besten untersucht ist in dieser Hinsicht das Kaali-Kraterfeld auf der Insel Saaremaa in Estland. Der Durchmesser des Hauptkraters beträgt 110 Meter, seine Tiefe 22 Meter. Ihn umgibt ein drei bis sieben Meter hoher Wall von Erde, die durch den Einschlag aufgeworfen wurde. Im Krater befindet sich heute ein See (Abb. 30). Acht kleinere Nebenkrater liegen in unmittelbarer Umgebung. Dort wurden auch korrodierte, scharfkantige Eisensplitter gefunden, die dem verbreitetsten Typus der Eisenmeteorite zugeordnet werden konnten. Verkohlte Eichen am Rand des Sees ergaben eine Datierung des Aufschlags in den 117

Zeitraum 800 bis 400 vor Christus. Im frühen 13. Jahrhundert aufgezeichnete Mythen berichten von einem Gott, der entlang der rekonstruierten Flugbahn des Meteoriten auf die Insel Saaremaa floh. Auch das finnische Nationalepos Kalevala berichtet von der Sonne, die in einen See fällt und auf ihrem Weg alles verbrennt. Nordestnische Mythen berichten von einer Zeit, in der die Insel Saaremaa brannte. Durch paläoökologische Untersuchungen wurde festgestellt, dass in der Nachbarschaft der Impaktkrater die Landwirtschaft und die Besiedlung nach dem Impakt für mehrere Generationen unterbrochen waren.

Abb. 31: Symbole in der Kirche von Karja auf der estnischen Insel Saareema. Möglicherweise hängt auch das bis heute verwendete Symbol der Triskele bzw. des Dreibeins, von dem erste Vorbilder bereits aus der Jungsteinzeit bekannt sind, mit Meteoriteneinschlägen zusammen. Die Triskele, die vor allem im nordischen und keltischen Kulturraum variantenreich verwendet wurde, wird meist als Sonnensymbol gedeutet – ein Meteorit ist im mythischen Kontext der Sohn der Sonne. So findet sich auch in der mittelalterlichen Kirche in 118

Karja unweit des Kraterfelds von Kaali ein Dreibein, das sich durch die deutliche Unterbrechung eines Beins von anderen Triskelen abhebt. Da in der Mythologie der Ostsee und Finnlands häufig Sonnensymbole vorkommen, die sich ein Bein abgehackt oder am Knie verletzt haben, könnte dies als Verletzung durch die Sonne gedeutet werden, die (teilweise) vom Himmel auf die Erde geriet (Kello 2017). Unterstützt wird dies durch weitere Symbole in der Kirche von Karja wie das des „Schrats“, der rückwärts durch die Beine schaut. Auch dies kann als volkstümliche Auslegung eines Meteoriten gedeutet werden (Abb. 31). Masse analysierte auch über 4.000 südamerikanische Mythen, in erster Linie solche, die verschiedene lokale, regionale oder „weltweite“ Katastrophen, beschreiben, die zum Tod von Mitgliedern der jeweiligen kulturellen Gruppe führten. In zwei Mythen aus dem brasilianischen Hochland führte ein Meteoritenfall zum Tod mehrerer Jugendlicher, die in einem Fluss schwammen. 284 Mythen handeln von einer einzigen Katastrophe, die zum Tod der meisten oder aller Mitglieder einer oder mehrere kultureller Gruppen führten und typischerweise auf „Neuschöpfungen“ der Menschheit verweisen. Masse weist darauf hin, dass diese Gruppen meist nur einige Hunderte oder Tausende von Mitgliedern aufwiesen, so dass diese durch seltene Katastrophen wie Vulkanausbrüche, Feuersbrünste und lang andauernde Fluten maßgeblich dezimiert werden konnten. Insbesondere berichtet er von Mythen, in denen von einem „Weltenbrand“ („World Fire“) die Rede ist, die teilweise auf einen Zusammenhang mit Meteoriten schließen lassen oder ihn direkt erwähnen. Auch das bereits erwähnte Buch des Wiener Geologen-Ehepaars Tollmann wurde von 13 Wissenschaftlern unter die Lupe genommen. Masse kritisiert das Versäumnis der Tollmanns, an die Mythologie mit derselben methodischen Strenge heranzugehen wie an andere wissenschaftlichen Daten. Sie hätten die biblische Genesis kritiklos mit Flutmythen vermischt und unzulässig generalisiert. Der Zusammenhang ihres hypothetischen Impakts und der historischen Belege sei zweifelhaft. Masse selbst analysiert 175 Flutmythen und kommt zum Schluss, dass ein ozeanischer Kometenimpakt im Mai 2807 v. Chr. die Kombination aus mythologischen, archäologischen und paläoökologischen Daten deutlich besser erklärt als andere Modelle, wie z.B. das der Tollmanns.

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Impakte und menschliche Gesellschaft Comet/Asteroid Impacts and Human Society ist der Titel eines 2007 erschienenen Buchs, an dem zahlreich Wissenschaftler beteiligt waren (Bobrowsky & Rickman 2007). Im ersten Teil des Buchs geht es um anthropologische, archäologische und geologische Hinweise auf Impakte. Im Vergleich zu den großen Impakten, die in der Erdgeschichte zu Massenaussterben geführt haben, haben für die menschliche Gesellschaft bereits relativ kleine und damit statistisch häufiger auftretende Impakte ernsthafte Folgen. Ein Asteroid mit 300 Metern Durchmesser, der statistisch etwa alle 10.000 Jahre auftritt, hat u.a. durch die Anreicherung von Schwefel in der Stratosphäre bereits globale Auswirkungen, vergleichbar mit dem Ausbruch des Krakatau 1883. Ein etwa alle 1 Mio. Jahre auftretender Impaktor von 3 km Durchmesser ist in der Lage, weltweit die landwirtschaftliche Nutzung zu unterbrechen. Ernsthafte globale Konsequenzen, z.B. durch Zerstörung der Ozonschicht, sind statistisch etwa alle 300.000 bis 500.000 Jahre zu erwarten. William T. Hartwell geht auf die Wirkung von Himmelsobjekten auf die Menschen bis hin zur modernen Popkultur ein. So weist er auf die ungebrochene Popularität der Astrologie hin, außerdem listet er Filme und Videos auf, in denen Asteroiden, Kometen und Meteore behandelt werden. M.G.L. Baillie stellt den Zusammenhang von Serien besonders schmaler Baumringe mit globalen Umweltveränderungen her, die durch Kometentrümmer verursacht sein könnten. Besonders geht er auf die Periode um 540 n. Chr. ein, als in verschiedenen Regionen der Erde von einer Verschlechterung des Klimas berichtet wurde. In China und im Mittelmeergebiet gab es Hungersnöte, die Pest brach aus und raffte etwa ein Drittel der europäischen Bevölkerung hinweg. Gegenüber den wenigen historischen Belegen zeigt die weltweite Analyse der Baumringe deutlich, dass es sich um die gravierendste Klimaverschlechterung der letzten 2.000 Jahre gehandelt hat. Zunächst wurde dies einem gewaltigen Vulkanausbruch zugeschrieben, das passte aber nicht mit den Signalen in grönländischen Eiskernen zusammen, die zwischen 536 und 545 keinen Vulkanausbruch aufzeigten.

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Die wahrscheinlichste Deutung ist laut Baillie der Einschlag eines Kometen oder seiner Trümmer. Der zweite Teil des Buchs behandelt astronomische und physikalische Aspekte erdnaher Objekte (near-Earth Objects, NEOs), aber auch ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft und mögliche Reaktionen auf einen drohenden Impakt. Drei Kapitel widmen sich dem Tunguska-Ereignis vom 30. Juni 1908, als eine mächtige Explosion in Zentralsibirien in der Taiga eine Fläche von über 2.000 km² zerstörte. 80 Millionen Bäume wurden niedergelegt und verbrannten zu einem großen Teil (Abb. 32). Augenzeugen berichteten von einem „Feuerball, so hell wie die Sonne“. Weltweit wurden seismische Wellen registriert, in weiten Teilen Eurasiens waren die Nächte hell. Bis heute suchen Wissenschaftler nach einer allgemein akzeptierten Erklärung für dieses Ereignis, bei dem weder ein Impaktkrater noch Meteoritenfragmente gefunden wurden. Die wahrscheinlichste Hypothese ist der Eintritt eines Asteroiden oder Kometen von geringer Dichte in die Erdatmosphäre, der etwa fünf bis vierzehn Kilometer über dem Boden explodierte und daher keinen Krater verursachte.

Abb. 32: Durch das Tunguska-Ereignis zerstörter Wald. Im dritten Teil geht es um sozio-ökonomische und politische Implikationen von Impakten. Zu Beginn postuliert Lee Clarke, dass Politiker das Risiko von erdnahen Objekten verneinen oder ignorieren, da sie eher an die nächste

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Wahl denken als langfristige Verantwortung zu tragen. In weiteren Kapiteln geht es um die Wahrnehmung des Risikos von Asteroiden-Impakten durch die Bevölkerung, die Bewertung des Risikos durch erdnahe Objekte, die Auswirkungen auf Gesellschaft und Ökonomie sowie Aspekte der Kommunikation und der Forschung.

Bis heute sehr umstritten ist der sogenannte „Chiemgau-Impakt“, ein Ereignis in der Bronze- bzw. Eisenzeit, das ein großes Meteoritenkraterstreufeld in Südostbayern geschaffen haben soll. Inzwischen gibt es neuere Befunde, die auf einen Tsunami aus dem Chiemsee heraus schließen lassen (http:// www.chiemgau-impakt.de/2015/10/30/ein-diamiktit-mit-kreuzschichtungneuer-befund-zu-einem-chiemsee-tsunami-beim-chiemgau-impakt/#more2088). Ähnliche Funde wie im Chiemgau, die auf ein relativ junges Impaktereignis im Holozän hinweisen, gibt es in Nalbach im Saarland (http://saarlandimpakt.de/) und in Tschechien.

Vulkanismus Wie bereits erwähnt sind dem Vulkanismus etliche der großen Umwälzungen in der Erdgeschichte zuzuschreiben, und auch in der Menschheitsgeschichte sind Vulkanausbrüche die Ursache folgenschwerer Katastrophen – nicht zuletzt durch ihren erheblichen Einfluss auf die regionale und globale Klimaentwicklung mit den daraus resultierenden Folgen wie etwa Hungersnöten und Epidemien. Rund ein Zehntel der Erdbevölkerung lebt im direkten Einflussbereich aktiver Vulkane. In der Regel ist Vulkanismus an tektonisch aktive Regionen gebunden, es treten aber auch Magmen aus größerer Tiefe an stationären Hot Spots (z. B. Hawaii, Yellowstone) aus. Der Pazifische Feuerring ist ein Vulkangürtel, der den Pazifischen Ozean von drei Seiten umgibt. Mindestens zwei Drittel aller im Holozän ausgebrochenen Vulkane sind dort zu finden. Große Vulkanausbrüche, bei denen das Auswurfmaterial bis in die Stratosphäre geschleudert wird, haben ähnliche Auswirkungen auf das Klima wie 122

Meteoriteneinschläge. Spricht man bei letzteren von einem Impaktwinter, ist bei gewaltigen Vulkaneruptionen von einem vulkanischen Winter die Rede. Aerosole aus Schwefelsäure verteilen sich wie ein Schleier über den gesamten Erdball. Die Sonnenstrahlen werden dadurch teilweise absorbiert oder zurückgestreut. In der Stratosphäre verursacht dies eine Erwärmung. Am Boden kommt es im Mittel zu einer Abkühlung des Weltklimas, regional und abhängig von der Jahreszeit kommt es gleichzeitig aber auch zu Erwärmungen. Die folgenschwerste Vulkaneruption der letzten Jahrhunderte war der Ausbruch des Tambora (Abb. 33) auf der indonesischen Insel Sumbawa im Jahr 1815. Der Berg schrumpfte durch den Ausbruch von rund 3.900 auf 2.850 Meter Höhe, der Krater erreichte einen Durchmesser von sechs Kilometern. Die Aschewolke erreichte eine Höhe von etwa 25 km, es wurden rund 150 km³ Gestein und Asche in die Stratosphäre geschleudert. Auf dem achtstufigen Vulkanexplosivitätsindex (VEI) (siehe Tab. 1) erreichte die Eruption die Stärke 7 (Schenk et al. 2014).

Abb. 33: Krater des Vulkans Tambora auf der indonesischen Insel Sumbawa.

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Der Ausbruch des Tambora war eine lokale Naturkatastrophe mit globalen Auswirkungen. Die monatlichen Sommertemperaturen lagen im Sommer 1816 global betrachtet zwischen 2,3 und 4,6 Grad Celsius unter dem langjährigen Mittel, regional waren die Auswirkungen jedoch sehr unterschiedlich. Während es im Baltikum und in der Region um das Schwarze Meer keine Klimaanomalien gab und die Ernten gut ausfielen, war 1816 in Mittel- und Westeuropa ein „Jahr ohne Sommer“, in dem Nässe und Kälte nicht enden wollten. Auf der Iberischen Halbinsel und in Nordamerika war es kalt und trocken. Das Hauptproblem war nicht die riesige Menge von Vulkanasche, die in die Atmosphäre geschleudert wurde, sondern das ausgestoßene Schwefeldioxid, das mit Wasserdampf ein Gemisch aus festen und flüssigen Schwefelteichen (Aerosolen) bildete. Die Aerosole werden von Höhenwinden um den ganzen Globus verteilt und bilden einen Schleier, der die Sonneneinstrahlung reduziert, zudem regen sie die Bildung von Wolken an. Da die Aerosole über den Wolken schweben und nur langsam absinken, können sie mehrere Jahre lang für eine Abkühlung sorgen.

Georges Cuvier und die Vulkane Der Ausbruch des Tambora fiel in Europa in eines der kältesten Jahrzehnte der letzten 500 Jahre, da die Sonnenaktivität bereits in den beiden Jahrzehnten zuvor abgeschwächt war und es 1812 und 1814 bereits zwei kleinere Vulkanausbrüche (in der Karibik und auf den Philippinen) gab. Dies war der letzte Höhepunkt (oder Tiefpunkt) der „Kleinen Eiszeit“, die bereits seit dem 14. Jahrhundert andauerte. Der Zeitpunkt war auch aus einem anderen Grund für Mittel- und Westeuropa fatal: Die Napoleonischen Kriege (1792–1815) waren gerade beendet und die Vorräte erschöpft. Die mechanisierten Webstühle hatten zu einem tiefgreifenden Strukturwandel geführt, die Staatsschulden waren durch die Kriege gestiegen, der grenzüberschreitende Getreidehandel war zusammengebrochen. Besonders dramatisch waren die Auswirkungen in den süddeutschen Staaten und in der Eidgenossenschaft. Baden verlor allein in den ersten 124

fünf Monaten des Jahres 1817 rund ein Fünftel seiner Bevölkerung durch Auswanderung, während in der Ostschweiz eine Hungersnot ausbrach (Schenk et al. 2014). Es wird geschätzt, dass 10.000 Menschen direkt durch die Auswirkungen des Ausbruchs starben, durch die folgenden Flutwellen, Hungersnöte und Krankheiten starben etwa 100.000 weitere. Die Cholera-Pandemie von 1817, die sich vom indischen Kontinent über die ganze Welt ausbreitete, wird hauptsächlich auf den Ausbruch des Tambora zurückgeführt (D'Arcy Wood 2015). Die Cholera erreichte um 1830 Europa und brach zunächst im Baltikum und in Polen aus. 1831 erreichte sie England, 1832 Frankreich, wo eines ihrer Opfer Georges Cuvier war. Georges Cuvier, der exponierteste Vertreter der Katastrophentheorie, starb demnach an den Spätfolgen einer Katastrophe – welche Ironie des Schicksals! Auch als junger Mann wurde Georges Cuvier unwissentlich mit den Folgen eines Vulkanausbruchs konfrontiert. Man vermutet heute, dass die Eruption des Laki-Kraters auf Island im Winter 1783/84 für eine Reihe von klimatischen Extremereignissen in den 1780er Jahren verantwortlich war (Behringer 2007). „Island erlebte die größte Katastrophe seiner Geschichte. Das Gras wurde durch säurehaltigen Regen vergiftet, der Viehbestand reduzierte sich um die Hälfte. Die daraus resultierende Hungersnot forderte ungefähr 10.000 Tote, was etwa 20 Prozent der damaligen Bevölkerung entsprach“ (Schenk et al. 2014). Die Aerosole bewegten sich kreisförmig über Nordeuropa und besonders über Frankreich und die britischen Inseln. Der Winter 1783/84 war extrem kalt, die gesamte nördliche Hemisphäre kühlte sich im Durchschnitt um 1,5 Grad Celsius ab. Auch der Winter 1784/85 war außerordentlich lang und kalt, in Bern lag an 154 Tagen Schnee – an fast doppelt so vielen wie im Kaltwinter 1962/63. Ob die Missernte von 1788 und der kalte Winter 1788/89, die Cuvier in der Normandie erlebte („Die schlechte Ernte von 1788 und der schreckliche Winter von 1789 führten zu einer großen Knappheit und Unzufriedenheit“), ebenfalls noch als Folge der Laki-Eruption gelten kann, ist umstritten. Als allgemein akzeptiert gilt aber, dass die klimatischen Extremereignisse der 1780er Jahre, verbunden mit schlechten Ernten und steigenden Getreidepreisen, einer der Auslöser der 125

Französischen Revolution waren. Die Getreidepreise erreichten ihren Höchststand am 14. Juli 1789, dem Tag des Sturms auf die Bastille (Behringer 2007).

Dass bis vor wenigen Jahren noch der Ausbruch des Krakatau (zwischen Java und Sumatra) 1883 als der gewaltigste Vulkanausbruch der Neuzeit galt, hängt insbesondere mit den verbesserten Kommunikationsmöglichleiten am Ende des 19. Jahrhunderts zusammen. Der Ausbruch des Krakatau wurde als erstes großes Naturereignis weltweit wahrgenommen und wissenschaftlich registriert (Schenk et al. 2014): die mit dem Ausbruch verbundenen Phänomene wie Tsunamis, der in weite Teile der Erde verteilte Vulkanstaub, die farbenprächtigen Sonnenuntergänge. Die Royal Society in London hatte kurz nach dem Ausbruch eine Kommission beauftragt, weltweit Daten zu sammeln und zu vergleichen. Der Ausbruch des Krakatau wird heute als die Geburtsstunde der Vulkanologie als Wissenschaft angesehen (Oeser 2011). Nicht nur die Wissenschaftler, sondern auch ein Großteil der damaligen Weltbevölkerung von 1,4 Milliarden nahm Anteil an den Phänomenen. Die populäre Presse diskutierte die Erscheinungen über Jahre hinweg ausgiebig. Die Verbreitung der Nachrichten war in erster Linie der Erfindung des Telegraphen als neues Kommunikationsmittel zu verdanken. Der Ausbruch des Krakatau war schwächer als der des Tambora und hatte auch keine derart großen klimatischen Auswirkungen, er hatte aber den größeren Impakt (!) auf die menschliche Gesellschaft (Schenk et al. 2014). Auch der Beginn der Kleinen Eiszeit, der je nach Autor in das beginnende 15. Jahrhundert oder bereits ins 14. Jahrhundert (Behringer 2007) datiert wird, könnte mit Vulkanausbrüchen zusammenhängen. So wurde die Explosion des Vulkans Kuwae auf der südpazifischen Insel Vanuatu auf den Jahreswechsel 1452/53 datiert. Der Ausbruch muss verheerender gewesen sein als der des Tambora, Eichenpanele von britischen Porträtbildern weisen auf extrem schmale Ringe für die Jahre 1453 bis 1455 hin. Gemäß der Geschichte der Ming-Dynastie in China zerstörte unaufhörlicher Schneefall den Weizen im Frühjahr 1453, im selben Jahr, als der Staub die Sonne verdunkelte, erfroren zehntausende von Menschen. Für die klimatisch prekären Jahrzehnte zwischen 1580 und 1600 wurden fünf Vulkanausbrüche identifiziert, die auch die europäische Geschichte beeinflusst 126

haben, der letzte war der Ausbruch des Huaynaputina im südlichen Peru im Jahr 1600, der auch aus kolonialspanischen Quellen bekannt ist. In der Folge dieses Ereignisses wird weltweit von Missernten und Hungernöten berichtet. Die Forschung konnte bisher den Zusammenhang von acht Perioden besonders kühler Sommer mit acht größeren Vulkanexplosionen herausarbeiten. Erst im vergangenen Jahrzehnt erforscht wurde der Ausbruch des Vulkans Samalas auf der indonesischen Insel Lombok im Jahr 1257. Der Ausbruch erreichte wie beim weniger als 200 km Luftlinie entfernten Tambora die Stärke 7 auf dem Vulkanexplosivitätsindex und hinterließ einen riesigen Kratersee. Er war einer der stärksten Ausbrüche des gesamten Holozäns mit dem größten vulkanischen Schwefeleintrag der letzten 2.000 Jahre. Seine Existenz konnte anhand von Eisbohrkernen erschlossen werden, welche um das Jahr 1257 ein Maximum in der Sulfatkonzentration erkennen lassen. Im Jahr 2013 wurden schließlich auch geschichtliche Aufzeichnungen entdeckt, die auf die Katastrophe hinweisen (Wikipedia: Samalas, siehe auch http://www.spiegel.de/ wissenschaft/natur/kaelteeinbruch-1258-forscher-legen-loesung-fuer-vulkanraetsel-vor-a-925391.html). Das Ausbruchsgeschehen wurde von Menschen auf den Nachbarinseln beobachtet, die ihr Wissen auf Palmblattmanuskripten festhielten. Die vom Vulkan in die Atmosphäre geschleuderten Aerosole reduzierten die Sonneneinstrahlung weltweit und beschworen einen vulkanischen Winter herauf, der mehrere Jahre anhalten sollte. Zusammen mit dem Ausbruch des Kuwae und Tambora stellt der Ausbruch des Samalas eine der bedeutendsten Abkühlungen des letzten Jahrtausends dar. In Bohrkernen aus dem Ural bilden seine Ablagerungen das deutlichste vulkanische Signal. Der Winter 1257/1258 setzte früh ein, war aber relativ warm, was Berichte aus Frankreich über das frühe Erblühen der Veilchen nahelegen. Das Phänomen eines warmen Winters nach bedeutenden Vulkanexplosionen wird durch viele Beobachtungen untermauert. Der darauf folgende Sommer war jedoch sehr kalt und auch der anschließende Winter war lang und kalt. Die Abkühlung im Sommer 1258 belief sich auf 0,69 Kelvin1 in

1

Eine Temperatur von 0 °C entspricht 273,15 Kelvin. Der Zahlenwert eines Temperaturunterschieds ist in den beiden Einheiten Kelvin und Grad Celsius gleich. Die Temperaturdifferenz-Angabe Grad (grd) wurde durch das Kelvin (K) abgelöst.

127

der Südhemisphäre und 0,46 K in der Nordhemisphäre. Die Einstrahlungsreduzierung durch den Pinatubo-Ausbruch 1991 betrug im Vergleich nur ein Siebtel dieser Werte. Die Oberflächentemperaturen der Weltmeere gingen ebenfalls um 0,3 bis 2,2 K zurück und lösten Veränderungen im Zirkulationsmuster und der Tiefenwasserbildung aus. Die Temperatursenkungen hielten sich möglicherweise eine Dekade aufrecht. Bei den bisher nachgewesenen Vulkaneruptionen mit globalen Auswirkungen scheinen sich Südostasien und Island abzuwechseln: Der verheerende Ausbruch des Vulkans Elgdjá auf Island in den Jahren 939 und 940 n. Chr. soll dazu beigetragen haben, dass die dortigen Wikinger ihre alten Götter hinter sich ließen und zum Christentum konvertierten (Badische Zeitung vom 23.03.18). Der Lavastrom mit einem geschätzten Volumen von 20 Kubikkilometern hätte ausgereicht, „um ganz England bis zu den Knöcheln“ mit der heißen Glut zu füllen. Der Ausbruch hatte laut historischen Dokumenten auch gravierende Folgen für das Klima in großen Teilen Europas, wie etwa sehr kalte Sommer. Die ersten christlichen Missionare sollen die „Katastrophenstimmung“ bewusst genutzt haben, um die Isländer zum „trostspendenden Christentum“ zu bringen. Islands bekanntestes mittelalterliches Gedicht, das „Völuspá“, ist nach diesen Erkenntnissen keine fiktive Geschichte, sondern eine Erinnerung an den Vulkanausbruch und dessen Folgen. Der letzte Ausbruch des neuseeländischen Vulkans Taupo muss nach neuesten Untersuchungen im Jahr 232 n. Chr. (±15 Jahre) stattgefunden haben (Hogg et al. 2011) und war der wohl weltweit gewaltigste Vulkanausbruch der letzten 5.000 Jahre. Mit einer Auswurfmenge von 50 bis 60 km³ verwüstete er ein Gebiet in Neuseeland, in dem heute über 200.000 Menschen leben. Der Ascheregen bedeckte ganz Neuseeland mit einem mindestens 1 cm dicken Teppich und könnte die außergewöhnlich roten Sonnenuntergänge in China und Europa verursacht haben, die von den Römern und Chinesen zu dieser Zeit beobachtet und dokumentiert wurden. Demgegenüber hatte der Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79 n. Chr. eher lokale bzw. regionale Auswirkungen, die Beschreibung von Plinius dem Jüngeren gilt aber als die „beste Schilderung eines vulkanischen Ereignisses, die uns aus dem Altertum überliefert worden ist“ (Sapper o. J., zit. in Oeser 2011). Der Vesuv hat eine vulkanische Vorgeschichte von rund 25.000 Jahren, die anhand von Indizienbeweisen rekonstruiert wurde, und gilt noch immer als 128

einer der gefährlichsten Vulkane Europas. Neueste Untersuchungen sehen eine kommende Gefahr, die von den Phlegräischen Feldern 20 km westlich des Vesuvs auszugehen scheint. Es geht um einen potentiellen Supervulkan, dessen Spuren sich zu einem Ausbruch vor 39.000 Jahren zurückverfolgen lassen. Er war so gewaltig, dass er schon mit dem Aussterben der Neandertaler in Verbindung gebracht wurde (Schenk et al. 2014). Als Minoische Eruption (auch Thera- oder Santorin-Eruption) wird der spätbronzezeitliche Ausbruch der ägäischen Vulkaninsel Thera (heute Santorin) bezeichnet, der im 17. oder 16. Jahrhundert v. Chr. die eng mit der minoischen Kultur verbundene Siedlung Akrotiri (moderner Name) auf Santorin begrub. Die bis in die 1960er Jahre oft vertretene Meinung, er habe den Untergang der minoischen Kultur auf Kreta herbeigeführt, ist heutzutage umstritten. Um das Jahr 10930 v. Chr. wurden innerhalb weniger Tage ca. 16 km³ vulkanischer Asche und Bims bei einer Eruption in der Vulkaneifel ausgeschleudert, als deren Folge die Caldera des Laacher Sees entstand. Die feineren Ablagerungen der Explosion sind noch bis nach Schweden in quartären Sedimenten als schmaler Bimshorizont zu finden.

