Gemeinsam das Licht aus der Nische holen: Kompetenzorientierung im christlichen und islamischen Religionsunterricht der Kollegstufe 9783737000185, 9783847100188, 9783847000181

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Gemeinsam das Licht aus der Nische holen: Kompetenzorientierung im christlichen und islamischen Religionsunterricht der Kollegstufe
 9783737000185, 9783847100188, 9783847000181

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Frank van der Velden / Harry H. Behr / Werner Haußmann (Hg.)

Gemeinsam das Licht aus der Nische holen Kompetenzorientierung im christlichen und islamischen Religionsunterricht der Kollegstufe

Mit 5 Abbildungen

V& R unipress

Gefördert aus Mitteln des Auswärtigen Amtes.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0018-8 ISBN 978-3-8470-0018-1 (E-Book) Ó 2013, V& R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Büchernische in der al-Burdayni-Moschee (1521 AD) in Kairo (Photo: Frank van der Velden). Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil I – Kompetenzorientierung und Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe Harry Harun Behr Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe . . . . . . . . . . . . .

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Clauß Peter Sajak Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe – eine katholische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfram Weiße Lebenswelt und Theologie, Kontext und Kompetenzen. Kommentar zum Artikel »Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe« von Harry Harun Behr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Teil II – Folgen für die Fachdidaktik: Schülerorientierung in einer neuen Nachbarschaft mit dem Religionsunterricht »der anderen« Werner Haußmann Theologische Gespräche mit Jugendlichen – Ein Versuch mit Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Katja Boehme Zur ›christlichen‹ Religionspädagogik im Horizont aktueller Erfordernisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Frank van der Velden Erzählen schafft Gemeinsamkeit – Argumentieren schafft Klarheit. Hermeneutische Vorüberlegungen für eine narrative Korandidaktik im Unterricht zwischen Christen und Muslimen . . . . . . . . . . . . . . . . 107

Teil III – Best-practice-Beispiele aus dem christlich-islamischen Tandem-Unterricht Christiane Ritter / Mehmet Sevki Yavuz Jesus – interreligiöser Kompetenzerwerb in einem islamisch-christlichen Gespräch über die asba¯b an-nuzu¯l von Sure 19 (Maryam) . . . . . . . . . 133 Dina Salama / Carmen Trautner Die Natur des Menschen – eine christliche und islamische Annäherung mit religionspädagogischer und religionsdidaktischer Perspektive . . . . 151 Samuel Dog- an Bestimmung, freier Wille und Prädestination: Denkmodelle verschiedener islamischer Schulen im Religionsunterricht . . . . . . . . 171 Nadia el Kadi / Marie-Luise Krebs Das Thema Gerechtigkeit anhand von Sure 18:60 – 82 (al-kahf). Die Geschichte von Mose und al-Hidr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 ˘ ˙ Gülsan Acıkgöz ˙ Gott ist Licht … und das Licht ist in mir : Der Lichtvers im Koran – Sure 24:35 (an-nu¯r) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 Frank van der Velden Unterrichtsprojekt: Existenzieller Koranbezug im Religionsunterricht der gymnasialen Oberstufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Teil IV – Essays der Praktikanten zum Schulpraktikum an der DEO Kairo im März 2012 Christiane Ritter Mit welchem Fuß sind Sie heute aufgestanden?

. . . . . . . . . . . . . . 235

Dina Salama Lernen in der Begegnung. Persönliche Anmerkungen zu einer interreligiösen Praktikumserfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

Inhalt

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Mehmet Sevki Yavuz Das Schulpraktikum und Kairo als interreligiöser Lernort . . . . . . . . . 251 Carmen Trautner Kairo – Chancen und Herausforderung für dialogbezogene, religionswissenschaftliche und religionspädagogische Kompetenzen . . . 257 Samuel Dog- an Dialog mit Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Liste der Beitragenden (in alphabetischer Ordnung) . . . . . . . . . . . . 277

Einleitung

Islamischer Religionsunterricht in der gymnasialen Oberstufe – eine neue Nachbarschaft mit Folgen Islamischer Religionsunterricht wächst an allen Ecken und Enden der Bundesrepublik in verschiedenen Varianten. Der Aufbau eines getrennt konfessionellen Islamischen Religionsunterrichts nach Art. 7,3 GG an den öffentlichen Schulen in Deutschland liegt nicht nur im Interesse der muslimischen Träger und der Kultusministerien in den beteiligten Bundesländern. Vielmehr wird dieses Fach von einer steten Erwartungshaltung der Öffentlichkeit begleitet, es möge eine Brückenfunktion zur Verständigung zwischen einzelnen Segmenten der deutschen Gesellschaft entwickeln und damit nicht zuletzt auch eine gewisse Außenwirkung für das Zusammenleben verschiedener Religionen in Deutschland entfalten. Der Bogen dieser Erwartungshaltung spannt sich von den Menschen selber über die Medien in der deutschen Öffentlichkeit bis hin zu verschiedenen Organen der Bundesministerien des Inneren und des Äußeren. Profile und Strukturen eines solchen Unterrichts sind im Bereich der Primarstufe recht gut etabliert und werden in der Sekundarstufe I eingerichtet. Was Richtlinien für einen Islamischen Religionsunterricht in der gymnasialen Oberstufe angeht, sucht man bisher weitgehend vergeblich nach Ansätzen. Hier, in der Kollegstufe, stellt sich die Frage, wie die Schülerinnen und Schüler aus dem schulischen Religionsunterricht entlassen werden, mit welchen Kompetenzen sie also ausgestattet sind, um allen gut gemeinten Erwartungen antworten zu können und dabei sie selbst zu bleiben. Schließlich ist das primäre Ziel des Islamischen Religionsunterrichts – wie im katholischen und evangelischen Bereich – die Schülerinnen und Schüler zu einer Selbstdeutung vor dem Religiösen zu befähigen, und erst in zweiter Linie, sie zu Integrationsbeauftragten auszubilden. Auf beiden Ebenen – der einer existenziellen Selbstdeutung und der des Verhaltens gegenüber anderen – stellen sich in der Fachdidaktik der Kollegstufe

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Einleitung

neue Anforderungen an die Hermeneutik und an die Vermittlung von Glaubenssätzen, Heiligen Schriften, ethischen Weisungen und spiritueller Orientierung. Immerhin gilt es, die beträchtliche Kompetenz Heranwachsender und junger Erwachsener zur Deutung ihres eigenen Lebens und der eigenen religiösen Tradition ernst zu nehmen. Diese Schülerorientierung lässt sich kaum aus einer didaktisch-methodischen Analyse des Unterrichts in der Sekundarstufe I herleiten, sondern muss neben den existenziellen und lebensbedeutsamen Bezügen junger Erwachsener auch zunehmend den akademischen Diskurs integrieren. Das vorliegende Buch stellt aus der Perspektive der Fachentwicklung, der Lehrerausbildung und der Unterrichtspraxis Überlegungen an, wie dies gelingen kann. Bekanntlich wird die Einrichtung Islamischen Religionsunterrichts an den öffentlichen Schulen auch von den beiden großen Kirchen in Deutschland sowie von der jüdischen Religionsgemeinschaft ausdrücklich begrüßt. In den Schulen entsteht dadurch eine neue Nachbarschaft des Katholischen, des Evangelischen und des Jüdischen Religionsunterrichts mit dem Islam in der Fächergruppe »Religion, Ethik, Lebenskunde, Philosophie«. Wie wird sich die Fachentwicklung in diesen unterschiedlichen Lerngruppen zu der »neuen Nachbarschaft« verhalten? Welche religionspädagogischen und fachdidaktischen Konsequenzen ergeben sich daraus für Lerngruppen christlichen Religionsunterrichts in der gymnasialen Oberstufe? Die vorliegende Publikation startet auch in dieser Hinsicht eine erste Suchbewegung.

Kompetenzorientierung und Islamischer Religionsunterricht in der gymnasialen Oberstufe Harry Harun Behr beleuchtet in seinem Beitrag die Orientierung an fachstufengemäßen Kompetenzen im Islamischen Religionsunterricht der Kollegstufe und denkt erste Kriterien möglicher Rahmenrichtlinien an. Er geht dabei von einem anthropologischen Ansatz aus und wirft eine Reihe von grundsätzlichen religionspädagogischen Fragen auf: Wie gelingt die Verhältnisbestimmung von religiösem System, philosophischer Fragestellung und kritischer Religiosität? Welche theologischen und ethischen Perspektiven ergeben sich aus der gegebenen Tradition und der vorfindlichen Situation als Fluchtpunkte hermeneutischer Horizonte? Wie lässt sich das Fachprofil eines solchen Unterrichts aus den eigenen Traditionen heraus begründen und zugleich in den Kanon weiterer schulisch repräsentierter Bezugswissenschaften (Gesellschafts- und Naturwissenschaften, Geschichte, Literatur, Kunst …) integrieren?

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Einleitung

Clauß Peter Sajak nimmt in einem Kommentar aus katholischer Sicht Stellung zu Behrs Beitrag. Der Autor geht dabei von seiner Sicht aus, dass sich Übereinstimmungen zwischen islamischen und katholischen Konzeptionen eines Religionsunterrichts in der Kollegstufe bestimmen lassen. Das betrifft das produktive und kreative Spannungsverhältnis von Einführung in das Glaubenswissen und in die Glaubenspraxis (Indukation) und Ermutigung zu kritischer Distanz, aber auch das Ringen um die schrifttheologischen Begründungen einer pädagogischen Anthropologie im Kontext der jeweiligen Religionspädagogik. Wolfram Weiße würdigt aus evangelischer Sicht Behrs Beitrag als einen innovativen und zukunftsweisenden Entwurf islamischer Religionspädagogik. Er hebt die soziale Kontextualität, aber auch die theologische Authentizität als Bezugspunkte hervor und diskutiert die Frage, wie sich habitualisierende und verkündende Elemente eines Islamischen Religionsunterrichts in der Kollegstufe mit der Erfordernis kritischen Denkens in Einklang bringen lassen, ohne dass der Unterricht sowohl sein religiöses als auch sein wissenschaftspropädeutisches Profil verliert.

Folgen für die Fachdidaktik in den christlichen Lerngruppen des schulischen Religionsunterrichts

˘

Die neue Nachbarschaft mit dem Islamischen Religionsunterricht betrifft auf Seiten der konfessionell getrennten christlichen Lerngruppen nicht nur eine verstärkte interreligiöse Projektarbeit im Rahmen der Schulgemeinschaft oder einen zusätzlichen interreligiösen Kompetenzerwerb. Vielmehr wird der eigene hermeneutische Ansatz christlichen Religionsunterrichts neu und anders angefragt, wenn im Islamischen Religionsunterricht die islamische Sicht der Dinge, zum Beispiel zu ¯Isa¯ Ibn Maryam – dem Jesus des Korans – dargestellt wird. Dies wird sich sowohl in der Auswahl der Materialien und Bibeltexte – zum Beispiel zu den zentralen christlichen Themen der Inkarnation und Gotteslehre (Trinität!) – als auch in der Didaktisierung dieser Themen im Katholischen und Evangelischen Religionsunterricht niederschlagen müssen. Nur so können christliche Schülerinnen und Schüler gegenüber ihren muslimischen Klassenkameraden auskunfts- und gesprächsfähig werden, was einer in der derzeitigen Kompetenzdebatte wohl am häufigsten genannten Forderung entspräche. Dem korrespondieren auf christlicher Seite kirchliche Interessen an einem eigenen Unterricht, der profiliert und bekenntnisorientiert sein soll. Dabei wird es gegenseitig immer wichtig sein zu wissen, was im Religionsunterricht des jeweils anderen thematisiert wird, zu welchen Bedingungen dies

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Einleitung

geschieht und auf welcher didaktisch-methodischen Grundlage zum Beispiel eine gemeinsame Beschäftigung mit der Heiligen Schrift des anderen möglich ist, ohne dass dieses übergriffig wirkt. Im ersten Beitrag von Frank van der Velden in diesem Band werden dazu aus der klassischen islamischen Schriftauslegung hermeneutische Grundlagen für eine narrative Korandidaktik abgeleitet und beschrieben.1 Eine Leitfrage ist, welche Bedeutung dabei die selbständige theologische Deutekompetenz und die Diskussionsfähigkeit Heranwachsender in der Unterrichtssituation haben können. Mit den Sonderbedingungen eines Theologisierens mit / von Jugendlichen in islamisch-christlich gemischten Schülergruppen beschäftigt sich der Beitrag von Werner Haußmann, der auch kritische Rückfragen an die im Hintergrund stehenden Theologien stellt. Die Vermittlung des Eigenen wird, wie gezeigt, zunehmend durch die Nachbarschaft des Religionsunterrichts der anderen beeinflusst. Die dialogische – oder besser noch trialogische, nämlich unter Einschluss des Judentums zu denkende – Weiterentwicklung der Fachdidaktik in dieser neuen Nachbarschaft christlicher, jüdischer und islamischer Lerngruppen des Religionsunterrichts ist dabei auf jeden Fall eine gemeinsame Aufgabe aller genannten Lerngruppen des Religionsunterrichts, die sich zum Beispiel durch ein Lernen in der Fächergruppe Religion ausdrücken könnte und somit die konfessionell getrennten Lerngruppen einer Schule fächerübergreifend verbinden würde. Mit dem christlichen Zugangsweg zu dieser Thematik beschäftigt sich im vorliegenden Band der Beitrag von Katja Boehme.

Weiterer Aufbau der Publikation Die vorliegende Publikation bündelt auch die Ergebnisse schulpraktischer Übungen angehender muslimischer und christlicher Religionslehrkräfte im Rahmen des Exzellenzpraktikums Kooperativer Religionsunterricht Christentum/Islam in der gymnasialen Oberstufe der Deutschen Evangelischen Oberschule Kairo (1. bis 31. März 2012). Dieses Praktikum wird jährlich in Kooperation mit dem Interdisziplinären Zentrum für Islamische Religionslehre (IZIR) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg angeboten. In den vergangenen drei Jahren konnte das Praktikum aus Mitteln des Auswärtigen Amtes gefördert werden.

1 In einem Unterrichtsprojekt wird derzeit erprobt, ob eine narrative Schriftdidaktik auf beiden Seiten entsprechende Brückenfunktion ausbilden kann, welche eine anthropologisch zentrierte (also schülerorientierte) Verortung erlauben.

Einleitung

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Im dritten Teil des Buches zeigen sechs Beispiele, wie die oben genannten fachdidaktischen Entwicklungslinien in einem christlich-islamischen TandemUnterricht umgesetzt werden können. Hierbei wird deutlich, wie sich die Vermittlung des jeweils Eigenen dadurch verändert, dass sie in Gegenwart der Theologie und Didaktik des Anderen geschieht. Für Deutschland, wo im Allgemeinen religiös und konfessionell getrennter Religionsunterricht erteilt wird, weisen diese Erfahrungen darauf hin, was Schülerinnen und Schülern im jeweils eigenen Unterricht lernen müssen, damit sie sich verständlich machen und mit religiösen Argumentationen qualifiziert auseinandersetzen können. Zur zentralen Frage der Person und Bedeutung Jesu gestalten Christiane Ritter und Mehmet Sevki Yavuz im Unterricht ein islamisch-christliches Gespräch über die asba¯b an-nuzu¯l von Sure 19 (Maryam). Zur nicht weniger wichtigen Frage der Schöpfungsanthropologie erarbeiten Dina Salama und Carmen Trautner einen christlichen und islamischen Unterrichtsansatz zur Natur des Menschen aus religionspädagogischer und religionsdidaktischer Perspektive. Samuel Dog-an setzt Denkmodelle verschiedener islamischer Schulen zu den Themen Bestimmung, freier Wille und Prädestination in einen Unterrichtsansatz um. Nadia el Kadi und Marie-Luise Krebs gehen das Thema göttliche Gerechtigkeit und Theodizee anhand der Geschichte von Moses und alHidr in Sure 18:60 – 82 (al-kahf) an. Mit dem Ansatz von »Gott ist Licht … und ˘ ˙ das Licht ist in mir« führt Gülsan Acıkgöz klassische theologische Auslegungen ˙ und eine moderne gestaltend-symboldidaktische Umsetzung des »Lichtverses« im Koran (Sure 24:35 [an-nu¯r]) im Unterricht zusammen. Die Bedeutung solcher identifikatorischer Koranauslegungen in der Kollegstufe wird durch den abschließenden zweiten Beitrag von Frank van der Velden hervorgehoben. Das von ihm beschriebene Unterrichtsprojekt ›Existenzieller Koranbezug im Religionsunterricht der gymnasialen Oberstufe‹ greift auf Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern in Kairo aus der Zeit des arabischen Frühlings zurück. Die hier beschriebenen schriftdidaktischen Schritte lassen sich aber auch auf den Unterricht in der Normalsituation übertragen, unter der Bedingung, dass der Kompetenz der Schülerinnen und Schüler zur Selbstaneignung des Heiligen Textes Raum gegeben wird. In persönlichen Essays heben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer noch einmal aus persönlicher Perspektive hervor, wie sich ihre Sicht der Dinge im Verlauf eines vierwöchigen Praktikums an einem emblematischen Lernort wie Kairo verändert hat.

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Einleitung

Zum Schluss Die Herausgeber danken der Hauptabteilung Kultur und Kommunikation im Auswärtigen Amt Berlin für die Finanzierung dieser Publikation im Rahmen einer Mittelzuteilung für die Schulpraktischen Übungen im Kooperativen Religionsunterricht Christentum/Islam in der gymnasialen Oberstufe der Deutschen Evangelischen Oberschule Kairo vom 1. bis 31. März 2012. Sie danken weiterhin dem Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Kairo, Herrn Michael Bock, und allen Mitarbeiter/innen des Referats Kultur und Wissenschaft der deutschen Botschaft in Kairo für die seit Jahren gewährte Unterstützung und Zusammenarbeit. Kairo / Nürnberg, 1. März 2013

Frank van der Velden Harry Harun Behr Werner Haußmann

Teil I – Kompetenzorientierung und Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe

Harry Harun Behr

Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe

Vorbemerkungen Die Aussage des jungen Mannes stimmt den Verfasser dieses Beitrags nachdenklich. Nicht etwa wegen der radikalen Anmutung, denn derlei ist er gewohnt. Nein, was dem Verfasser Probleme bereitet, ist ein notwendiges persönliches Eingeständnis. Der junge Mann liegt nämlich mindestens ebenso falsch wie richtig, wenn er zu Protokoll gibt: »Wir brauchen nicht Islam plus Schule, wir brauchen einfach nur Islam.« In Verlautbarungen wie dieser tritt eine eigentümliche Befindlichkeit von Musliminnen und Muslimen zu Tage. Ein Amalgam aus Zweifel und Zutrauen, zusammengeschüttet aus der Erkenntnis, dass die Welt heute nicht nach den einfachen Algorithmen des Korans tickt, und aus dem Zutrauen, dass der Islam trotzdem funktioniert. Alles eine Frage der theologischen Übersetzung? Damit ist auch der Fluchtpunkt jedweder religionspädagogischer Perspektive angeschnitten, die zentrale Problematik des Islamischen Religionsunterrichts. Gemeint ist die berechtigte Anfrage muslimischer Schülerinnen und Schüler, ob sie sich darauf verlassen können, dass Muhammad Recht hat. Sie wollen wissen, ob sie nicht nur an Allah glauben müssen, sondern ob sie ihm glauben können. Was junge Musliminnen und Muslime heute an Eltern, Imame, Religionslehrkräfte und die Medien herantragen, ist nichts weniger als die fundamental religiöse Vertrauensfrage. Immerhin liegen, um es einmal aus der Klägerperspektive anzuzeichnen, ausreichend Gründe vor, dem Islamischen Religionsunterricht an der öffentlichen Schule zu misstrauen. Diese Gründe lassen sich natürlich nach ausgefeilten Kriterien sortieren. Aber das sei an dieser Stelle den einschlägigen Wissenschaften überlassen, deren Neugier und Beobachtung sich auf die religiösen Funktionssysteme richten. Hier soll es zunächst nur um eine einfache Unterscheidung gehen: Zum Problem für das Fachprofil des islamischen Religionsunterrichts werden einerseits die an ihn gerichteten gesellschaftlich und politisch begründeten Erwartungen. Andererseits wird er zum Katalysator eines

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prekären Umgangs von Musliminnen und Muslimen mit ihrer eigenen Religion in der gegebenen sozialen und kulturellen Rahmung. Dem eingangs zitierten jungen Mann will es erscheinen, als werde der Islam zwar in Richtung Institution und Anerkennung gefestigt, gleichzeitig aber verbogen. Zur Vertrauensfrage kommt also die Reformulierung dessen, was als die Mitte seiner Lehre gelten darf. Solche Dynamiken sind aber kein Nachteil, ganz im Gegenteil: Sie waren in der Ideen- und Kulturgeschichte stets für theologisches Umdenken verantwortlich. Zu den Auslösern für die Islamdebatten in der deutschen Situation gehört aber auch, dass die Muslime und die Mitmenschen, mit denen sie zusammen leben, den Islam aus der Schutzhülle des selbstverständlich Gegebenen herausgenommen und ihn als Thema des publizierten öffentlichen Interesses serviert haben. Das haben sie nicht ohne Not getan, denn die Ereignisse mit globaler Auswirkung zwischen der iranischen Revolution vor über dreißig Jahren und dem arabischen Frühling heute verweisen auch auf den Islam als das Potenzial hinter politischen, sozialen, wirtschaftlichen und religiösen Reformen – mit allen gegebenen Risiken und Chancen. Mit dieser Diskurslage aber kehrt sich die pädagogisch bewährte Reihenfolge des Erlebens, des Erlesens und des Beredens in eine ungute Reihenfolge um: In Sachen des Islams wird seit einiger Zeit zu viel geredet, wenig gelesen und zu wenig erlebt. Schon frühe empirische Studien mit Muslimen und an Muslimen wie die von Karakas¸og˘lu-Aydin1 machen deutlich, wie solche Umkehrung das gewohnte Lebensgefühl verändert. Was geht in einer jungen Muslimin eigentlich vor, wenn sie sich im Klassenzimmer plötzlich als Person mit zugeschriebener muslimisch-religiöser Identität ins Schlaglicht gestellt sieht: »Du bist doch Muslimin. Erzähl uns mal warum ihr so seid wie ihr seid.« Nichts bewirkt stärkere Krisen im Selbstbild als der Verlust an Normalität und der damit drohende Verlust an Sicherheit. Zum Problembereich überzogener Erwartungen an den islamischen Religionsunterricht gehört auch seine starke Anbindung an integrationspolitische Debatten, die nicht erst seit 2001 immer auch an Fragen innerer Sicherheit gekoppelt werden. Schon seit den ersten Ideen für eine nordafrikanische Imam-Ausbildung unter geregelter staatlicher Aufsicht aus den Reihen europäischer Institutionen Ende der 1990er Jahre blicken die Ressortchefs des Innern argwöhnisch auf die Materie. Damals ging es noch um die Folgen der so genannten Brotaufstände in Algerien, um den Wahlsieg der Front Islamique du Salut (FIS) und um die Rolle Frankreichs und Deutschlands als so genannte »Ruheräume« für ideologisch 1 Y. Karakas¸og˘lu-Aydin: Muslimische Religiosität und Erziehungsvorstellungen. Eine empirische Untersuchung zu Orientierungen bei türkischen Lehramts- und Pädagogik-Studentinnen in Deutschland, Essen 1999.

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aufgeladene Aktivisten aus dem Maghreb, auf vermeintlich nächtlicher Tournee durch die Moscheen. Dies mit klaren europäischen Ansagen an die damaligen arabischen Despoten: Nur weiter so – lieber eine gemäßigte Diktatur als eine islamische Demokratie. Zehn Jahre zuvor, Anfang bis Mitte der 1980er Jahre, waren es in der Regel die Anwerber der apolitischen pakistanischen inneren Missionsbewegung Tabligh Jamaat gewesen, die durch die Moscheen zogen, auf dem Fang nach jungen Seelen, die entwurzelt genug waren, alles liegen und stehen zu lassen und ihnen nach Lahore zu folgen. Solches, nämlich der Seelenfang, gilt nun als Agenda der Bin-Laden-Nachfolgeorganisationen oder anderer Zellen des Ungeistes, und zwar vor allem unter den Vorzeichen zunehmender Gewaltbereitschaft. Der islamische Religionsunterricht möge es verhüten – wenn man die Protokolle der politischen Gremien vor allem im Dezember 2001 liest, wo als Erwartung formuliert ist: Ein auf den Islam gerichtetes schulisches Bildungsangebot speziell an junge Muslime festige zugleich deren Identität und deren staatsbürgerliches Ethos. Eine komplexe Formel, wenn man es zu Ende denkt: Je islamischer das Angebot, desto gewisser die Integration? Dies wohl nur dann, wenn der Faktor islamisch keine Variable, sondern eine Konstante darstellt. Das damit einher gehende Erfordernis eines rechtsstaatlich disziplinierten Islams stellt die Akteure aber vor ein strukturelles Dilemma: Die grundrechtlichen Vorgaben verbieten es staatlichen Institutionen, in die religiösen Grundrisse einer Religion hineinzumalen.2 Nun ist aber nichts dagegen einzuwenden, wenn Fragen aufs Tableau geraten, die mit dem Lebensgefühl junger Musliminnen und Muslime, ihrer Beheimatung oder Entfremdung und somit ihren möglichen Loyalitätskonflikten zu tun haben. Jedenfalls so lange dabei nicht übertrieben wird wie in den wiederkehrenden Beschwörungen von ›Nagelproben‹ mit Blick auf die staatsbürgerliche Gesinnung deutscher Muslime. Aber für das Fachprofil eines Islamischen Religionsunterrichts wird es zum Problem, wenn er theologisch von hinten aufgezäumt wird: Die theologische Vergewisserung, dass der islamische Löwe hoffentlich nicht beißt und kastriert ist, geschieht vorranging im Kontext der zügigen Institutionalisierung des Islams in Formen gesellschaftlicher Struktur und Funktion, wie etwa dem Religionsunterricht.3 Die einzigen Denkmodelle, wie 2 Vertiefend dazu: H.H. Behr : Muslimische Identitäten und Islamischer Religionsunterricht. In: ders; Chr. Bochinger; M. Rohe; H. Schmid (Hrsg.): Was soll ich hier? Lebensweltorientierung muslimischer Schülerinnen und Schüler als Herausforderung für den Islamischen Religionsunterricht, Münster 2011, 57 – 101. 3 Siehe dazu den Lehrplan für den Islamischen Unterricht in Bayern: »4.1.2: Muslime leben in Deutschland. Muslime achten die Rechtsordnung der Gemeinschaft in der sie leben. Begründungen aus Koran und Sunna…«; Fachlehrplan für den Schulversuch Islamunterricht an der bayerischen Grundschule, genehmigt mit KMS vom 12. Juli 2004 Nr. III.7 – 5 O 4244 – 6. 23 573. Vergleichbares findet sich in anderen Religionslehrplänen nicht.

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man denn nun mit Religion verfahre, stützen sich indes auf das konfessionelle kirchliche Vorläufermodell mit territorialer Anmutung: Muslim ist, wer dazu gehört, also Mitglied einer »Kirche« der Muslime ist. Dabei sind es zum einen vor allem die Systemtheoretiker unter den Soziologen mit oder ohne Affinität zur Religionsfrage (erinnert sei auch an Jos¦ Casanova und sein alternatives Denkmodell der Denominalisierung religiöser Verortung), die genau an dieser Stelle vor der Konfessionalisierung des Islams warnen. Zudem stellt das christliche Vorverständnis von Religion und Theologie, von Mensch und Gott, von Prophetie, Schrift und Offenbarung4 sowie von Subjekt und Gemeinschaft eine besondere Herausforderung dar, so wie es von muslimischen Religionspädagogen gelegentlich übernommen und bar jeder theologischen Begründung auf den Koran und die sonstige Materie des Islams übertragen wird.5 Zu den diskussionswürdigen Tendenzen im Zuge von Islam und seiner gesellschaftlichen Akkreditierung zählt ferner das Risiko, dass die Integrationsfunktion der neu entstehenden religiösen Repräsentationen für das alltägliche Handeln als Musliminnen und Muslime geschwächt wird. Das liegt daran, dass ein als »behördliche Lehre« inszenierter Islam in der Lage ist, durch die funktionale Inanspruchnahme (die Erlangung einer Berechtigung oder Befugnis zur Lehre in Schule und Universität zum Beispiel) seinen Dienst für die individuelle Religiosität zu versagen.6 Deren hoch volatile Plausibilität eilt der Formulierung durch die spezialisierte Gruppe der hauptberuflichen Muslime voraus. Jeder Anspruch auf religiöse Deutungshoheit oder dessen Zuschreibung ist mit diesen Akten nämlich potenziell auch negierbar. Die Kluft zwischen Lehre und sub-

4 Zur Begriffsverwendung von Offenbarung (als gegenwärtiges Ereignis) vgl. G. Baudler : Religiöse Erziehung heute, Paderborn 1979. 211 – 237. 5 Das betrifft besonders bibel- oder symboldidaktische Konzeptionen. Dabei wird übersehen, dass Entwürfe wie zum Beispiel das sog. »bibeldidaktische Viereck« (G. Baudler [1979] 96 ff.) zum einen an bezugswissenschaftliche Zugänge gebunden sind (Text- und Sprachwissenschaften, Archäologie, Tiefenpsychologie …), zum anderen aber im bekenntnisgebundenen Vorverständnis christlicher Bibelexegese gründen (vgl. dazu W. Wink: Bibelauslegung als Interaktion, Stuttgart und andere 1976). Der Koran als Gegenstand beider Betrachtungen, also gleichsam der deskriptiven und der normativen, führt indes zu genuin eigenen Ergebnissen. Vor allem die in der christlich-religionspädagogischen Expertise hervorgehobene Bedeutung des Bibeltextes als Symbol sowohl für das Ganze der christlichen Botschaft als auch für das Ganze des Lebens ermöglicht sicher interessante Brückenschläge, macht aber auch die Grenzen deutlich: Bereits die sehr frühen Korankommentare wie etwa der von at-Tabari erörtern immer schon den Rückbezug des Korantextes in seinen zeitlichen, sozialen und kulturräumlichen Kontext als zwingendes Erfordernis der Exegese. 6 Vgl. dazu die Debatten um die so genannte »Ijaza-Ordnung« in H.H. Behr ; A. Rochdi; F. Ulfat: Zur Diskussion um die muslimische Lehrbefugnisordnung, Zeitschrift für die Religionslehre des Islam 6 (2012) Heft 10, 13 ff. (kostenfreier Download aus dem Archiv via www.izir.de).

Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe

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jektivem System ist strukturbedingt und vermutlich eher zu Ungunsten des religiösen Repräsentationssystems angelegt. Es darf als einer der zentralen wissenssoziologischen Befunde gelten, dass dies generell den Grundmotor der Säkularisierung als gesellschaftlichen Prozess darstellt. Die Folge ist ein systemtheoretisches Problem: Je intensiver Muslime darum ringen, ihr Islamverständnis als System mit eigener Referenz zu formatieren, desto höher steigt das Risiko, gegenüber ihren Zielgruppen den Islam seiner lebensbegleitenden und sinnstiftenden Funktion zu berauben. Dieses Risiko ist für einen konfessionellen islamischen Religionsunterricht in der Kollegstufe besonders hoch, was am gehobenen Diskurs- und Reflexionsniveau liegt. Aber zu den Risiken gehören immer auch die Chancen.

Kairo 2011 Wer hätte vor zehn Jahren, unter dem Eindruck der kollabierenden Twin Towers in New York, den arabischen Frühling auf der Mattscheibe gehabt? Folgerichtig haben die Umwälzungen in Ägypten auch die pädagogische Situation verändert: Die üblichen Autoritäten haben sich verabschiedet, das Feld ist offen. Die Fachkollegen an der Deutschen Evangelischen Oberschule in Giza wissen seitdem zu berichten, dass auch der Religionsunterricht seinen eigenen Impulsen folgt. Der Kooperative Religionsunterricht Christentum-Islam an der Kollegstufe der DEO ist natürlich ein Sonderfall. Aber wie bei jedem Sonderfall lässt sich mit der gegebenen Singularität nicht zugleich die Irrelevanz für das Generelle belegen – ganz im Gegenteil: Die Veränderungen im Ablauf dieses Unterrichts spiegeln die Veränderungen im Lebensgefühl der jungen Menschen, die in diesem Unterricht sitzen, und das verweist auf theologisch und pädagogisch beschreibbare Verschiebungen im gesellschaftlichen Gefüge. Im Grunde genommen ist in Kairo passiert, was sich Lehrer nur wünschen können, hätten sie denn den Mut dazu: Die Wirklichkeit besetzt die Schulbank, es geht nicht mehr ums Lesen, sondern ums Leben. Für den Islam nichts Neues. Schon der Koran als das Wort Gottes ist für sich genommen, ohne seine spätere theologische Überzeichnung als die Wörter Gottes, ein Stück mediterraner abendländischer Literatur, mit überraschenden Elementen wie etwa denen des Alexanderromans in Sure 18:83 – 102. In ihm ist Diskurs geronnen – nämlich der um die Frage damaliger Menschen, in dem ihnen gegebenen Setting, nach Gott, Welt und Mensch. Am Koran lässt sich ablesen, wie die Menschen jener Zeit in existenziellen Situationen um Antworten und Handlungsmaximen gerungen haben. Und das beschreibt ziemlich genau die Situation derer, die den Zusammenbruch des Ancien R¦gime in Ägypten erlebt, ja zum Teil mit verursacht und mit getragen haben. Das trifft nämlich für die Mehrzahl jener zu, die in besagtem

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Unterricht an der DEO sitzen: Sie waren am Tahrir-Platz mit dabei. Dadurch sind sie gegenüber ihren Religionslehrern in die eigentliche Expertenrolle geraten. Inwiefern genau? Gefragt wurde nunmehr stärker nach der Relevanz von Religion für das eigene Handeln in der Gesellschaft. Die Anfrage an das tradierte religiöse System geschah unter dem Eindruck, dass Handeln notwendig ist, und dies unter dem Erfordernis der unaufschiebbaren religiösen Selbstvergewisserung. Die jungen Menschen begaben sich auf die Suche nach religiöser Orientierung im Kontext realer Erfahrungen. Dabei entstanden Brüche. Zum einen der zwischen Tradition und Situation. Dieser Prozess ließ sich auch gut an den Reaktionen religiöser Institutionen, wie beispielsweise der Al Azhar, auf die Vorgänge der gesellschaftlichen Wandlung nachzeichnen. Dabei ging es um die entscheidende Frage, ob es nicht Zeit wäre, vorrangig die Wirklichkeitsdeutung im Lichte der religiösen Situation zu einem Teil aufzugeben und Platz zu schaffen für eine neue Sichtweise, nämlich die Reformulierung der religiösen Tradition im Lichte der Wirklichkeitserfahrung. Ein anderer Bruch ist der zwischen Identität und Kulturalität: Unter Muslimen ist es gelegentlich üblich, die personale Identität mit Blick auf ihre religiösen Bestandteile über die Zugehörigkeit und Solidarität zur eigenen Gemeinschaft zu definieren. Frühere religionssoziologische Modelle bedienten dazu noch die Rede von der kollektiven Identität, die im Islam angeblich stärker ausgeprägt sei als in Religionen in einem aufgeklärten gesellschaftlichen Kontext, der das Individuum in die Mitte rücke. Mit dem Zusammenbruch des postmodernen ›pharaonischen Systems‹ standen nun alternative, nachgerade konkurrierende Angebote der Selbstverortung zur Verfügung. Die bildungsrelevanten Prozesse im Zuge von Ereignissen wie dem arabischen Frühling lassen also in gewisser Weise frische, aber kalte Luft von außen in die wohlig warme Stube religiöser Selbstbefindlichkeit hinein. Die einvernehmliche Trias zwischen Sachgegenstand, Lehrer und Schüler löst sich auf; die Situation definiert die Rollen neu. Risse werden sichtbar, und zwar Risse, die eigentlich schon immer da waren, die mit ihrem Spannungspotenzial immer schon für Unruhe gesorgt haben und die nun nicht mehr mit dem simplen Rekurs auf den gesinnungsethischen Konsens gekittet werden können. Ein solcher Riss betrifft etwa den veränderten Blick auf Geschichte als Legitimation religiöser Institution. Dabei geht es vor allem um die Verhältnisbestimmung von Historizität und Aktualität. Auch in einem islamischen Religionsunterricht an einer bayerischen Realschule begegnen die Lehrkräfte dem Phänomen des materialen Geschichtsbildes und dem Hang zu personalisierter Geschichte. Das betrifft die tradierte Biografie Muhammads, die Redaktionsgeschichte des Korans als Gleichsetzung der ordo nascendi mit der ordo legendi, den Stellenwert des so genannten Hadith und die Auffassung islamischer Ge-

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schichte und ihrer Helden (kaum Heldinnen übrigens) als Erfüllung göttlicher Vorsehung. In der Regel misslingt die notwendige Unterscheidung zwischen historischem Wirklichkeitssatz und religiösem Wahrheitssatz in der vorfindlichen Unterrichtswirklichkeit, dies nicht selten schon auf Seiten der muslimischen Lehrkräfte. Dabei ist genau diese Unterscheidung ein grundlegendes Erfordernis von religiösem Unterricht in der Rahmung des Bildungsauftrags der öffentlichen Schule.

Zwischen Schule und Studium Der Islamische Religionsunterricht in der Kollegstufe steht also im Zusammenhang mit fundamentalen Orientierungen muslimischer Schülerinnen und Schüler. Es geht dabei nicht nur um einen Übergang zwischen schulischer und außerschulischer Fachkultur, sondern um grundlegende Orientierungen in den persönlichen Lebensweltbezügen. Ob und inwieweit solche Unterschiede zwischen häuslichen, gemeindlichen, schulischen, medialen, privaten und anderen Kulturen im Umgang mit dem Islam gegeben sind, muss der weiteren empirischen Untersuchung überlassen bleiben. Aber die gegenwärtigen Eindrücke aus der Unterrichtspraxis, die in diese Richtung weisen, sind mehr als nur pädagogischer Impressionismus. Sie werden vielmehr von den Schülerinnen und Schülern selbst artikuliert. Das ist für sich genommen ja kein negativer, sondern ein positiver Befund. Er zeigt an, dass die Mobilität in den situationsabhängigen sozialen Rollenprofilen, die junge Menschen ohnehin an den Tag legen, auch vor der Religion nicht Halt machen. Zumindest lässt sich vermuten, dass eine monolithisch angelegte Darstellung von Religion im Unterricht, die sich vorrangig an der unter Muslimen so beliebten Frage nach dem richtigen und dem falschen Islam kristallisiert, nicht weit trägt. Das betrifft Fragen von Ritus und Kult, der Hermeneutik des Korans und der Anthropologie, des religiösen Lebensstils bis hin zu Fragen von Alltagshandeln, Partnerschaft, Berufswahl und anderen Dingen, die auf den ersten Blick von der Religion unberührt zu sein scheinen. Sind sie auf den zweiten Blick aber nicht, jedenfalls nicht, was junge Musliminnen und Muslime betrifft. Sie haben nur nicht immer die Übung darin, die mit diesen Dingen einher gehende spirituelle Dimension zu erkennen, geschweige denn zu formulieren und zu reflektieren. Damit lässt sich ein erstes allgemeines Merkmal des Islamischen Religionsunterrichts auf gehobenem Niveau formulieren: Er soll die Schülerinnen und Schüler befähigen, sich in Fragen der religiösen Information sowie des Glaubens und der persönlichen religiösen Lebensgestaltung selbst zu führen. Dazu muss er den Anschluss an genannte und andere Kulturen im Umgang mit Religion

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ermöglichen, sie in Beziehung zueinander setzen und Optionen des Handelns auf der Grundlage persönlicher religiöser Motive eröffnen – dies nicht zuletzt auch in interreligiöser Dimension. Ein Gutteil der hier beschriebenen Prozesse ist auch für den Religionsunterricht anders-religiöser Prägung beobachtbar. Was Kairo betrifft, schwindet die Grenze zwischen Halbmond und Kreuz, jedenfalls so lange bis sie aus politischem Kalkül wieder hochgezogen wird. Das führt zu einem kritischen Blick nach hinten, auf die propädeutischen Funktionen des Islamischen Religionsunterrichts in den Jahrgangsstufen bis zum Erreichen der Kollegstufe. Diese Analyse kann im gegebenen Rahmen dieses Beitrags nicht geschehen. Aber der Seitenblick auf spezifische Themen wie zum Beispiel die Zentralfigur Abrahams und ihr Kondensat in den Lehrplänen für den Islamischen Religionsunterricht an den Grundschulen zeigt: Es wird noch zu sehr von der Vorstellung aus gedacht, beim Islam stehe die Lehre als der materiale Bestand des religiösen Deutungs- und Symbolsystems im Vordergrund – die Sache an sich sei Legitimation genug, sie im Unterricht abzuhandeln.7 Auch wenn es hier nicht um das Entweder-Oder zwischen Sach- und Lebensweltorientierung geht: Die Perspektive der Schülerinnen und Schüler und somit die Begründung der exemplarischen Bedeutung solcher Themen für die Gestaltung des Lebens kommt in den vorfindlichen Konzeptionen jedenfalls noch zu kurz. Hinsichtlich der für theologisches Denken notwendigen Kompetenzen, zum Beispiel die Perspektivität religiöser Wirklichkeitsdeutung, werden die Schülerinnen und Schüler im Unterricht wie auch die Lehrkräfte in ihrer Ausbildung noch weitgehend im Stich gelassen. Für einen islamischen Religionsunterricht in der Kollegstufe, der sich hier dem Paradigmenwechsel verpflichtet sehen sollte, droht deshalb der religiöse Kulturschock. Ein zweiter kritischer Blick geht nach vorne, nämlich hin auf die an die Schule anschließenden Angebote, sich weiter mit dem Islam auseinanderzusetzen. Die Studienprofile der gegenwärtig an einigen deutschen Universitäten entstehenden Angebote an islamischer Theologie sollten entweder Rückwirkung haben auf die Konzeption eines Islamischen Religionsunterrichts am Gymnasium, oder aber umgekehrt: Ihrerseits weitgehend noch der Vorstellung materialer Bestände religiös erklärenden Wissens verhaftet, würde ihnen ein Wechsel in der Fachkultur gut tun: hin zum verstehenden Wissen, dies deutlicher unter Berücksichtigung von Aspekten des Erlebens, der sozialen Erfahrung und der Relevanz theologischer Deutung für die gesamtgesellschaftlichen Leitbilddis7 Vertiefend dazu H.H. Behr : Abraham in den Lehrplänen für den Islamunterricht, in: ders.; D. Krochmalnik; B. Schröder (Hrsg.): Der andere Abraham. Theologische und didaktische Reflexionen eines Klassikers (Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen 2), Berlin 2011, 41 – 52.

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kurse. Wenn ein auf den Islam als Bekenntnis bezogener Bildungsgang von der elementaren Stufe bis hin zur Hochschulreife darin verharrt, junge Musliminnen und Muslime im eigenen Sud köcheln zu lassen, wäre die kulturpolitische Aufgabe dieses Unterfangens ad absurdum geführt.

Die Zielgruppen Was junge Musliminnen und Muslime eigentlich von ihrem Islamischen Religionsunterricht erwarten, ist durchaus heterogen. Die Vorstellungen oszillieren zwischen habitualisierenden und kritischen Elementen – das Gebet erlernen und die Sache mit dem Beten in Frage stellen, den Koran auf Arabisch lesen lernen und den Koran auseinandernehmen. Darin zeigt sich, dass das existenziell Gedeutete und die philosophische Anfrage bereits entwicklungsbedingt ihre Rollen spielen, wobei die Religion ins Spiel kommen kann, aber nicht muss.8 Bei genauerem Hinsehen lassen sich einige altersgruppenspezifische Erscheinungsformen nachzeichnen: der individuierend-reflektierende Zugang zu Glaube und Religion, die Verhältnisbestimmung von Person, moralischem System und Gewissen oder die Infragestellung des wechselseitigen Zusammenhangs von Menschsein und Letztgültigem. Eine für den Islam theologisch besondere Rolle spielt die Frage nach dem Nutzen praktizierter und veröffentlichter Religion: Von Religion als Ankerplatz für die persönliche Standortbestimmung im Sinne eines weltlich anmutenden Vorteils war bereits zu Zeiten Muhammads die Rede, was im Koran seinen Niederschlag als Thema gefunden hat. Texte wie Sure 64:17 oder Sure 80:4 thematisieren mit Blick auf ihren historischen Entstehungskontext unumwunden die Sache mit dem Mehrwert von Religion. Sie weisen darauf hin, dass die Gestaltung des Lebens entlang neuer religiöser Motive zu Spannungen führen konnte, oder aber aus Spannungen resultierte, die sich aus überfälligen Verhältnisbestimmungen entwickelten: zwischen Altem und Neuem zum Beispiel, zwischen tradierter Religion und neuer Religiosität, zwischen Religion als Kultur und einer neuen Kultur von Religion. Dazu mehr im nächsten Abschnitt im Zuge der Kommentierung zu Koran 4:78 – 87. Das betraf nicht zuletzt die Neu- und Umgestaltung des Lebens im Zuge der Konversion zum Islam, der in dieser Frage eine eigentümliche, produktive Spannung lebendig hielt: Einerseits stellte sich Muhammad in die vorfindlichen religiösen Traditionen, andererseits aber begründete er damit zugleich den Bruch mit dem Tradierten (vgl. im Koran 2:142 – 152, 2:177, auch 5:48 ff., 2:213 – 8 Vertiefend dazu H. Niemi: Identity Formation and Religious Education, in: Kirsi Tirri (Hrsg.): Religion, Spirituality & Identity, Bern 2006, 27 – 44.

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214 oder 16:24). Solche Spannungen resultierten einerseits aus den soziokulturellen Konstellationen, speisten sich andererseits aber auch aus den psychosozialen Befindlichkeiten der handelnden Subjekte. Auf solche historische Dekonstruktion kann für die pädagogische Hermeneutik des Korans in der Kollegstufe nicht verzichtet werden. Denn für junge Musliminnen und Muslime hier und heute scheinen sich die normativen Bewältigungsaufgaben auf nicht-normative, also unerwartete und verschärfte Problemlagen zuzuspitzen. Sie wurzeln zunächst in dem, was für die jeweilige Altersgruppe charakteristisch und für ihre Entwicklung spezifisch ist. Aber darüber hinaus betreffen sie die Herausforderungen an die generelle Standortbestimmung als Person auch in der religiösen Dimension. In regelmäßigen Intervallen bringen die Schülerinnen und Schüler im islamischen Religionsunterricht der höheren Jahrgangsstufen ihre Befürchtung zum Ausdruck, mit dem Misslingen der Passung zwischen den Horizonten der gesellschaftlichen Akzeptanz und der Ausprägung der eigenen Religion womöglich auch die Zukunft zu verlieren. Sie fragen nach dem Zusammenhang von Religion, Person und Erfolg, wenn sie islamischen Religionsunterricht meinen9, und zielen damit auf die religiös begründete Verhältnisbestimmung zwischen zwei Regelkreisen mit ihrer je eigenen Wirklichkeit: einerseits der vorfindliche Kontext, seine Akteure und Erwartungen, und andererseits der Wunsch, wie und wer man selbst gerne sein möchte und was man als junger Mensch verlangen darf. Die Diffusion zwischen den offenbaren und verborgenen Identitäten muslimischer Schüler zu moderieren, bindet ein Gutteil der zeitlichen und nervlichen Ressourcen von Islamlehrkräften. Hier ist immerhin die Rede von einer der zentralen Herausforderungen an den islamischen Religionsunterricht: Es geht nicht nur um die Sachfrage, sondern auch um die Berücksichtigung der Beteiligten, also um die pädagogische Führung, den Stil des Unterrichts und den Takt des Umgangs. Solche Abklärung zielt auf die Person des Schülers, auf die Sache, der er begegnet und auf die Situation, in welcher die Begegnung stattfindet. Das geschieht nach eigenen religionspädagogischen Standards, und mit besonderem Blick auf Religionsunterricht auch nach theologischen. Hier sind nicht die allgemeinen »Bildungsstandards« schulischer Kernfächer gemeint, sondern die spezifisch religiösen.

9 H.H. Behr : Was hat Schule mit Allah zu tun?, in: [Bertelsmann Stiftung]: Religionsmonitor 2008. Muslimische Religiosität in Deutschland. Überblick zu religiösen Einstellungen und Praktiken, Gütersloh 2008, 50 – 59.

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Theologische Grundlinien An dieser Stelle soll der allseitigen Forderung nach ›theologischer Authentizität‹ des Islamischen Religionsunterrichts etwas mehr Substanz verliehen werden. Dabei spielt der Blick nach vorne, also nicht der auf die Schulkarriere, sondern der auf die Zeit danach die größere Rolle. Es soll zum einen um das Kernprofil dessen gehen, was unter einer Theologie des Islams verstanden werden könnte. Erst das schafft die Grundlage dafür, kategoriale pädagogische Begriffe wie etwa die bestimmter avisierter Kompetenzen zu formulieren. Das kann stringent aus dem religiösen Symbolsystem heraus geschehen, also affirmativ, oder aber aus dem Blickwinkel des Lebens heraus, mit seinem eigenen Anspruch auf Normativität. Letzterer lässt sich allerdings nicht mehr einfach auf den materialen Fundus der Religion zurückführen, sondern er kann oder muss sogar in Konkurrenz zu ihm treten, aus ethischen Gründen beispielsweise. Denn erst entlang dieses Spannungsbogens manifestiert sich religiöses Denken im eigentlichen Sinne. Zum anderen soll zur Frage des ästhetischen Erlebens und der philosophischen Vertiefung Stellung bezogen werden.

Religiöses Denken Als Folie für den folgenden Blick in die Denkwerkstatt des Verfassers dient ein Text aus dem Koran, und zwar die Verse 78 – 87 der vierten Sure. Es handelt sich dabei um einen paradigmatischen Text. Dem klassischen Kommentarwerk nach klärt er das konfliktäre Verhältnis zwischen Muhammads Selbstverständnis und der Reflexion in seinem damaligen Umfeld. Hier eine sinnorientiere und ein wenig freie Übersetzung in die deutsche Sprache. Solche Übertragung ist immer ein erster Schritt hin zur Exegese und zum Kommentar und erhebt nicht den Anspruch, für den Text im Sinne einer ursprungssprachlichen Originalität zu stehen. Sie entfaltet ihre eigene Semantik: Der Tod umfasst euch, auch wenn ihr ganz oben seid. Gutes kommt von Gott, und Schlechtes von dir, sagen sie. Sag ihnen: Alles ist von Gott. Was ist nur los mit ihnen? Sie verstehen nicht, was gesagt wird. Was den Menschen an Gutem ereilt, kommt von Gott, und das Schlechte geht auf ihn selbst zurück. Du bist ein Gesandter zu den Menschen, und Gott reicht als Zeuge. Wer dem Gesandten folgt, folgt Gott. Wer sich wegdreht, der geht dich nichts an. Sie schwören Treue. Aber kaum dass sie weggehen, treffen sie heimlich andere Verabredungen. Gott hält das fest. Und du halt dich nicht mit ihnen auf, sondern bau auf Gott; der genügt als Anwalt.

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Sie sollten den Koran prüfen. Wäre er nicht von Gott, würden sie darin viel Ungereimtes finden. Sie posaunen heraus, was sie beruhigt oder verängstigt. Sie sollten es aber lieber dem Gesandten zur Prüfung vorlegen, und denen, die sich auskennen. Dann würden sie verstehen, was sich mit gesundem Menschenverstand und vernünftigen Regeln herleiten lässt. Ohne Gottes Fürsorge und Güte würdet ihr alle dem Satan hinterherlaufen. Streite nun auf Gottes Weg. Du stehst dafür ein. Treibe jetzt die Gläubigen an, bis Gott den Schlag der Querköpfe bannt. Gottes Schlag ist härter, und seine Strafe auch. Wer das Gute will, erhält seinen Anteil, und wer das Üble will, erhält seinen Anteil daran. Gott umfasst alles. Wenn ihr begrüßt werdet, erwidert mit Schönerem oder mit Gleichem. Gott rechnet. Gott – kein Gott neben ihm. Kein Zweifel, Er ruft euch zum Tag der Begleichung zusammen. Wahr ist, was Gott sagt. Der Text eröffnet eine Reihe von exegetischen Zugängen. Die Vergänglichkeit allen Lebens ist eine universale Erfahrung. Um diese Erkenntnis und ihre Folgen entspinnt sich der Diskurs zwischen Muhammad als dem im Text angeredeten Protagonisten und seinen Zeitgenossen in Medina, etwa zwischen 625 und 627 AD. Der Koran zeichnet wie so oft diesen Diskurs nicht nach, sondern setzt dessen Kenntnis im Grunde genommen voraus – eine der wiederkehrenden Herausforderungen für die Auslegung seiner Texte. Er muss also rekonstruiert werden: Die Menschen bewerten die eigene Vorteilslage gerne nach allgemeinen Kriterien wie dem Guten oder dem Bösen und verknüpfen das mit der Frage nach Gott und mit ihrer eigenen Verhältnisbestimmung zu Gott. Das geschieht entweder aus existenziellen oder aus rhetorischen Gründen. Grundsätzlich sind dabei verschiedene Modi der Bewegung denkbar, zum Beispiel die Annäherung an die Gottesfrage oder die Distanz zu ihr. Denkbar und in gewisser Weise hier auch angesprochen ist auch das Moratorium der Unentschiedenheit – ein für die Bewältigung des Lebens unter dem Vorzeichen religiöser Entwicklung hilfreicher Modus. Gott wird als Urheber des Guten benannt, Muhammad als der Protagonist hingegen als Verursacher des Schlechten. Mit diesem dialektischen Wechsel ist im Grunde die Anklage erhoben, der Koran sei gar keine Mitteilung Gottes und Muhammad sei nicht legitimiert. Die Erwiderung des Protagonisten stellt drei Punkte klar : Nichts geschieht ohne Wissen oder gegen den Willen Gottes, Gott will das Gute, und wenn das Schlechte geschieht, muss nach dem Menschen als Verursacher gefragt werden. Der Koran hebt diese Dialektik von der Ebene der Rhetorik auf die der Wirklichkeit. Mit Wirklichkeit ist Wirksamkeit gemeint im Sinne der existen-

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ziellen Anrede an die Gegengruppe in Medina. Dabei geschieht es aber, dass sich die Bedeutung des Arguments in das Gegenteil verschiebt: Als Ursache für das Schlechte wird nicht die Sendung des Protagonisten identifiziert, sondern das je innere Handlungsmotiv der Beteiligten in der moralischen Bewertung als gut oder schlecht. Folgerichtig wird betont, dass diese Bewertung von jedem einzelnen selbst vorgenommen werden muss – es sei denn man lässt die Lesart zu, dass Gott das Schlechte wolle und damit zufrieden sei, dass das Schlechte geschehe. Nach der Logik islamischer Theologie ist das aber Unsinn. Daraus folgt: Der Koran diskreditiert nicht a priori denjenigen, der mit Gott zwar nichts zu tun haben will, sich aber dem ethischen Prinzip des Guten verpflichtet sieht. In dem in Rede stehenden Textabschnitt spiegelt sich also auch die Erfahrung, dass sich die Hörer dieser Botschaft gegen die aufrichtige Bewertung ihrer wahren Motive stellen. Sie legen es darauf an, diesen Anspruch schon auf der rhetorischen Ebene zu verwischen und den Protagonisten in spiritueller und ethischer Hinsicht zu beschädigen. Dabei agieren sie nicht sporadisch, sondern strategisch. Was hier als das Gute und das Schlechte in der heimlichen Absprache hinter dem Rücken des Protagonisten verklausuliert wird, deutet auf die damals in Medina möglicherweise erstarkenden Strukturen gewaltsamer Ausprägung. Hier führt bereits der sich damals anbahnende Konflikt um die religiöse Deutungshoheit Regie. Beide Seiten werden aber in je einem bestimmten Punkt nicht aus ihrer Verantwortung entlassen: Die Widersacher Muhammads werden aufgerufen, sich ernsthaft mit den Aussagen des Korans auseinanderzusetzen. Sie sollen ihn nicht nur auf die Stichhaltigkeit dessen prüfen, was er sagt, sondern was er mitteilt. Das würde das Argument unterstützen, dass es sich bei ihnen um Verstehende handelt, Leute also, die vom Grundsatz her mit religiösem Schrifttum vertraut sind. Der Text legt nämlich in diesem Zusammenhang die Fähigkeit zur sinnvollen Ableitung als ein wichtiges Prinzip seiner verstehenden Erschließung nahe. Darunter werden die Bereitschaft und das Verfahren verstanden, plausible Schlüsse aus der Schrift zu ziehen und persönliche Motive zu revidieren. Als maßgebliche Stütze nennt der Koran explizit die Deutungskompetenz Muhammads sowie der nachdenklichen Zunft, und er impliziert die sachverständige Regelleitung und den gesunden Menschenverstand. Muhammad selbst sieht sich im Sinne seiner Auftragserfüllung aufgerufen, den Streit auszuhalten und auszufechten. Er kann – oder muss – dabei auf den Beistand Gottes hoffen, was ihn wiederum frei macht. Er kann seinen Widersachern zurufen: Selbst wenn ich anders wollte, ich kann nicht. Der Diskurs schließt mit dem Zuruf, dass jeder den Anteil an dem zu erwarten hat, was er selbst an Gutem oder Schlechtem beherbergt. Mit der wiederholten Erwähnung des guten Grußes wird die Sache in das Spektrum der alltagsprak-

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tischen Ethik gebrochen, und zwar auf jene schlaglichtartige Sekunde der zwischenmenschlichen Erstbegegnung, in welcher die Entscheidung zwischen Krieg und Frieden fällt, oder, wie es der Koran an anderer Stelle in Sure 53 formuliert, zwischen Lachen und Weinen. Die Eingangsperspektive hin auf die Vergänglichkeit des Lebens wird im Zuge dieser Textpassage um die Aspekte der Bewertung und der Verantwortung und des Anteils erweitert. Das stellt für sich genommen noch gar keine genuin religiöse Perspektive dar, sondern einfach eine soziale und eine ethische. Dadurch, dass nun abschließend auf den jenseitigen Tag des finalen Ausgleichs verwiesen wird, neigt sich die ganze Sache behutsam auf die spirituelle Ebene, und zwar in zwei Aspekten. Erstens die grundsätzliche Bewertung des Daseins: Das Leben ist nicht einfach sinnlos endlich, sondern es verweist auf das Sterben als notwendigen Übergang in das unendliche Leben danach. Zweitens die Präzisierung der Verantwortung: Sie besteht nicht bloß in ihrer Gestalt als Vernunftprinzip, sondern darin, sich Gott gegenüber persönlich in die Rechenschaft genommen zu sehen; in dieser Hinsicht tritt das Handlungsmotiv vor dem Handlungsergebnis für die Bewertung in den Vordergrund. Das alles lässt sich auf dieser Grundlage auch pädagogisch erörtern. In der Übertragung lassen sich Leitgedanken im Sinne persönlicher Bezugshorizonte gewinnen, die auf die Frage von Glauben und Leben, von Denken und Handeln als Muslime im Kontext der Gesellschaft verweisen. Dabei geht es auch um die pädagogische Dimension generischer Indikative: Welche erwünschten Zielkategorien der persönlichen Entwicklung muslimischer Schülerinnen und Schüler lassen sich beschreiben? Manches davon wirkt vielleicht allzu handlungsorientiert, zu engagiert, zu öffentlich, und mit gewisser therapeutischer Anmutung. Damit werden sicher auch die Grenzen dessen offenbar, was schulisch inszenierter Islamunterricht generell leisten kann. Aber es mag sein, dass sich daran auch Horizonte der Abgrenzung zum Nicht-Machbaren zeichnen lassen, was für die Klärung des Fachprofils um so notwendiger ist, je näher es an die Theologie heranrückt. Der in Rede stehende Text formuliert das Angebot an den Leser, sich als Protagonist zu verstehen – den Islam also gleichsam in die Hand zu nehmen und ihn zu einem Agens der persönlichen Lebensgestaltung zu machen. Es ist eine grundsätzliche Entscheidung, inwieweit dies in das Profil eines Fachs einfließen soll, dem man ebenso entschieden einen vorrangig philosophischen und deskriptiven Charakter geben könnte. Den Ausschlag in dieser Frage könnte geben, inwieweit diese Profilentscheidung in die Hände der Schüler gelegt wird. Der Text legt nahe, sich unmissverständlich im Islam zu verorten, in etwa so wie in 2:208. Dort wird aufgerufen, voll und ganz, also mit Haut und Haaren in den Islam einzutreten und nicht weiter den ausgetretenen Spuren zu folgen. Der ), sondern silm ( ), Begriff für »Islam« lautet dort nicht wie gewohnt isla¯m (

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womit weniger die formale Zugehörigkeit als vielmehr der Zustand oder die Haltung der Person, also der Islam gleichsam als Merkmal innerer Beheimatung zum Ausdruck gebracht werden. Die Idee der Selbstverortung des Subjekts (arab. tasa¯win) beruht auf Textstellen wie 91:7 – 10.10 ˙ Das berührt drei Aspekte, die im Kontext solcher Textstellen mehr oder weniger direkt zum Ausdruck kommen. Erstens: Solche Entschiedenheit in der Selbstverortung birgt Risiken und bedeutet Anstrengung – hier prägt der Koran gelegentlich den Begriff des »Kampfes« (arab. gˇ iha¯d), und der Koran spricht an anderer Stelle von der Urteilskraft (arab. hukm; 19:12) und der Entschlusskraft ˙ (arab. azm; 31:17) vor allem der jungen Lebensjahre (arab. sabiyyan). Die ˙ Veröffentlichung von praktizierter Religion trifft potenziell auf Widerstand. Das zeichnet der Koran nicht etwa als Konfliktlinie zwischen dem Islam und anderen Religionen an, sondern eher als Konfliktlinie zwischen dem Islam und anderen Religionen einerseits und der menschlichen Eigenart andererseits, sich gegen Gott aufzulehnen, sobald von ihm die Rede ist. Dieses an sich der mekkanischen Phase der Koranentstehung zugewiesene Textmerkmal wird von vielen Muslimen als hochgradig gegenwartsrelevant empfunden. Die Spannung zwischen der Eigenart der je genuin eigenen Religion und dem impliziten Aspekt der Solidarität wird vom Koran als positive, als produktive Spannung im Sinne des gemeinsamen Wettstreits beschrieben (vgl. dazu im Koran 16:120 – 128). Zweitens erfordert diese Situation die Verständigung über Standards im Umgang miteinander – über die religiösen Systemgrenzen hinweg und in die nicht-religiösen Systeme hinein. Gegenüber diesen Standards hat der Islam instrumentellen Charakter, er hat dienende Funktion. Das wird in Textstellen wie 2:177 oder aber 17:22 – 3911 sehr klar formuliert. Die Kaprizierung auf den Wahrheitsanspruch des eigenen religiösen Systems auf Kosten solch ethischer Standards widerspricht der Grammatik des Islams, auch wenn heutige Stimmen anderes predigen. Drittens erinnert der Text daran, wie wichtig es ist, in dieser Sache frühzeitig Partner, Unterstützer und Begleiter zu finden. Das verweist auch auf den Zusammenhang von biografischem Werdegang und religiöser Enfaltung. Textstellen wie 31:12 – 19 im Koran unterstreichen dies vor allem für den Fall, dass die 10 In freier Übertragung bringen die Verse 91:7 – 10 zum Ausdruck: »Und beim Menschen und dem, der er ist und der er sein will, und bei seiner Achtsamkeit und seiner Achtlosigkeit: Wer sich zum Besseren verändert, hat Erfolg, aber wer sich aufgibt, hat verloren…« 11 Siehe zur Bedeutung dieses Textes im Zusammenhang mit Levitikus 19 vertiefend H.H. Behr : Die Menschenwürde im islamischen Diskurs, Zeitschrift für die Religionslehre des Islam 1 (2007) Heft 2, 2 ff. Siehe auch D. Krochmalnik: »Wer sind denn die Ungläubigen?« Teil 3: Eine Antwort aus jüdischer Perspektive. Die Belehrung des Yunus – Eine biblische Reflexion, Zeitschrift für die Religionslehre des Islam 2 (2008) Heft 4, 2 ff. (kostenfreier Download aus dem Archiv via www.izir.de).

