Genosdependenzen: Studien zur Arbeit am Mythos bei Aischylos 9783666252471, 3525252471, 9783525252475

128 17 27MB

German Pages [372] Year 2003

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Genosdependenzen: Studien zur Arbeit am Mythos bei Aischylos
 9783666252471, 3525252471, 9783525252475

Citation preview

Hypomnemata Untersuchungen zur Antike und zu ihrem Nachleben

Herausgegeben von Albrecht Dihle, Siegmar Döpp, Dorothea Frede, Hans-Joachim Gehrke, Hugh Lloyd-Jones, Günther Patzig, Christoph Riedweg, Gisela Striker Band 148

Vandenhoeck & Ruprecht

Sabine Föllinger

Genosdependenzen Studien zur Arbeit am Mythos bei Aischylos

Vandenhoeck & Ruprecht

Verantwortlicher Herausgeber: Christoph Riedweg

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN: 3-525-25247-1 Hypomnemata ISSN 0085-1671

© 2003, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen Internet: www.vandenhoeck-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeisung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Hubert & Co., Göttingen Einbandkonzeption: Markus Eidt, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt vorwort .................................................................................................................. 9 Einleitung ............................................................................................................ 11 1 Fragestellung und Ergebnis der Arbeit .................................................... 11 2 Die Problematik des griechischen Mythos .............................................. 13 2.1 Was ist ein Mythos? ............................................................................ 13 2.2 Mythos und Logos .............................................................................. 17 2.3 Die Literarizität griechischer Mythen .............................................. .23 2.4 Mythos und Tragödie: Die Bedeutung des Plots für die >Arbeit am Mythos< .............................................................................. 25 3 Schwerpunkte der Aischylosforschung .................................................. .3 4 1. Kapitel: Die Orestie ........................................................................................49 1 Das Satyrspiel. .............................................................................................. 52 2 Zur Forschungslage ................................................................................... .5 3 3 Die Vergangenheit: Atreus und Thyestes und die weitere ....................... . genealogische Verortung .......................................................................... .57 4 Agamemnon ................................................................................................. 60 4.1 Agamemnons Ermordung.................................................................... 60 4.2 Artemis' Zorn und Agamemnons Entscheidung zur Opferung Iphigenies .............................................................................................. 67 5 Die Person der Klytaimestra ....................................................................... 71 6 Der Muttermord des Orestes ...................................................................... 74 7 Die Relationen von Eltern und Kindern .................................................. 83 7.1 Agamemnon und Iphigenie................................................................. 85 7.2 Die Bedeutung der Kinder für ihre Eltern: der Kommos der Choephoren .......................................................................................... 86 7.3 Die Mutter-Sohn-Relation .................................................................. 95 8 Die Macht generationenübergreifender Wirkungen .............................. 97 9 Generationendependenzen bei Sophokles und Euripides .................. 104 10 Die Erinyen................................................................................................. 105 11 Der Kampf zwischen alten und jungen Göttern ................................... 11 0 12 Die Rolle der Chöre und der Polis ........................................................... 120 13 Zusammenfassung ..................................................................................... 130

6

Inhalt

2. Kapitel: Die Sieben gegen Theben ............................................................ 133 1 Die Tetralogie ............................................................................................. 134 2 Zur Forschungslage .................................................................................. 139 3 Das Schicksal des Laios ............................................................................ 145 4 Die Rolle des Oidipus ................................................................................ 150 5 Missing lokaste .......................................................................................... 152 6 Die Abstammung von Eteokles und Polyneikes ................................... 153 7 Oidipus' Fluch ............................................................................................ 154 7.1 Der Grund für Oidipus' Fluch ............................................................ 154 7.2 Inhalt und Bedeutung von Oidipus' Fluch ..................................... 157 8 Der Grund für den Bruderstreit ............................................................... 161 9 Die Bruderkampfthematik bei Sophokles und Euripides .................... 170 10 Die Verbindung des Konfliktes von Genos und Polis, Individuum und Gemeinschaft mit der Generationendependenz ............................ 172 11 Zusammenfassung ..................................................................................... 179 3. Kapitel: Die Hiketiden ................................................................................. 181 1 Die Datierung der Hiketiden .................................................................... 183 2 Die Tetralogie ............................................................................................. 187 3 Zur Forschungslage .................................................................................. 191 4 Der Grund für die Flucht der Danaiden.................................................. 194 5 Die Gestaltung der Danaiden.................................................................. 205 6 Die Rolle des Danaos, Bruderstreit, Orakel und Flucht aus Ägypten .............................................................................................. 208 7 Die Vater-Tochter-Relation in den Hiketiden ....................................... 210 8 Die Asylthematik ....................................................................................... 213 9 10 und die Genealogie der Danaiden ...................................................... 216 10 Die Stellung der Generationenthematik im Gesamtdrama .................. 226 11 Zusammenfassung .................................................................................... 234 4. Kapitel: Die Perser ...................................................................................... 236 1 Die Tetralogie ............................................................................................ 237 2 Die Perser als historisches Drama und ihr Verhältnis zu Dramen mit mythischen Sujets ...................................................................................... 241 3 Aischylos und Phrynichos ...................................................................... 249 4 Der Konflikt zwischen Vater und Sohn: Xerxes als Neuerer und Versager ..................................................................................................... 254 5 Xerxes' genealogische Verortung und die Bedeutung der Orakel.... 268 6 Die Genealogie der Völker in Atossas Traum ....................................... 277 7 Der Chor als Altersgenosse des Dareios und Kritiker des Xerxes ..... 279 8 Die Rolle des Daimon............................................................................... 282 9 Zusammenfassung ..................................................................................... 286

Inhalt

7

5. Kapitel: Die Fragmente ............................................................................... 288 Zusammenfassung ........................................................................................... 302 1 Ergebnisse ................................................................................................. 302 2 Bewertung und Einordnung der Ergebnisse ....................................... .316 3 Ausblick: Vergleich mit einem modemen Dependenzmodell ............. 322 Literaturverzeichnis ........................................................................................ 327 Register ............................................................................................................. 348 1 Personen und Sachen................................................................................. 348 2 Stellen ........................................................................................................... 356

Vorwort

Diese Arbeit stellt die überarbeitete Fassung meiner Habilitationsschrift dar, die ich 1999 unter dem Titel »Mythos bei Aischylos« beim Fachbereich 15.3, Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz eingereicht habe. Für hilfreiche Diskussionen schulde ich insbesondere den Professoren Jochen Althoff und Walter Nicolai, Mainz, Dank. Mein Dank gilt auch Herrn Professor Christoph Riedweg, Zürich, der mir wertvolle Anregungen gab und mich auf das Werk von Leopold Szondi hinwies. Herrn Dr. Rainer Thiel, Marburg, danke ich für die großzügige Überlassung seiner Bibliographie zum Agamemnon. Für vielfältige Hilfe bei den Korrekturen in verschiedenen Stadien des Manuskripts sei Frau Ursula Föllinger, Frau Anja Holtmeier, Herrn Egon Strauch und Herrn Dr. Oliver Sto11 gedankt. Den Herausgebern der »Hypomnemata« danke ich für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe.