Die Toba-Katastrophentheorie Gemäß der Toba-Katastrophentheorie wurde die Ausbreitung des Menschen durch den gewaltigen Vulkanausbruch des Toba auf der Insel Sumatra vor etwa 75.000 Jahren stark beeinflusst. Die Theorie wurde 1998 von Stanley H. Ambrose vorgeschlagen. Die Theorie von Ambrose besagt, dass infolge einer massiven Eruption (Kategorie 8 auf dem Vulkanexplosivitätsindex) die damalige menschliche Population auf der Erde stark reduziert wurde. Die Eruption führte in den folgenden Jahren zu einem Absinken der Durchschnittstemperatur um 3 bis 3,5 Grad Celsius, laut einer 2009 publizierten Modellrechnung möglicherweise sogar zu einem noch größeren Temperaturrückgang. Diese These einer kurzen globalen Eiszeit wird durch die Datierung der letzten Kaltzeit (im europäischen Raum als Würmkaltzeit und Weichsel-Kaltzeit benannt) gestützt. 129

Die Toba-Katastrophe wird auch durch grönländische Eisbohrkerne untermauert, die im Rahmen des Greenland Ice Core Project und des Greenland Ice Sheet Project gewonnen wurden und die vor etwa 71.000 Jahren eine massive Störung im Eisaufbau zeigen. Kritiker verweisen darauf, dass der TobaVulkanausbruch nicht genug Schwefel in die Atmosphäre ausbrachte, um eine globale Abkühlung zu verursachen – stattdessen wurde sehr viel Gestein emporgeschleudert. Der indische Subkontinent wurde mit einer etwa 15 cm dicken Ascheschicht bedeckt. Archäologischen Grabungen in Indien legten gleichartige Steinwerkzeuge ober- und unterhalb dieser Schicht frei, was darauf hindeutet, dass die Population des Homo erectus in Indien die TobaKatastrophe überlebt hat.

Abb. 34: Falschfarben-Satellitenaufnahme des Tobasees (Sumatra), der Caldera eines Supervulkans. Die Toba-Katastrophentheorie erhebt den Anspruch, eine Erklärung für die enge genetische Verwandtschaft der gesamten heutigen Menschheit zu liefern. 130

Berechnungen zur Mutationsrate des menschlichen Genoms haben ergeben, dass es ungefähr zur Zeit der Toba-Explosion einen sogenannten genetischen Flaschenhals beim Menschen gegeben haben könnte, also eine Verkleinerung der damals in Afrika lebenden Homo sapiens-Population auf wenige tausend Individuen. Allerdings konnten diese genetischen Berechnungen bisher nicht durch archäologische oder paläoanthropologische Funde gestützt werden. Auch sind direkte Auswirkungen auf die Neandertaler und auf Tier- und Pflanzenspezies bisher unbekannt.

VEI Beschrei- Pyroklastisches Eruptions- Anzahl Beispiele bung Sediment säule im Holozän nicht 25 km 106 Mount St. Helens, 5 USA (1980) Vesuv, Italien (79) Ätna, Sizilien (122 v. Chr.) 6 10 – 100 km³ 46 Pinatubo, Philippinen (1991) Krakatau, Indonesien (1883) 131

7

100 – 1.000 km³

5

8

> 1.000 km³

0

Huaynaputina, Peru (1600) Kuwae, Vanuatu (1453) Laacher Vulkan, Deutschland (10.920 v. Chr.) Tambora, Indonesien (1815) Taupo, Neuseeland (um 181) Taupo (vor rund 26.500 Jahren) Toba, Sumatra (vor knapp 74.000 Jahren)

Tabelle 1: Vulkanexplosivitätsindex (VEI); die Skala beginnt mit Stufe 0 und ist ab Stufe 2 logarithmisch aufgebaut, sodass die Klassengrenzen der nächsthöheren Stufen gemessen am Volumen ausgeworfenen pyroklastischen Materials einem jeweils zehnmal größeren Vulkanausbruch entsprechen. Beginnend mit einem harmlosen vulkanischen Ereignis reicht sie bis hin zu einem gigantischen Ausbruch mit globalen Auswirkungen der Stufe 8. Die Skala ist nach oben offen (Quelle: Wikipedia).

Erdbeben und Bergstürze Erdbeben sind Erschütterungen, die durch Vorgänge im Erdinneren ausgelöst werden. Dabei werden durch plattentektonische Prozesse in langen Zeiträumen sehr langsam aufgebaute Spannungen plötzlich freigesetzt, teilweise als Wärme, vor allem aber als Erdbeben (Schenk et al. 2014). Da auch Vulkanismus meist mit tektonischen Vorgängen zusammenhängt, treten Erdbeben wie Vulkanismus in bestimmten Regionen wie dem Pazifischen Feuerring (siehe 132

oben) gehäuft auf. Etwa 95 % aller Erdbeben ereignen sich an den Rändern von tektonischen Platten. Erdbeben, deren Herd unter dem Meeresboden liegt, werden auch Seebeben genannt. Diese unterscheiden sich von anderen Beben vor allem in ihren Auswirkungen, wie zum Beispiel der Entstehung von Tsunamis. Laut einer Analyse von mehr als 35.000 Naturkatastrophen-Ereignissen zwischen 1900 und 2015 durch das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) kamen in dieser Zeit weltweit insgesamt 2,23 Millionen Menschen durch Erdbeben ums Leben (https://www.3sat.de/page/?source=/nano/umwelt/186376/index.html). Das bekannteste und bis heute meistdiskutierte Erdbeben in historischer Zeit ist das von Lissabon im Jahr 1755 (Abb. 35). Das Beben traf die Menschen „gleichsam aus heiterem Himmel“ am 1. November (Allerheiligen) und war von einem „Tsunami desaströsen Ausmaßes, zerstörerischen Bränden und tagelangen Nachbeben“ begleitet (Schenk et al. 2014). Es war nicht nur auf Lissabon konzentriert, wo es einen Großteil der Gebäude zerstörte und Tausende Todesopfer forderte, sondern wirkte sich bis nach Finnland im Norden und Nordafrika im Süden aus. Der Tsunami, der in Lissabon bis zu 12 m erreicht haben könnte, überflutete auch Teile der Nordküste Afrikas, überquerte sogar den Atlantik, wo es in Martinique und Barbados zu Verwüstungen kam, und erreichte die Südküste Englands noch mit einer Höhe von rund drei Metern. Binnengewässer in Schottland, Deutschland und der Schweiz wurden durch Standwellen in Bewegung versetzt. Je nach philosophischer, religiöser und politischer Ausrichtung wurden die Ereignisse unterschiedlich gedeutet und auch entsprechend instrumentalisiert, von protestantischer Seite wurde z.B. behauptet, dass das Erdbeben (an Allerheiligen!) als Strafe Gottes zu verstehen sei und sich besonders gegen die katholische Kirche gerichtet habe. Relativ unberührt von diesen Deutungen blieb man in Lissabon selbst. Während die Ursache des Erdbebens von Lissabon weitgehend ungeklärt blieb, da es zu dieser Zeit noch keine verlässlichen Messmethoden gab, existierten bei dem schweren Erdbeben vom 18. April 1906 in San Francisco bereits die ersten funktionsfähigen Seismografen, sodass dieses Beben erstmals quantitativ untersucht werden konnte. Das Beben konnte als Scherbruch im Untergrund gedeutet werden, bei dem sich beiderseits einer Verwerfungsfläche der tektonischen Platten elastische Spannungen ansammeln. Sobald die 133

Scherspannungen die Reibungskraft übersteigen, kommt es zum Bruch und damit zum Zurückschnellen der wie ein Federblatt gespannten Gesteinsschollen. Auf diese Weise wurden an der sogenannten „San-Andreas-Verwerfung“ die Schollen auf einer Länge von über 300 Kilometern um vier bis fünf Meter versetzt. Der Großteil der Sachschäden wurde allerdings nicht durch diesen Versatz verursacht, sondern durch einen drei Tage wütenden Großbrand. „Am Schluss glich San Francisco dem ausgebrannten Krater eines Vulkans, um dessen Rand zehntausende Flüchtlinge lagern“ (Oeser 2011).

Abb. 35: Darstellung des Erdbebens von Lissabon auf einem zeitgenössischen Kupferstich: Lissabon steht in Flammen, im Hafen kentern Schiffe in den Wellen des Tsunami. Zwei der folgenreichsten Erd- bzw. Seebeben aller Zeiten haben die meisten von uns noch gut in Erinnerung: Das Erdbeben vor Sumatra am 26. Dezember 2004 erreichte eine Stärke von 9,1 auf der Richterskala, löste einen gewaltigen Tsunami aus und forderte rund 230.000 Todesopfer. Zudem wurden über 1,7 Millionen Küstenbewohner rund um den Indischen Ozean obdachlos. Am 11. März 2011 löste ein Erdbeben der Stärke 9,0 ebenfalls einen Tsunami aus, der das Kernkraftwerk Fukushima im Nordosten Japans und die 134

umgebenden Siedlungen zerstörte. Auch wenn die Zahl der Todesopfer mit 18.500 weit unter der des Erdbebens von 2004 lag, hat das Erdbeben durch die Fukushima-Katastrophe den zweifelhaften Rekord des „bislang teuerste Erdbebens überhaupt“ erreicht: es entstand ein direkter Schaden von knapp 300 Milliarden Euro. Erdrutsche und Bergstürze sind in der Regel lokale Naturkatastrophen, die von ihren Auswirkungen her nicht mit einem Erdbeben vergleichbar sind. Wenn sie allerdings im Meer oder in Seen auftreten, können sie Tsunamis auslösen und dadurch auch in größerer Entfernung Zerstörungen verursachen. Bei entsprechender Größe des Erdrutsches kann die Flutwelle an benachbarten Küstenhängen Höhen von mehreren hundert Metern erreichen (Megatsunami). Historische Bedeutung hat der Bergsturz von Goldau am 2. September 1806 in der Nähe des Vierwaldstätter Sees erlangt. Damals begruben in nur wenigen Minuten vom Rossberg losgelöste Steinmassen mehrere Gemeinden im Kanton Schwyz, mindestens 457 Menschen kamen ums Leben und nur 220 konnten gerettet werden. Obwohl in dieser Zeit wesentlich mehr Menschen durch Kriege und Erdbeben ihr Leben ließen, machte die Tragödie von Goldau Schlagzeilen und blieb bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein Thema (Schenk et al. 2014).

Fluten, Kälte, Pandemien Der Mythos von einer großen Flut, die sich in Urzeiten zugetragen und dabei einen Großteil des Lebens ausgelöscht habe, findet sich weltweit in vielen Kulturen. Doch auch in historischer Zeit gab es immer wieder Fluten, die lange im Gedächtnis geblieben sind. Obwohl die Auswirkungen von Fluten meist auf bestimmte Regionen beschränkt bleiben, können z.B. Tsunamis auch überregional katastrophale Auswirkungen haben. Unter den Naturkatastrophen in Europa zählen die Sturmfluten zu den Verheerendsten, wenn es um die Zahl der unmittelbar zu Tode Gekommenen geht (Schenk 2009). Aus der Reihe der hochmittelalterlichen Sturmfluten ragen die nach dem oder der Heiligen des Vortages benannte erste Julianenflut 135

(17.2.1164) und die erste Marcellusflut (16.1.1219) heraus. Nur über die erste Marcellusflut gibt ein Augenzeugenbericht umfassend Auskunft. Die Beschreibung des gelehrten Mönchs lieferte jedoch keine exakte Beschreibung dessen, was geschah, sondern war untrennbar mit der zeitgenössischen Deutung der Ereignisse verwoben. So wurde eine Flut damals als Strafe Gottes gedeutet, als eine „Teilsintflut“ zur Bestrafung einzelner Sünder. Als eine Ursache der Flut wird die Undankbarkeit der Friesen für ihren Reichtum genannt, den sie dem erschlossenen fruchtbaren Land und der Freiheit, in der sie lebten, verdanken würden. Betrachtet man die Nordseeküste auf einer Karte, fallen insbesondere zwei deutlich ins Binnenland reichende Einbuchtungen auf: der Dollart bei Emden und der Jadebusen bei Wilhelmshaven. Hätte man Mitte des 14. Jahrhunderts bereits diesen Blick gehabt, wären die beiden Einbuchtungen nicht zu sehen gewesen. Sie entstanden erst bei der „Zweiten Marcellusflut“ im Januar 1362, die wegen der zahlreichen Menschenopfer auch „Grote Mandränke“ genannt wurde (Winiwarter & Bork 2014). Vermutlich in der Zweiten Marcellusflut wurde die Stadt Rungholt westlich von Husum zerstört, deren Mythos Theodor Storm seiner Novelle Eine Halligfahrt schildert. Auch hier war nach Ansicht des Alt-Nordstrander Pastors Matthias Boetius (1580/85–1625) die Stadt mit ihren sündhaften Bewohnern „in die Erde gesunken“. Den Aberglauben, dass der Kirchturm ab und zu aus dem Wasser auftauche und Glockenklang zu hören sei, bestritt er allerdings. Er unterstützte die Meinung derer, die eine große Sturmflut als Ursache sahen (Schenk et al. 2014). Ähnlich verheerend waren die „Allerheiligenflut“ des Jahres 1570, die sich besonders stark an der ostfriesischen und niederländischen Küste auswirkte, und die „Burchardi-Flut“ des Jahres 1634, die wiederum vor allem an der nordfriesischen Küste nagte. Noch heute kann man auf den Inseln Pellworm und Nordstrand, die vor der Burchardi-Flut zur 220 km² großen Insel Strand gehörten, Spuren dieser Katastrophe in der Landschaft entdecken. Insgesamt ertranken in der „Burchardi-Flut“ vermutlich über 9.000 Menschen (Schenk 2009). Auch in den folgenden Jahrhunderten gab es immer wieder große Fluten wie zum Beispiel die „Weihnachtsflut“ von 1717, die in Butjadingen (Niedersachsen) nur 20 % der Einwohner überlebten, oder die „Februarflut“ von 1825, die 800 Menschenopfer und 45.000 Stück Vieh forderte (Blackbourn 2007). 136

Die Häufung der Flutkatastrophen in Mitteleuropa vom 14. bis ins 19. Jahrhundert steht im Zusammenhang mit der bereits erwähnten Kleinen Eiszeit. Nachdem es von 850 bis etwa 1250 zu einer deutlichen Erwärmung gekommen war (mittelalterliche Wärmezeit), war es zu Beginn des 14. Jahrhunderts mit dem Klimaoptimum vorbei. Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit gingen die Temperaturen stark zurück (Behringer 2007). Besser bekannt als die Ursachen sind die Folgen der Abkühlung. So fror der Bodensee im 11. Jahrhundert zweimal, im 12. Jahrhundert nur einmal zu, im 13. Jahrhundert dagegen gab es drei Totalvereisungen („Seegfrörnen“), im 14. Jahrhundert sogar fünf. Im 15. und 16. Jahrhundert erreichten sie ihren Höchststand mit je sieben Totalvereisungen. Danach ging es wieder auf ein- bis zweimal pro Jahrhundert zurück, die letzte Seegfrörne war 1963 (Abb. 36).

Abb. 36: Seegförne (Lindauer Hafen 1963). Insbesondere im Norden kam es im 14. Jahrhundert zu extrem kalten Wintern, die zugefrorene Ostsee konnte überquert werden – nicht nur von Menschen, 137

sondern auch von Wölfen, die aus Norwegen einwanderten. In dieser Zeit gab es auch bitterkalte und extrem nasse Sommermonate. In der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts gab es durch Extremwetterereignisse erhebliche Ernteausfälle, die zu einer mangelnden Versorgung der Bevölkerung führten. Die Hungersnot führte zu erhöhter Krankheitsanfälligkeit, Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Pest, Cholera, Typhus und Fleckfieber bewirkten einen drastischen Anstieg der Sterblichkeitsrate. Die ersten Pandemien in Mitteleuropa brachen im 14. Jahrhundert aus, die Pestpandemien von 1347 bis 1352, 1360/61 und 1380 bis 1383 waren am folgenreichsten. Die erste Pestwelle Mitte des 14. Jahrhunderts führte zu einem Bevölkerungsrückgang um 2 bis 3 Mio. (ca. 25 %), die nachfolgenden zu einem weiteren Rückgang von 2 bis 3 Mio. Menschen in Deutschland (Poschlod 2015). Zu den Pandemien kamen Flutkatastrophen auch im Binnenland wie das „Magdalenenhochwasser“ 1342 (Winiwarter & Bork 2014), das zahlreiche Menschenleben kostete und viele Brücken zerstörte. Auch die Auswirkungen auf die Kulturlandschaft waren gewaltig. Aufgrund des geringen Waldanteils und der großen Ausdehnung der Ackerflächen wurde im 14. Jahrhundert mehr Boden abgeschwemmt als jemals zuvor, was sich natürlich stark auf die Bodenfruchtbarkeit und die zu erwartenden Ernten auswirkte. Die Pandemien führten in Verbindung mit dem Klimapessimum zur Aufgabe einer Vielzahl von Siedlungen und Kulturflächen. Diese Periode wurde deshalb auch als „spätmittelalterliche Wüstungsperiode“ bekannt. Besonders hoch war die Zahl der verlassenen Siedlungen in klimatisch ungünstigen Mittelgebirgsregionen wie der Rhön und dem Hessischen Bergland. Auch Exzesse wie Hexenverfolgungen und Judenpogrome lassen sich mit den Klimaverschlechterungen in Beziehung setzen (Glaser 2008).

138

Ist der Mensch Verursacher des sechsten Massenaussterbens? Durch seine Tätigkeiten und vor allem seine immer weiter zunehmende Vielzahl ist der Mensch für viele andere Organismen inzwischen selbst zur Katastrophe geworden. Es wird sogar immer wieder darauf hingewiesen, dass nach den fünf großen Massenaussterben der Erdgeschichte der Mensch der Verursacher des derzeit stattfindenden sechsten Massenaussterbens ist. Den Begriff des sechsten, durch den Menschen verursachten Massensterbens haben insbesondere der bekannte Paläoanthropologe Richard Leakey und der Biochemiker Roger Lewin mit ihrem Buch Die sechste Auslöschung. Lebensvielfalt und die Zukunft der Menschheit (1996) populär gemacht. Dabei räumen sie mit der Mär vom "edlen Wilden", der im Einklang mit der Natur lebte, auf: Menschen vernichten schon seit Jahrtausenden Arten durch Bejagung oder durch Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen. Nur das Tempo, in dem das heutzutage geschieht, ist neu und bislang beispiellos. Leakey und Lewin lassen keinen Zweifel daran, dass eine Fortführung der Ausrottung im derzeit praktizierten Umfang das Ende der Menschheit zur Folge haben wird. MacLeod (2016) konstatiert zwar, dass die Aussterberate seit dem Jahr 1600 deutlich über der als „natürlich“ zu betrachtenden liegt, hält ist aber bei weitem nicht für so hoch wie bei einem der fünf großen Massensterben. Die These vom sechsten Massensterben beruht nach seiner Auffassung ausnahmslos auf lokal und zeitlich begrenzten Schätzungen. Das Auftauchen einer hinzukommenden neuen Tierwelt ist in keinem einzigen Fall der Grund für das Artensterben. Wurde es in allen Fällen vom Menschen verursacht? Hier gibt es nach wie vor zwei Lager, die mit „Overkill“ (Jagd durch die Menschen) und „Klimawandel“ bezeichnet werden. Mit dem Pleistozän setzte vor rund 2,5 Millionen Jahren ein merklicher Klimawandel ein. Langsam wachsende Schnee- und Eismengen sorgten für die Entstehung von Gletschern, die sich allmählich nach Süden vorschoben. Die Erde war aber in den Kaltzeiten keinesfalls ganz von Eis bedeckt wie in den „Schneeball-Erde-Episoden“, es gab aber keinen Ort auf der Erde, an dem sich die Eiszeit nicht wenigstens geringfügig bemerkbar machte. Selbst in 139

Regionen, die weit vom Eis entfernt waren, wandelte sich das Klima. In den großen Regenwäldern kam es zu einer deutlichen Abkühlung und Austrocknung, so dass die Wälder schrumpften und großflächig durch trockene Savannen ersetzt wurden. Die Sahara hingegen wurde deutlich feuchter (Ward & Kirschvink 2015). Zu einem großen Teil spielten sich diese Klimaänderungen ab, während die Menschen die Erde besiedelten. Die Wellen des Artensterbens fielen in Australien, Nord- und Südamerika mit dem Auftauchen des Menschen und mit beträchtlichen Klimaänderungen zusammen. In Afrika, Europa und Asien war das Artensterben schwächer ausgeprägt als in Amerika oder Australien; Opfer waren hier vor allem die Mammuts, Mastodons und Wollnashörner. In Nordamerika gingen 73 Prozent der Säugetiergattungen verloren, in Südamerika waren es 79 Prozent und in Australien 86 Prozent. In Afrika dagegen starben während der letzten 100.000 Jahre nur 14 Prozent aus. Nach der Ansicht von Ward und Kirschvink lässt sich keine Aussage darüber treffen, ob es sich bei dem heutigen Artensterben um ein Massenaussterben handelt, da die gesamte Artenzahl nicht bekannt ist – es gibt mit Sicherheit mehr als 1,6 Millionen biologische Arten, wohl mehr als in irgendeiner anderen Phase der Erdgeschichte. Einen „gewissen, kleinen Trost“ sehen die beiden Autoren auch „in der Tatsache, dass die biologische Vielfalt sich in der Vergangenheit nach jedem Massenaussterben wieder erholt und ein noch höheres Niveau erreicht hat.“

Klimawandel – Folge oder Ursache von Katastrophen? Die bereits im zweiten Teil erwähnte Sonderausstellung „Klimagewalten“ im Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle (Saale) behandelte die Klimaentwicklung des Känozoikums, also der letzten 66 Millionen Jahre. Es gab immer wieder Schwankungen, aber eine Tendenz wird deutlich: Das Klima kühlte sich in dieser Zeit erheblich ab, die weltweite Durchschnittstemperatur lag zu 140

Beginn des Känozoikums bei über 25°C, heute beträgt sie 14 Grad. Die kälteste Zeit, in der die durchschnittliche Jahrestemperatur teilweise unter 10 Grad fiel, war das Pleistozän (vor 2,6 Mio. bis 11.700 Jahren), danach stiegen die Temperaturen wieder an, die Eiszeit war vorüber. War sie das wirklich? Nach der Auffassung vieler Klimatologen befinden wir uns derzeit in einem Interglazial, einer Zwischeneiszeit. Da die Ursachen der Kaltzeiten immer noch nicht zweifelsfrei feststehen, ist derzeit nach Ansicht des Leipziger Paläontologen Prof. Arnold Müller noch nicht sicher zu beantworten, ob in Zukunft ein Temperaturabfall oder ein Temperaturanstieg erfolgt (Meller & Puttkammer 2017). Daher endete die Ausstellung auch mit zwei Szenarien, einem warmen und einem kalten. Dabei wären beim warmen Szenario „die zivilisatorischen Folgen […] beherrschbar“, beim kalten Szenario wäre das „unter heutigen Umständen nicht gegeben. Glaziale Verhältnisse würden das Ende jeder modernen Zivilisation in weiten Bereichen der Nordhemisphäre bedeuten.“ Diese relativierende Aussage hat Arnold Müller auch schon dem Vorwurf ausgesetzt, er sei ein „Klimawandel-Leugner“. Er hält die Fokussierung auf die CO2-Problematik für eine „sehr verengte Sicht der Dinge“ und schätzt andere Entwicklungen wie den Bevölkerungszuwachs als problematischer ein. Die meisten Klimatologen leiten aus dem Klimawandel der jüngeren Vergangenheit jedoch ab, dass die Tendenz eindeutig nach oben zeigt, verursacht durch die Aktivitäten des Menschen. Doch davon später, zunächst soll der Blick auf den Einfluss des Klimas auf die Entstehung und Entwicklung des Menschen gerichtet werden.