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eigene Familie in dieser Hinsicht versagt. Diese Erfahrung tragen nicht wenige muslimische Schülerinnen und Schüler mit in den islamischen Religionsunterricht, so dass sich ihr Ringen um Orientierung manchmal mit einer Verve entfaltet, welche die Lehrkräfte etwas ratlos zurück lässt, wenn es sie allzu unvorbereitet trifft. Der Text gestattet die Übersetzung in weitere fundamentale Prinzipien, wie sie sich aus der Analyse der historischen Situation der Textentstehung und an Hand des Kommentars nachzeichnen lassen. Gerade die Notwendigkeit der Kommunikation in die nicht-religiösen Systeme der Gesellschaft hinein verlangt eine spezifische Übersetzungsarbeit zwischen unterschiedlichen Kulturen des Wissensmanagements. Das setzt die Kenntnis der konkreten fachwissenschaftlichen Begrifflichkeit wie auch der hinter ihnen stehenden Denkwelten voraus. Lernen geschieht in der Kommunikation, Kommunikation setzt Begegnung voraus, und Begegnung setzt Bewegung voraus. Der islamische Religionsunterricht hätte demnach die Aufgabe, die Schülerinnen und Schüler umfassend in Bewegung zu setzen. Schließlich legt der Text auf der Ebene des Subtextes, also im Sinne seiner Propositionen nahe, aufmerksam wahrzunehmen, wie man sich selbst als Muslim in der Gesellschaft reflektiert sieht, in der man lebt. Dazu stellt er den Zusammenhang her zwischen dieser Ebene der Reflexion und der Art und Weise, wie man sich persönlich an Gott rückgebunden sieht und das religiöse Leben gestaltet. Sowohl die biografische als auch die soziale Erfahrung bestimmen das religiöse Denken mit. Hier zeichnet der Text die spirituelle Rahmung von der Vergänglichkeit des Lebens und der Hoffnung auf das Jenseits als Fluchtpunkt des Denkens an. Der Koran sieht das Leben vor und hinter der Schwelle des Todes aufeinander bezogen; das ist seine zentrale thematische Achse. In diesem Zusammenhang verweist der Text indirekt auch auf den Umgang mit Angst. Das mag abwegig klingen, aber die Praxis des islamischen Religionsunterrichts zeigt, dass die Selbst- und Weltwahrnehmung junger Muslime mit aufsteigendem Alter zunehmend angstbesetzt ist. Dabei geht es um persönliche Ängste, etwa die vor dem Versagen oder dem Alleinsein, aber auch um medial übertragene Ängste im Zusammenhang mit der Darstellung des Islams oder mit prekären Ereignissen in der islamischen Welt. Das stellt für ein Großteil der Zielgruppen dieses Unterrichts auf Grund ihrer vielfältigen Herkunftsbiografien eine emotionale Belastung dar. Wenn der Religionsunterricht hier auch nicht im Sinne eines therapeutischen Ansatzes aktiv werden kann, so gehört dies als Thematik in das Curriculum – nicht zuletzt mit Blick auf die Dimension der altprophetischen Erzählungen im Koran. Dort geht es oft um die herrschaftskritische Auseinandersetzung mit Machtstrukturen und die Überwindung von Angstlähmung. Dies ist auch, um

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noch einmal zurück zu blicken, eine der zentralen Thematiken junger Menschen während der Umwälzungen in Ägypten gewesen. Dabei hat sich gezeigt, dass die Konzeption von religiösem Unterricht dies in keinster Weise auf ihrer Agenda hatte; dieses Lernziel wurde allein von der Wirklichkeit diktiert. Derlei ist aber so bedeutend, dass es nicht auf solche Ereignisse beschränkt bleiben darf; es gehört in jeden pädagogischen Kontext öffentlicher und engagierter Theologie.

Ästhetisches Erleben Die gegenwärtig geltenden Lehrpläne und Richtlinien für islamischen Religionsunterricht in Deutschland zeigen, wie sehr sich die zuständigen Kommissionen und Autoren bemüht haben zusammenzukratzen, was man alles über den Islam wissen muss, wissen soll und wissen kann – dies im übrigen leider nicht immer in der hier vorgeschlagenen Reihung. Noch ist die Vorstellung zu weit verbreitet, der Islam sei über die Definition von Wissensbeständen fassbar und vermittelbar. Spielerische Zugänge auf der elementaren Lernstufe haben mehr oder weniger Alibifunktion; es geht knallhart zu. Dementsprechend gestalten sich auch die Lernzielkontrollen – es werden akkumulierte Informationen abgefragt. Mancher islamische Religionsunterricht mäandert zwischen den Fächern Ethik und Deutsch mit eindeutigem Schwerpunkt auf Textarbeit. Das ist eine für Lehrer wie Schüler unbefriedigende Situation. Der Zuruf einer muslimischen Lehrkraft im Rahmen einer fachdidaktischen Fortbildung dröhnt dem Verfasser immer noch im Ohr : Im Islamunterricht werde nicht gespielt, sondern gelernt. Der Einspruch dagegen kam prompt von einer Studentin, noch ehe der Verfasser reagieren konnte: »Wo bleibt denn da der Spaßfaktor?«12 Bis vor einiger Zeit wurde mit Blick auf das grundlegende Profil religiösen Unterrichts tatsächlich die Debatte um den Vorrang des Theologischen vor dem Erleben debattiert. Entlang dieser Demarkationslinie entzündet sich aber nicht nur die Machtfrage um den jeweiligen Gestaltungsanspruch religiösen Unterrichts, wie sie zwischen religiöser Institution und Pädagogik ausgetragen wird. Es geht um Grundsätzlicheres, jedenfalls wenn von islamischem Religionsunterricht die Rede ist: Wer hat die Deutungshoheit, und ist Theologie eher eine Profession oder eine Kompetenz? Und ist das auf dem Entwicklungsniveau angesiedelte theologische Denken gegenüber dem akademisch entwickelten weniger wert? Wie groß ist der Mut zur didaktischen Reduktion, und dazu, 12 Vgl. D. Salama: Studiumsbezogene Aspekte und zusammenfassende Bewertung, in: A. Rochdi; M. Ismail; dies.; H.H. Behr : »Das ist unser Fach!« Ein Seminarbericht, Zeitschrift für die Religionslehre des Islam 6 (2012) Heft 10, 10 ff. (kostenfreier Download aus dem Archiv via www.izir.de).

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bereits Schülerinnen und Schülern Eigenständigkeit im religiösen Urteil zuzugestehen – wenn auch verbunden mit der Anerkenntnis bloß der vorübergehenden Vollgültigkeit? Was den Islam angeht, deutet diese Debatte eher auf ein Defizit der Muslime im Umgang mit ihrer eigenen Religion und mit ihresgleichen. In dem durchgängig indikativisch formulierten Lehrplanentwurf eines größeren muslimischen Interessenverbandes in Deutschland, der dem Verfasser zur Begutachtung vorgelegt wurde, stand für die höhere Jahrgangsstufe zu lesen: »Die Auslegung des Korans ist Sache von Experten.« Die pädagogischen Leitgedanken eingangs dieses Dokuments ließen keinen Zweifel daran aufkommen, dass das für den möglichen Fortgang in die Kollegstufe auch so bleibt. Ein einfacher Rekurs auf die Max Webersche Unterscheidung von Virtuosen und Experten hätte hier schon geholfen, dieser Apodiktion die Schärfe zu nehmen und den Satz positiv zu wenden: »Die Auslegung des Korans erfordert bestimmte Kenntnisse.« Mag sein, dass den Autoren wichtig war, dem Missbrauch von Koranauslegung den Riegel vorzuschieben, aber man kann nicht den einen Missbrauch durch den anderen verhindern. Der Koran stellt Hören, Sehen, Denken, Fühlen, Sprechen, Glauben, Erleben und Handeln in einen ganzheitlichen Zusammenhang, ohne dass dem einen ein Vorrang vor dem anderen eingeräumt würde. Die Frage des Zugangs zum religiösen Verstehen ist so unterschiedlich wie die Menschen selbst, und sie hängt stark von der gegebenen Situation ab. Die Unterschiedlichkeit solcher Situationen führt im Koran zu den einen oder anderen Betonungen, aber in der Summe gilt mit Blick auf das ästhetische Erleben der Einklang von Kopf, Herz und Hand. Auch wenn der Koran in Stellen wie 7:170 oder 22:46 scheinbar dem Herzen den Vorrang vor den Augen und den Ohren gibt, kann man das nicht zu der These verallgemeinern, dass das Verstehen im Islam – auch das Verstehen im Zusammenhang mit dem ästhetischen Empfinden – eine alleinige Angelegenheit des Herzens sei. Die erwähnten Stellen haben hinsichtlich ihres dokumentierten Offenbarungsanlasses auch eine rhetorische Funktion, in etwa wie das verwandte Motto eingangs des Romans »Der kleine Prinz« von Antoine de SaintExup¦ry. Im eigentlichen Sinne geht es eher um einen ganzheitlichen Ansatz, bei dem der Koran die Sache des Herzens mit der des Verstandes, der Sprache und des Körpers verbindet. Auch die Begrifflichkeit der Liebe wird vom Koran in einen umfassenderen Zusammenhang gestellt als nur den der Herzensregung. Die folgende Gliederung von Begriffen gründet in der Auslegung von Textstellen wie 2:177, 3:62, 7:179, 12:1 – 3, 22:46, 30:21, 39:23 und anderen; ästhetisches, emotionales und erlebendes Verstehen lässt sich demnach in verschiedene Bereiche elementarisieren, die hier nur knapp aufgelistet werden können (in Klammern koran-arabische Schlüsselwörter in vereinfachter Umschrift):

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die Erfahrung der Erzählung (qasas, qur’a¯n) ˙ ˙ die Beweiskraft des Arguments (bayyina) das wirkliche Vorhandensein des Gegebenen (hadı¯t, tanzı¯l) ˙ ¯ das wirkliche Vorhandensein des Korans (al-qur’a¯n) die persönliche Deutung des Erlebten (ta’wı¯l) die verabredete Symbolkraft und Zeichenhaftigkeit über die persönliche Deutung hinaus (’a¯ya) das Nachdenken und Verstehen ( aql) die allgemein kommunizierbare Inspiration (wah¯ı) ˙ die persönliche Inspiration (ilha¯m) das körperliche (gˇasadı¯) Empfinden der spirituellen (ru¯h¯ı) Erfahrung wie ˙ Inspiration, Liebe, Schönheit, Wahrheit und ähnliche ( irfa¯n) ˘

Insbesondere die Spannung etwa zwischen ’a¯ya und ta’wı¯l oder zwischen anamnesis und empireia lässt aufleuchten, welche kreative Energie hier für das religiöse Nachdenken gewonnen werden kann, wenn nicht a priori der eine Gesichtspunkt zum Primat über den anderen erhoben wird. Über solche Begrifflichkeiten lässt sich das religiöse Lernen im Islam sehr stark an das Subjekt rückbinden. Für weitere Konzipierungen von islamischem Religionsunterricht, sei es auf der curricularen Ebene, der der Medien oder derjenigen der Lehrerbildung, wird es darauf ankommen, diesen Aspekten mehr Raum zu verschaffen.

Philosophische Vertiefung

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Der Islam als Thema eines Kollegstufenunterrichts legt die Notwendigkeit philosophischer Vertiefung nahe. Dies nicht nur angesichts seiner Bedeutung für die spätere europäische Ideengeschichte, sondern vor allem mit Blick auf seine eigene Theologiegeschichte. Denn mit dem bisher hier Erörterten lässt sich eine Spur legen, die bislang in islamischen Bildungsplänen vernachlässigt wird, die aber in der Hochblüte der islamischen Philosophie zwischen dem 8. und 13. Jahrhundert eine große Rolle spielte: Der Mensch ist in der Lage, sich selbst zu erfinden. Zwischen dem anthropologischen Entwicklungsplan des Schöpfers und den beobachtbaren Wirksamkeiten menschlicher Selbstentwürfe besteht ein bemerkenswertes Spannungsverhältnis, über das bereits frühe islamische ˘ abbariyya oder Schulen wie die Mu tazila, die Asˇ ariyya, die Ma¯turı¯diyya, die G die Qadariyya in prinzipiellen Streit gerieten. Ging es seinerzeit eher um Fragen der Natur Gottes oder des Korans, so wirkte sich das auch auf das Menschenbild aus (»man halaqa l-if a¯l – Wer erschafft die Taten des Menschen?«). Heute wirkt ˘ dieses Spannungsverhältnis beispielsweise in den Debatten um das heterogene muslimische Menschenrechtsverständnis nach. ˘

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Solches gehört zum einen als Thema in den islamischen Religionsunterricht der Kollegstufe, ist zum anderen aber auch ein pädagogisches Führungsprinzip: In der Selbsterfindung des Subjekts als religiöses Wesen, und zwar nicht zuletzt in den spielerischen Aspekten dieses Zugangs, könnte der Schlüssel zu dem liegen, was Muhammad als eines seiner Kernanliegen formulierte: den Menschen dabei zu helfen, das zu vervollkommnen, was bereits in ihnen angelegt ist, und sie damit glücklich und nicht unglücklich zu machen. Ein guter Unterricht müsste den dafür nötigen geistigen Bewegungsraum öffnen, er darf ihn nicht verschließen. In fachwissenschaftlicher Hinsicht käme es bei seiner curricularen Grundlegung deshalb darauf an, Themen islamischer Philosophie zu berücksichtigen. Dazu gehören grundlegend diskutierte Fragen, wie die nach der Natur des Menschen, der Zeit, des Lebens, des Wissens, der Vernunft und der Vorstellungskraft, nach der Verschiedenheit der Menschen und ihrer Kulturen, nach dem Wechselverhältnis von Religion und Religiosität (Spiritualität) oder dem von Wirklichkeit und Wahrheit. Fundamentale Konzepte der antiken Philosophie wie etwa neuplatonische, aristotelische oder epikuräische Begriffe, die Eingang in das islamische Denken gefunden haben, gehören ebenso auf die Agenda wie große Namen islamischer Philosophie und Mystik, etwa al-Ghazali, Ibn Rushd, Ibn Sina oder Mulla Sadr bis hin zu muslimischen Denkern etwa in der islamischen Literatur der Moderne und Postmoderne, zum Beispiel Nagib Mahfuz.

Kompetenzen? Um den Kompetenzbegriff in schulischen Bildungskontexten wurde viel gerungen. Die Zuordnung bewährter Begriffe wie Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten ist dabei manchmal zu kurz gekommen. Gegenwärtig stammen einige schlüssige Deklinationen dieses Begriffsfeldes eher aus den Konzeptionen der neu entstehenden islamisch-theologischen Studiengänge, weil es seit den Beschlüssen von Bologna und den in Folgeprotokollen geronnenen Erfahrungen eindeutige Richtlinien gibt, an die sich die Universitäten halten müssen. An sich widerstrebt es dem Verfasser, akademische Standards auf die Schule herunter zu brechen. Aber in diesem Falle könnte genau das dabei helfen, das Scharnier zwischen einem islamischen Religionsunterricht im Mittelfeld und dem der gehobenen Riege zu beschreiben. Doch zunächst zu allgemeinen Kategorien mit Blick auf die Befähigung von Schülerinnen und Schülern. Hier lassen sich einfache bildungsphilosophische Leitmotive beschreiben, wie sie sich aus dem Schriftfundus des Islams ableiten

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lassen.13 Es handelt sich dabei eher um ethische Kategorien im Sinne eines sozialen Verhaltensmanagements, die zum einen in pädagogische Zielvorstellungen münden können, zum anderen aber auch den pädagogischen Takt in der Unterrichtssituation vorgeben (in Klammern koran-arabische Schlüsselwörter in vereinfachter Umschrift): – das Zutrauen in Gott und in sich selbst (tawakkul) – die Nachsicht im Umgang mit sich selbst und anderen (luyu¯na) – die Achtsamkeit im Umgang mit sich selbst und der Schöpfung insgesamt (ihsa¯n) ˙ – der gesellschaftliche Frieden (sala¯m) – die Gerechtigkeit ( adl) – die Sicherheit (’amn) Die Herleitung eines Begriffs wie etwa den der Sicherheit geht auf die Analyse der Abrahams-Erzählung in der 6. Sure zurück, die der Achtsamkeit auf eine For˘ ibrı¯l, wo er im Zuge der Ermulierung Muhammads im so genannten hadı¯t G ˙ ¯ scheinung des Engels Gabriel in der Moschee die Haltung dessen beschreibt, der sein Leben im Bewusstsein um das Angesicht Gottes führt. An dieser Stelle soll auf die Bedeutung einer übergeordneten Kategorie hingewiesen werden, die in etwa so auch schon weiter oben im Text angeleuchtet wurde: das Anliegen, die Orientierung des Einzelnen zu einem in religiösen Fragen selbstbestimmten Leben zu ermöglichen. Es geht um die Befähigung der Person, sich in Fragen des Glaubens und der Religion selbst zu führen, hier gefasst mit dem arabischen Begriff tazkiyya. Der Koran nimmt an einigen Stellen wie 5:48 oder 49:14, aber auch 2:177 und 2:285 eine stringente Verhältnisbestimmung von religiöser Rahmung und religiösem Gehalt vor. Dabei scheint auf, dass der Islam die formalen Aspekte der Religionslehre in den Dienst eines nicht-formalisierbaren Ziels stellt, das im Wesentlichen aus drei Setzungen besteht: die »Verbesserung« (tazkiyya), die »Veredelung« (kama¯l) und »Verschönerung« (isla¯h) des Menschen und des Lebens. Der Islam stellt damit eine Zu˙ ˙ kunftsoption in den Raum, die unabhängig ist von den geerdeten Abhängigkeitsparadigmen der materiellen Versorgung, der Sicherheit und des Wachstums, über die sich der Mensch in die Schöpfung eingebunden sieht. Es kann diskutiert werden, inwieweit es sinnvoll ist, solche Begriffe zu systematisieren. Es hat sich aber im Zuge der Fortbildungen von muslimischen Lehrkräften erwiesen, dass dies für die Sortierung von Lernzielen für eine Unterrichtssequenz durchaus hilfreich sein kann. Zu diesem Zwecke wurde ein 13 Vertiefend: L. Djahani-Gürsoy : Die pädagogische Tradition des Islams in ihren Anfängen, Zeitschrift für die Religionslehre des Islam 3 (2009) Heft 6, 14 ff. (kostenfreier Download aus dem Archiv via www.izir.de).

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Begriff wie tazkiyya in den Zusammenhang mit anderen aus dem Koran abgeleiteten Begriffen gesetzt, die die Anknüpfung an Aspekte des Einübens oder der konkreten Handlung ermöglichen (wahrnehmen, beschreiben, urteilen, verstehen, handeln…), in etwa in folgender Taxonomie, ohne diachronische Reihung (in Klammern koran-arabische Schlüsselwörter in vereinfachter Umschrift): – das Einüben von Haltungen und die Befähigung zur Selbstführung der Person (tazkiyya) – die Schulung und Stärkung der religiösen Urteilskraft (tahkı¯m) ˙ – die Schulung des guten Verhaltens im umfassenderen Sinne (ta’dı¯b) – die Deutung der Welt und des Selbst auf Grundlage der religiösen Informationsbestände (tila¯wa) – das Verständnis vom Menschen und den Einflussfaktoren auf sein Leben (talqı¯n) – die Übermittlung und Kunde der religiösen Informationsbestände (ta lı¯m) – die Gewöhnung an eine innere und äußere Ordnung durch das Einüben der religiösen Lebensweise (ta wı¯d) ˘

Soweit zu einigen Grundlagen aus dem Bereich der Fachdidaktik und der Lehrerbildung, wie sie in Bayern etwa im Rahmen eines geregelten 2-jährigen Bildungsgangs an der Staatlichen Akademie für Lehrerbildung und Personalführung in Dillingen mit abschließender Zertifikatsprüfung durchgeführt wurden. Nun zu den angekündigten Aspekten aus dem Bereich der Universität. Für den neu eingerichteten BA Islamisch-Religiöse Studien (IRS) an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg wurden ausführliche Kompetenzbeschreibungen vorgenommen, so wie das generell für Studiengänge Pflicht ist. Dabei ging es nicht nur um die allgemeinen Kompetenzen, sondern auch um fachspezifische, die hier auf die folgenden Formeln verkürzt wiedergegeben werden, und zwar in dem für solche Zwecke bindenden, wenn auch nicht immer sinnvollen pädagogigschen Indikativ : »Nach dem Studium des BA IRS verfügen die Absolventen und Absolventinnen über folgende übergreifende Kompetenzen; sie können: 1. islamisch-religiöse Fachsprache grundlegend beherrschen 2. über ausgewogene grundlegende bezugssprachliche Fertigkeiten verfügen (mit vorrangigem Bezug zur Lektüre arabischer Quellentexte in Verbindung mit der grundlegenden Intention des Studienangebots: Kenntnisse, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Bereitschaften sowie Diskurs- und Problemlösungsorientierungen in ihren jeweiligen islamisch-religiösen Bezügen) 3. über wesentliche hermeneutische Fähigkeiten auf Grundlagenniveau verfügen, die für den verstehenden Zugriff auf die Schriftquellen des Islams benötigt werden

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zum kategorialen Perspektivenwechsel zwischen methodisch vielfältigen Zugängen zum Islam als Religion und Lebensweise fähig und bereit sein 5. zur beruflichen Arbeit mit Menschen an den Schnittstellen zwischen gesellschaftlichen Systemen, Subjekt und Islam fähig und bereit sein 6. für Forschungsfragen (Entdeckung persönlicher Neugiermotive) im Bereich islamisch-religiöser Studien sensibilisiert sein 7. bereit sein, solchen Motiven im Rahmen des anschließenden MA bzw. weiterer akademischer Professionalisierung und Qualifizierung nachzugehen 8. für relevante Problemstellungen bezüglich des Islams und der Musliminnen und Muslime in der Gesellschaft sensibilisiert sein 9. befähigt sein, solche Problemstellungen im Rahmen des beruflichen und gesellschaftlichen Handelns zu bearbeiten 10. fähig sein, religiöse Gewissheiten auf der Grundlage überprüfbarer Information und wissenschaftlicher Regelleitung zu reflektieren 11. über berufsfeldbezogene Qualifikationen im Sinne der Selbstbehauptung auf dem Arbeitsmarkt (employability) gesichert verfügen.«14

4.

Diese Vorgaben sind so nicht auf die Schule übertragbar, aber einige der Zielvorstellungen lassen sich womöglich doch auf das Anforderungsniveau der Kollegstufe hin formulieren, und zwar vielleicht so:

islamisch-religiöse Fachsprache grundlegend beherrschen grundlegende Kenntnisse, Fertigkeiten, Fähigkeiten und Bereitschaften sowie Diskurs- und Problemlösungsorientierungen in exemplarischen islamisch-religiösen Bezügen entwickeln 3. über einfache hermeneutische Fähigkeiten auf Grundlagenniveau verfügen, die für den verstehenden Zugriff auf die Schriftquellen des Islams benötigt werden 4. zum kategorialen Perspektivenwechsel zwischen methodisch unterschiedlichen Zugängen zum Islam als Religion und Lebensweise fähig und bereit sein 5. zum verantwortungsvollen Handeln mit Menschen an der Schnittstelle zwischen eigenem Umfeld, eigener Person und Islam fähig und bereit sein 6. für Entwicklungsfragen (Entdeckung persönlicher Neugiermotive) im Bereich des Islams sensibilisiert sein 7. bereit sein, solchen Motiven im persönlich gegebenen Rahmen weiter nachzugehen 8. für relevante Problemstellungen bezüglich des Islams und der Musliminnen und Muslime in der Gesellschaft sensibilisiert sein 9. befähigt sein, solche Problemstellungen im Rahmen des eigenen Handelns wahrzunehmen 10. fähig sein, religiöse Gewissheiten auf der Grundlage überprüfbarer Information zu reflektieren 11. bereit sein, weitere bildungsrelevante Angebote im Bereich des Islams wahrzunehmen. 1. 2.

14 Zitat aus den internen Einrichtungsunterlagen.

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Ausblick

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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Fachprofil islamischen Religionsunterrichts von verschiedenen Seiten aus angegangen werden kann. Dabei gilt es, grundlegende Intentionen zu berücksichtigen: Es soll ein Unterricht sein, der im ausgewogenen Maße theologische Authentizität darstellt, der die gesellschaftliche Relevanz seiner Themen erschließt, der persönliche Orientierung in existenziellen Situationen ermöglicht, der zur Entdeckung der philosophischen Vielfalt des Islams einlädt, der ein Gegengewicht zur kulturellen Vereinseitigung des Islams darstellt und der in diesem Zusammenhang die Bedeutung der Schrifthermeneutik betont. Er soll das Verständnis axiomatischer Verhältnisbestimmungen ermöglichen, wie etwa die zwischen dem Gebotenen und dem Unbotmäßigen (normative Ebene), zwischen Mensch und Gott (anthropologische Ebene), zwischen Tradition und Situation (methodologische Ebene), zwischen Subjekt und Gemeinschaft (soziale Ebene) und zwischen dem Sichtbaren und dem NichtSichtbaren in der Religion (psychologische Ebene). Er soll zudem helfen, existenzielle Neugierfragen wie etwa die nach dem wesenhaft Bösen in der Welt, nach dem Leid, nach Mensch und Gott, nach dem Umgang mit der Schöpfung oder nach der Verhältnisbestimmung von Frau und Mann ihrer religiösen Bearbeitung zuzuführen und dabei die unterschiedlichen Ebenen des Verstehens ansprechen. Er soll die globale solidargemeinschaftliche Perspektive gegenüber der partikular-muslimischen Perspektive stärken und die Bereitschaft anbahnen und einüben, auf der Grundlage persönlicher religiöser Motive Hand in Hand mit anderen an der Lösung von Problemen zu arbeiten, die nicht an den Grenzen religiöser Gemeinschaften Halt machen. Dies stünde dann im übrigen im besten Sinne in einer uralten islamischen Tradition, nämlich dem »Aufruf zum gemeinsamen guten Handeln«, egal wer da antwortet, arabisch da wa bil-ha¯l. ˙

Clauß Peter Sajak

Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe – eine katholische Perspektive

Habitus und Kritik – zu Erwartungen an den schulischen Religionsunterricht Am Beginn des Beitrags von Harry Harun Behr steht eine Schüleräußerung: »Wir brauchen nicht Islam plus Schule, wir brauchen einfach nur Islam.« Schwerlich wird man eine katholische Schülerin oder einen katholischen Schüler finden, die eine solche Aussage für den katholischen Glauben formulieren würde, etwa: »Wir brauchen nicht die Kirche plus Schule, die Kirche allein genügt!« Eher schon wird man Äußerungen finden, in denen der schulische Religionsunterricht akzeptiert und prinzipiell geschätzt wird, während eine außerschulische Praktizierung von Glaube und Religion genervt zurückgewiesen wird, etwa nach dem Motto: »Reli in der Schule ist ja ganz ok, aber deshalb gehe ich doch nicht in die Kirche«. Empirische Studien gibt es zu diesem Zusammenhang noch nicht, aber die jährlich erhobene kirchliche Statistik ist beredt: Während im Katholischen Religionsunterricht bundesweit weniger als 5 % aller Schülerinnen und Schüler von ihrem Recht auf Abmeldung Gebrauch machen – 95 % (!) der katholischen Kinder und Jugendlichen besuchen also den Katholischen Religionsunterricht in ihrer Schule1 – nehmen am sonntäglichen Gottesdienst, der für Katholiken aufgrund des sakramentalen Charakters der Eucharistiefeier eigentlich einen hohen Verpflichtungscharakter besitzt, nur noch knapp 13 % der Gläubigen teil – und hier ist noch nicht berücksichtigt, dass unter den Gottesdienstbesuchern in der Regel wenige Kinder und Jugendliche sind.2 Zu diesen Zahlen fügen sich die Aussagen der großen empiri1 A. Verhülsdonk: Ein Beruf mit Zukunft. In: WegBereiter. Magazin für Berufe der Kirche (2003) Heft 3, 18. Laut Aussage von Dr. Andreas Verhülsdonk, Referent für den Religionsunterricht im Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz in Bonn, ist die Zahl der Abmeldungen, die auf Angaben der diözesanen Schulverwaltung beruhen, in den vergangenen zehn Jahren stabil geblieben. 2 Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Katholische Kirche in Deutschland. Zahlen und Fakten 2010/11, Bonn 2012, 17.

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schen Jugendstudien, die bei muslimischen Jugendlichen eine große Übereinstimmung mit zentralen Glaubensaussagen und eine lebendige religiöse Praxis attestieren, während bei den christlichen Jugendlichen die Zu- und Übereinstimmungswerte in diesen Bereichen eher bescheiden ausfallen.3 Behr spricht in seinem Beitrag davon, dass Schülerinnen und Schüler im Islamischen Religionsunterricht die Bearbeitung von habitualisierenden wie kritisierenden Elementen erwarten.4 Auch hier kann man aus katholischer Perspektive nur sagen: Die wenigsten katholischen Schülerinnen und Schüler erwarten vom Religionsunterricht eine habitualisierende Ausrichtung, vielmehr wollen sie sich in der Regel kritisch mit der Kirche und ihrer Lehre auseinandersetzen. Nimmt man also die Subjekte schulischer Lernprozesse im Religionsunterricht in den Blick, so scheinen katholische und muslimische Schülerinnen und Schüler diametral unterschiedliche Erwartungen an den Religionsunterricht zu haben: Für die einen scheint er der einzige Modus einer ansonsten nicht mehr praktizierten Religion zu sein – Andreas Feige verwendet deshalb den Begriff der Bildungs- bzw. Schulreligion für die Religion junger Christen heute5 – für die anderen ist er ein Experiment, das für ihre Religion und ihren persönlichen Glauben eigentlich nicht nötig ist und dem manche auch skeptisch gegenüberstehen. Das scheint auf den ersten Blick nicht unproblematisch: Da der Islamische Religionsunterricht in den verschiedenen Bundesländern gerade analog zu den christlichen Bekenntnisfächern konstruiert, eingeführt und ausgestaltet wird, ist doch zu fragen, ob so unterschiedliche Gruppen von Schülerinnen und Schülern in einem so ähnlichen, weil analogen didaktischen Format religionspädagogisch erfolgreich unterrichtet und begleitet werden können. Dies ist mir besonders deutlich bei der Lektüre von Behrs Ausführungen zu den angestrebten Zielen und Kompetenzen eines Islamischen Religionsunterrichts in der Kollegstufe aufgefallen: Wenn hier von einem Unterricht die Rede ist, der zum einen zu Orientierungs- und Entscheidungsfähigkeit führen, zum anderen in einer propädeutischen Funktion für das Studium der Islamischen Theologie vorbereiten soll,6 so deckt sich das mehr oder weniger vollständig mit den Bildungszielen des Katholischen Religionsunterrichts, wie sie in kirchlichen und staatlichen Referenzpapieren beschrieben und verpflichtend gemacht werden.7 3 Vgl. Jugendwerk der Deutschen Shell (Hrsg.): Jugend 2010, Opladen 2010, 204 – 207. 4 Vgl. H.H Behr : Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe, in diesem Buch S. 25. 5 Vgl. A. Feige; B. Dressler ; W. Lukatis; A. Schöll: ›Religion‹ bei ReligionslehrerInnen. Religionspädagogische Zielvorstellungen und religiöses Selbstverständnis in empirisch-soziologischen Zugängen. Münster 2000, 464 f. 6 Vgl. H.H. Behr : Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe, in diesem Buch S. 23 f. 7 Vgl. Die deutschen Bischöfe: Der Religionsunterricht in der Schule. In: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Nachkonziliare Texte zu Katechese und Religionsun-

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Doch kann dies angesichts der beschriebenen Schülerklientel überhaupt funktionieren? Meine These in diesem Beitrag ist die: Es kann funktionieren, weil sich muslimische und christliche Kinder und Jugendliche mit ihren Erwartungen im schulischen Religionsunterricht zwar auf diametral entgegengesetzten Positionen befinden, diese aber lediglich verschiedene Stadien in einem Bildungsgeschehen markieren, das letztendlich alle Schülerinnen und Schüler zu einer postkonventionellen Religiosität führen will, die durch Distanz, Reflexivität und Positionalität geprägt sein soll.8 Dieses Bildungsziel aber beruht auf der religionspädagogischen Dialektik von Indukation und Edukation.

Indukation und Edukation – zum Begriff religiöser Bildung Mit den genannten Bildungszielen ist implizit auch ein spezifischer Bildungsbegriff eingeführt worden: Bildung als Differenzvermögen. War bei Wilhelm von Humboldt Bildung noch von der Idee individueller Selbstkonstitution und Entfaltung geprägt, so postulierte die Frankfurter Schule – exemplarisch bei Theodor W. Adorno – geprägt durch den Zivilisationsbruch im 20. Jahrhundert eine Bildung, deren Kern die »Kraft zur Differenz, zur Unterscheidung und Entschiedenheit, die im Widerstand reift«9, ausmacht. Bildung zielt also auf das Vermögen, einen Schritt zurückzutreten und sich in Differenz zu setzen. Was aber bedeutet dann religiöse Bildung? Der Bildungswissenschaftler Jürgen Baumert hat im Kontext der PISA-Studie vier ›Modi der Weltbegegnung‹ identifiziert, welche als grundlegende Wirklichkeitszugänge die Voraussetzung individueller Bildung darstellen und die jeweils eigenständig wie unersetzbar sind: die kognitiv-instrumentelle (Mathematik, Naturwissenschaften), die moralischevaluative (Geschichte, Wirtschaft, Sozialkunde/Politik, Recht), die ästhetischexpressive (Sprache, Literatur, Kunst, Musik) und die konstitutive Rationalität terricht (Arbeitshilfen 66), Bonn 1989, 127 – 160; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Die bildende Kraft des Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des Religionsunterrichts (Die deutschen Bischöfe 56), Bonn 1996; dies. (Hrsg.): Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 5 – 10/ Sekundarstufe (Mittlerer Bildungsabschluss) (Die deutschen Bischöfe 78), Bonn 2004; dies. (Hrsg.): Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen (Die deutschen Bischöfe 80), Bonn 2005; dies. (Hrsg.): Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in der Grundschule/Primarstufe (Die deutschen Bischöfe 85), Bonn 2006. 8 C.P. Sajak: Einführung in die Religionsdidaktik, in: ders. (Hrsg.): Praktische Theologie. Theologie studieren – Modul 4. Paderborn 2011, 65 – 119, hier 103. 9 K. Pongratz: Art. »Bildung« in: Lexikon der Religionspädagogik, Bd. 1. Neukirchen-Vluyn 2001, Sp. 192 – 198, hier 197.

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(Religion, Philosophie).10 Konstitutiv ist diese Rationalität, weil sie Grundkategorien (z. B. Gott) sowie Erklärungs- bzw. Deutungsmuster (z. B. Schöpfung) liefert, mit denen der Mensch über die Totalität von Wirklichkeit reflektieren und sich selbst mit dieser produktiv auseinandersetzen kann. In diesem Referenzrahmen formuliert, zielt religiöse Bildung entsprechend auf das Vermögen, das Ganze von Wirklichkeit in den Blick zu nehmen und sich dann zu diesem Ganzen in ein Verhältnis zu setzen. Für den Katholischen Religionsunterricht hat deshalb die Würzburger Synode (1972 – 1975) eine bis heute gültige Ziel- und Aufgabenbeschreibung formuliert, die einen genau solchen Bildungsbegriff erkennen lässt: Es soll im konfessionellen Religionsunterricht in der öffentlichen Schule darum gehen, »mit der Wirklichkeit des Glaubens und der Botschaft, die ihm zugrunde liegt« vertraut zu machen und »zu persönlicher Entscheidung in Auseinandersetzung mit Konfessionen und Religionen, mit Weltanschauungen und Ideologien« (Der Religionsunterricht in der Schule 2.5.1)11 zu befähigen. In den von Harry Behr zitierten Kompetenzkatalogen aus dem bayerischen Kontext heißt es in analoger Weise, dass im Islamischen Religionsunterricht »das Einüben von Haltungen und die Befähigung zur Selbstführung der Person (tazkiyya), die Schulung und Stärkung der religiösen Urteilskraft (tahkı¯m), die Schulung des guten Verhaltens im umfas˙ senderen Sinne (ta’dı¯b) [und] die Deutung der Welt und des Selbst auf Grundlage der religiösen Informationsbestände (tila¯wa)«12 aufgezeigt und eingeübt werden solle. Eine solche Entscheidung von christlichen wie muslimischen Schülerinnen und Schülern setzt aber Orientierungs- und Entscheidungskompetenz voraus, der entsprechende Unterricht Grundmomente von Information und Diskurs, die von Rudolf Englert in inzwischen klassischer Weise als Indukation und Edukation bezeichnet worden sind: Religiöse Bildung im Rahmen des schulischen Religionsunterrichts ist zum Einen immer Indukation, also Hineinführung, weil sie mit dem Modus der konstitutiven Rationalität als Erschließungsperspektive von Wirklichkeit vertraut macht. Dies kann nur gelingen, wenn eine bestimmte, tradierte Sehweise auf das Ganze von Wirklichkeit eröffnet wird, die »sich wesentlich am Material der Vorgaben einer konkreten Religion – an bestimmten Glaubensüberzeugungen, bestimmten Institutionalisierungsformen, bestimmten rituellen Vollzügen, bestimmten Formen alltagsweltlich wirksamer Frömmigkeit usw.«13 entfaltet. Edukation, Herausführung, bezeichnet dagegen jenes 10 J. Baumert: Deutschland im internationalen Bildungsvergleich. In: N. Killius; J. Kluge; L. Reisch (Hrsg.): Die Zukunft der Bildung, Frankfurt a. M. 2002., 100 – 150, hier 106 f. 11 Die deutschen Bischöfe: Der Religionsunterricht in der Schule (1989) 127 – 160. 12 H.H. Behr: Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe, in diesem Buch S. 37 f. 13 R. Englert: Religionspädagogische Grundfragen. Anstöße zur Urteilsbildung, Stuttgart 2008, 165.

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Element im Bildungsprozess, das ein Subjekt befähigen soll, einen eigenen Standpunkt einzunehmen, der dann auch in Differenz zu Erwartungen der Gesellschaft stehen kann. Für die religiöse Bildung bedeutet dies, dass sie nur gelingen kann, »wenn dem einzelnen Subjekt die Freiheit eröffnet wird, sich die in religiösen Traditionen ›aufgehobene’ Sinnsicht auf eine mit seiner jeweiligen biographischen Problemlage korrelierenden Weise anzueignen; dies gilt speziell auch für die Erschließung des christlichen Glaubens«. Es bedeutet aber auch: »Auf diese Weise kommt es notwendig zu einer Pluralität von Realisationsformen«.14 Für den Religionsunterricht, der ja immer auch im Rahmen seiner konfessionellen Verortung um Tradition bemüht ist, ergibt sich damit als grundsätzliche Problemstellung eine folgenreiche Dialektik: Sie schafft durch die Edukation die Fähigkeit zu Distanz und Differenz und damit Pluralität, welche stets neue Problem- und Aufgabenstellungen schafft, wenn es um die Indukation in einer spezifische Tradition und damit ja auch um deren Bewahrung geht. In die Spannung dieser Dialektik sind nun die Positionen der Schülerinnen und Schüler im Islamischen wie Katholischen Religionsunterricht einzuzeichnen: Während die Mehrheit der muslimischen Kinder und Jugendlichen durch eine Sozialisation in kulturell und religiös traditionellen Kontexten über viele Informationen und Kompetenzen zu Koran und Islam verfügen, hat sich die überwiegende Zahl der christlichen Schülerinnen und Schüler der Religion und dem christlichen Glauben stark entfremdet. Trotz einer nominellen Zugehörigkeit zur Katholischen Kirche finden sich bei ihnen kaum Wissensbestände und nur wenig religiöse Kompetenz. Entsprechend kommt dem Katholischen Religionsunterricht verstärkt die Aufgabe der Indukation zu, bevor überhaupt an die für die Edukation wichtigen Schritte gedacht werden kann. Die deutschen Bischöfe haben von kirchlicher Seite aus diese Problematik in den Blick genommen, wenn sie in der jüngsten Verlautbarung zum Religionsunterricht »Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen« betonen: »Deshalb gehört es zu den wesentlichen Aufgaben des Religionsunterrichts, den Schülerinnen und Schülern Kenntnisse des katholischen Glaubens sowie Fähigkeiten im sachgemäßen Umgang mit religiösen Fragen, Themen und Zeugnissen zu vermitteln. Die Stärkung des Grundwissens im Religionsunterricht ist auch religionspädagogisch begründet. Vielen Schülerinnen und Schülern sind die zentralen Glaubensaussagen der Kirche unbekannt. In der alltäglichen Begegnung mit Menschen unterschiedlicher religiöser oder säkularer Überzeugungen stellt sich ihnen die Frage, woran Menschen glauben, worin die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den verschiedenen Religionen und Konfessionen bestehen, aber auch was sie selbst für wahr halten sollen und wie sie sich Menschen mit anderen Überzeugungen und fremden 14 Ebd. 167.

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Lebensstilen gegenüber verhalten sollen. Der Religionsunterricht wird deshalb die Vermittlung grundlegender Kenntnisse des katholischen Glaubens und anderer Konfessionen und Religionen mit der Gottes- und Wahrheitsfrage und mit der Erziehung zur Toleranz verbinden.«15

Es gehört zu den Problemstellungen des Katholischen (und sicher auch des Evangelischen, über den hier aber nicht zu sprechen ist) Religionsunterrichts, dass im konkreten Unterrichtsgeschehen immer noch davon ausgegangen wird, man müsse die Schülerinnen und Schüler vornehmlich in eine kritische Distanz zu ihrem eigenen Glauben führen. Dabei wird oft übersehen, dass christliche Kinder und Jugendliche nur wenig oder kaum über Grundwissen in ihrer eigenen Religion verfügen und ihr Glaube wenig konturiert und positioniert ist. Insofern ist inzwischen die religionsdidaktische Indukation, also eine gründliche Einführung in die eigene christliche Religion katholischer Konfession die erste Aufgabe, dann erst kann es zu einer sinnvollen Organisation edukativer Lernprozesse kommen. Für den Islamischen Religionsunterricht besteht dagegen vielmehr die Aufgabe, die vielfältigen Erfahrungen mit traditionellen Sozialisationsformen und das vermittelte Wissen aus dem Bereich des Islam einer gründlichen Analyse und Prüfung zu unterziehen. Indukation wird sich hier vor allem in der Korrektur traditioneller volksreligiöser Vorstellungen aus der Perspektive einer an den Kriterien der wissenschaftlichen Islamischen Theologie ausgerichteten Fachdidaktik und an der folgenden edukativen Reflexion eigener religiöser Optionen und Positionen ausrichten. Dafür aber bedarf es eines theologischen Referenzsystems.

Umkehr und Rechenschaft – zu den theologischen Voraussetzungen In seiner Auslegung der Sure 4:78 – 87 skizziert Harry Harun Behr einen theologischen Referenzrahmen, der für ihn den Kontext islamischer religiöser Bildung konstituiert. Dabei entfaltet er in drei Dimensionen den zentralen theologischen Gedanken, dass Schülerinnen und Schüler sich als Protagonisten in Sachen Religion und Glauben verstehen sollen, um »den Islam also gleichsam in die Hand zu nehmen und ihn zu einem Agens der persönlichen Lebensgestaltung zu machen. Es ist eine grundsätzliche Entscheidung, inwieweit dies in das Profil eines Fachs einfließen soll […].«16 Für die erste dieser entfalteten Dimensionen wählt Behr den Begriff des g˘ iha¯d, den er als Anstrengung bezeichnet. 15 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen (Die deutschen Bischöfe 80), Bonn 2005, 19. 16 H.H. Behr: Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe, in diesem Buch S. 30.

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Dabei werde der »Koran nicht etwa als Konfliktlinie zwischen dem Islam und anderen Religionen [verstanden, Anm. d. Verf.], sondern eher als Konfliktlinie zwischen dem Islam und anderen Religionen einerseits und der menschlichen Eigenart andererseits, sich gegen Gott aufzulehnen, sobald von ihm die Rede ist.«17 Zum zweiten erfordert eine solche Anstrengung »die Verständigung über Standards im Umgang miteinander – über die religiösen Systemgrenzen hinweg und in die nicht-religiösen Systeme hinein. Gegenüber diesen Standards hat der Islam instrumentellen Charakter, er hat dienende Funktion.«18 Und zum dritten »erinnert der Text daran, wie wichtig es ist, in dieser Sache frühzeitig Partner, Unterstützer und Begleiter zu finden. Das verweist auch auf den Zusammenhang von biografischem Werdegang und religiöser Entfaltung.«19 In der Begrifflichkeit der christlichen Religionspädagogik könnte man sagen: Islamischer Religionsunterricht zielt auf eine religiöse Entscheidungsfähigkeit, die sich durch kritische Selbstreflexion und Selbstpositionierung, interreligiöse und interkulturelle Verständigung wie auch durch Einführung und Beheimatung in einer Gemeinschaft von Glaubenden auszeichnet. Auch der katholische Religionsunterricht kennt eine solche theologische Ausrichtung und Zielbestimmung. Nicht nur der Synodenbeschluss »Der Religionsunterricht in der Schule«20, dessen Ziele oben bereits kurz angesprochen wurden, sondern auch die bereits zitierten jüngsten Verlautbarungen der deutschen Bischöfe – zum Beispiel »Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen«21 – kennen eine analoge Entfaltung des religionspädagogischen Handelns. Im letztgenannten Dokument wird, wie bereits zitiert, die Vermittlung von konfessionellem und religiösem Grundwissen als eine der drei zentralen Aufgaben des Religionsunterrichts heute verlangt, ebenso aber die Einführung in die religiöse Praxis, die mit der Formel »Vertraut machen mit Elementen gelebten Glaubens« bezeichnet wird, und die Hinführung zu einer »religiöse[n] Dialog- und Urteilsfähigkeit«. Es ist offensichtlich, wie sich diese von den deutschen Bischöfen genannten Grundaufgaben zu den von Behr formulierten Grundlinien eines islamischen Religionsunterrichts fügen: Religiöse Entscheidungsfähigkeit, interreligiöse Verständigung und Beheimatung in der Gemeinschaft der Glaubenden. Es ist dabei im Blick zu behalten, dass sowohl diese Verlautbarung der deutschen Bischöfe, wie auch die Kompetenzerwar17 18 19 20

Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. Die deutschen Bischöfe: Der Religionsunterricht in der Schule. In: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Nachkonziliare Texte zu Katechese und Religionsunterricht (Arbeitshilfen 66), Bonn 1989, 127 – 160. 21 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hrsg.): Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen (Die deutschen Bischöfe 80), Bonn 2005.

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tungen an Schülerinnen und Schüler im katholischen Religionsunterricht in den parallel erschienenen »kirchlichen Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht«, auf das inzwischen klassische Kompetenzmodell von Ulrich Hemel aufbauen. Dieser hatte bereits Mitte der 1980er Jahre ein Modell religiöser Kompetenz entwickelt, das für ihn ein Gesamtziel religiöser Bildungs- und Erziehungsbemühungen darstellt. Er unterscheidet in diesem zwischen 1. Orientierungskompetenz – also der Fähigkeit, in religiösen Fragen mit kritischer Rationalität und entfalteter Emotionalität operieren und zu Urteilen kommen zu können; 2. Sinnfindungskompetenz – also der Fähigkeit, komplexe Sinn- und Wertentscheidungen zu treffen und eine individuelle adäquate Lebensperspektive entwickeln zu können und 3. Weltdeutungskompetenz – also der Fähigkeit, im Bereich der Religiosität wahrnehmen, differenzieren, kommunizieren und ausdrücken zu können.22 Ein solches Kompetenzgerüst liegt nicht nur den von Behr zitierten bayerischen Kompetenzerwartungen für Studium und Schule zugrunde – hier zeigt sich die Wirkmächtigkeit von Hemels Modell, das inzwischen in allen Kultus- und Wissenschaftsministerien Verwendung findet –, sondern auch Harry Harun Behrs Überlegungen zu theologischen Leitlinien für den Islamischen Religionsunterricht. Es ist eine spannende und zugleich herausfordernde Frage an katholische Religionspädagoginnen und -pädagogen, inwieweit sich solche grundsätzlichen Bildungsziele für einen schulischen Religionsunterricht nicht nur aus bischöflichen Richtlinien und religionspädagogischen Reflexionen ableiten lassen, sondern in analoger Weise zu Behrs Rückgriff auf den Koran auch in der Offenbarungsurkunde der Christen, also der Bibel, finden und entfalten lassen. Einfach gefragt: Gibt es eine biblische Begründung für den skizzierten pluralitätsfähigen Religionsunterricht bzw. für eine gesellschaftsfähige religiöse Bildung heute? Zwei Schriftstellen scheinen mir in diesem Zusammenhang von besonderer Bedeutung zu sein. Es ist zum einen der Beginn der Verkündigung Jesu im Evangelium nach Markus, das in Liturgie und Jahreskreis der katholischen Kirche zu Beginn der alljährlichen Fastenzeit aufgerufen und verlesen wird. Gemäß der Schrift beginnt Jesus von Nazareth sein öffentliches Wirken mit

22 U. Hemel: Ermutigung zum Leben und Vermittlung religiöser Kompetenz – Ziele des Religionsunterrichts in der postmodernen Gesellschaft. In: H.-F. Angel (Hrsg.): Tragfähigkeit der Religionspädagogik, Graz–Wien–Köln 2000, 63 – 76.

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seinem Auftreten in Galiläa, bei dem er das Evangelium Gottes predigt und die Menschen zu Umkehr und Nachfolge mahnt: »Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,15 par)

Auf religiöse Bildungsprozesse übertragen ergeht in diesem zentralen Wort Jesu die Aufgabe, sich immer wieder neu zu orientieren, auf Gott hin auszurichten und die Maßstäbe seines Handels an Gottes Offenbarung erneut zu überprüfen – genau dies ist, nebenbei gesagt, das Anliegen der österlichen Vorbereitungszeit, also der christlichen Fastenzeit. Es ist offensichtlich und muss hier nicht ausgeführt werden, wie sich eine solche Orientierung und Positionierung mit Blick auf Religion und Glaube im Kontext schulischer Bildung gestalten lassen. Komplementär dazu verhält sich die zweite Textstelle aus der Heiligen Schrift, die gerade durch das Wirken von Papst Benedikt XVI. erneut in das Blickfeld katholischer Theologie gerückt worden ist, in dem Sinne, dass an diesem Schriftwort das grundsätzliche, für die Geschichte des Christentums hoch bedeutsame Verhältnis von Glaube und Vernunft aufgezeigt und reflektiert werden kann: »Seid stets bereit, jedem Rede und Antwort zu stehen, der nach der Hoffnung fragt, die euch erfüllt.« (1 Petr 3,15)

In dieser Formel aus dem 1. Petrusbrief wird eine für die Tradition christlicher Theologie und Weisheit grundsätzliche Bestimmung formuliert, dass nämlich »die Wahrheit, die aus der Offenbarung stammt, gleichzeitig eine Wahrheit ist, die im Lichte der Vernunft verstanden werden muss« (Fides et ratio, Nr. 35)23. Damit ist ausgesagt und für das katholische Glaubensverständnis normativ zur Geltung gemacht, dass die Wahrheit der Offenbarung Gottes in Jesus Christus »[…] nicht im Widerspruch steht zu den Wahrheiten, zu denen man durch das Philosophieren gelangt. Die beiden Erkenntnisordnungen führen ja erst zur Wahrheit in ihrer Fülle. Die Einheit der Wahrheit ist ein grundlegendes Postulat der menschlichen Vernunft, das im Non-Kontradiktionsprinzip ausgedrückt ist. Die Offenbarung bietet die Sicherheit für diese Einheit, indem sie zeigt, dass der Schöpfergott auch der Gott der Heilsgeschichte ist. Ein und derselbe Gott, der die Verstehbarkeit und Vernünftigkeit der natürlichen Ordnung der Dinge, auf die sich die Wissenschaftler vertrauensvoll stützen, begründet und gewährleistet, ist identisch mit dem Gott, der sich als Vater unseres Herrn Jesus Christus offenbart.« (ebd. 34)

Eben deshalb geht es nicht nur in der theologischen Wissenschaft, sondern auch in einem den wissenschaftspropädeutischen und schulpädagogischen Anfor23 Papst Johannes Paul II.: Enzyklika Fides et Ratio. An die Bischöfe der katholischen Kirche über das Verhältnis von Glaube und Vernunft, Rom 1998.

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Clauß Peter Sajak

derungen entsprechenden Religionsunterricht immer darum, dass Schüler zu verantwortlichem Denken und Verhalten im Hinblick auf Religion und Glaube befähigt werden. Genau aus diesem Zitat der Enzyklika werden deshalb in den Einheitlichen Prüfungsanforderungen für das Abitur in den Ländern der Bundesrepublik Deutschland (EPA) die Vermittlung von Dialog- und Kommunikationsfähigkeit, Urteils- und Argumentationsfähigkeit in religiösen Fragen und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel als zentrale Aufgaben des Religionsunterrichts in der gymnasialen Oberstufe benannt. Die Notwendigkeit religiöser Lernformate, die auf die oben entfalteten Grundmomente von Indukation und Edukation aufbauen, ist hierbei evident.

Ausblick – Bildungsparadox und Pluralisierung Der Blick in die Heiligen Schriften wie auch in die bildungswissenschaftlichen und religionspädagogischen Referenzen hat gezeigt, dass es große Übereinstimmungen in den Konzepten religiöser Bildung in der gymnasialen Oberstufe zwischen katholischen und islamischen Konzeptionen gibt. Es ist vor allem das elementare Zusammenspiel von Indukation, also Hineinführen in das Glaubenswissen und die Glaubenspraxis einer Religionsgemeinschaft, und von Edukation, also das Hinausführen zu kritischer Distanz und Reflexivität, in dem der katholische wie der islamische Religionsunterricht bei durchaus unterschiedlichen Akzentuierungen eine grundsätzliche Anschlussfähigkeit aufweisen. Dabei sollte aber im Blick behalten werden, dass ein auf diesem Bildungsbegriff aufbauender Religionsunterricht unabhängig von seiner Konfession oder Religion niemals das Problem von Individualisierung und Pluralisierung lösen wird. Im Gegenteil: Versteht man religiöses Lernen in der Schule als Hinführung zu Differenz- und Reflexionsfähigkeit, kann eine ständige Pluralisierung im Bereich von Religion und Glaube ironischer Weise gar nicht verhindert werden. So entsteht ein Bildungsparadox24. Die gerade von Seiten der Kirche im katholischen Bereich des Öfteren artikulierte Klage, der Religionsunterricht würde Kinder und Jugendliche der Kirche eher entfremden als zuführen, ist in gewisser Weise also berechtigt. Allerdings verkennen jene, die sich so äußern, den Sinn und Zweck des Religionsunterrichts als Ort religiöser Bildung im Kontext eines öffentlichen Schulsystems. Es kann und darf in der Schule eben nicht um Glaubensweitergabe oder Glaubensvertiefung gehen, vielmehr muss der Religionsunterricht einführen und herausführen, um mit der Religion bekannt zu machen und dann eine Entscheidung von Schülerinnen und Schülern zu er24 C.P. Sajak (2011) 65 – 119, 103.

Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe

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möglichen. Schulischer Religionsunterricht soll zu Autonomie und postkonventioneller Religion führen. Das sollte auch der islamischen Community klar sein, wenn sie einen wie von Harry Harun Behr skizzierten Religionsunterricht in der öffentlichen Schule etablieren und durchführen will. Warum inzwischen alle Bundesländer trotz der religionspolitischen Schwierigkeiten sich um die Einführung des Islamischen Religionsunterrichts bemühen, ist offensichtlich, es wird von Behr in seinem Beitrag auch angesprochen. Natürlich haben Politiker aller Parteien vor allem integrationspolitische Gründe im Blick: Ihnen geht es – mit Habermas gesprochen25 – um die »Zivilisierung« von Religion. Entsprechend müssen sich Muslime, wie auch immer noch so manche Katholiken, darauf einstellen, dass ein von der öffentlichen Seite eingerichteter Religionsunterricht nicht nur zu vertieftem Glaubenswissen und Studierfähigkeit, sondern gegebenenfalls auch zu Distanz und Exodus führen kann. Aber das ist der Preis für eine Form religiösen Lernens, das auf einen Bildungsbegriff aufbaut, der dem Lernort der öffentlichen Schule angemessen ist.

25 J. Habermas: Glaube und Wissen. Rede zur Verleihung des Friedenspreises am 14. Oktober 2001, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15. Oktober 2001, Seite 9.