Mainz, Februar 2003

Sabine Föllinger

Einleitung

1 Fragestellung und Ergebnis der Arbeit Unter dem Namen des Aischylos (525 bis 456 v. ehr.),l dem in der Entwicklung der Gattung Tragödie eine besondere Rolle zugeschrieben wird,2 sind uns sieben vollständige Tragödien erhalten,3 zahlreiche Fragmente aus verlorenen Tragödien und aus einigen Satyrspielen können ihm mit mehr oder minder großer Wahrscheinlichkeit zugewiesen werden. Alle Stücke, außer der ein historisches Ereignis der jüngsten Vergangenheit behandelnden Tragödie Die Perser,4 haben mythische Erzählungen zum Inhalt. Ihre Sujets stammen aus älteren Dichtungen, die uns zum einen in den homerischen Epen, den Werken Hesiods und der lyrischen Dichter vorliegen, zum anderen nur noch aus bei späteren Autoren überlieferten Bruchstücken oder Inhaltsangaben erschlossen werden können, wie es etwa für den Epischen Kyklos der Fall ist. Daß Aischylos selbst seine Arbeitsweise als Rezeption im Sinne einer bewußten Auswahl aus den überkommenen mythischen Traditionen verstanden habe, besagt der für ihn überlieferte Ausspruch, seine Tragödien seien »Schnitten ('tE~ciX'rl) von dem großen Mahle Homers«5. Dieser programmatischen Aussage über Aischylos' poetische Vorstellungen wurde, wie Lloyd-Jones bereits 1955 anmahnte,6 in der

1 Aischylos wird nach der Textaugabe von West zitiert, Abweichungen werden vermerkt. 2 Aischylos spielt in der Entwicklung der Tragödie nicht allein deshalb eine wichtige Rolle, weil die Überlieferungslage für Thespis, der überhaupt als erster Tragödien in Athen zur Aufführung gebracht haben soll, und für Aischylos' ältere Zeitgenossen Choirilos und Phrynichos desolat ist (vgl. hierzu Latacz, Einführung in die griechische Tragödie, 79-85), sondern weil er es war, der laut Aristoteles die Rolle des Chores verkleinerte und den Dialog zur Hauptsache machte (Po. 4. 1449a17f.). Überdies ist nach der communis opinio der Forschung sein Werk auch von der inhaltlichen Seite her besonders exponiert und läßt ihn so als ersten der drei großen Tragiker erscheinen (vgl. Murray, Aeschylus. The Creator of Tragedy, passim; Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, 279ff.; Latacz, Einführung in die griechische Tragödie, 86ff.). 3 Zum Prometheus s. unten, S. 3l. 4 Zu den Persern s. unten, 4. Kapitel, 2). 5 .. ' 'ta~ a:\)'to'Ü 'tpaycpöia~ 'tE~aXT\ dvat EAEYEV 'tmv 'O~T\pou ~EyaA.COV oobtvcov (= Test. 1I2a Radt). 6 Zeus bei Aischylos, 294.

12

Einleitung

Forschung zuwenig Bedeutung beigemessen. 7 Denn sie reflektiert die Tatsache, daß Aischylos' Werke das Ergebnis eines - im Bild des Schneidens zum Ausdruck gebrachten - innovativen Zugriffs auf die - durch das Bild des »großen Mahle Homers« versinnbildlichte - reiche Tradition darstellen. Diese Tradition stellte Aischylos ein Repertoire an Mythen zur Verfügung, die Allgemeingut waren. Mythen8 bildeten für die Griechen nicht nur, wie zum Beispiel die Erzählung des Trojanischen Krieges, Erzählungen aus der Vergangenheit, sondern sie waren auch in der jeweiligen Gegenwart allgegenwärtig: in mündlicher und literarischer Erzählung, in bildender Kunst und im Kult, durchzogen also das gesamte gesellschaftliche Leben. Ihre Gestaltung war durch die jeweilige Gegenwartserfahrung und auch die individuellen Abwandlungen eines Künstlers der Veränderung unterworfen. Dieses Prinzip der verändernden Aneignung, das aus dem Spannungsverhältnis von Tradition und Innovation lebt, prägte auch Aischylos' poetische Arbeitsweise. Obwohl es eigentlich ein für die poetische Praxis antiker Autoren bekanntes Vorgehen ist, stellt eine - bereits in Lloyd-Jones' Aussage als Defizit verbuchte - systematische Untersuchung des Spannungsverhältnisses von Tradition und Innovation in der Tragödienproduktion - nicht nur - für Aischylos ein Desiderat der Forschung dar, wie etwa Lehmanns erstaunte Feststellung 1991 klarmacht, daß die Untersuchung des Verhältnisses von Tradition und Innovation als des bestimmenden Prinzips für die Produktion der klassischen griechischen Tragödie erst eine junge Entdeckung der Forschung sei. 9 Als Beitrag zur ErheBung des Spannungsverhältnisses von mythischer Tradition und Innovation in den Aischyleischen Tragödien versteht sich die vorliegende Untersuchung. Es geht also um den Komplex, den Hans Blumenberg lO mit einer berühmten Formulierung als »Arbeit am Mythos« bezeichnet hat. Darauf weist der zweite Teil des von mir gewählten Titels, »Studien zur Arbeit am Mythos bei Aischylos«, hin: Das Ziel war es, durch eine Untersuchung von Aischylos' Umgang mit der mythischen Tradition zu Aussagen über spezifische Gewichtungen und Akzentsetzungen zu gelangen. Dies bedeutete - auf der Basis der aristotelischen Tragödien-

7 Diese Bedeutung ist unabhängig davon, ob es sich tatsächlich um eine authentische Aussage des Dichters handelt oder ob sie, wie so manche aus der Antike überlieferte Selbstaussage oder Anekdote, aus seinem Werk herausgesponnen wurde. 8 Zum folgenden s. ausführlich unter 2. 9 Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, 16. 10 Dies ist der Titel seiner 1979 erschienenen grundlegenden Untersuchung (51990). Hierzu vgl. unten, S. 20f.