Der Einfluss des Klimas auf die Entstehung des Menschen Im Vergleich zu den meisten anderen Säugetierordnungen sind die Primaten, zu denen auch der Mensch gehört, in ihrem Körperbau wenig spezialisiert. Als Generalisten sind sie in der Lage, sich mit relativ wenigen Veränderungen an neue Herausforderungen anzupassen. Dass einer Gruppe von Menschenaffen die Umstellung auf die zweibeinige Fortbewegung gelang, verdanken wir unter anderem auch dieser meist wenig beachteten Voraussetzung. Eines der auffälligsten Merkmale der Primaten ist, dass sie an ihren Extremitäten fünf Zehen besitzen, während viele andere Säugetiergruppen wie z.B. 141

die Huftiere die Anzahl der Zehen zugunsten einer Spezialisierung reduziert haben, die Unpaarhufer sogar bis auf einen. Die Entwicklungsgeschichte der Primaten begann bereits in der Kreidezeit vor etwa 70 Millionen Jahren, während des Paläogens (vor 66 bis 23 Mio. Jahren) verbreiteten sie sich über die nördliche Hemisphäre. Ihre rasche Verbreitung in den immergrünen Wäldern des Urkontinents Laurasia hängt ohne Zweifel mit dem Aussterben der Dinosaurier am Ende der Kreidezeit zusammen. Die Primaten des Paläozäns (vor 66 bis 56 Mio. Jahren) erinnern jedoch von ihrer Körpergestalt eher an Hörnchen als an heutige Affen. Ab dem Eozän (vor 56 bis 34 Mio. Jahren) wurden die Wälder Europas von unterschiedlichen Primatengruppen besiedelt, von allesfressenden Baumbewohnern über nachtaktive Insektenfresser bis zu reinen Laubfressern. Einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde der Fund von Darwinius masillae in der Grube Messel (Abb. 27, S. 99). Aus dem Bau des Rumpfes und der Gliedmaßen lässt sich schließen, dass Darwinius ein Baumbewohner war, der sich mit Hilfe aller vier Gliedmaßen durch das Geäst bewegte. Er konnte keine weiten Sprünge durchführen. Die großen Augen sprechen für eine nachtaktive Lebensweise. Der Bau der Zähne und Überreste im Verdauungstrakt ergeben, dass dieser Primat sich von Früchten, Samen und Blättern ernährt hat. Im Paläogen gelangten die Primaten über die Beringstraße von Asien nach Nordamerika, der älteste Fund in Südamerika stammt aus dem Übergang vom Eozän zum Oligozän. Genetisch waren die Primaten Südamerikas von denen der restlichen Welt isoliert, ihre Weiterentwicklung verlief innerhalb eines stets gleichen Waldhabitats, den offenen Landschaften blieben sie bis heute fern. Zu Beginn des Oligozäns (vor 34 bis 23 Mio. Jahren) sank die Durchschnittstemperatur weltweit um etwa 10 Kelvin (°C). Obgleich es noch immer vier Grad wärmer war als heute, wurde die Umwelt in Europa für die an tropische Lebensbedingungen angepassten Primaten zu kühl. Bis zur wieder einsetzenden Erwärmung im mittleren Miozän war Europa für 15 Millionen Jahre affenfrei. Die wesentlichen entwicklungsgeschichtlichen Ereignisse während des Oligozäns haben sich in Afrika abgespielt. Das damalige Nordafrika war während des Eozäns und Oligozäns ein bewaldeter Küstenbereich des damaligen 142

Tethys-Meers mit vielen vorgelagerten Inseln, in dem die Anzahl und Vielfalt der Affen regelrecht explodierte. Die Aufspaltung der Hundsaffen und der Menschenaffen fand bereits vor 30 bis 25 Millionen Jahren in Afrika statt. Nach einer schlagartigen Abkühlung zu Beginn des Oligozäns stabilisierte sich das Klima für die darauffolgenden 20 Millionen Jahre auf Temperaturen, die etwa 5 K über den heutigen lagen. Durch die zunehmende Trockenheit entstand weltweit ein neuer Lebensraum, die Savanne als von Büschen und Bäumen durchsetztes Grasland. Das neue Biotop wurde im Lauf der Zeit überwiegend von großen Pflanzenfressern erobert, den Huftieren. Bis Anfang des Miozän lebte hier außer Elefanten, Schliefern und Primaten keines der großen Säugetiere, die heute unsere Vorstellung von der Tierwelt Afrikas prägen – diese kamen vor etwa 20 Millionen Jahren mehrheitlich aus dem asiatischen Raum. Von Afrika nach Asien und später über Nordamerika nach Südamerika wanderten die Elefanten. Die Primaten breiteten sich aus Afrika erst nach einer mäßigen Erwärmung vor 15 Millionen Jahren, dem Miozän-Optimum, in Europa und Asien aus. Während die Menschenaffen weiterhin in ihren angestammten Waldbiotopen lebten, eroberten die Hundsaffen als erste erfolgreich offene Graslandschaften. Aus dem Miozän (vor 23 bis 5 Mio. Jahren) ist eine ganze Reihe von Menschenaffen bekannt, vor allem aus Ostafrika. Ab dem mittleren Miozän kam es zur Aufspaltung der Menschenaffen im afrikanischen und europäischasiatischen Raum. Der Trennungszeitpunkt der Gibbons von den übrigen Menschenaffen wird auf 20 Millionen Jahre vor heute geschätzt. Die Linie, die zu den Orang-Utans führte, hat sich vor 18 Millionen Jahren von den restlichen afrikanischen Menschenaffen abgetrennt. In einer Zeitspanne von 14 bis 9 Millionen Jahren lebten im westlichen Europa große Menschenaffen, deren Vorfahren aus Afrika eingewandert waren. Der letzte große Menschenaffe Europas war Oreopithecus, dessen Fossilien man bisher nur in Italien und auf Sardinien gefunden hat. Sein Körperbau war bereits vor 8 Millionen Jahren „moderner“ als der heutiger Schimpansen und deutet zusammen mit seiner Umwelt auf eine Lebensweise hin, die eine watende Fortbewegung im Flachwasser beinhaltet. Damit liefert Oreopithecus einen Beitrag zum Verständnis der Entstehung des aufrechten Gangs, denn eine ähnliche Lebensweise im gleichen Habitat führt oft zu ähnlichen Ergebnissen (Konvergenz). 143

Zur gleichen Zeit, als die Hundsaffen die offenen Landschaften eroberten und Oreopithecus in der Toskana lebte, also vor 10–6 Millionen Jahren, haben wohl auch Gruppen von größeren Menschenaffen in Afrika das Ufer von Gewässern als Habitat entdeckt. Um im Wasser größerer Tiefe atmen zu können, ist man gezwungen, den Kopf über Wasser zu halten und auf den zwei Hinterbeinen über den Grund zu laufen. Die Wirbelsäule wird durch den Auftrieb entlastet, was für den weiteren morphologischen Umbau entscheidend ist. Zu dieser Zeit herrschte ein feucht-warmes Klima, das für derartige Habitate besonders günstig war. Erst im Pliozän (vor 5,3 bis 2,6 Mio. Jahren) verlor das Klima an Stabilität, es gab Perioden lang anhaltender Trockenheit, die die Menschenaffen vor neue Herausforderungen stellten. Die als Australopithecinen bezeichneten aufrecht gehenden Primaten bevölkerten entlang locker bewaldeter Flussläufe ganz Afrika. Ein Vorteil des aufrechten Gangs ist, dass man bei längeren Märschen Energie spart, außerdem erlauben freie Hände das Mitnehmen von Kindern, Werkzeugen, Waffen, Nahrung und anderem. Der Aktionsradius der Gruppe wird größer, insgesamt wird sie unabhängiger von den jeweiligen Gegebenheiten eines Lebensraums. Jetzt können auch lebensfeindlichere und raubtierreichere Habitate wie z.B. Savannen besiedelt werden. Zu Beginn des Pleistozäns (vor 2,6 Mio. bis 11.700 Jahren) erreichte die globale Abkühlung auch Afrika südlich der Sahara und sorgte dort für trockenes Klima. Savannen wurden nun zum beherrschenden Landschaftstyp. Die Pflanzen der Savannen wachsen durch den Wassermangel langsamer und schützen ihre Früchte durch Barrieren wie harte Schalen. Um diese Barrieren zu überwinden, gibt es verschiedene Strategien. Eine Möglichkeit sind körperliche Anpassungen wie z.B. massive Kieferknochen und eine kräftige Kaumuskulatur. Eine weitere Strategie ist der Werkzeuggebrauch als kulturelle Errungenschaft. Die Bearbeitung von Werkzeugen wird mit den ersten Vertretern der Gattung Homo (H. rudolfensis und H. habilis) in Verbindung gebracht. Homo erectus hat diese Strategie seit mindestens 1,9 Millionen Jahren um ausgefeilte Jagdtechniken erweitert. Bereits vor mindestens 1,6 Millionen Jahren brannten in Afrika von Menschen kontrollierte Feuer, so dass diese unabhängiger von Klima- und Wettereinflüssen wurden.

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Seit etwa 2 Millionen Jahren verschwinden die Urwälder auch im südlichen Asien; Tiere und Menschen, die in Afrika ähnliche Landschaftstypen bewohnten, breiteten sich nach Norden aus. In mehreren Besiedlungswellen erreichte Homo erectus große Teile des südlichen und östlichen Asien (Abb. 37). Als in Kaltphasen des Pleistozäns der Meeresspiegel fiel, wurde auch die Inselwelt Südostasiens besiedelt, dort lebten noch vor 60.000 Jahren isolierte Populationen sehr kleiner Menschen (Homo floresiensis). Es gibt auch erste Hinweise für eine frühe Besiedlung Nordamerikas durch Populationen, die Homo erectus nahestehen.

Abb. 37: Homo erectus von Dmanisi (Georgien), Georgisches Nationalmuseum Tiflis. Aus Europa gibt es die frühesten menschlichen Lebensspuren vor etwa 1,2 Millionen Jahren. In Afrika hatte sich Homo heidelbergensis von Homo erectus abgespalten und schließlich das südliche Europa erreicht. Eine Verbreitung nördlich der Alpen erfolgte vor rund 800.000 Jahren. Wahrscheinlich erlaubten bessere Jagdtechniken wie z.B. Lanzen und die Entwicklung von Speeren das sichere Erlegen großer Säugetiere und machten ein Vordringen dieser Urmenschen in die durch harte Winter geprägte Region möglich.

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Die meisten Funde in Mitteleuropa stammen aus einer Zeit von 600.000 bis 200.000 Jahren vor heute, also aus dem Pleistozän. Diese frühen Menschen wurden bis zu 1,70 m groß, ihr Körperbau war muskulös. Der „HeidelbergMensch“ lebte wohl überwiegend in Höhlen oder baute sich einfache Hütten. Er jagte Großwild, ernährte sich aber auch von Tieren des Süßwassers. Er benutzte vielgestaltige Werkzeuge und Waffen aus Stein, Holz und Tierknochen. Besonders bekannt wurden die etwa 400.000 Jahre alten, gut 2 m langen Wurfspeere aus Fichtenholz, die in Schöningen bei Helmstedt (Niedersachsen) gefunden wurden (Seitz 2017). Zu den frühesten Spuren der Gattung Homo in Mitteleuropa gehören die etwa 400.000 Jahre alten Schädelteile von Bilzingsleben im nördlichen Thüringen. Dort wurden auch insgesamt 2,5 t Nahrungsreste geborgen, die interessante Einblicke in die Essgewohnheiten unserer Vorfahren ermöglichten: Elefant, Nashorn, Bison, Wildpferd, Hirsch, Biber und Bär standen damals unter anderem auf dem Speisezettel. Es besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass sich der Neandertaler aus Homo heidelbergensis entwickelt hat. Eine klare Grenze zwischen beiden besteht nicht, Übergangsformen wie der „Urmensch von Steinheim“ werden als Prä-Neandertaler bezeichnet oder sogar als eigene Art (Homo steinheimensis) geführt. Der „klassische“ Neandertaler tauchte vor etwa 100.000 Jahren auf und starb vor rund 30.000 Jahren wieder aus. Homo sapiens, der moderne Mensch, ist bereits seit 300.000 Jahren in Nordafrika belegt und muss sich in den folgenden 200.000 Jahren relativ rasch über ganz Afrika ausgebreitet haben. Spätestens in der letzten Warmzeit vor etwa 110.000 Jahren hat Homo sapiens Afrika verlassen, dies belegen Höhlenfunde aus dem heutigen Israel. Dieser Vorstoß kam jedoch wegen einer Klimaverschlechterung zunächst zum Erliegen. Erst vor ungefähr 55.000 Jahren folgte eine neue Auswanderungswelle aus Afrika, im Nahen Osten traf Homo sapiens auf den Neandertaler und lebte mit ihm mindestens 60.000 Jahre zusammen. Dabei gab es auch fruchtbare Nachkommen von Neandertalern und Homo sapiens, sodass wir heute noch etwa 2 % Neandertaler-Gene in uns tragen (Bojs 2018). Nach Zentraleuropa kam der anatomisch moderne Mensch vor rund 43.500 Jahren

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Vor etwa 11.700 Jahren endete die letzte Kaltzeit des Pleistozäns, der darauf folgende Zeitabschnitt wird als Holozän bezeichnet. Innerhalb von nur 20 bis 40 Jahren stiegen die Durchschnittstemperaturen auf der Nordhalbkugel um sechs Grad. Der Klimawechsel zog zunächst eine Veränderung der Flora, damit verbunden auch der Fauna nach sich. So verschwanden in vielen Gegenden der Welt viele der großen Säugetiere der Eiszeit. Dieses sogenannte HolozänMassensterben fand auf dem amerikanischen Doppelkontinent in dem relativ kurzen Abschnitt von etwa 13.000 bis 10.000 v. Chr. statt. In welchem Ausmaß der Mensch bzw. dessen Einwirken auf das Ökosystem Ursache für das abrupte auftretende Massensterben war, ist umstritten (siehe S. 139f.). Durch das wärmer werdende Klima wich in Mitteleuropa (aber auch in Nordamerika) die Tundrenvegetation der Eiszeit zunehmend einer Bewaldung, zunächst durch Birken und Kiefern, später auch Eichen, Ulmen und anderen. Die Tundra breitete sich dementsprechend nach Norden in bis dahin unwirtliche Gebiete von polarer Kältewüste aus. Die Zeit von etwa 8.000 bis 4.000 v. Chr. stellt das Temperaturoptimum des Holozäns (Atlantikum) dar. Der bemerkenswerteste Unterschied des Atlantikums im Vergleich zu heute war ein deutlich feuchteres Klima in den Wüstengebieten. Es gibt Anzeichen für ganzjährige Flüsse in der Sahara und anderen heutigen Wüsten. Der Tschadsee hatte zu dieser Zeit etwa die Ausdehnung des Kaspischen Meeres. Wie etliche Felszeichnungen aus der Sahara zeigen, gab es zahlreiche Großtierarten wie Giraffen, Elefanten, Nashörner und sogar Flusspferde. Während des Klimapessimums ab etwa 4.000 v. Chr. zog sich die Savannenvegetation abrupt zurück. Das Klima in den Wüstengebieten wurde deutlich trockener, es begann die Desertifikation der Sahara. Die Bewohner der Sahara und anderer trockener werdender Gebiete mussten ihre Lebensräume verlassen und sammelten sich in den Flusstälern von Nil, Niger, Gelber Fluss (China) und Indus (Pakistan) sowie in Mesopotamien am Euphrat und Tigris. In den meisten dieser Gebiete blühten durch die Notwendigkeit einer staatlichen Organisation sowie einer deutlichen Bevölkerungszunahme erste Hochkulturen auf. Gegen Ende des 3. Jahrtausends v. Chr. begann eine weltweite Dürreperiode, die mehrere Jahrhunderte andauerte. Ab etwa 1.200 v. Chr. setzte eine ausgeprägte Kaltepoche, das sogenannte Klimapessimum der Bronzezeit, ein.

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Die Jahresmitteltemperatur war ein wenig kälter als heute, womit diese Periode die kälteste seit Ende der Weichsel-Eiszeit darstellt. Sie hielt bis etwa Mitte des 1. Jahrtausends v. Chr. an und ging dann in ein neues Klimaoptimum über, das sogenannte Optimum der Römerzeit. Die Jahresmitteltemperatur lag etwas höher als heute. In dieser Zeit gelang zum einen dem karthagischen Feldherrn Hannibal die Überquerung der Alpen mit inzwischen ausgestorbenen Nordafrikanischen Elefanten (217 v. Chr.), zum anderen den Römern der Anbau von Wein auf den Britischen Inseln. Danach kam es wiederum zu einer Klimaverschlechterung in der Völkerwanderungszeit. Die Erwärmung im 8. und 9. Jahrhundert wird als Mittelalterliche Klimaanomalie bezeichnet. Die Wikinger begannen mit der Besiedlung Islands („Eisland“) und Grönlands, das damals mehr „grünes Land“ (daher der Name) aufwies als heute. Ab Mitte des 14. Jahrhunderts setzte eine Klimaveränderung ein, die zwischen 1550 und 1850 ihren Höhepunkt fand. Diese Klimaanomalie wird als „Kleine Eiszeit“ bezeichnet. In nasskalten Sommern reifte das Getreide nicht mehr aus, häufig traten nach Missernten Hungersnöte auf. Verheerende Seuchen (wie die Pest) und Kriege (wie der Dreißigjährige Krieg) belasteten die Bevölkerung zusätzlich. Die einsetzende Landflucht sowie die spätere Abwanderung großer Bevölkerungsteile in die „Neue Welt“ wurden so zum Teil auch durch diese Klimaveränderung verursacht. Im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts klang die Kleine Eiszeit aus. Im 18. Jahrhundert begann in England die industrielle Revolution, die Industrialisierung der menschlichen Gesellschaft breitete sich von dort in den Folgejahren rasant nach Westeuropa und Nordamerika und im Laufe des 20. Jahrhunderts auch in weite Teile der übrigen Welt aus. Durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe (zunächst Kohle, später zunehmend auch Kohlenwasserstoffe) ist ab etwa 1900 ein signifikanter, anthropogen verursachter Anstieg des atmosphärischen Kohlenstoffdioxids (CO2) feststellbar. Die anthropogenen CO2-Emissionen werden für die Zunahme der Welttemperatur (globale Erwärmung) verantwortlich gemacht, die besonders deutlich ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachtet wird. In diesem Zusammenhang ist umstritten, wann auf das derzeitige Interglazial das nächste Glazial folgen wird – und ob es überhaupt kommt. Manche Forscher sind der Ansicht, die 148

globale Erwärmung werde den seit vielen hunderttausend Jahren stetig wiederkehrenden Zyklus von Glazialen und Interglazialen stören und dadurch den Beginn eines neuen Glazials verhindern. Der Mensch beeinflusst das Klima vor allem durch folgende Aktivitäten (Meller & Puttkammer 2017): 1. 2. 3. 4.

Vegetationsveränderung durch Entwaldung Urbanisierung und Versiegelung von Bodenflächen Industrialisierung der Landwirtschaft (Pestizide/Dünger/Maschineneinsatz) Industrie und Verkehr

Seit Beginn der Sesshaftwerdung wandelte der Mensch Waldflächen in Agrarflächen um, mit wachsender Bevölkerung weiteten sich die Rodungen aus und betrafen große Teile der weltweiten Wälder. 78 % der Urwälder wurden in den letzten 8.000 Jahren zerstört, davon allein zwischen 2000 und 2010 über 40 Millionen Hektar. Dadurch wurden der Wasserhaushalt und das Abstrahlverhalten (Albedo) maßgeblich verändert, was sich auf tägliche und saisonale Temperaturgänge, die Abflussgeschwindigkeit von Niederschlagswasser und die damit verbundene Bodenerosion auswirkt. Noch im Mittelalter war die Urbanisierung gering und Städte mit 5.000 bis 10.000 Einwohnern galten bereits als Großstadt. Seit Beginn der Industrialisierung im 18. und frühen 19. Jahrhundert änderte sich das dramatisch. Die Bevölkerung in den sich entwickelnden Industrieländern nahm sprunghaft zu, es entwickelten sich große Agglomerationen, erhebliche Bodenflächen verwandelten sich in versiegelte Industrie-, Wohn und Verkehrsflächen. Das ungebremste Bevölkerungswachstum der vergangenen Jahrzehnte beschleunigte die Urbanisierung, es entstanden Megastädte mit mehr als 10 Millionen Einwohnern – mit weiterhin steigender Tendenz. Die Industrialisierung der Landwirtschaft ist zum einen die Hauptursache des gegenwärtigen Artensterbens, sie ist aber auch ein Erzeuger von klimawirksamen Spurengasen wie Methan, vor allem aus der Massentierhaltung. Im Zentrum anthropogener Klimaeinflüsse steht allerdings die Emission von Kohlendioxid aus der Verbrennung fossiler Energieträger. Nach den Schätzungen des Weltklimarats (IPCC, Intergovernmental Panel on Climate Change) ist bei einer Verdoppelung des CO2-Gehaltes der 149

Atmosphäre mit einer globalen Erwärmung von 1,4 bis 5,6°C und einem Meeresspiegelanstieg um 11 bis 88 cm bis Ende des Jahrhunderts zu rechnen. Die Klimaerwärmung wird ohne Klimaschutz alle dem Menschen bekannten Werte, z.B. die aus der letzten Warmzeit (Eem) vor 125.000 Jahren, übersteigen (Glaser 2013). Der Klimatologe Hans Joachim Schellnhuber brachte das Konzept der Kippelemente in die wissenschaftliche Diskussion ein. Als Kippelement (englisch Tipping Element) wird ein überregionaler Bestandteil des globalen Klimasystems bezeichnet, der bereits durch geringe äußere Einflüsse in einen neuen Zustand versetzt werden kann, wenn er einen „Kipp-Punkt“ (tipping point) erreicht hat. Bis dahin ging man vorwiegend von linearen, allmählich stattfindenden Veränderungen aus. In der Folge wurden zahlreiche potentielle Kippelemente benannt, bei denen der Kipp-Punkt vor dem Jahr 2100 erreicht werden könnte. „Selbst wenn die im Pariser Klimaabkommen vereinbarten Ziele eingehalten werden, kann nach Ansicht von Klimaforschern eine weitere Erwärmung der Erde nicht ausgeschlossen werden. Die Erde würde sich demnach langfristig um etwa vier bis fünf Grad Celsius erwärmen und der Meeresspiegel um zehn bis 60 Meter ansteigen, schreibt das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung“ (PIK) (Badische Zeitung vom 7. August 2018: Die Gefahr einer Heißzeit wächst). Mitautor und PIK-Gründungsdirektor Hans Joachim Schellnhuber: „Der Mensch hat bereits seine Spuren im Erdsystem hinterlassen. Werden dadurch empfindliche Elemente des Erdsystems gekippt, könnte sich die Erwärmung durch Rückkopplungseffekte weiter verstärken. Das Ergebnis wäre eine Welt, die anders ist als alles, was wir kennen“.

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Willkommen im Anthropozän! Nach der bisherigen Definition der Geologen wird die Zeit nach dem Rückzug des Eises aus Mitteleuropa bis zur Gegenwart als Holozän bezeichnet. Unzweifelhaft ist diese jüngste geologische Epoche durch die Ausbreitung des modernen Menschen gekennzeichnet. Inzwischen ist der Einfluss des Menschen auf die Erde dermaßen stark geworden, dass man seit der Jahrtausendwende darüber diskutiert, ob nicht mittlerweile eine neue geologische Epoche angebrochen ist: das „Anthropozän“, das Zeitalter des Menschen. Erstmals wurde der Begriff vom Nobelpreisträger (für Chemie) Paul Crutzen um das Jahr 2000 verwendet. Inzwischen gibt es in der International Commision of Stratigraphy, die weltweit über die Einteilung der geologischen Zeitskala und die Benennung der geologischen Epochen entscheidet, sogar eine eigene Arbeitsgruppe „Anthropozän“. Für eine formale Definition des Anthropozäns genügt nicht allein, dass der Mensch inzwischen einen überragenden Einfluss auf die Erde hat, sondern ob sich dieser Einfluss geologisch manifestiert. Als Hinweis darauf können die modernen Baumaterialien gelten, in erster Linie der Beton. Dessen jährliche Produktion würde ausreichen, um ganz Deutschland mit einer zentimeterdicken Schicht zu bedecken – und das jedes Jahr (Möllers et al. 2015). Ein weiteres Indiz ist die Veränderung der chemischen Zusammensetzung der Atmosphäre und der Ozeane. So ist die Dichte von Kohlendioxid (CO2) in der Atmosphäre seit der Industriellen Revolution um etwa ein Drittel von ungefähr 280 Teilen pro Million (ppm) auf heute 400 ppm angestiegen, was als Hauptursache des Klimawandels gilt. Die empfindlichsten Auswirkungen haben die menschlichen Aktivitäten aber auf die biologische Vielfalt. Manche sprechen bereits heute von einem „sechsten Massensterben“ in der Folge der „Big Five“ der Erdgeschichte, diesmal nicht durch Meteoriten oder andere globale Katastrophen, sondern einzig und allein durch uns Menschen verursacht. Hinzu kommen die Beeinträchtigungen durch „invasive Arten“, die aus anderen Teilen der Erde bewusst eingebracht oder versehentlich eingeschleppt wurden.

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Allein durch unsere „Häufigkeit“ und „Masse“ werden auch künftige Fossilien sehr stark von uns Menschen geprägt sein: Homo sapiens macht jetzt ungefähr ein Drittel der Biomasse unter den großen Landwirbeltieren aus, ein Großteil der übrigen zwei Drittel sind unsere Nutztiere, während die großen Wildtiere weniger als 10 % ausmachen (Harari 2017). Dies spielt als „Biostratigraphie“ ebenfalls eine große Rolle bei der Einteilung geologischer Epochen. Es gibt also eine Vielzahl an Hinweisen, dass der Begriff „Anthropozän“ auch geologisch sinnvoll ist. Wann aber hat das Anthropozän begonnen? Paul Crutzen schlug den Beginn der industriellen Revolution um 1800 vor, als das Wachstum der menschlichen Bevölkerung und des auf Kohle basierten Energieverbrauchs zunahmen und der Gehalt an CO2 zu steigen begann. Es wurde auch schon ein viel früherer Zeitpunkt vorgeschlagen: die Entstehung und weltweite Expansion der Landwirtschaft vor rund 6.000 Jahren. Auch der Beginn der „großen Beschleunigung“ um 1950, der mit dem Atomzeitalter und mit dem Zeitalter des Plastiks und Betons zusammenfällt, wäre ein möglicher Anfangspunkt für das Anthropozän. „Wie stark das Fieber beim Patienten Erde weiter ansteigen wird, hängt […] in erster Linie von uns Menschen ab. Wir sind es, die täglich mit politischen, wirtschaftlichen und persönlichen Entscheidungen die Weichen für die Zukunft stellen und mit der Höhe der Treibhausgasemissionen auch die Stärke des Klimawandels bestimmen“, so ein Zitat aus den „Perspektiven“ des Klimahauses in Bremerhaven (Seitz 2017). Betrachten wir die Geschichte unserer Erde, war nichts beständiger als der Klimawandel. Aber es gab noch nie einen, der von uns Menschen verursacht wurde. Und er wird auch nicht die Erde aus dem Gleichgewicht bringen, sondern vor allem uns Menschen. Willkommen im Anthropozän!

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4. Evolution oder Revolution? Macht die Natur doch Sprünge? Natura non facit saltus, die Natur macht keine Sprünge, ist eine Grundannahme der Philosophie seit Aristoteles. Der Gedanke, dass sich Prozesse und Veränderungen in der Natur nicht sprunghaft und plötzlich vollziehen, sondern kontinuierlich und stetig, wurde später im biologischen und geologischen Gradualismus aufgegriffen. Auch Charles Darwin ging in Anlehnung an den geologischen Gradualismus seines Förderers Charles Lyell davon aus, dass die Transmutation der Organismen allmählich verlief. Aus der Geologie wusste man inzwischen auch – unter anderem durch Georges Cuvier –, dass die Erde deutlich älter war als aufgrund der biblischen Genealogie postuliert, so dass für eine allmähliche Entwicklung der Lebewesen genügend Zeit blieb. Ein Problem war zu Darwins Zeiten noch, dass im Fossilbericht häufig die Übergangsformen zwischen fossilen und rezenten Arten fehlten, bei denen man eine Abstammungslinie vermutete. Solche fehlenden Bindeglieder werden als „Missing Links“ bezeichnet, und diese waren lange Zeit der hauptsächliche Kritikpunkt an Darwins Theorie. Während Georges Cuvier jedoch davon ausgegangen war, dass eine „Transformation“ von einer Art zu einer anderen nicht möglich wäre, war Darwin der Überzeugung, dass die Übergangsformen zwischen zwei heute lebenden Arten so selten waren, dass sie bis dahin nicht (fossil) gefunden werden konnten. Die Fossilfunde gaben letztendlich Darwin recht: manche Entwicklungsreihen wie z.B. die der Pferde – oder auch die des Menschen – sind inzwischen fast lückenlos belegt. Dennoch stellt die Makroevolution, d.h. der über Artgrenzen hinausreichende Entwicklungsvorgang – also die Bildung neuer Gattungen, Familien, Ordnungen, Klassen und Stämme – bis heute einen der größten Diskussions153

punkte in der Evolutionstheorie dar und wird vor allem von Kreationisten immer wieder als Argument gegen die Evolutionstheorie vorgebracht. Evolutionsbiologen gehen jedoch generell davon aus, dass die Vorgänge der Makroevolution nach den gleichen Prinzipien ablaufen wie die der Mikroevolution, evolutionäre Vorgänge innerhalb einer Art. Dies beinhaltet in der Regel auch die Grundannahme, dass die Natur keine Sprünge macht. Nur wenige Biologen haben versucht, Schlüsselereignisse der Makroevolution mit größeren Mutationssprüngen zu erklären. Einer von ihnen war der deutsche Genetiker Richard Goldschmidt (1878–1958), der wegen seiner jüdischen Abstammung von den Nationalsozialisten ausgebürgert wurde und in die USA emigrierte. Er schlug ein Modell der Makroevolution vor, das auf Makromutationen beruht und als Hopeful-Monster-Hypothese bekannt wurde. Wie bereits erwähnt, bezogen Niles Eldredge und Stephen Jay Gould 1972 mit ihrem „Punktualismus“ eine Gegenposition zum Gradualismus. Allerdings verwahrte sich insbesondere Gould dagegen, dies als eine Form von sprunghafter Evolution zu interpretieren. Unter völlig neuem Licht erschien der Artenwandel nach der „Entdeckung“ der Massenaussterben im Verlauf der Erdgeschichte. Damit war zunächst einmal geklärt, dass Aussterbeereignisse relativ rasch erfolgen können. Galt das auch für die Entstehung neuer Arten? Falls ja, verlief diese „Neuentstehung“ von Arten nach Massenaussterben nach den üblichen Evolutionsprinzipien oder kamen andere Aspekte oder Mechanismen hinzu? Das Motto „Survival of the fittest“ (Überleben des Tüchtigsten) stammt zwar nicht von Darwin selbst, sondern vom Philosophen Herbert Spencer, es umschreibt aber sehr gut das von Darwin postulierte Zusammenwirken von Variation, Überproduktion und Selektion als entscheidende Evolutionsfaktoren. Wurde zu Darwins Zeiten und auch noch lange danach der Begriff „fitness“ durchaus unterschiedlich interpretiert, wird er heute – auch um ihn mathematisch handhabbar zu machen – auf die Anzahl der Nachkommen reduziert. Wer mehr Nachkommen hat, bringt mehr seiner Gene in die nächste Generation und erhöht damit ihre Überlebenschance. Diese „genzentrierte“ Sicht vertrat Richard Dawkins (1976) in seinem Buch The selfish Gene (Das egoistische Gen). Obwohl sich Dawkins heftigen Angriffen ausgesetzt sah, wurde diese Sichtweise insbesondere durch die Soziobiologie (Wilson 1978) und die „Verwandtenselektion“ (kin selection) weitgehend bestätigt. 154

Wie bekommt man aber die meisten Nachkommen? Indem man optimal an seine Umwelt angepasst ist und auch den Geschlechtspartner davon überzeugen kann. Sind die sekundären Geschlechtsmerkmale (z.B. Färbung, Geweih) besonders gut ausgeprägt, wird dem Partner Gesundheit und Stärke signalisiert. Den Anteil der sexuellen Selektion bei der Evolution darf man nicht unterschätzen (Miller 2001), das hat auch Darwin bereits erkannt (Darwin 1871). Wie aber kann man sich die Entstehung einer neuen Tier- oder Pflanzenart vorstellen? Um dies zu beantworten, müssen wir zunächst definieren, was eine Art überhaupt ist. Während man früher eine Art vorwiegend morphologisch, also über ihre äußeren Merkmale, definierte, geht man heute meist vom biologischen Artbegriff aus, nach dem zwei Arten „reproduktiv isoliert“ sind, sich also unter natürlichen Bedingungen nicht kreuzen (zu den verschiedenen Artbegriffen siehe Kunz 2018). Dies hatte im Übrigen bereits Georges Cuvier erkannt, wenn er an Christoph Heinrich Pfaff im August 1790 schrieb (Behn 1845): Ich denke Folgendes darüber: Classen, Ordnungen, Genera sind blosse Abstractionen der Menschen, und Nichts dergleichen existirt in der Natur. Das denken fast alle Naturforscher und ich bin völlig ihrer Meinung […] Aber sind Species eine blosse Abstraktion ? Existirt nicht ein wahres, von der Natur allen Individuis der Species eingeprägtes Verhältniss mit den übrigen? Denke nach! Du wirst finden, dass wir Speciem heissen: alle Individua, die ursprünglich von einem einzigen Paare entweder wirklich abstammen oder wenigstens abstammen könnten; wir bilden uns ein, eine Species sei die ganze Nachkommenschaft des ersten von Gott gebildeten Paares, ungefähr wie die Menschen alle als Söhne Adam's und Eva's vorgestellt werden. Welches Mittel haben wir nun heutzutage, den Faden dieser Genealogie wieder zu finden? Die Aehnlichkeit in der Gestalt ist es gewiss nicht. Es bleibt in der That Nichts übrig als die Begattung, und ich behaupte, dass sie das einzig gewisse, aber auch das ganz untrügliche Kennzeichen sei, um eine Species zu erkennen. Alle übrigen sind nur Muthmassungen.