Wolfram Weiße

Lebenswelt und Theologie, Kontext und Kompetenzen. Kommentar zum Artikel »Islamischer Religionsunterricht in der Kollegstufe« von Harry Harun Behr

Seit einigen Jahren intensiviert sich die Diskussion über die Grundlegung, Formen und die schulische Einbettung eines islamischen Religionsunterrichts in Deutschland1. Harry Harun Behr ist der herausragende Exponent einer innovativen islamischen Religionspädagogik, der eindringlich und zu Recht den zentralen Stellenwert der Schülerinnen und Schüler unterstrichen sowie herausgestellt hat, dass es bei diesem Unternehmen um mehr geht, als die isolierte Entwicklung einer neuen Disziplin: »Lernen muslimische Kinder Religion anders als nicht-muslimische? Man könnte auch sagen: Islamischer Religionsunterricht ist erst dann gut, wenn er guter Religionsunterricht ist; Religionsunterricht ist erst dann gut, wenn er guter Unterricht ist; guter Unterricht ist erst dann gut, wenn der Lehrer gut ist. Als Prognose sei darum gewagt: Die Forschung zum religiösen Lernen im Feld des islamischen Religionsunterrichts könnte religionspädagogische Impulse zu Tage fördern, die nicht spurlos am evangelischen und katholischen Religionsunterricht vorbeigehen.«2

1 Vgl. H.H. Behr : Curriculum Islamunterricht. Analyse von Lehrplanentwürfen für islamischen Religionsunterricht in der Grundschule. Ein Beitrag zur Lehrplantheorie des Islamunterrichts im Kontext der praxeologischen Dimension islamisch-theologischen Denkens (Diss. Universität Bayreuth 2005); M. Kiefer : Islamische Religionspädagogik und -didaktik. Offene Fragen zu den Gegenständen einer neuen wissenschaftlichen ›Fachrichtung‹, in: I.-C. Mohr ; ders. (Hrsg.): Islamunterricht, islamischer Religionsunterricht, Islamkunde. Viele Titel – ein Fach?, Bielefeld 2009, 19 – 58; M. Khorchide: Die Beziehung zwischen islamischer Lehre und einer modernen islamischen Religionspädagogik – Zur Notwendigkeit der Aufarbeitung humanistischer Ansätze in der islamischen Ideengeschichte, in: M. Polat; C. Tosun (Hrsg.): Islamische Theologie und Religionspädagogik. Islamische Bildung als Erziehung und Entfaltung des Selbst, Frankfurt/Main 2010, 145 – 158; B. Ucar: Islamische Religionspädagogik im deutschen Kontext: Die Neukonstituierung eines alten Faches unter veränderten Rahmenbedingungen, in: B. Ucar ; M. Blasberg-Kuhnke; A. von Scheliha (Hrsg.): Religionen in der Schule und die Bedeutung des Islamischen Religionsunterrichts, Osnabrück 2010, 33 – 49. 2 H.H. Behr : Islamische Religionspädagogik und Didaktik: Eine zwischenzeitliche Standortbestimmung, in: M. Polat; C. Tosun (Hrsg.): Islamische Theologie und Religionspädagogik. Islamische Bildung als Erziehung zur Entfaltung des Selbst, Frankfurt/Main u. a. 2010, 131 – 143, 143.

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Wolfram Weiße

Diese Aussage kündigt ein neues Stadium in der Erarbeitung und Diskussion von Religionspädagogik in Deutschland an. Sie zeigt, dass es nicht hinreichend ist, zu den bestehenden Strömungen evangelischer und katholischer Religionspädagogik noch einen mehr oder minder bedeutsamen Zusatz islamischer Religionspädagogik herauszuarbeiten, sondern dass es um mehr geht. Zum einen betrifft dies die Notwendigkeit, im Austausch religionspädagogischer Positionen über die Religions- und Konfessionsgrenzen hinaus bisherige Ansätze zu überprüfen, zu revidieren und wo notwendig zu erneuern. Hierfür ist ein Dialog notwendig, wie er in der vorliegenden Publikation zum Ausdruck kommt. Darüber hinaus trägt die Argumentation im voranstehenden Zitat von Harry Harun Behr aber auch einen Keim in sich, den Habitus einer konfessionsbezogenen Religionspädagogik zu überdenken und zu fragen, in welcher Form religiöses und interreligiöses Lernen weiterzuentwickeln ist.

I

Eigene Position, von der aus kommentiert wird

Die Interessen am Thema des islamischen Religionsunterrichts speisen sich – und hier bin ich seit Jahren derselben Ansicht wie Harry Harun Behr – aus ganz unterschiedlichen Motiven. Wollen die einen den islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen einführen, um womöglich fundamentalistischen Koranschulen das Wasser abzugraben, gibt es andere, die aus Gründen der Gleichberechtigung über den christlichen Religionsunterricht hinaus auch einen islamischen installieren wollen. Über die Motive hinaus erscheint die Frage als zentral, wozu islamischer Religionsunterricht dienen soll. Es wird immer wieder behauptet, dass die Einführung von islamischem RU ein Instrument der Integration für die muslimische Bevölkerung sei. Wie steht es mit dieser Grundannahme? Ich komme auf die Frage, inwiefern es dem islamischen Religionsunterricht gut tut, wenn man ihn als Instrument von Integration sieht, später zurück. Aber meine Anfrage in diesem Zusammenhang richtet sich auf die Konstruktion konfessioneller Trennung, die von Harry Harun Behr, soweit ich sehe, nicht zentral aufgenommen wird. Meine Position ist wie folgt: Es ist zwar eine begrüßenswerte Maßnahme, die schulischen Möglichkeiten zum Lernen des Islam zu stärken. Fraglich ist indes, ob die Einführung eines zusätzlichen, getrennten islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen wirklich der Integration dient. Ein getrennter islamischer Religionsunterricht entspräche zwar der Konstruktion des getrennten konfessionellen Religionsunterrichts, der in der Mehrheit der Bundesländer vorherrscht. Dennoch ist festzustellen: Dieser Weg könnte zur Festigung der auf Abgrenzung gerichteten Konstruktion eines evangelischen, katholischen, islamischen etc.

Lebenswelt und Theologie, Kontext und Kompetenzen

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Religionsunterrichts beitragen. Integration in der Gesellschaft durch zunehmende Separation in der Schule – wie soll das gehen?

Dialogischer Religionsunterricht für alle in Hamburg Es gibt andere religionspädagogische Optionen, die keinen Vorbildcharakter haben müssen, welche aber die Handlungsmöglichkeiten für die Anlage von Religionsunterricht aufzeigen: In Hamburg – wie in etlichen Gebieten Europas – wird Religionsunterricht ohne Trennung der Schülerinnen und Schüler nach Religionen und Weltanschauungen erteilt.3 Mit wenigen Ausnahmen findet an öffentlichen Schulen in Hamburg ein dialogischer »Religionsunterricht für alle« statt. Dies geschieht mit Unterstützung von Vertreterinnen und Vertretern unterschiedlicher Religionsgemeinschaften in Hamburg, u. a. der islamischen Dachorganisation Schura. Die Schura hat das staatliche Angebot auf Einführung eines separaten islamischen Religionsunterrichts in Hamburg abgelehnt, weil sie keine Aufsplitterung des Religionsunterrichts und keine Spaltung der Schülerinnen und Schüler nach Religionszugehörigkeit will. Religionspädagogisch wird in Hamburg davon ausgegangen, dass eine Erziehung in eine Religion hinein Aufgabe von Elternhaus und Gemeinde ist, dass die öffentliche Schule aber eine andere Aufgabe hat, nämlich: In religiöse Themen so einzuführen, dass damit in kritischer Perspektive eine Verbindung zwischen Traditionen verschiedener Religionen und der Lebenswelt von Schülerinnen und Schülern möglich wird. Das Ziel besteht nicht darin, Kinder und Jugendliche in einen Glauben hineinzuführen, sondern in unterschiedliche Religionen, in die ›eigene‹ wie in die gelebten Religionen unserer Gesellschaft insgesamt, in die ›Nachbarreligionen‹ einzuführen.

Dialogansatz in der Lehramtsausbildung: Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg Hierzu ist eine stärkere Berücksichtigung der Vielfalt der Religionen in der Lehramtsausbildung notwendig. Pädagogisch sinnvolle und rechtlich vertretbare Möglichkeiten sind erforderlich, den »Religionsunterricht für alle« nicht nur von christlichen, sondern auch von Lehrerinnen und Lehrern mit musli3 W. Weiße (Hrsg.): Dialogischer Religionsunterricht in Hamburg. Positionen, Analysen und Perspektiven im Kontext Europas, Münster 2008; D. Hassanein: Der Hamburger Weg des Religionsunterrichts. Eine empirische Analyse zum Dialog im Klassenzimmer, Hamburg 2013.

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mischem, jüdischem oder buddhistischem Hintergrund erteilen zu lassen. Hierzu wird in Hamburg an einer Konzeption gearbeitet, im Rahmen der Akademie der Weltreligionen Wissenschaft und Forschung der Weltreligionen so zu installieren, dass ein akademisch anspruchsvoller Dialog damit gestärkt wird.4

Religionsunterricht in Europa In Europa und weltweit ist ein stark zunehmendes Interesse an Religion und religiöser Bildung zu verzeichnen.5 Überlegt wird, wie die religiöse Vielfalt in den europäischen Ländern so an öffentlichen Schulen aufgenommen werden kann, dass sie dem Dialog untereinander und nicht der Abgrenzung voneinander dient.6 Der Einbezug des Islams ist ein erster und ganz wichtiger Schritt. Allerdings muss darüber hinaus auch die Berücksichtigung weiterer Religionen und Weltanschauungen mitgedacht werden, um nicht erneut Diskriminierungen zu erzeugen. Folgendes halte ich für grundlegend: Ungeachtet der Konstruktion von Religionsunterricht brauchen wir einen Dialog im Religionsunterricht, – in dem nicht über andere, sondern mit anderen gesprochen wird, – in dem Begegnung mit anderen didaktisch gestaltet werden kann und alltäglich stattfindet, – in dem Differenz weder wegretuschiert wird, noch Anlass für Diskriminierung bildet. Umfängliche empirische Forschungen zu Religion im Bildungswesen innerhalb Europas haben ergeben:7 Unabhängig von der Form des Religionsunterrichts zeigen Schülerinnen und Schüler – bei allen Vorurteilen, die sie teilweise haben – Interesse für Menschen anderer Kulturen und Religionen und sind der Überzeugung: Menschen unterschiedlicher Religion können zusammen leben, wenn 4 W. Weiße (Hrsg.): Theologie im Plural. Eine akademische Herausforderung (Schriftenreihe »Religionen im Dialog« Bd. 1), Münster 2009; W. Weiße; H.-M. Gutmann (Hrsg.): Religiöse Differenz als Chance? Positionen, Kontroversen, Perspektiven (Schriftenreihe »Religionen im Dialog« der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg Bd. 3), Münster 2010. 5 W. Weiße: The European Research Project on Religion and Education ‹REDCo’. An Introduction, in: R. Jackson; S. Miedema; ders.; J.-P. Willaime (Hrsg.): Religion and Education in Europe: Developments, Contexts and Debates, Münster 2007, 9 – 25. 6 D.-P. Jozsa: Ansichten muslimischer Jugendlicher zu Religion und Schule. Perspektiven aus westeuropäischen Ländern, in: ders.; T. Knauth; W. Weiße (Hrsg.): Religionsunterricht, Dialog und Konflikt. Analysen im Kontext Europas, Münster 2009, 287 – 318. 7 Vgl. T. Knauth; D.-P. Jozsa; G. Bertram-Troost; J. Ipgrave (Hrsg.): Encountering Religious Pluralism in School and Society – A Qualitative Study of Teenage Perspectives in Europe, Münster 2008.

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sie es nur wollen. Dieser Aufgabe müssen Lehrerinnen und Lehrer gewachsen sein. Hier ist die Universität zu Strukturveränderungen in Richtung auf eine Pluralisierung von Theologie herausgefordert. Das wird nicht leicht sein, ist aber notwendig. Ich komme am Schluss dieses Beitrages auf diese Frage im Rahmen der Kompetenzentwicklung zurück.

II

Kommentar zum Artikel von Harry Harun Behr

Ich versuche im Folgenden, das, was mich am Text von Harry Harun Behr besonders beeindruckt, herauszustellen.

Grundlegung: Schülerorientierung, Gesellschaftsbezug und islamische Theologie Ich fange mit dem Koordinatensystem der Einleitung an, die im Beitrag von Harry Harun Behr die Zwischenüberschrift »Vorbemerkungen« trägt. Den Ausgangspunkt bildet – nicht nur proklamatorisch, sondern auch faktisch – der Schüler. Die Bemerkung »Wir brauchen nicht Islam plus Schule, wir brauchen einfach nur Islam« (S. 17) bestimmt den Ausgangspunkt des Artikels, führt zur grundlegenden Bemerkung, dass die Welt zum einen »nicht nach den einfache Algorithmen des Korans tickt«, dass aber zum anderen »der Islam trotzdem funktioniert« (S. 17). Diese Ambivalenz wird nicht überdeckt oder in ihrer Relevanz heruntergespielt, sondern produktiv aufgenommen, um die Frage der Religionspädagogik im Feld unterschiedlicher gesellschaftlich-politischer Erwartungen zu reflektieren, die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung von Muslimen mit der eigenen Religion zu betonen und zudem auf die Unabdingbarkeit einer »Reformulierung dessen, was als die Mitte« (S. 18) der Lehre des Islams gelten kann, zu weisen. Dieser Ansatz – so wird von vorneherein deutlich – macht es sich nicht leicht oder, besser gesagt, zeigt die Komplexität des Aufbaus islamischer Religionspädagogik. Hiermit wird indirekt, aber kräftig, allen Ansätzen gewehrt, die sich im Kern an der Vermittlung eines Wissenskanons des Islams oder der ungebrochenen Vermittlung von bestehender Glaubenspraxis orientieren. Von dieser Position aus wir deutlich, dass es keine einfachen Antworten gibt auf Fragen nach der gesellschaftlichen Bedeutung des Islams, nach muslimischer Identität, nach der Funktion des islamischen Religionsunterrichts. Zu letzterem wird im Blick auf die geforderte Integration kritisch gefragt, ob es denn für den islamischen Religionsunterricht heißen könne: »Je islamischer das Angebot, desto gewisser die Integration?« (S. 19). Hiermit wird jeglicher – auch gutwilliger –

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funktionaler Verrechnung des Religionsunterrichts Einhalt geboten, und zwar nicht nur im Blick auf den islamischen Religionsunterricht. Das ist sehr zu begrüßen.

Kontextualität Am Beispiel der politischen Veränderungen in Ägypten wird auf den Punkt gebracht, wie umfassend die Konsequenzen für den Religionsunterricht dort sind: »Die Wirklichkeit besetzt die Schulbank, es geht nicht mehr ums Lesen, sondern ums Leben« (S. 21). Vor diesem Hintergrund geht Harry Harun Behr auf das Grundsätzliche zurück: Auf die an bestimmten Lebenssituationen ausgerichtete Expression der Lehre schon in der Zeit der Entstehung des Korans, in dem die Situation der damaligen Menschen einen Angelpunkt bildet für die im Koran enthaltenen Antworten und Handlungsmaximen. Kontextualität von Theologie ist damit nicht eine Anpassungsleistung gegenüber dem Eigentlichen der Tradition, sondern Kernelement islamischer Tradition von Anfang an. Das befreit und nötigt geradezu, »sich auf die Suche nach religiöser Orientierung im Kontext realer Erfahrungen« (S. 22) zu begeben und eine zentrale Herausforderung der Gegenwart in Kairo wie in Europa aufzunehmen, nämlich »die Reformulierung der religiösen Tradition im Lichte der Wirklichkeitserfahrung« (ebda). Mit diesem Ansatz wählt Behr eine auch in evangelischer Theologie starke, aber nicht unumstrittene Perspektive. Theologie kann in dieser Perspektive nicht selbstgenügsam als Binnentheologie betrieben werden, sondern findet ihren Schlüssel in einer kontextabhängigen Interpretation. Ein solcher Ansatz ist dem Verfasser dieses Beitrages im Blick auf Studien zu Südafrika überaus deutlich geworden, wo die Prioritäten von Theologie in Zeiten der Apartheid durchweg – und oft gerade dann, wenn dies nicht ausdrücklich formuliert wurde – aus Erfahrungen der Situation resultierten. Konfessionelle und religiöse Tradition traten demgegenüber so weit in den Hintergrund, dass z. B. reformierte oder lutherische Theologie erheblich je nach Rassenzugehörigkeit voneinander abwichen. Harry Harun Behr weiß um die Sprengkraft eines solchen Ansatzes für Theologie und Religionspädagogik, hält ihn aber für unabdingbar : Die bildungsrelevanten Implikationen des arabischen Frühlings hätten »frische, aber kalte Luft von außen in die wohlig warme Stube religiöser Selbstbefindlichkeit« (S. 22) hineineingetragen und damit Risse und Brüche offengelegt, die schon vorher bestanden haben mit der Folge, dass die Rollen im Religionsunterricht neu definiert werden müssen (»Die einvernehmliche Trias zwischen Sachgegenstand, Lehrer und Schüler löst sich auf: die Situation definiert die Rollen

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neu«) und der »simple Rekurs auf den gesinnungsethischen Konsens« (S. 22) nicht mehr ausreiche. Das ist in meinen Augen eine zugleich mutige und notwendige Position, um Religionsunterricht angemessen zu verankern. Die Klarheit, mit der das von Harry Harun Behr ausgesprochen wird, könnte auch Licht auf Ansätze in der evangelischen Religionspädagogik werfen und zu neuem Denken führen.

Schülerorientierung Die kontextabhängige Verortung der Schülerinnen und Schüler im gesellschaftlichen wie religiösen Bereich wird von Harry Harun Behr mit der Frage verbunden, welche Rolle diese im islamischen Religionsunterricht einnehmen sollten. Er formuliert: »Er soll die Schülerinnen und Schüler befähigen, sich in Fragen der religiösen Information sowie des Glaubens und der persönlichen Lebensgestaltung selbst zu führen« (S. 23). Auch wenn mir der Terminus des ›Selbstführens‹ nicht unmittelbar einleuchtet, erscheint er mir als wichtig: Es geht offensichtlich nicht nur um den auch in evangelischer Religionspädagogik betonten Subjektbezug von Lernprozessen, sondern auch um das Verhältnis der Lehrenden und Lernenden. ›Selbstführung‹ ist dann ein hoher Anspruch, der weitreichende Konsequenzen auf die Funktion und das Selbstverständnis von Lehrerinnen und Lehrern in sich birgt. Ich werde über den Terminus weiter nachdenken. Schließlich ist er mit einem für mein Verständnis von evangelischer Religionspädagogik wichtigen Fragestellung verbunden, die bei Harry Harun Behr so lautet: »Es geht nicht nur um die Sachfrage, sondern auch um die Berücksichtigung der Beteiligten, also um die pädagogische Führung« (S. 26). Dass die Einlösung von Schülerorientierung nicht nur Forderung an die Religionspädagogik, sondern auch Herausforderung für die muslimischen Schülerinnen und Schüler ist, wird nicht verschwiegen. Im Spannungsfeld von gesellschaftlicher Akzeptanz und dem Entwickeln eines eigenen religiösen Standpunktes könnte es zu erheblichen Verwerfungen kommen, ja dazu, dass Befürchtungen der Jugendlichen verständlich sind, »die Zukunft zu verlieren« (S. 26). Es ist gut, dass Harry Harun Behr diese Gefahren benennt, damit sie bearbeitbar werden.

Theologie des Islam Gegen ein an evangelischen und katholischen Fakultäten in Deutschland immer noch vertretenes Verständnis von Religionspädagogik als Transmissionsriemen hoher theologischer Erkenntnisse in die Niederungen der Schule nimmt sich

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Harry Harun Behr das Recht heraus, für ihn zentrale Koranverse zu übersetzen, zu deuten und sie für die Frage von Bildung heranzuziehen. Das empfinde ich als einleuchtend. Einige Formulierungen weisen eine große Nähe zu Martin Luther (zu Muhammad wird von Behr kommentiert: »Selbst wenn ich anders wollte, ich ˙ kann nicht«, S. 29) und zu individuell-protestantischem Denken insgesamt auf: »Der in Rede stehende Text formuliert das Angebot an den Leser, sich als Protagonist zu verstehen – den Islam also gleichsam in die Hand zu nehmen und ihn zu einem Agens der persönlichen Lebensgestaltung zu machen« (S. 30). Die Konsequenzen der Auslegung der Verse 78 – 87 von Sure 4 sind beachtlich: Die Urteilskraft der Muslime, gerade auch der jungen, werde herausgefordert, die ethische Verständigung erfordere eine Verständigung über die »religiösen Systemgrenzen hinweg und in die nicht-religiösen Systeme hinein« (S. 31), was eine Übersetzungsarbeit zwischen religiösem und nichtreligiösem Denken erfordere. Fachwissenschaftliche Sachverhalte seien über die hinter ihnen stehenden Erfahrungen aufzuschlüsseln. »Lernen geschieht in Kommunikation« (S. 32) und diese setze Begegnung und Bewegung voraus: »Der islamische Religionsunterricht hätte demnach die Aufgabe, die Schülerinnen und Schüler umfassend in Bewegung zu setzen« (S. 32). Das ist in meinen Augen schön, angemessen und herausfordernd. Jegliche Ansätze eines stoffbegrenzten Lernens werden damit abgewiesen und stattdessen eine Lebendigkeit im Umgang mit der Tradition und der eigenen Situation angelegt. Dass das nicht leicht ist, versteht sich von selber. Aber es ist eine Anstrengung wert, diese Perspektive für die Anlage und Beurteilung von Lernprozessen zu wählen, um nicht im Klein-Klein von benotungsdominiertem Unterricht zu verharren, sondern Lernprozesse in ihrer Vielschichtigkeit und ihrem großen Anspruch zu konzeptualisieren.

Akademische Theologie und religiöse Urteilskraft der Schülerinnen und Schüler Im Anschluss an seine Vorstellungen für islamische Theologie zieht H.H. Behr die Linien weiter aus mit der Frage, welche Deutungshoheit sie denn habe. Genauer gesagt, geht es ihm um den Anspruch akademischer Theologie gegenüber dem, was Jugendliche denken. Hier bewegt sich Behr in einem Gebiet, das auch für evangelische und interreligiöse Religionspädagogik seit wenigen Jahren bearbeitet wird. Was Harry Harun Behr mit der Frage anspricht, wie groß der Mut sei, »bereits Schülerinnen und Schülern Eigenständigkeit im religiösen Urteil zuzugestehen« (S. 34), kommt in der evangelischen Religionspädagogik in den Ansätzen von Kinder- und Jugendtheologie zum Ausdruck.8 Hier geht es 8 T. Schlag; F. Schweitzer : Brauchen Jugendliche Theologie? Jugendtheologie als Herausfor-

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nicht um eine Bewertung, was wichtiger ist, sondern darum anzuerkennen, dass auch Kinder und Jugendliche religiöse Vorstellungen haben, die einen theologischen Wert haben. Ich selber finde derartige Ansätze wichtig für die Frage, wie religiöses Denken bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen verschiedener Religionszugehörigkeit aussieht. In einem neuen Forschungsprojekt werden wir uns einem Teilaspekt dieser Frage widmen und in empirischen Untersuchungen der Frage nachgehen, wie Jugendliche und Erwachsene, wie Frauen und Männer, wie ›normale‹ Mitglieder in Religionsgemeinschaften und deren Repräsentanten die Möglichkeiten und Grenzen von interreligiösem Dialog sehen. Diese Untersuchungen, die mit empirischen Methoden der Sozialwissenschaften durchgeführt werden, sollen mit unseren Forschungen zu dialogischen Grundelementen der Weltreligionen und ihrer Theologien verbunden werden. Ich bin mir sicher, dass wir für diese Forschungen in H.H. Behr einen guten Gesprächspartner hätten, bzw. – soweit es seine Zeit erlaubt – haben werden.

Kompetenzen Hierzu nur kurz: Die entsprechenden Überlegungen erscheinen mit gut nachvollziehbar, zumal sie an die Grundsatzüberlegungen des Textes anknüpfen. Das betrifft z. B. »das Einüben von Haltungen und die Befähigung zur Selbstführung der Person« oder »die Schulung und Stärkung der religiösen Urteilskraft« (S. 38). Weniger zugänglich ist mir als Kompetenz »die Gewöhnung an eine innere und äußere Ordnung durch das Einüben der religiösen Lebensweise« (S. 38). Das ergibt sich nicht aus dem, was ich im Text vorher gesehen habe, und es entspricht auch nicht meinem Verständnis von Religionspädagogik, das die Einübung von religiöser Lebensweise in die Verantwortung von Eltern und Gemeinden, aber nicht in die der Schule stellt. Ich bin mir bewusst, dass in Teilen der protestantisch geprägten schulischen und religionspädagogischen Landschaft auch eine Einübung in den Glauben als Aufgabe des schulischen Religionsunterrichts angesehen wird. Hier gibt es eine Parallele im Bereich evangelischer und islamischer Religionspädagogik, die allerdings jeweils einen großen Handlungsspielraum aufweist. Über die damit verbundenen schulischen Formen müsste meines Ermessens stärker diskutiert werden, um Aufschluss über für die Schule noch mögliche, aber auch über weniger oder nicht akzeptable Ansätze und Formen zu gewinnen.

derung und didaktische Perspektive, Neukirchen-Vluyn 2011.

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III

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Interreligiöser Dialog

Zum Abschluss soll auf die Dimension des interreligiösen Dialogs hingewiesen werden, die mir als sehr wichtig erscheint: Im Text von Harry Harun Behr ist der Bereich interreligiöser Bildung eher en passant berücksichtigt worden. Im Zusammenhang mit der Forderung auf Selbstführung heißt es bei ihm: »Dazu muss er den Anschluss an genannte und andere Kulturen im Umgang mit Religion ermöglichen, sie in Beziehung zu einander setzen und Optionen des Handelns auf der Grundlage persönlicher religiöser Motive eröffnen – dies nicht zuletzt auch in interreligiöser Dimension« (S. 23f). Interreligiöser Dialog wird mit dieser Formulierung beachtet, aber fraglich ist, ob in hinreichendem Maße. Nun wird man zu Recht einwenden können, dass in einem vom Umfang begrenzten Text, so wie er von Harry Harun Behr vorgelegt worden ist, nicht auch noch der interreligiöse Dialog entsprechend berücksichtigt werden kann. Mit Blick auf meine eigene, eingangs skizzierte Position wird es allerdings nicht verwunderlich sein, dass ich das Grundanliegen des interreligiösen Dialogs gerne stärker beachtet sehen möchte. Im Blick auf eine theologische Verortung von interreligiösem Dialog liegen schon beachtliche Ansätze vor9 und weitere werden entwickelt. Für Schülerinnen und Schüler, deren Positionen sich in einem noch unabgeschlossenen Entwicklungsprozess befinden, ist die Einübung in den interreligiösen Dialog von erheblicher Bedeutung. Für diese ist die Begegnung mit anderen religiösen und kulturellen Standpunkten wichtig, um – andere Standpunkte auch dann zu respektieren, wenn sie nicht den eigenen entsprechen, – Religionen und Kulturen nicht als monolithisch anzusehen, sondern als bestimmt durch die tägliche Praxis von vielen Menschen und als veränderbar, – um Barrieren gegen den ideologischen Missbrauch von Religion und gegen die Instrumentalisierung für politische Konflikte aufzurichten. Ziel kann dabei nicht sein, auf ein uniformes System von Religionsunterricht in ganz Europa oder weltweit zuzugehen. Aber es erscheint als wichtig, dass in vergleichender Analyse herausgestellt werden kann, mit welchen Ansätzen Religion im Bildungsbereich gestärkt werden sollte, um zu Verständigung und Dialog beizutragen, wo aber auch Vorsicht angebracht ist vor Konzeptionen und Ansätzen, die eher auf Spaltung, Isolation und Konflikt zielen.

9 Vgl. für den islamischen Bereich z. B. A. Falaturi: Der Islam im Dialog. Aufsätze, Hamburg: Islamwissenschaftliche Akademie 1996; und H.J. Margull: Zeugnis und Dialog. Ausgewählte Schriften, Ammersbek bei Hamburg 1992.

Lebenswelt und Theologie, Kontext und Kompetenzen

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Damit könnte es möglich werden, ›Religion‹ in Schule und Hochschule so zu verankern, dass Schülerinnen und Schüler sowie Studierende einen Raum finden, wo sie persönliche Fragen im religiösen Bereich miteinander auszuloten und nicht im Gegeneinander zu finden versuchen. Folgendes erscheint mir als grundlegend: – Wir brauchen eine wissenschaftlich ausgerichtete Lehramtsausbildung, um Religionen wie den Islam, das Christentum, das Judentum etc. angemessen im Unterricht zur Geltung kommen zu lassen. – Wir brauchen einen Religionsunterricht, der die Traditionen von Religionen in ihrer Vielfalt und Differenziertheit repräsentiert und auf die Lebenswelten von Menschen in unserer Gesellschaft so bezieht, dass Wissen, Werthaltungen und Ethik miteinander verbunden werden. – Wir brauchen einen Religionsunterricht an unseren öffentlichen Schulen, der die Schülerinnen und Schüler nicht nach Religionen spaltet, sondern gemeinsames Lernen ermöglicht. Dies wird der Bildung der Einzelnen im Bereich von Religion ebenso dienen wie der sozialen Bildung im Klassenraum und womöglich in der Gesellschaft. Damit könnten Unterschiede in Religion und Kultur zur Wahrnehmung von Vielfalt ohne Angst und Diskriminierung beitragen und damit einen Baustein zur Integration in unserer Gesellschaft darstellen.

Kompetenzorientierung Was bedeuten diese Ziele für die Frage einer dialogischen Kompetenzorientierung im Religionsunterricht? Ich konzentriere mich im Folgenden auf den Religionsunterricht in Hamburg, zumal hier die Dialogorientierung einen besonders ausgeprägten Charakter einnimmt. Statt eingehender Darlegungen und Erörterungen möge an dieser Stelle eine Skizze genügen. Im Folgenden beziehe ich mich auf die Kompetenzen, die sich im Lehrplan, bzw. Rahmenplan für das Fach Religion in der gymnasialen Oberstufe in Hamburg aus dem Jahr 2008 finden. Hier wird zunächst unterstrichen, dass es grundlegend um zwei Dinge geht, nämlich »sich auf die Rede von Gott und Transzendentem« einzulassen und »sich für die Vielfalt und den Reichtum der Religionen und Kulturen zu öffnen«. Nach dieser generellen Formulierung werden die fünf folgenden Grundkompetenzen aufgeführt: – »Wahrnehmungskompetenz als die Fähigkeit, religiös bedeutsame Phänomene wahrzunehmen und zu beschreiben, – Deutungskompetenz als die Fähigkeit, religiös bedeutsame Sprache und Zeugnisse zu verstehen und zu deuten, – Urteilskompetenz als die Fähigkeit, über religiös und ethisch bedeutsame

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Fragen aus der Perspektive unterschiedlicher religiöser Traditionen und Überzeugungen zu reflektieren und begründet zu urteilen, – Dialogkompetenz als die Fähigkeit, am (inter-)religiösen Dialog verstehend, sachkundig, argumentativ, vorurteilsfrei, aufgeschlossen und in wechselseitigem Respekt teilzunehmen, – Darstellungs- und Gestaltungskompetenz als die Fähigkeit, eigene und fremde religiöse bzw. weltanschauliche Überzeugungen angemessenen zum Ausdruck zu bringen.«10 Besonders die letzten drei Kompetenzen hängen eng mit der Ausrichtung des Hamburger Lehrplans auf den interreligiösen Dialog zusammen. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, dass diese Kompetenzen ohne weiteres in die kompetenzorientierten Überlegungen von Harry Harun Behr eingebaut werden können, aber vielleicht könnten sie als Impulse dienen, die bisherigen Überlegungen zu Kompetenzen im islamischen Religionsunterricht stärker auf eine interreligiöse Dimension hin zu öffnen? Eine derartige Öffnung auf den interreligiösen Dialog für den Religionsunterricht hat notwendigerweise auch Konsequenzen für die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrern. Auf diese Frage kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden, auch – und vielleicht gerade – weil diese Frage im Augenblick eine große Herausforderung für Hamburg bedeutet, wo der Religionsunterricht sich auch im Blick auf die involvierten Lehrerinnen und Lehrer und ihre unterschiedlichen religiösen Hintergründe öffnen soll. Eine Voraussetzung sei allerdings genannt, die sich auf eine notwendigerweise neue Ausrichtung an der Universität bezieht. Es geht dabei um eine Pluralisierung von Theologie. Eine derartige Pluralisierung versuchen wir an der Akademie der Weltreligionen der Universität Hamburg11 zu installieren, aber das ist auch eine Aufgabe für andere Universitäten. Hierbei muss darauf geachtet werden, dass sich das Interesse nicht nur auf eine islamische Theologie richtet, sondern auf verschiedene Ausprägungen des Islams, die wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Diese binnenislamische Pluralität ist wichtig, um auch die in der Schule existierende Pluralität von muslimischen Schülerinnen und Schülern beachten zu können. Zudem gilt: Auch andere Religionen müssen im Zuge der Pluralisierung im akademischen Feld angesiedelt werden. Das Judentum selbstverständlich, aber auch der Buddhismus, der Hinduismus etc. Schließlich: Diese Religionen sollten im Hochschulbereich nicht als in sich geschlossene Einheiten neben die evan10 Vgl. Rahmenplan für das Fach Religion in Hamburg 2008. Bildungsplan gymnasiale Oberstufe, zitiert nach W. Weiße (Hrsg.): Dialogischer Religionsunterricht in Hamburg. Positionen, Analysen und Perspektiven im Kontext Europas, Münster 2008, 248. 11 W. Weiße (2009) und W. Weiße (2010) sowie www.awr-uni-hamburg.de.

Lebenswelt und Theologie, Kontext und Kompetenzen

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gelische und katholische Theologie treten, sondern sie alle sollten in Forschung und Lehre ein Netzwerk bilden. Wenn möglich sollten diese verschiedenen Stränge von Theologie miteinander kooperieren und gemeinsam an Forschungsvorhaben arbeiten und – gut dosiert – gemeinsam Lehrveranstaltungen anbieten. So kann ein Dialog, der für die Schule allseits gefordert wird, seine akademische Grundlage erhalten.

IV

Abschluss

Das Fazit meines Kommentars zum Text von Harry Harun Behr ist kurz: Das ist ein Entwurf für eine islamische Religionspädagogik, der außerordentlich beeindruckend ist. Er umfasst starke Impulse für die Religionspädagogik, und zwar nicht nur für die islamische, sondern für Religionspädagogik insgesamt. Meine große Wertschätzung des Artikels von Harry Harun Behr bezieht sich auf – seinen zentralen und komplexen Ansatz einer Schülerorientierung, – seinen Bezug zur Lebensweltorientierung, – seinen Nachdruck auf eine traditionell und gegenwärtig wichtige und wirksame Kontextualität, – seine soliden, kreativen und zugleich auf die heutige Zeit ausgerichteten Ansätze einer Theologie des Islam, – die Verbindung von akademischer Theologie mit dem Denken von Schülerinnen und Schülern zu Religion – auch, aber nicht nur zu ihrer Religion. All das ist außerordentlich überzeugend und enthält viele Anstöße für eine weitere Fundierung und Entwicklung von Religionspädagogik in Deutschland und im internationalen Bereich.

Teil II – Folgen für die Fachdidaktik: Schülerorientierung in einer neuen Nachbarschaft mit dem Religionsunterricht »der anderen«

Werner Haußmann

Theologische Gespräche mit Jugendlichen – Ein Versuch mit Perspektiven

Vorbemerkung: Zu Ende der schulpraktischen Übungen an der Deutschen Evangelischen Oberschule Kairo (DEO) im März 2012 haben die Praktikant/ innen wie die Schüler/innen eine Unterrichtssequenz zum Thema Gott im Umfang von sieben Doppelstunden hinter sich – fast! Gegen Ende reift im Leitungsteam relativ spontan die Idee, das abschließende Thema Gottesbild zu einer Bilderfrage zu machen und mit dem Ansatz des Theologisierens mit Jugendlichen zu verbinden: Angesichts der besonderen dialogischen Konstellation im KoopRU eine besondere Herausforderung und Chance. Dass das Thema Theologisieren mit Jugendlichen boomt, zeigt auch die Tatsache, dass es ab 2013 in der Nachfolge der JaBuKis (Jahrbuch für Kindertheologie)1 auch ein Jahrbuch für Jugendtheologie geben wird2. Forschungsperspektiven anzuzeigen und Erfahrungen zu kategorisieren, scheint also auf ein Zukunftsfeld gerichtet und keine vergebene theoretische Liebesmüh.

Die Aufgabe Welches Ziel hatten die theologischen Gespräche mit Jugendlichen an der Deutschen Evangelischen Oberschule in Kairo (DEO)? In der Fachdiskussion um Jugendtheologie3 finden sich unterschiedliche Akzentuierungen, was Jugendtheologie soll: die Förderung des eigenständigen theologischen Denkens (z. B. P. 1 A. Bucher u. a. (Hrsg.): Jahrbuch für Kindertheologie, Stuttgart 2002 ff. 2 P. Freudenberger-Lötz; F. Kraft; T. Schlag (Hrsg.): »Wenn man daran noch so glauben kann, ist das gut«: Grundlagen und Impulse für eine Jugendtheologie, Stuttgart 2013 = Jahrbuch für Jugendtheologie Band 1. Verdienstvoll wie anregend ist auch die öffentlich zugängliche Reihe »Beiträge zur Kinder- und Jugendtheologie«, hrsg. von P. Freudenberger-Lötz: http:// www.uni-kassel.de/hrz/db4/extern/dbupress/publik/schriftenreihe.php?Jugendtheologie.htm 3 vgl. A. Reiß; P. Freudenberger-Lötz: Didaktik des Theologisierens mit Kindern und Jugendlichen, in: B. Grümme; H. Lenhard; M. Pirner (Hrsg.): Religionsunterricht neu denken. Innovative Ansätze und Perspektiven der Religionsdidaktik, Stuttgart 2012, 133 – 145.

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Freudenberger-Lötz)4, die eigenständige Auseinandersetzung mit Glaubensfragen (z. B. F. Schweitzer)5, die Weiterentwicklung der individuellen Religiosität (z. B. H. Rupp)6 oder die Befähigung zum gleichberechtigten theologischen Diskurs (z. B. V.-J. Dieterich)7. Bei diesem Unterfangen ging es darum, vor dem Hintergrund vermittelten Wissens (in Schule, aber auch in außerschulischen Kontexten) wesentliche Fragen zum Gottesbild selbst zum Thema machen zu können. Was den Jugendlichen – motiviert durch Bilder – relevant erscheint, darf eingebracht und in einem offenen Diskurs verhandelt werden. Es ist gewissermaßen eine nachträgliche Suchbewegung im Rahmen einer Didaktik »radikaler Subjektivität« entgegen der »Didaktik der Zielstrebigkeit« (Zilleßen)8, die dem Religionsunterricht (als schulischem Unterricht) in der Regel eigen ist. Eine interessierte Haltung gegenüber den Schüler/innen und deren Deutungen, was oft als Grundvoraussetzung benannt wird, kann im Setting ebenso als gegeben gesehen werden wie die nötige Sensibilität9. Allerdings entspricht das Vorhaben in manchem auch nicht dem oft Geforderten, z. B. hinsichtlich der Übung (Jugendliche wie Lehrkräfte), der Kontinuität oder der Relevanz für den Religionsunterricht10. Gerade weil die Praktikant/innen zwar vertraut waren, aber eben dann auch bald wieder weg, konnte von einer hohen Offenheit11 der jugendlichen Gesprächspartner/innen ausgegangen werden.

4 P. Freudenberger-Lötz: Theologische Gespräche mit Kindern. Untersuchungen zur Professionalisierung Studierender und Anstöße zu forschendem Lernen im Religionsunterricht, Stuttgart 2007. 5 F. Schweitzer : Auch Jugendliche als Theologen? Zur Notwendigkeit, die Kindertheologie zu erweitern, in: ZPT 1 (2005) 48 – 79. 6 H. Rupp: Theologisieren mit Jugendlichen, Stuttgart 2008. 7 V.-J. Dieterich: Theologisieren mit Jugendlichen: Ein Programm für Schule und Kirche, Stuttgart 2012. 8 D. Zilleßen: Wir ziehen in die Fremde. Ein kleines Kapitel Religionspädagogik, www.rpiloccum.de/zillfr.html Vgl. z. B. K.-E. Nipkow: Theologie des Kindes und Kindertheologie, in: ZThK 103/2006 (S. 422 – 442) 9 »Jugendliche zu weiteren Entwicklungsschritten im Blick auf das eigene Gottesbild und Gottesverständnis oder auch nur zu eigenen Artikulationen zu motivieren, muss folglich in größtmöglicher Sensibilität geschehen und hat vor allem anderen unter der Maßgabe zu erfolgen, was für den jeweiligen Jugendlichen tatsächlich aktuell die lebensdienliche Vorstellung und Form des Selbstausdrucks darstellt« (T. Schlag; F. Schweitzer : Brauchen Jugendliche Theologie? Jugendtheologie als Herausforderung und didaktische Perspektive, Neukirchen-Vluyn 2011, 92). 10 P. Freudenberger-Lötz: Theologische Gespräche mit Jugendlichen. Erfahrungen – Beispiele – Anleitungen, München/Stuttgart 2012, 166 ff. 11 Vgl. hierzu Schweitzer/Schlag (2011) 27.

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Zur Vorgehensweise Für das Gespräch mit Jugendlichen erhielten die Praktikant/innen einen Gesprächsleitfaden, einerseits um eine gewisse Sicherheit zu verleihen, andererseits aber auch um ein bestimmtes Spektrum eines möglichen Fragehorizontes abzudecken. Allerdings war es allen freigestellt, sich an den Leitfaden zu halten oder auch nicht, wenn das Gefühl überwiegen sollte, das Gespräch würde ›künstlich‹ in eine andere Richtung gedrängt. Oberfläche und Tiefenstruktur des Bildes Was sehe ich? Wie lässt sich das Bild möglichst genau beschreiben? Was ist besonders auffällig? Wie deute ich das Bild? Erkenne ich (vermeintlich) Bekanntes? Was ist möglicherweise sein Verwendungszweck? Konfrontation mit unserem Wirklichkeitsverständnis Fordert mich persönlich das Bild in irgendeiner Art und Weise heraus? Warum? Lässt sich das möglichst genau in Worte fassen? Frage der muslimischen/christlichen Überlieferung Hat das Bild/das Dargestellte einen Platz in der eigenen Überlieferung oder in der (vermuteten) Tradition der anderen Religion? Oder ist genau das Gegenteil der Fall, indem es dieser widerspricht? Frage der (zentralen) Bedeutsamkeit für den muslimischen/christlichen Glauben Berührt das Bild bzw. sein Motiv Kernbereiche des eigenen persönlichen Glaubens? Hoffnungs-/Erzählpotenzial Wenn ich mit dem Bild sprechen könnte, was würde ich ihm sagen? Nachgespräch (mögliche Fragen an die Schüler/innen) – Wie wichtig waren Ihnen die Äußerungen der anderen Schüler/innen? – Wie haben Sie sich gefühlt? – Wie haben sich Ihre Gedanken verändert? – Finden Sie diese Methode interessant? Im Vorfeld wurden die Praktikant/innen mit Grundanliegen der Jugendtheologie vertraut gemacht.

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Aufgaben der Lehrpersonen Methode

Eröffnen, Zuhören, Impulse setzen, Konfrontieren, Strukturieren … Gespräch im Stuhlkreis ausgelöst durch ausgewählte Bilder

Ziel

Rekonstruktion und Weiterentwicklung eigener Sichtweisen und Vorstellungen eventuell in Auseinandersetzung mit der eigenen und der anderen religiösen Tradition Gottesbild, Gottesfrage, … aber Offenheit für selbst gewählte Themen, die sich ›ergeben‹

Mögliche Inhalte Bild der Jugendlichen

Konstrukteure ihrer eigenen Vorstellungen, ggfs. aber auch ›Transporteure‹ überkommener Tradition

Das Bildmaterial Ali Adjalli: Autumn’s Grace Das 2004 entstandene Bild (Ó Bagherzadeh Foundation) des iranischen Künstlers (* 1939) sticht als erstes durch seine Buntheit ins Auge. Durch die starke Verkleinerung des großformatigen Bildes (150 cm x 180 cm, Acrylic and Calligraphy Ink on Canvas) ist nicht gleich ersichtlich, dass sich über fast die ganze Oberfläche Schriftzeichen ziehen, die dem Arabischen ähneln. Insofern wird hier eine Symbiose von Nichtgegenständlichkeit und Kalligrafie ins Bild gesetzt, wie sie auch der Ali Adjalli in seiner Biografie vereinigt, der einerseits die Schönen Künste an der Universität lehrt und andererseits zu einem Meister der Kalligrafie (Calligraphy Academy of Iran) wurde. Von daher ist es ein modernes, aber gleichzeitig typisches Werk der »Arts of the World of Islam«12. Die Uneindeutigkeit sowohl im Abstrakten als auch bei der Schrift könnte für die jugendlichen Betrachter/innen ein motivierendes ›Rätsel‹ sein, welches durchaus Anknüpfungsmöglichkeiten böte im Blick auf Eigenschaften Gottes, wie sie in der islamischen Theologie entwickelt wurden.13

Kinderbild: Ich und Gott Das im Format DinA4 gehaltene Bild eines achtjährigen Mädchens zum Thema ›Ich und Gott‹ kann vom Betrachter nicht eindeutig interpretiert werden. Klar ersichtlich sind die beiden Ebenen Himmel (blau) und Erde (grün). Aus der 12 Ali Bagherzadeh in einer Mail an den Autor vom 11.12.12. 13 z. B. al-ha¯liq (der Schöpfer), al-Ba¯ri’ (der Schaffende), al-Musawwir (der jedem Ding seine ˙ erfasst), an-Nu¯r (das Licht). ˘ Form Gebende), al-Lat¯ıf (der das Feinste in allen Dimensionen ˙

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Ali Adjalli: Autumn’s Grace, 2004 (150 cm x 180 cm, Acrylic and Calligraphy Ink on Canvas), Ó Bagherzadeh Foundation, London.

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Kinderbild: Ich und Gott, Verfasserin unbekannt (DinA4).

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oberen Sphäre nähern sich zwei riesige Hände einem weder freudig noch traurig blickenden Mädchen, das die Arme von sich gestreckt hält. Die großen Hände könnten sowohl beschützend als auch bedrohlich sein. Im Gegensatz zur ›großen Kunst‹ bietet sich hier für den/die Betrachtenden eine realistische Identifikationsmöglichkeit und die Gelegenheit, eigenes Erleben und eigene Vorstellungen als Kind in die Erinnerung zu rufen. Spannend wäre hier die Frage, inwieweit auch muslimische Kinder eine anthropomorphe Gottesvorstellung hatten bzw. haben durften. Ob die Jugendlichen dies allerdings thematisieren würden, war eine offene Frage, da es einerseits ›peinlich‹ sein könnte und/oder andererseits gegen traditionelle Auffassungen steht, was ›erlaubt‹ bzw. ›nicht erlaubt‹ sei.

Marc Chagall: Moses vor dem brennenden Dornbusch Marc Chagall schuf bis zum Jahr 1966 vierundzwanzig Farblithographien zum Buch Exodus der Bibel, darunter auch das vorliegende Bild (Ó VG Bild-Kunst, Bonn 2012). Sieht man einmal über die irritierenden ›Hörner‹14 des Mose hinweg, dann findet man ein in strahlenden Farben gehaltenes Bild vor: Ein Mann kniend vor einem feuerroten Busch, die eine Hand aufs Herz gelegt, schaut etwas in sich gekehrt. Ganz irdisch finden sich im Hintergrund am rechten Bildrand Teile wohl seiner Herden. Himmlisch hingegen sind die zwei Sonnen, deren Strahlen auf ihn gerichtet sind. Zwischen beiden bewegt sich ein Engel. Klar ersichtlich ist, dass die Lichtquelle über dem Busch Schriftzeichen in sich trägt: Es ist das hebräische Tetragramm JHWH, das z. B. Martin Buber als den Namen Gottes mit Gott, Herr, Jahwe, Jehova oder der Ich-bin-da übersetzt. Exodus 3 erzählt, wie Mose sich diesem Ich-bin-da-Gott stellt: »Da bin ich.« (Ex 3,4). Moses antwortet dem Ruf Gottes, den er selbst gesucht (!) hat: »Ich will hingehen und die wundersame Erscheinung besehen, warum der Busch nicht verbrennt.« (Ex3,3). Wir haben es hier mit einem ›typischen Religionsunterrichtsbild‹ zu tun, weil es einen Teil der biblisch-jüdisch-christlichen Tradition relativ konkret abbildet und veranschaulicht. Es könnte durchaus sein, dass das Bild erkannt, zugeordnet und dann schnell abgehakt wird, obwohl gerade für die muslimischen Schüler/innen die Idee naheliegend wäre, dass Gott durch Licht und Wort dargestellt wird.

14 Aufgrund der falschen Übersetzung des hebräischen Wortes qaran, wo aus strahlend ein gehörnt wird, wurde Moses (vgl auch Ex 34,29) ab dem 12. Jahrhundert immer wieder mit zwei Hörnern dargestellt (z. B. Dürer, Michelangelo, Bloemaert u. a.).

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Fresko: Heiligste Dreifaltigkeit, Urschalling Das Fresko, entstanden im 12. Jahrhundert, ist in der Kirche St. Jakobus in Urschalling (Oberbayern) zu finden. In den letzten Jahren hat sich, nach Auskunft des Erzbischöflichen Ordinariats München15, ein »regelrechter Tourismus« zu diesem Bild entwickelt, der wohl darauf zurückzuführen sei, dass die mittlere Person »von vielen als Frau angesehen« werden könne. Seitens der für die Restauration zuständigen Fachleute wird betont, dass Andeutungen von Weiblichkeit gegen die ursprüngliche Intention ständen, die das Geheimnis der Trinität im Bild der drei Lebensalter darstellen wollte, weswegen die mittlere Figur ein Jüngling sei. Im Internet16 finden sich jedoch viele Deutungen, die hier eine Frau erkennen: So wird darin z. B. die Personifizierung der göttlichen Liebe (caritas) oder der göttlichen Weisheit (sophia) gesehen. Die ›Richtigkeit‹ der (kunst)historischen Interpretation ist jedoch für die Bildauswahl nicht entscheidend, vielmehr ist es gerade die Uneindeutigkeit, ja gerade die Rätselhaftigkeit dieser Darstellung, welche das Bild interessant macht. Zum einen ist die bildliche Darstellung Gottes für Muslim/innen eine grundsätzliche Herausforderung, auch wenn klar ist, dass es sich um Darstellungen aus dem Bereich des Christentums handelt. Zum anderen könnte man christlichen Antworten auf die Spur kommen, wie Trinität ›übersetzt‹ werden kann, wenn entdeckt wird, dass die drei Personen in einem Leib dargestellt werden. Andererseits wird unter Umständen durch die ›Frau‹ in der Mitte die muslimische Auffassung bestätigt, dass Trinität in der Dreiheit von Gott, Jesus und Maria bestünde,17 was im Koran klar abgelehnt wird.18

15 Telefonat mit Ordinariatsrat Dr. Norbert Jocher, dem Kunstreferenten des Erzbischöflichen Ordinariats München. 16 z. B. http://www.celtoslavica.de/imago/_Urschalling.html, http://www.fotoberger.fotograf. de/seite/postkarten-urschalling, http://www.kath.de/studientag/Referentinnen%20Studien tag.htm 17 »Und als Gott sprach: O Jesus, Sohn Marias, warst du es, der zu den Menschen sagte: ›Nehmt euch neben Gott mich und meine Mutter zu Göttern‹?« (5:116, Übersetzung nach: Der Koran: arabisch-deutsch / Übersetzung und Wissenschaftlicher Kommentar von A.Th. Khoury, Bde. 1 – 12, Gütersloh 1997ff). 18 »Christus Jesus, der Sohn Marias, ist doch nur der Gesandte Gottes und sein Wort, das Er zu Maria hinüberbrachte, und ein Geist von ihm. So glaubt an Gott und seine Gesandten. Und sagt nicht: ›Drei‹« (4:171, Übersetzung von A.Th. Khoury).

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Marc Chagall: Moses vor dem brennenden Dornbusch (Farblithographie), Ó Bild + Kunst 2012.

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Heiligste Dreifaltigkeit, Fresko aus dem 12. Jahrhundert in der Kirche St. Jakobus, Urschalling, Ó Foto-Berger, Prien am Chiemsee.

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Erträge aus den Gesprächen Die Gespräche (Theologisches Gespräch = TG) werden entpersonalisiert mit TG1, TG2 und TG 3 bezeichnet. TG1 hat vier weibliche und zwei männliche Protagonisten. TG2 besteht aus fünf Jungs (alle muslimisch). In TG3 sind zwei weibliche und drei männliche Schüler.19 Jede Gruppe konnte frei wählen, mit welchem Bild sie beginnen wollte und auch weitgehend selbst bestimmen, wie lange sie bei diesem Werk verbleiben wollte. Der jeweilige Verlauf stellt sich wie folgt dar : TG1: Adjalli (8 min) – Chagall (10 min) Das Gespräch kommt stockend in Gang. Die Gruppe versucht das ›Rätsel‹ des Bildes von Adjalli zu lösen, findet aber nur lose ›verwandte‹ Anknüpfungspunkte. Trotz des scheinbaren Aufforderungscharakters ›spricht‹ das Bild nicht und wird auch nicht mit der Gottesthematik in Beziehung gesetzt. Bei Chagall wird schnell die Figur des Mose identifiziert, als »Mann der mit dem Baum spricht«; anschließend wird die Darstellung mit der eigenen, islamischen Tradition ansatzweise verglichen und ein wenig hinterfragt. Die anderen beiden Bilder werden nicht in Betracht gezogen TG2: Kinderbild (24 min) Das Gespräch ist zu Beginn überhaupt nicht inhaltsbezogen. Die Jungs sind mehr zu kleinen Blödeleien aufgelegt als ernsthaft diskutieren zu wollen; auch wollen sie genau wissen, wozu die Aufnahmen dienen sollen. Die Wahl des Kinderbildes scheint fast eher zufällig bzw. pragmatisch: »Das ist eben simpel«, meint einer der Schüler. Völlig unerwartet entspinnt sich nach der Beschreibung des Bildes (Unterteilung in Erde und Himmel) eine Diskussion über Diesseits und Jenseits, weil ein Schüler vermutet, dass »etwas Außergewöhnliches aus dem Himmel« kommt, woraufhin ein anderer entgegnet: »Sie stirbt gerade, deswegen wird sie nach oben gezogen«. Schließlich mündet das Gespräch in der Frage, welche Vorstellungen Kinder von Gott haben und ob sie diese auch zeichnen dürften. Über die starke Vermutung, dass die Künstlerin wegen der Hände Gottes im Bild eine Christin gewesen sei, gelangen die Diskutanten zur Frage, ob es sich um eine Auftragsarbeit gehandelt habe oder ob es das Kind von sich aus gemalt habe, was nur ein sehr religiöses Kind tun würde. Das Gespräch endet in Interessenbekundungen, was denn nun »wirklich« auf dem Bild geschehe. Aufgrund der langen Verweildauer bei dem einen Bild sowie dem gesetzten

19 Grundlage der Analyse sind transkribierte Audio-Aufnahmen.

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zeitlichen Rahmen kann auf keines der anderen Bilder mehr eingegangen werden. TG3: Kinderbild (8 min) – Adjalli (8 min) – Dreifaltigkeit (12) – Chagall (4) Ohne große Umschweife nimmt sich die Gruppe das Kinderbild vor und thematisiert die Frage, wie sich Kinder Gott vorstellen, angereichert durch eigene Erfahrungen, um danach zu diskutieren, ob es sich eher um schützende Hände oder manipulierende Hände handelt, was wiederum als bezeichnend für das Gottesbild erkannt wird. Als ein Schüler nebenher versucht, das Adjalli-Bild zu entziffern, schwenkt die Gruppe zu einer neuen Thematik. Recht schnell scheint die Gruppe einig zu sein, dass es sich hierbei um die 99 Namen Gottes handelt, aus dem schlichten Grund: »weil alles, was in dieser Form in Ägypten … geschrieben wird, was auf diese Art und Weise dargestellt wird, hat meistens immer etwas mit dem Islam zu tun und, ähm, hat meistens auch immer etwas mit dem Koran zu tun«. Die Fortsetzung der Gedankengänge führt die Jugendlichen über diese Engführung zu sehr freien, ihnen anscheinend ungewohnten Interpretationen (z. B. Schwarz für Unverständliches in der Religion, Farben und Formen als Sinnbilder für Gottes Schöpfung und seiner »Fußabdrücke«). Das Dreifaltigkeitsbild wird sofort dem Christentum zugeordnet, demzufolge auch eine der Personen Jesus sein müsse. Es bietet sich Gelegenheit, Wissen über das Christentum auszubreiten und darüber zu diskutieren, ob (bzw. warum) auf dem Bild eine Frau zu sehen sei; zum Teil wird sehr pragmatisch argumentiert: »Ich glaub’, alle männlichen Positionen waren schon besetzt, deswegen haben sie eine Frau ausgesucht.« Während das Chagall-Bild nur kurz gestreift und dem Judentum zugeordnet wird, zeigen sich im Abschluss-Statement zum jeweiligen ›Lieblingsbild‹ noch einmal sehr persönliche Aussagen (z. B. »Beim bunten Bild fühlt man sich fröhlich, ja weil es viele Farben hat.« »Das Chagall-Bild zeigt eine Geschichte, also das kann ich jetzt am meisten verstehen.« »Gott ist immer bei dir, hält dich immer im Schutz und ich finde es halt auch schön, weil es auch mit meinen Vorstellungen, als ich Kind gewesen bin, übereinstimmt.«) Von daher ergibt sich folgende Übersicht: TG1 Adjalli (8 min) TG2 Kinderbild (24 min)

Chagall (10 min)

TG3 Kinderbild (8 min) Adjalli (8 min)

Dreifaltigkeit (12 min) Chagall (4 min)

Nimmt man den Grad der ›Zuwendung‹ (hier eher wörtlich verstanden), dann rangiert das Kinderbild an vorderster Stelle. Gerade ältere Jugendliche scheint es

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– vielleicht aufgrund der gewonnen (zeitlichen) Distanz – zu interessieren, was die frühere eigene (religiöse) Entwicklung ausmacht.20 Das Bild von Adjalli erweist sich deshalb als ansprechend, weil es Anknüpfungspunkte an die Tradition der überwiegend muslimischen Schüler/innen bietet, gleichzeitig aber Enträtselung fordert. Das Chagall-Bild gerät zwar auch in den Blick, aber es ist der Blick auf das Nicht-Eigene, aber dennoch vor dem Hintergrund des Religionsunterrichts Entschlüsselbare. Persönliche Verknüpfungen mit dem Kunstwerk oder dargestellten Aspekten finden kaum statt. Warum das Dreifaltigkeitsbild mit Abstand am wenigsten thematisiert wurde, kann weitgehend nur vermutet werden. Zum einen ist es klar der christlichen Tradition zuzuordnen, zum anderen stellt sich für muslimische Schüler/innen nicht die Frage, wie Trinität verstanden werden könnte, weil diese in der eigenen Tradition schon beantwortet ist. Mit anderen Worten: Von einem selbstverständlichen Interesse an dogmatischen Aus- bzw. Ineinandersetzungen der anderen Religion kann trotz des Kooperativen Religionsunterrichts nicht ausgegangen werden. Die Auswertung der Transkriptionen erfolgte in mehreren Schritten: Als erstes wurden die theologischen Gespräche in ihrem Verlauf nachgezeichnet und die Schülerentscheidungen interpretiert (s. o.). Danach wurden die TG zum einen daraufhin untersucht, ob und inwieweit die Gottesfrage thematisiert wurde, zum anderen wurde versucht, thematisch abgrenzbare Gedankengänge oder Dialoge zu identifizieren, um die darin immanente Theologie von Jugendlichen interpretieren zu können. Aufgrund der schmalen Datenbasis sowie der ›Unerfahrenheit‹ der Protagonisten (s. o.) sollten die nachfolgenden Ergebnisse weniger als endgültige Antworten verstanden werden, sondern eher als Anfänge von Suchbewegungen, die eine Fortsetzung finden müssten.

Perspektiven Theologisieren als ›Tanz mit Bildern‹21 Müller verwendet für die Begegnung mit der Bibel das Bild des Tanzens, welches mir auch sehr gut geeignet für die Begegnung der Jugendlichen mit den Bildern scheint: In der Erschließung gibt es Dinge, die anziehend sind oder die man 20 Vgl. hierzu auch Freudenberger-Lötz (2012) 64 – 70. 21 In Übernahme eines Bildes von Ilse Müller zur Bedeutung der Bibel, in: Freudenberger-Lötz (2012) 158 – 159.