Einleitung

13

theorie 11 -, Spezifika des tragischen Plots zu analysieren. Das Ergebnis dieser Analysen ist in dem den ersten Teil meines Titels bildenden Begriff »Genosdependenzen« schlagwortartig benannt. Denn als Resultat der folgenden Untersuchungen wird sich zeigen, daß das Besondere von Aischylos »Arbeit am Mythos« darin besteht, Genosdependenzen in den Mittelpunkt zu stellen. Mit dem Begriff »Genosdependenzen« umfasse ich alle Abhängigkeiten und Interaktionen von zwei oder mehr Generationen in einseitiger und reziproker Richtung und in unterschiedlichen - positiven und negativen - Spielarten.1 2 Dabei handelt es sich um Dependenzen, die nicht nur das System Genos, sondern auch das System Polis betreffen und neben der Generationenproblematik von Alt - Jung die Dialektik von Alt - Neu mit umgreifen. Gerade diese Vielschichtigkeit von Vergangenheit und Gegenwart verknüpfenden systemischen Kausalzusammenhängen macht die Komplexität der Aischyleischen Tragödien aus)3 Da, wie gesagt, die Erkenntnis zur Bedeutung der Genosdependenzen ein Resultat von Beobachtungen zu Aischylos' »Arbeit am Mythos« darstellt, sind zuerst grundsätzliche Erläuterungen zum Problemfeld »Griechischer Mythos«, insbesondere zu seiner literarischen Seite, nötig. 2 Die Problematik des griechischen Mythos

2.1 Was ist ein Mythos? Trotz des lebhaften Interesses verschiedener Disziplinen am Phänomen Mythos existiert keine allgemein akzeptierte Definition von Mythos, wie Burkert 1993 resümierte.1 4 Für die folgenden Untersuchungen ist seine Bestimmung von Mythos grundlegend: 15 Er faßt Mythen als traditionelle Erzählungen, die - auf biologisch oder kulturell vorgegebenen Aktionsprogrammen beruhende - Sinnstrukturen bilden und eine komplexe,

11 Zum methodischen Zugang vgl. unten, 2,4) .. 12 Eine solche Form - aber eben nur eine neben anderen - stellt etwa der für die Orestie bekannte »Geschlechterfluch« dar. 13 Die religiöse Einbettung der Geschehen habe ich, insofern sie integraler Bestandteil der Kausalzusammenhänge ist, mit berücksichtigt. Doch steht die Frage nach der religiösen Aussage der Tragödien und der religiösen Innovativität des Aischylos, die eine Zeitlang die Aischylosforschung beherrschte (vgl. zur Forschungsgeschichte, unten, S. 38ff.), nicht im Zentrum dieser Arbeit, die vielmehr dem Verhältnis der systemischen und generationenübergreifenden Zusammenhänge von Vergangenheit und Gegenwart gewidmet ist. 14 Mythos - Begriff, Struktur, Funktionen, 9. 15 Vgl. etwa Burkert, Mythisches Denken. Versuch einer Definition an Hand des griechischen Befundes; ders., Mythos - Begriff, Struktur, Funktionen.

14

Einleitung

überindividuelle Wirklichkeitserfahrung verbalisieren. Zwei Aspekte dieser Definition verdienen eine nähere Betrachtung: 16 Der erste betrifft die Bestimmung, daß Mythen traditionelle Erzählungen sind: »Auch die symbolischen Beziehungen sind im kulturellen Kontext erlernt, werden kopiert oder gegebenenfalls variiert. Die scheinbar banale These von den Mythen als >traditionellen Erzählungen< erweist sich damit freilich als keineswegs simpel, sondern durchaus vertrackt, ist doch die Frage, wie eigentlich Tradition sich gestaltet und erhält, ein Grundproblem aller Kulturwissenschaften.«17 Da Voraussetzung für die in einer bestimmten Gesellschaft geltende Bedeutung von Mythen ihre Tradierung ist, stellt also gerade sie das eigentlich Wesentliche eines Mythos dar, nicht aber, wie die Romantik glaubte, die - vermeintliche - Tatsache, daß er einen Ursprung bzw. eine Frühzeit repräsentiere. Auch junge Mythen können »die mythischen Funktionen erfüllen und historisch zu voller Wirkung kommen«18. Und so können auch von individuellen Autoren erfundene oder gestaltete Erzählungen durch Tradierung zu Mythen werden 19 - ein Phänomen, das für die Aischyleische Tragödie im speziellen und für die Tragödie im allgemeinen zutrifft. Als Beispiel läßt sich der Oidipusmythos anführen, bei dem zwar die inzestuöse Verbindung des Oidipus mit seiner Mutter schon in der Odyssee erwähnt wird, aber die inzestuöse Zeugung von Söhnen und die Selbstblendung aller Wahrscheinlichkeit nach um einiges jüngere Versionen sind,2o die aber zu unserem Verständnis des Oidipusmythos dazugehören - ganz abgesehen davon, daß Oidipus' stufenweise Erkenntnis seiner Taten, durch die diese ans Licht kommen, für uns, die wir unter dem Einfluß der Sophokleischen Tragödie stehen, ein zentrales Motiv darstellt, in der Odyssee hingegen es die Götter sind, die die inzestuöse Verbindung von Oidipus und lokaste den Menschen bekannt machen (l1,27lff.).21 Außerdem läßt Sophokles Oidipus - aller Wahrscheinlichkeit nach im Unterschied zu Aischylos, wenn Roberts Annahme richtig ist22 - seinem Vater Laios begegnen, nachdem er vom Orakel sein Schick16 Der Frage, inwieweit diese Sinnstrukturen biologisch oder kulturell geprägt sind, will ich in diesem Rahmen nicht weiter nachgehen. 17 Burkert, Mythos - Begriff, Struktur, Funktionen, 16. 18 Burkert, Mythos - Begriff, Struktur, Funktionen, 20. Überhaupt ist die Altersbestimmung eines griechischen Mythos unter Umständen schwierig, vgl. Burkert, Mythos - Begriff, Struktur, Funktionen, 20. Vgl. 19. 19 Burkert, Mythisches Denken, 18. 20 Vgl. hierzu Flashar, Hegel, Oedipus und die Tragödie des Sophokles, vor allem 12. 21 Vgl. hierzu auch Flashar, Familie, Mythos, Drama am Beispiel des Oedipus, 56; Calame, Introduction: Evanescence du mythe et realite des formes narratives, 11. 22 S. dazu die Ausführungen zu den Sieben, S. 135f.