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Der reproduktiven Isolation geht meist eine räumliche Isolation voraus. Am schnellsten geschieht die Aufspaltung einer Ursprungsart in zwei Arten nämlich dann, wenn eine kleine Population (z.B. ein Paar oder ein trächtiges Weibchen) auf eine nicht oder wenig besiedelte Insel gelangen. Diese sogenannte Gründerpopulation kann sich innerhalb weniger Generationen an die dort herrschenden, vom Herkunftsgebiet in der Regel abweichenden Umweltbedingungen anpassen – zumal dann, wenn dort keine weitere Art mit ähnlichen Umweltansprüchen (ökologischer Nische) konkurriert. Die Anpassung an die anderen Umweltbedingungen bewirkt im Lauf der Zeit morphologische und auch genetische Abweichungen von der Ursprungsart. Ist die Zeitdauer der Isolation genügend lang, haben sich entweder morphologische oder genetische Isolationsmechanismen gebildet, die eine Kreuzung mit der Ursprungsart verhindern. Aus einer Art werden so zwei Arten.

Abb. 38: Vier Darwinfinken-Arten von den Galapagos-Inseln, aus Charles Darwin, Voyage of the Beagle, gezeichnet von John Gould 156

Handelt es sich um eine vulkanisch entstandene Inselgruppe wie die Galapagos-Inseln, die aus teilweise recht weit voneinander entfernten Inseln mit unterschiedlichen Umweltbedingungen bestehen, kann sich dieses Spiel mehrfach wiederholen. Schließlich hat jede Insel ihre eigene Unterart, wie z.B. bei den Riesenschildkröten. Oder die auf verschiedenen Inseln entstandenen Arten treffen sich später wieder, „kennen“ sich aber nicht mehr und sind „reproduktiv isoliert“ – so bei den Darwinfinken (Abb. 38). Dies alles spielt sich aber immer noch im Rahmen der „darwinschen Evolution“ ab. Dauert die Isolation lange genug oder wird z.B. durch Kontinentalverschiebung unterstützt, ist auf diesem Weg auch die Entstehung höherer Taxa wie Gattungen, Familien, Ordnungen usw. erklärbar. Wie sieht das aber nach einem Massenaussterben aus wie dem am Ende der Kreidezeit? Ist es dem Zufall überlassen, welche Arten aussterben, welche überleben und wie die Evolution weiter läuft? Das hängt von der Ursache des Massenaussterbens ab. Bei einem global wirksamen Impakt sind z.B. größere Organismen stärker „vom Aussterben bedroht“ als kleinere. Wenn sie nicht direkt durch den Meteoriteneinschlag zugrunde gehen, wird ihnen durch den Impaktwinter weitgehend die Nahrungsgrundlage entzogen. Für kleine Arten reicht das Wenige, das übrig bleibt, vielleicht noch aus. Zum anderen werden sämtliche Spezialisten ausgerottet, da die für ihr Überleben notwendigen speziellen Umweltbedingungen nicht mehr gegeben sind. Es geht aber noch darüber hinaus: Komplexe, vor der Katastrophe relativ stabile Ökosysteme – vergleichbar mit den heutigen Regenwäldern oder Korallenriffen – verschwinden praktisch vollständig mit sämtlichen darin vorkommenden Arten, die ja nicht nur von den speziellen abiotischen Bedingungen des Ökosystems, sondern in zahlreichen Verflechtungen (Nahrungsbeziehungen, Koevolution u.a.) auch voneinander abhängig sind. Die besten Überlebenschancen haben also „kleine Generalisten“. Natürlich werden auch diese deutlich dezimiert, entweder durch die direkten oder indirekten Folgen des Impakts. Die wenigen, die übrig blieben, sind im wahrsten Sinne des Wortes isoliert, bilden klassische Gründerpopulationen. Wenn sich nach einiger Zeit die Umweltbedingungen wieder verbessern, bieten sich diesen Populationen in einer „leergefegten Welt“ zahlreiche Entwicklungsmöglichkeiten. Genau wie die Arten, die auf Inseln verschlagen werden, passen sie 157

sich den jeweiligen Umweltbedingungen an, und so entstehen aus ursprünglich einer Art zahlreiche unterschiedliche Spezies. Im Lauf der Zeit entwickeln sich wieder Spezialisten und komplexe Ökosysteme, die funktional wieder ähnlich aufgebaut sind wie vor dem Impakt, aber ganz andere Arten aufweisen. Natürlich haben auch diese Arten Vorfahren, die vor der Katastrophe lebten, aber die sind nur schwer aufzuspüren, da man aus der Zeit unmittelbar nach der Katastrophe aufgrund der deutlichen Dezimierung der Organismen kaum Fossilien findet. Man könnte tatsächlich den Eindruck gewinnen, die Welt wäre nach der Katastrophe neu erschaffen worden. Die „neue“ Fauna hat sich nicht aus den „Alphatieren“ des vorherigen Zeitalters entwickelt, sondern aus vorher unbedeutenden, unauffälligen Arten, den „Ratten der Evolutionsgeschichte“. Dies bedeutet auch, dass die Katastrophe zunächst einen scheinbaren evolutionären Rückschritt auslöst. Dieser Rückschritt erlaubt jedoch auf einer breiten Basis vorhandener „Grundbaupläne“ eine Erprobung neuer Optionen, die vorher bei weitgehend besetzten ökologischen Nischen nicht möglich war. Aus der Krise resultieren also zahlreiche neue Chancen. Hier passt der französische Aphorismus reculer pour mieux sauter – zurücktreten, um besser springen zu können –, den der ungarisch-britische Schriftsteller Arthur Koestler (1905–1983) in seinem Buch Die Armut der Psychologie (1980) aufgegriffen hat. „Es ist, als habe der Strom des Lebens vorübergehend seinen Lauf umgekehrt und habe sich dann ein neues Bett gebahnt […] Wir stehen damit am entscheidenden Punkt unseres Ausflugs, denn mir scheint, daß dieser Prozeß des reculer pour mieux sauter – zurückweichen, um besser springen zu können – ein grundlegendes Moment jedes signifikanten Fortschritts ist, ob in der biologischen oder geistigen Evolution.“ In diesem Fall würde das Leben durch die Katastrophe zurückweichen, um neuen bzw. „fortschrittlicheren“ Formen Platz zu machen. Auch der US-amerikanische Wissenschaftspublizist Robert Wesson (1920– 1991) merkte in seinem ins Deutsche übersetzte Buch Die unberechenbare Ordnung (1991) an, dass sich die Katastrophen “unabhängig von ihren wirklichen Ursachen […] möglicherweise als entscheidend für die Evolution erwiesen [haben], indem sie den Weg für komplexere und leistungsstärkere Organismen ebneten. […] Das Aussterben der meisten Spezies […] eröffnete neue Startmöglichkeiten; mit dem Verschwinden großer Arten war die Chance für kleinere, 158

erfindungsreichere Spezies gekommen, die Experimente und Innovationen erlaubten – neue Muster, die sich in Konkurrenz mit den vormaligen Beherrschern der Erde nicht hätten durchsetzen können.“ Für den Mechanismus, wie diese neuen Chancen verwirklicht werden können, entwickelte Andrew H. KNOLL (2004) ein überzeugendes Modell. Er spricht von permissive ecology, von einer „toleranten Umwelt“ nach einer Katastrophe. Mit toleranter Umwelt meint er, dass die wenigen Überlebenden kaum mit Konkurrenz zu kämpfen haben und sich auch extravagante Entwicklungen leisten können, die unter normalen Umständen tödlich wären. Tödlich sind normalerweise z.B. Mutationen an den Genen, die nicht über einzelne Körpermerkmale entscheiden, sondern die gesamte Embryonalentwicklung steuern, den sogenannten Hox-Genen. Eine solche Mutation bewirkt bei Insekten z.B., dass anstelle von Mundwerkzeugen weitere Beine wachsen. Unter Konkurrenzbedingungen wäre eine Ernährung und damit ein Überleben nicht mehr möglich. Gibt es keine Konkurrenz, klappt es vielleicht doch irgendwie, und in den folgenden Generationen kann sich der Organismus an die neuen Bedingungen anpassen. Es ist nicht nur eine neue Art, sondern eine „Neuschöpfung“ entstanden. Erinnert das nicht an die Hopeful-MonsterHypothese von Richard Goldschmidt? Eines wird deutlich: Die Entstehung neuer Formen durch Mutationen im Bereich der Hox-Gene beruht nicht mehr auf dem darwinschen Prinzip der natürlichen Selektion, sondern erinnert eher an das Würfeln. Genau dies hat Stephen Jay Gould angenommen, dessen berühmt gewordenes Buch Wonderful Life (Gould 1989) in der deutschen Ausgabe den zunächst etwas irritierenden Titel Zufall Mensch erhielt (Abb. 39). Dabei geht es in diesem Buch so gut wie gar nicht um den Menschen, sondern in erster Linie um die sogenannte kambrische Explosion, die rasante Entwicklung aller unserer heute bekannten Tierstämme vor rund 500 Millionen Jahren. Gould ist der Auffassung, dass die kambrische Explosion und das spätere Verschwinden vieler Formen nicht nach bestimmten Naturgesetzen verlief, sondern von Zufällen bestimmt war. „Eine historische Deutung kann nicht unmittelbar von Naturgesetzen abgeleitet werden, sondern von einer nicht vorhersagbaren Folge vorangegangener Stadien, wobei jede Änderung in jedem Schritt der Entwicklung das Ergebnis verändern würde“. Letztendlich ist daher auch der Mensch „zufällig“ entstanden – daher der deutsche Titel. 159

Abb. 39: Umschlagvorderseite von Stephen Jay Goulds Buch Wonderful Life. Das Buch stammt aus dem Jahr 1989, das Massenaussterben am Ende der Kreidezeit war daher schon bekannt und wird von Gould auch erwähnt. Für Gould war das ein zusätzlicher Grund, das Leben für ein „wildes Lotteriespiel“ (Gould 1994) zu halten. Am Ende seines Beitrags in Scientific American merkt er an: „Darwins Revolution wird erst vollbracht sein, wenn es gelingt, für die Geschichte des Lebens neue, überzeugende Konzepte zu erstellen.“ Dies deutet darauf hin, dass auch Gould nicht von der alleinigen Herrschaft des Zufalls überzeugt war. Was wäre jedoch die Alternative? Dass die Evolution kein Ziel hat, also nicht teleonomisch ist, darin sind sich alle Naturwissenschaftler einig. Aber hat sie vielleicht eine Richtung? Gibt es Trends in der Evolution? Gibt es vielleicht sogar einen Megatrend? 160

Entstand der Mensch zufällig oder zwangsläufig? Dies ist eine Frage, der nicht mehr auf der Ebene von Mikro- und Makroevolution nachgegangen werden kann, es geht hier um die „Evolution der Evolution“, die man als Metaevolution bezeichnen könnte. Ernst Mayr (1904–2005), der 2005 im Alter von über 100 Jahren verstorbene „Darwin des 20. Jahrhunderts“, tat sich schwer damit, einen Fortschritt in der Evolution zu konstatieren. In seinem Alterswerk Das ist Evolution schreibt er dazu (Mayr 2003): „Zieht man […] die enorme Häufigkeit des Aussterbens und der rückschrittlichen Evolution in Betracht, kann man sich der Einsicht nicht verschließen, dass die Vorstellung von einem allgemeinen Evolutionsfortschritt abzulehnen ist. Betrachtet man jedoch einzelne Abstammungslinien zu bestimmten Zeitpunkten ihrer Evolution, gelangt man unter Umständen zu anderen Antworten“.

Ernst Mayr spricht zwar von vorübergehenden Evolutionstrends wie z.B. die Zunahme der Körpergröße, deutet sie aber als Folge der natürlichen Selektion. Er sieht nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür, dass es „innere Evolutionstrends“, also Megatrends der Evolution gibt. Ganz anders sieht das der englische Paläontologe Simon Conway Morris, der in seinem 2003 erschienenen Buch Life’s solution. Inevitable Humans in a Lonely Universe (deutsche Ausgabe 2008: Jenseits des Zufalls) schon auf dem Klappentext ankündigt: „Wir sind unvermeidlich! Die vielen Wege der Naturgeschichte haben nur ein Ziel: Die menschliche Intelligenz.“

Morris geht also noch weiter, als der Evolution eine Richtung zuzuschreiben: er spricht sogar von einem Ziel. Seine Annahme, dass die menschliche Intelligenz zwangsläufig entstanden ist, begründet Morris mit einem in der Biologie seit langem bekannten Prinzip: der Konvergenz. Das bekannteste Beispiel 161

für Konvergenz sind die ähnlich aufgebauten Augen von Säugetieren und Tintenfischen, die aber entwicklungsgeschichtlich völlig unabhängig voneinander entstanden sind. Morris füllt sein ganzes Buch mit unterschiedlichen Beispielen von Konvergenz, z.B. auch in Bezug auf die mehrfach unabhängige Entstehung der Intelligenz (z.B. bei Delfinen) und leitet daraus ab, dass für die gleichen Probleme immer wieder die gleichen Lösungen gefunden werden. Wenn Intelligenz also Vorteile bringt, dann wird sie auch früher oder später entwickelt. Morris fasst das folgendermaßen zusammen: „Das Hauptziel dieses Buches war es zu zeigen, dass die Bedingtheiten der Evolution und die Allgegenwärtigkeit von Konvergenz die Emergenz menschenartiger Geschöpfe nahezu unausweichlich machen. Entgegen der landläufigen Meinung und der allgemeinen Verzagtheit meine ich, dass Zufallsereignisse auf lange Sicht keine große Auswirkung auf das entwicklungsgeschichtliche Endprodukt haben.“

Und was sagt Morris zur Rolle der Katastrophen bzw. der Massenaussterben? Er bezieht sich darauf nur kurz (deutsche Ausgabe S. 159) und erwähnt den Einschlag des Asteroiden am Ende der Kreidezeit. Morris glaubt nicht, dass es ohne den Meteoriten nie zur Radiation (Auffächerung) der Säugetiere gekommen wäre, sondern dass diese sich lediglich „ungefähr 30 Millionen Jahre verzögert hätte“. Vor einigen Jahren wurde allerdings mit hoher zeitlicher Genauigkeit nachgewiesen, dass sich die höheren Säugetiere (Plazentatiere) erst nach dem Asteroideneinschlag entwickelt haben (O’Leary et al. 2013). Fast noch interessanter erschien mir die Rekonstruktion ihres Vorfahren: Er sah aus wie eine Ratte, war ungefähr so groß wie eine Ratte – war aber natürlich keine Ratte (Abb. 40). Aber es handelte sich entweder um einen Überlebenden der Katastrophe oder seinen unmittelbaren Nachfahren. Er wirkt nicht gerade wie ein Monster, war aber der hoffnungsvolle Vorfahr der überwiegenden Zahl der heute lebenden Säugetiere und auch des Menschen. Wurden wir also doch aus der Katastrophe geboren? Diese Frage erinnerte mich an eine Diskussion, die wir während meines Biologiestudiums in den 1980er Jahren geführt hatten. Die Fitness, also die Anpassung eines Organismus an seine Umwelt, hatte man wie oben bereits erwähnt 162

auf die relative Anzahl der Nachkommen reduziert. Auf diese Weise konnte man den Evolutionserfolg eines Organismus zwar berechnen, aber manche gaben sich damit nicht zufrieden.

Abb. 40: Diese auf der Auswertung von mehr als 4.500 Merkmalen basierende Zeichnung zeigt den Vorfahren aller heutigen Höheren Säugetiere (aus O’Leary et al. 2013). „Survival of the fittest“ heißt Überleben des am besten Angepassten. Wenn aber die Zahl der Nachkommen das einzige Kriterium für die Anpassung ist, könnte man die Formel auch auf „Survival of the Survivor“ reduzieren – es überlebt eben der, der überlebt. Da das manchem zu banal erschien, dachte man über Faktoren nach, die Einfluss auf das langfristige Überleben einer Art hatte, und kam dabei auf die Flexibilität. „Fitness & Flexibility“ waren nötig, damit eine Art nicht nur unter gleichbleibenden Umweltbedingungen überlebt, sondern auch dann, wenn diese sich ändern. Das bedeutet, dass flexible Generalisten eine größere Chance haben, Umweltveränderungen zu überleben, als unflexible Spezialisten. 163

Diese Diskussion geriet wieder in Vergessenheit und findet in der Literatur kaum einen Niederschlag. In Anbetracht der Massenaussterben könnte sie aber wieder von Interesse sein. Flexibilität ist natürlich nur dann von Vorteil, wenn sie auch einen „Anpassungswert“ besitzt, wenn sie die Fitness erhöht. In einem komplexen, über lange Zeit stabilen Ökosystem wie dem Regenwald gibt es kaum flexible Generalisten, sondern fast nur Spezialisten. In einem solchen Ökosystem hat sich im Lauf der Zeit ein hochkomplexes Beziehungsnetzwerk zwischen den verschiedenen Arten entwickelt. Das trägt zur Stabilität des Systems bei, solange die Umweltbedingungen gleich bleiben. Auch geringe Schwankungen werden abgepuffert, da das Ökosystem sich seine Umwelt quasi selbst schafft – die Beziehungen zwischen den Arten eines Ökosystems gehören ja auch zur Umwelt. Bei einer globalen Katastrophe wie dem Asteroideneinschlag am Ende der Kreidezeit bleibt aber kein Stein auf dem anderen, das gesamte komplexe Ökosystem wird mit fast allen Arten ausgelöscht. In welchen Lebensräumen ist aber nun Flexibilität von Vorteil? Große Katastrophen geschehen natürlich zu selten, als dass sich eine Art daran anpassen könnte. Anders aber sieht es mit kleinen Katastrophen aus. Mit Lebensräumen, in denen immer wieder mit unvorhersehbaren Ereignissen zu rechnen ist. Auch in stabilen Lebensräumen wie Wäldern gibt es gewisse Schwankungen wie zum Beispiel Tages- oder Jahreszeiten. Diese Schwankungen sind aber mehr oder weniger regelmäßig, eine Art kann sich gut daran anpassen. Wie aber sieht es aus, wenn die Schwankungen unregelmäßig stattfinden? Man spricht im ersten Fall von periodischen, im zweiten Fall von episodischen Schwankungen. Ein Beispiel für letzteres ist eine Flussaue, in der es zwar jährlich Hochwasser gibt, jedoch zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlicher Höhe. Die Arten, die dort leben, können in unterschiedlicher Weise darauf reagieren. Entweder müssen sie mobil sein, damit sie den Überschwemmungen ausweichen können, oder sie bauen sie in ihren Lebenszyklus ein. So hinterlässt zum Beispiel die Kreuzkröte ihre perlenkettenartigen Laichschnüre in Tümpeln, die nach einer Überschwemmung in den Flutmulden zurückbleiben. Da diese Tümpel aber nicht lange bestehen bleiben, muss die Entwicklung der Kaulquappen sehr rasch verlaufen. Außerdem wird eine große Laichmenge produziert, da trotz der raschen Entwicklung nur ein geringer Prozentsatz der Nachkommen überlebt. Die Kreuzkröte hat also eine 164

Strategie entwickelt, um bei diesen instabilen Umweltbedingungen zu überleben und sich zu vermehren.

Abb. 41: Kreuzkröte. Hinzu kommt, dass Arten, die mit schwankenden Umweltbedingungen zurechtkommen, in unterschiedlichen Ökosystemen leben können – bis hin zu sogenannten Ubiquisten, die man fast überall antreffen kann. Hierzu gehört z.B. die Wanderratte, unter den Vögeln der Haussperling oder die Amsel. In der Regel sind diese Ubiquisten auch nicht wählerisch bezüglich ihrer Nahrung, sie sind Allesfresser. Noch ein weiteres kommt hinzu: Diese Arten haben in der Regel viele Nachkommen, sind sogenannte r-Strategen (r=Reproduktion). Allein aufgrund ihrer Vielzahl und weiten Verbreitung haben solche Ubiquisten natürlich eine wesentlich größere Chance, eine globale Katastrophe zu überleben, als seltene oder nur in bestimmten Lebensräumen vorkommende Arten. 165

Eine Ausnahme soll hier noch erwähnt werden: Es gibt „lebende Fossilien“, die alles andere als flexibel sind, sondern sich vor den Katastrophen z.B. in Höhlen oder in der Tiefsee „versteckt“ haben. Ein Beispiel hierfür ist der Quastenflosser Latimeria (Abb. 42). Die Quastenflosser kamen bereits vor 400 Millionen Jahren in den Meeren vor und schienen wie viele andere Organismen am Ende der Kreidezeit verschwunden zu sein – bis 1938 vor der südafrikanischen Küste ein „stahlblauer, 1,50 Meter langen und 52 Kilogramm schwerer Fisch“ (Wikipedia: Quastenflosser) gefangen und später als Nachfahre der fossilen Quastenflosser identifiziert wurde. Eine derartige Wiederauffindung von Tierarten, die als ausgestorben galten, bezeichnet man auch als „Lazarus-Effekt“.

Abb. 42: Quastenflosser Latimeria.

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Wurden wir durch Schaden klug? Aufgrund der bisherigen Erkenntnisse können wir nahezu ausschließen, dass es auf dem „Gouldschen Zufall“ beruht, welche Arten eine globale Katastrophe überleben bzw. nicht überleben. Zum einen sterben die großen Arten aus, da ihnen die Nahrungsgrundlage entzogen wird. Zum anderen werden sämtliche Spezialisten ausgerottet, da die für ihr Überleben notwendigen speziellen Umweltbedingungen nicht mehr gegeben sind. Komplexe, weitgehend aus Spezialisten aufgebaute Ökosysteme werden durch eine globale Katastrophe vollständig vernichtet. Die entscheidende Frage ist nicht nur, welche Arten unmittelbar nach der Katastrophe noch existieren, sondern vor allem, welche den nachfolgenden, vielleicht jahrelangen Impaktwinter überleben. Das Pflanzenwachstum kommt fast völlig zum Erliegen; „opportunistische“ und wenig lichtbedürftige Arten wie Farne und Moose nehmen sogar zu (Kull 2011, Abb. 43), können aber den Verlust nicht kompensieren. Alle größeren und anspruchsvolleren Arten, die vielleicht die Katastrophe noch überlebt haben, sterben durch die Bedingungen nach der Katastrophe aus. Nur die kleinen Generalisten, die möglichst noch Allesfresser und nachtaktiv sind, haben eine langfristige Überlebenschance. Sie sind auch die Basis für die „Neuschöpfungen“ nach der Katastrophe – dann, wenn sich die Verhältnisse wieder normalisieren. Kull (2011) schreibt dazu: „Zum völligen ökologischen Ersatz bzw. Ausgleich nach einer Massenextinktion sind mehrere Millionen Jahre neuer Evolution erforderlich… Da viele Nischen verfügbar sind, kommt es nach einer Massenextinktion zu adaptiven Radiationen entsprechend der Darwin’schen Theorie. Die Massenaussterben selbst sind nicht darwinische Vorgänge. Daraus ist zu ersehen, dass für den Evolutionsvorgang im Großen auch Vorgänge eine Rolle spielen, die nicht durch Selektion bestimmt sind. Die Evolution wäre ohne die Massenextinktionen anders abgelaufen – vielleicht gäbe es den Menschen nicht oder noch nicht.“ Kull nimmt also an, dass die Massenextinktionen die Entstehung des Menschen erst ermöglicht oder zumindest beschleunigt haben. Das steht völlig im Gegensatz zur Aussage Goulds: „Wenn wir das Spiel des Lebens noch einmal spielen könnten, wäre es völlig unvorhersehbar, welche Lebensformen am komplexesten wären; es 167

wäre unwahrscheinlich, dass ein Geschöpf mit einem Bewusstsein (so wie wir) entstände.“

Abb. 43: Evolution an der Kreide-Paläogen Grenze; A kennzeichnet das Aussterben von Arten, B das Überleben „opportunistischer“ Arten, die sich nach der Katastrophe zunächst vermehren (z.B. Farne), C illustriert die Neubildung von Arten (aus Kull 2011) Obwohl ich während meines Studiums und danach durchaus ein Anhänger der Hypothese Goulds war, sehe ich das inzwischen völlig anders. Wie Simon Conway Morris gehe ich davon aus, dass die menschliche Intelligenz zwangläufig entstanden ist, mir reicht aber die Konvergenz als einzige Erklärung nicht aus. Wie Kull bin ich der Überzeugung, dass die Massenextinktionen dabei eine wesentliche Rolle gespielt haben, und begründe das wie folgt: 

Durch die Massenextinktionen wurde der Weg freigeräumt für Tiergruppen, die vorher nur eine Nebenrolle gespielt haben; die Säugetiere standen am Ende der Kreidezeit im wahrsten Sinne des Wortes im Schatten der Dinosaurier und waren überwiegend nachtaktiv, um ihnen auszuweichen – die ideale Voraussetzung für das Überstehen längerer Dunkelheit und Kälte nach einer Katastrophe.