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stehen lässt. Motive werden umkreist und aus verschiedenen Perspektiven betrachtet, von vorne oder von der Seite, vielleicht auch mal auf den Kopf gestellt. Und manchmal dreht man sich aber auch im Kreis, jedoch ohne dass es ein Schaden wäre. Es bedarf an mancher Stelle der Nähe, an anderer eines gewissen Abstands. ›Von alleine‹ entstehen keine ansehnlichen ›Figuren‹, das heißt es bedarf einer gewissen Übung, um Leichtigkeit im Theologisieren zu gewinnen; die Übung darf wiederum nicht in Gewöhnung erstarren. Schließlich bedarf es gewisser sicherer ›Grundschritte‹ (die im vorliegenden Setting nicht gegeben waren, wodurch die Diskussion sich an mancher Stelle auch als schwierig, weil z. B. langatmig oder unstimmig, erwiesen hat), um wirklich frei ›improvisieren‹ (Theologisieren?) zu können.

Die Selbstverständlichkeit des Religiösen – oder auch nicht Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass sich Jugendtheologie vor allem dadurch von der Kindertheologie unterscheide, dass Jugendliche ein höheres Maß an Zurückhaltung, ja sogar Scham, zeigten, wenn religiöse Themen thematisiert werden. Dies lässt sich anhand der Gespräche mit den ganz überwiegend muslimischen Schüler/innen nicht bestätigen. Zwar gab es hier und da Unsicherheiten (Gelächter, arabische Kommentare, die also nicht für die Ohren der deutschen Gesprächspartner bestimmt waren), aber keinerlei Form von Abwehr war zu beobachten. Dem wäre nun durch weitere Versuche nachzugehen, ob dies stärker dem ägyptischen Umfeld zuzuschreiben ist oder dem, was man grundsätzlich als muslimische Identität bezeichnen könnte. Kinderbild (TG3) S3: Also ich will jetzt nicht was Komisches sagen, aber mir wurde auch früher also beigebracht, dass zum Beispiel der Engel Gabriel, äh, dass er mit einem also mit einem, ähm, äh, Flügel von ihm die ganze Erde irgendwie, äh [Pause] also die ganze Erde in die Dunkelheit wälzen kann. Und wenn ich mir jetzt das so vorstelle, dass es auch ist. Also, ich finde, dass ein Kind sich Gott schon als Riesen oder als Person, also sich vorstellen könnte. S2: Mhhh [zustimmend]. Das Problem ist, man kann das jetzt wegen, dass es jetzt, ähm, das Bild ist nicht so klar, wie man es also. Also würden wir jetzt hier zum Beispiel den Gesichtsausdruck ein bisschen, äh, deutlicher erkennen, dann könnte man auch ein bisschen anders interpretieren. Aber ich glaub, Kinder würden jetzt nicht so ganz an Manipulation denken.

Interessant ist auch zu beobachten, wie hoch einerseits die Bedeutung der Meinung der peer-group ist, und wie andererseits – zum Teil nicht spannungsfrei

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– das mit in Betracht gezogen wird, was religiöse Autoritäten formulieren oder was in der Tradition zu finden ist: Chagall (TG1) S1: Ich finde diese Figur ganz interessant. S2: Ja. Ich wollt’s auch sagen. L: Inwiefern? S1: Weil, weiß nicht, es gehört einfach der Realität nicht an und … S3: Das ist ein Engel. S2: Wundere mich. Weiß nicht, ich hab mir Engel so nicht vorgestellt. [*lachen*] Also, wenn das ein Engel wäre … Sie werden meistens also … S1: Weiß. S2: Weiß, genau, dargestellt, das ist … S3: Grün-gelb.

Keine ›Frage nach Gott‹? Die für Jugendliche in christlich-westlichen Ländern formulierte Beobachtung eines oft medialisierten, mulireligiösen oder synkretistischen Patchwork-Gottesbildes22, lässt sich im gegebenen Kontext nicht bestätigen. Vielmehr scheint sich eine Gottesfrage nicht zu stellen, oder zumindest wird sie nicht als solche gestellt. Und auch das Gottesbild wird hier oft weiträumig umschifft. Dies könnte darauf zurückzuführen sein, dass es für die Jugendlichen (trotz der vorausgegangenen Unterrichteinheit!) kein wirkliches Thema ist, das an die Oberfläche drängt, also kein Thema, das sie im Sinne persönlicher Theologie23 bearbeiten wollen. Chagall (TG1) S1: Also wenn der Baum eigentlich brennt, wollt, will ich’s eigentlich wissen, warum der brennt. Es muss irgendwie nen Grund dafür geben, warum er in Flammen steht. S2: Und wer das Feuer entfacht hat. S1: Ja.

22 »Dabei greifen insbesondere Jugendliche inzwischen völlig frei auf die Bilder- und Symbolwelten des weiten globalreligiösen Götterhimmels zurück und konstruieren sich so ihre eigene Religion und auch ihre Vorstellung von Gott«, Schlag/Schweitzer (2011) 93. 23 Vgl. Schlag/Schweitzer (2011) 94 ff. und 114 ff.

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Nur wenige Äußerungen weisen in die Richtung einer Gottesfrage (s. o.). Hier wäre interessant herauszubekommen, ob es zu sehr gegen die Konventionen verstößt, denen sich auch die Jugendlichen unterwerfen, diese Frage direkt zu stellen. Eine methodische Möglichkeit wäre hier unter Umständen die Übernahme einer Rolle, in der dies ›zulässig‹ ist, oder die ›Identifikation‹ mit einem Teil des Bildes, das unverdächtig fragen kann. Beides würde jedoch eine stärkere Lenkung des Gesprächs mit sich bringen.

(Religiöse) Entwicklung thematisieren Welch hohes Interesse Jugendliche an ihrer eigenen religiösen Entwicklung haben, zeigt Rainer Oberthür in seinem dichten Beitrag »Wo ist das Kind, das ich gewesen?«, in dem er eine ehemalige Schülerin zu Wort kommen lässt: »Mich interessiert, worüber habe ich damals nachgedacht, was jetzt leider nicht mehr oft geschieht. Das ist eigentlich schade, das sollte man viel mehr tun.«24 Auch Freudenberger-Lötz dokumentiert ein Unterrichtsprojekt, in dem sich jugendliche Schüler mit ihrer persönlichen Entwicklung auseinandersetzen25. Sie stellt die Bedeutsamkeit eines solchen Unterfangens heraus, das schließlich die SchülerInnen zu einem erweiterten Kompetenzerwerb führen kann: »Welche Fundgrube diese Schüleräußerungen für den Religionsunterricht sind, das ahnen die Jugendlichen zu diesem Zeitpunkt sicher nicht. Eine ganze Landschaft unterschiedlicher Wege und Begebenheiten tut sich vor uns auf. Es ist so, als säßen wir gemeinsam auf einem Aussichtsplateau, um den bis jetzt gegangenen Weg zu betrachten und uns über weitere Wege Gedanken zu machen.«26 Gerade weil die Subjektivität, die Egozentrik im Jugendalter zunimmt, könnte es von besonderem Interesse sein, das Eigene in den Blick zu nehmen und zu deuten, das man in vielen Häutungen abgestreift hat, um anstehende Entwicklungsaufgaben im Sinne einer gelingenden (religiösen) Identitätsentwicklung zu meistern. Kinderbild (TG2) L: Ja aber würdest du so etwas auch zeichnen? Wenn beispielsweise dein Kind so etwas zeichnen würde, wie würdest du dann sagen …? S2: Ich weiß nicht, ich würde ihm nichts sagen, glaub ich. Er soll zeichnen, was er will; aber, also ich hätte kein Problem. 24 R. Oberthür : Wo ist das Kind, das ich gewesen?, in: Katechetische Blätter 131 (2006) Heft 2: Kinder- und Jugendtheologie, 82 – 85, 84 f. 25 Freudenberger-Lötz (2012) 64 – 70. Sie entwickelt von daher diesbezüglich einsetzbares Material: S. 128 – 134 und S. 135 – 144. 26 Freudenberger-Lötz (2012) 70.

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L: Also sind das für dich Vorstellungen, die ein Muslim oder ein muslimisches Kind haben darf ? S1: Haben darf schon, aber nicht zeichnen. In manchen Fällen. S3: Also ich meine, wenn man kleine Kinder sind wie kleine Schwämme, wenn man die nassmacht, dann behalten die auch ihre Nassheit. [*lachen*] L: Warte mal, den Schluss hab ich nicht verstanden. S3: Es ist halt, ein kleines Kind ist wie ein Schwamm. Es absorbiert Wasser. Das sind die Informationen. Und je älter er wird, desto härter dieses Schwamm wird. Und deswegen so ist meine Meinung, wenn ich Kinder haben sollte und die irgendwie sowas zeichnen, dann würde ich denen dann ab diesem Alter sagen, dass man die Hände von Gott nicht zeichnen soll, weil es uns verboten ist und das wird dann so im Hinterkopf bei denen immer laufen, so ihr ganzes Leben lang. Das ist mir schließlich auch passiert. Es ist, ich hab‹s zwar nicht gemacht, ich hab niemals Gott gezeichnet oder den Propheten gezeichnet oder sowas, aber es wurde mir halt vorhin gesagt, dass ich das nicht machen darf und das war immer im Hinterkopf und inzwischen hab ich mich niemals getraut, sowas zu machen. L: Aber woher weißt du, dass das die Hände Gottes sind? S3: Das ist meine Interpretation.

Die Gesprächspartner setzen sich mit der Frage auseinander, ob Gott von kleinen Kindern gemalt werden dürfe. Fragen der Erziehung – sowohl der eigenen als Kind wie auch der eigenen als künftiges Elternteil – vermischen sich dem persönlichen Erleben und Erinnern: Kinderbild (TG2) S1: Ja ne, ich würde sowas nie zeichnen als Kind. S3: Die Sache ist, wir können uns nicht gut erinnern, was wir machen könnten und was wir nicht machen könnten als Kinder. Also wir können uns nicht gut vorstellen, wie das wirklich war bei den kleinen Kindern, weil wir denken an uns, wie wir damals waren, aber wir haben noch ganz wenige Sachen in Erinnerung. Also ich hab nur die kleinen Sachen in Erinnerung, dass mein Vater mir das verboten hatte, sowas zu machen, als er gesagt hat, man sollte das nicht machen. Also das ist die einzige Erinnerung, die ich hab. Aber dass ich mich dran erinnern kann, dass ich Gott zeichnen wollte oder sowas, kann ich nicht erinnern, da war ich … ich kann mir schon … ne, ich bin mir sicher, ich hab mir irgendwann mal vorgestellt, wie Gott dann aussehen würde. Ich hab‹s vorgestellt, aber ich hab‹s niemals auf Papier gebracht. Also es war halt für mich so ne Vorstellung.

Am Ende findet S3 schließlich zu dem Eingeständnis, dass irgendwann mal eine anthropomorphe Gottesvorstellung vorhanden gewesen war, den elterlichen Konventionen aber dadurch entsprochen wurde, dass das Verbot des Malens nie gebrochen wurde.

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Interessant ist zu beobachten, wie sich junge Erwachsene besonders mit den Entwicklungsphasen auseinandersetzen, die Fowler als mythisch-wörtlichen Glauben beschreibt, wobei sie anscheinend besonders beeindruckt, wie Kinder (oder auch sie) im Bereich des Konkret-Operationalen (Piaget) agieren und sich klassifizierend Gott und die Welt erschließen: Kinderbild (TG3) S3: Also ich will jetzt nicht was Komisches sagen, aber mir wurde auch früher also beigebracht, dass zum Beispiel der Engel Gabriel, äh, dass er mit einem also mit einem, ähm, äh, Flügel von ihm die ganze Erde irgendwie, äh [Pause], also die ganze Erde in die Dunkelheit wälzen kann. Und wenn ich mir jetzt das so vorstelle, dass es auch ist. Also, ich finde, dass ein Kind sich Gott schon als Riesen oder als Person, also sich vorstellen könnte. S2: Mhhh [zustimmend]. Das Problem ist, man kann das jetzt wegen, dass es jetzt, ähm, das Bild ist nicht so klar, wie man es also. Also würden wir jetzt hier zum Beispiel den Gesichtsausdruck ein bisschen, äh, deutlicher erkennen, dann könnte man auch ein bisschen anders interpretieren. Aber ich glaub, Kinder würden jetzt nicht so ganz an Manipulation denken.

Die Andersreligiösen wahrnehmen und aus ihrer Perspektive heraus verstehen Dass die Schüler/innen durchaus in der Lage sind, das Andersreligiöse als solches wahrzunehmen und im (vermeintlichen) Sinne der Angehörigen der anderen Religion zu interpretieren zeigt das folgende Beispiel: Dreifaltigkeit (TG3) S1: Ich versteh nicht, warum sie jetzt [erg. für den Heiligen Geist] eine Frau gewählt haben. Normal geht man automatisch davon aus, dass es eine männliche Figur ist. S2: Deshalb hab ich ja, hab ich das am Anfang auch nicht als Frau interpretiert, weil es ist mir gar nicht [Pause]. Oh, ich hab’s als Jesus interpretiert. S3: Für mich ist es, ich glaube es hat gar nichts damit zu tun, dass es ein Frau oder ein Mann ist, es hängt immer von dem Glauben ab, wer ist egal. S2: Also, ich weiß, also ich hab, also ich weiß wirklich nicht, wie das vom Christentum her ist, aber ich glaub, dass der Heilige Geist, nur diese weibliche Position hat, weil Männer früher sehr streng gewesen sind. Also nicht sehr streng, aber halt für Stärke und, äh, also Stärke und Mut dargestellt wurden. Frauen waren eher viel, wie er gesagt hat, barmherziger. S1: Gefühle! Ich glaub, deswegen ist der Heilige Geist als Frau dargestellt worden. Männer waren früher ja auch sehr kampfwütig, Frauen nicht.

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Den Gesprächspartnern gelingt nicht nur Perspektivenwechsel, sondern sie versuchen sich in einer Perspektivenübernahme: Weil das Christentum für sie mit Güte und Barmherzigkeit verbunden ist, deuten sie die Gestalt als Frau (»Gefühle!«), weil dies für sie eine stimmigere Symbolik ist als ein »kampfwütiger« Mann.

Neues an Gelerntes anknüpfen Kinderbild (TG3) S1: Das ist ein – äh – etwas ein Bild, das ein kleines Kind wahrscheinlich gemacht hat. Also hätte ich dann nichts davon jetzt gewusst, gewusst von unserem Thema oder so, würd ich das jetzt eigentlich nicht interpretieren. Doch, äh, nach einem Augenblick kann man jetzt erkennen, dass es – ähm – eine Hand – ähm – ich weiß nicht, ob das jetzt eine Umarmung jetzt für das Mädchen ist oder echt nicht. Aber nee, das ist wahrscheinlich, dass jetzt, ähm, wenn man das theologisch interpretieren würde, würde das jetzt sein, dass Gott die Menschen oder beziehungsweise dieses Mädchen umarmt oder, ähm, um sie sich kümmert.

Der Schüler erkennt, dass die Rahmung des Nachdenkens über dieses Bild seine Wahrnehmung beeinflusst (»Also hätte ich dann nichts davon jetzt gewusst, gewusst von unserem Thema oder so, würd ich das jetzt eigentlich nicht interpretieren«). Er greift schließlich auf seine vorhandenen (im RU erworbenen?) Kenntnisse in der Interpretation zurück, allerdings erst nach zwei Anläufen, was er dann als »theologische« Interpretation bezeichnet, weil er zu einer generalisierenden Antwort kommt: Gott kümmert sich um die Menschen. Dieser Gedankengang verschafft ihm Klarheit. Wenn nur wenig an Bekanntes angeknüpft werden kann, zeigen sich die Schüler/innen eher verunsichert: Adjalli (TG3) L: Aber Kunst will ja auch immer ein bisschen … S1: Ja, das schreibt man nicht allgemein, weil das einfach zu schwer ist, nicht anders, das ist einfach. Die Schrift ist im Arabischen Kunst. L: Okay. S1: Und, ähm, das ist halt Kunst, mit der Schrift. L: Vielleicht möchte der Künstler ein wenig provozieren? Und sagen: So ist Gott … S2: Äh, wo, wo, wo ich das jetzt seh‹, jetzt hier zum Beispiel unten, ich will jetzt nicht überinterpretieren … L: Doch. Sie dürfen. [Lachen]

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S2: Weil hier steht ja, die, die gibt’s immer schwarze, also Grundflächen ganz hinten und der Name selber wird mit einer hellen Farbe geschrieben. Ich würde, ich könnte jetzt meinen, dass jetzt Gott uns Licht in das Leben bringt oder er jetzt der Wahre ist. Aber ich will jetzt nicht wirklich überinterpretieren, deswegen stopp ich jetzt hier.

Hier könnte es durchaus sein, dass durch ein ›Üben‹ des Theologisierens oder durch häufigeres ›Tanzen mit Bildern‹ (s.o) und/oder Texten der Mut zu ganz eigenständigen Interpretationen und Gedankengängen wächst.

Zum guten Schluss Es wird immer wieder hervorgehoben – und dem schließe ich mich an, dass eine entscheidende Aufgabe des Theologisierens die gedankliche Durchdringung des Glaubens sei. Da man zum Denken niemanden zwingen kann, bedarf es neben der Vermittlung (Lehre) zentraler Inhalte des Glaubens auch motivierender Formen der selbständigen und denkenden Aneignung von als persönlich relevant anerkannten Inhalten, wie zum Beispiel solcher theologischer Gespräche. Da dies vielfältige Wechselwirkungen im Feld einer Theologie von Jugendlichen, mit Jugendlichen und für Jugendliche (Schweitzer) mit sich bringt, darf davon ausgegangen werden, dass sich die Kompetenzen der Schüler/innen erweitern. Durch die diskursive »Einübung elementarer Formen theologischen Denkens und Argumentierens«27 werden Wahrnehmungsfähigkeit, Deutungsfähigkeit, Urteilsfähigkeit und Dialogfähigkeit geschult, wie sich selbst bei diesem kleinen Vorhaben herausgestellt hat. Letztlich hat der kleine Versuch des Theologisierens mit muslimischen und christlichen Oberstufenschüler/innen auch gezeigt, dass die Grundlegung einer Theorie der Jugendtheologie durchaus auch noch mehr im interreligiösen Horizont gedacht werden kann und muss.28 Eine Beschränkung auf das »Verhältnis zur christlichen Überlieferung im Sinne der Reflexion des Evangeliums«29 ist Engführung. Inwieweit jedoch islamische Theologie und Religionspädagogik ihrerseits hier aufnahmebereit sind, wird sich weisen müssen.

27 Kirchenamt der EKD: Kompetenzen und Standards für den Evangelischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I. Ein Orientierungsrahmen, Hannover 2011 (= EKD-Texte 111). 28 Es gibt die »Beobachtung, dass die Frage nach der Theologie Jugendlicher im Blick auf die Religionsforschung einen zusätzlichen Blickwinkel und eine weiterreichende Untersuchungs- oder Interpretationskategorie bereitstellen könnte, deren auch empirische und religionspädagogische Fruchtbarkeit sich allerdings erweisen lassen muss« (Schlag/Schweitzer [2011] 75). 29 Schlag/Schweitzer (2011) 51.

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Zur ›christlichen‹ Religionspädagogik im Horizont aktueller Erfordernisse

Angesichts des mir gestellten Themas »Zur ›christlichen‹ Religionspädagogik im Horizont aktueller Erfordernisse« ist es mir ein Anliegen, zuallererst auf die grundlegenden Feststellungen des Nestors der evangelischen Religionspädagogik, Karl Ernst Nipkow, hinzuweisen, der zu einem ähnlichen Anlass wie diesem auf den II. Münsteraner Gesprächen der Muslime (2006) die Gemeinsamkeiten in der wissenschaftlichen Religionspädagogik der beiden christlichen Konfessionen betonte.1 Wenn wir aber über die »christliche Religionspädagogik im Horizont aktueller Erfordernisse« reflektieren wollen, scheint es mir unerlässlich, neben den uneingeschränkt zu begrüßenden und dringend weiter auszubauenden Gemeinsamkeiten der Konfessionen auch die Unterschiede zu beleuchten, welche die jeweilige Religionspädagogik der beiden Bekenntnisse kennzeichnet. Denn vor dem Horizont der Unterschiede in den zum großen Teil gemeinsamen religionspädagogischen Ansätzen sind auch die aktuellen Herausforderungen der katholischen wie evangelischen Religionspädagogik differenziert zu konturieren, über deren Reflexion, wie ich hoffe, auch Impulse für die Weiterentwicklung des Islamischen Religionsunterrichts und seiner Religionspädagogik ausgehen können. Daher verstehe ich meine Ausführungen als Denkanstöße.

Ein Blick zurück: Zu den Konzeptionen des Religionsunterrichts im 20. Jahrhundert Wie sind die Inhalte des Glaubens einerseits und die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler mit ihren Erfahrungen zusammenzubringen? Diese grundlegende Frage, die Religionspädagogen bis zum heutigen Tag beschäftigt, 1 Vgl. K.E. Nipkow: Grundlagen einer Religionsdidaktik aus christlicher Sicht, in: L. Kaddor; H.H. Behr (Hrsg.): Islamische Erziehungs- und Bildungslehre (Veröffentlichungen des Centrums für Religiöse Studien Münster 8), Berlin 2008, 27 – 48.

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ließ schon G.E. Lessing (1729 – 1781) über den »garstig breiten Graben« zwischen christlichem Glaubensinhalt und zeitgenössischer Lebenssituation verzweifelt ausrufen: »Kann mir jemand hinüberhelfen, der thu es; ich bitte ihn, beschwöre ihn. Er verdienet ein Gotteslohn an mir«.2 Anfang des 20. Jahrhunderts versuchten religionspädagogische Konzeptionen wie die katholische Neuscholastische Katechese – wenn auch durchaus didaktisch orientiert – diesen Graben vor allem dadurch zu überwinden, dass sie Schülerinnen und Schüler mit den Inhalten des Glaubens und der Tradition instruierten. Etwa zur gleichen Zeit entwickelten reformorientierte katholische Katechetiker die sog. Münchner Methode, die bereits auf lernpsychologische Voraussetzungen der Adressaten Rücksicht nahm. In der Konzeption des katholischen Materialkerygmatischen Religionsunterrichts (Mitte der 30er Jahre bis ca. 1960) wurde das fünfstufige Vorgehen der Münchner Methode (Vorbereitung, Darbietung, Vertiefung, Zusammenfassung, Anwendung) übernommen und in einer Didaktik der Vermittlung von Bibel, Liturgie und lebenspraktischen Vollzügen ausgearbeitet. Ende der 1950er Jahre suchte der evangelische Hermeneutische Religionsunterricht (bis ca. 1970) den von Lessing beklagten Graben dadurch zu überspringen, dass er die biblischen Texte entmythologisierte, um auf die eigentlichen existenziellen Kernaussagen der Bibel vorzudringen, die auch das Leben der Schülerinnen und Schüler bestimmen. Mit seiner stark theologisch-exegetischen Ausrichtung auf die Bibel blieb in diesem Religionsunterricht aber kaum Raum für die Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler. Im Unterschied zu den ihm vorangehenden Konzeptionen, die jeweils eine starke inhaltliche Orientierung aufwiesen, stellte der sowohl auf katholischer, als auch auf evangelischer Seite umgesetzte Problemorientierte Religionsunterricht (ca. 1970 – 1980) nun die Schüler, ihre Lebenssituation und ihre Fragen in den Mittelpunkt. »Die Interpretation biblischer Texte und historischer Zusammenhänge tritt hinter das Bemühen zurück, Gegenwartsphänomene zu problematisieren, sie existenzbezogen zu erörtern und Wege zu verantwortlicher Lebensbewältigung in den Blick zu bringen.«3 Der Problemorientierte Religionsunterricht entdeckte zwar in der Religion ein gewichtiges Problemlösungspotential, vermittelte diese aber nicht als kirchlich gelebte und theologisch gelehrte Religion. Dennoch ist diesem Konzept die unaufgebbare Orientierung an den Fragestellungen und Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler zu verdanken, auch wenn es sich mit der Kritik auseinandersetzen musste, es würde vielmehr jene Probleme, die der Gesellschaft und den Lehrenden wichtig erschienen, behandeln. 2 G.E. Lessing: Über den Beweis des Geistes und der Kraft (1777), in: Lessings Werke. Hildburghausen: Verlag des Bibliographischen Instituts (4), 1870, 483 – 488, 485. 3 Uwe Gerber : Art. »Religionsunterricht in Deutschland: 7. Sekundarstufe II«, in: Lexikon der Religionspädagogik, Band 2, Neukirchen-Vluyn 2001, 1805 – 1813, 1808.

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Der »in der Schnittlinie von pädagogischen und theologischen Begründungen« liegende Religionsunterricht nach dem Synodenbeschluss »Der Religionsunterricht in der Schule«4 der Würzburger Synode aus dem Jahr 1974 war wegbereitend für die Korrelationsdidaktik (ca. 1980 – 2000), die im Zielfelderplan der Grundschule 1977 als religionspädagogisches Prinzip entfaltet wurde. Dieses Prinzip geht von der Wechselbeziehung zwischen christlicher Botschaft und Schülererleben aus. Auf diese Weise grenzte sich die Korrelationsdidaktik ebenso einerseits von einem offenbarungspositivistischen und inhaltslastigen Religionsunterricht ab, wie von Konzeptionen, die mit der fast ausschließlichen Fokussierung auf die Lebenswelt des Schülers Gefahr liefen, kurzschlüssig den jeweiligen Zeitgeist in den Mittelpunkt des Religionsunterrichts zu rücken.5 In der Korrelationsdidaktik sollten christliche Überlieferung und menschliche Erfahrungen als Dialogpartner ernst genommen werden. Weil in diesem Konzept die christliche Offenbarung und die menschliche Lebenssituation in eine Wechselwirkung geraten, ist es nicht abwegig davon zu sprechen, dass die Korrelationsdidaktik in besonderem Maße den christlichen Inkarnationsgedanken didaktisch umsetzte. Die Korrelationsdidaktik konnte sich ebenso auf die katholischen Theologen Karl Rahner und seine anthropologisch gewendete Theologie und Edward Schillebeeckx, als auch auf den evangelischen Theologen Paul Tillich berufen, der den Begriff Korrelation als Verhältnisbestimmung zwischen Gott und Mensch, Botschaft und Lebenssituation eingeführt hatte.6 Auf evangelischer Seite wurde die Korrelationsdidaktik eher implizit wirksam und in der Verhältnisbestimmung zwischen gegenwärtigem Leben einerseits und der biblischen Überlieferung andererseits in erfahrungshermeneutischen Konzepten diskutiert.7 Im Laufe der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts geriet die Korrelationsdidaktik jedoch zunehmend in die Kritik mit der Begründung, dass die Schüler zur Praxis des gelebten Glaubens kaum mehr Bezug hätten, und daher im Religionsunterricht die Vermittelbarkeit zwischen ihren Erfahrungen und Glaubensinhalten nicht mehr eingelöst werden könne. Aber mit dem »Plädoyer für ihren ehrenhaften Abgang«8 wurde mit der Korrelationsdidaktik ein Konzept der religiösen Bildung verabschiedet, das als religionspädagogisches Unter4 Vgl. Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Beschlüsse der Vollversammlung, Band I, Freiburg 1976, 123 – 152. 5 Vgl. G. Hilger : Art. »Korrelationsdidaktik«, in: Lexikon der Religionspädagogik, Band 1, Neukirchen-Vluyn 2001, 1106 – 1111, 1106. 6 Vgl. G. Hilger (2001) 1106. 7 Vgl. G. Hilger (2001) 1107. 8 R. Englert: Die Korrelationsdidaktik am Ausgang ihrer Epoche. Plädoyer für ihren ehrenhaften Abgang, in: G. Hilger ; G. Reilly (Hrsg.): Religionsunterricht im Abseits? Das Spannungsfeld Jugend, Schule, Religion, München 1993, 97 – 110, 97.

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richtskonzept in der systematischen Theologie durchaus seine Entsprechung hatte. Denn der Vermittlungsgedanke von Lebenserfahrung und Tradition ist ganz der Kernbotschaft des Christentums verpflichtet, die Aussagen darüber macht, dass die Verbindung zwischen Gott und Mensch, Transzendenz und Immanenz personal in Christus Wirklichkeit geworden ist. In keinem anderen Konzept des Religionsunterrichts wurden – bei aller Vielfalt der didaktischen und methodischen Ansätze – die theologische Wechselwirkung und der Dialog von Offenbarungsinhalt und Adressatenkreis religionspädagogisch so konsequent umgesetzt wie in der Korrelationsdidaktik. Wenngleich auch nicht immer in der Praxis eingeholt, so ging dieses Konzept doch davon aus, dass die biblische und systematische Theologie einerseits und die Erfahrungen der Glaubenswelt der Schülerinnen und Schüler andererseits als Inhalte des Unterrichts ihre Berechtigung haben und – sich wechselseitig befragend – aufeinander dialogisch bezogen sind. Doch wie kann ein Religionsunterricht aussehen, der sich von der Korrelationsdidaktik verabschiedet? Läuft ein solcher Religionsunterricht nicht Gefahr, entweder die Glaubensinhalte (vergleichbar dem Katechismusunterricht der 1960er Jahre) restaurativ überzubetonen oder aber die Schülererfahrungen als seinen einzigen und eigentlichen Inhalt zu verabsolutieren?

Alternativen zur Korrelationsdidaktik? Auch die katholischen Religionspädagogen Andreas Prokopf und Hans-Georg Ziebertz hatten in ihrem programmatischen Artikel »Abduktive Korrelation. Eine Neuorientierung für die Korrelationsdidaktik«9 kritisiert, dass die wechselseitige Erschließung religiöser Symbolsysteme und anthropologischer Lebensdimensionen auseinandergefallen sei und man »mit einem Brückenbaukonzept (hantierte), welches auf den Topf der Erfahrung immer den gerasterten Deckel (Strukturgitter!) einer vorgegebenen Tradition zu stülpen versuchte«.10 Die Brücke der Korrelation sahen die Autoren in den zwei unverbundenen »Brückenköpfen« der Tradition einerseits, die deduktiv auf die Schülerwelt aufgesetzt wurde, und der Lebenserfahrung andererseits, von der induktiv auf theologische Fragen geschlossen werden sollte, auseinandergebrochen. Weil zwischen diesen beiden Brückenköpfen die eigentlich verbindende Brücke fehlte, sei die Korrelationsdidaktik zum Problem geworden. Die abduktive

9 A. Prokopf; H.-G. Ziebertz: Abduktive Korrelation. Eine Neuorientierung für die Korrelationsdidaktik, Religionspädagogische Beiträge 45 (2000) 19 – 50. 10 Prokopf; Ziebertz (2000) 27.

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Korrelation weise nun einen Weg aus der Sackgasse deduktiver und induktiver Konzepte. So läuten auch Prokopf und Ziebertz das »Ende der Topf-Deckel Korrelationsdidaktik«11 ein und kritisieren – ähnlich wie für seine Zeit G. E. Lessing – dass »sich christliche Tradition und Lebenswelt heute gar nicht mehr wechselseitig aufeinander beziehen lassen, weil (post-)moderne und 2000 Jahre alte Erfahrungen nicht mehr zusammenzubringen sind«.12 Die von den beiden Autoren nun neu entwickelte abduktive Korrelation geht davon aus, dass »überall dort, wo religiöse (spezielle) Semantiken vorgefunden werden, strukturell Verbindungen zum allgemeinen Traditionsschatz der überlieferten, substantiellchristlichen Religion vorliegen«.13 Schülerinnen und Schüler, die sich über ihre Lebensfragen äußern, würden sich – so die These – schon immer der in der religiösen Tradition überlieferten Begriffe bedienen. Für Prokopf und Ziebertz stellt der methodische Ansatz und strukturelle Religionsbegriff Ulrich Oevermanns das Instrumentarium für die Religionspädagogik bereit, vom Subjekt her latent vorhandene traditionelle Spuren des Christentums aufzuspüren. Ihre These setzt mit Oevermann voraus, dass Religion als unlösbarer Bestandteil der Kultur traditionelle Sinngehalte bereithält, die implizit in allen Äußerungen von Individuen über Religion enthalten sind. Weil sich religionssoziologisch menschliche Erfahrungen und religiöse Ausdruckstraditionen nicht wirklich trennen ließen, müsse man mit der Religionssoziologie von einem strukturellen Religionsbegriff ausgehen, der im Unterschied zum traditionellen, substanziellen Religionsbegriff nicht ein konkretes Bekenntnis meint, sich aber in Strukturen »unabhängig von dem lebensgeschichtlichen oder historischen Zeitpunkt ihrer jeweiligen interpretativen Entschlüsselung (…) dauerhaft hinter dem Rücken der Intentionalität des Subjekts auf der Ebene der objektiven Bedeutungsstrukturen von Interaktionstexten« manifestiert.14 Es stellt sich jedoch die Frage, ob jedes religiöse Sprechen von Schülerinnen und Schülern wirklich sogleich eine implizite Verwendung der christlichen Zeichensprache ist. Konnte Paul Tillich noch davon ausgehen, dass Religion die Substanz der Kultur, und Kultur die Form der Religion sei,15 weil er von der Prägung der europäischen Kultur durch die christliche Religion ausgehen konnte, so ist es jedoch inzwischen in der pluralistischen Gesellschaft 11 12 13 14

Prokopf; Ziebertz (2000) 19. Prokopf; Ziebertz (2000) 21. Prokopf; Ziebertz (2000) 22. U. Oevermann u. a.: Die Methodologie einer »Objektiven Hermeneutik« und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften, in: H.-G. Soeffner (Hrsg.): Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart 1979, 352 – 434, 383. 15 Vgl. P. Tillich: Recht und Bedeutung religiöser Symbole, Bd. V, Stuttgart 1961, 29 (zitiert nach Prokopf; Ziebertz (2000).

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Deutschlands nicht mehr selbstverständlich, dass sich religiöses Sprechen auf christliche Semantik beziehen muss. Und wenn die religiösen Äußerungen von Schülerinnen und Schülern in unserer pluralistischen Gesellschaft gar nicht mehr aus einem Zeichenvorrat schöpfen, der auf einen traditionell-christlichen Zeichenvorrat verweist, kann auch nicht mehr gefolgert werden, dass damit die latenten Zeichen einer bestimmten religiösen Tradition verwendet werden. Daraus folgt, dass die Autoren »vor dem Hintergrund eines universalen wie konstruktivistisch-handlungstheoretisch eingefärbten Religionsbegriffs«16 argumentieren. Doch welche Konsequenzen hat es für den nach dem Grundgesetz (Art. 7 Abs. 3 GG) garantierten bekenntnisorientierten Religionsunterricht, wenn Prokopf und Ziebertz einen Religionsunterricht meinen, der sich auf einen letztlich doch funktionalen und so allgemeinen Religionsbegriff bezieht, dass er gar nicht mehr konfessionell zu fassen ist? Mit dem Lösungsvorschlag der abduktiven Korrelation dürfte für den zukünftigen Religionsunterricht auf dem Spiel stehen, was eigentlich unter Religion zu verstehen sei. Was für eine Religion ist im Religionsunterricht dann gemeint? Ein struktureller Religionsbegriff, der sich auf latent vorhandene soziologische Bedeutungsstrukturen bezieht, setzt traditionell-christliche Zeichen voraus, an die im Religionsunterricht nur unter der Voraussetzung angeknüpft werden könnte, wenn sie in der pluralistischen Gesellschaft nicht inzwischen von anderen Zeichensystemen weitgehend überdeckt oder gar ersetzt worden sind. Ein funktionaler Religionsbegriff, der nicht auf eine bestimmte religiöse Tradition abzielt, hat hingegen durchaus den Vorteil, dass im Religionsunterricht alle religiös gedeuteten Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern erfasst und wertgeschätzt werden. Zwischen den Schülererfahrungen auf der einen und dem traditionellen Bekenntnis auf der anderen Seite kann Religion dann eine verbindende Brücke spannen, wenn Religion universal verstanden und konstruktivistisch-individuell gehandhabt wird, ohne die Verbindlichkeit eines kategorialen Bekenntnisses übernehmen zu müssen. Für unterrichtliche Lernprozesse hat ein solches Konzept weitreichende Konsequenzen. Denn in diesem Fall wird Religion im Unterricht nicht durch die Vermittlung von Glaubensinhalten konstituiert, sondern »die Jugendlichen wählen eigenständig aus überkommenden Elementen unterschiedlicher religiöser Traditionen aus und verschmelzen diese aktiv zu einem durchaus eigenständigen Gottesbild«.17

16 B. Grümme: Abduktive Korrelation als Ausweg aus korrelationsdidaktischen Aporien? Zu einem religionsdidaktischen Neuansatz, Religionspädagogische Beiträge 48 (2002) 19 – 28, 21. 17 B. Grümme (2002) 21.

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Ähnlich erkennt auch die Kindertheologie18 religiöse Äußerungen von Kindern als Theologie an und versteht Religion als einen von den Kindern zu konstruierenden Inhalt. Daher kann auch dieses Konzept, das sich vor allem im Religionsunterricht der Grundschule durchgesetzt hat, unter die Lösungsvorschläge gezählt werden, die sich als Alternativen zur Korrelationsdidaktik anbieten. Schüler und Schülerinnen werden hier dazu motiviert, sich über ihr eigenes Bild von Gott zu äußern. In einem solchen Religionsunterricht ist Gott nicht mehr Gegenstand der Belehrung, sondern wird zu einer Herausforderung, über ihn zu reflektieren. Dem theologischen Grundsatz entsprechend, dass bei aller Rede über Gott dieser im letzten unbegreifbar bleibt, werden die je individuellen Äußerungen der Kinder über Gott ernst genommen und ins Gespräch gebracht.19 Hier haben wir es mit einer Religionsdidaktik zu tun, die Glaubensunterweisung vom subjektiven Erleben der Schüler und Schülerinnen aus konzipiert. Kinder werden sensibilisiert für religiöse Fragen. Ausgangspunkt sind dabei die Kinder, ihre Wahrnehmungen und Erfahrungen, denen eine produktive Rolle für den theologischen Gehalt des Religionsunterrichts zugesprochen wird. Diese Konzeption findet in der abduktiven Religionspädagogik unschwer deswegen eine Entsprechung, weil sie ebenso wie diese in den Sprachspielen der Kinder tradierte theologische Zeichensysteme wahrnehmen will. Auch hier gilt, dass es durchaus seine hohe Berechtigung hat, die anthropologische Grundkonstante des Menschen für eine natürliche Religion und Religiosität wertzuschätzen. Aber wo bleibt das verbindliche Bekenntnis, wo die an der christlichen Offenbarung ausgerichtete Theologie, wo der über Jahrhunderte gelebte und gelehrte Glaube? Der evangelische Religionspädagoge Friedrich Schweitzer hat daher für die Kindertheologie gefordert, dass zum Theologisieren der Kinder ebenso das Theologisieren mit Kindern und vor allem das Theologisieren für Kinder treten muss.20 »Auch das Konzept der performativen Religionsdidaktik knüpft an der korrelationsdidaktischen Problemstellung an, wie Grundelemente des tradierten Glaubens heutigen Schülerinnen und Schülern überhaupt noch verständlich gemacht werden können«.21 In einem performativen Religionsunterricht geht es darum, heutigen Schülerinnen und Schülern in der »probeweisen Ingebrauch18 Vgl. R. Oberthür : Kinder und die großen Fragen. Ein Praxisbuch für den Religionsunterricht, 1. Auflage, München 1995; zitiert wird nach der 7. Auflage, München 2006; A. Bucher (Hrsg.): »Mittendrin ist Gott«. Kinder denken nach über Gott, Leben und Tod, 2. Auflage, Stuttgart 2008. 19 Vgl. das Themenheft »Kinder- und Jugendtheologie« der Katechetischen Blätter 131 (2006) Heft 2. 20 Vgl. F. Schweitzer : Was ist und wozu Kindertheologie?, in: A. Bucher (Hrsg.): »Im Himmelreich ist keiner sauer«. Kinder als Exegeten, Stuttgart 2003, 9 – 18, 9 f. 21 H. Mendl: Religionsdidaktik kompakt. Für Studium, Prüfung und Beruf, München 2011, 66.

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nahme«22 vorgegebener religiöser Ausdrucksgestalten eigene religiöse Erfahrungen zu eröffnen, wobei erfahrungseröffnende und Glauben realisierende Formen gerade wegen ihres subjektiven Erfahrungscharakters fließend sind. Denn – so die Begründung der performativen Didaktik – weil das heutige Christentum durch Traditionsbruch (oder gar : -abbruch) gekennzeichnet ist, habe das Reden über Religion mit Schülerinnen und Schülern seinen volkskirchlichen, gemeindlichen und familiären Bezug in deren Lebenswelt verloren.23 Religiöse Texte oder Handlungen können daher nicht mehr einfachhin besprochen werden, sondern müssen – wie to perform ja auch heißt – getan werden, so wie mit performativen Äußerungen ja nicht nur etwas gesagt, sondern getan wird (zum Beispiel jemanden segnen, schwören, eine Sitzung eröffnen). Aber schon in der doppelten Verwendung des Begriffs perform[ativ] als einerseits ursprünglich im Sinne von einfach tun (anstatt nur darüber zu reden) und als andererseits durch Sprechen eine Handlung setzen / wirkmächtige Worte sagen (wie beim Sakrament oder Segen, etwa: »Hiermit…«) werden Unterschiede zwischen evangelischen und katholischen Konzepten der performativen Didaktik erkennbar. Im Verständnis der von evangelischen Religionspädagogen vertretenen performativen Didaktik wird Tradition »nach dem Verlust ihrer selbstverständlich normativen Geltung (…) mehr und mehr zum Spielraum« und als »eine Art Setzkasten oder eine Art Grammatik betrachtet, welche das Buchstabieren einer individuellen Religiosität zuallererst ermöglicht«.24 Daher müsse »der Gebrauch von Symbolen und Zeichen ihrer kritischen Reflexion vorausgehen«.25 Wie kein anderer Raum religiöser Erfahrungen eignet sich daher vorrangig der Kirchenraum dazu, zu einem solchen »Spielraum« verwendet zu werden, in dem individuelle religiöse Lernprozesse arrangiert bzw. inszeniert werden können – weswegen Konzepte der evangelischen Kirchenpädagogik dem Konstruktivismus nahe stehen.26 Es verwundert daher nicht, dass in Richtung eines performativen Religionsunterrichts weisende Ansätze hauptsächlich in der evangelischen Religionspädagogik entwickelt wurden bzw. werden (Gerhard Büttner, Bernhard Dressler, Thomas Klie, Silke Leonhard, Ingrid Schoberth, u. a.).

22 B. Dressler : Darstellung und Mitteilung. Religionsdidaktik nach dem Traditionsabbruch, Religionsunterricht an höheren Schulen 45 (2002) Heft 1, 11 – 19, 18. 23 B. Dressler (2002) 12. 24 R. Englert »Performativer Religionsunterricht!?« Anmerkungen zu den Ansätzen von Schmid, Dressler und Schoberth, Religionsunterricht an höheren Schulen 45 (2002) Heft 1, 33 – 36, 33. 25 B. Dressler (2002) 13. 26 Vgl. K.E. Nipkow: Schule in der Demokratie und der Beitrag der Kirche, Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 51 (1999) Heft 2, 116 – 129, 116 f.

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Auf katholischer Seite (Hans Mendl u. a.) wird unter performativem Religionsunterricht hingegen eher »eine Teilhabe an kirchlicher Praxis verstanden, die den Schülern eine Beobachterrolle zuweist, dabei aber davon ausgeht, dass diese noch die Sinnvoraussetzungen des Systems teilen«.27 Hier soll den Schülerinnen und Schülern »die fremde Erlebniswelt des sogenannten objektiven Glaubens präsentiert« werden, sodass sie auf der Basis einer solchen Teilhabe »zur deutenden Auseinandersetzung mit Personen, Orten, Gegenständen und Ritualen der gelebten Religion angeregt werden können«.28 Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Rezeption des performativen Konzepts und bis zu seinen konkreten Anwendungsfeldern (wie etwa der Kirchenraumpädagogik) konfessionell unterschiedlich verläuft.29 Dennoch sind sich die hier genannten Neuansätze der abduktiven Korrelation, der Kindertheologie und der performativen Didaktik in dem Anliegen einig, den garstigen Graben zwischen 2000 Jahre alter Glaubenstradition und dem heutigen Schülererleben überbrücken zu wollen. Den konstruktivistischen Spielarten dieser Konzeptionen geht es weniger darum, den »so genannten objektiven Glauben« zu zeigen und Schülerinnen und Schüler am Bekenntnis einer bestimmten kategorialen Religion teilhaben zu lassen, als ihnen die Neuinszenierung von eigenen, individuellen Erfahrungen zu ermöglichen.30 Theologisch wäre die – grundsätzlich als positiv zu bewertende – religionspädagogische Ausrichtung auf die Schülerindividualität in einer grundsätzlich stärkeren Subjektorientierung der reformatorischen Theologie zu begründen. Dennoch kommt der Religionsunterricht nicht ohne die normative Bedeutung seiner Bezugswissenschaft aus. »Religiöses Lernen erfordert auch, sich an dem Bekenntnis abzuarbeiten, dass diese brüchige Welt zugleich Gottes Schöpfung ist, oder zu verstehen zu versuchen, warum Christen an einen dreieinen Gott glauben, oder zu hinterfragen, warum Jesus für unsere Sünden gestorben ist. Angesichts der Beobachtung, dass selbst rudimentäres Glaubenswissen gegenwärtig immer weniger gegeben ist und das Christentum auch deswegen auf Ablehnung stößt, weil seine Aussagen nicht mehr verstanden werden, erhält eine neue Aufmerksamkeit für die kognitive Dimension von Religion besondere Dringlichkeit«.31 Für die unterrichtliche Praxis hat es folglich weit reichende Bedeutung, welches Religionsverständnis dem Religionsunterricht zugrunde 27 Th. Meurer : Performative Religionspädagogik. Größe und Grenze eines Trends, HerderKorrespondenz 63 (2009) Heft 7, 375 – 377, 376. 28 H. Mendl: Religionsdidaktik kompakt. Für Studium, Prüfung und Beruf, München 2011, 66. 29 Vgl. Th. Meurer (2009) 375. 30 Th. Meurer (2009) 377. 31 S. Pemsel-Maier : Jenseits von Dogmatismus und radikalem Konstruktivismus. Perspektiven aus der Systematischen Theologie, Religionspädagogische Beiträge 66 (2011) Heft 2, 61 – 69, 66.

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liegt. Je nachdem, ob Religion im Sinne einer anthropologischen Grundkonstante einer natürlichen Anlage zur Religion verstanden wird, die als Kompetenz in den Schülerinnen und Schülern geweckt und vertieft werden soll, oder als Ausdruck eines bestimmten Bekenntnisses, mit dessen Zuspruch, aber auch Anspruch die Schülerinnen und Schüler konfrontiert werden sollen, werden Inhalte und Methoden des Religionsunterrichts unterschiedlich bestimmt sein.

Zum Offenbarungsverständnis im Religionsunterricht Judentum, Christentum und Islam zeichnen sich dadurch aus, dass sie Offenbarungsreligionen sind. Für das Christentum hat sich die worthafte Offenbarung Gottes personifiziert, das Wort Gottes hat sich in der Inkarnation manifestiert und ist in Jesus Christus in die menschliche Geschichte eingegangen: »Das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt« (Joh 1, 14). Daher ist das Christentum letztlich auch nicht als Buchreligion zu bezeichnen, weil nicht das Wort als solches, sondern die Person Jesus Christus Offenbarungsträger ist (Dei Verbum 4)32. Der kategoriale Religionsbegriff des Christentums ist daher unweigerlich mit seinem personalen Offenbarungsverständnis verbunden. Offenbarung hat nach christlichem Verständnis – ganz im Sinne einer personalen Kommunikation – schon immer eine subjektive und eine objektive Seite, weil (wie es das II. Vatikanische Konzil formuliert) »Gott in der Heiligen Schrift durch Menschen nach Menschenart gesprochen hat« (Dei Verbum 12)33. Im jesuanischen Wort: »Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« (Joh 14,6) kommt mit der Wegmetapher die subjektive und mit dem Wahrheitsbegriff die objektive Konnotation christlichen Offenbarungsverständnisses beispielhaft zum Ausdruck. Damit beschreibt der christliche Offenbarungsbegriff einerseits »den Erfahrungsgrund überlieferter Glaubensaussagen«, also das, was »Menschen erfahren [haben], dass sie anfangen, von einem, ›ihrem‹ Gott zu sprechen, der sie leitet und begleitet«34 – kurz gesagt: was ihren individuellen Weg kennzeichnet. Andererseits meint Offenbarung die uns zugesprochene Wahrheit, die uns von außen, von Gott – vermittelt durch die Schrift und die Tradition – zugesprochenen wird. Christen glauben an das Fleisch gewordene Wort (vgl. Joh 1, 14; Dei Verbum 13), das uns – mit den Worten der deutschen Mystik ausge32 K. Rahner ; H. Vorgrimmler (Hrsg.): Kleines Konzilskompendium. Sämtliche Texte des Zweiten Vatikanums mit Einführungen und ausführlichem Sachregister. XI. Die dogmatische Konstitution über die göttliche Offenbarung »Dei Verbum«, Freiburg 1966, 361 – 381, 368 f. 33 A.a.O. 374 f. 34 R. Englert: Korrelation(sdidaktik). Bilanz und Perspektiven, Religionspädagogische Beiträge 38 (1996) 3 – 18, 5 f.

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drückt – in Jesus Christus als göttliche Wirklichkeit auswendig auf uns zukommt, um in uns inwendig Wirklichkeit zu werden. Die subjektive Konnotation des christlichen Offenbarungsbegriffs und die Wertschätzung der menschlichen Erfahrung ermöglichen es, auch die menschlichste aller Lebenserfahrung korrelativ mit den Erfahrungen von Glaubenszeugnissen und -zeugen zu verbinden. Allein aus diesen theologischsystematischen Gründen ist es daher für den christlichen Religionsunterricht gleich welcher Konfession erforderlich, von den Schülererfahrungen auszugehen. Weil die menschliche Erfahrung zum christlichen Offenbarungsbegriff unweigerlich dazugehört, kann die Erfahrung auch selbst diese Stelle einnehmen und avanciert dann zu »eigene[n] Sinn-Entdeckungen, ja, wenn der Begriff hier erlaubt ist: eigene[n] Offenbarungen«.35 An ein solches Offenbarungsverständnis können religionspädagogische konstruktivistische Ansätze, die das Erarbeiten von Inhalten als selbst gesteuerte, individuelle Lernprozesse ansehen, unmittelbar anknüpfen, weil es nicht um die Aneignung von tradierten Glaubenswahrheiten, sondern um die Entdeckung der eigenen Wahrheit geht. Für die Religionspädagogik bedeutet diese – durchaus auch dem christlichen Offenbarungsverständnis gemäße – subjektive Seite des Weges, einen Religionsunterricht zu konzipieren, der individuelle Lernprozesse initiiert, den Schüler, bzw. die Schülerin als Subjekt in die Mitte des Religionsunterrichts stellt, der die Äußerungsformen seiner subjektiven Religiosität ernst nimmt, der die Prozesshaftigkeit von Lernbemühungen fördert, an den individuellen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler als ihren eigenen Wahrheiten korrelativ anknüpft, die Mehrdeutigkeit von Schülerperspektiven anerkennt und Lernumgebungen bereitstellt, in denen die Schülerinnen und Schüler ihre eigenen Erkenntnisse »selbstständig konstruieren«36 können. Wie wir bereits festgestellt haben, findet eine solche, beim Subjekt ansetzende Religionspädagogik stärker in der evangelischen Religionspädagogik ihren Widerhall. Denn mit Luthers sola-gratia- Prinzip setzt das evangelische Offenbarungsverständnis einen betonten Akzent auf die unbedingte Unverfügbarkeit des Glaubens. Mehr noch als die katholische Theologie weiß »die evangelische Theologie um die Nicht-Lehrbarkeit von Religion. Friedrich Schleiermacher hat deshalb zeitweilig sogar den schulischen Religionsunterricht abgelehnt…«.37 So betont auch die konstruktivistische evangelische Theologie, dass man das, »›was man Gott nannte‹ und nennt, eben nicht mit gedanklichen Konstruktionen

35 R. Englert (1996) 5 f. 36 V.-J. Dieterich: Die Welt um, in und über uns. Konturen einer am Konstruktivismus orientierten Religionspädagogik, in: G. Büttner ; F.-H. Beyer (Hrsg.): Lernwege im Religionsunterricht. Konstruktivistische Perspektiven, Stuttgart 2006, 116 – 131, 129. 37 V.-J. Dieterich (2006) 128.

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erreichen kann, seien sie auch noch so raffiniert«.38 Und – etwa im Unterschied zur katholischen Sakramentenlehre – spricht sie ebenso den weltlichen Gegebenheiten jeglichen Verweischarakter auf eine Transzendenz ab. Daher ist sie genötigt, neben der Realität (= Erlebniswelt) und der (konstruierten) Wirklichkeit eine dritte Ebene einzuführen, nämlich – in Bezugnahme auf die Theologie Karl Barths – das »Widerfahrnis«. Weil die konstruktivistische Religionspädagogik davon ausgeht, dass die Welt des religiösen Erlebens und Erkennens weder erfahrbar noch erkennbar ist, müsse es die supranaturale »Welt des Ereignisses [geben](…), da das Ereignis etwas ist, was der Mensch niemals herstellen, was ihm vielmehr nur widerfahren kann«.39 Daher »weiß die Religionspädagogik – wie alle reformatorische Theologie – um die Unverfügbarkeit des Glaubens und speziell auch um die Nicht-Lehrbarkeit von Religion. (…) Der Religionsunterricht kann nur eine Grundlage (im Sinne von Kenntnis) geben. Die Erkenntnis müssen die Schülerinnen und Schüler selbständig konstruieren. (…) Das Ereignis selbst aber (…) muss den Schülerinnen und Schülern (…) – unverfügbar – widerfahren«.40 Einer am Konstruktivismus orientierten Religionspädagogik41 entspricht auch die Kompetenzorientierung der aktuellen Bildungspläne. Hier werden der Lernweg, die Output-Orientierung, die methodische Vielfalt, das individuelle Lernen, kurz: der Lernende und seine kognitiven, entwicklungspsychologischen und sozialen Voraussetzungen zum Ausgangspunkt des Unterrichts genommen.42 Diese Vorentscheidung hat auch für den Status des Schülers unmittelbare Konsequenzen. Im Unterschied zur EKD erwarten jedoch die katholischen Bischöfe (DBK) die »Verwurzelung und Beheimatung« der Schülerinnen und Schüler »im konkreten Glauben einer erfahrbaren und anschaulichen religiösen Lebenswelt«43 durch den katholischen Religionsunterricht. Ebenso setzen die Lehr- bzw. Bildungspläne des jüdischen und islamischen Religionsunterrichts dies übrigens voraus.44 Den katholischen Bischöfen ist es ein Anliegen, die Schülerinnen und Schüler im Religionsunterricht religiös sprachfähig zu machen – und dies nicht nur, um für die Glaubensgemeinschaft Partizipations38 39 40 41 42

V.-J. Dieterich (2006) 123. V.-J. Dieterich (2006) 123. V.-J. Dieterich (2006) 128 f. Vgl. V.-J. Dieterich (2006). Vgl. M. Schambeck: Was bedeutet ’religiös kompetent’ zu sein?, Katechetische Blätter 136 (2011) 132 – 140, 133. 43 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz: Die bildende Kraft des Religionsunterrichts. Zur Konfessionalität des katholischen Religionsunterrichts, Bonn 1996, 76. 44 Vgl. B. Schröder : Gespräch zwischen Christen, Juden und Muslimen – religionspädagogische Motive und Perspektiven, in: ders.; H.H. Behr ; D. Krochmalnik (Hrsg.): Was ist ein guter Religionslehrer? Antworten von Juden, Christen und Muslimen, Berlin 2009, 27 – 56, 34.

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kompetenzen zu erlangen, sondern »der Religionsunterricht führt und fördert das Gespräch und die Verständigung über die Grenzen der eigenen Konfessionszugehörigkeit hinaus«.45 Daher ist es nicht verwunderlich, dass die katholischen Bischöfe – im Unterschied zur EKD – in die Lerngemeinschaft ihres konfessionellen Religionsunterrichts anders- oder nichtkonfessionelle Schülerinnen und Schüler nur als Gast in den Religionsunterricht aufnehmen wollen, und auch nur dann, wenn der Charakter des katholischen Religionsunterrichts nicht beeinträchtigt wird.46 Ähnlich unterschiedlich verhält es sich daher mit dem Verständnis von Konfession. Auch hier gewichten die evangelischen und katholischen Verantwortlichen die Bedeutung der Bekenntnisorientierung des Religionsunterrichts als eines konfessionellen Religionsunterrichts recht unterschiedlich. Der programmatischen Denkschrift der EKD »Identität und Verständigung« (1994)47 zufolge ist die Konfessionalität des evangelischen Religionsunterrichts allein schon dadurch gewährleistet, dass die Lehrkraft des evangelischen Religionsunterrichts der evangelischen Konfession angehört. Hingegen definiert die DBK die Konfessionalität des katholischen Religionsunterrichts durch die Trias der katholischen Schüler, des katholischen Lehrers und der katholischen Inhalte. In ihrer »Gemeinsamen Erklärung zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht« (1998) formulieren die Deutsche Bischofskonferenz und die Evangelische Kirche Deutschlands daher recht unterschiedlich, dass »Evangelischer Religionsunterricht die Zugehörigkeit der Schülerinnen und Schüler zur evangelischen Kirche nicht zur Teilnahmebedingung« macht, aber dass »für den Katholischen Religionsunterricht gilt, dass über die Konfessionszugehörigkeit der Lehrenden und die Bindung der Inhalte des Religionsunterrichts an die Grundsätze der Kirche hinaus auch die Schülerinnen und Schüler der katholischen Kirche angehören«.48 Allein schon in diesem Unterschied zwischen evangelischem und katholischem Religionsunterricht liegt Christoph Scheilke zufolge »neben allem kirchenpolitischen und theologischen […] vor allem auch pädagogischer Zündstoff«.49

45 Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz: Der Religionsunterricht vor neuen Herausforderungen, Bonn, 16. Februar 2005, 29. 46 Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz; Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland: Zur Kooperation von Evangelischem und Katholischem Religionsunterricht. Gemeinsame Erklärung, Bonn / Hannover 1998, 2. 47 Identität und Verständigung. Standort und Perspektiven des Religionsunterrichts in der Pluralität. Eine Denkschrift der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), Gütersloh 1994. 48 Vgl. DBK und EKD (1998) 2. 49 Chr. Scheilke: Ansätze für einen konfessionell-kooperativen Religionsunterricht. Eine pädagogische Zwischenbilanz, in: R. Frieling; ders. (Hrsg.): Religionsunterricht und Konfessionen, 2. Auflage, Göttingen 1999, 7 – 22, 7.

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Herausforderungen und Chancen eines bekenntnisorientierten Religionsunterrichts heute Konnte der evangelische Religionspädagoge Christoph Scheilke den Zündstoff noch zwischen dem katholischen und evangelischen konfessionellen Religionsunterricht verorten, so ist er heute quer durch die religionspädagogischen Ansätze der Konfessionen gestreut. Denn die gemeinsame Herausforderung des katholischen wie evangelischen Religionsunterrichts liegt derzeit – wie wir trotz der unterschiedlichen konfessionellen Gewichtungen der abduktiven Korrelation, der Kindertheologie und der performativen Didaktik sahen – im grundsätzlichen Klärungsbedarf des dem christlichen Religionsunterricht zugrunde liegenden Religionsbegriffs. Dass ein kategorialer, das heißt an einem bestimmten Bekenntnis orientierter Religionsbegriff für die heutigen Schülerinnen und Schüler kaum von Bedeutung ist, belegen auch gegenwärtige Jugendstudien. So zeigt die aktuelle ShellJugendstudie bei zwölf – bis 25jährigen Jugendlichen auf, dass sich das geringe Interesse an traditioneller Religiosität bei katholischen Jugendlichen der mangelnden Bedeutung, die sie bei evangelischen Jugendlichen besitzt, inzwischen fast angenähert hat. Deutlich über der Hälfte der katholischen und über sechzig Prozent der evangelischen Jugendlichen vertreten die Auffassung, dass der Glaube an Gott wenig bzw. gar nicht bedeutsam für sie ist.50 Diese Feststellung erweist sich als umso dramatischer, wenn man sie mit der Haltung zum Gottesglauben von Jugendlichen vergleicht, die nicht den beiden größten einheimischen Kirchen angehören. Im Unterschied zu diesen geben über 51 Prozent dieser Jugendlichen mit Migrationshintergrund und zumeist islamischen Glaubens den höchsten Skalenwert an und bewerten die Wichtigkeit des Glaubens an Gott mit außerordentlich wichtig.51 Angesichts dieser Situation von christlichen Jugendlichen scheint die Vorstellung einer Beheimatung der Schülerinnen und Schüler im konkreten Glauben einer erfahrbaren Gemeinschaft52 durch den Religionsunterricht obsolet geworden zu sein. Es wird bisweilen geäußert, sich im Sinne einer konstruktivistischen Didaktik im katholischen wie im evangelischen Religionsunterricht von einem bekenntnisorientierten kategorialen Religionsbegriff zu verabschieden und statt dessen den Schülerinnen und Schülern Möglichkeiten zu eröffnen, individuell und ohne instruktive Vorgaben des traditionellen Christentums allgemein religiöse 50 Vgl. Th. Gensicke: Wertorientierungen, Befinden und Problembewältigung, in: M. Albert (Hrsg.): Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich, Frankfurt am Main 2010, 187 – 242, 204 f. 51 Vgl. Th. Gensicke (2010) 205. 52 Vgl. DBK (1996) 76.