Einleitung

15

sal (Vatermord) erfahren hat, was für die Deutung von Oidipus' Verhalten wichtige Konsequenzen beinhaltet. Ein weiteres Exempel stellt der Medeamythos dar. Medea wurde aller Wahrscheinlichkeit nach erst von Euripides zu einer Kindsmörderin gemacht; in früheren Sagenversionen23 brachten andere ihre Kinder um. Diese individuelle Erfindung des Euripides setzte sich in der späteren Rezeption so durch, daß sie die Tradition wurde und wir heutzutage mit dem Namen Medea sofort die Gestalt der kindermordenden Mutter verbinden. Darüber hinaus sei bereits hier auf den Danaidenmythos verwiesen, der für uns die Aufnahme der Danaiden in Argos durch den König Pelasgos beinhaltet, dessen Verbindung mit dem Danaidenmythos aber wohl eine Erfindung des Aischylos darstellt und in früheren Sagenversionen so nicht vorkam. 24 Gerade die Veränderungen durch den einzelnen Autor verändern auch den Aussagewert der mythischen Erzählung, so daß derselbe Mythos, oder sagen wir besser: der um dieselbe Gestalt kreisende Mythos, also etwa die Erzählung von Oidipus,25 je nach Gestaltung eine unterschiedliche Deutung bewirkt - abgesehen davon, daß es unter Umständen gar nicht so klar ist, was zum Kernbestand eines Mythos gehörte. Vieles etwa, was wir heute als den Mythos einer bestimmten Person sehen, ist erst durch die Ovidische Fassung zu einem solchen geworden. 26 Was die Tragödie betrifft, so sind es laut Aristoteles' Poetik 17 gerade die Veränderungen des individuellen Dichters am Plot, die den um einen Heros kreisenden Mythos zu einem spezifischen Deutungsangebot gestalten. Ich werde darauf zurückkommen.27 Zu der Bestimmung eines Mythos als einer traditionellen Erzählung gehört die Tatsache, daß Mythos nicht von Sprache zu trennen ist, da er stets eine Erzählung, also eine narrative Sequenz darstellt - ein Punkt, dessen Vernachlässigung durch die Strukturalisten immer wieder Kritik auf sich zieht. 28 Insofern ist Burkerts Argumentation gegen Neschke-Hentschke 29 zuzustimmen, daß bildliche Darstellungen nicht mit den sprachlichen gleichzusetzen sind, da es etwa »>personnages traditioneis< ohne Namen, d.h. ohne sprachliche Fixierung«3o nicht geben kann. Dem entspricht das 23 Vgl. von Fritz, Die Entwicklung der Jason-Medea-Sage und die Medea des Euripides. 24 Zum Danaidenmythos s. 3. Kapitel. 25 S. hierzu oben, S. 14. 26 Vgl. Burkert, Mythos und Mythologie, 34: »Der heutige Mythologe ist sich vielleicht nicht immer bewußt, wie ovidisch er noch meist den Mythos sieht.« 27 S. unten, 2,4). 28 Vgl. etwa Graf, Griechische Mythologie, 50-52; Neschke-Hentschke, Griechischer Mythos und strukturale Anthropologie. 29 Mythe et traitement litteraire du mythe en Grece Ancienne, 52. 30 Burkert, Mythos - Begriff, Struktur, Funktionen, 15.

16

Einleitung

Ergebnis von Fittschens Untersuchungen, demzufolge es im griechischen Raum bildliche Darstellungen von Mythen nicht vor dem Ende des 8. Jhdts. gibt,31 ihr Entstehen also in die Zeit nach der schriftlichen Mythenfixierung fällt. Aber auch unabhängig von der schriftlichen Fixierung eines Mythos muß doch stets die sprachliche Formulierung der bildlichen voraufgehen,32 da ohne sie die bildliche Fixierung, die ja Handlungssequenzen gewissermaßen abkürzt, indem sie sie in eine einzige zeitliche Dimension umsetzt, nicht stattfinden kann,33 Das zweite wichtige Element in Burkerts Mythosdefinition ist, daß die besondere, den Text der mythischen Erzählung transzendierende Funktion der Sinnstruktur Mythos sich in der überindividuellen Bedeutung, die ein Mythos hat, zeigt. 34 Dabei hat Bremmer die Definition Burkerts, ein Mythos habe eine kollektive Bedeutung, dahingehend modifiziert, daß diese Bedeutung gesellschaftlicher Art sei,35 und auch Graf hob hervor, daß ein Mythos »allein für eine in Ort und Zeit festumrissene Gemeinschaft, in deren Tradition er ausgeformt wird«, gilt und daß er sich mit den Umständen ändern und sich diesen anpassen kann. 36 Ein Mythos stellt also nicht die Widerspiegelung von Wirklichkeit dar, sondern Mythen werden >angewandt< im Sinne von Exempla oder Sinnangeboten, wobei 31 Fittschen, Untersuchungen zum Beginn der Sagendarstellungen bei den Griechen (1969); Burkert, Mythos - Begriff, Struktur, Funktionen, 15. 32 Zum Problem des Verhältnisses von Text und Bild bei der Entstehung von Sagenbildem vgl. Cook, Art and Epic in Archaic Greece (zum möglichen Einfluß von Volkserzählungen); Mommsen, Achill und Aias pflichtvergessen?; dies., Zur Deutung der Exekias-Amphora im Vatikan; Shapiro, Myth into Art, vor allem 1-10; Knittlmayer, Die attische Aristokratie und ihre Helden, 20. Gerade der mögliche Einfluß von Stesichoros' Werk, das uns nur noch sehr bruchstückhaft erhalten ist, ist umstritten. Vgl. dazu Prag, The Oresteia, 73ff. 33 Darüber hinaus muß der Künstler damit rechnen können, daß das auf dem Bild Dargestellte erkannt wird, und dabei setzt die Fähigkeit, eine bildlich dargestellte Person und Handlung als die und die Person und das und das Ereignis deuten zu können, die sprachliche Sequenz voraus - unabhängig davon, ob der Mythos in mündlicher oder schriftlicher Erzählung vorliegt, und ungeachtet der Tatsache, daß der Bildende Künstler verschiedene Versionen vermischen und Eigenes hinzuerfinden kann. Zur Innovation des Bildenden Künstlers bei der Verwendung tradierter Mythen s. Bremmer, Greek Religion, 64. 34 Vgl. Burkert, Mythos - Begriff, Struktur, Funktionen, 17, wo er zwar den früher von ihm geprägten Begriff der »Anwendung« für zu allgemein erklärt, aber gegen die Semiologen auf einer auch denotativen Dimension des Mythos beharrt. Die Problematik der Namen ist wiederum für die Tragödie interessant, insbesondere, wenn man Aristoteles' Anleitung fürs Tragödienschreiben bedenkt, worauf weiter unten einzugehen sein wird. 35 What is a Greek Myth?, 7: »>traditional tales relevant to society«Arbeit am Mythos< stellt den schon seit je existierenden und nie endenden Versuch des Menschen dar, die ihn umgebende, als übermächtig erfahrene Realität - Blumenberg spricht vom »Absolutismus der 53 Die deutsche Übersetzung erschien 1987. 54 Leider fehlt seiner wichtigen Studie eine gewisse Systematik, was sie zu einer Fülle von zum Teil assoziativ verbundenen Einzelbeobachtungen macht. V gl. auch die kritische Auseinandersetzung mit Veyne bei M€heust, Les Occidentaux du xxe siec1e ont-i1s cru aleurs mythes? 55 Mythos und Vernunft. Zum Mythenverständnis der Aufklärung, 151. 56 Poser, Mythos und Vernunft. Zum Mythenverständnis der Aufklärung, 150. S. auch die grundlegende Arbeit von Blumenberg, Arbeit am Mythos. 57 Vgl. Poser, Mythos und Vernunft. Zum Mythenverständnis der Aufklärung, 152: »Hier nun zeigt sich, daß gar nicht festliegt, was Vernunft, was rationales Argumentieren, welches die unzweifelhaften Voraussetzungen sind. Vernunftwahrheiten, gemeint als zeitlos gültige Wahrheiten, hängen - was ihren Geltungsanspruch anlangt - ab von einem jeweils akzeptierten zeitlich variablen Horizont des Vernünftigen! Hieraus folgt, daß sich keine befriedigende Definition finden läßt, die umreißt, was wesentliche Eigenschaften von Mythen sind und vor allem, was das Mythische ist: Es bleibt immer bei einer Form der Abgrenzung gegen ein schon Gemeintes und Vermeintes, das explizierbar ist, verbunden mit der Intention, das vermeinte Mythische entweder als irrational-unvernünftig zu disqualifizieren oder als prärational der rationalen Rekonstruktion sich entziehend, aber elementar lebensbestimmend, positiv zu sehen.« Daß die Griechen den Trojanischen Krieg nicht als Mythos, sondern als geschichtliches Faktum betrachteten, könnte daran liegen, daß er im allgemein akzeptierten Horizont des Vernünftigen lag, im Gegensatz zu vielen anderen mythischen Erzählungen, die der Mythenkritik, wie sie etwa Xenophanes vertrat, unterzogen wurden. Zu Xenophanes' Mythenkritik vgl. Schäfer, Xenophanes von Kolophon, vor allem 146ff. Eine prinzipielle Auseinandersetzung mit dem Einfluß des Entwicklungsgedankens auf die modeme Mythenforschung bietet der jüngst von Buxton herausgegebene Sammelband »>From Myth to Reason?< Studies in the Development of Greek Thought«; vgl. ebd. vor allem den Beitrag von Most, vor allem 25-31.