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Auch der Entstehung unserer heutigen Tierstämme bei der „kambrischen Explosion“ ging eine weltweite Katastrophe („Schneeball Erde“) und ein Massenaussterben der sog. Ediacara-Fauna voraus; Die „tolerante Umwelt“ (permissive ecology) Knolls bietet in Zusammenhang mit den „tolerierten“ Mutationen an den Regulationsgenen eine gute Erklärung für die konkurrenzfreien Bedingungen nach einer Katastrophe und die dadurch ermöglichten „Neuschöpfungen“; Unter den überlebenden Organismen befinden sich neben „alten Formen“ wie Bakterien, Algen, Farnen, Moosen etc. mit zunehmender Evolutionsdauer „höher entwickelte“ (komplexere) Organismen, die als Basis einer Weiterentwicklung dienen; Katastrophen bzw. Massenextinktionen überleben von den höher entwickelten Organismen am ehesten kleine, flexible Generalisten, die als Basis für eine adaptive Radiation dienen. Durch Katastrophen findet also eine „Metaselektion“ in Richtung Flexibilität statt.

Wie kommt man aber mit diesen Vorgaben zu einer zwangsläufigen Entwicklung des Menschen? Man könnte auch fragen: Was ist heute der Gipfel an Flexibilität? Welche Art hat sich auf der ganzen Erde ausgebreitet, ist Allesfresser, sowohl bei Tag als auch bei Nacht aktiv? Welche Art kann auf Umweltänderungen nicht nur mit angeborenen Programmen, sondern durch Lernen und Informationsaustausch reagieren? Natürlich der Mensch. Ist er als einzelner bereits ein Ausbund an Flexibilität, überbietet er als Gruppe bei weitem alle anderen Organismen. Der österreichische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker Erhard Oeser hat das in seinem Buch „Katastrophen – Triebkraft der Evolution“ (2011) so zusammengefasst: Die Entwicklung der Erde und die Evolution der Lebewesen auf ihr müssen daher als eine Abfolge von Katastrophen angesehen werden, die aber auch immer wieder zu Neuem führt. […] Die Evolution scheint demnach von einem Prinzip der kreativen Zerstörung beherrscht zu sein. […]

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Katastrophentheorie und Evolutionstheorie sind daher keine sich ausschließenden Alternativen. […] Wir müssen mit den Katastrophen leben. Denn sie sind nicht nur die Triebkraft der Evolution des lebendigen und der Entstehung und Entwicklung der Menschheit, sondern auch die Ursache der Entstehung des Lebens überhaupt auf unserer Erde.

Natürlich ist der Mensch nicht das Ziel der Evolution, vielleicht aber das Ergebnis einer Kette von Katastrophen, die jedes Mal die flexiblen Generalisten heraus siebten, und das auf einer zunehmend komplexeren Ebene. Auch bei der Entwicklung des Menschen spielten offenbar mehrere gravierende Klimaänderungen eine Rolle, die ebenfalls als Katastrophen gedeutet werden können. Auch Robert Wesson (1991) hält die Evolution für „zielgerichtet“: Die Evolution kann insofern als ein zielgerichteter Prozessbetrachtet werden, als sie Teil eines zielgerichteten Universums ist – als eine Entfaltung von Möglichkeiten, die irgendwie zu diesem Kosmos gehören. Es hat in der Geschichte des Lebens auf Erden ebenso eine Richtung gegeben, wie es sie in der Geschichte des Universums gegeben hat – vom Feuerball zum Sonnensystem. (S. 351)

Wesson geht auch auf das so genannte „anthropische Prinzip“ ein: Es gibt eine einfache Idee, die zu einem besseren Verständnis des Lebens und des Universums verhilft – das moderne Äquivalent zu Descartes‘ ‚Cogito, ergo sum‘ (Ich denke, also bin ich). Neu formuliert lautet sie: ‚Es gibt denkende Wesen; deshalb muss der Kosmos so beschaffen sein, daß er die Existenz von denkenden Wesen hervorbringen kann.‘ […] Diese simple, dabei so erhellende und tiefe Wahrheit nennt man das schwache anthropische Prinzip. Das umstrittene ‚starke anthropische Prinzip‘ geht noch weiter; es belegt, daß das Bewußtsein ein inhärenter Bestandteil des Universums ist.

Am Ende seines Buchs schreibt er: 170

Die menschliche Zivilisation ist kein Endpunkt, sondern ein Sprungbrett ins Unbekannte. Es ist das höchste Gut der Menschen, dass sie über ihr Schicksal entscheiden und, wenn sie nur weise genug sind, ihre eigene Evolution gestalten können.

Wenn wir aber zum Schluss gekommen sind, dass die Entwicklung des Lebens unter dem Einfluss planetarer Katastrophen „automatisch“ zu Intelligenz führt, folgt als logische Konsequenz: Wenn es irgendwo im Universum einen Planeten gibt, der die Entwicklung von Leben ermöglicht, der planetaren Katastrophen ausgesetzt ist und ein genügend hohes Alter aufweist, gibt es außerirdische Intelligenz.

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5. Steckt in jeder Krise eine Chance? Die kulturelle Evolution – eine Geschichte des Fortschritts oder der Katastrophen? Die Entwicklung des Menschen vom Jäger und Sammler über Ackerbau und Viehzucht bis hin zu Hochkulturen wird häufig als (sozio-)kulturelle Evolution bezeichnet. Damit wird unterstellt, dass diese Entwicklung zwar nicht auf einer genetischen Grundlage erfolgt, aber doch ähnlichen Prinzipien unterliegt wie die biologische Evolution. Dass man mit dieser Analogie vorsichtig umgehen muss, betont unter anderem Robert Wesson (1991), der die Unterschiede zwischen der biologischen und kulturellen Evolution für so groß hält, dass man getrennte Begriffe dafür verwenden sollte. Auf der anderen Seite vertritt Wesson die Ansicht, dass die Prinzipien der kulturellen Evolution sich nicht völlig von jenen der genetischen Evolution unterscheiden und weist auf die Evolution von Ideen hin, die eine Art Eigenleben führen und in einen „Kampf um Überleben und Vermehrung“ verwickelt sind. Für diese in Evolution befindlichen Ideen prägte Richard Dawkins (1976) den Begriff „Mem“, ein Kunstwort, das dem Wort Gen nachempfunden ist. Als Beispiele für Meme führt Dawkins „Melodien, Gedanken, Schlagworte, Kleidermoden, die Art, Töpfe zu machen oder Bögen zu bauen“ auf. „So wie Gene sich im Genpool vermehren, indem sie sich mit Hilfe von Spermien und Eizellen von Körper zu Körper fortbewegen, verbreiten sich Meme im Mempool, inden sie von Gehirn zu Gehirn überspringen, vermittelt durch einen Prozeß, den man im weitesten Sinne als Imitation bezeichnen kann.“ Während frühere Theorien der sozialen und kulturellen Evolution ein Modell für die Menschheit als Ganzes bieten wollten und argumentierten, dass 172

verschiedene Gesellschaften sich auf unterschiedlichen Stufen der sozialen Entwicklung befinden, konzentrieren sich jüngere Theorien auf die Veränderungen einzelner Gesellschaften und lehnen die Vorstellung einer zielgerichteten Änderung oder eines sozialen Fortschritts ab (Wikipedia: Soziokulturelle Evolution). An die Stelle eines „Unilinearen Evolutionismus“ ist ein „Multilinearer Neoevolutionismus“ getreten, der eine zielgerichtete Entwicklung zu höher entwickelten, komplexeren, jedoch nicht vorherbestimmten Stadien voraussetzt. Stand der Wissenschaft sind jedoch „kulturrelativistische Evolutionsmodelle“, die von einer ungerichteten Entwicklung zu nicht vorherbestimmten Stadien bei zunehmender Komplexität des Gesamtsystems ausgehen. Die Theorien sind sich weitgehend darin einig, dass die Komplexität im Lauf der Zeit größer wird, was ja analog auch für die biologische Evolution gilt. Ohne Zweifel gab es in der Menschheitsgeschichte zahlreiche Naturkatastrophen, aber auch vom Menschen verursachte Katastrophen wie Kriege und Umweltschäden. In seinem Bestseller „Kollaps“ macht Jared Diamond (2005) fünf wesentliche Gründe aus, die zum Zusammenbruch der von ihm untersuchten historischen Gesellschaften geführt haben: 1. 2. 3. 4. 5.

Umweltschäden Klimaschwankungen Feindliche Nachbarn Wegfall von Handelspartnern eine falsche Reaktion der Gesellschaft auf Veränderung

Umweltschäden umfassen z. B. das Abholzen von Wäldern und die daraus folgende Bodenerosion, aber auch die Bodenversalzung durch falsche Bewässerung und zurückgehende Bodenfruchtbarkeit durch zu intensive Bewirtschaftung. Diamond zeigt am Beispiel der Osterinsel, dass die Schäden bis zur totalen Entwaldung gehen können. Auf Klimaschwankungen konnten sich die historischen Gesellschaften nur schwer einstellen. Ein über eine lange Zeit anhaltendes günstiges Klima führt zu einem Bevölkerungswachstum, in einer weniger günstigen Phase kann die Bevölkerung dann nicht mehr ernährt werden, was zu sozialen Spannungen und zur „Selbstzerstörung“ der Gesellschaft führen kann. Zusätzlich kann eine Klimaveränderung die bereits aus den Umweltschäden resultierenden Probleme massiv verstärken. 173

Gesellschaften waren auch in historischer Zeit selten isoliert. Neben feindlichen Nachbarn, deren Beitrag zum Untergang einer Gesellschaft offensichtlich ist, spielen auch Handelspartner eine wichtige Rolle. Diamond zeigt am Beispiel der Henderson-Insel im Südost-Pazifik, wie der Verlust eines strategisch wichtigen Handelspartners eine Gesellschaft vollkommen verschwinden lassen kann. Dass der Untergang nicht unabänderlich durch ökologische oder klimatische Gesichtspunkte bedingt ist, zeigt Diamond durch den Vergleich von Gesellschaften im gleichen Lebensraum. Hierzu zieht er insbesondere die Wikinger und die Inuit auf Grönland heran. Während die Wikinger-Siedlungen in Grönland letztendlich untergingen, konnten die Inuit zur selben Zeit trotz der lebensfeindlichen Umgebung überleben. Diamond zeigt, dass hier insbesondere das Festhalten an mittelalterlich-europäischen Verhaltensweisen – die vorher jahrhundertelang sehr gut funktioniert hatten – den Wikingern eine Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen erschwert hatten. Entscheidend ist hier also die gewählte Reaktion auf Veränderungen.

Hat das Getreide den Menschen domestiziert? Auch der israelische Historiker Yuval Noah Harari betrachtet in seinem viel beachteten Buch Eine kurze Geschichte Der Menschheit (2013) die Entwicklung von Homo sapiens als Aneinanderreihung von Katastrophen und Revolutionen. Viele Katastrophen der Menschheitsgeschichte lassen sich nach Ansicht Hararis durch eine überhastete Entwicklung erklären. Während sich Löwen oder Haie über Jahrmillionen an ihren Platz in der Nahrungskette hochgebissen hätten, schreibt der Autor, fand sich der Mensch aufgrund seines rasch an Leistungsfähigkeit gewinnenden Gehirns quasi von einem auf den anderen Tag an deren Spitze wieder. Bei der „landwirtschaftlichen Revolution“ vertritt Harari die These, dass nicht der Mensch das Getreide (Abb. 44), sondern das Getreide den Menschen domestiziert habe. Der Weizen habe es geschafft, sich über die ganze Welt zu verbreiten, „indem er den armen Homo sapiens aufs Kreuz legte. Diese Affenart hatte bis vor 10.000 Jahren ein angenehmes Leben als Jäger und Sammler geführt, doch dann investierte sie immer 174

mehr Energie in die Vermehrung des Weizens. Irgendwann ging das so weit, dass die Sapiens in aller Welt kaum noch etwas anderes taten, als sich von früh bis spät um diese Pflanze zu kümmern“. Dabei habe der Weizen dem Menschen weder eine bessere Ernährung noch eine größere wirtschaftliche Sicherheit oder Schutz vor menschlicher Gewalt gebracht, sondern lediglich die Möglichkeit, sich exponentiell zu vermehren. „Was man auch immer von der landwirtschaftlichen Revolution halten mag – nachdem sie einmal begonnen hatte, ließ sie sich nicht wieder rückgängig machen“. Die wissenschaftliche Revolution war für Harari „keine Revolution des Wissens, sondern vor allem eine Revolution der Unwissenheit. Die große Entdeckung, mit der die wissenschaftliche Revolution losgetreten wurde, war die Erkenntnis, dass wir Menschen nicht im Besitz der Wahrheit sind, und dass wir auf die wichtigsten Fragen keine Antwort wissen.“ Da die Wissenschaft aber erstmals in der Menschheitsgeschichte so etwas wie Fortschritt brachte, kam eine „fast religiöse Technologie- und Wissenschaftsgläubigkeit“ auf.

Abb. 44: Inkohltes Getreide aus einer neolithischen Siedlung.

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Den Optionen unserer näheren Zukunft widmete Harari sein nächstes Buch Homo Deus: Eine Geschichte von morgen (2017). Darin geht es vor allem um die digitale Revolution, die laut Harari „die moderne Religion des Humanismus“ in Frage stellt, er sieht sie durch Biotechnologie und künstliche Intelligenz bedroht. Homo sapiens verliert die Kontrolle, so die Überschrift des dritten und letzten Teils seines Buchs. Das offene Ende: Wenn wir aber das Leben im Großen und Ganzen in den Blick nehmen, werden alle anderen Probleme und Entwicklungen von drei miteinander verknüpften Prozessen überschattet: 1. Die Wissenschaft konvertiert zu einem allumfassenden Dogma, das behauptet, Organismen seien Algorithmen und Leben sei Datenverarbeitung. 2. Intelligenz koppelt sich vom Bewusstsein ab. 3. Nicht-bewusste, aber hochintelligente Algorithmen könnten uns schon bald besser kennen als wir selbst. Diese drei Prozesse werfen drei Schlüsselfragen auf, die Sie, so hoffe ich, noch lange nach der Lektüre dieses Buches beschäftigen werden: 1. Sind Organismen wirklich nur Algorithmen, und ist Leben wirklich nur Datenverarbeitung? 2. Was ist wertvoller – Intelligenz oder Bewusstsein? 3. Was wird aus unserer Gesellschaft, unserer Politik und unserem Alltagsleben, wenn nichtbewusste, aber hochintelligente Algorithmen uns besser kennen als wir selbst?

Interessant vielleicht noch der Hinweis, dass ausgerechnet die Industrialisierung der Landwirtschaft, die wohl den höchsten Anteil am derzeitigen Artensterben hat, als „Grüne Revolution“ bezeichnet wird. Der Begriff wurde allerdings Ende der 1960er Jahre geprägt und bezog sich auf die damals mit neuen Methoden erzielten Rekorderträge, die die Ernährungssituation vieler Menschen erheblich verbesserten. 176

Der Begriff „Revolution“, den Georges Cuvier noch mehr oder weniger synonym mit dem Begriff Katastrophe verwendete, hat sich unmerklich gewandelt und wird heute überwiegend für als positiv – als Fortschritt – wahrgenommene „Umwälzungen“ verwendet. Wenden wir uns nochmal dem Begriff „Katastrophe“ zu und seiner Bedeutung aus der Sicht der menschlichen Gesellschaft, die in der Fachdisziplin der Katastrophensoziologie behandelt wird (Wink 2016). In seiner Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän lässt Max Frisch seinen Protagonisten, Herrn Geiser, sagen: „Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt“. Diese literarische Formulierung bringt die Sichtweise der Katastrophensoziologie auf den Punkt: Nicht „die Natur“ oder ein auslösendes Ereignis – der Tsunami, das Erdbeben oder der Vulkanausbruch – machen Katastrophen, vielmehr ist Katastrophe einerseits Produkt sozialen Handelns und andererseits eine extreme Form menschlicher Erfahrung bzw. deren Rationalisierung: das Unbegreifliche erhält den Namen Katastrophe und wird damit als Grenzerfahrung wieder begreiflich. Katastrophe ist in diesem Sinne ein Kulturprodukt: Nur in der Relation zum nichtkatastrophalen Alltag lässt sich Katastrophe spezifizieren, in Relation zu gesellschaftlichen, das heißt sozial ausgehandelten Normalvorstellungen. Der Alltag ist die logische Bedingung der Katastrophe: In der Katastrophe kollabieren unsere Normalitätsvorstellungen, unsere Erwartungen, dass es so weiter gehen wird, wie es war. Es stellt sich nun die Frage, ob Katastrophen auch positive Auswirkungen haben können, ob in einigen oder sogar in allen Krisen eine Chance steckt.

Fortschritt durch Naturkatastrophen? Im Zusammenhang mit positiven Auswirkungen von Krisen und Katastrophen wird immer wieder ein Satz aus der Patmos-Hymne von Friedrich Hölderlin zitiert: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“. Das Gedicht ist nach der griechischen Insel Patmos benannt, die als Schöpfungsort der prophetischen Offenbarung des Johannes gilt. Sie ist für die verfolgten Christen ein Zufluchtsort und kennzeichnet zugleich die apokalyptische Krisensituation. 177

Kann dieser Satz oder seine moderne Version, dass in jeder Krise eine Chance stecke, auch für Naturkatastrophen bestätigt werden? Oft kommt es dabei auf die Warte an, die man einnimmt. Für diejenigen, die in einer Katastrophe umkommen, wie z.B. die Dinosaurier am Ende der Kreidezeit, ist die Krise mit Sicherheit keine Chance. Dagegen kam sie den Säugetieren zugute, die nach der Katastrophe eine beispiellose adaptive Radiation erlebten. Die „Krise“ der Dinosaurier war also eine Chance für die Säugetiere.

Abb. 45: Illustration des Schwarzen Todes (Beulenpest) in der ToggenburgBibel (1411). Ähnlich verhält es sich mit Pandemien wie dem „Schwarzen Tod“, der Pest (Abb. 45). Wie bereits erwähnt, führten mehrere Pestwellen im 14. Jahrhundert zu einem starken Bevölkerungsrückgang. Langfristig bewirkte und beschleunigte die Seuche einen tiefgreifenden Wandel in der mittelalterlichen Gesellschaft Europas. Wie der US-amerikanische Historiker David Herlihy (1998) zeigt, konnten die Generationen nach 1348 nicht einfach die sozialen 178

und kulturellen Muster des 13. Jahrhunderts beibehalten. Der massive Bevölkerungseinbruch bewirkte eine Umstrukturierung der Gesellschaft, die sich langfristig positiv bemerkbar gemacht habe. Die Entvölkerung ermöglichte einem größeren Prozentsatz der Bevölkerung den Zugang zu Bauernhöfen und lohnenden Arbeitsplätzen. In manchen Regionen wurden Dörfer verlassen oder nicht mehr wiederbesiedelt (sogenannte Wüstungen), Wälder breiteten sich wieder aus. Die Zünfte ließen nun auch Mitglieder zu, denen man zuvor die Aufnahme verweigert hatte. Während der Markt für landwirtschaftliche Pachten zusammenbrach, stiegen die Löhne in den Städten deutlich an. Damit konnte sich eine größere Anzahl von Menschen einen höheren Lebensstandard leisten als jemals zuvor. Allerdings kam es teilweise auch zur Nahrungsmittelknappheit, weil viele Felder nicht mehr bewirtschaftet wurden, so z. B. in England, wo die Löhne für Landarbeiter stark anstiegen. Freie Bauern wurden in der Folge durch Pächter ersetzt, die weniger arbeitsintensive Schafzucht verdrängte den Ackerbau. Der deutliche Anstieg der Arbeitskosten sorgte dafür, dass manuelle Arbeit zunehmend mechanisiert wurde. Damit wurde das Spätmittelalter zu einer Zeit eindrucksvoller technischer Errungenschaften wie z.B. den Buchdruck. Solange die Löhne von Schreibern niedrig waren, war das handschriftliche Kopieren von Büchern eine zufriedenstellende Reproduktionsmethode. Mit dem Anstieg der Löhne setzten umfangreiche technische Experimente ein, die letztlich zur Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern durch Johannes Gutenberg (ca. 1400–1468) führten. Herlihy kommt zum Schluss, dass Europa sich als „starker Patient“ erwies und „aus dem langen Kampf mit der Pestilenz gesünder, tatkräftiger und schöpferischer als früher“ hervorging. Auch der österreichische Kulturhistoriker Egon Friedell (1878–1938) vertrat in seinem Werk Kulturgeschichte der Neuzeit die Auffassung, dass die Seuche der Jahre 1348/49 die Krise des mittelalterlichen Welt- und Menschenbildes verursacht und bis dahin bestehende Glaubensgewissheiten erschüttert habe. Er sah eine direkte, kausale Verbindung zwischen der Katastrophe des „Schwarzen Todes“ und der Renaissance. Im dritten Teil dieses Buchs ging es unter anderem um die verheerenden, teilweise globalen Auswirkungen von Vulkanausbrüchen. Hatten diese auch positive Auswirkungen? 179

Das wollen wir am Beispiel des Tambora betrachten, dessen Folgen erst in den letzten Jahren gründlich untersucht und diskutiert wurden. Der Ausbruch im April 1815 löste 1816 das „Jahr ohne Sommer“ in Teilen Europas und Nordamerikas aus. Unter dem Eindruck des extrem kalten Wetters und der Stürme am Genfer See entstand der berühmte Roman Frankenstein von Mary Shelley. Während „die feine, englische Gesellschaft, allen Widrigkeiten des Wetters zum Trotz, sich am Genfer See ohne Not mit den Naturgewalten und der Landschaft beschäftigen konnte, ging es für die meisten Menschen in Süd- und Westdeutschland sowie den angrenzenden Schweizer Gebieten um das tägliche Brot, bei nicht wenigen um das nackte Überleben.“ (Haus der Geschichte Baden-Württemberg 2017). Im Königreich Württemberg, das von der Klimakatastrophe besonders schwer getroffen wurde, ordnete der junge, erst Ende 1816 durch den Tod seines Vaters Friedrich eingesetzte König Wilhelm I. Wohltätigkeitsvereine für das gesamte Königreich an, da die Armut mit den vorhandenen Institutionen nicht ausreichend bekämpft werden konnte. Es ging ihm und seiner tatkräftigen Gattin Katharina dabei nicht um eine temporäre Hilfe, sondern um eine dauerhafte Lösung. Nach kurzfristigen Maßnahmen wie dem Exportverbot für Grundnahrungsmittel strebte König Wilhelm eine Verbesserung der Landwirtschaft an. Hierfür gründete er 1818 eine landwirtschaftliche Hauptschule in Hohenheim, aus der die heutige Universität hervorging. Außerdem stiftete er das Landwirtschaftliche Hauptfest in Cannstatt, auf dem die neuesten Errungenschaften der Landwirtschaft präsentiert werden sollten. Obwohl das Landwirtschaftliche Hauptfest bis heute alle zwei Jahre stattfindet, kennen die meisten heute nur noch das daraus entstandene Cannstatter Volksfest, den „Cannstatter Wasen“. Auch die Gründung der Sparkassen in Württemberg ist eine Konsequenz aus der Krise der Jahre 1816/17. Wegen der Ernteausfälle kam es zu einem starken Anstieg der Haferpreise und in der Folge zu einem starken Rückgang des Pferdebestandes in Europa. Die starke Beeinträchtigung des vorindustriellen Transportsystems brachte den Karlsruher Forstbeamten Karl von Drais (1785–1851) auf die Idee, an alternativen Fortbewegungsmitteln zu basteln (D’Arcy Wood 2015). Er erfand das „Ur-Fahrrad“, das nach ihm Draisine genannt wurde (Abb. 46).

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Abb. 46: Illustration der Patentschrift für die Draisine (Laufmaschine) von 1817. Spiegel online 10.11.16: 200 Jahre Fahrrad Die erfolgreichste Notlösung aller Zeiten […] Der Ausbruch des Tambora brachte Eiseskälte, weitere Missernten und die weltweit wohl schlimmsten Hungersnöte des Jahrhunderts. Als die Katastrophe vorbei war, hatten so viele Menschen ihre Pferde gegessen, dass die Zeit reif schien für Muskelkraftfahrzeuge. Klingt verrückt, überzogen? Es gibt Kronzeugen, die diese Geschichte bestätigten - zumindest so weit, wie sie ihnen bekannt war. Einer von

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ihnen wurde am 29. April 1785 in Karlsruhe geboren: Karl Freiherr von Drais war Forstbeamter, berühmter aber als Erfinder. Schon als die Missernte von 1812 den Preis für Pferdefutter steigen ließ, begann er, nach einer günstigen Transportalternative zu suchen. Drais selbst hat das als Motivation genannt. Mit Dampffahrzeugen wurde bereits seit gut 40 Jahren experimentiert. Doch sie waren zu schwer, aufwendig und teuer, um das Pferd bei alltäglichen Aufgaben zu ersetzen: beim Transport kleinerer Lasten und von Menschen. […] Im Jahr 1816 gab es Frost bis in den Sommer hinein, 1817 begann kaum besser. Drais stellte seine Maschine offiziell vor - und löste Begeisterung aus. Seine berühmte Testfahrt war eine Inszenierung vor Publikum, eine Demonstration der Möglichkeiten: Die 14-KilometerStrecke reichte über gut ausgebaute Straßen in seinem Mannheimer Quartier zum Schwetzinger Relaishaus und wieder zurück. Er war keine Stunde unterwegs - und mit 15 km/h schneller als die übliche Postkutsche. Die Draisine erlebte daraufhin einen Siegeszug: Wo es halbwegs ordentliche Straßen gab, verbreitete das Konzept sich rasant. Drais und andere markierten immer neue Rekorde, um das Potenzial des "Schnelllaufrades" zu beweisen. Auf Tempofahrten folgten Langstrecken, wie etwa 1818 gleich zweimal von Mannheim nach Paris. Die zweite Fahrt, immerhin mehr als 450 Kilometer, übernahm Drais selbst.