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Kompetenzen zu erwerben, die ihnen – etwa zur Kontingenzbewältigung – von Lebensrelevanz sein könnten. Begründet man den Religionsunterricht jedoch mit der Lebensrelevanz, die er für Schülerinnen und Schüler haben soll, so ist es in unserer zunehmend pluralistischen Gesellschaft den Ergebnissen der letzten Shell-Studien zufolge zwingend geboten, dass religiöse Kompetenzen auch interreligiöse Dialogfähigkeiten umfassen müssen. Ohne eine religiöse Sprachkompetenz, die – vergleichbar mit der Muttersprache – nicht allgemein, sondern nur konkret am Zeichenrepertoire einer konkreten religiösen Sprachfamilie erworben werden kann, bleiben die religiöse und die interreligiöse Dialogkompetenz auf der Strecke. »Damit dies gelingen kann, muss eine Ich-Perspektive wenigstens in Ansätzen vorausgesetzt werden können. Die Schüler müssen sich also mit einer Religion mehr oder weniger verbunden fühlen oder doch zumindest etwas über ihre eigene Religion aussagen können. Daher kann es als eine Basisaufgabe auch und gerade des interreligiös ausgerichteten Religionsunterrichts bezeichnet werden, eine Ich-Perspektive zu entwickeln«.53 Religiöses Lernen in diesem Sinne einer Identitätsstärkung gelingt jedoch nicht allein über Erfahrungen, die durch ein Mitmachen und Nachahmen generiert werden, sondern bedarf für eine kommunikationsfähige Sprachkompetenz notwendigerweise auch der rationalen theologischen Durchdringung der christlichen Botschaft. Die Theologie des Religionsunterrichts darf nicht nur auf eine religiöse Rede von Gott beschränkt sein, sondern muss sich als vernunftgeleitete Erkenntnisbemühung um Gott und Glaubenswissenschaft der rationalen Verantwortung stellen.54 Der Religionsunterricht sollte folglich nicht bei der Förderung einer natürlichen Religion stehen bleiben, sondern ist gehalten, Schülerinnen und Schüler mit den Inhalten des Christentums zu konfrontieren, und sie zur rationalen wie persönlichen Auseinandersetzung mit dem extra nos der Offenbarung Gottes in Jesus Christus zu motivieren. Daher wird ein wesentliches Erfordernis für die christliche Religionspädagogik der Zukunft eine verstärkte Rückbesinnung auf die Bezugswissenschaft der systematischen Theologie darstellen. Denn »der Rekurs auf die Offenbarung erscheint gegenwärtig umso dringlicher, als aktuelle Untersuchungen eine Auflösung biblisch-christlicher Vorstellungen und ein Schwinden des christlichen Gottesbegriffes konstatieren«.55 Darauf, dass »man sich manche Untiefen der religionsdidaktischen Diskussion [hätte] ersparen können, wenn die Systematische Theologie als Bezugswissenschaft der Religionspädagogik nicht im Laufe der Zeit mehr und mehr aus dem Blick geraten 53 M. Tautz: Interreligiöses Lernen im Religionsunterricht. Menschen und Ethos in Islam und Christentum, Stuttgart 2007, 74. 54 Vgl. U. Kropac: »Kindertheologie«: eine neue Formel auf dem Prüfstand, Katechetische Blätter 131 (2006) Heft 2, 86 – 92, 87. 55 S. Pemsel-Maier (2011) 64.

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wäre«,56 hatte der katholische Religionspädagoge Rudolf Englert bereits vor zehn Jahren hingewiesen. Welche Konzeption bietet nun den zukunftsfähigen Religionsunterricht für die Entwicklung einer solchen reflexiven und dialogfähigen Ich-Perspektive, für die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler und für ihre religiöse Bildung in einer und für eine religiös zunehmend pluralistische(n) Gesellschaft? Bereits von der 13. Shell-Jugendstudie aus dem Jahr 2000 wurde festgestellt, dass bei denjenigen Jugendlichen zwischen 12 und 25 Jahren, die einer sehr gebildeten und qualifizierten Minderheit entstammten, das Interesse am Gottesglauben und die Wissbegier bezüglich des Christentums erheblich ausgeprägter war als bei allen anderen.57 Diese Erkenntnis, dass besser gebildete Jugendliche auch religiös stärker sensibilisiert und interessiert sind, macht unmissverständlich deutlich, dass sich sowohl religiöse Sprachfähigkeit als auch interreligiöse Dialogfähigkeit der zukünftigen Generation maßgeblich daran entscheiden wird, ob es gelingt, vor allem im Religionsunterricht durch Bildung sowohl Kompetenzen religiösen Fachwissens als auch personaler religiöser Identitätsvergewisserung anzubahnen. Denn nur dort, wo Schülerinnen und Schüler schon über eine gewisse Artikulationsfähigkeit in einem religiösen Bekenntnis verfügen, werden sie der zukünftig noch wachsenden gesellschaftlichen Herausforderung begegnen können, auch interreligiös kommunikationsfähig zu sein und Fremdheit respektvoll zur Kenntnis zu nehmen.58 Im konfessionellen Religionsunterricht muss jedoch zur Einübung einer solchen literacy im Sinne einer »umfassenden und begründeten Fähigkeit zu religiöser Kommunikation«59 dem Umstand Rechnung getragen werden, dass eine gemeinsame religiöse Sozialisation bei den Schülerinnen und Schülern nicht mehr vorausgesetzt werden kann, und somit die Lehrkräfte faktisch im Kontext einer religiösen Pluralität Religionsunterricht erteilen. Dennoch braucht eine religiöse Bildung, die – auch aus Sicht der Schülerinnen und Schüler – vor allem objektivierbare Wissensvermittlung über alle Religionen leisten soll,60 die soziologischen und demographischen Entwicklungen nicht als mögliche Gefahren für den konfessionellen Religionsunterricht anzusehen, sondern kann diese als Chance begreifen, (religions-)pädagogische Konzepte zu 56 R. Englert: Auffälligkeiten und Tendenzen in der religionsdidaktischen Entwicklung, Jahrbuch der Religionspädagogik 18 (2002) 233 – 248, 239. 57 Vgl. J. Röser : Jugend ohne Gott – Ende der Kirche?, Christ in der Gegenwart 62 (2010) Heft 42, 475 – 476, 476. 58 Vgl. St. Leimgruber : Interreligiöses Lernen, München 2007, 15. 59 H.-G. Ziebertz: Religion und Religionsunterricht in postsäkularer Gesellschaft, in: ders.; G.R. Schmidt (Hrsg.): Religion in der Allgemeinen Pädagogik. Von der Religion als Grundlegung bis zu ihrer Bestreitung, Freiburg i.Br. / Gütersloh 2006, 9 – 37, 36. 60 Vgl. H.-G. Ziebertz (2006) 27.

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entwickeln, selbst religiös weniger interessierten Schülerinnen und Schülern Räume für religiöse bzw. weltanschauliche Selbstvergewisserungsprozesse zu bieten. Eine themenorientiert sachlich und didaktisch angebahnte Begegnung zwischen gleichaltrigen Jugendlichen unterschiedlicher religiöser oder weltanschaulicher Überzeugungen könnte, so lautet hier die These, Entwicklungen bei Schülerinnen und Schülern anstoßen, die eigene Weltsicht differenzierter wahrzunehmen, gegebenenfalls zu hinterfragen und sich existenziell mit der Gottesfrage auseinanderzusetzen. Durch ein didaktisch initiiertes personales Begegnungslernen zwischen gleichaltrigen Schülerinnen und Schülern kann die Verbindlichkeit der Glaubenstraditionen zu einer existenziellen Herausforderung werden. Ein solches Konzept des konfessionellen Religionsunterrichts, der sowohl die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler, als auch die theologischen Inhalte wie zwei Brennpunkte einer Ellipse fokussiert, der Schülerinnen und Schüler sowohl soziale, methodische, personale, als auch religiöse und fachliche Kompetenzen einüben lässt, der Schülerinnen und Schüler dazu motiviert, sich differenziert die Sprache, literacy, eines religiösen Bekenntisses anzueignen und der dem Prozess ihrer individuellen religiösen Identitätsbildung ebenso Raum gibt, wie den Wissensinhalten einer Glaubensgemeinschaft, könnte das Konzept der kooperierenden Fächergruppe sein, das die EKD schon 1994 in ihrer Denkschrift zum Religionsunterricht »Identität und Verständigung« vorschlug und das im Jahr 2000 die Evangelische Landeskirche in Berlin-Brandenburg mit der Erzdiözese Berlin in die Diskussion einbrachte. Die Kooperierende Fächergruppe geht theologisch wie religionspädagogisch begründet davon aus, dass der Religionsunterricht bekenntnisgebunden erteilt wird und gerade dadurch interreligiöses Lernen ermöglicht wird. Weil sie auf dem Hintergrund des fächerverbindenden Lernens zwischen den Fächern der religiösen und ethischen Bildung realisiert wird,61 verwirklicht sie durch das interreligiöse Begegnungslernen zwischen Schülerinnen und Schülern unterschiedlicher Bekenntnisse eine hohe Schülerorientierung und bereitet durch die Ermöglichung authentischer Begegnungen den »›Königsweg‹ für interreligiöses Lernen«.62 Das vierphasige Konzept der Kooperierenden Fächergruppe sieht vor, dass in den getrennten Fächern des konfessionellen Religionsunterrichts, aber auch seiner philosophisch-ethischen Alternativfächer, einmal im Halbjahr zum selben Thema parallel unterrichtet wird. Am Ende der Unterrichtseinheit kommen alle Schülerinnen und Schüler des evangelischen, katholischen, möglicherweise 61 Vgl. W. Simon: Lernen in Zusammenhängen. Ansätze fächerübergreifenden und fächerverbindenden Lernens in Lehrplänen für den katholischen Religionsunterricht in der Sekundarstufe I, Religionsunterricht an höheren Schulen 44 (2001) Heft 3, 141 – 148, 146. 62 St. Leimgruber (2007) 21.

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islamischen und jüdischen Religionsunterrichts und des Ethik- bzw. Philosophieunterrichts in einem Forum zusammen und präsentieren sich gegenseitig das im getrennten Unterricht erarbeitete Thema aus der Perspektive ihres Fachs. In einer folgenden Austauschphase sind in kleinen, gemischten Gruppen die Klärung von Fragen, die Vertiefung von Inhalten und die Auseinandersetzung mit Positionen vorgesehen. Die Reflexionsphase als letzte der vier Phasen findet wieder in der ursprünglichen eigenen Lerngruppe statt und evaluiert den Zugewinn an Erkenntnissen durch den Dialog mit gleichaltrigen Schülerinnen und Schülern der anderen Fächer.63 Das Konzept der Kooperierenden Fächergruppe wurde von den Kirchen in Berlin mit didaktischen Entwürfen versehen, im Schulgesetz MecklenburgVorpommerns verankert,64 in einem Schulprojekt an einer Freiburger Gesamtschule im Schuljahr 2002/03 experimentell durchgeführt, von evangelischen wie islamischen Religionspädagogen für Nordrhein-Westfalen vorgeschlagen (www.interreligiones.de) und im Sommersemester 2011 als zukünftiges Konzept interreligiösen Lernens in der Ethik- und Religionslehrerausbildung als Kooperationsprojekt zwischen der PH Heidelberg, der PH Karlsruhe, der PH Freiburg und der Hochschule für Jüdische Studien, Heidelberg, durchgeführt und evaluiert, was zum Gegenstand einer weiteren wissenschaftlichen Veröffentlichung werden wird.

63 Vgl. K. Boehme: Die Kooperative Fächergruppe, Katechetische Blätter 127 (2002) Heft 5, 375 – 387. 64 Vgl. H. Hastedt; S. Ausborn-Brinker ; M. Föhlich (Hrsg.): Philosophie und Religion. Zukunft einer Fächergruppe (Rostocker philosophische Manuskripte, N.F., 5), Rostock 1998.

Frank van der Velden

Erzählen schafft Gemeinsamkeit – Argumentieren schafft Klarheit. Hermeneutische Vorüberlegungen für eine narrative Korandidaktik im Unterricht zwischen Christen und Muslimen

Einleitung

˘

Christliche Bibeldidaktik lebt nicht von der Einzelversauslegung sondern von der Glaubenserzählung, also von der narrativen Kraft der Heiligen Schrift. Dies allein schon deswegen, weil die meisten Bücher der Tora und des Neuen Testaments als durchgängige Erzählungen geschrieben sind. Erzählen ist immer noch die eingängigste und erfolgreichste Art der Vermittlung und Übereignung eines Textes. Diese gerade für die Schulpädagogik wichtige Perspektive gilt natürlich auch für die islamische Pädagogik. Allerdings besitzt der Koran nicht im gleichen Umfang narrative Texte wie die Bibel. Natürlich ist Geschichte des Yu¯suf / Josef (Sure 12) zu nennen, die als eine durchgängige Erzählung geschrieben ist, ja sie wird sogar als »beste aller Geschichten« (nahnu naqussu alayka ’ahsana l˙ ˙˙ ˙ qasasi vgl. 12:3) angekündigt. Die Geschichte des Mu¯sa¯ / Moses wird in Sure ˙ ˙ 20:1 – 97 und Sure 28:1 – 38 durchlaufend narrativ erzählt. Weiter bietet der Koran zu ¯Isa¯ Ibn Maryam / Jesus zwei Texte, die durchaus narrativen Wert haben, und manchmal in der westlichen Forschung als ›mekkanisches Kindheitsevangelium‹ (Sure 19:1 – 33) und als ›medinisches Evangelium‹ (Sure 3:33 – 59) bezeichnet werden. Etliche Narrationen, die sich auf ältere christliche Legenden beziehen, wie z. B. auf die Siebenschläfer-Legende (vgl. Sure 18:9 – 26)1 oder auf den syrischen Alexander-Roman (vgl. Sure 18:83 – 102)2, runden das Bild ab. Diese Liste ließe sich sicherlich noch um einige Beispiele ergänzen, bleibt aber insgesamt beschränkt. Die weitere Geschichte dieser und vieler anderer Propheten – zum Beispiel Adam, Sa¯leh, Ibra¯hı¯m, Dawu¯d – liegt dagegen zumeist als Versatzstücke in ˙ ˙ verschiedenen Suren vor, wo diese Stücke jeweils einzelne religiöse Weisungen ˘

1 Vgl. S. Griffith: Christian Lore and the Arabic Qur’a¯n, in: G.S. Reynolds (Hrsg.): The Qur’a¯n in Its Historical Context, London 2008, 109 – 138. 2 Vgl. K. van Bladel: The Alexander Legend in the Qur’a¯n 18:8 – 102, in: G.S. Reynolds (Hrsg.): The Qur’a¯n in Its Historical Context, London 2008, 175 – 203.

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oder bestimmte Aspekte des vorliegenden biblischen Texts kommentieren, bzw. den Glauben oder ein bestimmtes Verhalten der islamischen Propheten darstellen. Narrativ ist der Koran dabei meist in kurzen Episoden oder einzelnen Motiven, wie z. B. bei der kurzen Erzählung vom ›Lachen Saras‹ (Sure 11:69 – 73)3, die unvermittelt einsetzt und genauso abbricht. Die weitere Geschichte Saras im Koran muss man sich dann aus diversen anderen Suren zusammenlesen, und auch dann ergibt sich kein komplettes Bild. Seit der frühesten Zeit war es für die islamische Pädagogik ein Problem, diesen narrativen Gesamtzusammenhang über die jüdischen und christlichen Heiligen Schriften und Schriftkommentare erfahren zu müssen. Zeitgleich zur Redaktion des Kanons scheinen daher die islamischen Prophetengeschichten (Qisas el-anbiya¯’)4 in arabischer ˙ ˙ Sprache abgefasst worden zu sein, die bis heute in der islamischen Pädagogik die beschriebene narrative Lücke teilweise füllen. Parallel dazu entwickelte sich die Funktion des Qass (Erzähler), der in der Moschee neben den Qa¯ri’ (Rezitator) ˙˙ trat und die Lesung nachträglich durch Erzählungen anreicherte.5 Offensichtlich handelte es sich dabei nicht nur um erbauliche Prophetengeschichten, sondern auch um kommentierende Erzählungen zu den Rechtsvorschriften, so dass die Grenze zwischen Katechese und Exegese verschwamm.6 Der Qass wurde recht ˙˙ bald aus den Moscheen verbannt. Damit blieben auch viele Geschichten zum Aufbau einer narrativen Identität in den Texten und frühen Auslegungen des Korans für lange Zeit unerzählt, die mir jedoch insbesondere für den Entwurf einer modernen Korandidaktik in der Kollegstufe bedeutend erscheinen, wenn Islamischer Religionsunterricht zukünftig in Nachbarschaft zum Katholischen und Evangelischen Religionsunterricht an unseren Schulen unterrichtet wird. Ich gehe davon aus, dass dabei den großen narrativen Texten von Sure 19 – und Sure 3:33 – 64 – eine besondere Bedeutung zukommen muss. Immerhin lernen muslimische und christliche Kinder in unseren Schulen zukünftig parallel, aber in getrennten Lerngruppen die christliche und die islamische Sicht auf Jesus – und auf das Christentum und den Islam als Religionen, in denen Jesus eine wichtige Rolle spielt – kennen. Dabei kann es nicht nur um eine kognitive Vermittlung von Glaubensansichten und Quellentexten über Jesus und seinen Bezug zu beiden Religionen gehen, 3 Vgl. G.S. Reynolds: Reading the Qur’a¯n as Homily : the Case of Sarah’s Laughter, in: A. Neuwirth; N. Sinai (Hrsg.): The Qur’a¯n in Context. Historical and Literary Investigations into the Qur’a¯nic Milieu, Leiden 2010, 585 – 592. 4 Vgl. G. Weil: Biblische Legenden der Muselmänner. Aus arabischen Quellen zusammengetragen und mit jüdischen Sagen verglichen, Frankfurt a.M. 1845. 5 Vgl. N. Akin: Maria und Jesus in den frühislamischen Geschichtsüberlieferungen, Jounieh/Lb 2002, 10 – 14. 6 Wir wissen wenig über die Methode der qussa¯s im 7. Jh. AD, allerdings kennen die zeitgleiche ˙˙ ˙ die kommentierende Erzählung der Heiligen jüdische und syrisch-christliche Kultur ebenfalls Schriften durch Midrasche.

Erzählen schafft Gemeinsamkeit – Argumentieren schafft Klarheit

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sondern die Schülerinnen und Schüler sollen auf beiden Seiten Kompetenzen erwerben, um sich empathisch und respektvoll gegenseitig mitzuteilen, was ihnen an diesem Thema und an der Person Jesu wichtig ist. Dazu ist das gegenseitige Erzählen auch der Heiligen Texte wichtig.

Erzählen und Erzähler in der frühen islamischen Zeit Das Erzählen gehörte natürlich auch in der Frühzeit der islamischen Glaubensvermittlung zu den erfolgreichsten Lernstrategien. Ibn al-Jawzı¯ berichtet aus dem Irak im Jahr 151H, dass sich die Qussa¯s – also die Erzähler religiöser ˙˙ ˙ Bildung – dort »derart vermehrten, dass … in der Moschee von Basra nur eine einzige Gruppe sich um den Lehrer der Geisteswissenschaft sammelte, während sich zahllose Zuhörergruppen bei den ›Erzählern‹ zusammenfanden, welche die Moscheen erfüllten.«7 Die großen Moscheen kommen hier nicht nur als Versammlungsorte der Gläubigen, sondern als Bildungsinstitute in den Blick, zum Beispiel für die Vermittlung der arabischen Sprache, welche in der Verwaltung und Kommunikation der Provinzen zunehmend das Syrische und Griechische ersetzte. Es ist durchaus möglich, dass dieses Bildungsangebot auch von NichtMuslimen genutzt wurde, welche durch diese Erzähler wohl in Erstkontakt mit dem Islam als Religion kamen. Erzählen gehörte also im Islam – wie im Judentum und Christentum – von der ersten Stunde an zur Glaubensvermittlung, auch gegenüber anders Glaubenden.

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Eine kritische Sicht auf das Erzählen der Heiligen Schriften Dabei war die Art des Erzählens häufig umstritten. Die traditionellen Schriften berichten öfter vom Missbrauch als vom guten Gebrauch dieser Methode. Die Erzählungen unseriöser Qussa¯s sollen häufig mit falschen Hadithen oder billiger ˙˙ ˙ Volksbelustigung angereichert und begründet worden sein.8 Einer der ersten Kritiker der Erzählung (Qasa¯s) war Muhammad Ibn Sı¯rı¯n aus Basra (gest. 110H). ˙ ˙ ˙ Basra entwickelte sich in dieser Zeit zu einem Zentrum der Koranexegese. Hasan ˙ al-Basrı¯ selber, den al-Ja¯hiz als führenden Qass in Basra bezeichnet,9 wird von ˙ ˙˙ seinem Zeitgenossen Muhammad Ibn Sı¯rı¯n eben darum scharf angegangen. ˙ Diesem geht es nicht um den Nachweis einzelner Missbräuche. Vielmehr sei jede Form von Qasa¯s als unerlaubte Neuerung (bid a) zu sehen. Es sei nicht korrekt, ˙ ˙ dass die Praxis und Erlaubtheit des Qasa¯s auf den Propheten selber zurückgehe. ˙ ˙ 7 I. Goldziher : Muhammedanische Studien, Neuausgabe des 1. und 2. Bandes, Hildesheim 2004, 164. 8 Vgl. zum folgenden: M.L. Swartz: Ibn al-Jawzı¯’s Kita¯b al-Qussa¯s wa’l-Mudhakkirı¯n, Beirut ˙˙ ˙ 1971, 56 – 59. 9 Kita¯b al-Baya¯n, I, 367.

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Die ganze Sache gehöre als solche verboten. Dahinter stehen offensichtlich innerislamische Streitigkeiten im 1. Jh. H. Qasa¯s spielte eine gewisse Rolle in der ˙ ˙ Predigt der Kharigiten, welche über dieses Mittel ihre Ideen mit Erfolg bewarben, meint jedenfalls Muhammad Ibn Sı¯rı¯n. Andere Kritiker, wie der spätere Abu¯ ˙ Ta¯lib al-Makki, führen die Tradition des Qasa¯s auf die Auseinandersetzungen ˙ ˙ ˙ zwischen Muawiyya und Ali – den ersten arabischen Bürgerkrieg (fitna) – zurück. Für diese Kritiker gibt es keinen guten Qass. Allerdings wurden diese ˙˙ klassischen Kritiken eben von akademischen Theologen, und nicht von den Erzählern selber verfasst, und neben tatsächlichem Missbrauch dürfte auch ein gehöriger Futterneid dabei eine Rolle gespielt haben. Aber immerhin: »Im Jahre 279 [H] wurde in den Straßen Bagdad’s ausgerufen, dass weder auf den Straßen noch in der Moschee ein ›Erzähler‹ oder Astrolog oder Wahrsager auftreten dürfe, und bald darauf, im Jahre 284 [H], wird eine ähnliche Verlautbarung erlassen.«10 Die tatsächliche Situation dürfte aber nicht ganz so katastrophal gewesen sein, wie es Ignaz Goldziher darstellt. Noch im 13. Jh. AD verfasst Ibn al-Jawzı¯ eine Ehrenrettung der Erzähler (siehe unten), in der er zwar manchen Missstand kritisiert, aber gleichzeitig auf die wichtige Rolle hinweist, welche die Qussa¯s ˙˙ ˙ gerade für die frühe Traditionsweitergabe spielten – und zwar ausgehend von der Generation des Propheten und legitimiert durch Muhammad selber. Wir würden heute von der wichtigen Bedeutung sprechen, welche der Aufbau einer narrativen Identität für eine entstehende Glaubensgemeinschaft besitzt. Die Erzähler waren nämlich nicht nur Leute, welche »in den Straßen und Moscheen das Volk um sich versammelten und theils unterhaltende, theils erbauliche Traditionssätze zum besten gaben«11. »Allgemein wird angenommen, dass die Qussa¯s die ˙˙ ˙ professionellen Ausleger der religiösen Stoffe waren, deren Existenz seit dem 12 ersten Jahrhundert belegt ist.« Gemeint sind hier die als Isra’ı¯liya¯t bekannten Stoffe aus der Tora und dem Neuen Testament, welche zum Verständnis der Aussagen des Korans notwendig waren, und welche ab dem 2. Jh. H in einer festen Sammlung der islamischen Prophetenlegenden vorlagen. Diese sind bis heute Gegenstand der islamischen Unterweisung, auch in der Schule. In diesem Sinne traten etliche Qussa¯s im 1. und 2. Jh. H auch als Koranerklärer in den ˙˙ ˙ Moscheen auf und waren dabei hochgeschätzt. Goldziher nennt als Beispiel eines solchen schriftgelehrten Qass aus dem Irak Mu¯sa¯ al-Uswa¯rı¯: »Jener hält Vorle˙˙ sungen über den Koran gleichzeitig in arabischer und persischer Sprache, ihm zur Rechten sitzen die Araber, zur Linken die Perser ; mit gleicher Beredheit

10 I. Goldziher (2004) 164. 11 I. Goldziher (2004) 161. 12 N. Akin (2002) 11.

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handhabt er beide Sprachen«13. Das erzählende Material dürften die entstehenden Prophetenlegenden gewesen sein, sowie natürlich die Aussprüche und Korandeutungen Muhammads. »Sofern nun die Kussas, ob nun als homiletische Exegeten oder als Erzähler heiliger Geschichten ernsten religiösen Zwecken dienten, liess man sie unbehelligt und hinderte ihre fromme Thätigkeit nicht.«14

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Rezitation und Erzählung: Zwei konkurrierende Formen der Erinnerung? Um das theologische Problem hinter diesem Konflikt richtig einzuschätzen, muss man seinen historischen Kontext kennen. Koran ist ursprünglich, seinem Wort und seinem Selbstverständnis gemäß orale Tradition, ihr klassischer Verkünder ist der Qa¯ri’, der Rezitator, der sein Wissen im allgemeinen aus dem Mund seines Meisters herleitete, der es wiederum bis auf die Generation der Gefährten des Propheten zurückführte. Wir reden ja noch über die frühen Zeiten, bevor der Text überall in jeder Moschee in Form eines gebundenen Kanons (mushaf) eingesehen werden konnte. Hier ist der Qa¯ri’ der einzige Ga˙˙ rant für die Richtigkeit der Textüberlieferung. Nicht immer ist diese Reinheit der Rezitation eine Freundin der vermittelnden und erklärenden Erzählung desselben Stoffes, welche im Bann der Erzählung zwar die Aussage des Textes und seine existenzielle Bedeutung für die Glaubenden besser und eingängiger darstellen kann, dies aber notfalls auch ohne den Wortlaut des Heiligen Textes selber schafft. Rituelle Rezitation dagegen setzt den Text wirkmächtig in Kraft, sie will ihn nicht erzählen, sondern liturgisch feiern. Hier stand also die orale Tradition des wortwörtlichen Erinnerns und Inkraftsetzens des Textes gegen die orale Tradition des Erzählens, welche, wie wir heute sagen würden, auf Grundlage des Textes Deute- und Handlungskompetenzen vermittelte. Das frühe Herausdrängen der Qussa¯s aus den Moscheen mag auch darin begründet ˙˙ ˙ sein. Ein zweites kommt hinzu: Man mag beachten, dass der Irak zu Ende des 1. Jh. H durch das zweite Redaktionsprojekt des mushaf zum Zentrum der islamischen ˙˙ Koranwissenschaft wurde. Omar Hamdan geht davon aus, dass dies ›masa¯hif ˙ ˙ -Projekt‹ des al-Hag˘g˘a¯g˘ »in dem Zeitraum zwischen 84 – 85«15, also in den letzten ˙ Jahren der Regierung des Abd al-Malik stattgefunden haben muss. Offensichtlich ging es al-Hag˘g˘a¯g˘ auch darum, alternative Lesarten wie die kufische ˙ (Ibn Mas u¯d!) auszuschalten, »indem er offiziell befahl, dass man aus den neuen Exemplaren in den Moscheen der Großstädte lesen sollte … Die Rezitation des Korans vom mushaf in der Moschee war keine alte Tradition unter den Leuten. ˙˙ ˘

13 I. Goldziher (2004) 162. 14 I. Goldziher (2004) 163. 15 Vgl. O. Hamdan: Studien zur Kanonisierung des Korantextes, Wiesbaden 2006, 135 – 174, hier 141.

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Der erste, der es einführte, war al-Hag˘g˘a¯g˘ b. Yu¯suf‹«.16 Durch das ›masa¯hif ˙ ˙ ˙ -Projekt‹ des Abd al-Malik wird die kanonisierte schriftliche Form des mushaf ˙˙ daher leitend und kontrollierend für die Rezitation der vortragenden Qurra’. Dies gibt dem altbekannten Konflikt zwischen Qa¯ri’ und Qass eine veränderte ˙˙ Perspektive. Es steht zunehmend nicht mehr orale Tradition der Rezitation gegen orale Tradition der Erzählung, sondern eine am geschriebenen Text nachprüfbare Rezitation steht gegen die freien Erzählungen seiner Auslegung.17 Auf der Suche nach einer abgesicherten Form des Erzählens Heiliger Schriften Es erscheint folgerichtig, dass nach dem Herausdrängen des freien Narratives der Qussa¯s eine dogmatisch ›abgesicherte‹ Erzählweise dieser Auslegungen ge˙˙ ˙ sucht wurde, die eine nachprüfbare Textsicherheit des Erzählens versprach. Dafür fehlten aber noch einige Voraussetzungen. Der bis dato vorliegende Text des Korans trug noch keine Basmala, keine Verszahlen und vor allem auch keine Zuordnung der Suren in mekkanische oder medinische. Erst im ›masa¯hif ˙ ˙ -Projekt‹ des al-Hag˘g˘a¯g˘ wurde die wichtige relative Chronologie der Texte un˙ tereinander offiziell festgelegt. Damit erst wurde eine einheitliche Zuordnung vieler Texte zu bestimmten Episoden des Lebens Muhammads konsensfähig. Und über das narrative Potential dieser biographischen Episoden – den asba¯b an-nuzu¯l – wurden viele Textteile des Korans erzählbar, die ansonsten wenig anschaulich im Konvolut ihrer Sure verborgen geblieben wären. An diesem Punkt setzte die klassische sunnitische Tradition an und entwickelte dabei selber eine Pädagogik, die den Korantext im erzählerischen Zusammenhang darstellt, nämlich durch die narrative Kraft der Hadithe und der Sı¯ra. Die Rekonstruktion des Lebens Muhammads (sı¯ra), die Rekonstruktion der Anlässe der Offenbarung (asba¯b an-nuzu¯l) und die überlieferte Kommentierung der offenbarten Texte durch den Propheten selber ermöglichten es, einen erzählenden Zusammenhang der einzelnen Surenteile herzustellen. Muslime vertrauen bis heute in der Religionspädagogik häufig auf die narrative Kraft der Hadithe und der Sı¯ra, um einzelne Verse oder Versgruppen des Korans anschaulich zu erklären. Hier geschieht in der islamischen Pädagogik ähnliches, was wir oben an der narrativen Bibelexegese beschrieben haben: Die Erzählung zieht die Leser in ihren Bann und regt sie an, dem schönen Beispiel Muhammads nachzufolgen und wie er die Anweisungen des Korans zu befolgen.18 Damit wird auch der Text des Korans 16 O. Hamdan (2006) 172. 17 Erst ab diesem Zeitpunkt wird also der mushaf prägend für den Koran, der Koran wird somit ˙ ˙ christlichen Rezensenten einen Blick auf den Literatur – ein käufliches Buch, das auch Gesamttext ermöglicht, welcher als Endprodukt der beschriebenen längeren Entwicklung entstanden war. Dieser Prozess ist für das Selbstverständnis einer entstehenden Religion von entscheidender Bedeutung. 18 Im islamischen Religionsunterricht wird Muhammad als Identifikationsfigur angeboten, wie

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verinnerlicht und existenziell angeeignet. Zu großen Teilen hängt die narrative Kraft koranischer Texte so an den Geschichten seiner Auslegung und Befolgung durch Muhammad – im Textbestand also an den Hadithen und der Sı¯ra. Man könnte sagen, dass in diesem Sinne der Koran – der nur in wenigen Versen Muhammad explizit behandelt – in seiner Gänze (implizit) von den Berichten über Muhammad und durch seine Koranrezeption ›erzählt‹ wird. Ein klassischer Erzählmodus der Sunna ist also, dass sich der Glaubende selbst in der Nachahmung Muhammads in den Text des Korans mit hinein nimmt und dabei einen existenziellen Bezug zum Text und dessen gemeinschaftsbildender Wirkung erfährt. In dieser Form ist der Aufbau einer narrativen Identität auch in der islamischen Religionspädagogik seit jeher unabdingbar notwendig, hatte aber zur Nebenwirkung, dass die freie narrative Auslegung der Korantexte außerhalb des beschriebenen, dogmatisch abgesicherten Rahmens zurückgedrängt wurde.

Die Ahnung einer narrativen Identitätsbildung bei Ibn al-Jawzı¯ (6. Jh. H) und Hasan al-Basrı¯ (1. Jh. H) ˙ ˙

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Tatsächlich lässt sich bereits am Kita¯b al-Qussa¯s wa’l-Mudhakkirı¯n von Ibn al˙˙ ˙ Jawzı¯ zeigen, dass in der islamischen Klassik des 13. Jhs. AD die Wichtigkeit der Herausbildung einer narrativen Identität für die Religion des Islam beschrieben wurde. Ibn al-Jawzı¯ ist nicht blind gegenüber dem Missbrauchspotential des Qasa¯s, er weist aber desen generelle Einschätzung als bid a zurück. Im Gegenteil, ˙ ˙ sinnvoll eingesetzter Qasa¯s bringe der Gemeinde einen unschätzbaren Gewinn, ˙ ˙ und es habe neben den traditionellen theologischen Disziplinen seinen be19 rechtigten Platz. M. Swartz, der in den 70er Jahren des 20. Jhs. AD die genannte Arbeit Ibn al-Jawzı¯’s herausgegeben hat, vertritt diesen Standpunkt explizit gegen frühere Deutungen von De Goeje, Goldziher und Pedersen, die Ibn alJawzı¯ primär als Kritiker des Qasa¯s darstellten.20 ˙ ˙ Ibn al-Jawzı¯21 führt im Kita¯b al-Qussa¯s wa’l-Mudhakkirı¯n den Qasa¯s bis in die ˙˙ ˙ ˙ ˙ Zeit der ersten Gefährten und auf den Propheten Muhammad selber zurück. er den Koran rezitiert, ihn meditiert, ihn einhält, ihn für das tägliche Leben der muslimischen Gemeinde auslegt, auch wie er durch ihn als Schiedsrichter und Schlichter für die älteren Religionen auftritt. Die Nachahmung des schönen Beispiels Muhammads spielt in allen islamischen Traditionen eine wichtige Rolle. Sichtet man islamische Schulbücher, so geht ein großer Teil der angebotenen existenziellen Textbezüge, und insbesondere die für eine narrative Exegese offenen Texte, darauf zurück. 19 Vgl. M.L. Swartz (1971) 60 f. 20 Vgl. M.L. Swartz (1971) 52 f. 21 Vgl. M.L. Swartz (1971) 46 – 51.

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Zum freien Qasa¯s der ersten Generation trat in späterer Zeit der organisierte und ˙ ˙ offiziell beauftragte Qass. Ibn al-Jawzı¯ plädiert dabei für eine sorgsame und ˙˙ vielseitige Ausbildung der Erzähler, welche neben der Hadith-Wissenschaft auch Geschichte, Biographien wichtiger Persönlichkeiten, Nachrichten, Grammatik, Philologie und Rhetorik, sowie didaktische Grundkenntnisse umfassen soll. Elementar sind zudem Kenntnisse in der Koranauslegung, wie er an der folgenden Episode illustriert: »One day Ali passed by a qass and said to him: ›Are you versed in the abrogating and the abrogated?‹ He replied: ›No!‹ (Ali) then said: ›You yourself are damned and, moreover, you cause others to be damned.‹«22 Weiterhin ist ein hohes Berufsethos der Qussa¯s notwendig, damit sie ihren ˙˙ ˙ wichtigen Beitrag zur religiösen Bildung der Gemeinde leisten können, ohne bei den traditionellen Gläubigen Anstoß zu erregen. Dabei soll der Qass idealerweise ˙˙ nur zwischen ein- und maximal dreimal pro Woche unterrichten, um andere Formen der Vermittlung nicht in den Hintergrund zu drängen. Der Qass soll ˙˙ sachgemäß und themenzentriert vortragen, und es komme auf die Intention des Vortrages an. Dabei solle die Botschaft stets im Vordergrund stehen, nicht die Person des Vortragenden selber. Diese Kapitel seines Buches lesen sich wie ein hochmittelalterliches Vademecum zur Ausbildung von Religionslehrern. Auch der Koran selbst weise auf die Rechtfertigung des Erzählens hin: »Wir haben Dir die beste aller Geschichten erzählt …« (Sure 12, Yu¯suf, Vers 3). Ibn alJawzı¯ nennt neben Sure 12:3 noch Sure 7:176, wo der Koran selber das Erzählen positiv zu sehen scheint.23 Ebenso führt er mehrere Überlieferungsketten für den bekannten Hadith an, nach dem Muhammad selber einem Qass gelauscht und ˙˙ ihn zum Weitererzählen ermunterte. Nahe an unser modernes Konzept vom Aufbau einer narrativen Identität kommt die – wie üblich – originelle Argumentation von Hasan al-Basrı¯ heran, ˙ ˙ der das Erzählen ob der ihm eigenen Qualitäten lobt. Diese Qualitäten seien selbst in dem Fall vorhanden, wenn das Erzählen als eine verbotene Neuerung betrachtet werde: »Hasan said: ›Storytelling (qasa¯s) is an innovation, but how ˙ ˙ wonderful is this innovation! How many a prayer is answered, request granted, companion won, and how great is the knowledge received, through it!‹«24 Erzählen eröffnet also einen alternativen Zugang zu den Inhalten der rituellen Verkündigung, es stärkt das kognitive Wissen, es bietet einen persönlichen Zugang zu Dingen, die sonst schwer verständlich sind und es baut die Gemeinschaft auf. Man sollte im Blick behalten, dass der große Koranwissenschaftler Hasan al-Basrı¯ gleichzeitig die Federführung des oben besprochenen ˙ ˙ 22 M.L. Swartz (1971) 109 f. 23 Vgl. M.L. Swartz (1971) 99 f. 24 Vgl. M.L. Swartz (1971) 103.

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›masa¯hif -Projekt‹ des al-Hag˘g˘a¯g˘ übernommen hatte, das dem Erzählen letztlich ˙ ˙ ˙ einen festen hermeneutischen Rahmen in der entstehenden Sunna gab. Andererseits war er sich aber auch nicht zu schade, selber so anschaulich und narrativ zu predigen, dass auch er den Qussa¯s zugerechnet wurde und dafür üble Kritik ˙˙ ˙ einstecken musste.25 Auch Ibn al-Jawzı¯ beschreibt, wie das Erzählen mit der natürlichen Disposition des Menschen korreliert.26 Er vergleicht Bildung mit aufgestauten Wassermassen, die von einem Damm begrenzt werden, der das Auseinanderfließen des Wassers verhindert. Ein kontrolliertes Ablassen des Wassers ist notwendig, um den Damm zu erhalten. Das ablaufende Wasser wird durch Kanäle geführt, welche den einzelnen religiösen und theologischen Methoden entsprechen: das Wissen, das Recht, die religiöse Gelehrsamkeit, die erbauliche Erzählkunst. Ibn al-Jawzı¯ ist realistisch genug zu erkennen, dass bei der Mehrheit der Menschen die ersten drei Kanäle recht häufig verstopft oder zu klein sind, um den geregelten Ablauf des Wassers zu gewährleisten. Dies allein schon rechtfertige die Tätigkeit der Erzähler : »And so it is that the masses profit from them in a way that they never profit from the great scholar«.27 Weise Worte, die jeder erfahrene Religionslehrer nur unterschreiben kann. Wenn man also fragt in welchem Umfang – und zu welchen Bedingungen – die klassische islamische Tradition den Wert des Erzählens der Heiligen Schriften positiv beschreibt, so werden wir neben der Wissensvermittlung also auf affektive Kategorien des Werbens um Verständnis für die eigene Sache – in- und außerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft – und weiterhin auf die pädagogischen Notwendigkeiten der Vermittlung des eigenen Anliegens in Form von Erzählungen verwiesen.

25 Ein interessantes interreligiöses Detail, das sich aufgrund mangelnder Quellenlage nicht weiter verfolgen lässt, ist folgendes: Hasan al-Basrı¯ lebte in unmittelbarer Nachbarschaft mit den syrischen Christen des Irak des˙ 8. Jhs. AD,˙deren besondere Erzähltradition ganz entsprechend gestaltet war. In syrischen monophysitischen Kirchen wurde vor der liturgischen Feier das ›Buch des Lebens‹ verlesen, eine narrative Synopse der messianischen Verheißungen des Alten Testament und der Evangelien im Stil einer midraschartigen Katechese. 26 Vgl. M.L. Swartz (1971) 106 f. 27 M.L. Swartz (1971) 107.

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Fallbeispiel: Die Erzählkunst von Sure 19:1 – 33 und ihrer Auslegung Die Erzählkunst von Sure 19:1 – 33 Wie erzählt nun der Koran selber? Im Rahmen dieses Artikels kann diese komplexe Frage nur in Form eines Fallbeispiels zum Text und zur ersten Auslegung von Sure 19:1 – 33 angerissen werden, der in der relativen Chronologie der großen Narrative des Korans, die sich mit dem Christentum auseinandersetzen, wohl zeitlich an erster Stelle steht.28 Im Folgenden soll auch nicht auf die komplexe Diskussion der Entstehung und Abfassungszeit des Textes von Sure 19 (Maryam) eingegangen werden, die in der Forschung unterschiedlich bewertet wird.29 Vielmehr geht es um seine Erzählstrategie unter der Voraussetzung, dass es sich um den frühesten der großen koranischen Narrative zu einem christlichen Gegenstand handelt. Der Text umfasst zwei große Teile, die in Form und Inhalt zahlreiche Parallelen bieten.30 A. Sure 19:1 – 15 – Zacharias und Johannes der Täufer 1. Sure 19:1 – 6 – ein nur aus dem Koran bekanntes längeres Gebet des Zacharias um Nachkommenschaft. 2. Sure 19:7 – 11 – die Verkündigung Johannes des Täufers an Zacharias in Form einer Paraphrase zum Lukas-Evangelium (Kap. 1,10 – 20). 3. Sure 19:12 – 15 – ein nur aus dem Koran bekannter Text zur Bedeutung der Erwählung des Johannes.

28 Zur narrativen Struktur des großen Konvergenztextes von Sure 3:33 – 64 vgl. F. van der Velden: Konvergenztexte syrischer und arabischer Christologie: Stufen der Textentwicklung von Sure 3,33 – 64, OrChr 91 (2007) 164 – 20. 29 Während Angelika Neuwirth der klassischen islamischen Linie folgt und eine Abfassung des Textes in mekkanischer Zeit vermutet, wobei in späterer mekkanischer und bis in medinische Zeit Textfortschreibungen vorgenommen wurden, geht Stephen Shoemaker von einer Abfassung des Endtextes erst nach der arabischen Eroberung Jerusalems aus, da die Sure auf spezifische regionale Traditionen der Gegend um Jerusalem herum Bezug nehme; vgl. St.J. Shoemaker: Christmas in the Qur’a¯n: The Qur’a¯nic Account of Jesus’ Nativity and Palestinian Local Tradition, Jerusalem Studies in Arabic and Islam 28 (2003) 11 – 39; A. Neuwirth: Imagining Mary – Disputing Jesus. Reading Surat Maryam and related Meccan texts within the Qur’a¯nic communication process, in: B. Jokisch et al. (Hrsg.): Fremde, Feinde und Kurioses, Berlin/New York 2009, 383 – 416, 414 – 416. 30 Zum folgenden vgl. F. van der Velden (2007) 164 – 203, hier 165ff; ders.: Die Felsendominschrift als Ende einer christologischen Konvergenztextökumene im Koran, OrChr 95 (2011) 200 – 234, hier 225 ff.

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B. Sure 19:16 – 33 – Maria und Jesus 1. Sure 19:16 – 21 – der Bericht der Verkündigung Jesu, nach Motiven aus dem 1. Kapitel des Lukas-Evangeliums und aus dem apokryphen Jakobus-Evangelium (Kap. 11). 2. Sure 19:22 – 26 – seine Geburt an einem östlichen Ort zu Füßen einer Palme, nach Motiven, die sich ähnlich im Diatessaron Tatians und später im 20. Kapitel des apokryphen Ps.-Matthäus-Evangelium (8./9. Jh.) finden.31 3. Sure 19:27 – 30 – die Errettung Mariens durch das wunderbare Sprechen des Jesuskindes als Säugling, nach Motiven aus apokryphen Kindheitsevangelien. 4. Sure 19:31 – 33 – ein nur aus dem Koran bekanntes Selbstzeugnis des JesusKnaben über die Bedeutung seiner Erwählung. Bereits in dieser einfachen Übersicht werden folgende Erzählstrategien des Textes sichtbar : Schriftzentriertes Erzählen Offensichtlich teilt der Text von Sure 19:1 – 15.16 – 33 eine Menge Informationen mit dem Text des Lukas-Evangeliums (Kap. 1,10 – 20) und mit weiteren christlichen apokryphen Schriften. Wie immer auch die gegenseitigen Abhängigkeiten verstanden werden, ob als Paraphrase von Gehörtem oder von einer literarischen Vorlage, der Text bewegt sich in jedem Fall eng an der bekannten christlichen Überlieferung entlang. Erzählen signalisiert Gemeinsamkeit Durch das längere Gebet des Zacharias bleibt der Umfang beider Teile (Sure 19:1 – 15 und Sure 19:16 – 33) mit einem Verhältnis von 15 zu 17 Versen ausgeglichen – so ähnlich wie im Lukas-Evangelium (Kap. 1 – 2) die Vorgeschichte Johannes des Täufers mit der Vorgeschichte Jesu formal parallelisiert wird. Inhaltlich ist die herausgehobene Wertschätzung Johannes des Täufers und Jesu, Sohn der Maria, deutlich ausgedrückt. Für christliche Leser ist dabei die Schnittmenge mit den eigenen biblischen und außerbiblischen Quellen augenfällig. Es wird somit Vertrautheit signalisiert und dadurch Empathie geweckt.

31 Zur Sache vgl. J. van Reeth: L’¦vangile du prophÀte, in: al-kita¯b. La sacralit¦ du texte dans le monde de l’islam. Actes du colloque international — Leuven (29.5.–1.6.2002), 2004, 155 – 174, hier 165 f.

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Aussparen des dogmatisch Unvereinbaren Mit einem großen Teil der Ausleger32 (auch der islamischen) gehe ich davon aus, dass die metrisch abgesetzten Verse 19:34 – 40 (und 88 – 95), welche eine lehrmäßige Argumentation gegen den christlichen Glaubensstand bieten, der Narratio von 19:1 – 33 erst zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügt wurden.33 »In any case, the Surah has been added to at a later date, and while the stories of Zacharias, John, and the Virgin Mary, with which it begins might possibly belong to that early time, some additions have been made to what is there said about Jesus«34. Auch hier gibt es sehr unterschiedliche Einschätzungen, ab welcher Zeit der Anlass und die Notwendigkeit einer solchen Hinzufügung gegeben war und zu welchem Anlass dieser theologische Text formuliert wurde.35 In jedem Fall aber steht diese Passage im Dienste einer sachlichen Klarstellung, um zu verhindern, dass aus dem Konvergenztext von Sure 19:1 – 33 ›falsche‹ Schlüsse gezogen würden – oder, anders ausgedrückt: um die kreative Kraft der Narrative dogmatisch zu bremsen. Werben für die eigene Sache durch eine typisch koranische Erzählspur Die Parallelisierung Johannes des Täufers und Jesu ist also bereits im LukasEvangelium angelegt. Doch geht das Lukas-Evangelium dabei in eine Überbietung des Täufers durch die in Jesus, dem Sohn Gottes, angekündigte Erlösung über (›Verheißung – Erfüllung‹). Die Parallelisierung der koranischen Erzählung hat dagegen die grundsätzliche Gleichstellung beider Personen zum Ziel. Beide Teile (Sure 19:1 – 15 und 19:16 – 33) verbindet die wunderbare Verkündigung eines Sohnes an Zacharias bzw. an Maria. Die ausführlichere Schilderung der Wunder des Jesus-Knaben wird durch das Gebet des Zacharias ausgeglichen. Insbesondere wird die Bedeutung der Erwählung Jesu (19:31 – 33) streng mit der Bedeutung der Erwählung des Johannes (19:12 – 15) parallelisiert: »30 Er sagte: Ich bin der Diener Gottes. Er hat mir die Schrift gegeben und mich zu einem Propheten gemacht 31 Und er hat gemacht, dass mir, wo immer ich bin, Segen verliehen ist, und mir das Gebet und die Armensteuer anbefohlen, solange ich lebe 32 und gegen meine Mutter pietätvoll [zu sein; Anm. d. Verf.]. Und er hat mich nicht gewalttätig und unselig gemacht. 33 Heil sei über mir am Tag, da ich geboren wurde, am Tag, da ich sterbe und am Tag, da ich zum Leben auferweckt 32 Vgl. R. Paret: Kommentar und Konkordanz zum Koran, 6. Aufl., 2001, 65, zu Sure 3,33 f. 33 »V.35 bis 41 kann Muhammad erst später, etwa im Anfang des dritten oder am Ende des zweiten Zeitraums, hinzugefügt haben, und zwar als dogmatische oder polemische Ergänzung zu den in der Sprache wie auch im Reim abweichenden Versen über Jesus« (Nöldecke/ Schwally, Geschichte des Qoran, Bd. 1, 1909, 130). 34 R.Bell: The Origin of Islam in its Christian Environment, 1926, 139. 35 Ich selber gehe von einer wesentlich späteren Hinzufügung während der Redaktion des Korans aus, vgl. F. van der Velden (2011) 219 – 223.

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wurde«. Die kursiv gesetzten Aussagen entsprechen inhaltlich und teilweise wörtlich denen der Verse 12 – 15. Dieser als Selbstzeugnis des Jesus-Knabens geschriebene Text von Sure 19:30 – 33 macht unmissverständlich klar, dass in der Erwählung Jesus nicht wesentliches über Johannes den Täufer hinaus geschieht. An der Erzählkunst von Sure 19:1 – 33 ist zunächst also auffällig, dass sie christlichen Lesern oder Gesprächspartnern eine Einstiegshilfe in die koranische Sicht auf Jesus anbietet, welche auf Polemiken und Zurückweisungen verzichtet, und dafür auf ein empathisches Werben für die eigene Sache setzt, indem das Gemeinsame nach vorne gestellt wird. Es wird schriftzentriert mit vielen Bezügen zu christlichen Texten erzählt, aber dabei eine unverwechselbare koranische Erzählspur gelegt, die den Leser oder Gesprächspartner natürlich vom eigenen Argument überzeugen soll. Man wird unwillkürlich an die Auslegung messianischer Geschichten und Motive der Tora im Neuen Testament erinnert, die in der christlichen Auslegung ja auch den Nachweis des Messiasanspruchs Jesu erbringen sollen. Hier wird entsprechend christliche Literatur koranisch ausgelegt. Erkennbar ist auch, dass in der Aussparung des dogmatisch Unvereinbaren durch die Narratio für das weitere Religionsgespräch ein Problem liegen muss, das im Übrigen für die meisten narrativen Texte des Korans, die sich mit dem Christentum beschäftigen, gleichermaßen gilt. Daher ist im Folgenden zu fragen, wie die frühe islamische Auslegung von Sure 19:1 – 33 sich zu diesem Punkt verhält, und natürlich wie der Koran selber diese Frage behandelt.

Ein didaktischer Dreischritt für das Gespräch mit Christen im Koran: Performanz – Narration – Argumentation Die Erzählung des Gemeinsamen führt sich selbst ad absurdum, wenn das Trennende unausgesprochen bleibt und sich jeder Gesprächspartner seinen unterschiedlichen Teil hinzudenkt, damit die Geschichte für ihn stimmig wird; irgendwann redet man dann schlichtweg nicht mehr über das Gleiche. Die in der Erzählung geweckte Empathie weicht dann einem Gefühl von Unsicherheit, ob man entweder das Unterscheidende aus unlauteren Gründen verschweige oder ob man sich gegenseitig nicht ernst nehme. Die koranischen Texte, ihre Redaktion und ihre erste Auslegung geben aber einen bestimmten Kompass vor, um schrittweise das eigene Bekenntnis im Angesicht der anderen zu entfalten, ohne es dabei an dieser notwendigen inhaltlichen Klärung mangeln zu lassen. Damit werden auch die Regeln für das Religionsgespräch mit den Christen entwickelt.

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Die Modalform des Performativ Das älteste Material der Auseinandersetzung mit dem Christentum findet sich in kurzen Texten, die ihren Hintergrund entweder in der ersten Gebetspraxis haben, oder das Abgrenzende gegenüber christlichen Glaubenslehren in Form von kurzen ›Slogans‹ formulieren. So sieht M. Kropp36 im kurzen Text von Sure 112 bereits einen direkten Bezug auf die ersten beiden Glaubensartikel des christlichen Credos, genauer eine kurz gefasste Abwehr der im Christentum behaupteten Wesensgleichheit Jesu mit dem Einen Gott. Diese wird im christlichen Credo in der Symbolsprache von Zeugung und Geburt ausgedrückt.37 Interessant ist dabei, dass bereits Muqa¯til Ibn Sulayma¯n (8. Jh. AD) frühe ›protrinitarische‹ Slogans überliefert, die christliche Opponenten wohl ihrerseits gegen das Anliegen von Sure 112 vorbrachten und die sich ebenfalls aus einem Passus des Credo herleiten: »Keiner ist Dir Teilhaber / Außer Deinem einzigen Teilhaber / welchen Du selbst eingesetzt hast über alles, was er beherrscht« (la¯ ˇsarı¯ka lak / illa¯ ˇsarı¯ka huwa lak / tamliku-hu¯ wa-ma¯ malak).38 Muqa¯til Ibn Sulayma¯n39 geht von einer frühen polemischen Übertragung des Arguments von Sure 112 auf zeitgenössische Juden (sie sagen angeblich: ›Aziz [Esra?!] ist der Sohn Gottes‹) und Christen des 7. Jhs. AD aus, deren Status als Monotheisten damit implicite / explicite angefragt wird. Die Diskussion um eine Teilhaberschaft und Vergleichbarkeit Gottes ist somit bereits in der frühesten Polemik zwischen den Mekkanern und den Christen des Orients nachweisbar.40 Sie lässt sich nach M. Kropp durch kurze religiöse – oder religionspolitische – Slogans fassen, die bereits in vorkoranischer Zeit in den Straßen von Mekka gegen Glaubensopponenten vorgetragen wurden, bevor die

36 Vgl. zum folgenden: M. Kropp: Tripartite, but Anti-trinitarian Formulas in the Qur’a¯nic Corpus, Possibly Pre- Qur’a¯nic, in: G.S. Reynolds (Hrsg.): New Perspectives on the Qur’a¯n: The Qur’a¯n in its Historical Context 2 (Routledge Studies in the Qur’a¯n), 2011, 247 – 265. 37 Dieser von allen christlichen Kirchen akzeptierte Bekenntnistext (das so genannte NicaenoKonstantinopolitanische Credo) formuliert im zweiten Glaubensartikel zum Verhältnis des Schöpfers (Gott, der Vater) zum Erlöser (Jesus, der Christus): »…gezeugt, nicht geschaffen, eines Wesens mit dem Vater, … aus dem Vater geboren vor aller Zeit, durch ihn ist alles geschaffen«. 38 Der Vergleichstext aus dem Credo: »… Er (der auferstandene Christus) sitzt zur Rechten des Vaters; von dort wird er wiederkommen zu richten die Lebenden und die Toten, seiner Herrschaft wird kein Ende sein.« 39 Vgl. Muqa¯til Ibn Sulayma¯n: Tafsı¯r, Beirut 2003, Bd. 3, 535. 40 Natürlich konnte man sich in Mekka und Medina adäquat über das Bekenntnis solcher Christen informieren, welche der Koran al-nasa¯ra nennt. Dafür sorgten die Nähe zum ˙ Jemen, arabische Stämme christlichen Bekenntnisses (Nag˘ra¯n), aber auch die Handelswege nach Irak. Es ist schließlich kein Zufall, dass eine der wichtigsten Neugründungen der Araber im Irak, Kufa, in der Nähe der christlichen Stadt al-Hı¯ra liegt, von der aus die Karawanenwege ins innere Arabien ausgingen.