Einleitung

21

Wirklichkeit«58 - deutend zu ordnen: »Arbeit am Mythos« ist »eine große und lastende Anstrengung der Generationen, sich die Übermacht ins Bild zu setzen, das Übergroße zu sich heran- und herunterzuziehen, mit dem besten Recht dessen, der sich so das Leben möglich macht. Was dem Liebhaber des tragischen Pessimismus als philiströse Degeneration erscheint, ist dies als im Mythos schon angelegte und sich immer wieder selbst antreibende Depotenzierung dessen, was noch hinter dem Mythos als das selbst Unmythische, weil Bildlose und Gesichtslose ebenso wie Wortlose steht: das Unheimliche, Unvertraute - die Wirklichkeit als Absolutismus.«59 So sind Mythos und Logos keine Gegenbegriffe, sondern: »Die Grenzlinie zwischen Mythos und Logos ist imaginär und macht es nicht zur erledigten Sache, nach dem Logos des Mythos im Abarbeiten des Absolutismus der Wirklichkeit zu fragen. Der Mythos selbst ist ein Stück hochkarätiger Arbeit des Logos.«6o Darum ist auch der entwicklungsgeschichtlichen Vorstellung einer Entwicklung vom Mythos zum Logos eine Absage zu erteilen: »Die klassische Desinformation, die in der Formel vom Mythos zum Logos liegt und in der Unentschiedenheit Platos zwischen Mythos und Logos noch unschuldig schlummert, ist dort fertig, wo der Philosoph im Mythos nur die Identität der Gegenstände erkennt, für die er das abschließende Verfahren gefunden zu haben glaubt. Der Unfug jener sinnfälligen Geschichtsformel liegt darin, daß sie im Mythos selbst nicht eine der Leistungsformen des Logos anzuerkennen gestattet.«61 Darum gibt es auch »kein Ende des Mythos, obwohl es die ästhetischen Kraftakte des Zuendebringens immer wieder gibt.«62 Wenn man die vorhergehenden Überlegungen auf die Fragestellung dieser Arbeit anwendet, läßt sich also sagen: Arbeit am Mythos leistet auch der Tragödiendichter der griechischen Antike, der in die überlieferten My58 Arbeit am Mythos, passim, v. a. 9ff. 59 Arbeit am Mythos, 368f. Vgl. auch ebd., 13: »Welt zu haben, ist immer das Resultat einer Kunst, auch wenn sie in keinem Sinne ein >Gesamtkunstwerk< sein kann. Davon ist eben unter dem Titel >Arbeit am Mythos< etwas zu beschreiben.« 60 Arbeit am Mythos, 18. 61 Arbeit am Mythos, 33f. V gl. auch 34: »Daß der Gang der Dinge vom Mythos zum Logos vorangeschritten sei, ist deshalb eine gefährliche Verkennung, weil man sich damit zu versichern meint, irgendwo in der Ferne der Vergangenheit sei der irreversible Fortsprung getan worden, der etwas weit hinter sich gebracht zu haben und fortan nur noch Fortschritte tun zu müssen entschieden hätte.« Zu Platons Mythenauffassung vgl. jetzt Pietsch, Mythos als konkretisierter Logos. Platons Verwendung des Mythos am Beispiel von Nomoi X 903B-905D. Nach seiner These besteht zwischen Platons Logos und Mythos keine Differenz oppositioneller oder komplementärer Art, sondern der Mythos tritt ein, wenn »eine dem Logos adäquate Empirie nicht verfügbar« ist (I 14). 62 Arbeit am Mythos, 685.