Dem Erdbeben von Lissabon an Allerheiligen des Jahres 1755, das weithin als Strafe Gottes verstanden wurde, folgte in Lissabon selbst ein rascher Wiederaufbau. Es wurden Holzmodelle erdbebensicherer Häuser entwickelt und die Neuanlage wesentlich großzügiger als zuvor geplant. Die von mittelalterlichen Strukturen geprägte Handelsstadt, die zum Zeitpunkt des Erdbebens eher im Niedergang begriffen war, wurde grundlegend modernisiert (Schenk et al. 2014). 20 Jahre nach dem Beben konnte man bereits „lachende Straßen und neue prächtige Paläste“ sehen, und 200 Jahre nach dem schrecklichen Erdbeben schrieb ein Bürger von Lissabon: „Wir können dem Schicksal nur dankbar sein, 182

denn ohne das gewaltsame Eingreifen des Erdbebens wäre unsere Stadt heute noch ein Irrgarten enger maurischer Gässchen. Damals sanken auch die Bauwerke der Inquisition in den Abgrund, die jahrhundertelang Inbegriff des Schreckens und der menschlichen Scheußlichkeit waren. Mit Gebäuden, Namen und auch manchen hochgestellten Persönlichkeiten versank die Erinnerung an ein Lissabon, das Portugal nicht zum Ruhme gedient hat“ (Oeser 2011). Die global gesehen eher kleine Katastrophe des Bergsturzes von Goldau von 1806 markierte laut Alois Fässler (in Pfister 2002) die „Geburt der gesamteidgenössischen Solidarität“, da bei der Bewältigung der Folgen alle Kantone einen Beitrag geleistet haben, sei es durch Mannschaftshilfe und/oder durch finanzielle Beiträge – dies stellte eine Premiere dar. Wesentlich gravierender war 100 Jahre später (1906) das Erdbeben von San Francisco, das laut Oeser (2011) am Ende der Feuersbrunst dem „ausgebrannten Krater eines Vulkans [glich], um dessen Rand zehntausende Flüchtlinge lagern.“ Doch der Schriftsteller und Journalist Jack London (1876–1916) konnte auch von den Hilfskomitees berichten, die sofort ihre Arbeit aufgenommen hatten: „Die Regierung ist vollkommen Herr der Lage, und dank der schnellen Hilfe aus allen Teilen der Vereinigten Staaten besteht keine Gefahr einer Hungersnot. Die Bankiers und Geschäftsleute haben bereits Vorkehrungen getroffen San Francisco wieder aufzubauen“ (Collier’s Weekly 5. Mai 1906). Die Schriftstellerein Gertrude Atherton, eine Einwohnerin San Franciscos, hatte alles miterlebt und sah trotzdem voller Hoffnung in die Zukunft: „Ich habe niemals etwas Interessanteres kennengelernt als das psychologische Resultat dieses Erdbebens … Es hat eine neue, tüchtige und erfahrene Art von Pionieren hervorgebracht. Bei der intensiven Energie und dem Optimismus, den jedermann an den Tag legt, glaube ich, dass wir zweifellos noch vor Ablauf von fünf Jahren eine der schönsten Städte der Welt sein werden“. „Da ging alles Fleisch unter, was auf Erden kriecht…“ – diesen Bezug zur biblischen Sintflut (1. Buch Mose) stellte das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL im Februar 1962 her, nachdem eine schwere Sturmflut in der Nacht vom 16./17. Februar die Stadt Hamburg traf (Abb. 47). Zu beklagen waren 315 Tote, 20.000 Menschen waren obdachlos und 6.000 Gebäude zerstört sowie 27.000 Wohnungen beschädigt. Es entstand ein Sachschaden von etwa einer Dreiviertelmillion D-Mark. Die Sturmflut brach unverhofft in eine Zeit des Wirtschaftswunders und der Technik ein, welche die Menschen in Sicherheit wiegte. 183

Abb. 47: Überflutungen nach der Sturmflut in Hamburg am 19. Februar 1962. Am Morgen des 17. Februar übernahm der damalige Hamburger Innensenator Helmut Schmidt (1918–2015) energisch die Koordination des Katastropheneinsatzes. Dieser Einsatz begründete seinen Ruf als fähiger Krisenmanager und beförderte seine politische Karriere. Um zukünftig solche Katastrophen zu verhindern, wurden die Deiche an der deutschen Nordseeküste und der Elbe erheblich verstärkt, entlang der Elbe wurden Wasserrückhalteräume und Sperrwerke geschaffen. Die Menschen zukünftig vor den Naturgefahren zu schützen und die neuen Herausforderungen in Zeiten eines steigenden Meeresspiegels zu meistern, ohne das Weltnaturerbe Wattenmeer zu gefährden, bestimmt heute das politische Handeln im Bereich der Nordseeküste (Schenk et al. 2014).

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Katastrophen und ihre Folgen für Baden-Württemberg Über die Auswirkung des Tambora-Ausbruchs auf das Königreich Württemberg wurde oben schon berichtet, es gab aber auch in den letzten Jahrzehnten nicht weniger als drei Katastrophen, die einen Einfluss auf die Politik in „meinem“ Bundesland Baden-Württemberg hatten. Zwei der Katastrophen fielen in das Jahr 1986: Der Atomunfall von Tschernobyl und der Großbrand auf dem Gelände des Pharmaunternehmens Sandoz in Schweizerhalle bei Basel (Abb. 48), das eine der größten bisherigen Umweltkatastrophen im Rhein auslöste.

Abb. 48: Aufräumarbeiten nach dem Großbrand von Schweizerhalle. Dreißig Jahre später gab es eine gemeinsame Pressemitteilung der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg und der entsprechenden Landesämter in Rheinland-Pfalz und Hessen (26.10.2016):

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Eine der größten Umweltkatastrophen in Mitteleuropa jährt sich am 1. November 2016 zum dreißigsten Mal: der Großbrand auf dem Gelände des Pharmaunternehmens Sandoz in Schweizerhalle bei Basel mit verheerenden Folgen für den Rhein. Eine Lagerhalle, in der rund 1350 Tonnen hochgiftige Chemikalien lagern, brennt nahe dem Rheinufer ab. Mehr als 20 Tonnen Gift fließen mit dem Löschwasser ungehindert in den Rhein. Die Trinkwasserversorgung aus dem Rhein muss fast für 2 Wochen eingestellt werden. Auf einer Länge von über 400 km stirbt nahezu alles Leben. Der gesamte Aalbestand ist ausgelöscht. Die Bilder verendeter Fische gehen um die Welt. Nach Tschernobyl erschüttert eine weitere enorme Umweltkatastrophe im Jahr 1986 die Bevölkerung.

Ein gutes halbes Jahr später (05.07.2017) ließ das baden-württembergische Umweltministerium folgendes verlauten: Das Umweltministerium feiert seinen 30. Geburtstag. Am 1. Juli 1987 hat das Ministerium seine Arbeit aufgenommen. Es ist als direkte Konsequenz aus der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl und dem Chemieunfall im Unternehmen Sandoz gegründet worden.

Inzwischen gab es in Baden-Württemberg nicht nur einen grünen Umweltminister, sondern auch den ersten grünen Ministerpräsidenten Deutschlands. Hatte auch Winfried Kretschmann sein Amt einer Katastrophe zu verdanken? Die Reaktorkatastrophe von Fukushima ereignete sich Mitte März 2011, Ende März 2011 war Landtagswahl in Baden-Württemberg, die Grünen wurden zur stärksten Partei. Sicher gab es hierfür noch andere Gründe, Winfried Kretschmann wurde auch fünf Jahre später ohne Katastrophe als Ministerpräsident bestätigt, aber einer der Gründe für den Höhenflug der Grünen in Baden-Württemberg war die Fukushima-Katastrophe ohne Zweifel. Bekanntermaßen hatte Fukushima auch Auswirkungen auf ganz Deutschland: die Pläne über einen Atomausstieg bis 2022 fanden die Zustimmung der Bevölkerung, Zusätzlich zum Atomausstieg verabschiedete der Bundestag im Juni 2011 ein Gesetzespaket, das den Weg zur Energiewende ebnete.

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„Individuen und menschliche Gemeinschaften, sogar ganze Gesellschaften haben unterschiedliche Weisen des Umgangs mit Katastrophen entwickelt. Sie hingen damit zusammen, wie die Katastrophe wahrgenommen und gedeutet wurde: Wer eine Sturmflut als Zorn oder Mahnung Gottes deutet, reagiert anders als jemand, der als Ursache Wetterzauberei, eine bestimmte Wetterlage oder Klimawandel annimmt. Die Reaktionen von Individuen oder Gruppen sind in Raum und Zeit keineswegs immer gleich. Dennoch gibt es eine Bandbreite von typischen Mustern, mit denen kollektiv auf Katastrophen reagiert wird. In aller Regel sollen diese Handlungen dabei helfen, die katastrophale Erfahrung zu verhindern, zu vermindern oder zu bewältigen, manchmal auch an gemeinsam erfolgreich überstandene Gefahren und Katastrophen erinnern, oder sie stellen eine Mischung aus allen diesen Funktionen dar“ (Schenk et al. 2014).

In der Forschung werden diese Handlungen oft als „Krisenrituale“ bezeichnet. Sie können selbst dann, wenn sie vordergründig nichts zur Bewältigung der Katastrophe beitragen, eine wichtige Funktion haben, wie z.B. die Stärkung des Gruppenzusammenhalts. Oft leisten sie einen Beitrag zur Risikovermeidung und Prävention. Ein probates Mittel der kollektiven Krisenbewältigung waren seit der Spätantike Prozessionen (Abb. 49). Als im Sommer 1467 in Siena die Erde bebte, bat die Stadt in einer Prozession die Mutter Gottes um Schutz, ein wenig später gemaltes Bild zeigt die Stadt unversehrt unter dem schützenden Mantel Mariens mit der erklärenden Beischrift „Zur Zeit der Erdbeben“. Die spanischen Kolonisten führten mit dem Katholizismus auch in Peru Rituale ein, mit denen die Menschen Europas auf Krisen reagierten. Nach einem verheerenden Erdbeben in Lima fanden mindestens sieben Prozessionen statt, an denen auch die Indigenen und die aus Afrika hierher verschleppten Sklaven teilnahmen. Diese Prozessionen waren nicht nur der „Export“ einer europäischen Tradition, sondern eine Fortsetzung von bereits den vorkolonialen Kulturen eigenen religiösen Vorstellungen und Praktiken.

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Abb. 49: In einer Prozession in Kalabrien wird der Erzengel Michael gebeten, neue Erdbeben abzuwenden (Zeichnung von Gennaro Amato, L'Illustrazione Italiana 38, 1905). In der heutigen Zeit werden Katastrophen nur noch selten als gottgewollt oder schicksalhaft hingenommen, und meist wird vieles von dem, was sich während und vor der Katastrophe abspielte, auch nicht als „natürlich“ wahrgenommen. „Wenn sich so genannte Naturereignisse im reichen globalen Norden ereignen, dann sind zwar immense Sachschäden zu beklagen, aber vergleichsweise wenige Todesfälle, während es sich im globalen Süden umgekehrt verhält: 188

Bei durchaus vergleichbaren Naturereignissen verlieren ungleich mehr Menschen das Leben, die materiellen Schäden sind jedoch vergleichsweise niedrig“ (Schenk et al. 2014). Gesellschaften, aber auch gesellschaftliche Untergruppen oder Individuen, sind in unterschiedlichem Maß in der Lage, Naturkatastrophen zu überstehen, haben eine unterschiedliche „Vulnerabilität“. Katastrophen oder Katastrophenschäden werden dann als vermeidbar angesehen, wenn die Bedingungen ihres Eintritts bekannt sind und als veränderbar gelten. Möglichkeiten der Vorsorge bestehen z.B. in der Abgrenzung von Gefahrenzonen, die nicht bebaut werden dürfen, oder der Errichtung von „erdbebensicheren“ Gebäuden. Auch Verhaltensvorsorge kann von Bedeutung sein; so lernen etwa in Japan und Neuseeland Schulkinder von klein auf, wie sie sich im Fall eines Erdbebens am besten schützen. Während und unmittelbar nach einer Katastrophe sind in kurzer Zeit viele Entscheidungen zu treffen, und das geht natürlich wesentlich besser, wenn ein detailliert ausgearbeiteter und erprobter Notfallplan vorliegt. Kurz nach einer Katastrophe ist aber auch der passende Zeitpunkt, die Weichen neu zu stellen, die „Katastrophenresistenz“ zu stärken.

Bringen uns Revolutionen weiter? Die Französische Revolution (1789–99) wird auch als „Mutter der Revolutionen“ bezeichnet. Sie ist es auch insofern, als sie zu einem Bedeutungswandel des Begriffs „Revolution“ geführt hat. Obwohl Georges Cuvier nicht persönlich unter der Französischen Revolution gelitten hat, empfand er sie als überwiegend negatives Ereignis. Während der radikalsten und gewalttätigsten Phase der Revolution wurden viele der alten wissenschaftlichen Institutionen abgeschafft, viele der einflussreichsten Gelehrten flohen aus Paris. Einige, wie der berühmte Chemiker Antoine Laurent de Lavoisier, endeten auf der Guillotine. Aus heutiger Sicht wird die Französische Revolution trotz der vielen Opfer überwiegend positiv gesehen. Der damalige absolutistische Staat wurde abgeschafft, grundlegende Werte und Ideen der Aufklärung wie die Menschen189

rechte konnten umgesetzt werden. In ganz Europa gab es tiefgreifende machtund gesellschaftspolitische Veränderungen, die das moderne Demokratieverständnis entscheidend beeinflusst haben. Also brachte die Französische Revolution zumindest aus unserer „abendländischen“ Sicht einen erheblichen Fortschritt. Die Verbindung von Revolution und Evolution ist aber nicht selbstverständlich. In traditionellen, vorindustriellen Gesellschaften ging man von einer harmonischen Ordnung von Mensch, Gesellschaft und Natur auf der Grundlage des göttlichen Schöpfungsakts aus. Wurde diese Harmonie z.B. durch eine „korrupte“ Regierung gestört, war es geboten, an den Ausgangspunkt zurückzukehren, Unordnung wieder in Ordnung zurückzuführen. Man dachte also eher in Kreisläufen, das „Fortschrittsdenken“ ist eine recht neue Errungenschaft, das laut Harari (2013) erst aufgrund der wissenschaftlichen Revolution aufkam.

Thomas S. Kuhn und der wissenschaftliche Fortschritt In der Wissenschaft selbst ist das Fortschrittsdenken besonders stark ausgeprägt, der „Fortschritt der Wissenschaft“ scheint unaufhaltsam. Der Wissenschaftshistoriker Thomas Samuel Kuhn (1922–1996) hatte dazu aber eine andere Auffassung: „Die Versuchung, die Geschichte rückwärts zu schreiben, ist allgegenwärtig und dauerhaft. Doch die Wissenschaftler sind ihr stärker ausgesetzt“. Später stellt Kuhn die Frage „Macht ein Fachgebiet Fortschritte, weil es eine Wissenschaft ist, oder ist es eine Wissenschaft, weil es Fortschritte macht?“ (Kuhn 1962/deutsch1967) Den Hauptgrund, warum die Wissenschaft dem Fortschrittsdenken besonders stark verhaftet ist, sieht Kuhn in der „Absonderung der wissenschaftlichen Gemeinschaften“ von den übrigen gesellschaftlichen Gruppen. Diese „absonderlichen Gemeinschaften“ definieren den Erfolg „ihrer“ Wissenschaft daher selbst und schreiben die Geschichte als eine Kette von wissenschaftlichen Erfolgen, die jeweils aufeinander aufbauen. Dies gilt aber nur für Zeiten der „Normalwissenschaft“, in denen auf der Grundlage anerkannter Regeln, die Kuhn als Paradigmata bezeichnet, vor allem in die Tiefe geforscht wird. Ziel der Normalwissenschaft sind also keine fundamentalen Neuerungen, die das 190

Weltbild umstürzen könnten, sondern schrittweise Verbesserung von Theorien im Rahmen des gegebenen Paradigmas. Nach einer gewissen Zeit tauchen Fragen auf, die mit dem herrschenden Paradigma nicht gelöst werden können. Eine Zeit lang können diese Probleme noch ausgeblendet werden, irgendwann kommt es aber zu einer Krise. Kuhn stellt die These auf, dass die zunehmenden Probleme nicht etwa von der betroffenen Gemeinschaft gelöst werden, sondern es einer Revolution „von außen“ bedarf, die sich in einem Paradigmenwechsel niederschlägt. Ironisch bemerkt er hierzu: „[…] das wissenschaftliche Training als solches ist nicht darauf ausgerichtet, den Menschen hervorzubringen, der leicht einen neuen Weg entdeckt“. Nicht nur das, der „neue Weg“ wird von Vertretern des „alten Zopfes“ erbittert bekämpft, handelt es sich doch nicht nur um eine Richtungsänderung, sondern um eine völlig „neue Welt“. Der Inhalt der nachrevolutionären Theorie ist vorher nicht abzusehen, er ist unerwartet. Wie kommt es durch diesen Wechsel von Normalwissenschaft und Revolutionen nun zum Fortschritt? Auf der einen Seite begründet Kuhn das damit, dass die Anhänger des jeweils neuen Paradigmas dieses per se als Fortschritt bezeichnen, sonst würden sie ihm ja nicht folgen. Außerdem, so Kuhn, müssen neue Paradigmata sowohl die „alten“ Probleme lösen als auch „zusätzliche konkrete Problemlösungen gestatten. Auf diese Weise bietet das „Wesen solcher Gemeinschaften fast eine Garantie dafür, dass sowohl die Anzahl der von der Wissenschaft gelösten Probleme wie auch die Exaktheit der einzelnen Problemlösungen immer weiter wachsen werden“. Kuhn zufolge braucht es in den Wissenschaften keine andere Art von Erfolg zu geben. „Um es genauer zu sagen: wir müssen vielleicht die […] Vorstellung aufgeben, dass der Wechsel der Paradigmata die Wissenschaftler und die von ihnen Lernenden näher an die Wahrheit heranführt.“ Auf den letzten vier Seiten seines knapp 200-seitigen „Essays“ trifft Kuhn einige für unser Thema ganz entscheidende Aussagen: „Der in diesem Essay beschriebene Entwicklungsprozess geht von primitiven Anfängen aus – ein Prozess, dessen aufeinander folgende Stadien durch ein zunehmend detaillierteres und verfeinertes Verstehen der Natur charakterisiert sind. Aber nichts von dem, was gesagt worden ist und noch gesagt werden kann, macht ihn zu einem Prozess der Entwicklung auf etwas hin.“ Nach Kuhn gibt es also in der Wissenschaft kein bestimmtes Ziel, sie ist nicht teleonomisch. Kurz darauf trifft Kuhn 191

einen Vergleich mit der Evolutionstheorie: „Die Analogie zwischen der Evolution von Organismen und der Evolution wissenschaftlicher Ideen kann leicht zu weit getrieben werden. Doch im Hinblick auf die Fragen dieses Schlussabschnitts ist sie fast vollkommen. […] Das Ergebnis einer Folge solcher revolutionärer Selektionen, die mit Perioden normaler Forschung abwechseln, ist das wunderbar geeignete System von Werkzeugen, das wir moderne wissenschaftliche Erkenntnis nennen.“ Die Kernaussage Kuhns ist also, dass die Wissenschaft nicht durch eine mehr oder weniger lineare Evolution fortschreitet, sondern durch zahlreiche Revolutionen, die er Paradigmenwechsel nennt.

Lernen wir aus Umweltkatastrophen? „Die Geschichte lehrt die Menschen, dass die Geschichte die Menschen nichts lehrt.“ Dieses Zitat wird Mahatma Gandhi zugeschrieben. Wie wir gesehen haben, ist die menschliche Gesellschaft in der Lage, aus Krisen und Katastrophen zu lernen. Es stellt sich aber die Frage, wie stark der Lerneffekt wirkt und wie lange er anhält. Harald Lesch und Klaus Kamphausen gehen dieser Frage in ihrem Buch Die Menschheit schafft sich ab: Die Erde im Griff des Anthropozän (2018) anhand von Umweltkatastrophen nach. Die ersten europäischen Umweltfrevler machen sie bei den Griechen und den Römern aus. War das Mittelmeergebiet ursprünglich weitgehend bewaldet, wurden von den Griechen und Römern die Wälder gerodet, um landwirtschaftliche Nutzung zu betreiben. Insbesondere die Römer mit ihrer Expansionspolitik trugen zur Übernutzung der Ressourcen bei nach dem Motto „Feuer, Entwaldung, Weizen, Ziegen“. Das Imperium Romanum konnte nur bestehen, solange die Grenzen immer weiter nach außen verschoben und neue Ressourcen erschlossen werden konnten. Vor allem der Ressourcenverbrauch für Schiffsbau, Straßen und Häuser führte zur ersten europäischen Umweltkatastrophe – Sizilien und Tunesien wurden vollständig entwaldet. „Der Untergang des Römischen Reiches sollte uns eine Warnung sein“, so das Ende des Kapitels. 192

Ein großer Sprung ins Jahr 1972. Das Buch Die Grenzen des Wachstums des Club of Rome ruft zu sofortigen Maßnahmen zum Umweltschutz, zur Geburtenkontrolle und zur Begrenzung des Kapitalwachstums auf. Die Ölkrise von 1973 scheint diese Warnungen zu bestätigen, autofreie Sonntage werden weitgehend akzeptiert. Gesetze wie das Bundesimmissionsschutzgesetz und das Bundesnaturschutzgesetz folgen. 1975 entsteht der BUND (Bund für Umweltund Naturschutz Deutschland), 1980 die Partei DIE GRÜNEN. War damit alles im grünen Bereich? Mitnichten, wie nicht zuletzt die Folge der Umweltkatastrophen zeigt: 1976

Dioxin-Unfall von Seveso, Italien

1978

Amoco Cadiz Tankerunglück, über 223.000 Tonnen Rohöl fließen ins Meer und verschmutzen die Strände

1983/1991

Erster und Zweiter Golfkrieg, mehr als eine Million Tonnen Rohöl verschmutzen die Umwelt

1984

Chemiekatastrophe von Bhopal, Indien, 3.800 Tote

1986

Reaktorunfall von Tschernobyl, Ukraine

1989

Havarie der Exxon Valdez vor der Küste Alaskas, 37.000 Tonnen Rohöl verschmutzen Meer und Küsten

2010

Ölpest im Golf von Mexico

2011

Reaktorunfall in Fukushima, Japan

Hinzu kommen die „schleichenden“ Katastrophen wie der Klimawandel oder das Insektensterben. Das Buch Der stumme Frühling (Silent Spring) der US-amerikanischen Biologin Rachel Carson aus dem Jahr 1962 wird häufig als Ausgangspunkt der weltweiten Umweltbewegung und als eines der einflussreichsten Bücher des 20. Jahrhunderts bezeichnet. Das Eingangskapitel beschreibt Rachel Carson eine fiktive Kleinstadt, deren einstmals vielfältige Tier- und Pflanzenwelt nach dem Einsatz von Pestiziden jämmerlich zu Grunde geht und deren Einwohner plötzlich erkranken. Im zweiten Kapitel thematisiert sie das Konzept des ökologischen Gleichgewichts: Es 193

habe sich über Jahrmillionen entwickelt und werde nun durch einen rigorosen Einsatz von Pestiziden in unvorhergesehener Weise beeinflusst. Wegen dieser kaum überschaubaren biologischen Auswirkungen bezeichnet Rachel Carson Insektizide als Biozide. Sie hinterfragt auch die Einstellung, dass die Natur allein dem Menschen zu dienen habe. Weitere Kapitel befassen sich mit der Geschichte und Wirkungsweise von Bioziden, dem Konzept der Nahrungskette, den Folgen der Biozide für Säugetiere, Vögel und Süßwasserorganismen und ihren gesundheitlichen Folgewirkungen auf den Menschen. Sie weist auf die Gefahren hin, dass sich Insekten zunehmend als resistent erweisen können, und betont, dass die Erfolge, die mit DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan) bei der Malariabekämpfung erzielt werden konnten, deswegen möglicherweise nur kurzfristig seien. Das Buch löste in den USA eine heftige politische Debatte aus und führte letztlich zum DDT-Verbot. Im Laufe der Zeit wurde festgestellt, dass DDT und einige seiner Abbauprodukte hormonähnliche Wirkungen zeigen. Greifvögel legten Eier mit dünneren Schalen, was zu erheblichen Bestandseinbrüchen führte. DDT geriet unter Verdacht, beim Menschen Krebs auslösen zu können. Aus diesen Gründen wurde die Verwendung von DDT von den meisten westlichen Industrieländern in den 1970er Jahren verboten. In Ländern, die das Stockholmer Übereinkommen aus dem Jahr 2004 ratifiziert haben, ist die Herstellung und Verwendung von DDT nur noch zur Bekämpfung von krankheitsübertragenden Insekten, insbesondere den Überträgern der Malaria, zulässig. Also ist die menschliche Gesellschaft offenbar in der Lage, selbst aus „schleichenden“ Umweltkatastrophen zu lernen. Schnitt. Im Jahr 2017, 55 Jahre nach Rachel Carsons Buch, ergeben Untersuchungen des Entomologischen Vereins Krefeld einen drastischen Rückgang der Biomasse der Fluginsekten von bis zu 80 %, und das sogar in Naturschutzgebieten! Änderungen der Vegetation und Landnutzung in den Schutzgebieten selbst, die häufig als wesentlich für den Rückgang angesehen werden, konnten den Rückgang nicht erklären. Die Debatte zum Thema Insektensterben, vorher überwiegend in der Fachöffentlichkeit geführt, intensivierte sich durch die Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Grünen im Juli 2017, die auch von überregionalen Zeitungen aufgegriffen wurde. Kommentatoren wiesen darauf hin, dass der Ruf nach Langzeitstudien bei katastrophalen ökologischen Entwicklungen wie dem Insektensterben dazu 194

führen kann, dass Gegenmaßnahmen so lange verzögert werden, dass es bei einem zweifelsfreien wissenschaftlichen Nachweis schon zu spät für wirksame Gegenmaßnahmen wäre. Negative Entwicklungen mit langfristigem, schleichendem Verlauf, ohne spektakuläre, fernsehtaugliche Katastrophen als Nachrichtenaufhänger, hätten es besonders schwer, in der öffentlichen Debatte noch wahrgenommen zu werden. Während der drastische Rückgang der Insekten in Mitteleuropa unter Fachleuten inzwischen weitgehend akzeptiert ist, wird nach wie vor heftig über die Ursachen gestritten. Es gibt sicher nicht eine einzelne Ursache, auf die das Insektensterben zurückgeführt werden kann, als eine der Hauptgründe werden aber Neonicotinoide vermutet, selektive Nervengifte, die auf die Nervenzellen von Insekten weit stärker als auf die Nerven von Wirbeltieren wirken. Im Oberrheingraben kam es 2008 zu einem massiven Bienensterben durch das Beizen von Saatgut durch einen Vertreter dieser Stoffgruppe, bei dem über 11.000 Völker geschädigt wurden. Aufgrund mehrerer Studien beschloss die Europäische Kommission 2013 ein Moratorium, das die Anwendung der drei als besonders gefährlich erachteten Neonicotinoide in der EU stark einschränkt. Das Insektensterben erklärt zumindest teilweise auch den starken Rückgang von Vögeln in der Agrarlandschaft, die ja zumindest während der Aufzucht ihrer Jungen von eiweißreicher Insektenkost abhängig sind. Über 50 Jahre nach Rachel Carsons Buch werden wir also wieder mit einem stummen Frühling konfrontiert. Auch wenn man nicht behaupten kann, dass die Politik auf derartige Katastrophen nicht reagiert, tut sich die Psyche des Menschen mit „lautlosen Katastrophen“ schwer (Lesch & Kamphausen 2018). „Wir bekommen keinen Schrecken, wenn vor uns lautlos die Welt einfach zugrunde geht. Und das bedeutet natürlich, dass wir auch vor dem Klimawandel keine Angst kriegen.“ „Ein Baum, der fällt, macht mehr Krach, als ein Wald, der wächst“, lautet eine alte tibetanische Weisheit. Unsere Wahrnehmung wird von „fallenden Bäumen“ dominiert – von dem, was schnell passiert, was uns bedroht (Dürr 2009).