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spätere koranische Textfassung solche Texte aufnimmt, umformuliert und in das koranische Korpus intergriert. Die Modalform des Narrativ Längere Narrative im Koran – aber auch erste Auslegegeschichten – erzählen dagegen von der möglichen Gemeinsamkeit und bestimmen dabei die theologische Schnittmenge zwischen beiden Positionen. Sie legen aber auch eine unverwechselbar koranische Erzählspur über die gemeinsamen Geschichten. Die Verbindung von Sure 19:1 – 40 mit der legendären Ersten Hig˘ ra nach Äthiopien in der Sı¯ra nabbawı¯yya des Ibn Isha¯q wird unten gesondert behandelt. Ganz ˙ ähnlich wird bereits in der frühen islamischen Koranauslegung (tafsı¯r) des 8. Jhs. AD der große narrative Text von Sure 3:33 – 64 an eine – ebenfalls legendenhafte – Delegation von Christen aus Nag˘ ra¯n nach Medina gebunden, wo beiden Parteien mit diesem Text der Versuch einer Schnittmengenbestimmung über Jesus vorgelegt wird. Obwohl keine Einigung erzielt werden kann, geht man doch in Frieden auseinander. Auch zur Aussage und zur Entstehungszeit dieses Textes von Sure 3:33 – 64 gibt es unterschiedliche Meinungen.41 Ich frage mich aber, wie dieser Text, der die messianische Bedeutung Jesu unter deutlicher Bezugnahme auf die biblische und außerbiblische christliche Tradition betont, auf die Christen des Orients gewirkt haben mag, mit denen es die Muslime im 7./8. Jh. AD als Bevölkerungsmehrheit der von ihnen regierten Provinzen zu tun bekamen. Die Modalform des Argumentativ Apologetische Argumentative im Koran grenzen hingegen klar gegenüber unvereinbaren Positionen ab, die allen Christen gemeinsam sind. So wird der oben in Sure 19:34 – 40 beschriebene Text von der Koranredaktion hinter Sure 19:1 – 33 gestellt und muss daher als lehrmäßiger Kommentar und als Einschränkung der interpretativen Kreativität des narrativen Textes verstanden werden. Das koranische Argument kann aber auch – wie in Sure 5:116ff – auf die Ablehnung bestimmter konfessioneller Punkte zielen, welche man mit anderen christlichen Kirchen durchaus teilt. So weiß at-Tabari – der große Koran-Interpret des 3. Jhs. ˙˙

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41 Angelika Neuwirth sieht in Sure 3:33 – 59 einen bewussten Kontrapunkt gegen die überwiegend jüdische Traditionsbildung in Medina zu Lebzeiten des Propheten, während ich darin einen Kovergenztext zur messianischen Bedeutung Jesu sehe, der unter den Bedingungen des ersten Zusammenlebens mit den Christen des Orients auf dem Gebiet des heutigen Irak und Syrien redigiert worden ist. Vgl. A. Neuwirth: Debating Christian and ¯ l Imra¯n (Q 3:1 – 62), in: Jastrow, O., Jewish Traditions. Embodied Antagonisms in surat A et.al. (Hrsg.), Studien zur Semitistik und Arabistik (FS Bobzin), Wiesbaden 2008, 281 – 303; dies.: Mary and Jesus – Counterbalancing the Biblical Patriarchs. A re-reading of surat ¯ l Imra¯n (Q 3:1 – 62), in: Parole de l’Orient 30 (2005) 231 – 260; F. van der Maryam in surat A Velden (2007) 164 – 203. ˘

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H – sehr wohl, dass der Vorwurf von Sure 5:116 f – die Vergottung Mariens – nicht einfachhin eine Information über den ›christlichen Glauben‹ sein kann, der das ja nicht in dieser Form behauptet, sondern eine Polemik gegen eine bestimmte konfessionelle Position darstellt.42 Es lassen sich somit für die koranischen Texte zum Christentum drei Modalformen unterscheiden: der identitätsstiftende Performativ – der Gemeinsamkeit stiftende Narrativ – der klärende und abgrenzende Argumentativ. Dieser methodische Dreischritt setzt dabei auch den Rahmen, in welchem das Erzählen bereits im Koran und in den frühen Auslegungen seinen berechtigten Platz einnimmt, und durch den ihm gleichzeitig Grenzen gesetzt werden. Das gemeinsamkeitsstiftende Erzählen der Heiligen Schriften findet im Religionsgespräch ab dem 8. Jh. AD nicht mehr statt Allerdings verlieren die koranischen Narrative sehr bald ihre Bedeutung für die politische Dimension des Religionsgesprächs mit offiziellen christlichen Vertretern. In den bekannten, ab dem 9./10. Jh. AD dokumentierten christlichislamischen Religionsgesprächen43 wird entweder über theologische Argumente gestritten oder religionsphilosophisch nach neuplatonischen oder aristotelischen Kategorien diskutiert. Wenn im Religionsgespräch erzählt wurde, dann nur noch im abgesicherten Modus der beispielhaften Koranauslegung Muhammads, also der Hadithe und der asba¯b an-nuzu¯l. Die Gemeinsamkeit stiftende Funktion des freien Erzählens der großen koranischen Narrative und ihrer jüdischen und christlichen Vergleichstexte selber trat dagegen fast völlig zurück, was auf islamischer Seite wohl auch am schlechten Leumund des Qasa¯s gelegen ˙ ˙ haben wird (siehe oben) – und auf beiden Seiten an der Form der disputatio lag, in der ein Religionsgespräch üblicherweise stattfand. Ziel der disputatio im antiken und mittelalterlichen Verständnis ist es bekanntlich, die Wahrheit dadurch ans Licht zu bringen, dass eine Partei Recht behält und dafür die andere 42 At-Tabari (gest. 923 AD) gibt in seinem Korankommentar zur Stelle fachkundig die inner˙˙ christliche Polemik seiner Zeit wieder (Zitate nach: Ch. Abdelmajid: Christianity in the Qur’an Commentary of Tabari, Islamochristiana 6 [1980] 105 – 148, hier 140): Die byzantinischen Melkiten werden von ihm folgendermaßen dargestellt: »Isa is third of three; he is a god, his mother is a god, Allah is god.« Dies entspricht zwar nicht dem Bekenntnisstand dieser Kirche, sehr wohl aber der anti-monotheletischen Polemik der ostsyrisch-orthodoxen Kirche. Über die ägyptischen Kopten und die west-syrischen Christen schreibt er »They make no difference between Allah and Christ« – auch dies entspricht der ostsyrischchristlichen Polemik, nicht aber dem Sachstand. Lediglich die ostsyrische Kirche selber wird sachgemäß dargestellt: »They say that ‹Isa is the Son of God.«. Es liegt daher nahe, dass at˙ Tabari seine Informationen über einen ostsyrischen Christen erhielt. ˙ 43 Eine Zusammenstellung von Texten bis zum 9. Jh. AD findet sich bei: R.G. Hoyland: Seeing Islam as others saw it. A survey and evaluation of Christian, Jewish and Zoroastrian writings on early Islam, Princeton 1997. Für ein klassisches späteres Beispiel vgl. T.R. Hurst: Letter 34 of Timothy I, in: R. Lavenant (Hrsg.), Symposium Syriacum IV (OCA 229), 1987, 367 – 382.

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Partei argumentativ überzeugen muss. Damit sind alle klassischen Religionsgespräche zwischen Christen und Muslimen als Paradigma eines interreligiösen Lernens in der Schule denkbar ungeeignet. Wie wohltuend ist es daher für den Lehrer zu sehen, dass der Koran selber das narrative Element (und das perfomative) in seiner Bedeutung für das Gespräch mit den Christen neben das argumentative stellt.44 Und auch in der frühen islamischen Auslegung knüpften sich spezielle Erwartungshaltungen an die Bedeutung des Erzählens für das Religionsgespräch, wie ich im Folgenden anhand einer paradigmatischen Auslegungsgeschichte von Sure 19:1 – 33 zeigen möchte.

Die frühe narrative Auslegung von Sure 19:1 – 33 Auch für Ausleger, die sich der klassischen islamischen Sichtweise verpflichtet fühlen, ist die Motivation zur Offenbarung von Sure 19:1 – 33 in der frühen mekkanischen Periode ein gewisses Problem, da es in dieser Zeit keine lehrmäßige Auseinandersetzung mit dem Christentum gegeben haben soll, die einen solchen längeren Text rechtfertigt.45 Bekanntlich wird der traditionelle Sitz im Leben der Geschichte erst in der Sı¯ra des Ibn Isha¯q (704 – 768 AD) nachgeliefert. ˙ Es ist die im Islamischen Religionsunterricht immer wieder aufgenommene Erzählung von der legendären Ersten Hig˘ ra der muslimischen Gemeinde nach Äthiopien (Abessinien) im 6./7. Jahr der Offenbarung, also noch zu mekkanischer Zeit. Allerdings ist diese Episode historisch nicht nachweisbar – weder der Koran selbst, noch außerislamische oder gar äthiopische Quellen bestätigen sie. Wenn es sich aber um eine fromme Legende handelt, dann tritt die Frage nach dem Erzählzweck dieser Geschichte zu Beginn des 2. Jhs. H nach vorne, also die Frage nach der Intention, mit welcher Ibn Isha¯q diese Legende mit dem Text von ˙ Sure 19 verband. Immerhin dies lässt sich mit einiger Sicherheit rekonstruieren, wenn wir der Erzählung des Ibn Isha¯q aufmerksam folgen. ˙

44 Erst in neuerer Zeit wurden diese großen Narrative des Korans in ihrer Bedeutung für das Religionsgespräch wiederentdeckt. Ein Überblick über diese Entwicklung findet sich bei M. Bauschke: Jesus – Stein des Anstoßes. Die Christologie des Koran und die deutschsprachige Theologie, Köln 2000; vgl. ders.: Jesus im Koran, Köln 2001; K.-J. Kuschel: Juden, Christen, Muslime. Herkunft und Zukunft, Düsseldorf 2007, 462 – 546. 45 »[In Meccan times the] texts do not reflect an interaction between the Qur’a¯nic community and ›official Christians‹ of whatever denomination« … »the controversial issue of Jesus being God’s ›offspring‹ (walad) is not yet a matter of christological dispute, in the sense of the intra-Christian theological debate« (A. Neuwirth: The House of Abraham and the House of Amran: Genealogy, Patriarcal Authority, and Exegetical Professionalism, in: dies.; N. Sinai; M. Marx (Hrsg.): The Qur’a¯n in Context. Historical and Literary Investigations into the Qur’a¯nic Milieu, Leiden & Boston 2010, 499 – 531, 505).

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Das Religionsgespräch und die islamische Migration Ibn Isha¯q schildert, wie Muhammad selber aufgrund einer frühen Unterdrü˙ ckung durch die ungläubigen Quraish seinen Gefährten das Asyl beim christlichen Negus in Äthiopien empfiehlt: »Denn dort (so sprach er) herrscht ein König, bei dem niemandem Unrecht geschieht. Es ist ein freundliches Land. Darauf zogen die Gefährten des Propheten nach Abessinien, da sie die Versuchung fürchteten, vom Islam abzufallen, und sich mit ihrem Glauben zu Gott flüchten wollten. Es war dies die erste Hidjra«46. Am Hof des Negus kommt es dann zu einem Religionsgespräch zwischen den Gefährten und christlichen Würdenträgern, das Ibn Isha¯q folgendermaßen schildert: Der Negus hatte auch ˙ seine Bischöfe holen lassen, die ihre Heiligen Schriften um ihn herum ausbreiteten. … »›Hast Du etwas von der Offenbarung dabei, die euer Prophet euch brachte?‹ fragte der Negus. … Dja’far rezitierte einen Abschnitt aus der Sure Maria und wahrlich, der Negus weinte, bis sein Bart feucht war. Und auch seine Bischöfe weinten, bis Tränen die Heiligen Schriften benetzten. Dann wandte sich der Negus an die beiden Abgesandten der Mekkaner und sprach: ›Diese Offenbarung und die Offenbarung Jesu kommen aus derselben Nische‹.«47 In der Logik der Geschichte stiftet die Rezitation des narrativen Textes von Sure 19 also Frieden zwischen einer Minderheit von Muslimen und einer herrschenden Mehrheit von Christen, unter deren Schutz sie sich auf Anraten des Propheten geflüchtet hatten. Man freut sich soweit über die konvergenten Äußerungen von Sure 19 – also wohl der Verse 1 – 33 – dass die erzählte Gemeinsamkeit Empathie weckt und damit trotz der dogmatischen Differenz den Handlungsspielraum erweitert und ein gedeihliches Zusammenleben ermöglicht.48 Das Problem der ›Konsensformel‹ … Nun zeigt die Deutegeschichte in ihrer Folge, dass sie nicht völlig blauäugig aus der Narratio des Gemeinsamen eine theologische Problemlösung für das Unvereinbare erwartet. Es tauchen Störfaktoren des gedeihlichen Zusammenlebens auf, in Form zweier Emissäre der ›ungläubigen‹ Quraish, welche dem Negus nahelegen, die Exilanten genauer auf ihre Meinung zur Gottessohnschaft Jesu zu 46 Ibn Isha¯q bewertet die Flucht zu Christen also ausdrücklich als lobenswerte Glaubenstat, als ˙ ˘ ra. Dieser und die folgenden Texte werden zitiert nach: G. Rotter : Ibn Ishaq – Das erste Hig Leben des Propheten, 1999, 65 – 71.65 f. 47 Das ›Weinen‹ des Negus und seiner Bischöfe während der Rezitation von Sure 19 zeigt den Respekt vor der Heiligen Schrift des anderen, und auch die ausgebreitete Bibel wird von den Muslimen geachtet. 48 Vgl. den Unterrichtsansatz von Mehmet Sevki Yavuz in: Chr. Ritter ; M. Yavuz: Jesus – interreligiöser Kompetenzerwerb in einem islamisch-christlichen Gespräch über die asba¯b an-nuzu¯l von Sure 19 (Maryam) in diesem Band.

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befragen. Bei dem anberaumten zweiten Treffen der Parteien wird von Ibn Isha¯q ˙ ein zusätzliches Glaubensbekenntnis der Gefährten vor dem äthiopischen Negus überliefert, das als argumentativer Text zwischen der unterschiedlichen islamischen und christlichen Glaubensmeinung vermitteln will: »›Wir sagen über ihn, was unser Prophet uns geoffenbart hat, nämlich dass er der Diener Gottes, sein Prophet, sein Geist und sein Wort ist, das Er der Jungfrau Maria eingegeben hatte‹. Der Negus nahm einen Stock vom Boden auf und sprach: ›Wahrlich, Jesus ist nicht um die Länge dieses Stockes mehr als das, was Du gesagt hast‹.« Dieses Bekenntnis entspricht weitgehend dem Text von Sure 4:171 f, welcher allerdings nach Ibn Isha¯qs relativer Chronologie der Surenfolge – den asba¯b an-nuzu¯l – zu ˙ diesem frühen Zeitpunkt der Verkündigung noch nicht offenbart war. Wenn Ibn Isha¯q also von der eigenen Chronologie abweicht, muss dies einen triftigen ˙ Grund haben.

˘

Die Bedeutung der Felsendominschrift zu Jerusalem (692 AD) Nun findet sich die einzige sonst aus dieser Zeit bekannte Kombination von Sure 19(:34 – 40) und Sure 4:171 f. in der Felsendominschrift zu Jerusalem (692 AD), welche die Bedeutung Jesu und damit das Verhältnis zum christlichen Bekenntnis durch abgrenzende Argumentative und abwehrende Performative bestimmt, wohingegen kein Bezug zu den narrativen Texten des Korans mehr hergestellt wird. Wieder erscheint Sure 112, ergänzt um Sure 17:111, in der ich wie in Sure 112 einen frühen performativen Text sehe. Hier formen unsere beiden Texte von Sure 19:34 – 40 und Sure 4:171 f das argumentative Herzstück der Inschrift für eine kritische Auseinandersetzung mit der Christologie der Kirchen des Orients.49 Ibn Isha¯q muss die hohe Bedeutung beider Texte im ˙ Religionsgespräch mit den Christen seiner Zeit bekannt gewesen sein, da die Inschrift ab 692 AD als offizieller Bekenntnistext zur arabischen ›Christologie‹ der omajjadischen Kalifen galt. Selbst christliche Theologen des frühen 8. Jhs. AD reagieren bereits auf diese prominente Textkombination, die auch später in vielen Religionsgesprächen zwischen Christen und Muslimen erscheint.50 Warum aber sollte im Sinne der Geschichte ausgerechnet der streng äthiopisch-orthodoxe (miaphysitische) Negus einer solchen Sicht auf Jesus Christus zustimmen, wie sie die ›Konsensformel‹ bietet? Zwar kommt die Formel den Christen in der Auflistung der messianischen Titel Jesu weit entgegen – und der Text der Sı¯ra bezeichnet Maria zusätzlich als ›unversehrte Jungfrau‹ (al- adra’ al¯ 49 Vgl. zum folgenden F. van der Velden (2011) 215 – 223. 50 Zwischen 705 und 720 AD schreiben Jakob von Edessa und der so genannte Mönch von Beth Hale bezugnehmend auf Korantexte, die sich in der Felsendominschrift finden und die den christlichen Theologen wenn nicht per Augenschein, so wohl über muslimische Gesprächspartner bekannt wurden (vgl. van der Velden [2011] 209 f).

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batu¯l)51 – aber ich denke nicht, dass Ibn Isha¯q das Missverständnis der ›Kon˙ sensformel‹ im Sinne einer orthodox christlichen Interpretation der genannten messianischen Titel Jesu empfehlen will.52 Vielmehr hält er den Christen seiner Zeit mit der ›Konsensformel‹ ja auch das Symbolon der Felsendominschrift entgegen, die in ihrer Pragmatik eine Interpretation dieser messianischen Titel im Sinne des christlichen Bekenntnisses deutlich ausschließt. Deutlich wird letztlich nur, dass Ibn Isha¯q von seiner Warte aus die ›Kon˙ sensformel‹ als ein argumentativ klärendes und Einheit stiftendes Argument versteht. Inwieweit er sich – gut 50 Jahre nach der Felsendominschrift – noch Hoffnungen auf eine Zustimmung der Christen seiner Zeit zu diesem Text gemacht hat, oder wie weit ihm die klare Ablehnung der Inschrift durch führende christliche Theologen zu Beginn des 8. Jhs. AD bereits bekannt war, entzieht sich dabei meiner Kenntnis. Es scheint mir aber, dass er in seiner Auslegungsgeschichte zu Sure 19 (Maryam) seinen eigenen Wunsch in die Vergangenheit rückprojiziert: ›Wie schön wäre es, wenn die Christen meiner Zeit nicht nur aufgrund der Narration von Sure 19 Empathie entwickeln würden, sondern auch den Aussagen der Felsendominschrift inhaltlich zustimmen könnten.‹ Die Auslegegeschichte skizziert so ein ideales ›Konzil‹ zwischen Christen und Muslimen des 8. Jhs. AD, das außerhalb der literarischen Fiktion des Ibn Isha¯q ˙ allerdings niemals stattfand. Es sollte im Unterricht daher auch weitererzählt werden, dass es bei der historisierenden Rückprojektion der Sache in die Zeit des Propheten Muhammad blieb. Mit solchen Enttäuschungen leben zu können, ist allerdings bis heute eine wichtige Kompetenz im interreligiösen Lernen zwischen Christen und Muslimen. Das ›ideale‹ Religionsgespräch53 des Ibn Isha¯q nimmt also theologisch ˙ wichtige Fragen54 auf, und zwar auf Grundlage der Heiligen Schriften55. Es

51 Die Erwählung und Absonderung Mariens, sowie die Bewahrung ihrer Jungfräulichkeit werden ebenfalls im apokryphen Jakobus-Evangelium und in dem zweiten großen koranischen Konvergenztext von Sure 3:33 – 64 festgehalten. 52 Natürlich kann jeder Christ die Formel, dass Jesus Gottes Knecht, sein Wort, das in Maria hineingesenkt wurde und Geist von ihm ist, mitsprechen, wenn er sich dabei denkt: Jesus ist Gottes Knecht (vgl. Jes 53 u. ö. als messianisches Prädikat), sein (ewiges) Wort (also der göttliche Logos des Johannes-Prologs), das in Maria hineingesenkt wurde (vgl. die Inkarnation nach Lk 1 und das Dogma der ›Theotokos‹ – Maria Gottesgebärerin – des Konzils von Ephesus 431 AD) und Geist von ihm (Jes 11,2 und Lk 1,35). Hiermit sind die biblischen Eckpfeiler orthodoxer Christologie benannt, die mit derselben Terminologie nun ausgerechnet die Göttlichkeit des Christus beschreibt. 53 Vgl. J.Ev. Hafner : Welche Geschäftsordnung braucht das Religionsgespräch? Zur Konstruktion idealer Dialoge bei Lessing, Lullus und Cusanus, in: K. Kienzler (Hrsg.): Islam und Christentum, 2001, 171 – 188. 54 Man beschränkt sich im Gespräch also nicht etwa auf gemeinsame ethische Weisungen oder auf Verhaltensregeln des guten Zusammenlebens.

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herrschen Freude über viele Gemeinsamkeiten und eine generelle Wertschätzung der Schrift des Anderen als dessen Heiliger Text. Auch in der klassischen Auslegung des Textes von Sure 19 durch Ibn Isha¯q zeigt besonders die Erzählung, ˙ welche friedensschaffende und gemeinschaftbildende Kraft Muslime des 8. Jhs. AD ihren Heiligen Texten zutrauten. Die theologischen Differenzen und Unvereinbarkeiten sind dabei bekannt, man weiß auch um die sachgemäßen Konsequenzen und sucht argumentativ nach Lösungen, muss sich mit der Zeit aber auch der enttäuschten eigenen Erwartung stellen, dass die intendierte Glaubenseinheit außerhalb der literarischen Fiktion nicht herstellbar ist. Hiermit sind zahlreiche Kompetenzen benannt, die das interreligiöse Lernen auch in unserer modernen Zeit prägen.

Ergebnisse Koranische Deute- und Handlungskompetenzen für den Kontakt mit dem Christentum Im Bereich der Begegnung mit dem Christentum kommentiert der Koran nicht nur biblische Texte und christliche Dogmen (vgl. Sure 4:171 f), sondern er nimmt auch auf die Glaubenspraxis und die Begegnung mit zeitgenössischen Christen Bezug, in der sich die ersten Muslime bewähren müssen (negativ in Sure 5:72 – 77 – positiv in Sure 5:83). Die Texte des Korans wollen daher nicht nur abstraktes Glaubenswissen über Jesus vermitteln, sondern der Gemeinschaft der Glaubenden bestimmte Deutekompetenzen und Handlungskompetenzen an die Hand geben. Bei den Deutekompetenzen geht es primär um die Selbstvergewisserung im Glauben und um die Identitätsbildung als Gemeinde. Man kann aber auch fragen: Wie schauen die Christen auf ›mich‹ als Muslim zurück, wenn sie im Koran über sich selber lesen? Bei den Handlungskompetenzen steht ab Mitte des 7. Jhs. AD die Gestaltung des Zusammenlebens mit der christlichen Mehrheitsgesellschaft im Vordergrund. Damit wurde der Koran nebenbei ein Text ›auch für Christen‹ – seien diese nun Konvertiten, welche ihr früheres Glaubensleben im Koran kommentiert fanden, seien es Partner im Religionsgespräch, oder seien es schlichtweg Reichsuntertanen, welche zum Beispiel durch die Kompilation von Korantexten in der Felsendominschrift (692 AD) anhand einer offiziellen Bauinschrift zu lesen bekamen, wie die arabischen Herrscher auf den angestammten christlichen Glauben schauten, und die dies entsprechend kommentierten. 55 Der Vorstellung des Ibn Isha¯q folgend, breiten die Religionen ihre Hl. Schriften (äth. und ar. mushaf) voreinander aus.˙ ˙˙

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Vom Erzählen des Korans in der Tradition zu einer narrativen Korandidaktik im Unterricht Anders als das klassische Religionsgespräch, das argumentativ und disputativ angelegt ist, bewahren sowohl die koranischen Texte als auch ihre frühen islamischen Auslegungen die Bedeutung des Erzählens. Sure 19:1 – 33 erzählt selber schriftzentriert mit vielen Bezügen zu christlichen Texten, verzichtet auf Polemiken und Zurückweisungen, legt dabei aber eine unverwechselbare koranische Erzählspur und setzt auf ein empathisches Werben für die eigene Sache, indem das Gemeinsame nach vorne gestellt wird. In der Logik der Auslegungsgeschichte bei Ibn Isha¯q stiftet die Rezitation des narrativen Textes von Sure 19 auf ˙ diese Weise Frieden zwischen einer Minderheit von Muslimen und einer herrschenden Mehrheit von Christen, unter deren Schutz sie sich auf Anraten des Propheten geflüchtet hatte. Es entsteht dabei die Agenda eines idealen oder idealisierten Religionsgesprächs mit Christen, das trotz der bekannten dogmatischen Differenz die Befähigung zur Empathie und zu befreiendem gemeinsamen Handeln im Narrativ des schriftzentrierten Erzählens beschreibt. Dieses wird unter der Bedingung ermutigt, dass gleichzeitig die nötigen sachlichen Klärungen erfolgen (z. B. in der Deutekompetenz des Argumentativs) und dass eine eigenständige Identität aufgebaut und bewahrt werden kann (z. B. im Performativ), welche auch mit der letztlich enttäuschten Erwartung einer Einheit im Glauben mit den Christen umgehen kann. Man könnte sagen, dass durch diese – auch narrativ bestimmte – Form der Identitätsbildung der Glaubende als Muslim seinen Platz in der Welt gegenüber dem Christen erst findet. Dabei kontextualisiert schon die frühe islamische Auslegung zu Ende des 1. Jhs. H den Text von Sure 19, indem sie ihn auf das christlich-islamische Religionsgespräch der eigenen Gegenwart bezieht. Gleichzeitig wird die Sure an die Sı¯ra des Propheten Muhammad gebunden und die Auslegung damit in einen dogmatisch abgesicherten Erzählrahmen eingefügt. Wenn Schülerinnen und Schüler der europäischen islamischen Migration heute den Koran in die Hand nehmen, dann müssen sie ihn entsprechend auf das eigene Leben beziehen – auch um Handlungskompetenzen für ihren Umgang mit nichtmuslimischen Mitschülern zu erwerben. Steht dabei das Argumentieren vorne an, welche Heilige Schrift denn nun ›Recht‹ habe, so ist dies der Tod des interreligiösen Lernens. Viel eher gelingt es dem Erzählen, Neugier zu wecken, damit der Heiligen Schrift des jeweils anderen gerne zugehört wird, aber auch um die anderen nicht in erster Linie mit fremdem Wissen zu beeindrucken, sondern sie zuallererst mitzunehmen in ›meinen‹ Heiligen Text, als eine Deutegeschichte dessen, was ›mir‹ in meinem Leben wichtig ist, soweit ich darin Einblick gewähren mag. Dies öffnet auch Verständnis dafür, warum die Performanz solcher Texte in ›meinem‹ Leben wichtig ist. Dass in diesem Prozess auch

Erzählen schafft Gemeinsamkeit – Argumentieren schafft Klarheit

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dem klärenden Argument wichtige Funktionen zukommen, habe ich oben ausführlich beschrieben. Es geht mir an dieser Stelle aber um die Frage des didaktischen Ansatzes, und in diesem Sinne wäre die spannende Geschichte der narrativen Korandidaktik ausgehend von der islamischen Überlieferung für heutigen Unterricht weiter zu schreiben.56

56 Vgl. H.H. Behr ; W. Haußmann; F. van der Velden: Yu¯suf oder Josef ? – Eine Probe dialogischer Didaktik in der Lehrerbildung, in: F. van der Velden (Hrsg.), Die Heiligen Schriften des Anderen. Bibel und Koran im christlichen und islamischen Religionsunterricht einsetzen, v& r-unipress Göttingen 2011, 219 – 240.

Teil III – Best-practice-Beispiele aus dem christlich-islamischen Tandem-Unterricht

Christiane Ritter / Mehmet Sevki Yavuz

Jesus – interreligiöser Kompetenzerwerb in einem islamisch-christlichen Gespräch über die asba¯b an-nuzu¯l von Sure 19 (Maryam)

1.

Bericht der Präsentation – Am anderen für das Eigene lernen Christiane Ritter

Die Diskussion im Rahmen der Präsentation für das fachwissenschaftliche Wochenendseminar in Kairo führte unsere Gruppe zu der grundlegenden Fragestellung: Welche Zielsetzung hat ein theologisch qualifizierter interreligiöser Dialog? Als kritisch formuliertes Gegenbild diente die häufig zu beobachtende Erwartungshaltung der Gesellschaft, welche einen gemeinsamen Werteabgleich und ein gutnachbarliches Zusammenleben im Sinne des Weltethos-Gedankens umfasst, aber ohne theologische Grundlagenauseinandersetzung und ohne das (wirkliche) Kennenlernen des anderen. Unser Ziel sollte dagegen die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Religion des anderen sein, um langfristig Parallelgesellschaften zu vermeiden. Also eine gesellschaftlich angesiedelte, theologisch begründete Auseinandersetzung. Es wurden einige grundlegende Kompetenzen innerhalb der Diskussion eruiert. Diese wurden durch die sogenannte »Küchentheologie« (am Küchentisch der DEO) von den Praktikanten selbst am Sujet Jesus im Kontext eines interreligiösen Gesprächs entwickelt: – Kommunikationsfähigkeit – Beginn mit Gemeinsamkeiten, dann Unterschiede ›teilen‹ – Reflexion der Gesprächssituation – authentische Position als Person des Glaubens oder als Religionswissenschaftler differenzieren und differenziert wahrnehmen – Unterschiede aushalten – Perspektivenwechsel einüben – Strategien für den Umgang mit Unterschieden entwickeln – auf ein gemeinsames Ziel einigen, um pragmatische Lösungen zu finden.

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Christiane Ritter / Mehmet Sevki Yavuz

Als Problem wurde in der Auseinandersetzung das Beharren auf dem eigenen Vorverständnis wahrgenommen – diese Strategie wurde bereits bei Klärung der eigenen Erwartungshaltungen beobachtet. Dagegen sollten von Religionspädagogen im Unterricht Optionen und Freiraum zu diesem Selbstverständnis ermöglicht werden. Als grundlegend für interreligiöses Lernen wird als Basiskompetenz folgendes erkannt: Vielfalt im Eigenen als bereichernd erfahren, damit eine interreligiöse Begegnung überhaupt sinnvoll geführt werden kann. Entscheidend ist also der reflexive Rückbezug auf sich selbst im Blick auf das eigene Vorverständnis.

2.

Fachwissenschaftliche Aspekte einer theologischen Präzisierung

Kommt man mit seinem Gegenüber in ein interreligiöses Gespräch über den Glauben, führt dies häufig zu der Frage: »Wer war Jesus und wer ist dieser für Deine Religion?« Muslime werden mit dieser Frage in Bezug auf die Propheten konfrontiert. Für Christen ist Jesus Christus neben dem Namengeber ihrer Religion die menschliche Offenbarung Gottes. Im Folgenden werden fachwissenschaftliche Aspekte einer theologischen Präzisierung aus christlicher und muslimischer Perspektive formuliert.

2.1

Christliche Perspektive

Der christliche Glaube ist in grundlegender Weise auf Jesus Christus bezogen. Mit ihm werden untrennbar die Identität und das Wesen des christlichen Glaubens verbunden. In seiner Person, seinem Wirken und seinem Leben hat Gott sich nach christlichem Verständnis selbst offenbart. Nicht in der Kundgabe von Aussagen oder Lehrsätzen, sondern in der menschlichen Natur Jesu Christi (›Menschwerdung Gottes‹) zeigt sich die Offenbarung Gottes.1 Die wissenschaftliche theologische Perspektive auf Jesus gibt zwei Richtungen vor. Dem Blick auf den historischen Jesus schließt sich die Reflexion der Bedeutung des nachösterlich gesehenen Christus für die Gläubigen an. Sie bilden die Grundlagen des christlichen Glaubens. Der Umgang der christlich theologischen Fachwissenschaft mit biblischen Texten zeichnet sich durch einen exegetischen Zugang aus. Die Methoden, derer sich die Exegese bedient, entsprechen hierbei den Methoden der wissenschaft1 Vgl. W. Härle: Dogmatik, 3. Auflage, Berlin 2007, 89 ff.

Jesus – interreligiöser Kompetenzerwerb

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lichen Auslegung anderer historischer Texte. Ziel ist es, die Texte zu verstehen. Dies führt bezüglich Jesus zu der Frage, was die Autoren der vier Evangelien den direkt oder indirekt von ihnen angesprochenen Lesern mitteilen wollten und wie diese ursprünglichen Leser den Text damals verstehen konnten.2 In einem zweiten Schritt wirft dies die Frage auf, welche Bedeutung dem historischen Jesus für die gegenwärtige christologische Besinnung und die sich dabei ergebende Annahme der Einheit Jesu mit Gott zukommt.3 Hierzu gibt es zahlreiche theologische Denkrichtungen. Für das christliche Verständnis von Jesus ist zunächst die Frage nach den Quellen über den historischen Jesus entscheidend. Die Quellenlage aus innerbiblischen und außerbiblischen Texten macht die Rekonstruktion einer Biographie Jesu unmöglich. Einige Berichte werden historisch als Legenden betrachtet, die nachösterlich den Glauben an die Gottessohnschaft Jesu bereits voraussetzen.4 Das genaue Geburtsjahr der geschichtlichen Gestalt Jesu lässt sich nicht klären, jedoch kann grob berechnet werden, dass Jesus wohl einige wenige Jahre vor Beginn unserer Zeitrechnung geboren wurde. Wahrscheinlich erscheint, dass er sich von Johannes dem Täufer taufen ließ und um das Jahr 30 AD öffentlich in Galiläa auftrat. Eine genaue Angabe des Todesjahres lässt sich ebenso nicht klären, doch lässt sich ein ungefährer Zeitraum im Blick auf die Amtszeit des römischen Präfekten Pontius Pilatus von 26 – 36 AD eingrenzen. Ohne hier zu sehr ins Detail gehen zu wollen, lässt sich nach Hans Conzelmann und Andreas Lindemann dem Schreiber des Johannesevangeliums eine theologische Begründung der zeitlichen Beschreibung von Jesu Kreuzigung zuschreiben (Parallelisierung Jesu mit dem Passalamm). Anders als in den drei synoptischen Evangelien starb Jesus nach Johannes nicht am zweiten Tag des Passafestes, sondern am ›Rüsttag‹.5 Dies zeigt beispielhaft die kritisch-reflektierende Herangehensweise, die Rückfragen an den Text, den Autor und die historische Entstehungsgeschichte erlauben und einfordern. Diese steht prägend für das christlich-theologische Bibelverständnis. Für den interreligiösen Dialog bereitet die Trinitätslehre große Verstehensund Verständigungsschwierigkeiten. Der Kern dürfte darin bestehen, dass von drei göttlichen Personen gesprochen wird. Zugleich wird jedoch beschrieben, dass es sich nur um einen einzigen Gott handelt.6 Da die Begrifflichkeit der

2 Vgl. H. Conzelmann; A. Lindemann: Arbeitsbuch zum Neuen Testament, 14. Auflage, Tübingen 2004, 1 f. 3 Vgl. U. Kühn: Christologie, Göttingen 2003, 53 f. 4 Vgl. H. Conzelmann; A. Lindemann (2004) 460 f. 5 Vgl. H. Conzelmann; A. Lindemann (2004) 445 – 447. 6 Vgl. W. Härle (2007) 385.

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Personen missverstanden werden kann und daher als umstritten gilt,7 gibt es den Grundbegriff der Perichorese. Dieser bringt das »Ineinandersein und die gegenseitige Durchdringung der göttlichen Personen zum Ausdruck. Gott ist also gemäß der Trinitätslehre durch eine differenzierte Form von Relationalität strukturiert. Vereinfacht könnte man sagen: Gott ist Beziehung.«8 Nach der Trinitätslehre ist die Auferstehung Jesu konstitutiv für die Gottheit des Vaters wie für die Gottessohnschaft Jesu. Ohne die Auferstehung wäre der von Jesus verkündigte Vater nicht Gott. In der Geschichte des Sohnes geht es also um die Gottheit des Vaters selbst.9 »Dass aber in der Selbstunterscheidung Jesu vom Vater die Gottheit des Sohnes in ihm aufscheint, das ist das Werk des Heiligen Geistes.«10 Zusammenfassend lässt sich feststellen: Der christliche Glaube stützt sich auf eine Gestalt der Geschichte. Insofern ist die Rückfrage nach dem ›historischen Jesus‹ und der Differenz zum nachösterlichen Glauben an Jesus, den Christus, als Teil der Trinität von grundlegender Bedeutung. Von christologischem Interesse ist dabei auch das Verhältnis von Jesus zu Gott. Die Beschäftigung mit diesen Themen soll Christen dazu befähigen, sowohl im Zuge der Selbstklärung ihres Glaubens als auch im Gespräch mit Andersdenkenden ihren Glauben an Jesus von Nazareth, den Christus, heute mit Gründen zu artikulieren.11

2.2

Muslimische Perspektive Mehmet Sevki Yavuz

Zwischen Christentum und Islam gibt es sowohl viele Unterschiede als auch zahlreiche Gemeinsamkeiten, genauso in puncto Jesus. Muslime glauben, dass Jesus einer der bedeutendsten Gesandten des allmächtigen Gottes war, aber auch gleichzeitig ein Diener dessen, wie jeder andere Mensch auch. Er war der letzte Prophet vor Mohammed. Dies wird im Folgenden authentischen Hadith (Ausspruch des Propheten) bestätigt: »Ich bin der Nächste zum Sohn der Maria, und alle Propheten sind Brüder väterlicherseits, und es war kein Prophet zwischen ihm (Jesus) und mir« (Sah¯ıh al-Buha¯ri: Nr. 3442).12 ˙ ˙ ˘

˘

7 Der Personenbegriff kann leicht tritheistisch missverstanden werden. (vgl. K. von Stosch: Einführung in die Systematische Theologie, 2. Auflage Paderborn 2009, 57). 8 K. von Stosch (2009) 56 f. 9 Vgl. W. Pannenberg: Grundfragen systematischer Theologie. Gesammelte Aufsätze. Band 2, Göttingen 2011, 123. 10 W. Pannenberg (2011) 124. 11 Vgl. U. Kühn (2003) 92 ff. ˇ a¯mi as-Sah¯ıh, 1. Auflage, Da¯r tawq an-nagˇa¯h, Beirut 2001. 12 Al-Buha¯rı¯: al-G ˙ ˙ ˙ ˙ ˙ ˘

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Jesus – interreligiöser Kompetenzerwerb

˘

An drei Stellen des Korans wird Jesus als »al-ması¯hu ¯Isa¯ bnu Maryama« ˙ bezeichnet (Sure 3:45; 4:157.171), der Messias Jesus, Sohn der Maria. Anstelle von Messias kann hier ması¯h auch mit Christus (der Gesalbte) übersetzt wer˙ den.13 Insgesamt 33mal wird er im Koran mit der kürzeren Form ›Sohn Marias‹ bezeichnet. Hier wird deutlich, dass Maria, die Mutter Jesu, eine besondere Rolle spielt. Weiterhin gestärkt wird ihre Besonderheit dadurch, dass sie die einzige Frau ist, die namentlich im gesamten Koran erwähnt wird. »Der Titel Sohn Maria im Koran ist ein Ausdruck für die Überzeugung von der Jungfrauengeburt Jesu; darüber hinaus ist er auch eine pointierte Antithese zur christlichen Bezeichnung Jesu als Sohn Gottes. ¯Isa¯ Ibn Maryam – das meint: Jesus ist der Vaterlose schlechthin. Er hat weder einen irdischen noch einen himmlischen Vater.«14 Die christliche Trinitätslehre, bzw. die Vorstellung von Jesus als dem Sohn Gottes und inkarniertem Gott zugleich, bildet den Hauptunterschied zwischen der christlichen und islamischen Gottesvorstellung. Der Glaube an den einen Gott ist im Islam das oberste Gebot und der erste Teil der ˇsaha¯da (das islamische Glaubensbekenntnis), die erste der fünf Säulen des Islam. Dieser besagt, dass es keine andere Gottheit gibt außer Gott selbst, d. h., dass niemand außer Gott es verdient, angebetet zu werden, und dass ihm nichts gleichsteht. Der zweite Teil umfasst das Bekenntnis Muhammads als Diener und Gesandter Gottes. Auf dieser ˇsaha¯da basiert der gesamte islamische Glaubensartikel, denn sie bestätigt die Einheit Gottes.15 Jesus war ein Mensch, der durch ein Wunder von der Jungfrau Maria geboren wurde. Er war ein Prophet, der von Gott berufen wurde, genauso wie Adam, Abraham, Mohammad etc. Im Koran werden insgesamt 25 Propheten namentlich erwähnt, deren einheitliche Aufgabe darin bestand, die Botschaft Gottes zu verkünden und das Volk, zu dem sie gesandt wurden, vor dem Gericht zu warnen.16 »Das Jesusbild des Koran ist sympathisch: Hier begegnet uns ein vernünftiger Jesus, ein wirklicher Prophet – aber eben nicht Jesus Christus, Gottes eingeborener Sohn.«17 Vers 157 der vierten Sura (an-nisa¯’) zufolge wurde Jesus weder gekreuzigt noch getötet. Noch im selben Vers folgt die bekannte, mit »sondern dies wurde ihnen nur vorgetäuscht« wiederzugebende Stelle. Diese ist die im ˘

13 Vgl. dazu Chr. Böttrich; B. Ego; F. Eißler: Jesus und Maria in Judentum, Christentum und Islam, Göttingen 2009, 151. 14 M. Bauschke: Jesus im Koran und im Islam, in: W. Zager (Hrsg.): Jesus in den Weltreligionen, Neukirchen-Vluyn 2004, 65. 15 Vgl. R. Aslan: Kein Gott außer Gott. Der Glaube der Muslime von Muhammad bis zur Gegenwart, München 2006, 171. 16 Vgl. dazu E.M. Caner ; E.F. Caner : Das ISLAM-Handbuch. Antworten auf die wichtigsten Fragen aus christlicher Sicht, Wuppertal 2004, 106. 17 H.-M. Barth: Ist Jesus Christus noch zu retten?, in: W. Zager (Hrsg.): Jesus in den Weltreligionen, Neukirchen-Vluyn 2004, 3.

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Koran am meisten umstrittene Stelle, da sie »von der Wortbedeutung wie auch von den grammatikalischen Bezügen her«18 nicht eindeutig zu verstehen ist. Jesus ist weder auferstanden noch ist er für die Sünden der Menschheit gestorben. Jedoch hat er auch aus islamischer Hinsicht mit der Erlaubnis Gottes Wunder gewirkt, um die Menschen um ihn herum zu überzeugen. Daraus resultierend wurde er auch als Magier oder Wahrsager bezeichnet. Weiterhin hat er bereits als neugeborenes Kind reden können und im Laufe seines Lebens Kranke geheilt, Tote lebendig gemacht, Speisen vermehrt, Blinde sehend gemacht.19 Selbst seine jungfräuliche Geburt war ein Wunder – durch den einfachen Befehl Gottes ›Sei!‹ ist sie geschehen (Sure 3:59). In der Offenbarung der Muslime wird auch darauf hingewiesen, dass die Aussage ›Allah ist der Messias, der Sohn der Maria‹ nicht mit der Lehre des Islams übereinstimmt (Sure 5:72). Die Muslime sehen den Opfertod Jesu als inakzeptabel an, da nach den Aussagen des Korans keine Seele die Last einer anderen trägt (Sure 6:164). Vielmehr nahm Gott ihn in den Himmel auf, um ihn zu retten. Dies weist daraufhin, dass Jesus nach dem Verständnis des Islams nicht gestorben ist, sondern im Himmel lebt und erst nach seiner Wiederkunft sterben wird. Die spätere Theologie unterstützt diese Meinung.20 Doch auch in innerislamischen Kreisen gibt es Uneinigkeiten in diesem Zusammenhang. »Dem Koran selbst ist […] nicht mit Eindeutigkeit zu entnehmen, wie und wann Jesus starb und wie das Erhobenwerden zu Gott letztlich zu verstehen ist.«21

3.

Mehr als ein Stein des Anstoßes – Jesus im Religionsgespräch

3.1

Eine christliche Perspektive Christiane Ritter

Konstruktive interreligiöse Gespräche finden nach meiner Erfahrung dann statt, wenn zentrale Glaubensinhalte zwischen den Gesprächspartnern geklärt werden, und wenn sie deutlich benannt werden. Grundvoraussetzung einer solchen Fundamentlegung ist die Bereitschaft, sich auf die Theologie der eigenen und der fremden Religion einzulassen und sich der fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung und Interpretation zu öffnen. Auf Grundlage der vorangegangenen theologischen Präzisierung ergibt sich nun die grundsätzliche Überlegung, wie ein interreligiöser Dialog angelegt sein muss. Die Auseinandersetzung mit der 18 19 20 21

Ch. Böttrich; B. Ego; F. Eißler (2009) 172. Vgl. dazu E.M. Caner ; E.F. Caner (2004) 55. Vgl. Ch. Böttrich; B. Ego; F. Eißler (2009) 174. A.a.O., 175.

Jesus – interreligiöser Kompetenzerwerb

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Thematik Jesus ist für das interreligiöse Gespräch zwischen Christen und Muslimen von zentraler Bedeutung. Nach meiner Erfahrung werden die Natur und die Rolle von Jesus, und damit die Frage der Trinität, häufig zu einem zentralen Diskussionspunkt, zu einem Stein des Anstoßes22 innerhalb des Religionsgesprächs – sei es in privaten Unterhaltungen am Küchentisch der Praktikanten in Kairo oder im Kooperativen Religionsunterricht an der Deutschen Evangelischen Oberschule. Lassen Sie mich meine persönliche Einschätzung in einem Bild beschreiben. Für den interreligiösen Dialog müssen die Teilnehmer die Bereitschaft mitbringen, ein Stück des Weges miteinander zu gehen. Nun gibt es drei Möglichkeiten, mit einem solchen Stein auf dem Weg umzugehen: (1) Beide Dialogpartner ignorieren ihn und riskieren damit, über ihn zu stolpern, sich an ihm zu stoßen. Ein solcher Stein kann sogar zu einer Waffe werden. (2) Die Gesprächsteilnehmer legen ihn gemeinsam wissentlich beiseite und nehmen ihn somit bewusst aus dem Blickpunkt der Diskussion. Dieser Umgang führt dazu, dass dieser Stein zu passenden und zu unpassenden Gelegenheiten herausgeholt werden kann. (3) Die Protagonisten heben den Stein gemeinsam auf, nehmen ihn bewusst als Stein des Anstoßes wahr, nehmen ihn als solchen ernst, betrachten ihn gemeinsam aus der Nähe. Mit einem solch bewegten Stein in der Hand lässt sich der Weg der Verständigung weitergehen. Neben dieser bewussten Unterscheidung gibt es für mich noch ein wichtiges Differenzierungsmerkmal. Zwischen dem Austausch persönlicher Glaubensinhalte und einem interreligiösen Dialog sollte wissentlich zu differenzieren sein. Ein Austausch über persönliche Glaubensinhalte auf rein subjektiver Ebene kann in den Grenzen eines Dialogs erfolgen. Innerhalb dieser Grenzen sollte man auch die objektive Ebene betreten, indem man Gemeinsamkeiten benennt, sich gegenseitig Unterschiede vorstellt und auf Augenhöhe ins Gespräch kommt. Nennenswertes Ziel dieses interreligiösen Dialogs ist es, sprachfähig zu werden. Es geht nicht darum, die religiösen Differenzen in ihrer Bedeutung kleinzureden, es gilt jedoch, sich auf wissenschaftlich fundierter Ebene auf einem Fundament der gemeinsamen religiösen Erfahrungen zu treffen. Dies ist ein wesentlicher und gewinnbringender erster Schritt mit dem Ziel eines respektvollen Gesprächs – der erste Schritt der Verständigung. Der Päpstliche Rat für den Interreligiösen Dialog differenziert im Kontext eines religiösen Pluralismus: Neben dem theologischen Dialog nennt er den 22 Vgl. M. Bauschke: Jesus – Stein des Anstoßes. Die Christologie des Koran und die deutschsprachige Theologie, Köln 2000.

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Dialog des Lebens, den Dialog des Handelns und den Dialog der religiösen Erfahrungen.23 Für mich stellen die vier Formen des Dialogs eine Art Viereck dar, wobei diese sich gegenseitig bedingen und nicht hierarchisch angeordnet werden sollten. In einer globalisierten Welt, in der sich zunehmend multireligiöse Gesellschaften bilden, spielen Frieden, Gerechtigkeit und gegenseitiges Verständnis eine zentrale Rolle. Die Betonung nur einer Dialogform ist für mich zu kurzsichtig. Ein interreligiöser Dialog, der beispielsweise nur auf die eigene theologische Weiterbildung und Dialogfähigkeit der Gesprächspartner hin angelegt ist und dort stehen bleibt, kann einem »von offener und gut nachbarschaftlicher Atmosphäre geprägten Zusammenleben der Menschen«24 nicht entsprechen. Dennoch nimmt der theologische Dialog eine wichtige Rolle in Bezug auf die anderen Formen, denn er dient der fundierten Rückbesinnung auf reflektierte Theologie.

3.2

Interreligiöser Dialog aus muslimischer Perspektive Mehmet Sevki Yavuz

Um einen interreligiösen Dialog zu führen, sollte ein Muslim drei wesentliche Punkte beachten. Zunächst einmal soll ein Muslim in der besten Umgangsform mit anderen debattieren (Sure 16:125). Man soll die Geduld bewahren und seine Meinung überlegt zum Ausdruck bringen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Anerkennung, dass Gott allein die Möglichkeit besitzt, die Menschen rechtzuleiten. Der Koran sagt in der Sure 11 (Hu¯d) 118: »Und hätte dein Herr es gewollt, so hätte Er die Menschen alle zu einer einzigen Gemeinde gemacht; doch Er hat sie verschieden gelassen, und so werden sie immer bleiben.« Dieses ethische Prinzip ist die Basis für die Erkenntnis von der unausweichlichen, gottgegebenen Pluralität der Gesellschaft. Daher steht fest, dass man Anhängern anderer Religionen weder Missgunst noch Vorurteile entgegenbringen darf. Der dritte Punkt für einen Dialog ist Ernsthaftigkeit, die aus Respekt dem anderen gegenüber zu zeigen ist. Genauso soll man sich aus dem Geschehen zurückziehen, wenn der Gesprächspartner sich über den Glauben lächerlich macht oder einen nicht ernst nimmt (Sure 4:140). Wichtig ist es, die Ruhe zu bewahren und sich nicht über die Ansichtsweise der anderen zu ärgern. Jesus, der »nur ein Gesandter« (Sure 5:75) war, ist ein wesentliches Thema für die Entstehung einer 23 Vgl. M. Tautz (Hrsg.): Interreligiöses Lernen im Religionsunterricht. Menschen und Ethos im Islam und Christentum, Stuttgart 2007, 88; nach: Päpstlicher Rat für den Interreligiösen Dialog, Dialog und Verkündigung, Nr. 42 (erschienen in: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz [Hrsg.]: Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 102, Bonn 1991). 24 Ebd.

Jesus – interreligiöser Kompetenzerwerb

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Geschäftsordnung eines christlich-muslimischen Religionsgesprächs, weil es viele Gemeinsamkeiten bietet. Diese Gemeinsamkeiten sind auch der wesentliche Grund, der im Falle einer erheblichen Beleidigung der Person Jesu Christi eine gemeinsame Protestaktion der beiden Religionsangehörigen überhaupt ermöglicht.25 Im Koran gibt es viele Geschichten über das Leben und die Lehre Jesu. Neben seiner wunderbaren Geburt, den Wundern, die er mit Gottes Erlaubnis ausgeführt hat, seinem Leben, das er als angesehener Prophet Gottes geführt hat, erinnert der Koran seine Leser an die reine Menschlichkeit Jesu, der von Gott erschaffen und von der Jungfrau Maria geboren wurde, ohne den Eingriff eines menschlichen Vaters. Damit ein erfolgreiches Gespräch gelingen kann, sollten ein Muslim und auch ein Christ in der Lage sein, den Unterschied zwischen dem islamischen Glauben an Jesus und dem christlichen Glauben zu erkennen und zu tolerieren. Andernfalls würde es zu Missverständnissen kommen, die ein Gespräch hindern würden. Von der jeweiligen Glaubensgemeinschaft kann nicht verlangt werden, dass sie »zur Anerkennung fremder kultureller Identität die eigene aufzugeben«26 habe. Für einen Muslim ist es eine Unerlässlichkeit, an alle Propheten zu glauben, die Gott gesandt hat, unter anderem an Jesus.27 Der Koran verweist eindeutig auf eine besondere Stellung Jesu, die sich besonders in seiner Beziehung zu Gott unterscheidet. Jedoch weist der Koran die christliche Ansicht über Jesus als ›Gottes Sohn‹ deutlich zurück (Sure 4:171). Der Koran drückt eine besondere Beziehung zwischen Jesus und dem Heiligen Geist aus: »…Und Jesus, dem Sohn der Maria, haben wir die klaren Beweise … gegeben und ihn mit dem heiligen Geist gestärkt« (Sure 2:253). Das Kennenlernen des anderen gehört zum wichtigsten Bestandteil eines Dialogs. Auch zur Lösung von Problemen, bzw. zur Vermeidung von Konflikten ist das Kennenlernen die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben, das die Vielfalt der Menschen als eine Bereicherung achtet. Bereits nach einer ersten kurzen Auseinandersetzung mit dem islamischen Glauben ist nicht zu bestreiten, dass diese Religion buchzentrierter ist als das Christentum. In der Alltagsgestaltung und der Lebensweise eines Muslims haben der Koran und die Hadithe einen stärkeren Einfluss als das Neue Testament auf die Christen. Die islamischen Quellen sind schon seit ihrer Entstehung von großer Relevanz und haben nichts von ihrer Dynamik verloren.28 Diese Schriften bedeuten für den 25 Vgl. M. Bauschke (2004) 81. 26 Chr. Walter: Religiöse Toleranz im Verfassungsstaat – Islam und Grundgesetz, in: H. Lehmann (Hrsg.) Koexistenz und Konflikt von Religionen im vereinten Europa, Göttingen 2004, 98. 27 Vgl. M. Bauschke (2004) 80. 28 Vgl. H. Bobzin: Der Koran. Eine Einführung, München 1999, 7.

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˘

Muslim dasselbe, was Jesus, der Christus, für Christen bedeutet. Somit ist der christliche Glaube mehr personenzentriert. Nach christlicher Ansicht ist Jesus fleischgewordener Gott und verkündet als Person den Menschen die Worte Gottes. Im Islam spricht Gott im Koran zu den Menschen mit verschiedenen ¯ l Imra¯n finden Arten der Rede, weil die Menschen verschieden sind. In Sure A wir : »Sie (die Menschen) sind aber nicht (alle) gleich« (Sure 3:113). Diese und mehrere weitere koranische Stellen bieten sich für einen einleitenden Einstieg in ein interreligiöses Gespräch an. Abschließend zitiere ich Hans Küng, der schrieb: »Der Dialog zwischen den Kulturen könnte die Menschheit in eine Ära des Friedens und gemeinsamen Miteinanders führen. Wenn wir all unsere Anstrengungen auf die Institutionalisierung des Dialogs richten, die Feindseligkeiten und Konfrontationen durch Diskurs und gegenseitiges Verstehen ersetzen, dann werden wir künftigen Generationen ein unschätzbares Erbe hinterlassen.«29

4.

Interreligiöser Dialog im schulischen Kontext Christiane Ritter

Die religiöse Pluralität einer Gesellschaft lässt die Konflikte zwischen religiösen Gruppen eher zu- als abnehmen. Diese Spannungen können als Chance gesehen werden, die eigene wie die Religion des anderen verstehen zu lernen. Die Fähigkeit, Religion zu verstehen und bewusst an ihr teilzuhaben oder nicht teilzuhaben, ist das Ergebnis von Bildung, nicht von Erziehung.30 Bereits am 5. November 1219 AD fand eine interreligiöse Begegnung in Damiette am Nildelta in Ägypten statt. Nach der Überlieferung versuchte Franz von Assisi (1182 – 1226 AD) auf dem fünften Kreuzzug bei Sultan al-Malik al-Ka¯mil vorstellig zu werden. Ziel war jedoch kein interreligiöser Dialog, sondern die Bekehrung zum christlichen Glauben. Der ägyptische Sultan erwog keine Konversion, hörte dem Bettelmönch aber ›mit Nachsicht‹ zu. Die Tagzeitenliturgie der Mönche verglich Franz von Assisi mit dem fünfmaligen Gebet der Muslime und ermutigte dazu auch die Laien.31 Dieses Gespräch nahm Franz von Assisi »in der Überzeugung, eine Friedensmission könne den Kriegen im Heiligen Land Einhalt gebieten«32 auf. Was lernen wir aus einem Dialog, der vor rund 800 29 H. Küng: Der Islam, Geschichte, Gegenwart und Zukunft, München 2004, 776. 30 Vgl. L. Kuld: Standards ohne Kompetenzmodell? – Anfragen an die Bildungsstandards für Katholische Religionslehre/Grundschule Baden-Württemberg, in: C.-P. Sajak (Hrsg.): Bildungsstandards für den Religionsunterricht – und nun? Perspektiven für ein neues Instrument im Religionsunterricht, Berlin 2007, 149 – 160, 151. 31 Vgl. St. Leimgruber : Interreligiöses Lernen, München 2007, 177. 32 Vgl. K. Görich; H.-M. Körner ; R. Leinfelder ; W. Schulze; R. Vollkommer ; A. Wirsching:

Jesus – interreligiöser Kompetenzerwerb

143

Jahren und etwa 250 Kilometern von der Deutschen Evangelischen Oberschule entfernt stattfand? Religionsunterricht hat (unter anderem) das Ziel der Vermittlung von Kompetenzen, welche die Schülerinnen und Schüler zu einem interreligiösen Dialog befähigen. Um Missionierung geht es hierbei keinesfalls. »Interreligiöses Lernen oszilliert zwischen den Polen: ›eine eigene religiöse Identität ausbilden‹ und der ›Verständigung‹ mit Angehörigen anderer Religionen. Stets sollte es den Schülerinnen und Schülern entwicklungsgerecht angeboten werden und sie nicht überfordern.«33 Stephan Leimgruber unterscheidet zwischen einem engeren und einem weiteren Sinn des interreligiösen Lernens. Ersteres meint, fremde Religionen und deren religiöse Praxis und Struktur durch Medien (beispielsweise durch Bücher) zur Kenntnis zu nehmen. Interreligiöses Lernen im engeren Sinne geschieht durch die persönliche Begegnung von Angesicht zu Angesicht. Dieses Lernen geschieht authentisch und unmittelbar und wirkt daher nachhaltiger und prägender.34 Im Kooperativen Religionsunterricht erfahren wir eine besondere Situation. In einer deutschen Schule evangelischer Trägerschaft wird in der gymnasialen Oberstufe ein Religionsunterricht für Angehörige aller Konfessionen (evangelisch, katholisch, koptisch), Religionen (Muslime, Christen) sowie für konfessionslose Schülerinnen und Schüler angeboten und durchgeführt. Diese besondere Begegnungsform entspricht nach Leimgruber einem Lernen auf »dem Königsweg«35, denn er ermöglicht die authentische Begegnung und interreligiöses Lernen von Angesicht zu Angesicht. Nun stellt sich die Frage, in welchem Kompetenzrahmen dieser auf authentische Begegnung und interreligiöses Lernen ausgerichtete Religionsunterricht stattfinden kann. Es gibt mehrere Kompetenzmodelle36, die für eine exemplarische Entwicklung von Lernzielen infrage kommen. Ein Forscherteam um Volker Elsenbast37 entwickelte ein Kompetenzmodell, das die Dimensionen religiöser Kompetenz in zwei Richtungen entfaltet: einerseits als objektivierbare Erscheinungsformen religiöser Wirklichkeit, andererseits als Dimension der Erschließung von Religion, die als fachspezifische Methoden gelten können:

33 34 35 36 37

Franz von Assisi predigt dem Sultan, in: Blüte und Herbst des Mittelalters 1204 – 1492. Wissen Media Bd. 9, Gütersloh/München 2008, 50. St. Leimgruber (2007) 113. Vgl. St. Leimgruber : Neue Wege interreligiösen Lernens. In: L. Kuld; B. Schmid (Hrsg.): Islamischer Religionsunterricht in Baden-Württemberg. Zur Differenzierung des Lernfelds Religion, Berlin 2009, 71 – 86, 74 f. St. Leimgruber (2007) 21. Vgl. beispielsweise C.P. Sajak (2007); D. Benner : Bildungsstandards und Qualitätssicherung im Religionsunterricht, in: theo-web.de 3 (2004) Heft 2, 22 – 36. Vgl. V. Elsenbast; D. Fischer (Hrsg.): Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung. Zur Entwicklung des evangelischen Religionsunterrichts durch Bildungsstandards für den Abschluss der Sekundarstufe I, Münster 2006, 17 – 21.

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– Perzeption: wahrnehmen und beschreiben religiös bedeutsamer Phänomene – Kognition: verstehen und deuten religiös bedeutsamer Sprache und Glaubenszeugnisse – Performanz: gestalten und handeln in religiösen und ethischen Fragen – Interaktion: kommunizieren und beurteilen von Überzeugungen mit religiösen – Argumenten und im Dialog – Partizipation: teilhaben und entscheiden: begründete (Nicht-)Teilhabe an religiöser und gesellschaftlicher Praxis. Das Modell »Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung« nach Volker Elsenbast u. a.38 wird im Folgenden um die Dimension exemplarisch entwickelter Lernziele (kursiv gekennzeichnet) erweitert, die in der Unterrichtssequenz ›Jesus‹ im Kooperativen Religionsunterricht aus christlicher Perspektive Anwendung finden können. Die Formulierung der Kompetenzen wird um die Dimension der Bezugsreligion der islamischen Religionspädagogik (kursiv gekennzeichnet) erweitert.

5.

Kurzer Unterrichtsansatz mit didaktischen Vorüberlegungen Mehmet Sevki Yavuz

5.1

Der Film »The Messenger« im Religionsunterricht

Der Film »Mohammed – Der Gesandte Gottes« (Engl.: The Messenger) wurde im Jahre 1977 vom syrischen Regisseur Moustapha Akkad in Marokko und Libyen gedreht. Parallel zur Verfilmung in englischer Sprache produzierte Akkad auch eine arabische Version mit arabischen Schauspielern.39 Im Film wird die Entstehungsgeschichte des Islam behandelt, unter anderem mit der ersten Auswanderung nach Abessinien. In einem Interview erklärte Akkad, dass seine Motivation für dieses Filmprojekt war, der Welt die Wahrheit über den Islam zu erzählen. Bevor er mit den Dreharbeiten begann, beschäftigte er sich zunächst mehrere Jahre mit dem Leben des Propheten Mohammed. Der Film wird aus der Sicht des Propheten 38 Ebd., 19 f. 39 Vgl. O. Hanif: The Dream That Became A Reality : ’The Message’, in: The Invitation. Islamic Community Magazine, Heft September-Oktober 2011, 20.