22

Einleitung

then eingreift, um durch die Veränderungen ein Stück Realitätsdeutung zu geben. Alle diese Ausführungen sind wichtig, um eine Annäherung an einen möglichen Zugang der Athener des 5. Jahrhunderts zum Mythos zu versuchen. Wir können also davon ausgehen, daß auch schon vor Thukydides, der selbst, wie gesagt, mythische Überlieferungen wie die vom König Minos und vom Trojanischen Krieg nicht prinzipiell kritisierte, die Griechen nicht alles in den griechischen Mythen für real hielten, sondern daß einige Erzählungen als wahr im Sinn von unserem 'historisch wahr' und andere vielleicht nicht als historisch wahr, aber wahr im Sinne eines, wie man es sozusagen post Jestum ausdrücken muß, Wirklichkeitszuganges und einer Wirklichkeitserklärung angesehen wurden. Was die Tragödie angeht, gibt es unterschiedliche Arten der Wirklichkeitserklärung, die man in ihr erkennen kann. So können die athenischen Zuschauer die Tragödien, wie dies von breiten Schichten der modernen Forschung angenommen wurde, als religiöses Sinnangebot verstanden haben. Sie können in den Dramen eine ethisch-didaktische Paränese gesehen haben, sei es im allgemeinen Bereich der condition humaine (wie dies die klassisch-humanistische Deutung auffaßt), sei es im politischen Bereich (wie dies schon in der Rezeption des Aristophanes und, allerdings mit anderer Auffassung vom Inhalt der politischen Erziehung, in jüngerer Zeit vor allem von Christian Meier vertreten wurde). Sie können auch tagespolitische Stellungnahmen in ihnen erkannt haben. Welche Interpretation überwog, ist nicht mehr auszumachen und dürfte so eindeutig wohl auch gar nicht auszumachen sein, da dem die Mehrdeutigkeit von Mythen allgemein und der Tragödie im speziellen widerspricht. In jedem Falle ist aufgrund der Tatsache, daß Arbeit am Mythos kein spätes Phänomen ist, sondern den Umgang der Griechen mit den Mythen stets prägte, Lehmanns Behauptung, der Mythos sei der Tragödie fremd, zurückzuweisen. Denn sein Urteil »Der Mythos ist der Tragödie inhärent, aber zugleich dreifach fremd: als Stoff aus einer anderen Epoche, als Produkt einer nicht mehr unangefochtenen Denkweise und gegeben in einer Form, der epischen vor allem, gegen die sich der neue Diskurs des tragischen Theaters abhebt«63 mißachtet die in der dichterischen Innovation sich manifestierende Historizität griechischer Mythen. 64

63 Theater und Mythos. Die Konstitution des Subjekts im Diskurs der antiken Tragödie, 15. 64 Dies hängt auch damit zusammen, daß Lehmann die griechischen Mythen schlichtweg als ein Relikt aus mykenischer Zeit betrachtet (ebd., 14).

Einleitung

23

2.3 Die Literarizität griechischer Mythen Mit der Historizität griechischer Mythen hängt eine Problematik zusammen, auf die bereits hingedeutet wurde, die aber in Umfang und Bedeutung von der Forschung nicht immer ausreichend gesehen wird: Es handelt sich um die Literarizität griechischer Mythen. 65 Anders als für die Mythenerforschung moderner Gesellschaften, die durch Feldforschung auch den Zugriff auf mündlich tradierte Mythen hat, ist dies demjenigen, der sich mit den Mythen der griechischen Antike beschäftigt, naturgemäß verwehrt. Allenfalls können mündliche Überlieferungen erschlossen oder auf spekulative Weise rekonstruiert werden. Hinzu kommt, daß für die Mythenbildung individuelle dichterische Prägung, beginnend mit den homerischen Epen, normativen Einfluß hatte. Dies ist in gewisser Weise konträr dazu, daß man gemeinhin - insbesondere aber die ethnologische Forschung 66 - Mythen als besonders wichtig für schriftlose Gesellschaften annimmt, in denen sie eine zentrale Rolle für die Vermittlung von Wirklichkeitserfahrung spielten. Diese Auffassung vertritt auch Burkert, er räumt aber die Schwierigkeit einer solchen These ein, die darin besteht, daß uns empirische Nachweise für die Stabilität mündlicher Tradition bei den Griechen fehlen. 67 Doch während Burkert hervorhebt, daß sogar die von individuellen Autoren erfundenen oder gestalteten Erzählungen zu Mythen werden können, da das Entscheidende nicht die »kreative Produktion«68, sondern die Tradierung sei, sieht Graf eine Krise des Mythos darin gegeben, daß die »einmal dichterisch gestaltete Version« an die Stelle der stets neu erzählten Tradition trete. 69 Es scheint also, als ob zwei verschiedene Thesen zur Stabilität von Mythen existierten: einmal, daß die Stabilität einer mythischen Erzählung ein Kennzeichen mündlicher Tradierung sei (so Burkert), ein andermal, daß sie eine Folge der schriftlichen Fixierung darstelle (so Graf7 0). Tatsache ist, daß wir die Stabilität griechischer Mythen in einer schriftlosen Zeit nicht nachprüfen können, daß sie aber so, wie sie uns vorliegen, nämlich als dichterische Werke, eine große Variabilität aufweisen. 65 Vgl. hierzu Burkert, Mythos und Mythologie, 11-35; Graf, Griechische Mythologie, 111: »Mythen sind Erzählungen, gehorchen den Gesetzen der literarischen Gattung.« 66 Vgl. Kirk, Griechische Mythen. Ihre Bedeutung und Funktion, 14. 67 Mythisches Denken, 17 mit Anm. 7. 68 Mythisches Denken, 18. 69 Griechische Mythologie, 9. 70 Diese Meinung vertritt auch Kirk, der davon ausgeht, daß in illiteralen Gesellschaften Erzählungen keinen ganz festgelegten Verlauf aufwiesen (siehe seine Ausführungen in dem Kapitel »Das Verhältnis von Mythen und Volkserzählungen«, in: Griechische Mythen. Ihre Bedeutung und Funktion).

24

Einleitung

Die Unterschiedlichkeit in der narrativen Sequenz ist es, die eine Anwendung strukturalistischer Deutungsschemata unbefriedigend erscheinen läßt. So wies Kirk in seiner Kritik an der strukturalistischen Deutung griechischer Mythen7l unter anderem auch auf den literarischen Charakter griechischer Mythen hin72 und sah, in Absetzung von sonst üblichen Thesen, den Grund für die Veränderungen von Mythen weniger in bestimmten Veränderungen gesellschaftlicher Bedürfnisse als vielmehr in der Entstehung neuer literarischer Techniken und in bestimmten ästhetischen Zielsetzungen gegeben. Hierzu ist zu sagen, daß das eine das andere nicht ausschließt, sondern daß vielmehr bestimmte ästhetische Zielsetzungen und neue literarische Techniken mit veränderten politisch-kulturellen Rahmenbedingungen zusammenhängen, wobei aber durchaus nicht, wie dies marxistische Theorien tun, eine Kausalität in nur einer Richtung anzusetzen ist, daß nämlich Dichtung das Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse sei, sondern auch damit zu rechnen ist, daß Dichter mit ihrer Dichtung bestimmte Verhältnisse mit initiieren, so daß man wohl eher von einer Interdependenz von Dichtung und soziokulturellem Kontext zu sprechen hat. Wenn man das Charakteristikum griechischer Mythen, daß sie historisch gewachsene Erzählungen darstellen, ernst nimmt, kann man jede Version eines Mythos als einen eigenen genuinen Mythos würdigen, ohne der Gefahr zu unterliegen, etwa bestimmte literarische Gestaltungen als deteriore Spätformen zu betrachten. Die Anregungen, die die schöpferische Aneignung eines Mythos leiten, können dabei aus Volkserzählungen, aus literarischen Gestaltungen, aus Elementen des Kults oder aus Darstellungen der Bildenden Kunst73 stammen,74 So sind auch die Tragödiendichter Mythenschöpfer. 75