Ähnlich verhält es sich auch mit dem Konzept der Nachhaltigkeit, das zwar grundsätzlich von den meisten akzeptiert wird, aber zumindest dann auf 195

Widerstände stößt, wenn es mit Verzicht verbunden ist. Wenn ein Politiker kurzfristige Vorteile zugunsten langfristiger Optionen opfert, hat er möglicherweise bei der nächsten Wahl Probleme. Nachhaltigkeit muss erlernt werden, das ist auch der Hintergrund für das UNESCO-Weltaktionsprogramm „Bildung für nachhaltige Entwicklung“, das seit 2005 läuft.

Resilienz „Der Begriff Resilienz, also die Robustheit im Wandel, ist weniger utopisch aufgeladen als Nachhaltigkeit. Er zeigt, wie wir mit Krisensituationen umgehen können.“ (Markus Vogt in Lesch & Kamphausen 2018)

Der Begriff „Resilienz“ (von lat. resilire ‚zurückspringen‘, ‚abprallen‘) wird in verschiedenen Bereichen verwendet und hat im Zusammenhang mit der psychischen Widerstandsfähigkeit auch Eingang in den Alltag gefunden. Ein gemeinsamer Kern in der Verwendung des Begriffs in unterschiedlichen Kontexten besteht in einem Bezug auf den erfolgreichen Umgang mit einer Störung (einem „Schock“, widrigen Umständen), insbesondere durch Anpassungsfähigkeiten oder Möglichkeiten zur Verringerung der Verletzlichkeit (Wink 2016). Insofern besteht eine enge Verwandtschaft mit dem bereits im Zusammenhang mit der Evolution erwähnten Begriff Flexibilität, der auch mit Anpassungsfähigkeit übersetzt werden kann. Der Begriff Resilienz wurde zunächst in der Materialkunde verwendet und bezeichnet die Fähigkeit eines Materials, nach einer elastischen Verformung in den Ausgangszustand zurückzukehren. In den 1970er Jahren wurde er in die Ökologie eingeführt, um damit die Stabilität von Ökosystemen zu beschreiben. Aktuelle Definitionen beziehen sich beispielsweise auf die Fähigkeit eines Ökosystems, angesichts von ökologischen Störungen seine grundlegende Organisationsweise zu erhalten anstatt in einen qualitativ anderen Systemzustand überzugehen. Inzwischen ist Resilienz vor allem in der Umweltforschung ein Schlagwort mit unterschiedlichen Definitionen und Deutungen. Problematisch am naturwissenschaftlich-ökologisch betrachteten Resilienzbegriff ist die Definition des Grundzustandes bzw. der Kriterien (Parameter) 196

dafür, ob ein Ökosystem, das sich aufgrund von Störungen verändert, seine grundlegende Organisationsweise beibehält oder nicht. Das Resilienz-Konzept steht im Gegensatz zu dem in den 1970er Jahren als Dogma existierenden Konzepts des „Ökologischen Gleichgewichtes“. Dem entgegen geht die Resilienzforschung heute von dynamischen Systemen aus, die sich in unterschiedliche Richtung entwickeln können. Resilienz-Ansätze werden vor allem unter dem Gesichtspunkt der „Klimaplastizität“ von Kulturökosystemen diskutiert, die durch den Klimawandel von einer Vielzahl biotischer und abiotischer Kalamitäten bedroht werden. Vor dem Hintergrund einer globalen Veränderung durch ökonomische und klimabedingte Faktoren geht die Resilienzforschung davon aus, dass sich Systeme bei Störungen anpassen müssen. Kritiker werfen ihr vor, somit die Umweltveränderungen hinzunehmen und aus einer opportunistischen Haltung „das Beste daraus zu machen“. Zudem stellt sich bei „schleichenden“ Prozessen einer negativen Veränderung der Umweltbedingungen die Frage, ab wann von einem Schock bzw. einem sonstigen negativen auslösenden Ereignis zu sprechen ist; hierher gehört auch die Analyse sogenannter Kipp-Punkte (tipping points) – volkstümlich umschrieben mit „dem Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt“. Seit den 1980er Jahren wird Resilienz schließlich im Zusammenhang mit Katastrophen genutzt, vor allem von Ingenieuren in Bezug auf technische Infrastruktur. Resilienz umfasst dabei die Fähigkeit, erfolgreich mit dem Katastrophenfall umzugehen. Auch die im vorigen Kapitel angesprochene „Katastrophenresistenz“ kann daher als ein Fall von Resilienz betrachtet werden. In der Psychologie hat Resilienz ebenfalls etwas mit Katastrophen zu tun, nämlich Katastrophen oder Verletzungen im Individualleben eines Menschen. Starke seelische Erschütterungen werden als Psychotrauma(ta) bezeichnet. Psychische Traumatisierungen spielen auf der einen Seite eine zentrale Rolle für die Entwicklung psychischer Störungen (posttraumatische Belastungsstörung), auf der anderen Seite können sie aber auch zu einer „posttraumatischen Reifung“ bzw. zu „posttraumatischem Wachstum“ führen. Einige Traumatisierte sind der Überzeugung, dass das traumatische Ereignis bei ihnen langfristig zu einem persönlichen Reifungsprozess geführt habe und dass sie die daraus gewonnenen Erfahrungen nicht mehr missen wollten. Einige beeindruckende Beispiele schildert Michaela Haas in Stark wie ein Phönix: Wie 197

wir unsere Resilienzkräfte entwickeln und in Krisen über uns hinauswachsen (2015). George Bonanno, Professor an der New Yorker Columbia-Universität, geht davon aus, dass posttraumatisches Wachstum nicht die Ausnahme, sondern die Regel ist. Nach seinen Studien sind 60–80 % der Menschen, die eine tiefgreifende Krise durchlebt haben, dadurch langfristig zufriedener und stärker geworden. Diese schmerzvollen Rückschläge und Erfahrungen verschaffen nach Ansicht des britischen Psychologen Martin Phillips der betroffenen Person Klarheit, was sie tatsächlich will und auch, was sie tatsächlich braucht. Dadurch kann sie authentischer und glücklicher leben. Andere Wissenschaftler erinnern an die Alltagsweisheit „Wenn eine Tür zufällt, geht eine andere auf“. Man komme der positiven Bewältigung näher, indem man nach neuen Möglichkeiten und alternativen Optionen Ausschau hält, sich ihnen öffnet – und sie ergreift (Gielas 2016). Überträgt man das Resilienzkonzept auf die Evolution, entsteht durch Katastrophen eine Art „Tabula rasa“, die leer und aufnahmebereit ist wie ein unbeschriebenes Blatt und auf der sich neues Leben entfalten kann. Die Resilienz bezieht sich in diesem Fall nicht auf die einzelnen Lebewesen, sondern auf das Leben als Ganzes. Auch hier kann man im übertragenen Sinn von einem „posttraumatischen Wachstum“ sprechen.

Ordnung und Chaos Wie wir gesehen haben, ist die Geschichte der Erde und der Menschheit ziemlich chaotisch verlaufen und wurde von vielen Katastrophen unterbrochen. Unterbrochen? Nein, Katastrophen beeinflussten die Geschichte maßgeblich und sind letztendlich dafür verantwortlich, dass es uns heute gibt. Sind wir also aus dem Chaos geboren? In gewisser Weise ja, aber in der Natur spielt auch die Ordnung eine große Rolle. Die Atome in einem Molekül haben eine definierte räumliche Anordnung, die sich wiederum in der regelmäßigen Struktur von Kristallen äußert. Die DNA, die Grundlage unseres Lebens, ist in der „genialen“ Struktur der Doppelhelix aufgeschraubt. 198

Johannes Kepler (1571–1630) verbrachte zwanzig Jahre mit sorgfältigen Versuchen und Überprüfungen, um eine mathematische Beschreibung der Planetenbewegungen zu finden, die zu den beobachteten Daten passt, und entwickelte daraus drei Planetengesetze. Das dritte nannte er das harmonische Gesetz, da er glaubte, dass es eine musikalische Harmonie enthülle, die der Schöpfer im Sonnensystem verewige. Mit diesen Gesetzen befasste sich später Isaac Newton (1643–1727) und formulierte als Erster Bewegungsgesetze, die sowohl auf der Erde wie auch am Himmel gültig sind. Seine Mechanik galt Generationen von Wissenschaftlern und Historikern als fundamentaler Beitrag im Sinne rationaler Begründung von Naturgesetzen. Pierre-Simon Laplace (1749–1827), dem Cuvier sein Werk Recherches sur les ossemens fossiles widmete, schrieb ein fünfbändiges Werk über die Himmelsmechanik, in dem er einen Überblick über alle seit Newton gewonnenen Erkenntnisse sowie über seine eigenen Forschungen gab und sich als „Vollender“ Newtons sah. Das zweite große Forschungsgebiet von Laplace war die Wahrscheinlichkeitsrechnung, die für ihn eine Möglichkeit darstellte, trotz fehlender Kenntnisse zu gewissen Resultaten zu kommen. In einem philosophischen Essay beschrieb Laplace einen alles rational erfassenden „Weltgeist“, der die Gegenwart mit allen Details kennt und daher die Vergangenheit und Zukunft des Weltgeschehens in allen Einzelheiten beschreiben kann. Laplace meinte jedoch auch, dass die menschliche Intelligenz dieses nie erreichen könne. Dieser „Weltgeist“ wurde später als „Laplacescher Dämon“ bekannt und sorgte für erbitterten Widerstreit um die Frage, ob ein solcherart verkörperter, vollkommener Determinismus kompatibel zur Willensfreiheit sei. Heute wird dieses vollkommen deterministische Weltbild als inkompatibel zu statistischen Interpretationen der modernen Quantenmechanik gesehen, die im Gegensatz zu den Theorien der klassischen Physik die Berechnung physikalischer Eigenschaften von Materie im Größenbereich der Atome und darunter erlaubt. Kann auch das Chaos mithilfe mathematischer oder physikalischer Gesetze beschrieben werden? Damit beschäftigt sich die Chaosforschung oder Chaostheorie. Es geht dabei um dynamische Systeme, deren zeitliche Entwicklung unvorhersagbar erscheint, obwohl die zugrundeliegenden Gleichungen deterministisch sind. Ein Beispiel hierfür ist der Schmetterlingseffekt, nach dem nicht vorhersehbar ist, in welchem Maß sich beliebig kleine Änderungen der 199

Anfangsbedingungen des Systems langfristig auf dessen Entwicklung auswirken. Namensgebend für den Effekt ist eine bildhafte Veranschaulichung: Kann der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen? Allerdings ist das Wetter ein komplexes System, das nicht anhand einer einzigen vereinfachten Theorie beschrieben werden kann. Ein Spezialfall von komplexen Systemen sind komplexe adaptive Systeme, die sich an ihre Umwelt anpassen können. Dazu gehören Lebewesen, Ökosysteme und die Biosphäre, aber auch der Aktienmarkt, das Gehirn, das Immunsystem, die Zelle und die Embryonalentwicklung sowie Gruppen in sozialen Systemen wie etwa Unternehmen oder politische Parteien. Besonders häufig wird der Begriff in Verbindung mit Künstlicher Intelligenz verwendet. Die wichtigsten Prinzipien von komplexen (adaptiven) Systemen sind Emergenz und Selbstorganisation. Die Emergenz (lat. emergere „Auftauchen“, „Herauskommen“, „Emporsteigen“) ist die Herausbildung von neuen Eigenschaften oder Strukturen eines Systems infolge des Zusammenspiels seiner Elemente. Dabei lassen sich die emergenten Eigenschaften des Systems nicht – oder jedenfalls nicht offensichtlich – auf Eigenschaften der Elemente zurückführen, die diese isoliert aufweisen. In Prozessen der Selbstorganisation werden höhere strukturelle Ordnungen erreicht, ohne dass diese erkennbar von außen gesteuert werden. Chaos und Ordnung sind also keine Gegensätze, sondern zwei Seiten derselben Medaille und erinnern damit an die Begriffe Yin und Yang aus der chinesischen Philosophie, die für polar einander entgegengesetzte und dennoch aufeinander bezogene Kräfte oder Prinzipien stehen. Die untrennbare Beziehung von Chaos und Ordnung kennzeichnet auch der Begriff „chaordisch“, der von Dee Hock, dem Erfinder der Visa-Karte, geprägt wurde. Damit soll eine fruchtbare Koexistenz beider Elemente umschrieben werden, in der weder das Chaos noch die Ordnung überwiegt. Hock bezieht sich ausdrücklich auf komplexe adaptive Systeme und überträgt dies auch auf die Balance von Kooperation und Konkurrenz in der Geschäftswelt. Er geht davon aus, dass auch die Natur in weiten Teilen in dieser Art organisiert ist. Der US-amerikanische theoretische Biologe Steward A. Kauffman (*1939) vertritt die These, dass bei der Entstehung der Komplexität biologischer Systeme und Organismen die Selbstorganisation ein mindestens ebenso wichtiger Faktor ist wie die darwinsche Selektion. Bereits 1995 formulierte er in 200

seinem Buch At Home in the Universe (deutsch: Der Öltropfen im Wasser): „Doch brauchen wir heute unbedingt ein neues theoretisches Rahmenmodell, das uns erlaubt, einen evolutionären Prozeß zu verstehen, auf den Selbstorganisation, Selektion und historischer Zufall in ihrer natürlichen wechselseitigen Verknüpfung einwirken“. Er nimmt auch Bezug auf Hegels Dialektik, wenn er schreibt, dass „das Muster von These, Antithese und Synthese mehr als nur oberflächlich der Evolution“ gleicht. Das Werden der Biosphäre, der globalen Ökonomie, der Kulturen und Zivilisationen, aber auch des Bewusstseins und der Intelligenz überschreitet aus der Sicht Kauffmans die im newtonschen Sinn verstandenen Naturgesetze. „Es ist eine Emergenz, ein Herauswachsen aus dem, was ist, und ein Hineinwachsen in das, was als nächstes werden kann“ (Evolve 2018). Kauffman erinnert an die alten Griechen, die neben der Ordnung auch das Chaos kannten. „Das Chaos ist Kreativität und ist jenseits von bedingenden Gesetzen.“ Kauffman wendet sich gegen den Reduktionismus der letzten Jahrhunderte, den er als „Zauberspruch Galileis“ (Galilean spell) bezeichnet, und setzt sich dafür ein, das „Heilige neu zu erfinden“ (Kauffman 2008). Auch im Film Das kreative Universum. Naturwissenschaft und Spiritualität im Dialog (2010) des deutschen Filmemachers Rüdiger Sünner tritt Steward A. Kauffman auf. Sünner (2011) schreibt über die Begegnung mit Kauffman: Angesichts der wunderbaren Tatsache, dass auf allen Stufen der Evolution das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile, müssten sowohl Wissenschaftler als auch spirituelle Menschen einsehen, dass wir in ein Mysterium hineinleben, in ein offenes Universum, dem wir mit rationalem Verstand allein nicht begegnen können. Neben analytischem Denken, so Kauffman, bräuchten wir für dieses Abenteuer ebenso Mut, Phantasie, Intuition und Vertrauen. Oft handelten wir, ohne dass wir alles wüssten. Neben unserem Wirklichkeitssinn gäbe es auch einen Möglichkeitssinn, der uns beim Überleben helfe. Daher seien Ideen so wirklich wie Moleküle, Metaphern so wichtig wie exakte Begriffe, Shakespeare so wichtig wie Einstein. Erst alle diese Fähigkeiten zusammen ermöglichten uns, die im Grunde geheimnisvolle Wirklichkeit in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen. Haben auch existenzielle Erlebnisse im Leben dieses Ausnahmeforschers zu solchen Erkenntnissen beigetragen? Auf die Frage, ob die Kreativität des Universums nur positiv sei, erzählt mir Kauffman vom schmerzhaften Verlust 201

seiner sechzehnjährigen Tochter, die ein betrunkener Autofahrer vor einigen Jahren totgefahren habe.

Als ich das las, stockte mir der Atem. Schmerzhafter Verlust seiner sechzehnjährigen Tochter, totgefahren von einem betrunkenen Autofahrer – fast identisch mit dem Ausgangspunkt meines Wissenschaftsromans Armin – (R)Evolution auf Madagaskar (Abb. 50), in dem der sechzehnjährige Manuel, das einzige Kind von Renate und Armin, von einem betrunkenen Autofahrer totgefahren wird.

Abb. 50: Umschlag des Wissenschaftsromans Armin – (R)Evolution auf Madagaskar. Diese persönliche Katastrophe bringt Armin nach Madagaskar, wo er ein Naturschutzprojekt leitet. Armin macht sich Gedanken über Katastrophen in der Erdgeschichte und erlebt einen Putsch (der sich 2009 tatsächlich ereignete), der für das Projekt einen großen Rückschlag bedeutet. Armin gibt aber nicht dem Impuls nach, das Projekt zu beenden und wieder nach Deutschland zurückzu-

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kehren, sondern entschließt sich, weiterzumachen. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse…, so das Ende des Klappentextes. Es geht also in dem Roman um Katastrophen in der Erdgeschichte, in der menschlichen Gesellschaft und im persönlichen Leben. Das vorliegende Buch ist so etwas wie das Sachbuch zu diesem Roman.

In Verbindung mit dem Reduktionismus wird oft auf „Ockhams Rasiermesser“ Bezug genommen, auch als Sparsamkeitsprinzip bekannt. Das nach dem mittelalterlichen Philosophen und Theologen Wilhelm von Ockham (1288– 1347) benannte Prinzip findet seine Anwendung in der Wissenschaftstheorie und der wissenschaftlichen Methodik. Vereinfacht ausgedrückt besagt es, dass von mehreren möglichen Erklärungen für ein und denselben Sachverhalt die einfachste Theorie allen anderen vorzuziehen ist. Eine Theorie ist einfach, wenn sie möglichst wenige Variablen und Hypothesen enthält und wenn diese in klaren logischen Beziehungen zueinander stehen, aus denen der zu erklärende Sachverhalt abgeleitet werde kann. Mit der ockhamschen Regel verbunden ist die Forderung, für jeden Untersuchungsgegenstand nur eine einzige hinreichende Erklärung anzuerkennen. Die Bezeichnung als Rasiermesser ergibt sich daraus, dass alle anderen Erklärungen eines Phänomens wie mit einem Rasiermesser entfernt werden können. Auf die biologische Evolution angewandt würde das bedeuten, dass die von Charles Darwin erkannten Mechanismen von Variation und Selektion für die Erklärung ausreichen und alle anderen Erklärungen „wie mit einem Rasiermesser“ zu entfernen wären. Die von Lamarck postulierte „Vererbung erworbener Eigenschaften“ hat sich als falsch herausgestellt und kann verworfen werden. Die Katastrophentheorie von Georges Cuvier hat zwar nach neueren Erkenntnissen ihre Berechtigung, hat aber mit der biologischen Evolution als solche nichts zu tun. Ist das wirklich so? Wie wir gesehen haben, können die Entwicklung des Lebens und die Entwicklung der Erde bzw. des Universums nicht unabhängig voneinander betrachtet werden, sondern sind eng miteinander verwoben. Dies betont auch Andrew H. Knoll, der „Erfinder“ der „toleranten Umwelt“ (permissive ecology) nach einer Katastrophe. 203

[Knoll: Life on a Young Planet, S. 223] If there is one lesson that paleontology offers to evolutionary biology, other than the documentation of biological history itself, it is that life’s opportunities and catastrophes are tied to Earth’s environmental history. We can only understand macroevolution - the comings and goings of species and higher taxa through time - if we link the microevolutionary processes studied by geneticists with Earth’s dynamic environmental history. […] Earth’s long Precambrian history provides illuminating perspective on the great idea of twenty-first-century Earth science - that biology is inexorably linked with tectonics and climate, athmosphere and oceans in a complex and interactive Earth surface system. The pageant of Cambrian evolution simply provides one last, and dramatic, confirmation that life did not evolve on a passive planetary platform. Rather life and environment evolved together, each influencing the other in building the biosphere we inhabit today. Wenn es außer der Dokumentation der Geschichte des Lebens etwas gibt, das die Evolutionsbiologie von der Paläontologie lernen kann, dann ist es die Tatsache, dass die Chancen und Katastrophen des Lebens eng mit der Geschichte der Erde verbunden sind. Makroevolution, d.h. das Kommen und Gehen von Arten und höheren Taxa im Zeitverlauf, kann nur durch die Verbindung der von den Genetikern untersuchten mikroevolutionären Prozesse mit der Erdgeschichte verstanden werden. […] Die lange präkambrische Geschichte der Erde eröffnet einen erhellenden Ausblick auf die große Idee der Erdwissenschaften im 21. Jahrhundert - dass die Biologie unerbittlich mit Tektonik, Klima, Atmosphäre und Ozeanen auf einer komplexen und interaktiven Erdoberfläche verbunden ist. Das Schauspiel der kambrischen Evolution ist ganz einfach eine letzte, dramatische Bestätigung dafür, dass wir nicht auf einer passiven planetaren Plattform entstanden sind. Eher schon entwickelten sich das Leben und die Umwelt gemeinsam und bildeten in gegenseitiger Beeinflussung die Biosphäre, in der wir heute leben. (Eigene Übersetzung)

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Im Prinzip kann die Phase nach einer Katastrophe zwar auch darwinistisch als überbordende Variation bei fehlender Konkurrenz gedeutet werden, was dabei aber herauskommt, sind eher die „hoffnungsvollen Monster“ eines Richard Goldschmidt. Die Natur macht also doch Sprünge, aber wohin? Geben die Katastrophen dem Leben die Möglichkeit zurückzuweichen, um besser springen zu können, wie Arthur Koestler postulierte. Hier landen wir fast zwanglos bei der Gaia-Hypothese von Lynn Margulis (1938–2011) und James Lovelock (*1919), die besagt, dass die Erde mit ihrer Biosphäre wie ein Lebewesen betrachtet werden kann (Lovelock 1982, Margulis 1998/2017). Die Erdoberfläche bildet demnach ein dynamisches System, das die gesamte Biosphäre stabilisiert. Befürworter der Hypothese erklären die extremen Klimaschwankungen bis vor 600 Millionen Jahren (Schneeball Erde) damit, dass es im Präkambrium noch keine komplexen Organismen mit Skeletten oder Kalkschalen gab, die heute eine enorme Rolle für den CO2-Haushalt der Meere spielen. Die Entstehung dieser Organismen hätte demzufolge dazu beigetragen, die Lebensbedingungen auf der Erde zu stabilisieren. Einige Wissenschaftler haben inzwischen auch eine Gegenthese formuliert, in der sie die Biosphäre eher als Medea beschreiben, da sie in bestimmten Fällen auch selbstzerstörerisch sein könne. Als Belege führen sie unter anderem jüngere Erkenntnisse an, wonach von Bakterien produzierte Halogen-Kohlenwasserstoffe das Massenaussterben an der Perm-Trias-Grenze ausgelöst haben könnten. Gehen wir zurück an den Ausgangspunkt dieses Buches, die verschiedenen Evolutionstheorien einschließlich der Katastrophentheorie von Georges Cuvier, und betrachten sie nochmal aus heutiger Sicht. 1. Charles Darwins 200. Geburtstag und das 150jährige Jubiläum seines „Artenbuchs“ wurden 2009 zu Recht weltweit gefeiert. Die Prinzipien der Variation und natürlichen Selektion sind und bleiben die grundlegenden Mechanismen der Evolution. Zeitgleich mit Charles Darwin entwickelte der britische Naturforscher Alfred Russel Wallace (1823–1913) durch seine biogeographischen Forschungen im Malaiischen Archipel Vorstellungen zur Evolutionstheorie, die 1858 in einer gemeinsamen Veröffentlichung mit Charles Darwin mündeten. Diese Veröffentlichung blieb jedoch weitgehend unbeachtet, sodass Charles Darwins „Essay“ zur Entstehung der Arten (Wrede & Wrede 2013) als Grundlage der Evolutionstheorie gilt. 205

2. Jean-Baptiste de Lamarck erkannte als erster, dass eine sich graduell verändernde Umwelt Anpassungen der Organismen erforderte, dies sah er als einen Antrieb der Evolution. Nach seiner Theorie wurden durch geänderte Gewohnheiten entstandene körperliche Modifikationen an die nächste Generation weitervererbt. Der Lamarckismus im heutigen Sinn, der sich auf die Vererbung erworbener Eigenschaften konzentrierte, entstand erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts und wurde zu einer weithin akzeptierten Position. Nachdem überzeugende experimentelle Nachweise ausblieben, geriet er gegenüber dem Darwinismus immer mehr ins Hintertreffen. Eine Art Wiederauferstehung erlebt der Lamarckismus durch die Epigenetik, die sich mit der Aktivität von Genen befasst. Wie erst vor kurzem belegt wurde, können im Lauf des Lebens erworbene epigenetische Informationen die Grenzen der Generationen überschreiten (www.mpg.de/11396064/epigenetik-vererbung, zuletzt aufgerufen am 28.10.2018). 3. Die Katastrophentheorie Cuviers wurde durch den Nachweis zahlreicher Katastrophen in der Erdgeschichte, die teilweise ein globales Ausmaß hatten, bestätigt. Obwohl Georges Cuvier nie von „Neuschöpfungen“ nach einer Katastrophe sprach, hat es diese sogar in gewissem Sinn gegeben: Durch die „tolerante Umwelt“ nach einer Katastrophe hatten Neuentwicklungen eine Chance, die unter Konkurrenzbedingungen sofort wieder verschwunden wären. Da diese neuen Spezies aber sehr geringe Individuenzahlen aufwiesen, gibt es so gut wie keine Chance, sie als Fossilien zu finden. Das Fehlen von Übergangsformen verstärkt den Eindruck eines grundlegenden Artenwandels nach einer Katastrophe. Durch die zunehmende Gewissheit, dass für alle innovativen Entwicklungen Ordnung und Chaos eine Rolle spielen, löst sich auch der Streit um so manche –ismen auf. Es gibt nicht Neptunismus oder Plutonismus, sondern im Verlauf der Erdgeschichte spielen sowohl die Sedimentation als auch der Vulkanismus eine große Rolle. Nicht Gradualismus oder Katastrophismus, sondern Gradualismus und Katastrophismus formten unsere Erde und das Leben. Die Schließung der mittelamerikanischen Landbrücke und die dadurch ausgelöste Entstehung des Golfstroms zeigen sehr schön, dass gravierende, in erdgeschichtlichem Maßstab „plötzliche“ Entwicklungen auch 206

aus graduellen Vorgängen resultieren können und keine Katastrophe als Auslöser haben müssen. Gradualismus und Katastrophismus sind daher kein „entweder – oder“, sondern ein „sowohl – als auch“. Das gilt auch für die Quantenphysik, deren Objekte gleichermaßen die Eigenschaften von Wellen und Teilchen aufweisen (Welle-Teilchen-Dualismus), außerdem können zwei komplementäre Eigenschaften eines Teilchens nicht beliebig genau bestimmt werden (Heisenbergsche Unschärferelation). Der langjährige Mitarbeiter von Werner Heisenberg (1901–1976) und Träger des Alternativen Nobelpreises Hans-Peter Dürr (1929–2014) vertritt in seinem Buch Warum es ums Ganze geht (Dürr 2009) die Auffassung, dass die neue Physik nicht nur einen Paradigmenwechsel bezeichnet, sondern darauf hindeutet, dass „die Wirklichkeit im Grunde keine Realität im Sinne eine dinghaften Wirklichkeit ist. Wenn Wirklichkeit sich primär nur noch als Potenzialität offenbart, als ein ‚Sowohl-als-auch‘, dann ist sie nur die Möglichkeit für eine Realisierung in der uns vertrauten stofflichen Realität, die sich in objekthaften und der Logik des ‚Entweder-Oder‘ unterworfenen Erscheinungsformen ausprägt.“ Auch der österreichisch-britische Philosoph Karl Popper (1902–1994) sah sich durch die Quantenphysik in seinem „Indeterminismus“ (die Auffassung, dass nicht alle Ereignisse durch Vorbedingungen eindeutig festgelegt sind) bestätigt, den er auch auf die Gesellschaft übertrug (Die Zukunft ist offen). In der Philosophie des Geistes wandte sich Popper sowohl gegen den klassischen Körper-Geist-Dualismus als auch gegen reduktionistische Theorien wie den Behaviorismus. Er schlug dagegen eine gedankliche Einteilung der Welt in drei Bereiche vor, nämlich die physische Welt (Welt 1), die Welt der individuellen Wahrnehmung und des Bewusstseins (Welt 2) und die Welt der geistigen und kulturellen Gehalte, die vom Einzelbewusstsein unabhängig existieren können (Welt 3), z. B. die Inhalte von Büchern, Theorien und Ideen– also ungefähr das, was von Richard Dawkins als Meme bezeichnet wurde. Die Zukunft ist offen, so Karl Popper. Die Zukunft wird aber mit Sicherheit weitere Krisen und Katastrophen bringen, auch solche, die die Menschheit bis ins Mark treffen. Der Antwort auf die Frage, ob in jeder Krise eine Chance steckt, möchte ich mich mit einem Aphorismus nähern. In meinem Wissenschaftsroman Armin: (R)Evolution auf Madagaskar lautete er:

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In jeder Krise steckt eine Chance – bisweilen aber ist die Krise des Einen eine Chance für das andere. Am Ende dieses Buches möchte ich den Aphorismus leicht abändern: In jeder Krise steckt eine Chance, doch meist ist die Krise des Einen eine Chance für das Andere.