Bezugsreligionen des Religionsunterrichts: Christentum unterschiedlicher konfessioneller Prägung und Islam

Dimensionen der Erschließung von Religion Gegenstandsbereiche Subjektive Religion

Perzeption: Kognition: Performanz: Interaktion: Partizipation: Wahrnehmen Verstehen Gestalten Kommunizieren Teilhaben Beschreiben Deuten Handeln Urteilen Entscheiden Kompetenzen 1. Die persönliche Glaubensüberzeugung bzw. das eigene Selbst- und Weltverständnis wahrnehmen, zum Ausdruck bringen und gegenüber anderen begründet vertreten. 2. Religiöse Deutungsoptionen für Widerfahrnisse des Lebens wahrnehmen, verstehen und ihre Plausibilität prüfen. 3. Entscheidungssituationen der eigenen Lebensführung als religiös relevant erkennen und mithilfe religiöser Argumente bearbeiten. 4. Grundformen religiöser Sprache (z. B. Mythos, Gleichnis, Symbol, Bekenntnis, Gebet, Gebärden, Dogma, Weisung) kennen, unterscheiden und deuten. 5. Über das Christentum unterschiedlicher Konfessionen (theologische Leitmotive sowie Schlüsselszenen der Geschichte) und über den Islam Auskunft geben. 6. Grundformen religiöser Praxis (z.B. Feste, Feiern, Rituale, Diakonie) beschreiben, probeweise gestalten und ihren Gebrauch reflektieren. 7. Kriterienbewusst lebensförderliche und lebensfeindliche Formen von Religionen unterscheiden. Exemplarisch entwickelte Lernziele Die Schülerinnen und Schüler lernen sich bezüglich der Frage »Wer ist Jesus für mich?« zu positionieren. Die Schülerinnen und Schüler erlernen die Fähigkeit, die Gleichnisse der Evangelien auf ihre Alltagsplausibilität zu prüfen. Die Schülerinnen und Schüler lernen exemplarisch die Erzählung der Steinigung einer Ehebrecherin (Joh 8,1 –11) kennen und können einen ethischen Bezug auf die eigene Lebensführung übertragen. Die Schülerinnen und Schüler lernen Gebete der Christen (z.B. das Vaterunser) und Muslime kennen, diese zu unterscheiden und zu deuten. Die Schülerinnen und Schüler üben sich in der Unterscheidung des christlichen Jesusbildes und des muslimischen Jesusbildes und können Auskunft darüber erteilen. Die Schülerinnen und Schüler können das Abendmahl als auf Jesus begründete liturgische Feier im Christentum beschreiben und reflektieren. Die Schülerinnen und Schüler lernen Beispiele politischer Instrumentalisierung religiöser Symbolik zu identifizieren.

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Religion als gesellschaftliches Phänomen

Dimensionen der Erschließung von Religion Gegenstandsbereiche Andere Religionen und / oder Weltanschauungen

Perzeption: Kognition: Performanz: Interaktion: Partizipation: Wahrnehmen Verstehen Gestalten Kommunizieren Teilhaben Beschreiben Deuten Handeln Urteilen Entscheiden Kompetenzen 8. Sich mit anderen religiösen Überzeugungen begründet auseinandersetzen und mit Angehörigen anderer Konfessionen bzw. Religionen respektvoll kommunizieren und kooperieren. 9. Zweifel und Kritik an Religionen sowie Indifferenz artikulieren und ihre Berechtigung prüfen. 10. Den religiösen Hintergrund gesellschaftlicher Traditionen und Strukturen (z. B. von Toleranz, des Sozialstaates, der Unterscheidung Werktag/Sonntag) erkennen und darstellen. 11. Religiose Grundideen (z. B. Menschenwürde, Nächstenliebe, Gerechtigkeit) erläutern und als Grundwerte in gesellschaftlichen Konflikten zur Geltung bringen. 12. Religiöse Motive und Elemente in der Kultur (z. B. Literatur, Bilder, Musik, Werbung, Filme, Sport) identifizieren, ideologiekritisch reflektieren und ihre Bedeutung erklären. Exemplarisch entwickelte Lernziele Die Schülerinnen und Schüler werden in der Fähigkeit geübt, einen respektvollen, toleranten interreligiösen Dialog über ihr persönliches Gottes- und Jesusbild zu führen. Die Schülerinnen und Schüler werden zunehmend fähig, die Darstellung Jesu in der Bibel und im Koran wahrzunehmen und zu differenzieren. Die Schülerinnen und Schüler können sich exemplarisch mit der Frage auseinandersetzen, wie Jesus auf dem Hintergrund von Mt. 12, 1 – 9 (Ährenraufen am Sabbat) den verkaufsoffenen Sonntag kommentieren würde. Die Schülerinnen und Schüler entwickeln die Fähigkeit, den christlichen Standpunkt zu gesellschaftlichen Konfliktthemen wie Abtreibung und Euthanasie zu diskutieren. Die Schülerinnen und Schüler üben sich in Betrachtung, Reflexion und Deutung von Jesusdarstellungen in den Bereichen der Musik und der Bildenden Kunst.

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gezeigt, ohne ihn selbst darzustellen. Nach Meinung der Islamgelehrten sind nämlich Bilder verboten und in der heutigen Zeit ist im Falle einer Verbildlichung des Propheten Mohammed eine Unruhe voraussehbar.40 Der Film hatte großen Erfolg in den Kinos und die Filmmusik von Maurice Jarre wurde sogar für den Oscar nominiert. Andererseits löste er auch Reaktionen aus und führte zu Diskussionen. Aus Reihen seiner eigenen Glaubensbrüder wurde der Regisseur angefeindet. Obwohl er das Darstellungsverbot Mohammeds respektierte und darauf bei seiner Filmarbeit besonderen Wert legte, wurde ihm vorgeworfen, dass der Prophet im Film gezeigt werde. Es kam zu Demonstrationen gegen den Film, da er den Islam beleidige.41 Einige islamische Länder boykottierten und verboten den Film. Wahrscheinlich ahnte der Regisseur, was ihn erwartete und ließ deshalb im Vorspann des Films das Einverständnis und die Legitimation der Al-Azhar Universität und auch der schiitischen Fraktion über die Authentizität des Filmes einblenden. Die Anfeindungen gegen Regisseur Akkad nahmen im Laufe der Jahre nicht ab. Nach der Jahrtausendwende war er als einziger muslimischer Regisseur in Hollywood auf der Suche nach Sponsoren für sein neues Filmprojekt zum Leben Saladins, der den meisten Lesern noch von Lessings Ringparabel bekannt sein dürfte. Jedoch kam Regisseur Akkad im November 2005 in Amman, Jordanien, noch vor der Beendung seines Films bei einem Bombenattentat ums Leben. Gegenwärtig wird der Film als ein Meilenstein des Kinos im 20. Jahrhundert bezeichnet. Akkad hat es geschafft, einen sehr empfehlenswerten Dokumentarfilm zu drehen, der heute an Schulen und Universitäten in der Islamlehre eingesetzt wird.42 Im türkischen Fernsehen wird der Film unter dem Namen Cagrı (dt.: der Ruf) jedes Jahr im Ramadan gezeigt – aufgeteilt in mehrere Tage aufgrund der Überlänge von 177 Minuten.43

5.2

Die Filmsequenz zum ›Religionsgespräch in Abessinien‹ im Unterricht

Als Unterrichtsansatz soll den Schülerinnen und Schüler eine Filmsequenz aus dem Film »The Message« (1977) gezeigt werden. Das wesentliche Thema des ausgewählten Filmabschnittes ist der interreligiöse Dialog, der zwischen dem 40 Vgl. M. Ata: Der Mohammed-Karikaturenstreit in den deutschen und türkischen Medien. Eine vergleichende Diskursanalyse, Siegen 2011, 112. 41 Vgl. A.M. Güven: Efsanev„ ’C ¸ ag˘rı’ filmini gerÅekles¸tiren ’rüy– takımı’ s¸imdi nerelerde?, 2012. URL: http://yenisafak.com.tr/Yazarlar/?t=18. 03. 2012& y=AliMuratGuven. Stand: 16. 04. 12. 42 Vgl. O. Hanif (2011) 20. 43 Vgl. A.M. Güven: Efsanev„ ’C ¸ ag˘rı’ filmini gerÅekles¸tiren ’rüy– takımı’ s¸imdi nerelerde?. In: Yeni S¸afak vom 18. 03. 2012. URL: http://yenisafak.com.tr/Yazarlar/?t=18. 03. 2012& y=AliMuratGuven (Stand 23. 12. 2012).

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Christiane Ritter / Mehmet Sevki Yavuz

˘

christlichen Negus (König) Abessiniens und den bei ihm Asyl suchenden Muslimen stattfindet. Der religiöse Dialog mit Andersgläubigen wird immer wichtiger, insbesondere der christlich-islamische Dialog; in dieser Hinsicht dient die Filmsequenz zur Einführung in ein gegenwärtiges Phänomen vor dem Hintergrund einer historischen Begebenheit. Im Film spricht zunächst Dja far, der Führer innerhalb der muslimischen Gruppe, vor dem König. Er schildert die Situation seiner Gemeinde und bringt seine Bitte um Asyl zum Ausdruck. Nach seiner Anhörung kommt es zum Austausch über gemeinsame ethische Argumente, wie z. B. das allgemeine Wohlverhalten, das als eine direkte Folge der Abwendung vom Polytheismus vorgestellt wird. Regisseur Akkad integriert in diese Szene, abweichend von der Sı¯ra des Ibn Isha¯q (Biographie des Propheten Mohammed), ein Gendering˙ Thema. Er tut dies, um ein aktuelles gemeinsames Thema von Christen und Muslimen in das Geschehen einzubringen, nämlich die gleichberechtigte Behandlung der Frau, die zur damaligen Zeit nicht von jedem in der Gesellschaft als selbstverständlich angesehen wurde. Eine Bildung strategischer Allianzen der Muslime und Christen gegenüber den Polytheisten kommt dabei zum Vorschein. Nach der Feststellung der gemeinsamen Sichtweisen über einige zentrale Themen der jeweiligen Religionen möchte der Negus auch die islamische Sichtweise über die Beziehung Jesu zu Gott erfahren. Eine Antwort auf die Frage erfolgt durch Dja far, indem er die Sura 19 (Maryam) rezitiert. Hier fällt auf, dass durch die Rezitation offensichtlich etwas geschieht, was dem Negus ermöglicht, gegenüber den Muslimen Empathie zu entwickeln, ohne sie auf diesen weiterhin bestehenden Punkt der Unterscheidung festzunageln. Der König scheint über den vorgetragenen Text, der die wunderbare Empfängnis Jesu ohne Zutun eines Mannes bestätigt, so verwundert zu sein, dass es ihm für die Gestaltung des gemeinsamen Lebensraums nicht mehr von großer Bedeutung ist, ob die Muslime nun Jesus als Gottes Sohn anerkennen oder nicht. Die inhaltliche Frage des Unruhe stiftenden Quraischiten nach der Stellung Jesu bleibt somit unbeantwortet, sie verliert jedoch für die Frage eines friedlichen Zusammenlebens an Bedeutung, da das viele Gemeinsame diesen Unterschied in den Schatten stellt. Eine eigenartige Konstruktion, über welche nachzudenken lohnt. Nachdem die Schülerinnen und Schüler die Sequenz angeschaut haben, bekommen sie die Möglichkeit, sich darüber auszutauschen. Es ließe sich im Unterricht fragen, ob sich die Schülerinnen und Schüler jemals in einer Situation befanden, in der sie es für notwendig erachtet haben, einer Person über ihre eigene Religion zu erzählen, und welche Erfahrungen sie damit gemacht haben. Bereits die Verbalisierung des Gesehenen erfordert dabei Sorgfalt und Konzentration. Hier werden Gedanken und Emotionen deutlich und es stellt sich heraus, wie die Schülerinnen und Schüler den Dialog wahrnehmen, ob sie die ˘

Jesus – interreligiöser Kompetenzerwerb

149

Szene auf verschiedene Art deuten oder ob eine gemeinsame Vorstellung vorherrscht. Ein interreligiöser Dialog – wie in der Filmsequenz dargestellt – ist ein sensibles Thema, daher sollten die Schülerinnen und Schüler erfahren, wie sie solch einen Dialog selber führen können, und was sie dabei erwartet. Es fordert Präzisierung in der Wortwahl, Vorsicht beim Ausdruck und ein Gefühl für das Reden von Unterschieden und Gemeinsamkeiten. Je nach Aussagen und Stimmungen der Schülerinnen und Schüler soll versucht werden, ihre verschiedenen Wahrnehmungen miteinander zu vergleichen, um eine Diskussion zu ermöglichen, in der sie kommunizieren und die Überzeugungen ihrer Mitschüler beurteilen können. Diese Filmsequenz ist daher vielfältig im Unterricht einsetzbar als ein sehr schönes Beispiel, welches zeigt, wie interreligiöser Dialog erfolgen kann. Fernerhin ist die Szene für den Gewinn eines historischen Einblicks geeignet, wie solche Dialoge in der Frühzeit des Islams vorgestellt wurden.

Aus der nachfolgenden Diskussion: Die Erzählung der so genannten Ersten Hig˘ra nach Äthiopien der Sı¯ra des Ibn Isha¯q ist eine paradigmatische Deutegeschichte, in der Muslime des 2. Jhs. H (8. ˙ Jh. AD) ihre Erwartungen an die Rolle der Heiligen Schriften im Religionsgespräch vorstellen und nebenbei die Geschäftsordnung eines idealen islamischchristlichen Religionsdialoges entwerfen. Wohl gemerkt noch unter der Bedingung des Zusammenlebens mit einer christlichen Mehrheitsgesellschaft, wie diese für den gesamten Orient bis zum 11. Jh. AD historisch nachweisbar ist. Theologisch ist diese Erzählung äußerst vielschichtig, so dass sie an anderer Stelle in diesem Band genauer auf ihre Aussagen, Intentionen und auf das ihr inne wohnende interreligiöse Potential untersucht wird.44

44 Vgl. in diesem Band den Beitrag von F. van der Velden: Erzählen schafft Gemeinsamkeit – Argumentieren schafft Klarheit. Vorüberlegungen für eine narrative Korandidaktik im Religionsunterricht.

Dina Salama / Carmen Trautner

Die Natur des Menschen – eine christliche und islamische Annäherung mit religionspädagogischer und religionsdidaktischer Perspektive

Die Ergründung der Natur des Menschen als Thema dieses Artikels führt zu der Fragestellung ›Was ist der Mensch?‹. Diese Frage impliziert die notwendige Selbstreflexion des Menschen über die Spezies und insbesondere über sich selbst als Individuum. Zur Beantwortung oder Annäherung an diesen komplexen Bereich des menschlichen Daseins sind zahlreiche wissenschaftliche Perspektiven möglich, die sich durch ihre je eigene Anthropologie des Themas annehmen. Die folgende Auseinandersetzung soll aus der Sicht der christlichen theologischen Anthropologie und aus Sicht der islamischen Anthropologie stattfinden, um anschließend einen religionspädagogischen und religionsdidaktischen Diskurs vornehmen zu können.

1.

Was ist der Mensch? – Annäherung aus Sicht der christlichen theologischen Anthropologie

1.1.

Theologische Anthropologie im Diskurs

Die angeführte Frage eröffnet ein »offenes Problemfeld«1, dessen Komplexität in diesem Beitrag lediglich angedeutet werden kann. Anthropologische Fragestellungen sind an sich neben wissenschaftlichen Theorien über den Menschen gekennzeichnet durch das selbstreflexive Nachdenken – und hierbei wird die subjektive Bedeutungsebene dieser Auseinandersetzung deutlich. Nach Wolfgang Schoberth kann nicht von einer rein objektiven Bestimmung des Menschen gesprochen werden, da der Gehalt der Anthropologie eben auch in der reflexiven Beschäftigung mit dem Menschsein zu suchen ist und somit den Blickwinkel auf die Subjektivität richtet. Hierbei werden die Vielgestaltigkeit der Anthropologie 1 W. Schoberth: Einführung in die theologische Anthropologie, Darmstadt 2006, 7.

152

Dina Salama / Carmen Trautner

und die Notwendigkeit der Diskursfähigkeit dieser Perspektiven deutlich, wie sich am Beispiel der Erörterung des Begriffes der Menschenwürde exemplifizieren lässt. Dies sensibilisiert für die Erkenntnis, dass zum Beispiel die biologische Perspektive mit dieser Begrifflichkeit nicht agieren kann, da diese nicht immanent im diesbezüglichen wissenschaftsinternen Sprachgebrauch zu verorten ist. Dieser Problemaufriss zeugt von der notwendigen Positionierung der jeweiligen Disziplin und von der Notwendigkeit ihrer Kenntnis für die interdisziplinäre Auseinandersetzung. Diese einführenden Gedanken sollen einerseits die Mehrperspektivität unterstreichen und andererseits zur Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Menschen aus Sicht der theologischen Anthropologie hinführen.2

1.2.

Das Menschenbild – Zielsetzung der theologischen Anthropologie

Der Mensch – auch innerhalb der theologischen Anthropologie kann nicht von dem einheitlichen Menschenbild gesprochen werden. Dies würde der Vielfältigkeit der theologischen Menschenbilder zuwiderlaufen und deren belebende wie auch befreiende Wirkung untergraben. Die Verhandlung des Menschenbildes impliziert zudem noch andere diskussionswürdige Faktoren, die für eine Annäherung bedacht sein müssen. Was ist die Intention des Menschenbildes? Kann das künstliche Kreieren eines Definitionsrahmens dem Menschen gerecht werden? Steht ein fixiertes Menschenbild als Ideal nicht auch dem zweiten Gebot des Dekalogs (Ex 20,4) gegenüber? Der Mensch als Individuum zeugt bereits von einer Mannigfaltigkeit, die durch ein Menschenbild allein nicht getragen werden kann. Jedoch negiert das Fehlen eines einheitlichen Bildes nicht eine gemeinsame Basis, ein Fundament, das aus christlicher Sicht unabdingbar scheint und das in der Pluralität Bestand hat. Die Problematik der Normierung eines Menschenbildes zeigt sich in seiner Ideologisierung, und diesen Tendenzen muss durch eine »kritische Analyse der handlungsleitenden Menschenbilder im Lichte des Evangeliums«3 dezidiert entgegengetreten werden. Dies verdeutlicht die Notwendigkeit der Reflexion von bestehenden Menschenbildern – hinsichtlich ihrer Begrifflichkeit wie auch hinsichtlich ihrer Bildung, um so von einer normativen Verfestigung zu einer Dynamik zu gelangen, welche im Blick auf die Handlungsebene des Menschen eine diskutable Herausforderung darstellen kann.4

2 Vgl. W. Schoberth (2006) 11 ff. 3 W. Schoberth (2006) 26. 4 Vgl. W. Schoberth (2006) 24 ff.

Die Natur des Menschen

1.3.

153

Was ist der Mensch, dass Du seiner gedenkst?

Die biblische Tradition prägt die Annahme eines Menschenverständnisses, welches in narrativer Weise die Relation zwischen Mensch und Gott darstellt. Diese Beziehung entsteht und lebt von der Positionierung der Menschen in ihr.5 Diesbezüglich kann die Theologie das Menschsein nicht in statischen Definitionen fixieren, sondern nur in der Begegnung des Menschen mit Gott – in der Geschichte der Menschen mit Gott. Dies impliziert die Herausforderung, keine theoretischen Konstrukte zu kreieren, sondern die Frage nach dem Menschsein als eine »sehr konkrete und eminent praktische«6 zu stellen. Die Bibel stellt keine homogene Anthropologie vor, vielmehr sind in der Bibel zahlreiche zentrale Aspekte des Menschseins zu finden, die im Folgenden zur weiteren Auseinandersetzung ansatzweise betrachtet werden sollen. Der Mensch als Geschöpf Gottes ist Teil des göttlichen Schöpfungsaktes und somit ein Beziehungswesen in seinem Miteinander mit Gott, mit den Mitmenschen und mit der restlichen Schöpfung. Sein Platz in der Schöpfung ist von Staunen und Lob gekennzeichnet, wie Psalm 8 verdeutlicht. Inmitten der Natur steht der Mensch staunend und fragend vor Gott, und dies wird als Begegnungsakt zwischen beiden dargestellt. Dem Menschen als Geschöpf wird neben seinem Schöpfungsauftrag zur Bebauung und Bewahrung der Welt (Gen 2,15) auch ein weiterer Aspekt zuteil, der anthropologisch relevant ist: Die Gottesebenbildlichkeit im Schöpfungsbericht der Priesterschrift (Gen 1,26ff) weist dem Menschen einen Aspekt zu, der ihn in seiner ganzen Person tangiert und auszeichnet. Diese Auszeichnung spiegelt sich in der Besonderheit des Menschen wider : »Der Mensch wird gesehen als ein von Gott angeredetes Du und als ein vor Gott verantwortliches Ich.«7 Der Mensch ist zwar Mitgeschöpf, jedoch zeichnet ihn diese Beziehungsstruktur zu einem personalen Gott aus und verdeutlicht seine Verantwortung für die Mitgeschöpfe und die Schöpfung (Ps 8,6 f). Es kann jedoch nicht von einer überhöhten oder einzigartigen Stellung des Menschen gesprochen werden, da dies dem Konzept der Ebenbildlichkeit widersprechen würde. Denn dem Menschen wird zwar eine besondere Würde zuteil, diese ist jedoch nicht »ontologisch, sondern [als] eine funktionale Auszeichnung der

5 Wilfried Joest spricht vom Menschen, der Gott antworten muss. Diese Beziehungsstruktur verdeutlicht das Verlangen Gottes nach dem Menschen und seine Zuwendung zu ihm, die von dem Menschen nur angenommen werden muss. Vgl. W. Joest: Dogmatik. Bd.2. Der Weg Gottes mit dem Menschen, Göttingen 1993, 412 ff. 6 W. Schoberth (2006) 34. 7 G. Adam: Art. »Mensch«, in: R. Lachmann; ders.; W. H. Ritter (Hrsg.): Theologische Schlüsselbegriffe. Biblisch – systematisch – didaktisch. Theologie für Lehrerinnen und Lehrer Bd. 1, Göttingen 2004, 226 – 239, 227.

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Dina Salama / Carmen Trautner

Menschen«8 zu definieren, »Gottes Willen in der Welt zu repräsentieren und aufzurichten.«9 Um dies zu realisieren, ist der geschaffene Mensch in eine Sozialität gebunden, die einerseits seine Geschlechtlichkeit als Mann und Frau manifestiert und die ihn andererseits als Beziehungswesen erkennt. Dies hat einen konstitutiven Charakter für das Menschsein, welches von Relationen – zu Gott, zur Schöpfung und zur Gemeinschaft – getragen ist.10 Wenn über die Ebenbildlichkeit des Menschen gesprochen wird, muss auch ihre andere Seite diskutiert werden. Die Sünde kann von der Ebenbildlichkeit nicht entkoppelt werden, wobei diese Auseinandersetzung von einer hohen differenzierten Analyse des Begriffes aus geführt werden muss. Dies ist notwendig, da der Sündenbegriff im Laufe der Jahrhunderte in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlicher Intention genutzt wurde. Ein wichtiger Aspekt im Diskurs über die Sünde ist der folgende: Das Verständnis des Begriffs fernab von einer durch die Gesellschaft geprägten Moralität hin zur Annahme der Sünde als Abkehr des Menschen von Gott. Dieser theologische Referenzrahmen für den Sündenbegriff erscheint im gesellschaftlichen Diskurs gewöhnlich nicht, und daher bedarf es der Auseinandersetzung mit dem theologischen Sinn der Sünde, der im Sündersein des Menschen seinen Ursprung findet. Wenn von Ursprung im Sinne einer zeitlichen Identifizierung gesprochen wird, erweitert sich der Gedankengang bezüglich der Sünde hin zur Erbsündenlehre, die von Augustinus prägend formuliert wurde. Dessen »Vorstellung einer Erbsünde, d. h. einer für den Menschen konstitutiven Verfasstheit, die sich in der Neigung zu sündigen und in einer von Gott wegführenden Begierde äußert«,11 kann im Zuge dieses Artikels nicht differenziert dargelegt werden, jedoch ist seine Rezeptionsgeschichte für die Theologie bedeutsam. Wenn durch die Erbsünde und ihre Verbindung mit einer (unter anderem) im körperlichen Bereich anzusiedelnden Sinnlichkeit die menschliche Leiblichkeit eine tendenzielle Negierung erfährt, kann neben weiteren Kritikpunkten Wolfhart Pannenbergs Einschätzung gefolgt werden: »[D]as Ergebnis dieser Entwicklung [ist] die Erzeugung eines falschen Schuldbewusstseins von vager Allgemeinheit in Verbindung mit Moralismus. Der Moralismus, der aus der Verlagerung des Sündenbegriffs auf die Tatsünden folgte, wurde zum Opfer der Kritik an einem christlichen ›Pharisäertum’, das über Fehlverhalten anderer ohne psychologisches und soziales Verständnis für dessen Ursachen urteilt.’«12 Trotz dieser 8 9 10 11

W. Schoberth (2006) 119. W. Schoberth (2006) 119. Vgl. W. Schoberth (2006) 116 ff. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD): Die Taufe. Eine Orientierungshilfe zu Verständnis und Praxis der Taufe in der evangelischen Kirche, 2008. Online verfügbar unter : http://www.ekd.de/EKD-Texte/69828.html, aufgerufen am 20. 04. 2012. 12 W. Schoberth (2006) 122.

Die Natur des Menschen

155

notwendigen Kritik ist der Grundgedanke der Erbsündenlehre jedoch ein für die Anthropologie kennzeichnendes Moment, das wiederum mit einer Auseinandersetzung um die sogenannte Sündenfallgeschichte verbunden ist. Diese muss von der Annahme ausgehen, dass die biblische Darstellung nicht als Dokumentation des Ursprungs zu verstehen ist, sondern als eine »Verdichtung [dessen], was sich in jedem Leben ereignet«13. In dieser Verdichtung ist die Überhöhung des Menschen anzusiedeln, der seine Existenz und sein Handeln in den Vordergrund stellt und somit die Verbindung zu Gott verkehrt, indem er sich ›verkrümmt entfernt‹.14 Als befreiendes und belebendes Agens ist in diesem Zusammenhang von dem Ebenbild Gottes in Jesus Christus zu sprechen. Jesus Christus als der neue Begegnungsakt mit Gott – die Zuwendung Gottes in der neuen Verkündigung.15 Durch Jesus Christus erfährt die Welt einen neuen Adam, der welt- und menschenoffen in Erscheinung tritt und somit für die belebende Hoffnung der Menschen steht. Diese Hoffnung ist auch für das Lebensende des Menschen bedeutsam. Der endliche Mensch und seine gewollte Geschöpflichkeit finden ihr Ende im Tod.16 Die Sterblichkeit und der Tod setzen das biologische Ende des Menschen und können, wie in der Auseinandersetzung Karin Ulrich-Eschemanns zu lesen ist, trotz einer dankbaren Annahme des Geschöpfseins nicht versöhnlich angenommen werden. Der biologische Tod ist eine existenzielle Herausforderung des Individuums. Dennoch kann der Mensch der paulinischen Verheißung folgen, indem er annimmt, dass durch Jesus Christus dem Tod der Stachel genommen worden ist und der Tod trotz seiner Grenzwirkung nicht ein »Abbruch ins Nichts«17 ist, sondern dass der Beziehungsakt zwischen Gott und den Menschen weiterhin besteht. Der Mensch als Teil der Schöpfung und als Beziehungswesen ist eine herausfordernde Auseinandersetzung mit sich selbst, die der Mensch als eine reflexive und belebende Aufgabe ansehen sollte.

13 W. Schoberth (2006) 123. 14 W. Schoberth (2006) 121 ff. 15 Vgl. K. Ulrich-Eschemann: Vom Geborenwerden des Menschen. Theologische und philosophische Erkundungen, Münster 2000, 228 ff. 16 Für eine intensive und tiefgründige theologische wie auch philosophische Auseinandersetzung mit dem Geborenwerden siehe die angegebene Monographie von Karin UlrichEschemann. 17 W. Joest (1993) 414.

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Dina Salama / Carmen Trautner

2.

Was ist der Mensch? – Annäherung aus Sicht der islamisch theologischen Anthropologie

2.1.

Theologische Anthropologie im Islam

˘

»Wir leben in einem Zeitalter der Anthropologie. Eine umfassende Wissenschaft vom Menschen ist ein Hauptziel der geistigen Bestrebungen der Gegenwart.«18 Auch im Islam spielt das Erforschen der Natur des Menschen und seiner Anthropologie eine immer wichtigere Rolle. Bevor im Folgenden auf diese Fragestellung Bezug genommen wird, ist es angebracht, die islamisch-theologische Anthropologie in aller Kürze darzustellen. Ein Blick auf die Bedeutung dieses Terminus zeigt, dass eine Festlegung und Abgrenzung dieser breiten, heterogenen Bedeutungen unabdingbar ist. Einführend sei deshalb die arabische ) oder Übertragung der Anthropologie angebracht: Mit ilm al-’insa¯n ( ) wird eine postmoderne Wortschöpfung im Plural ulu¯m al-’insa¯n ( aufgezeigt. Es ist aber diskussionsbedürftig, ob in der Zeit der Bildungsphilosophie der klassischen Epoche diese Begrifflichkeit existierte.19 Nichtsdestotrotz spielte das Forschen nach dem ›Selbst‹ oder der ›Natur‹ des Menschen im islamischen Kontext eine zentrale Rolle. Dieser Beitrag beleuchtet weiterhin die Fragen, wie der Mensch in seinem ›Selbstentwurf‹ in Koran und Hadith erscheint. Dabei muss auch geklärt werden, was die Natur des Menschen ausmacht – im Sinne der fitra. Zudem wird die fitra ˙ ˙ als Modellvorstellung für die Schöpfung Gottes in die Betrachtung integriert. ˘

2.2.

»Mensch, was bist du?« – Antworten aus Koran und Hadith

»Ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, der euch aus einem einzigen Wesen schuf und der daraus sein Gegenüber schuf und der aus beiden viele Männer und Frauen entstehen ließ!« (Sure 4:1) ) In diesem Koranvers wurde in arabischer Sprache die Bezeichnung nafs ( für Wesen verwendet, auf die nun näher eingegangen wird: nafs (griechisch nephos für Atem, hebräisch nefesch für das Beatmete) steht im arabischen im V. Stamm (tanaffasa – yatanaffasu) für atmen und geht auf den Ursprung nafusa für kostbar sein zurück. Allerdings kommen Varietäten dieses Lexems noch in 18 W. Pannenberg: Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 1995, 5. 19 Vgl. H.H. Behr: Der Wechsel der Gebetsrichtung (Qibla) und die Konstruktion des psychologischen Raumes, Zeitschrift für Religionslehre des Islam 6 (2012) Heft 11, 2 – 12.

Die Natur des Menschen

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˘

einem weiteren Kontext vor, z. B. nafata für pusten, husten oder spucken,20 oder ¯ nafaha für blasen, hauchen, pumpen21. Dabei beschränkt sich die Bedeutung ˘ keineswegs nur auf die Funktion der Atmung – also auf die Lungenfunktion – sondern beschreibt vielmehr das Merkmal der ganzen Person. Damit ist das Selbst, das Ich und somit das Wesen an sich gemeint, weshalb in Sure 4:1 nafs mit Wesen übersetzt wurde. Natürlich lässt sich nafs auch auf die Begrifflichkeit der Seele beziehen, jedoch sollte hier eine Differenzierung zu anderen Religionen hervorgehoben werden.22 Nach dieser philologischen Betrachtung von nafs wird seine semantische Perspektive aufgezeigt. Was macht im Islam den Menschen zum Menschen? Oder besser : Was macht den Menschen zu einem nafs? Um dies beantworten zu können, ist es erforderlich, einen Blick auf den historischen Übergang von der vorislamischen Zeit zum Islam zu wagen. Der erste Schritt zur Selbstwerdung eines Menschen ist die Herausbildung der Person aus einer Kollektivität des Stammes. Dabei spielt das islamische Glaubenszeugnis (asˇ-sˇaha¯da) den konstitutiven Akt im Prozess der Selbstwerdung – jeder einzelne Mensch im Sinne von nafs legt Bekenntnis ab vor dem einen Gott. Desweiteren wird der Mensch im Koran und Hadith mit insa¯n für Mensch, oder mit ada¯mı¯ – für Abkömmling Adams, des Vaters der Menschheit – angesprochen. Die Eigenschaften, die den Menschen von einer anderen Spezies unterscheiden, sind nach Yasien Mohamed der Verstand, beziehungsweise die Vernunft ( aql) und der freie Wille (’ira¯da).23 Dabei besitzt der Mensch mit Hilfe seines Verstandes die Fähigkeit, Richtiges vom Falschen zu unterscheiden und dementsprechend ›im Sinne Gottes zu handeln‹. Die Entscheidung liegt dabei beim nafs selbst. Die Propheten als Personen, die göttliche Mitteilung im Koran und andere islamische Quellen helfen dem nafs, den Verstand und den freien Willen zu ›führen‹. Als Erkenntnis lässt sich festhalten, dass der Koran in seiner gefügten Form in erster Linie nicht Gesetz, sondern eine Orientierungshilfe bietet. Im Koran wird aufgezeigt, dass der Prophet Muhammad die rechtmäßigen Dinge gewährt (ma ru¯f) und die unrechtmäßigen Dinge verbietet (munkar)24 In der Verwirklichung dieser Orientierungshilfe und somit auch seiner Selbst bezeugt ˘

20 Vgl. »Und vor dem Bösen der Frauen, die auf Knoten spucken« (Sure 113:4). 21 Vgl. »Ihn dann ebenmäßig formte und von seinem Geist in ihn blies und euch Ohren, Augen, Herzen machte; Wie wenig seid ihr dankbar!« (Sure 32:9) 22 Z.B. in Bezug auf Vorstellungen der Körper-Seele-Trennung, der Wiedergeburt, der Herkunft aus dem Wasser und der Rückkehr nach dem Tod unterhalb des Wassers … 23 Mit kleinen Veränderungen entnommen aus Y. Mohamed: Fitra. The Islamic Concept of Human Nature, Ta-Ha Publ., London 1996, 9. 24 Vgl. »Findet ihr es seltsam, dass eine Botschaft eures Herrn zu euch kommt durch die Vermittlung eines Mannes aus eurer Mitte, (der die Aufgabe hat,) euch zu warnen und euch zur Gottesfurcht zu ermahnen, damit ihr Seine Gnade erlangt?« (Sure 7:63)

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Dina Salama / Carmen Trautner

der nafs die Vollkommenheit Gottes. Vor Gott trägt hierbei jeder nafs die absolute Verantwortlichkeit bezüglich seiner Taten – sogar wenn Menschen den Glauben an Gott ablehnen. Jedem nafs steht es zu, die Intensität seines Glaubens und seiner religiösen Praxis frei zu gestalten. In welchem Verhältnis aber stehen nun der Glaube, die Vernunft und der freie Wille zueinander? Der Glaube motiviert den freien Willen und somit auch das menschliche Handeln. Die Vernunft gibt diesem das angemessene Ziel. Seine höchste Ausprägung findet das menschliche Handeln schließlich in der Liebe.25 Wenn der nafs der Spiritualität der Liebe folgt, so folgt er auch dem Herzen – mit dem mehr begriffen werden kann als mit dem Verstand, mehr gesehen werden kann als mit den Augen, oder mehr gehört werden kann als mit den Ohren (vgl. Sure 22:46 und 7:149). Allerdings gibt es noch einen Aspekt, welcher den bisher genannten Eigenschaften als Fundament dient, denn die wichtigste Voraussetzung der Menschwerdung – und auch was alle Subjekte als Menschen gemeinsam haben – ist die fitra. Dieser Aspekt soll nun im Anschluss thematisiert werden. ˙

3.

Die fitra – Mehr als nur die Natur des Menschen? ˙

Zuerst wird die linguistische Bedeutung der arabischen Vokabel fitra ( ) ˙ aufgezeigt, um dann auf ihre religiöse Betrachtung einzugehen. Fitra lässt sich ˙ im Wörterbuch, wie z. B. bei Hans Wehr, unter der Wurzel fa-ta-ra finden, was ˙ spalten oder brechen bedeutet. Es existieren allerdings noch zwei weitere Ableitungen, die in diesem Kontext erwähnt werden müssen: Fatara steht für ˙ schaffen, erschaffen, hervorbringen. Fatarahu bedeutet demnach »Gott erschuf ˙ etwas zum ersten Male.« Im Passiv wird futira mit »von Natur aus veranlagt sein« ˙ übersetzt. Das Nomen fitra gibt somit die Schöpfung, Erschaffung, Natur, Ver˙ anlagung, Anlage oder die angeborene Art wieder. Welche religiöse Bedeutung steckt hinter dieser philologischen? Es gibt dafür keine passendere Annäherung als die Erwähnung des Hadiths von Abu¯ Haitam: ˘ ¯

»And if his parents are Jews, they make him a Jew, with respect to his worldly situation; and if Christians, they make him a Christian, with respect to that situation; and if Magians, they make him a Magian, with respect to that situation; his situation is the same as that of his parents until his tongue speaks for him; but if he dies before his attaining to the age when sexual maturity begins to show itself, he dies in a state of conformity to his preceding natural constitution, with which he was created in his mother’s womb.«26

25 M.A. Lahbabi: Der Mensch: Zeuge Gottes. Entwurf einer islamischen Anthropologie (dt. Übers. von M. Kneer), Freiburg 2011, 29. 26 Y. Mohamed (1996) 4.

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˘

Abu¯ Haitam ist der Meinung, dass mit fitra der natürliche Zustand der Seele im ˙ ˘ ¯ Mutterleib gemeint sei. Bis zur Pubertät erfolgt die Beeinflussung der Umwelt der Menschen auf diesen nafs – »bis die Zunge für sich selbst sprechen kann.« Fitra bedeutet somit als ›Muslim‹ geboren zu sein, mit der Begründung, dass die ˙ fitra auf dem tawh¯ıd (die Lehre von der Einzigkeit Gottes) basiere. Außerdem ˙ ˙ steht sie in enger Beziehung zur ˇsaha¯da, die einen Menschen zum bewusst bekennenden Muslim macht: »Es gibt keine Gottheit neben Gott und Muhammad ist sein Gesandter«. In diesem Fall bedeutet fitra die von Gott im ˙ Menschen geschaffene Fähigkeit, ihn, den einen Gott zu erkennen. Im weiteren Verlauf dieses Artikels wird auf die fitra im Koran eingegangen – ˙ sie kommt lediglich an einer Stelle vor (Sure 30:30): »(a) Richte das, was Dich ausmacht (ganz von innen heraus) nach der Religion, indem du dich ihr zuneigst27. (b) Die Beschaffenheit Gottes, nach der er die Menschen erschuf (fitrata ˙ lla¯hi llatı¯ fatara n-na¯sa alayha¯). (c) Keine Abänderung im Charakter der ˙ Schöpfung Gottes. (d) Das ist die Weise, die Bestand hat28. (e) Die meisten Menschen wissen das nicht.« Um diesen Vers korrekt verstehen zu können, wird der Kommentar von Muqa¯til Ibn Sulayma¯n zu Hilfe genommen.29 (a) Im ersten Teil wird Muhammad aufgefordert, den einen Gott als Einen anzusehen – und zwar von innen heraus. Das ist, was einen Muslim ausmacht. (b) Im zweiten Teil müsste die Frage folgen: Was ist die Beschaffenheit Gottes, nachdem er die Menschen erschuf ? Es ist die Natur Gottes, der tawh¯ıd. Nach dieser Erkenntnis, nämlich Gottes Einheit, wurde ˙ der Mensch mit seiner natürlichen Veranlagung erschaffen. Nach diesem Vers wird die Vermutung bestätigt, dass Gottes fitra die Einheit Gottes ist und die ˙ menschliche fitra wäre somit das Suchen nach der fitra Gottes und das Erkennen ˙ ˙ seiner Einheit. Weiterführend wird in c) und d) bestätigt, dass keine Veränderung in der Schöpfung Gottes existiert. Denn es ist eine dauerhafte Weise, eine Ordnung. Dies bedeutet, dass die heutige Natur der Schöpfung seit Adam nach demselben Schöpfungsmodell fortbesteht – Gott besteht auf seiner fitra. ˙ Fitra kommt auch in einem weiteren Hadith vor. Hier nimmt das Wort fitra ˙ ˙ allerdings eine andere Bedeutung ein als bisher angesprochen. Der Hadith lautet: »Abu Huraira, Allahs Wohlgefallen auf ihm, berichtete: Der Prophet, Allahs Segen und Heil auf ihm, sagte: Zur fitra gehören fünf Dinge: Die Be˙ schneidung, das Abrasieren der Schamhaare, das Schneiden der (Finger- und

27 Auch: Richte das, was dich ausmacht, auf die Ordnung (li-d-dı¯ni) aus, indem Du Dich ihr zuneigst (hanı¯fan als Zustandsakkusativ). ˙ ist die dauerhafte Ordnung.« 28 Auch: »Dies 29 Vgl. Muqa¯til Ibn Sulayma¯n: Tafsı¯r (ed. A. Farid), Bde. 1 – 3, Neudruck Beirut 2003, hier Bd. 3, 11 f.

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Fuß-)Nägel, das Auszupfen der Achselhaare und das Kurzschneiden des Schnurrbarts.«30 Hier wird die fitra zwar auch als ›natürliche Veranlagung‹ gebraucht, aller˙ dings im Sinne von dı¯n. Dı¯n spricht hier einen gewissen Lebensstil an, den Lebensstil eines Muslims. Man könnte diesen Lebensstil als die sichtbare äußere Ordnung des Muslims betrachten, die der inneren nicht-sichtbaren folgt – denn dass jemand ein Muslim ist, sollte man erkennen können. Einerseits durch seine äußere Erscheinung, sei es wie in diesem Fall die Hygiene, und andererseits durch die äußeren Handlungen und durch die innere reine Haltung eines Muslims.

4.

Interreligiöse Fragestellungen im Diskurs der Autoren

Während des Praktikums haben sechs Praktikanten für die Dauer eines Monats in Appartements gewohnt und teilten den Flur, den Gebetsraum und die Küche. Folglich wurde die gemeinsame Küche zu einem Gruppenraum, der sich zum Ursprungsort der sogenannten Küchentheologie entwickelte. Es wurde Kaffee oder Tee gekocht, man saß um den Tisch und es folgten Gespräche – nicht selten bis zum gemeinsamen Morgengebet. Wir lernten, dem Anderen zuzuhören und Fragen in ein Format zu bringen, die nicht angreifend oder ›zu intolerant‹ wirkten. Der nächste Schritt war, mit der Antwort umgehen zu können: Reflektiert diese Antwort eine weitere Frage? Gibt es hier eine Gemeinsamkeit zu meiner Religion – oder sollte ich mich an diesem Punkt zu einem klaren Unterschied positionieren? Der dritte Schritt wäre, wie ich mit diesen Unterschieden umgehe: Reicht mir die Erkenntnis, festzulegen, wie es in meiner Religion und anderen ist oder folgt die letzte, etwas schwierigere Phase: Wie formuliere ich kritische Anfragen und wie gehe ich mit solchen um? Hierzu folgt ein interreligiöser Dialog, welcher die Autoren eine Weile nach dem Praktikumsaufenthalt in Kairo beschäftigt. Sie trafen sich, kochten wieder einen Tee und reflektierten… Carmen: Nachdem ich nun diesen Beitrag las und unsere gemeinsame Zeit wieder zum Leben erweckt wurde, fällt mir folgende Situation ein: Als du in Kairo im Gebetsraum dein Gebet verrichtet hattest, hast du einmal von einem ›göttlichen Stück‹ im Menschen gesprochen, welches angeboren ist und das während des Gebets ›aufgeht‹ – wie hast du das genau gemeint? Könnte man hier Bezug auf die fitra des Menschen nehmen? ˙ Dina: Die Antwort auf deine Frage hat sich, je nach meiner Glaubenserfahrung, mehrmals in meinem Leben geändert. Seit einiger Zeit allerdings habe ich die passende Antwort gefunden, von der ich vollkommen überzeugt bin. Wenn du mich fragen 30 Sahı¯h Muslim: Al dscha¯mic as-sahı¯h, Madina 1980, Nr. 377.

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würdest, wo sich Gott befindet, sage ich dir, dass Gott sich im Menschen befindet. Allah sagt über sich selbst, dass er mir so nah wie meine Halsschlagader ist31 und wenn er auch noch erwähnt, dass er genauso ist, wie sein Diener glaubt, dass er ist32, dann glaube ich, dass in uns ›ein kleiner Teil von Gott‹ jedes Herz beseelt. Dieser wird in jedem angeboren, denn auch dies ist eine menschliche fitra. Bis zu einem bestimmten ˙ Alter besitzt sie jeder Mensch, danach spielt seine Umgebung eine entscheidende Rolle für ihre Entwicklung. Wie du bereits erwähntest, könnte man das Gebet als Beispiel nehmen. Die regelmäßige Ausführungsart des täglichen rituellen Pflichtgebets, die wiederholte Koranrezitation, die Bewegungen nach bestimmten Regeln usw. geben einen äußeren Rahmen, ja einen äußeren Halt von Religion. Natürlich ist dieser Akt ein wichtiger Bestandteil in der Religion, denn ohne diesen äußeren Halt kann auch kein innerer entstehen. In Kairo hielten wir es so fest: »Äußere Ordnung ist auch innere Ordnung!« Allerdings bin ich der festen Überzeugung, dass es nicht nur das sein kann. Ich bin der Meinung, dass sich die Spiritualität im Herzen befindet. »Der Mensch sieht und begreift nur mit dem Herzen« (33:4) ist einer meiner Lieblingsverse und, wie ich finde, die Botschaft des Islams. Nun weißt du, dass wenn wir von fitra sprechen, wir davon ausgehen, dass jeder ˙ Mensch unabhängig seiner Konfession, mit dieser natürlichen Veranlagung, fitra, ge˙ boren wurde. Ich weiß, dass wir darüber schon oft sprachen, allerdings nicht im Zuge dessen. Könntest du mir an dieser Stelle nochmal mitteilen, wie sich die Bedeutung des Geborenwerdens im Christentum gestaltet? Carmen: Das Geborenwerden und die theologische wie auch die philosophische Auseinandersetzung mit dieser Thematik begleiten mich seit meinem Studium. Was ist der Anfang, und worin liegt dieser? Wie ist dieser Anfang gestaltet, und inwiefern eine göttliche Neuschöpfung? Auch wenn du durch unsere bereits geführten Gespräche meine Affinität zur ethischen Dimension der Themenbereiche kennst, möchte ich mich bei diesen Ausführungen auf eine theologische Ausrichtung beziehen. Gewiss existieren zahlreiche Konzepte über das Menschsein. Beispielsweise die Erkenntnisse der Naturwissenschaften und des damit verbundenen »biologischen Menschseins«33, oder philosophische Ansätze – diese Konzepte regen meine Reflexion der theologischen Perspektive an, sind Impulsgeber und ermöglichen mir aus dieser Position heraus, mich dem personalen Aspekt des Menschseins und der Frage nach dem Anfang als ein »letzliche[s] Geheimnis«34 zu stellen. Der Begriff Geheimnis stellt für mich jedoch keine Grenze dar, sondern die Herausforderung, Assoziationen anzunehmen, die dem geheimnisvollen Moment des Anfangs eine Bedeutungsvielfalt zuspricht, und diese auch offenlegt. Diese Bedeutungsvielfalt drückt für mich ein sich selbst offenbarendes Geheimnis aus – dessen Anfang bei Gott liegt. Diese theologische 31 »Gewiss, Wir haben den Menschen erschaffen. Wir wissen, was ihm seine Seele eingibt. Wir sind ihm näher als seine Halsschlagader.« (Sure 50:16) 32 Hadith von Abu Hurayrah: »Ich bin gerade so wie mein Diener glaubt, dass ich bin …«; I. Ezzeddin; D. Johnson-Davies: Imam Nawawi’s arbac¯ına qudsiyya. Beirut/Damascus 1980, 78 f. 33 K. Ulrich-Eschemann (2000) 76. 34 K. Ulrich-Eschemann (2000) 77.

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Ansicht verhindert einerseits die menschliche Neigung, sich diesen Anfang dingbar zu machen, und zum anderen wird hier der belebende christliche Moment des Anfangs des Menschen deutlich. Der Mensch als ein von Gott gewolltes Geschöpf partizipiert somit an diesem neuen Anfang und ist Teil eines Schöpfungsgeschehens – und kann sich getragen fühlen von Gott.35

5.

Abschließende Gedanken

Sicherlich ist dieser Dialog lediglich ein Auszug der Unterhaltung – jedoch eröffnet dieser genau die beabsichtigte Wirkung: Die Reflexion des Gehörten lässt neue Fragestellungen entstehen, die fruchtbar in einen interessierten Dialog eingewoben werden können. Für unsere Zusammenarbeit im Rahmen eines zielorientierten Dialogs ist hierbei ein Raum notwendig, der von einem gewachsenen gegenseitigen Vertrauen getragen wird und somit einen Platz darstellt für neugierige Einblicke in eine andere Religion wie auch für eine Positionierung in der eigenen Religion.

5.1.

Religionspädagogische und -didaktische Annäherung an die Natur des Menschen

Das Themenfeld Mensch oder die Natur des Menschen bietet aufgrund seiner individuellen Relevanz ein hohes Potenzial für die religionspädagogische und -didaktische Auseinandersetzung. Das selbstreflexive Nachdenken, die Einordnung des Menschen in seine Beziehung zu Gott und der Mensch als Teil der Schöpfung sind Themen, die durch eine intensive Behandlung den Schülern und Schülerinnen hinsichtlich ihrer Identitätsfindung Horizonte eröffnen und Impulse setzen können. In Bezug auf diese These sollen mögliche didaktische Felder zur Annäherung an diese Thematik dargestellt werden.36

5.2.

Mögliche didaktische Felder: Der Mensch innerhalb der Schöpfung

Die Schöpfung ist ein vielfältiger Themenkomplex, der bezüglich des Menschen zahlreiche Anknüpfungspunkte bietet. Zum Thema Umwelt eröffnet sich zum einen das ethische Feld der lebensweltrelevanten Fragen. Hierbei ist die Verknüpfung zu Stellen der jeweiligen Heiligen Schriften interessant, um heraus35 Vgl. K. Ulrich-Eschemann (2000) 74 ff. 36 Vgl. G. Adam (2004) 235 ff.

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zuarbeiten, inwiefern die Umwelt dort behandelt wird und welche Bedeutung diese Einsichten für das Leben der Schülerinnen und Schüler implizieren. Mögliche Stellen in der Bibel sind: das Buch Genesis (Kap. 1 – 3), Psalm 8, Psalm 104, Psalm 139 oder die Gleichnisse in den Evangelien als Zeichen des Vertrauens auf den Schöpfergott. Bei der Auseinandersetzung mit den biblischen Schöpfungsaussagen sollte vor Bearbeitung des expliziten Umweltkontextes durch hermeneutische Textarbeit ergründet werden, welche Aussagen die Bibel über die Schöpfung bereithält. Diesbezüglich ist herauszustellen, dass die Bibel weder theoretische Schöpfungszusammenhänge darstellt, noch den einen Schöpfungsglauben postuliert – vielmehr stellt die Bibel in ihrer Darstellung des Staunens und Lobens der Schöpfung die befreiende Qualität des Schöpfergottes vor. Auf dieser Grundlage können im Umweltkontext einerseits gesellschaftlich relevante und theologisch-ethische Fragen behandelt und reflektiert werden (Umweltverschmutzung, Atomkraft, Umgang mit Umweltressourcen, Tierrechte, Konsum und Umwelt, soziale Gerechtigkeit, politischer Friede …) und zum anderen die Stellung des Menschen als Geschöpf und die damit verbundene Verantwortung thematisiert werden: Welche Bedeutung hat der göttliche Schöpfungsauftrag heute? Wie kann man als einzelner diesem gerecht werden? Wie kann man an einem verantwortungsvollen Umgang mit der Schöpfung partizipieren? Auch im Koran lassen sich verschiedene Suren und Verse finden, die man herausarbeiten und auf das Leben der Schülerinnen und Schüler beziehen könnte. Man könnte zum Beispiel die verschiedenen Schöpfungsprinzipien bearbeiten:37 1. Gott als Schöpfungsprinzip: Hier steht der Geist Gottes im Vordergrund (Sure 6:59). Dieser durchdringt die belebte und die unbelebte Natur. 2. Ordnung und Bemessung als Schöpfungsprinzip: (Sure 25:2; 7:56; 30:30). Gott hat seine eigene Ordnung, diese hat er in der Schöpfung weitergegeben. 3. Entstehung als Schöpfungsprinzip: Hierzu bestehen ›verschiedene Arten der Entstehung‹: die Entstehung der Erde (Sure 21:30 – 33), die Entstehung von Himmel und Erde durch die Anrede Gottes (Sure 41:09 – 12), die Entstehung von Wesen außerhalb der Erde (Sure 65:12) und die spirituelle Evolution (Sure 4:1). 4. Veränderung als Schöpfungsprinzip: Auch hier gibt es verschiedene Ansätze: Veränderung durch Alterung und Entwicklung (Sure 36:68), Veränderung durch Spreizung des von Gott gesetzten Potenzials (Sure 25:02), Veränderung durch Ordnung oder Veränderung durch den Eingriff des Menschen (Sure 7:56), Veränderung durch Befruchtung und die verschiedenen Stadien des 37 Dieser folgende Abschnitt lehnt sich an das unveröffentlichte Basisskript 110420 von Harry Harun Behr an (vgl. dort Seite 58).

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Embryos und der Schwangerschaft (Sure 75:37-40; 96:02; 22:05), Veränderung durch Gemeinschaften und Verwandtschaften (hier auch die Genderfrage) (Sure 6:38; 13:03; 36:36; 23:27; 75:19). Eine mögliche und an dieser Stelle angebrachte Fragestellung wäre, welche Rolle der einzelne Schüler, bzw. die Schülerin selber innerhalb dieser verschiedenen Schöpfungsprinzipien spielen. Als kooperatives Projekt kann ein interreligiöses Umweltethos erarbeitet werden. Hierbei soll einerseits die theologische Ergründung der jeweiligen Heiligen Schriften dargestellt werden und andererseits auch gemeinsame ethische Grundregeln für solch einen Umgang mit der Umwelt herausgearbeitet werden. Dies verlangt eine dezidiert theologische Positionierung und eine Offenheit in der Auseinandersetzung und gemeinsamen Planung solcher Grundsätze. Mögliche Lernziele könnten lauten:38

38 Die Lernziele und Kompetenzbereiche lehnen sich an das Kompetenzmodell von Volker Elsenbast (u. a.) an. Vgl. V. Elsenbast; D. Fischer (Hrsg.): Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung. Zur Entwicklung des evangelischen Religionsunterrichts durch Bildungsstandards für den Abschluss der Sekundarstufe I, Münster 2006. Außerdem lehnen sich die arabischen Begriffe an das islamische Kompetenzmodell von H.H. Behr an; vgl. dazu H.H. Behr: Worin liegt die Zukunft der islamischen Religionspädagogik in Deutschland? In: Zeitschrift für die Religionslehre des Islam 4 (2010) Heft 7, 22 ff. Und: Ders.: Ursprung und Wandel des Lehrerbildes im Islam mit besonderem Blick auf die deutsche Situation. In: H.H. Behr; D. Krochmalnik; B. Schröder (Hrsg.): Was ist ein guter Religionslehrer? Antworten von Juden, Christen und Muslimen (Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen), Berlin 2009, 149 – 188.

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Geforderte Kompetenzen Ausdrucksfähigkeit und Positionierung der individuellen Glaubensüberzeugung tazkiyya –

165 Übergeordnete Zielkategorien, exemplarische Auswahl Die Schülerinnen und Schüler lernen durch Auseinandersetzung mit ihrer Heiligen Schrift, sich selbst bezüglich der Stellung des Menschen innerhalb der Schöpfung zu positionieren und selbstverantwortet zu führen.

Die Schülerinnen und Schüler lernen den Schöpfungsauftrag kennen und entwickeln diesbezüglich Urteilsfähigkeit und ethische Haltungen für das Handeln in der Welt. Religiöse Relevanz von Entscheidungen im Die Schülerinnen und Schüler lernen, wie ihnen Religion bei EntscheidungsfinLeben erkennen und mithilfe religiöser dungsprozessen eine Hilfestellung sein Argumente reflektieren kann. Sie suchen nach vergleichbaren Geta’dı¯b – schichten oder Begebenheiten in den Heiligen Schriften. Sie entwerfen und überprüfen konkrete Handlungsoptionen.

Wahrnehmung religiöser Deutungen für Lebensereignisse und Überprüfung ihrer Plausibilität tahkı¯m – ˙

Kenntnis, Unterscheidung und Deutung religiöser Sprache reflektieren tila¯wa –

˘

Auskunftsfähigkeit über das Christentum und den Islam ta lı¯m –

˘

Beschreibung, Gestaltung und Reflexion der Grundformen religiöser Praxis ta wı¯d –

Die Schülerinnen und Schüler lernen, sich anhand einer gemeinsamen Sprache im Kooperativen Religionsunterricht auszudrücken. Dabei werden die koranarabischen Vokabeln ins Deutsche übersetzt. Deutsch ist dabei Unterrichts- und Kontaktsprache. Außerdem lernen die Schüler die religiösen Fachbegriffe der jeweils anderen Religion. Die Schülerinnen und Schüler erhalten Informationen über die eigene und andere Religion. Danach sind sie in der Lage, Auskunft über beide Religionen zu erteilen. Dabei dienen Koran und Bibel als Zentralschriften. Die Schülerinnen und Schüler leben eine freie, individuelle Orientierung und Glaubensentscheidung. Die Autonomiefähigkeit des Subjekts wird dabei gestärkt. Hier basieren die Grundformen der religiösen Praxis nicht auf Traditionen, sondern auf dem Fachprofil des Kooperativen Religionsunterrichts.

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(Fortsetzung) Geforderte Kompetenzen

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Übergeordnete Zielkategorien, exemplarische Auswahl Wahrnehmung und kritische Reflexion der Die Schülerinnen und Schüler lernen, dass zahlreichen Strömungen der Religionen Religion nicht nur aus einer Strömung besteht, sondern von Vielfalt geprägt ist. Dies tahkı¯m – ˙ geschieht auch im Hinblick auf die eigene Religion. Die Schülerinnen und Schüler haben die Freiheit, sich damit kritisch auseinanderzusetzen. Die Schülerinnen und Schüler lernen, sich Respektvolle Kommunikation und Kooperation mit religiösen Überzeugungen mit anderen aus eigener religiöser Positionalität heraus zu verständigen. da wa – Kritisch-konstruktive Auseinandersetzung mit Religion(en) tanqı¯d –

Die Schülerinnen und Schüler lernen, sich differenziert mit der eigenen Religion und anderen religiösen Positionen auseinanderzusetzen. Sie üben dabei Kritikfähigkeit ein.

Neben dieser Auseinandersetzung kann auch die Frage des Menschen an sich thematisiert werden: Wer ist der Mensch? Und in diesem Zusammenhang die direkte Anfrage an sich selbst: Wer bin ich? Und wie sehe ich mich? Die Individualität des Menschen und seine Selbstwahrnehmung ist ein intensives und intimes Feld, welches im Unterrichtsgeschehen behutsam behandelt werden sollte. Die Schüler und Schülerinnen werden täglich medienwirksam mit Menschenbildern konfrontiert, die durch eine Schulung ihrer eigenen Medienkompetenz konstruktiv reflektiert werden müssen, um sie anschließend in individuellen Fragestellungen annehmen zu können. Diese könnten durch die Analyse von Menschenbildern in den Medien und mit unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen thematisiert werden, um sich darauf aufbauend mit der eigenen Selbstwahrnehmung zu beschäftigen. Erweitert wird diese Perspektive durch die Sicht auf den Menschen in den Religionen. Hierbei soll die lebensförderliche Sicht auf den Menschen herausgestellt werden und inwiefern diese das religiöse Menschenbild prägt und ihre belebende Wirkung entfaltet. In dezidiert konfessorischer und religiöser Position kann diese Wirkung dem jeweils anderen vorgestellt werden, um authentisch die Selbstwahrnehmungen anderer kennenzulernen und sich durch Zuhören und Austauschen innerhalb der eigenen Religion platzieren zu können.39

39 Vgl. G. Adam (2004) 238.

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Aus der nachfolgenden Diskussion: Die islamische Anthropologie geht von einigen zentralen Koranversen aus, von denen insbesondere Sure 4:1 zu nennen wäre. O ihr Menschen, fürchtet euren Herrn, Der euch aus einem einzigen Wesen erschaffen hat; aus diesem erschuf Er ihm die Gefährtin, und aus beiden ließ Er viele Männer und Frauen hervorgehen. Fürchtet Allah, in Dessen Namen ihr einander bittet, und (fürchtet Ihn besonders in der Pflege der) Verwandtschaftsbande. Wahrlich, Allah wacht über euch.