71 Vgl. Anm. 72. 72 Vgl. sein Kapitel »Griechische Mythen in der Literatur«, in: Griechische Mythen. Ihre Bedeutung und Funktion, 91ff. 73 Zum problematischen und noch nicht ausreichend erforschten Verhältnis von Text und Bild vgl. Anm. 32. 33. 74 Was die Mythensammler Apollodor und Pausanias angeht, muß man beachten, daß diese zum einen auch ein - wenngleich zum Teil verkanntes, zum Teil noch nicht genügend analysiertes - literarisches Interesse hatten, zum anderen die von ihnen erzählten Mythen ihrerseits zum großen Teil bestimmte literarische Versionen als Quelle hatten. Darauf, daß die Mythographen literarische Quellen benutzten, nicht aber Feldforschung betrieben, weist Graf hin (Griechische Mythologie, 185.). Zu den Stoffen der Mythographen s. etwa Henrichs, Three Approaches to Greek Mythology. 75 Vgl. Burian, Myth into muthos: the shaping of tragic plot, 184: »In an important sense, poets were the mythmakers of Greece.«

Einleitung

25

2.4 Mythos und Tragödie: Die Bedeutung des Plots für die >Arbeit am Mythos< Vor dem im vorhergehenden geschilderten Hintergrund erweist sich Conradies Forderung, nicht mehr Mythologie als ein Ganzes zu untersuchen, sondern die Entwicklung in Epochen einzuteilen und jede für sich zu erforschen, als sinnvoll und notwendig.7 6 Die attische Tragödie des 5. Jahrhunderts ist in diesem Zusammenhang deshalb von speziellem Interesse, da bei ihr die überindividuelle bzw. gesellschaftliche Bedeutung durch ihren »Sitz im Leben«, ihre Aufführung am religiös-politischen Fest der Dionysien, besonders evident ist. Eine Bestimmung des Verhältnisses von Tradition und Innovation im Bereich der Tragödie ist nun keineswegs auf Quellenkritik zu beschränken. Es geht also nicht nur um einen Vergleich möglicher Veränderungen im Bereich der Personen oder der Orte, sondern auch darum, auf welche Weise die Elemente in der literarischen Gestaltung miteinander verknüpft sind, im Falle des dramatischen Dichters folglich um die Untersuchung des dramatischen Aufbaus, der Rollenverteilung - etwa der Interaktion von Chor und Schauspieler -, der Handlungsmotivation und der Motivdurchführung. 77 Es geht also um den Plot. Genau diesen Vorgang, aus einem Stoff ein neues Drama zu gestalten, beschreibt Aristoteles im 17. Kapitel der Poetik.7 8 In 17.1455a34ff. wird als das Entscheidende bei der Dichtung einer Tragödie die Exposition des Allgemeinen (h:'tt8Ecr8m Kae6AOl» genannt, das dem Einsetzen von Individualnamen vorausgehen muß. Dieses Vorgehen demonstriert Aristoteles an der Handlung der Iphigenie,79 bei der zum »Allgemeinen« die Fakten gehören, daß ein Mädchen nach der Opferung entrückt wird und in ein fremdes Land gelangt, wo man Fremde den Göttern zu opfern pflegt, daß das Mädchen dieses Priesteramt erhält, daß ihr Bruder in das Land gelangt, wogegen die Motivation, warum der Bruder in dieses Land gelangt, für Aristoteles außerhalb der Handlung liegt. Und er gibt die Anweisung, erst nach einer allgemeinen Skizzierung der Handlung: der Gefangennahme des Bruders und dem Wiedererkennen der Schwester kurz vor der Opferung solle der Dichter 76 The Literary Nature of Greek Myths. A critical discussion of G. S. Kirk's views,57. 77 Vgl. Burian, Myth into muthos: the shaping of tragic plot, 185: »plot stood open to invention, most obviously in the areas of motivation and characterisation, but also in such features as location and sequence of events.« 78 Mit seiner Analyse hat sich Neschke-Hentschke 1975 in einem grundlegenden Aufsatz befaßt, in dem sie der Wandelbarkeit und der in der Forschung zu wenig diskutierten Literarizität des griechischen Mythos nachgeht: Über die Wandelbarkeit des Mythos. Der Mythos als Erzählung und »Stoff« literarischer Darstellung. 79 Vgl. Belfiore, Aristotle and Iphigenia.

26

Einleitung

die Namen einsetzen und die Szenen ausarbeiten. Diese Produktionsanleitung macht deutlich, daß die Aussage einer Tragödie sich auf Allgemeines erstrecken soll; dem widerspricht nicht,80 daß in Kapitel 9 betont wird, die Tragödiendichter würden in der Regel an den Namen von historischen Personen - zu diesen zählen die Heroen - festhalten. Denn diese Gewohnheit begründet Aristoteles damit, daß das Mögliche glaubwürdig ist und man Geschehenes eher für möglich hält als etwas, was nicht (in der Realität) geschah. 8i Entscheidend ist, wie er im folgenden ausführt, daß die Handlungen, die der Dichter entwirft, sich nach der Wahrscheinlichkeit so zutragen können: im Vordergrund steht also wieder eher das Allgemeine, das der Dichter anstrebt. 82 Das Faktische einer Dramenhandlung ist also das Wiederholbare und somit der Stoff, aus dem der Tragödiendichter nun seine eigene Erzählung machen kann.8 3 Sein Handlungsspielraum liegt in der Ausgestaltung des einzelnen, also etwa der Motivation, der Art der Wiedererkennung usw. Dies wird sehr deutlich in der Art und Weise, wie Aristoteles das Faktische des in der Odyssee erzählten Geschehens in einigen kurzen Sätzen komprimieren kann und vom Rest sagt, er sei Ausgestaltung (Po. 17 .1455b23: 'to J..lEV o-ov tOtoV 'tol)'to, 'tel 0' ä'A'Aa E1tetcroota). Gerade bei der Tragödie zeigt sich das bereits oben84 angeklungene spannungsreiche Verhältnis von Mythos und Literatur, das NeschkeHentschke folgendermaßen charakterisiert: »Sont donc opposes: le mythe, creation collective qui concerne la symbolisation des forces surhumaines (domaine de la religion) et la litterature comme une creation individuelle, 80 Vgl. Fuhrmann, Aristoteles, Poetik. Griechisch-Deutsch, 113, Anm. 3 zu Kapitel 9.124, Anm. 4 zu Kapitel 17. 81 Vgl. auch Schwinge, Aristoteles über Struktur und Sujet der Tragödie, 120ff. Dieses Vorgehen schreibt Aristoteles aber keinesfalls normativ vor, sondern er verweist auf Tragödien, bei denen die meisten oder sogar alle Namen erfunden sind und die dennoch Freude bereiten, und folgert daraus sogar die Empfehlung, sich nicht ausschließlich an überlieferte Stoffe zu halten. Wilamowitz (Einleitung in die griechische Tragödie, 112) tadelte Aristoteles' Beschreibung der Plotentstehung deshalb, da er die individuellen Namen der Protagonisten erst nach der Entstehung des Handlungsgerüstes (der »Strukturformel« [Latacz, Einführung in die griechische Tragödie, 75]) vergeben läßt. Daran erkenne man, daß für Aristoteles die Mythen tot gewesen seien, und die Tatsache, daß die Tragiker mehrheitlich keine erfundenen, sondern überlieferten Stoffe behandelt hätten, sei für ihn unbequem gewesen. 82 Dies unterscheidet den Dichter, wie Aristoteles an einer anderen, berühmten Stelle ausführt (9. 1451a36ff.), vom Geschichtsschreiber. S. hierzu die Ausführungen zu den Persern. 83 Vgl. Neschke-Hentschke zu 1455a34ff. Zum Verhältnis von Mythos und Praxis s. Ces si, Praxis e Mythos nella Poetica di Aristotele. 84 Vgl. S. 23.