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216

Bildnachweis Umschlagseite vorn

Fotomontage Bernd-J. Seitz, Hintergrundbild David A. Hardy (www.astroart.org)

1

"Theo" Michael Schmitt

2, 3, 4, 11, 12, 15, 19, 22, 25, 29, 30, 31, 39, 42, 50

Bernd-Jürgen Seitz

5, 7, 8, 10, 14, 16, 21, 24, 27, 28, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 46, 47, 48

Wikimedia Commons

6, 9, 13, 18, 32, 45, 49

AKG

20, 23, 26, 44

wbg

41

Klemens Fritz

43

aus Kull 2011

217

Stichwortregister Asteroidengürtel .................78, 115 Atheismus .................................... 52 Atherton, Gertrude .................. 183 Atlantikum ................................. 147 Atlantis .............................. 102, 103 Atomausstieg............................. 186 Atomwaffen ............................... 110 aufrechter Gang ........................ 144 Aussterbemechanismen, proximate und ultimate .......... 83 Aussterben von Arten ... 48, 52, 53 Australien ....................... 78, 87, 95 Australopithecinen ................... 144 Azoren ........................................ 105 Bacon, Francis ........................... 104 Baden-Württemberg ................ 185 Behaviorismus........................... 207 Behn, Wilhelm ............................ 25 Belemniten............................. 73, 77 Bergsturz von Goldau ..... 135, 183 Beton .......................................... 151 Beuteltiere ....................... 46, 92, 96 Bewegungsgesetze..................... 199 Bewusstsein ...................... 176, 201 Bhopal ........................................ 193 Bienensterben ............................ 195 Bildung für nachhaltige ................. Entwicklung ........................... 196

Achondrit .................................. 113 Aerosole ............................... 77, 127 Afrika ................................... 95, 146 Aktualismus .................... 68, 84, 91 Albedo........................................ 149 Algorithmen.............................. 176 Allen, Woody ............................ 110 Allerheiligenflut ........................ 136 Allesfresser ................165, 167, 169 Alpen .......................................... 100 Alvarez, Luis Walter .................. 70 Ammoniten ............... 73, 77, 89, 92 Amoco Cadiz ............................ 193 Amphibien .................................. 88 Amsel ......................................... 165 Anatomie, vergleichende .... 43, 50 Anoxie.......................................... 83 Antarktis ...................................... 95 anthropisches Prinzip .............. 170 Anthropozän .................... 151, 152 Antichrist .......................... 107, 110 Apokalypse ................106, 107, 111 Aristoteles...................... 23, 30, 153 Armageddon .............106, 107, 110 Art, Definition ......................... 155 Artenwandel.............................. 206 Asien .......................................... 145 Asteroid ......................... 71, 81, 120 218

Cholera ...................................... 125 Chondrit .............................. 74, 113 Chronologiekritik .................... 105 Club of Rome ............................ 193 Crutzen, Paul ............................ 151 Cryogenium ................................ 93 Cuvier, Georges … 7–69, 91, 101, 103, 109, 124, 153, 155, 177, 189, 203, 205 Cyanobakterien .................... 85, 93 Darwin, Charles ….. 8, 68, 82, 109, 153, 203, 205 Darwinfinken ............................ 157 Darwinius masillae ............. 98, 142 Daubenton, Louis Jean-Marie .... 47 Dawkins, Richard ............. 154, 172 DDT (Dichlordiphenyltrichlorethan) ..................................... 194 Dekkan-Trapp ...................... 76, 82 Deluc, Jean-André ................ 52, 57 Descartes, René ......................... 109 Desertifikation .......................... 147 Determinismus ......................... 199 Deukalionische Flut ................. 101 Devon ..................................... 88, 93 Dialektik .................................... 201 Dinosaurier …... 70, 90, 91, 92, 142, 168, 178 Dioxin-Unfall von Seveso ....... 193 DNA ........................................... 198 Dollart ........................................ 136 Dolomieu, Déodat Gratet de...... 57 Donnelly, Ignatius .................... 105 Doppelhelix ............................... 198 Drais, Karl von.......................... 180

Biodiversität .................................96 Biosphäre ............................ 94, 205 Biozide ....................................... 194 Blumenbach, Johann Friedrich .24 Blütenpflanzen ............................96 Bodenerosion............ 138, 149, 173 Boetius, Matthias ..................... 136 Bonanno, George ..................... 198 Bosporus.................................... 102 Brongniart, Alexandre................54 Bronzezeit ................................. 147 Buchdruck ................................. 179 Buckland, William ................... 101 Buffon, Georges-Louis ................... Leclerc de............... 13, 33, 38, 48 BUND (Bund für Umwelt- und .... Naturschutz Deutschland) .. 193 Bundesimmissionsschutzgesetz ...................................... 193 Bundesnaturschutzgesetz........ 193 Burchardi-Flut .......................... 136 Burgess-Schiefer ..........................87 Butjadingen ............................... 136 C4-Pflanzen .................................93 Caen ..............................................23 Cannstatter Wasen .................. 180 Carson, Rachel.......................... 193 Ceres .......................................... 115 chaordisch ................................. 200 Chaos .................198, 200, 201, 206 Chaosforschung ....................... 199 Chaostheorie............................. 199 Chicxulub-Krater ................. 70, 76 Chiemgau-Impakt ................... 122 Chladni, Ernst .......................... 115 219

Fahrrad ....................................... 181 Farne........................................... 167 Faujas de Saint-Fond, .................... Barthélemy ............................... 47 Fitness ............................... 154, 162 Flaschenhals, genetischer ........ 131 Flexibilität ......... 163, 164, 169, 196 Flussaue ...................................... 164 Fried, Johannes ......................... 107 Friedell, Egon ............................ 179 Frisch, Max ................................ 177 Fukushima, Reaktorunfall ...... 135, 186, 193 Gaia-Hypothese ......................... 205 Galapagos-Inseln ..................... 157 Gandhi, Mahatma .................... 192 Gastornis ...................................... 97 Gefäßpflanzen ............................. 88 Geiseltal bei Halle (Saale) .. 94, 96, 100 Generalisten … 157, 163, 167, 169, 170 Geologie … 43, 47, 51, 53, 63, 68, 101 Getreide ...................................... 174 Gibbons ..................................... 143 Gilgamesch-Epos ...................... 102 Glazial......................................... 149 Gletscher ............................ 100, 102 Gliederfüßer ................................ 87 Goldschmidt, Richard …154, 159, 205 Golfkrieg .................................... 193 Golfstrom............ 96, 100, 105, 206 Gondwana ...................... 78, 87, 95

Draisine ..................................... 180 Dreibein .................................... 119 Dreißigjähriger Krieg ...... 108, 148 Dürr, Hans-Peter...................... 207 Dylan, Bob ................................. 110 Edentata ....................................... 44 Ediacara-Fauna ................... 86, 169 Ediacara-Zeit............................... 93 Einstein, Albert ......................... 112 Eisenmeteorit .................... 113, 117 Eiszeit ........................................... 95 Eiszeit, Kleine...... … 108, 124, 126, 137, 148 Eldredge, Niles .................... 69, 154 Elefanten ......... 43, 44, 52, 143, 148 Elgdjá, Vulkan .......................... 128 Eltanin-Impakt......................... 116 Emergenz........................... 200, 201 Endzeitangst.............................. 108 Energiewende ........................... 186 Ensisheim .................................. 114 Eozän .......... 92, 94, 95, 96, 99, 142 Epigenetik.................................. 206 Erdbeben ............ 77, 108, 132, 182 erdnahe Objekte ........................ 121 Estland ....................................... 117 Eurasien ....................................... 96 Evolution ............. 7, 50, 52, 84, 87, 91, 94, 99, 117, 198, 203 Evolution, kulturelle ................ 172 Evolutionsfaktoren .................... 154 Evolutionstheorie .... … 7, 82, 154, 170, 192, 205 Evolutionstrends .............. 160, 161 Exxon Valdez ............................ 193 220

Holozän-Massensterben.......... 147 Homo erectus .................... 130, 144 Homo floresiensis ...................... 145 Homo heidelbergensis ............... 145 Homo sapiens ........... 146, 152, 174 Homo steinheimensis................ 146 Hopeful-Monster-Hypothese 154, 159 Hox-Gene .................................. 159 Hoyle, Sir Fred .......................... 112 Huaynaputina, Vulkan ............. 127 Humboldt, Alexander von .. 10, 41 Hundsaffen ........................ 143, 144 Hutton, James ............................. 69 Ichthyosaurier ............................ 91 Impakt … 71, 76, 78, 81, 84, 85, 102, 120, 157, 162, 164 Impakt-Grenzton ....................... 73 Impaktkrater ................... 71, 80, 81 Impaktwinter …… 72, 76, 95, 110, 157, 167 Imperium Romanum ............... 192 Indeterminismus ...................... 207 Indien ........................................... 95 Industrialisierung....................... 149 Insekten ................................. 88, 96 Insektensterben ....... 193, 194, 195 Insektizide ................................. 194 Intelligenz . 162, 171, 176, 199, 201 Interglazial......................... 141, 149 Inuit ............................................ 174 invasive Arten ........................... 151 Island......................... 125, 128, 148 Isolation, reproduktive ............ 156 Isolationsmechanismen ........... 156

Gould, Stephen Jay ........ 69, 86, 154, 159 Gradualismus ....... 68, 69, 153, 206 Gräser ...........................................99 Greifvögel .................................. 194 Griechen .................................... 192 Grönland ........................... 148, 174 Großmutationen .........................92 Grote Mandränke .................... 136 Grube Messel ................ 94, 96, 142 Grünalgen ............................. 88, 97 Gründerpopulation ......... 156, 157 Gutenberg, Johannes ................ 179 Halley, Edmond ....................... 109 Hamburg ................................... 183 Handelspartner ........................ 174 Hannibal.................................... 148 Harari, Yuval Noah.................. 174 Haussperling ............................. 165 Hegel, Georg Friedrich...............20 Heisenberg, Werner ................ 207 Heisenbergsche Unschärferelation................. 207 Henderson-Insel ...................... 174 Herlihy, David .......................... 178 Hilgendorf, Franz........................82 Himalaya ......................................95 Himmelsmechanik .................. 199 Hintergrundaussterben ..............83 Hipparion .....................................99 Hock, Dee.................................. 200 Hohe Karlsschule ........... 13, 14, 20 Hohenheim ............................... 180 Hölderlin, Friedrich....................20 Holozän ....................... 93, 122, 147 221

Klimaentwicklung…... 94, 96, 122, 140 Klimaerwärmung...................... 150 Klimakatastrophe ...............70, 110 Klimaschwankungen....... 173, 205 Klimawandel ....... 83, 110, 140, 193 Knoll, Andrew H. .... 159, 169, 203 Koestler, Arthur......................... 158 Kohlen(stoff)dioxid ...........94, 148 Koloniebildung ........................... 88 Komet .................. 78, 108, 109, 112 Komet, Definition .................... 116 Komplexität ............................... 173 Konkurrenz .............. 159, 205, 206 Konvergenz ...................... 161, 168 Kopernikus, Nikolaus ................ 56 Korallenriffe ........... 87, 91, 96, 157 Koran.......................................... 102 Körper-Geist-Dualismus ......... 207 Krakatau............................ 120, 126 Krebs ........................................... 194 Kreide .................... 70, 91, 157, 160 Kreide-Tertiär-Grenze = KreidePaläogen-Grenze … 72, 75, 76, 91, 93, 94, 168 Kreta .................................. 104, 129 Kretschmann, Winfried ........... 186 Kreuzkröte ................................. 164 Krisenbewältigung.................... 187 Krisenrituale .............................. 187 Kuhn, Thomas S. ...................... 190 Künstliche Intelligenz .............. 200 Kuwae, Vulkan .......................... 126 Laacher See ................................ 129 Laki-Krater ................................ 125

Israel ........................................... 146 Jadebusen .................................. 136 Jameson, Robert ......................... 63 Japan .......................................... 189 Julianenflut ................................ 135 Jüngstes Gericht ....................... 107 Jupiter ..........................78, 112, 115 Jura ................................... 75, 80, 90 Kaali-Kraterfeld ........................ 117 Kalamität ................................... 197 Kaltzeit ................ 94, 100, 129, 141 kambrische Explosion …... 86, 159, 169 Kambrium ............................. 87, 93 Känozoikum... 76, 94, 96, 100, 140 Karbon ......................................... 88 Kataklysmus ................................ 57 Katastrophe, Definition .... 56, 177 Katastrophenresistenz ..... 189, 197 Katastrophensoziologie ............. 177 Katastrophentheorie … 7, 22, 57, 170, 203, 205, 206 Katastrophismus ….. 67, 69, 70, 71, 91, 105, 206 Katharsis .................................... 108 Kauffman, Steward A. ..... 200, 201 Kellwasser-Ereignis .................... 75 Kepler, Johannes .............. 109, 199 Kerner, Johann Simon ............... 16 Kielmeyer, Karl Friedrich ..14, 21, 30 Kippelement.............................. 150 Kipp-Punkt (tipping point) ... 150, 197 Kircher, Athanasius ................. 104 222

Massenaussterben … 71, 74, 77, 82, 87, 91, 92, 93, 139, 151, 154, 157, 160, 162, 164, 169, 205 Massenextinktion .................... 167 Massentierhaltung .................... 149 Mastodon............................. 46, 140 Maya-Kalender ......................... 105 Mayr, Ernst................................ 161 Megablock-Zone ......................... 82 Megatherium .............................. 44 Megatsunami ................72, 77, 135 Mem ........................................... 172 Menschenaffen ................. 141, 143 Mertrud, Jean-Claude ................ 50 Mesozoikum.......................... 76, 95 Metaevolution ........................... 161 Metaselektion ............................ 169 Meteor ....................................... 116 Meteor, Definition ................... 113 Meteorit ...... 70, 76, 79, 81, 83, 114 Meteorit, Definition ................. 113 Meteoroid .................................. 113 Methan ....................................... 149 Mikroevolution ........................ 154 Milanković-Zyklen ................... 100 Minoische Eruption ................. 129 Miozän…. 81, 92, 94, 95, 99, 142, 143 Miozän-Optimum .................... 143 Missing Links ............................ 153 Mittelalterliche Klimaanomalie ..................... 148 mittelamerikanische Landbrücke ...................... 96, 206 Mitteleuropa ............................. 147

Lamarck, Jean-Baptiste de …7, 50, 53, 55, 203, 206 Lamarckismus ...................... 9, 206 Landwirtschaftliches Hauptfest ............................... 180 Laplace, Pierre-Simon ….55, 115, 199 Laplacescher Dämon ............... 199 Large Igneous Province, LIP .....84 Latimeria ................................... 166 Laurasia ..................................... 142 Laurentia ......................................87 Lavoisier, Antoine Laurent de ..37, 43, 189 Lazarus-Effekt .......................... 166 Lebensraum ............................... 164 Lemuren .......................................95 Lima ........................................... 187 Lissabon............................. 133, 182 London, Jack ............................. 183 Lovelock, James ........................ 205 Lyell, Charles ....................... 68, 153 Lystrosaurus .................................76 Madagaskar ......................... 95, 202 Magdalenenhochwasser .......... 138 Makroevolution.......... 84, 153, 204 Malaria....................................... 194 Mammut …… 43, 54, 58, 100, 102, 140 Mammutsteppe ........................ 100 Marcellusflut ............................ 136 Margulis. Lynn .......................... 205 Mars ......................... 71, 74, 78, 115 Marschall von Bieberstein, ........... Friedrich August .....................16 223

Oberrheingraben ....................... 195 Ockham, Wilhelm von ............ 203 Ockhams Rasiermesser ............ 203 Oeser, Erhard ............................ 169 ökologisches Gleichgewicht .... 197 Ökosystem …. 77, 89, 97, 157, 158, 164, 167, 196 Oligozän .................. 92, 94, 95, 142 Ölkrise ........................................ 193 Ölpest ......................................... 193 Oortsche Wolke .......................... 78 Orang-Utan............................... 143 Ordnung ........................... 200, 206 Ordovizium .............. 75, 87, 88, 93 Oreopithecus ............................. 143 Osche, Günther ............................. 7 Osterinsel ................................... 173 Ozean-AtmosphäreZirkulation ............................... 83 Ozonschicht ........................89, 120 Paarhufer ..................................... 92 Paläogen ........................ 70, 96, 142 Paläontologie .......................44, 204 Paläozän ...............................95, 142 Paläozoikum ............................... 75 Pandemie ................................... 138 Panspermie-Hypothese ............. 74 Paradigma .................................. 190 Paradigmenwechsel..191, 192, 207 Paris ........................................ 37, 46 Paris, Jardins des Plantes ........... 39 Paris, Muséum national d’histoire naturelle .................................... 38 Pazifischer Feuerring ...... 122, 132 Pelycosaurier ............................... 89

Mittelmeer ........................... 96, 102 Moldavit ...................................... 81 Mömpelgard .. 9, 11, 12, 22, 23, 37 Mond.............................. 71, 73, 116 Montbéliard ...................... 9, 11, 37 Moose......................................... 167 Morris, Simon Conway ... 161, 168 Muck, Otto ................................ 105 Muscheln............................. 92, 102 Mutation .................................... 159 Mutationssprünge .................... 154 Mythen .......................102, 118, 119 Nachhaltigkeit........................... 195 nachtaktiv ..................142, 167, 168 Napoleon Bonaparte....... 10, 47, 54 Nashorn ....................................... 57 Naturkatastrophen ....133, 178, 189 Naturphilosophie ................. 20, 21 Naturtheologie ............................ 67 Neandertaler .............129, 131, 146 Nebelhöhle .................................. 18 Nemesis-Hypothese ........... 78, 112 Neogen ........................................ 96 Neokatastrophismus .................. 92 Neonicotinoide ......................... 195 Neothethys .................................. 95 Neptunismus....................... 68, 206 Neuseeland ........................ 128, 189 Newton, Isaac ................... 109, 199 Nische, ökologische ......... 156, 158 Nordamerika................. 96, 99, 145 Nördlinger Ries .................... 80, 81 Normandie ............................ 23, 37 Notfallplan ................................ 189 Nürtingen .................................... 17 224

Präkambrium ............................ 205 Prä-Neandertaler ...................... 146 Primaten ............................ 141, 143 Prozessionen ............................. 187 Psychotrauma ........................... 197 punctuated equilibrium ............. 69 Punktualismus ............................ 69 Pyroklastisches Sediment ........ 131 Quantenmechanik.................... 199 Quantenphysik ......................... 207 Quartär ............... 95, 100, 116, 117 Quastenflosser .......................... 166 Radiation, adaptive .......... 162, 169 Raubtiere ..................................... 92 Raup, David M...................... 74, 78 Reagan, Ronald ......................... 110 Reaktorunfall ............................ 110 Reduktionismus................ 201, 203 Regenwälder ......... 96, 97, 157, 164 Renaissance........................ 104, 179 Reptilien ...................................... 89 Resilienz ............................. 196, 197 Ressourcen ................................ 192 Restauration ................................ 64 Revolution, Definition .............. 56 Revolution, digitale ................... 176 Revolution, Französische ...12, 23, 31, 37, 40, 43, 54, 126, 189, 190 Revolution, Grüne .................... 176 Revolution, industrielle .... 148, 152 Revolution, landwirtschaftliche ................ 174 Revolution, wissenschaftliche 175 Römer ........................................ 192 Römerzeit .................................. 148

Perm................................. 75, 89, 93 Permafrost ................................ 100 permissive ecology ... 159, 169, 203 Perm-Trias-Grenze .............. 75, 78 Peru ............................................ 127 Pest .....................108, 120, 138, 178 Pestizide ..................................... 193 Pfaff, Christoph Heinrich...14, 25, 36, 48, 65, 155 Pferde ........................... 99, 153, 180 Phanerozoikum ................... 75, 83 Phillips, Martin ........................ 198 Phlegräische Felder .................. 129 Pinatubo, Vulkan ...................... 128 Planetengesetze ........................ 199 Plankton .......................................94 Platon..................... 21, 30, 104, 105 Plattentektonik … 73, 83, 86, 87, 94, 95, 133 Plazentatiere ....................... 92, 162 Pleistozän ….. 93, 94, 95, 101, 117, 139, 141, 144, 146 Plesiosaurier ................................91 Pliozän ................................. 94, 144 Plutonismus ........................ 68, 206 Plutonismus-NeptunismusStreit ..........................................68 Polwanderung ...................... 87, 93 Popper, Karl .............................. 207 Population................................. 156 posttraumatische Belastungsstörung ................ 197 posttraumatische Reifung ....... 197 posttraumatisches Wachstum ..................... 197, 198 225

Selbstorganisation .................... 200 Selektion............ 159, 200, 203, 205 Selektion, sexuelle .................... 155 Sepkoski, Joseph J. ................ 74, 78 Shelley, Mary ............................. 180 Siena ........................................... 187 Sintflut ................. 63, 101, 102, 104 Sizilien ........................................ 192 Soziobiologie ............................. 154 Sparsamkeitsprinzip ................. 203 spätmittelalterliche Wüstungsperiode .................. 138 Spencer, Herbert ....................... 154 Spezialisten ....... 157, 158, 163, 167 Steineisenmeteorit .................... 113 Steinheimer Becken .............. 80, 81 Steinmeteorit ............................. 113 Storm, Theodor......................... 136 Stratigraphie................................. 68 Stromatolithen ............................ 84 Sturmflut ................... 108, 135, 183 Stuttgart ................................. 13, 20 Südamerika ............................ 95, 96 Südostasien ............................... 145 Suevit ...................................... 81, 82 Sumatra ............................. 129, 134 Sünner, Rüdiger ........................ 201 Supervulkan...................... 110, 129 Systeme, dynamische ............... 199 Systeme, komplexe adaptive ... 200 Szenario multipler inter- ............... aktiver Ursachen (MIU) ........ 83 Tambora........... 110, 123, 124, 180, 181, 185 Taquet, Philippe.......................... 38

Rousseau, Jean-Jacques ............. 17 r-Strategen ................................. 165 Rudwick, Martin ........................ 44 Rungholt .................................... 136 Saaremaa, Insel ......................... 117 Sahara................................. 140, 147 Saint-Hilaire, Étienne Geoffroy 43 Samalas, Vulkan ....................... 127 San Francisco .................... 133, 183 San-Andreas-Verwerfung ....... 134 Sandoz-Katastrophe .......... 185, 186 Santorin/Thera ................. 104, 129 Sauerstoff ............ 85, 87, 88, 93, 94 Säugetiere ..........89, 90, 92, 96, 162, 178 Saussure, Horace-Bénédict ........... de ........................................ 17, 57 Savanne ......... 93, 99, 140, 143, 144 Scala Naturae .............................. 21 Schelling, Friedrich .............. 20, 21 Schellnhuber, Hans Joachim .. 150 Schickhardt, Heinrich................ 12 Schiller, Friedrich ....................... 20 Schindewolf, Otto Heinrich ...... 91 Schmetterlingseffekt ................ 199 Schmidt, Helmut ...................... 184 Schnecken.............................. 82, 92 Schneeball Erde … 84, 85, 93, 169, 205 Schwäbische Alb ......................... 16 Schwarzes Meer ........................ 103 Schwefelwasserstoff.................... 89 Sedimentation .......................... 206 Seebeben .................................... 133 Seegfrörne ................................. 137 226

Vielzeller ...................................... 85 Vögel ............................77, 100, 195 Völkerwanderung .................... 148 Vredefort-Krater ........................ 80 Vulkaneifel................................. 129 Vulkanexplosivitätsindex (VEI)............................... 123, 132 vulkanischer Winter ........ 123, 127 Vulkanismus ....76, 83, 92, 94, 122, 206 Vulkanologie ............................. 126 Vulnerabilität ............................ 189 Wahrscheinlichkeitsrechnung 199 Wallace, Alfred R. ................ 8, 205 Wanderratte .............................. 165 Warmzeit ........................... 100, 150 Wattenmeer .............................. 184 Wein ........................................... 148 Weizen ....................................... 174 Welle-Teilchen-Dualismus ..... 207 Weltenbrand ............................. 119 Weltklimarat, IPCC ................ 149 Weltuntergang .................. 107, 109 Werkzeuggebrauch.................. 144 Werner, Abraham Gottlob........ 68 Wesson, Robert ....... 158, 170, 172 Wikinger ................... 128, 148, 174 Wilhelm I................................... 180 Wilkesland-Krater...................... 78 Willensfreiheit .......................... 199 Wollnashorn ..................... 100, 140 World Trade Center................. 110 Württemberg ................11, 37, 180 Yin und Yang ............................ 200 Zukunftsforschung................... 110

Taupo, Vulkan.......................... 128 Tertiär ...........................................70 Tethys-Meer ............................. 143 Therapsiden.................................89 Thomas von Aquin .................. 108 Tintenfische .............................. 162 Toba-Katastrophentheorie ..... 129 Transformation .................... 50, 52 Transformismus ..........................67 Transmutation .......................... 153 Treibhauseffekt .............. 77, 92, 93 Trias ................................. 75, 90, 93 triassische Explosion ...................89 Trier, Lars von .......................... 110 Trilobiten .....................................87 Triskele ...................................... 118 Tschadsee .................................. 147 Tschernobyl............... 185, 186, 193 Tsunami ........... 102, 122, 126, 133, 134, 135, 177 Tübingen ................... 13, 17, 20, 91 Tundra ....................................... 147 Tunesien .................................... 192 Tunguska-Ereignis ................... 121 Tutanchamun ........................... 114 Ubiquisten................................. 165 Umweltkatastrophen .............. 185, 192, 194 Umweltschäden ........................ 173 Umweltschutz........................... 193 Unpaarhufer ....................... 92, 142 Urbanisierung .......................... 149 Variation ........................... 203, 205 Velikovsky, Immanuel ............ 112 Vesuv ......................................... 128 227