Einleitung

27

preoccupee par la belle forme (domaine de l'estherique).«S5 Nach NeschkeHentschkes Analyse behalfen sich die Klassischen Philologen, indem sie das Verhältnis von Mythos und Literatur in der Art und Weise eines FormMaterie-Verhältnisses beschrieben: Der Mythos ist die Form, der durch die jeweilige literarische Fassung eine neue materielle Ausprägung verliehen wird. Daß dies eine weitverbreitete Sicht war und ist, kann die Autorin ebenso durch den Verweis auf Wilamowitz' berühmte Tragödiendefinition stützen, derzufolge die attische Tragödie eine poetische Bearbeitung eines in sich geschlossenen Stückes der Heldensage darstellt,S6 wie durch den Verweis auf Seecks Einführung zur griechischen Tragödie,S7 in der die individuelle Eigenleistung der Tragödiendichter ganz in der Dramatisierung und Inszenierung eines Mythos, nicht aber in der Gestaltung der handelnden Subjekte gesehen wird.8 s Vor den Arbeiten von Neschke-Hentschke fanden sich in Beiträgen von Vernant, Lesky und Dörrie und in gewissem Maße Burkert Ansätze zu einer Beschäftigung mit dem Spannungsverhältnis von Mythos und Literatur.8 9 Dabei ist Vernants Ansatz, wie auch Neschke-Hentschke zu Recht ausführt, insofern kritisch zu beurteilen, als er die Tragödie als ein »moment« innerhalb einer bestimmten Entwicklung betrachet. 9o Für Vernant ist die Tragödie Ausdruck menschlicher Erfahrung innerhalb bestimmter sozialer und psychologischer Bedingungen, der von der Spannung zwischen heroischer Vergangenheit und politischer Gegenwart geprägten Erfahrung der Griechen des 5. Jahrhunderts. Diese Erfahrung bezeichnet für den französischen Forscher ein Element der Entwicklung vom 85 Mythe et traitement litteraire du mythe en Grece Ancienne, 30. 86 Wilamowitz-Moellendorff, Einleitung in die griechische Tragödie, 108: »Eine attische tragödie ist ein in sich abgeschlossenes stück der heldensage, poetisch bearbeitet in erhabenem stile für die darstellung durch einen attischen bürgerchor und zwei bis drei schauspieler und bestimmt als teil des öffentlichen gottesdienstes im heiligtume des Dionysos aufgeführt zu werden.« Freilich darf man nicht übersehen, daß gerade Wilamowitz die Bedeutung, die die mythische Tradition für die attischen Tragiker hatte, betonte und ihn die Frage der Gestaltungsfreiheit der Dichter in diesem Rahmen interessierte (ders., Herakles I, 131; vgl. Görgemanns, Wilamowitz und die griechische Tragödie, 140f.). 87 Die griechische Tragödie, 177f. 88 Diese Auffassung ist geradezu konträr zu der aristotelischen, derzufolge das Wesentliche für einen guten Tragödiendichter die Gestaltung eines guten Plots ist und eine gute Tragödie potentiell ohne Inszenierung auskommen muß (Po. 6. 1450bI8ff.). 89 Vernant, Mythe et Tragedie en Grece ancienne (1972); Lesky, Der Mythos im Verständnis der Antike 1. Von der Frühzeit bis Sophokles (1966), und der korrespondierende Artikel von Dörrie, Der Mythos im Verständnis der Antike II. Von Euripides bis Seneca (1966); Burkert, Mythos und Mythologie (1981). 90 Mythe et Tragedie, 22.

28

Einleitung

Mythos zu einer aufgeklärten Zukunft, in der der Mensch sich seiner Autonomie bewußt sei und als adäquaten Ausdruck die Philosophie entwikkele. Somit könne ein Dreischritt ausgemacht werden: Mythos = Ausdruck der Erfahrung von Heteronomie, Tragödie = Ausdruck für die Spannung zwischen Heteronomie der Vergangenheit und zukünftiger Autonomie, Philosophie = Ausdruck der Erfahrung von Autonomie. Innerhalb einer solchen Entwicklung stelle also die Tragödie einen »moment« dar. Neben anderen Kritikpunkten91 läßt sich gegen Vernants Auffassung der Tragödie als eines »moment« anführen, daß Tragödie und Philosophie nicht einander ablösten, sondern weiter nebeneinander fortbestanden. 92 Wie Neschke-Hentschke klar herausstellt, konnte Vernants Ansatz vor allem deshalb Glauben finden, weil die Auffassung, es habe eine Entwicklung vom Mythos zum Logos stattgefunden, eine Art communis opinio ist. Wie Vernant sehen auch Lesky und Dörrie in ihren korrespondierenden Beiträgen93 Mythos und Literatur als zwei getrennte Phänomene an (nach Lesky haben sich die Mythen nach dem Untergang der mykenischen Epoche entwickelt), doch im Unterschied zu Vernant stellt für sie die Tragödie nicht den Mythos in Frage, sondern sie interpretiert den Mythos, wie dies auch schon, in unterschiedlicher Zielrichtung, Epos und Lyrik vorher taten. Demgegenüber ist einzuwenden, daß man nicht einen Mythos von der erzählerischen Gestaltung, in der er auftritt, unterscheiden kann: »Pourquoi appeler >interpretes du mythes< ceux qui le >racontent