˘

Der Mensch wurde somit »erschaffen aus einem einzigen Wesen…« [nafs] und seitdem stehen alle Menschen unter Allahs besonderer Zuwendung und Beobachtung (ka¯na alaykum raqı¯ban). Gegenüber dem Christentum ergibt sich daher die Frage nach der Sünde Adams, bzw. der Erbsünde der Menschen als einer grundlegenden anthropologischen Konstante. Der Islam geht dagegen, wie im Artikel dargestellt, davon aus, dass der Mensch nach ›Allahs fitra‹ geschaffen wurde. Allerdings gibt es dazu zwei ˙ mögliche Interpretationen: Entweder bezeichnet fitra die Modellvorstellung ˙ Allahs für die Schöpfung, nach welcher der Mensch geschaffen wurde; oder Allah selber hat eine fitra, und der Mensch ist nach dieser seiner fitra geschaffen. ˙ ˙ Deutlicher auf die zweite Möglichkeit weist wohl der Text von Sure 30:30 (fitrata ˙ lla¯hi llatı¯ fatara n-na¯sa alayha¯), welcher im Artikel behandelt wurde. ˙ Aus christlicher Sicht ergibt sich einerseits die Frage, ob das islamische Konzept der fitra vergleichbar mit der alten christlichen Diskussion um eine ˙ anima naturaliter religiosa ist (Schleiermacher hätte gesagt: anima naturaliter Christiana!). Eine zweite Frage schließt sich daran an: Wird die fitra analog zum christ˙ lichen Verständnis der Gottebenbildlichkeit des Menschen als ein Wesensmerkmal verstanden, das der Mensch seit der Schöpfung unverändert besitzt, oder ist diese fitra noch im Werden und somit die Schöpfung Adams ein dy˙ namischer Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist? Die im Artikel angeführte Deutung von Muqa¯til Ibn Sulayma¯n zur Stelle von Sure 30:30 scheint die auch im frühen Judentum – z. B. bei Philo von Alexandrien – bekannte Dynamik der Erschaffung Adams zu bevorzugen. Die schützende natürliche Bindung an die fitra Allahs, also an den tawh¯ıd, besitzen seine Kinder ˙ ˙ nicht mehr in gleich selbstverständlicher Weise. Sie partizipieren zwar weiterhin an ihr, müssen sich aber immer neu von ihr überzeugen lassen und sie glaubend bekennen. »Daraufhin sprach der Prophet: Nicht haben die ›Bedecker‹ [kuffa¯r] in Mekka ihren Herrn als Einen angesehen, also sieh Du Deinen Herrn als Einen an, ˘

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Muhammad! … fa-’aqim wagˇhaka li-d-dı¯ni … Und reinige Deine Ordnung [dı¯n] – den Islam – für Gott … hanı¯fan … also als reine Gabe / als Reiniger / als ˙ Gereinigter… fitrata lla¯hi llatı¯ fatara n-na¯sa alayha¯ …also der Islam beharrt auf ˙ ˙ dem tawh¯ıd, nach welchem er sie schuf; dann nahm er die Bindung (Bund) von ˙ den Adamssöhnen, von ihren Rücken ihren Schutz; und Ich rief sie zu Zeugen ihren Seelen gegenüber : Bin ich nicht euer Herr? Und sie sprachen: Ohne Zweifel (ist er) unser Herr! Und sie ließen sich von ihm überzeugen bzgl. des (tawh¯ıd) ˙ rububeya und der ihm gebührenden Anerkennung … la¯ tabdı¯la li-halqi lla¯hi.«40 ˘ Wäre also die Schlussfolgerung erlaubt oder zu pointiert: Weil sie Allah nicht mehr so nahe sind wie Adam, müssen die Menschen – die Adamssöhne – an Ihn glauben?! Die biblische Anthropologie dagegen geht, wie im Artikel dargestellt, von einigen zentralen Texten der Genesis aus, wobei das Babylonische Geschichtswerk (Gen 1,26 f: »Als Mann und Frau schuf er sie«) und das Jerusalemer Geschichtswerk (Gen 2: Die Erschaffung Adams und danach Evas) die Frage nach dem Menschen komplementär, aber durchaus mit eigenständiger Wertung behandeln. Dabei wird dem Text von Genesis 2 häufig vorgehalten, eine patriarchale Vorrangstellung Adams gegenüber Eva theologisch zu legitimieren. Demgegenüber erscheint der Koran auf diesem Punkt eher eine gleichberechtigte Sicht auf Eva zu vermitteln. Aber auch im Text von Genesis 2 ist der Ersterschaffene Adam kein Mann – das Wort bedeutet Rötling (hebr ädom) und bezieht sich auf das Materialobjekt des roten Lehmbodens, von dem Gott ihn nach seinem Ebenbild (s. o.) formte, bevor er ihm den Lebensatem (hebr. näfäˇs) Seele/Lebensatem?) einblies. Aber Mensch wird der Mensch im Vollsinn erst, wenn die Fähigkeit zur Lebensweitergabe hinzutritt, welche ihn an der Schöpferkraft Gottes Anteil haben lässt. Diese Fähigkeit zur Lebensweitergabe heißt hebr. ha¯wa¯, auf Deutsch Eva. Nur Adam und Eva zusammen sind im Vollsinn ˘ Mensch, oder anders gesagt: Die Kategorien Mann / Frau entstehen erst in der Differenzierung beider Erstmenschen. Die Rezeptionsgeschichte des Textes in der christlichen Tradition spiegelt diese Einsicht jedoch nur selten wieder. Insofern öffnet uns erst die neuere Exegese ein Verständnis für diese (unerwartete?) Gemeinsamkeit unserer Heiligen Schriften in der Gender-Perspektive der Schöpfungsanthropologie. Aus der Diskussion um das islamische Menschenbild (s. o.) ergab sich weiterhin die entsprechende Frage an die christliche Anthropologie: Geht sie von einem ›perfekten ersten Menschen‹ aus, der von Gott geschaffen in seiner fortwährenden Reproduktion immer weniger gottähnlich wird (vgl. Philo von Alexandrien)? Ist die Schöpfung Adams somit noch nicht abgeschlossen, son40 Eigene ÜS des Herausgebers aus: Muqa¯til Ibn Sulayma¯n: Tafsı¯r (ed. A. Farid), Bde. 1 – 3, Neudruck Beirut 2003, hier Bd. 3, 11 f.

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dern vielmehr ein dynamischer Prozess? Die paulinische Anthropologie hat hier eine radikale Stellungnahme bereit: Der Mensch ist derart unvollkommen, weil durch den Sündenfall Adams geschädigt, dass seine (geistige) Neuschöpfung von allem Anfang an unvermeidlich war. Bereits im ersten Schöpfungswort Gottes (Logos-Christologie) ist somit die spätere Erlösung allen Menschseins in Jesus Christus mitgedacht und Teil des göttlichen Schöpfungsplans. Die Erschaffung des ›Ersten Adam‹ denkt die Inkarnation des ›Zweiten Adam‹ (Jesus Christus) also bereits voraus. Der Adam-Christus-Vergleich (Röm 5; 1 Kor 15) ist dabei ein wesentlicher Punkt der paulinischen Anthropologie und erscheint – natürlich in anderer Bedeutung – auch im Koran (vgl. Sure 3:59). Eine weiterführende Frage ist daher, mit welchen didaktischen Mitteln diese zentrale biblische Sicht auf das Menschsein in die beschriebene Unterrichtssituation eingebracht werden kann.

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Bestimmung, freier Wille und Prädestination: Denkmodelle verschiedener islamischer Schulen im Religionsunterricht

˘

Die Arbeitsgruppe befasste sich mit der Thematik der Vorherbestimmung, die im Alltagsgebrauch häufiger unter der fragwürdigen und häufig negativ konnotierten Begrifflichkeit des Schicksals Eingang in Diskussionen und Sprache findet. Der Erarbeitung lagen zunächst der von Ibn Mas u¯d überlieferte und unter anderem im sah¯ıh des Buha¯rı¯ tradierte Hadith1 bezüglich der verschie˙ ˙ ˙ ˘ denen Schöpfungsstadien des Menschen im Mutterleib, der sich wohl ganz besonders durch seine Anführung als vierter Hadith der arba u¯n2 des Muhyı¯ ad˙ Dı¯n an-Nawawı¯ neben vielen ähnlichen Überlieferungen behaupten konnte, sowie die beiden einleitenden Verse der 25. Sure des Korans – su¯rat al-furqa¯n –zugrunde. Der erwähnte Hadith vermittelt ein Bild der Prädestination, stellt er doch einen Engel dar, der – bezeichnenderweise noch vor dem im Text erwähnten Einhauchen (yanfuh) des lebensbringenden Geistes (ar-ru¯h) in den ˙ ˘ Menschen – mit der Niederschrift und somit offenbar der Determination »vierer Worte« beauftragt wird; welche namentlich die Taten, die der Mensch begehen wird, sein Todeszeitpunkt, seine Versorgung und zu guter Letzt sein eintretendes Glück (sa a¯da) oder Elend (sˇaqa¯wa), was traditionell in Anlehnung an den Koran mit dem jenseitigen Ausgang des Menschen in den Gärten des Paradieses oder im Feuer der Hölle ausgelegt wird,3 sind. Zu guter Letzt beschreibt der Hadith den Ausgang des Menschen, der, ganz gleich wie er den Löwenanteil seines Lebens auch verbringen vermag, letztendlich so handeln wird, dass er – wie der Engel es niederschrieb – zu seiner Bestimmung in den Gärten des Paradieses oder im Feuer gelangen wird. Der angesprochene Vers der Sure al-furqa¯n, mit der für die Thematik rele˘

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˘

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˘ a¯mi as-sah¯ıh al-musnad al-muhtasar, Kairo 1 Vgl. Al-Buha¯rı¯, Muhammad bin Isma¯ ¯ıl: Al-G ˙˙ ˙ ˙ ˙ ˘ ˙ ˘ 2001, IV:111. 2 Vgl. An-Nawawı¯, Abu¯ Zakariyya¯ Muhyı¯ ad-Dı¯n Yahya¯ bin Sˇaraf: al-Arba u¯n an-nawawiyya, ˙ ˙ Beirut 2009, 53. 3 Siehe Sure 11:106 – 108: »So gibt es unter ihnen Elende und Glückliche. Was die Elenden angeht (allad¯ına ˇsaqaw) so sind sie im Feuer […] Was aber die Glücklichen (allad¯ına su idu¯) ¯ ¯ angeht, so werden sie im Paradies sein und darin weilen […]« (Übers. d. Verf.). ˘

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vanten figura etymologica (maf u¯l mutlaq) binnen der Passage »halaqa kulla ˙ ˘ ˇsay’in fa-qaddarahu¯ taqdı¯ran« dagegen wirft zunächst begriffstechnische Fragen auf, steht doch offen, in welcher seiner zahlreichen sprachlichen Bedeutungen der erwähnte taqdı¯r – und somit auch das morphologisch hiermit verwandte Wort des qadar, welches in der Regel im Arabischen neben dem Begriff des qada¯’ als Äquivalent zur deutschen Begrifflichkeit des Schicksals oder der ˙ (Vorher-)Bestimmung verwendet wird – zu lesen oder verstehen ist, wo es doch grundsätzlich das Zuteilen bzw. Nehmen eines Maßes, das Wert- wie auch das Einschätzen, das Stärken, oder eben auch das Bestimmen und Festlegen einer Sache bedeuten kann.4 Auch interessant in Bezug auf die erwähnte Passage ist der Kontext, in den sie eingebettet ist, der einen für folgende theologische Betrachtungen wichtigen Zusammenhang zwischen dem islamischen Monotheismuskonzept – at-tawh¯ıd – und der Vorher- bzw. Fremdbestimmung menschli˙ chen Handelns nahelegt. Ausgehend von den in den beiden Quellen aufkommenden Problemstellungen wurde also die genannte Thematik grundsätzlich zunächst im islamisch-theologischen Denken betrachtet, anschließend ein knapper Vergleich zur christlichen Auffassung des Themas gezogen und sodann didaktische Aspekte der Notwendigkeit und Möglichkeiten der schülergerechten Vermittlung des Themas, sowie den damit verbundenen Lernzielen herausgearbeitet, was im Folgenden – nach einer kurzen Darstellung der Präsentation – ausgeführt sein soll.

Darstellung der Präsentation

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Die Präsentation der in der Gruppe erarbeiteten Ergebnisse gliederte sich in eine vorangehende Erläuterung der Problemstellung innerhalb der islamischen Theologiegeschichte, wobei die Meinungen verschiedener theologischer Schulen jeweils gegenübergestellt wurden. Die genannten Schulen waren die bis heute vorherrschenden Theologieschulen (mada¯hib al-i tiqa¯d) des sunnitischen Is¯ lams – die asˇ ariyya sowie die ma¯turı¯diyya –, wie auch die mu tazila, welche zwar bereits früh aus dem Kreis der sunnitischen Orthodoxie ausgeschlossen wurde, jedoch immer wieder von Bedeutung war und gerade in modernen theologischen Ansätzen immer mehr zurück ins Blickfeld des Interesses gerät. Auch die Ansichten der qadariyya sowie die der gˇabriyya, also zweier Schulen, welche zwar im modernen theologischen Diskurs kaum noch von Relevanz sind, damals jedoch maßgeblich zur Debatte bezüglich der Prädestinationsthematik beige˘

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˘ ama¯l 4 Vgl. al-Afrı¯qı¯, Ibn Manzu¯r al-Ansa¯rı¯ Muhammad bin Mukrim bin Aliyy Abu¯ al-Fadl G ˙ ˙ Beirut1993, 4 ff. ad-Dı¯n: Lisa¯n al- arab, ˙Band V, 3.˙ Auflage, ˘

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Bestimmung, freier Wille und Prädestination

˘

tragen hatten, wurden als jeweilige Extrempositionen5 angeführt, um die grundsätzliche Problemstellung der Thematik, sowie die Einordnung der übrigen Schulen zu verdeutlichen und zu kontrastieren. Als zentrale Punkte der Darstellung theologischer Meinungsunterschiede binnen der verschiedenen Schulen diente die Frage nach der zur Handlung des Menschen nötigen Potenz (al-qudra), dem Willen (al-ira¯da), sowie die der schöpferischen Urheberschaft einer Handlung (halq al-af a¯l) – wobei die An˘ lehnung an die aristotelischen Termini nicht verborgen bleibt.6 Wenn die islamische Disziplin des kala¯m, in welcher sich jene Diskussionen hauptsächlich abspielten und von Bedeutung waren, sich auch stärker auf die zweite der beiden Säulen islamisch-theologischen Denkens – welche namentlich die Überlieferung (an-naql) sowie der Verstand (al- aql) sind – stützt,7 gilt es im Sinne der Nachvollziehbarkeit der verschiedenen theologischen Positionen trotzdem, den Diskurs bezüglich der Selbst- bzw. Fremdbestimmung menschlichen Handelns innerhalb der islamischen Gelehrsamkeit in seinem Spannungsverhältnis zu den für Muslime anerkannten Quellen zu betrachten. Hierbei wurde im Verlauf der ˘

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5 Die Begrifflichkeit des ›Extrems‹ ist innerhalb der folgenden Darstellungen nicht etwa als Wertung, sondern als zur Vereinfachung der Darstellung der Positionierung einzelner Ansichten und ihrer Tendenzen dienende Bezeichnung zu verstehen. 6 Vgl. J. Bürgel: Allmacht und Mächtigkeit. Religion und Welt im Islam, München 1991, 108. 7 Es sei hier auf das ›umfassende Gesetz‹ – al-qa¯nu¯n al-kullı¯ – des Asˇ arı¯ten Fahr ad-Dı¯n ar-Ra¯zı¯ ˘ verwiesen, der diesen Gedankengang – nämlich die grundlegende Unterordnung des naql unter den aql – in seinem Werk Asa¯s at-taqdı¯s auf eine für traditionalistische und dem kala¯m eher skeptisch gegenüberstehende Gelehrsamkeit schon überspitzt provokante Weise zum Ausdruck bringt: »So wisse! Wenn die eindeutigen Beweise der Vernunft etwas erfordern, dessen augenscheinlich gegenteilige Bedeutung wir in der Überlieferung zu finden glauben, kann die Lösung nur viererlei Art sein: (1) Entweder, man erklärt sowohl die Schlüsse der Vernunft, als auch die gegenteilige Überlieferung für wahr, wodurch zwei Widersprüche für wahr erklärt werden würden, was logisch unmöglich ist. (2) Oder aber wir bezichtigen die beiden Gegenteile im Gesamten der Lüge, was ebenfalls eine logische Unmöglichkeit darstellt; (3) oder aber es wird die offensichtliche Bedeutung der Überlieferung bestätigt, die offenkundigen Schlüsse der Vernunft jedoch der Lüge bezichtigt, was ein Irrweg wäre, denn wir können den Wahrheitsgehalt der Überlieferung [in Bezug auf ihren Anspruch der göttlichen Offenbarung, Anm. d. Verf.] nur durch das logische Belegen der Existenz und Attribute des Schöpfers erkennen, ebenso die Art und Weise des Hinweises des Wirkens von Wundern auf die Wahrhaftigkeit des Gesandten – auf dem Frieden und Segen seien. Wenn wir also den Verstand in seinen offenkundigen Schlüssen in Frage stellen, wird er zu einer unverlässlichen Quelle; wenn dies wiederum so wäre, wäre er auch unzuverlässig in Bezug auf das Belegen eben jener Grundlagen; und wenn eben jene Grundlagen nicht gesichert sind, verlieren die Überlieferungen ihren Wert. So wird deutlich, dass das Infragestellen des Verstandes zum Infragestellen des Verstandes inklusive der Überlieferung führt. (4) So bleibt also nichts, als die Authentizität der betroffenen Überlieferungen infrage zu stellen, oder aber sie entsprechend den Erfordernissen der Vernunft auszulegen […] und wenn die Auslegung nicht möglich ist, überlassen wir das Wissen bezüglich dieser Überlieferungen Gott dem Erhabenen. Und dies ist die umfassende Gesetzmäßigkeit, auf die sich in allen Belangen von Unklarheiten zu stützen ist« (Übers. d. Verf.). ˘

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Präsentation dargestellt, dass sich prinzipiell beide Positionen – nämlich die der Fremdbestimmung menschlichen Handelns durch Gott, wie auch die Selbstbestimmung des Menschen – aus den koranischen Texten ableiten ließen. Im Anschluss an die Beleuchtung aus islamisch-theologischer Perspektive wurden kurz ähnliche Diskurse innerhalb der christlichen Theologiegeschichte angesprochen, sodann mögliche Unterrichtsansätze und didaktische Vorüberlegungen, die im weiteren Verlauf, nach einer fachwissenschaftlichen theologischen Präzisierung der Thematik, näher erläutert sein sollen, dargestellt.

Fachwissenschaftliche Betrachtung

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Um eine korrekte fachwissenschaftliche Darstellung des Themas zu ermöglichen, gilt es zunächst, die für sie grundlegenden und relevanten Begrifflichkeiten zu definieren und voneinander abzugrenzen. Wie bereits erwähnt, sind die im arabischen Sprachgebrauch verwendeten Termini zur Umschreibung der Vorherbestimmung Gottes oder des Schicksals die Begriffe des qada¯’ sowie des ˙ qadar,8 wobei bezüglich der Abgrenzung der beiden Begriffe keine Einigkeit innerhalb islamischer Gelehrsamkeit besteht. So sieht der Großteil der Asˇ arı¯ten etwa, dass »al-qada¯’ der von Ewigkeit her [azaliyya, Anm. d. Verf.] existente ˙ Wille Gottes in seiner Relation zu den Dingen entsprechend der ihnen eigenen Eigenschaften in ihrer erschaffenen [muhdat, Anm. d. Verf.] Existenz ist.«9 ˙ ¯ Dagegen umschreibe al-qadar die Realisierung – also die Änderung ihres Zustandes als nichtexistente (ma du¯m) Möglichkeiten (mumkina¯t) in den Zustand des Existenten (mawg˘u¯da¯t) – der Dinge entsprechend Gottes Wissen und Willen in ihrer jeweiligen Gestalt, ihrem Ausmaß, ihrer Zeit und sonstiger Umstände,10 was offensichtlich in Harmonie zu dem eingangs erwähnten Vers der Sure alfurqa¯n mit der Aussage »er erschuf alle Dinge, sodann [Herv. d. Verf.] gab er ihnen ein Maß [fa-qaddarahu¯ taqdı¯ran, Anm. d. Verf.] [Übers. d. Verf.]«11 steht, sofern man den taqdı¯r entsprechend seiner sprachlichen Bedeutung des Zuteilens eines Maßes versteht. Die Ma¯turı¯dı¯ten dagegen sind der Meinung, dass alqadar dem qada¯’ vorangeht und das Wissen Gottes bezüglich der Möglichkeiten ˙ (mumkina¯t), die in ihren jeweils festgelegten Definitionen und Maßen realisiert werden sollen (ı¯g˘a¯d), ist; al-qada¯’ dagegen ist die bloße Erschaffung bzw. Rea˙ lisierung dieser Möglichkeiten.12 Somit geht bei der ma¯turı¯diyya die Bemessung ˘

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8 Vgl. R.-E. Brünnow; A. Fischer : Arabische Chrestomathie aus Prosaschriftstellern, Leipzig 1960, 103 u. 107. 9 Al-Mayda¯nı¯: Al- Aqı¯da al-isla¯miyya wa-ususuha¯, Damaskus 1979, II:414. 10 Vgl. ebenda. 11 Sure 25:2. 12 Vgl. Al-Mayda¯nı¯ (1979) II:414.

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und Spezifizierung (tahs¯ıs) der Dinge der Schöpfung voraus, bei den Asˇ arı¯ten ˘˙ ˙ dagegen bekommen die Dinge erst durch ihre Schöpfung ihr spezifisches Maß und ihre genauere Gestalt. Hierbei wird jedoch ersichtlich, dass die Begrifflichkeiten des qada¯’ und qadar viel mehr die Stufen innerhalb göttlichen Han˙ delns beschreiben und die Thematik der Vorherbestimmung somit nur oberflächlich berühren. Dies, da die Thematik der Vorherbestimmung bzw. des Schicksals innerhalb der islamischen Theologie eher unter der Frage nach der Erschaffung menschlichen Handelns – halq al-af a¯l bzw. halq af a¯l al- iba¯d – ˘ ˘ Eingang in frühislamische Diskussionen fand.13 So schreibt beispielsweise Sa ¯ıd Fu¯da, ein zeitgenössischer asˇ arı¯tischer Theologe: »Letztendlich befasst sich die Frage des qada¯’ und des qadar mit den Handlungen des Menschen und seinem ˙ Willen; ja sie befasst sich gar in erster Linie […] mit den Handlungen Gottes, seiner Potenz und seinem Willen; und dies ist in dieser Fragestellung grundlegender als die Handlung des Menschen.«14 Denn ist geklärt, ob es Gott oder der Mensch ist, der die Potenz und den Willen zum Zustandekommen einer Handlung aufbringt und sie letztendlich realisiert bzw. erschafft, klärt sich auch die Frage nach der Prädestination bzw. der Freiheit menschlichen Handelns; und um die Urheberschaft eben dieses Handelns zu klären, konzentrierte sich die islamische Theologie – wie bereits angesprochen – auf die Frage nach dem Ursprung der der Handlung zugrundeliegenden Potenz (al-qudra), dem Ursprung des Willens (al-ira¯da) sowie der Urheberschaft der Handlung in Bezug auf ihre Schöpfung (al-halq) – also ihre ˘ Beförderung aus dem Dasein der Möglichkeiten (mumkina¯t) ins Dasein der Existenz (wug˘u¯d). Im Folgenden sollen hierzu zunächst die beiden Extrempositionen mit gewisser Ausführlichkeit erläutert werden, worauf aufbauend sich die gemäßigteren Schulen – welche allesamt den Versuch eines Mittelweges darstellen – in relativer Kürze erklären lassen. ˘

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Der Mensch zwischen Prädestination und Souveränität

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Als Vertreter vollständiger Prädestination bietet es sich an, zunächst die g˘abriyya, deren Namen sich bezeichnenderweise vom arabischen Wort für ›Zwang‹, nämlich al-g˘abr ableitet,15 darzustellen, wobei hierbei auf eine Definition des zeitgenössischen irakischen Theologen Irfa¯n Abd al-Hamı¯d Fatta¯h, der meh˙ ˙ rere Jahre an der Islamic International University of Malayzia dozierte, ver˘

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13 Vgl. S. Sa ¯ıd Fu¯da: Al-Intisa¯r li-l-asˇa¯ ira, radd ala¯ kita¯b g˘adal al-afka¯r, e-Book (www.as˙ lein.net) 1996, 25. 14 Ebenda. ˘ awwa¯d; Ahmad Muhta¯r Umar u. a.: al-Mu g˘am ¯ yid; Sa¯lih G 15 Vgl. Da¯wu¯d Abduh; Ahmad al- A ˙ 2003, 226 f. ˙ ˙ ˙ ˘ al- arabı¯ al-asa¯sı¯, Tunis ˘

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wiesen sein soll: »Die Geschichte zeigt, dass der Begründer und Vertreter der ˘ ahm bin Safwa¯n ar-Ra¯sibı¯ war, der die Meinungen der reinen g˘abriyya al-G ˙ Ansicht vertrat, dass der Mensch zu nichts die Potenz besäße und nicht mit dem Vermögen etwas zu tun beschrieben wird, vielmehr ist er in seinen Handlungen gezwungen [mag˘bu¯r, Anm. d. Verf.], ohne Potenz, ohne Wille, ohne Wahl [ih˘ tiya¯r Anm. d. Verf.]; es ist Gott, der die Handlungen in ihm erschafft, ebenso wie er es in den übrigen leblosen Gegenständen [al-g˘a¯mida¯t, Anm. d. Verf.] tut. Die Handlungen des Menschen würden dem Menschen nur im allegorischen Sinne zugeschrieben werden, wie man beispielsweise auch sagt, dass ›der Baum Früchte trägt‹, ›Wasser fließt‹, ein ›Stein rollt‹, die ›Sonne auf- und untergeht‹, der ›Himmel sich verdunkelt oder gießt‹, die ›Erde bebt oder Pflanzen hervorbringt‹ usw. [Übers. d. Verf.]«16 Der Mensch wird also nicht als handelndes Subjekt betrachtet, sondern lediglich als Ort (mahall) oder gar Gefäß (wi a¯’) der Manifestation göttlichen ˙ Handelns, wobei die theologische Intention hinter dieser Position leicht ersichtlich ist: die Aufrechterhaltung der absoluten Souveränität Gottes.17 Wenn die Frage nach der entsprechend koranischer Aussagen vorhandenen, dem göttlichem Handeln zu Grunde liegenden Weisheit hierbei auch unbeantwortet bleiben mag, so ist zumindest dem Einwand der damit augenscheinlich einhergehenden Ungerechtigkeit Gottes, da er ja die Menschen zu ihren Handlungen zwingt, sie sodann aber laut koranischer Offenbarung zur Rechenschaft ziehen und dementsprechend entlohnen bzw. bestrafen wird, leicht entgegnet: »Er ist der Eigentümer seines Eigentums; und es ist ihm erlaubt mit seinem Eigentum zu verfahren, wie er möchte, wobei eine Ungerechtigkeit in seinem Verfahren nicht vorstellbar ist, da dies die Beeinflussung des Eigentums eines anderen voraussetzt, wobei das Eigentum eines anderen nicht existent ist«18 (Übers. d. Verf.). Interessant ist, dass hierbei nicht etwa negiert wird, dass eben diese Handlungsweise Gottes – also das Bestrafen oder Entlohnen von Handlungen, zu denen der Mensch gezwungen wurde – ungerecht sei, sondern eine von Gott ausgehende Ungerechtigkeit im Endeffekt als ontologische Unmöglichkeit betrachtet wird. Neben dieser rationalen Begründung ihrer Haltung – was also der Beweisführung durch den aql entspräche – sind derartige Gedankengänge auch durch die Überlieferung – an-naql – stützbar, wobei auf folgenden Koranvers verwiesen sein soll: »Und nicht ihr habt sie getötet, sondern Gott hat sie getötet. Und nicht du [Muhammad, Anm. d. Verf.] hast ge˙ worfen, als du warfst; vielmehr hat Gott geworfen. [Übers. d. Verf.]«19 Auch aus ˘

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Irfa¯n Abd al-Hamı¯d Fatta¯h : Dira¯sa¯t fı¯ l-fikr al- arabı¯ al-isla¯mı¯, Beirut 1991, 268 f. ˙ Al-Asˇ arı¯˙: Maqa¯la¯t al-isla¯miyyı¯n, Kairo 2005, I:280. Vgl. Abu¯ l-Hasan ˙ al-Hanafı¯ As-Sanadı¯: Ha¯ˇsiyat as-Sanadı¯ ala¯ sunan Ibn Ma¯g˘ah, Beirut 1979, 40. Abu¯ l-Hasan ˙ ˙ ˙ Sure 8:17.

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den Hadithen (aha¯dı¯t) lassen sich derartige Vorstellungen ableiten, wobei an ˙ ¯ dieser Stelle die folgende, von Abu¯ Hurayra tradierte Überlieferung angeführt sein soll: »Moses und Adam diskutierten, sodann sagte Moses: ›O Adam! Du bist unser Vater und hast uns enttäuscht, denn deinetwegen wurden wir aus dem Paradies verbannt!‹ So sagte Adam zu ihm: ›Du bist Moses, den Gott mit seinem Wort auserwählt hat und für den er mit seiner Hand schrieb; willst du mir denn etwas vorhalten, das Gott 40 Jahre vor meiner Schöpfung für mich vorherbestimmt hat?‹ Dann sagte der Prophet, Frieden und Segen auf ihm: ›So brachte Adam Moses zum Schweigen; so brachte Adam Moses zum Schweigen«20 (Übers. d. Verf.). Die absolute Gegenposition zur g˘abriyya vertrat die Schule der qadariyya, die ˘ uhanı¯ und seinen dahistorisch auf den aus Basra stammenden Ma bad al-G ˙ maszenischen Zeitgenossen Gayla¯n ad-Dimasˇqı¯ zurückgeführt wird.21 Jene leugneten nicht nur die Vorherbestimmung Gottes an und für sich, sondern auch sein Wissen bezüglich der Dinge vor ihrem Eintreten; dies, da sie das vorausgehende und allumfassende (mu ammim) Wissen Gottes bezüglich der (zukünftigen) Dinge (ta alluq al- ilm), wie eben die Handlungen des Menschen, bereits als Festlegung dieser und somit als Negierung des freien Willens des Menschen sahen. Denn ist Gott allwissend und weiß bereits, dass der Mensch eine Handlung begehen wird, so ist es in diesem Moment unumgänglich (wa¯g˘ ib) geworden, dass der Mensch diese Handlung begehen wird, da Gottes Wissen keine Fehler zulassen würde. Im anderen Falle – also würde Gott wissen, dass der Mensch eine bestimmte Handlung unterlassen würde – wäre der Mensch nicht mehr im Stande (mumtani ), diese Handlung doch noch zu begehen, da Gottes Wissen bezüglich seines Unterlassens sein Unterlassen unumgänglich macht. Was ihre Beweisführung anhand koranischer Texte angeht, so führt Al-Firya¯bı¯ in seinem Buch al-qadar, das einen guten Einblick in die Thematik – und vor allem in ihren Stellenwert und ihre Brisanz innerhalb der frühislamischen Epoche – ˙ ayla¯n anhand sämtlicher Verse an, die eine von gibt, die Argumentation des G Gott ausgehende Prüfung erwähnen.22 So beispielsweise in der Sure al-hadı¯d: ˙ »Wir sandten wahrlich unsere Gesandten mit deutlichen Beweisen; und wir sandten mit ihnen das Buch und das Maß, auf dass die Menschen Gerechtigkeit üben möchten; und wir sandten das Eisen herab, in ihm liegt große Gewalt, aber auch Nutzen für die Menschen, so dass Gott weiß [Herv. d. Verf.], wer ihm und seinem Gesandten im Geheimen hilft«23 (Übers. d. Verf.). Dementsprechend ist also der Kernpunkt der Glaubenslehre der qadariyya, dass sie das Wissen Gottes ˘

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Al-Buha¯rı¯ (2001) VIII:126. ˘¯ da (1996) 29. Vgl. Fu Vgl. Abu¯ Bakr Al-Firya¯bı¯: kita¯b al-qadar, Riyad 1997, 182. Sure 57:25.

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– wie das menschliche – als erst nach dem jeweiligen Geschehen eintretend betrachten,24 weswegen sie für ihren Ausspruch »la¯ qadara wa-l-’amru ’unuf« – »es gibt kein qadar solange die Angelegenheit in ihren Anfängen ist«– bekannt wurden.25 Diese Definition des göttlichen Wissens hat selbstverständlich auch zur Folge, dass Gott nicht als Schöpfer menschlichen Handelns betrachtet werden kann, da zum Erschaffen der Handlung das Wissen bezüglich ihrer Art und Form erforderlich ist; und ebenso verhält es sich mit dem Willen des Menschen.26 Im genauen Widerspruch zur g˘abriyya sieht die qadariyya den Menschen also als ein komplett autonomes Wesen an, das mit einem ihm eigenen Willen und einer ihm eigenen Potenz seine eigenen Handlungen, die Gott bis zu ihrem Eintreten unbekannt sind, erschafft. Somit werden also die beiden Extrempositionen binnen dieser Fragestellung sowie die jeweils auftretenden theologischen Probleme deutlich: Besteht kein Unterschied zwischen dem Menschen und leblosen Geschöpfen wie Steinen oder Erde und ist der Mensch nichts weiter als ein Ort der Manifestation göttlichen Handelns ohne jegliche Autonomie, worin liegt dann der Sinn bzw. die Weisheit seiner Auszeichnung durch die Offenbarung; und ist seine Verpflichtung (taklı¯f) zum Glauben und zum Gottgehorsam mit jeweils einhergehender Entlohnung gerecht? Andererseits: Ist der Mensch Schöpfer seines Handelns und verfügt über seinen eigenen freien Willen, den er wider den göttlichen Willen durchzusetzen vermag; wo bleibt die Allmacht und Souveränität Gottes und sein Privileg des Erschaffens? Diese Probleme versuchten andere Theologieschulen des Islams zu lösen.

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Ansätze eines Mittelwegs: Mu tazila, Asˇ ariyya und Ma¯turı¯diyya ˘

Nach der Erläuterung der Positionen der qadariyya bietet es sich hierbei an, zunächst die mu tazilı¯tische Position in Belangen der Urheberschaft menschlichen Handelns darzustellen, da diese – sozusagen als eines der beiden ›Extreme‹ innerhalb der gemäßigten Schulen – größtenteils mit der Meinung der qadariyya übereinstimmt, mit dem grundlegenden Unterschied, dass die mu tazila Gottes Wissen bezüglich der Dinge von Ewigkeit her (min al-azal) nicht etwa leugnen, sondern bestätigen will, ohne jedoch darin – im Gegensatz zur qadariyya – eine Festlegung menschlichen Handelns und somit den Entzug menschlicher Freiheit ˘

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24 Vgl. Fu¯da (1996) 30. 25 Vgl. Hasan Muhammad Ayyu¯b: Tabsı¯t al- aqa¯’id al-isla¯miyya, 5. Auflage, Beirut 1983, 298. ˙ ammad ˙ bin Abd ar-Rahma¯n ˙Al-Hamı¯s: Usu¯l ad-dı¯n inda l-ima¯m Abı¯ Hanı¯fa, Riyad 26 Vgl. Muh ˙ ˙ ˙ ˙ ˘ o. J., 533. ˘

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zu sehen.27 Hierbei wird insofern argumentiert, als dass das Wissen nicht etwa eine Einfluss wirkende Eigenschaft (sifat at-ta’t¯ır) sei, sondern eine Eigenschaft ¯ ˙ des ›Enthüllens‹ (sifat al-inkisˇa¯f).28 Der Umstand, dass sich der Ausgang ˙ menschlichen Handelns Gott also im Voraus enthüllt, habe, entsprechend der Grundlage, dass das Wissen dem zu Wissenden nachsteht (al- ilm ta¯bi li-lma lu¯m), nicht den Zwang des Menschen zur Konsequenz. Inwiefern dies problematisch ist, wurde bereits bei der Anführung der qadarı¯tischen Argumentation dargestellt. Ebenso wie die qadariyya sehen die mu tazila den Menschen als Schöpfer (ha¯liq) seiner eigenen Handlungen an, wodurch ihnen seitens der ˘ asˇ ariyya sowie der ma¯turı¯diyya eine Art des isˇra¯k – also die Zuschreibung einer Gott allein eigenen Eigenschaft, in diesem Fall das Erschaffen, einer Sache neben Gott – vorgeworfen wurde.29 Der seitens der mu tazila zur Verteidigung eben jenes Lehrsatzes häufig angeführte Gedanke ist, dass das koranische Postulat – Gott sei der ›Schöpfer aller Dinge‹ – hiervon unberührt bleibe, da er – als Schöpfer der menschlichen Potenz, die er dem Menschen ›überlässt‹ (tafwı¯d) ˙ und die er zur Erschaffung seiner eigenen Handlung nutzt – auf indirekte Weise 30 immer noch der Schöpfer jeglichen Seins bleibe. Die Intention dahinter war zweierlei: zunächst die Aufrechterhaltung der Gerechtigkeit Gottes, denn – so die mu tazila – wäre Gott der Schöpfer menschlichen Handelns, so entspränge sein Handeln nicht seiner selbst, weswegen er in seinen Handlungen gezwungen (mag˘bu¯r) und die darauf folgende jenseitige Bestrafung oder Belohnung des Menschen seitens Gottes ungerecht sei.31 Des Weiteren wollte man Gott vom Erschaffen des Bösen und Schlechten lossprechen, weswegen man die Urheberschaft dessen – nicht nur in Bezug auf ihre Erschaffung, sondern auch in Bezug auf den zugrunde liegenden Willen – alleine dem Menschen zuzuschreiben suchte.32 So will Gott weder, dass das Böse passiert, noch erschafft er es selbst – wodurch existent ist, was Gott nicht will, jedoch zulässt, da er dem Menschen diesen Freiraum ließ. Dieser Ansicht jedoch liegt das Dogma, dass Dinge durch ihr Wesen überhaupt gut oder böse sind (al-qubh wa-l-husn ad¯ ˙ ˙ da¯tiyya¯n) und der Mensch zur absoluten – und somit zur objektiven – Beur¯ teilung des Guten und Bösen (at-tahsı¯n wa-t-taqbı¯h al- aqliyya¯n) im Stande sei – ˙ ˙ ˘

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27 Hierbei sei darauf hingewiesen, dass die Einschränkung des göttlichen Wissens häufig – besonders in polemisierender Literatur – zu Unrecht auch den Mu tazilı¯ten zugeschrieben wurde und teilweise kein Unterschied zwischen der mu tazila und der qadariyya gemacht wurde. Als Beispiel sei hierfür auf das von Abu¯ l-Hasan al-Yamanı¯ verfasste Buch Al-Intisa¯r fı¯ ˙ ˙ in r-radd ala¯ l-mu tazila al-qadariyya al-asˇra¯r verwiesen, was zu Deutsch den Titel »Der Sieg der Widerlegung der verächtlichen qadarı¯tischen mu tazila« trägt. 28 Vgl. Mustafa¯ Sabrı¯: Mawqif al-basˇar tahta sulta¯n al-qadar, Kairo 1933, 58 ff. ˙˙ (1996) ˙ 27 ff. ˙ ˙ 29 Vgl. Fu¯da 30 Vgl. Ebenda. 31 Vgl. Ebenda, S. 30. 32 Vgl. Ar-Ra¯zı¯, Muhammad Fahr ad-Dı¯n: Mafa¯tı¯h al-g˙ayb, Beirut 2005, III:160 ff. ˙ ˙ ˘ ˘

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was die Asˇ arı¯ten ablehnen, da der Mensch in seinem Urteil stets subjektiv sei und die wahre Beschaffenheit des Existenten somit nicht anders denn durch Offenbarung erfahren könne, weswegen eine Sache nicht gut oder schlecht sei, weil es ihr inne liege, sondern weil Gott dies postuliere – zugrunde.33 Somit machte die mu tazila Gott das moralisch gute Handeln, wie auch das stetige Handeln zugunsten menschlichen Interesses zur ontologischen Notwendigkeit (ri a¯yat al-aslah),34 was – da die Notwendigkeit des guten Handelns Gottes on˙ ˙ tologisch eben nicht zu belegen sei und der Mensch das Gute überhaupt subjektiv beurteile und somit Gott seine eigene Wahrnehmung ›aufzwänge‹ – der ausschlaggebende Punkt für die Abwendung des Abu¯ l-Hasan al-Asˇ arı¯ von der ˙ mu tazila war, der zunächst mehrere Jahrzehnte zu den Größen mu tazilı¯tischer Theologie gehörte, sodann aber einen neuen Weg einschlug, der letztendlich zur islamischen Orthodoxie werden sollte: die asˇ ariyya.35 Die asˇ arı¯tische Theologie bezüglich der Selbstbestimmtheit des Menschen ist das zweite Extrem innerhalb der gemäßigten Schulen, welche sich – im Gegensatz zur mu tazila – nahe der g˘abriyya einordnen lässt. So ist dem Menschen selbst keine permanente Potenz zur Handlung eigen, vielmehr wirkt in eben dem Moment der Handlung kurzzeitig die göttliche Potenz, welche die Handlung des Menschen bewirkt.36 Der Mensch selbst verfügt zwar über eine – auch gottgegebene, aber ihm selbst zugeschriebene – Potenz, was die asˇ arı¯tische Theologie von der der g˘abriyya unterscheidet, jedoch hat diese Potenz im Gegensatz zur göttlichen keinerlei Auswirkung (ta’t¯ır) auf das Geschehen;37 vielmehr ist die ¯ ›Wirkung‹ der menschlichen Potenz das ›Sichaneignen‹ der jeweiligen Handlung: al-iktisa¯b. Durch diese sogenannte kasb-Theorie (nazariyyat al-kasb) – ˙ welche vielleicht zu dem Merkmal der asˇ arı¯tischen Schule wurde – erhielten die Asˇ arı¯ten das ihnen eigene Dogma: »la¯ mu’attir fı¯ l-wug˘u¯d illa¯ l-la¯h« – »es gibt ¯¯ keinen Einfluss in der Existenz außer Gott« – einerseits aufrecht und fanden andererseits Spielraum für eine gewisse Art menschlichen Einflusses, wodurch seine Handlungen auch tatsächlich ihm selbst und nicht Gott zuzuschreiben wären. Die letztendliche Erschaffung der Handlung dagegen kommt im deutlichen Kontrast zur mu tazila wiederum Gott alleine zu; und was den der Potenz vorangehenden Willen angeht, so ist die kasb-Theorie – vielleicht ja bewusst – recht vage formuliert; fest steht seitens der Asˇ arı¯ten jedoch in Bezug auf Gott und die Geschehnisse im Universum: »Gott der Erhabene kennt sämtliche Handlungen der Diener [d.h. der Menschen, Anm. d. Verf.], er verfügt über ˘

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Vgl. J. Bürgel (1991) 108. ˘ abba¯r Al-Qa¯d¯ı: Sˇarh al-usu¯l al-hamsa, Beirut 2001, 563. Vgl. Abd al-G ˙ ˙ ˙ ˘ Vgl. ebenda 107 ff. Vgl. Fu¯da (1996) 39. Vgl. Sabrı¯ (1933) 54. ˙ ˘

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Macht über sie und er will sie.«38 Durch dieses Postulat unterscheiden sich die Asˇ arı¯ten von den übrigen Schulen: von der g˘abriyya, indem sie dem Menschen eine gewisse Form der Potenz zuschreiben; von der qadariyya insofern, als dass sie Gottes Vorherwissen bezüglich des Geschehens bestätigen und von der mu tazila, indem sie postulieren, dass Gott jegliches Geschehen, das geschieht, auch will. Dass die Negierung des freien Willens des Menschen hier sehr naheliegt, ist unübersehbar ; eine Problematik, die at-Taftaza¯nı¯ in einem fiktiven Dialog eines Zweiflers mit den Asˇ arı¯ten verdeutlicht: »Und wenn gesagt wird: ›Die Allwissenheit Gottes sowie sein alles umfassender Wille haben ohne Zweifel den Zwang zur Folge, denn sie stehen entweder mit der Existenz einer Handlung in Verbindung – wodurch sie unumgänglich wird – oder mit ihrer Nichtexistenz – wodurch sie unmöglich wird – und es bleibt keine Wahlfreiheit, wenn die Sache schon unumgänglich oder unmöglich ist!‹ So sagen wir : ›Er [d.h. Gott, Anm. d. Verf.] weiß und will, dass der Diener sie [d.h. die Handlung, Anm. d. Verf.] durch seine eigene Wahl begeht oder unterlässt; und somit ist das Problem gelöst.‹«39 Eine andere Auslegung der asˇ arı¯tischen Theorie geht definitiv zur Prädestination über, indem sie dahingehend ausgelegt wird – so ar-Ra¯zı¯ – dass der Mensch »ein Gezwungener in der Gestalt eines Freien«40 sei, denn er habe zwar einen Willen, doch dadurch, dass sein Wille auf dem Willen Gottes basiere, habe er letztendlich doch keinen autonomen Einfluss, sondern sei nur auf eine indirekte Weise gezwungen (g˘abr mutawassit).41 Somit lässt sich die asˇ arı¯tische Lehre – in ˙ beiden ihrer Auslegungen – recht einfach mit Koranversen wie den folgenden in Einklang bringen: »Und ihr wollt nicht, es sei denn, dass Gott will«,42 »Er leitet recht, wen er will; und er führt in die Irre, wen er will.«43 Gleichzeitig wird der Mensch durch den kasb bzw. iktisa¯b zwar nicht als tatsächlicher Urheber seiner Taten gesehen, wodurch Gott als der alleinige Schöpfer und Einfluss im Universum bestehen bleibt, jedoch ›eignet er sie sich an‹, in Folge dessen die Strafe bzw. Belohnung am Jüngsten Tag gerechtfertigt erscheint, ohne die Souveränität Gottes eingeschränkt zu haben. Was die ma¯turı¯diyya angeht, so unterscheiden sie sich von den Asˇ arı¯ten nur insofern, als dass sie dem Menschen in der Tat eine Entschlusskraft ( azm) zuschreiben, über die der Mensch frei verfügt.44 Um der Problematik des isˇra¯ks zu entgehen – schließlich wäre der Mensch ja dann der Schöpfer seiner eigenen ˘

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Fu¯da (1996) 38. Ebenda. Sabrı¯ (1933) 28. ˙Vgl. ebenda 56. Sure 81:29. Sure 16:93. Vgl. ebenda 68 ff.

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Entschlusskraft – ordnete man den azm der Kategorie des ha¯l zu,45 der eine ˙ Zwischenposition zwischen Existenz und Nichtexistenz einnimmt, wodurch der Mensch also durch seinen Entschluss selbst verantwortlich für sein Handeln wird, ohne jedoch etwas aus der Nichtexistenz in die Existenz zu bringen – also ohne etwas zu erschaffen, wodurch die Souveränität Gottes aufrecht erhalten werden soll.

Parallelen in der christlichen Theologiegeschichte

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Beinahe identische Ansätze und Diskussionspunkte sind auch in der christlichen Theologiegeschichte zu erkennen. So betonte schon Thomas von Aquin die grundsätzliche Einschränkung der Freiheit menschlichen Willens, welcher zwangsweise immer auf das Gute gerichtet sei – ja sich gar genau durch dieses zwanghafte Verhalten definiere – jedoch innerhalb dieses Zwanges zum Guten – oder eben durch ihn – eine gewisse Wahlfreiheit besitzt, da er diesen Zwang auf verschiedene Objekte zu richten vermag. Auch Thomas beschrieb den menschlichen Willen nicht etwa als von ihm selbst ›bewegt‹, sondern schrieb seinen Ursprung – ebenso wie die Asˇ arı¯ten – Gott zu, denn letztlich »gründet nach Thomas […] die Selbstbewegung des Willens in Gott. Allerdings versteht Thomas das Bewegtwerden des Willens von Gott in diesem Zusammenhang nicht einfach im Sinne der ersten Wirkursache einer Kausalkette, sondern als den transzendentalen Ermöglichungsgrund der Selbstbewegung des Willens.«46 Dies weist interessante Parallelen zu einigen Theorien ma¯turı¯dı¯tischer Gelehrter auf, die die Entschlusskraft des Menschen als eine Art ›Steuerung‹ bzw. Spezifizierung (tahs¯ıs) des Willens auffassten, der Wille selbst (masdarı¯) jedoch käme ˙ ˘˙ ˙ von Gott.47 Eine deutlich drastischere Position in der Fragestellung des freien Willens nimmt Martin Luther – mit ideologischer Rückenstärkung des Augustin – in seinem als Reaktion auf Erasmus von Rotterdam (im besonderen) und auf den damaligen Humanismus (im allgemeinen) verfassten Werk De servo arbitrio ein: »Wenn wir glauben, es sei wahr, daß Gott alles vorherweiß und vorherordnet, dann kann er in seinem Vorherwissen und in seiner Vorherbestimmung weder getäuscht noch gehindert werden, dann kann auch nichts geschehen, wenn er es nicht selbst will. Das ist die Vernunft selbst gezwungen zuzugeben, die zugleich selbst bezeugt, daß es einen freien Willen weder im Menschen noch im Engel, 45 Vgl. ebenda. 46 M. Beiner : Intentionalität und Geschöpflichkeit. Die Bedeutung von Martin Luthers Schrift »Vom unfreien Willen« für die theologische Anthropologie, Marburg 2000, 19; vgl. weiter St. Ernst: Grundlagen theologischer Ethik. Eine Einführung, München 2009,245 ff. 47 Vgl. Sabrı¯ (1933) 68 ff. ˙

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noch in sonst einer Kreatur geben kann.«48 Wenn auch die christliche Theologiegeschichte ebenfalls teils deutliche Neigungen zur Prädestinationslehre und gegen den freien Willen des Menschen vorzuweisen hat, sowie in der Bibel – besonders in den Lehren des Paulus – Aussagen in diese Richtung zu finden sind,49 lässt sich in der Tat feststellen, dass die Lehre der Determination innerhalb des Islams – und besonders in der (Volks-)Frömmigkeit – ein stärkeres Gewicht erhielt.50 Dies mag daran liegen, dass der Koran statistisch gesehen mehr Aussagen in diese Richtung vorzuweisen hat als die Bibel,51 oder auch daran, dass der Glaube an das qadar – in seiner guten wie auch in seiner schlechten Form – anhand prophetischer Überlieferungen wortwörtliche Erwähnung und Eingang in die sechs Glaubenssäulen des Islams fand.52 Diese deutlichere Betonung der Allkausalität Gottes und des sich hieraus ergebenden Verhältnisses des Menschen zum Geschehen um ihn herum, wie auch zu Gott seitens des Korans im Gegensatz zur Bibel, lässt sich exemplarisch an der jeweiligen Darstellung der Josefgeschichte aufzeigen: Denn während die Reaktion Jakobs auf den vermeintlichen Verlust seines Sohnes in der Bibel noch recht fassungslos und dramatisch erscheint – »Und Jakob zerriss seine Kleider und legte ein härenes Tuch um seine Lenden und trug Leid um seinen Sohn lange Zeit. Und alle seine Söhne und Töchter kamen zu ihm, ihn zu trösten; aber er wollte sich nicht trösten lassen und sprach: Ich werde mit Leid hinunterfahren zu den Toten, zu meinem Sohn. Und sein Vater beweinte ihn.«53 – beschreibt der Koran Jakob an mehreren Stellen ganz im Sinne des Gehorsams und der Akzeptanz des göttlichen Beschlusses – al-qada¯’ – mit der entsprechenden Geduld und Ge˙ fasstheit; so beim augenscheinlichen Verlust des Josefs: »Und sie hatten falsches Blut auf sein Hemd gebracht. Er sagte: ›Nein, ihr habt das ausgeheckt – so obliegt mir nun geziemende Geduld. Und Gott sei um Hilfe wider das gebeten, was ihr beschreibt‹«54 (Übers. d. Verf.). Ebenso beim darauffolgenden kurzzeitigen Verlust seines Sohnes Benjamin, welcher im Koran jedoch nicht namentlich erwähnt wird: »Er sagte: ›Nein, ihr habt euch etwas vorgemacht. Doch schön geduldig sein. Vielleicht wird Gott sie mir alle wiederbringen; denn Er ist der Allwissende, der Allweise‹« (Übers. d. Verf.). Auch hier kommt das vollständige Vertrauen in die Handlungen Gottes – mit der wohlbemerkt relevanten an-

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48 D. Husarov : Die Prädestinationsgedanken der Theologie Martin Luthers, E-Book: Grin Verlag, 2003, 20. 49 Vgl. U. Schoen: Gottes Allmacht und die Freiheit des Menschen. Gemeinsames Problem von Islam und Christentum, Münster 2003, 194 ff. 50 Vgl. ebenda. 51 Vgl. U. Schoen (2003) 195. 52 Vgl. Abd ar-Rahma¯n Al-Barra¯k: Sˇarh al- aqı¯da at-Taha¯wiyya, 2. Auflage, Riyad 2008, 324. ˙ ˙ ˙˙ ˙ 53 Genesis 37:33 – 36 54 Sure 12:18.

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schließenden Betonung seines Wissens und seiner Weisheit – und vor allem das Ausbleiben von Klage oder Beschwerde aufgrund dieses ›Schicksalsschlages‹ zum Ausdruck. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass sowohl der Islam als auch das Christentum im Falle der Determinationsfrage auf ähnliche Diskurse innerhalb der jeweiligen Theologiegeschichte zurückblicken, sich dies im Islam jedoch – wohl aufgrund der etwas deutlicheren und häufigeren Betonung innerhalb der relevanten Quellen – eher durchsetzte und elementarerer Bestandteil der Frömmigkeit wurde.

Lernziele und religiöse Kompetenzen

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Nach der fachwissenschaftlichen Darstellung der Thematik sowie dem knappen Vergleich zum Christentum sollen im Folgenden die der Vermittlung jener Thematik zugrundeliegenden Lernziele, sowie die dem Schüler hierbei zu vermittelnden religiösen Kompetenzen dargestellt werden, was – da die Thematik in erster Linie für den islamischen Religionsunterricht mit muslimischen Schülern gedacht und geeignet ist – mit Bezugnahme auf teils klassische, teils moderne muslimische Erziehungskonzepte aufgezeigt sein soll. Zunächst steht bei der Vermittlung jener Thematik die grundlegende Bekanntmachung der Schüler mit der systematischen Theologie des Islams – ilm al-kala¯m – im Vordergrund. Denn besonders im sunnitisch-islamischen Kulturraum hat die Popularität und der Stellenwert – und somit auch der Bekanntheitsgrad – jenes einst hochgeschätzten Wissenschaftszweiges – welcher gar den Beinamen usu¯l ad-dı¯n, also ›Grundlagen der Religion‹ trug55 – unter den ˙ islamischen Wissenschaften deutlich abgenommen,56 wodurch ein Großteil der unter Muslimen historisch entstandenen Dogmen und Ansichten für den heutigen Muslim nicht mehr nachzuvollziehen, geschweige denn sachlich korrekt hinterfragbar und zu prüfen sind, was dem islamischen Selbstverständnis des Glaubens zutiefst widerspricht – denn der oft zu hörende Ausspruch »Glauben ist nicht gleich Wissen« ist dem Islam in religiösen Belangen fremd. Vielmehr fordert der Koran den Menschen auf, sich die Stufe des yaqı¯n – also die »stark verfestigte, nicht mehr so einfach zu erschütternde Glaubensüberzeugung« zu erarbeiten.57 Ein in Gedichtform verfasstes Standardwerk sunnitischer Theolo˘

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55 Vgl. As-Safa¯rı¯nı¯: Lawa¯mi al-anwa¯r al-bahiyya wa-sawa¯ti al-asra¯r al-atariyya, 2. Auflage, ¯ ˙ Damaskus 1982, 4. 56 Vgl. U. Schoen (2003) 145 ff. 57 S. P. Spiewok: Zu einer klassischen Glaubenskonzeption im Islam auf der Grundlage des koran-arabischen Begriffs yaqı¯n. In: Zeitschrift für die Religionslehre des Islam 7 (2010) 6 – 21, 9.

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˘ awharat at-tawh¯ıd – bringt dies wie folgt zum Ausdruck: »Id kullu man gie – G ¯ ˙ qallada fı¯ t-tawh¯ıdi / ¯ıma¯nuhu- lam yahlu min tardı¯di« – »denn der Glaube ˙ ˘ dessen, der in Belangen des tawh¯ıd58 blind nachahmt, ist nicht frei vom Zö˙ gern.«59 Und eben diese Festigung des Glaubens durch den Verstand, sowie seine Loslösung von blinder Nachahmung und Imitation, wurde seitens muslimischer Gelehrsamkeit durch das Lehren des kala¯m praktiziert, was den Schülern an dieser Stelle zumindest einführend vermittelt sein soll. Neben der Bekanntmachung mit der systematischen Theologie im Allgemeinen als Grobziel sollen die Schüler im Spezifischen mit der Vorherbestimmungsthematik und ihrer theologischen Bedeutung vertraut gemacht werden – was für den muslimischen Schüler im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte unabdingbar ist, da die diesbezügliche Diskussion der damaligen Zeit gar politische Ausmaße annahm und großen Einfluss auf die weitere Entwicklung des islamischen Reiches und die Theologie hatte.60 Entsprechend dem koranischen Geschichtsverständnis – welches die Geschichte als Quelle der Erkenntnis für die Gegenwart ansieht – sollen die Schüler also in der Lage sein, den Einfluss der Prädestinationslehre auf machtpolitische Geschehnisse und die jeweiligen Zusammenhänge nachvollziehen und deuten zu können (tila¯wa). Ebenso hiermit im Zusammenhang stehend ist der altbekannte Vorwurf – besonders seitens der frühen Orientalistik – gegenüber den Muslimen als ›fanatischen Muselmanen‹, die – aufgrund der Tendenz zum Determinationsglauben – ohne weiteres Überdenken der Konsequenzen ihres Handelns – da ohnehin alles bereits seitens Gottes vorherbestimmt sei – in den Tag hineinleben und die Dinge sich selbst überließen, was gar teilweise als Grund für die derzeitige Rückständigkeit der islamisch geprägten Länder herangezogen wird.61 Dies führte in der Moderne so weit, dass dieser Gedanke gar seitens muslimischer Gelehrsamkeit selbst angenommen wurde und sich mehr und mehr Tendenzen zur Übernahme mu tazilı¯tischer Theologie in diesen Belangen herauskristallisierten62 – dies jedoch oft willkürlich und naiv, ohne die tatsächliche theologische Motivation seitens der mu tazila sowie ihre Konsequenzen zu beachten63 und dementsprechend in anderen Belangen der Theologie zu verfol˘

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58 Zwar bezeichnet at-tawh¯ıd im engeren Sinne das islamische Monotheismuskonzept, wird jedoch – wie in diesem ˙Fall – häufig auch als alle religiösen Dogmen und Glaubensinhalte umfassender Begriff genutzt. 59 Abd al-Fatta¯h Al-Bazm: Muqaddimat ˇsarh as-Sa¯wı¯ ala¯ g˘awharat at-tawh¯ıd, 2. Auflage, ˙ 20. ˙ ˙˙ ˙ Damaskus 2008, 60 Vgl. Fu¯da (1996) 29 f. 61 Vgl. Sabrı¯ (1933) 30.218.265. 62 Vgl. ˙ebenda 27. 63 Vgl. U. Schoen (2003) 135 ff.

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gen.64 So soll den Schülern vermittelt werden, dass keine theologische Schule aufgrund der Allkausalität Gottes jemals einen Wegfall der Verantwortung und Verantwortlichkeit des Menschen (suqu¯t at-taklı¯f) oder Faulheit gerechtfertigt ˙ hätte, sondern stets betont wurde, dass diese Problemstellung keinen Einfluss 65 auf die Pflichten des Menschen habe, was die islamische Geschichte selbst bezeugt; war doch die Blütezeit des Islams im wissenschaftlichen und politischen Bereich – nach anfänglicher Protektion der mu tazila unter den frühen Abbasiden66 – auch die Blütezeit asˇ arı¯tischer – und somit zur Prädestination tendierender – Theologie. Denn der Koran selbst tadelt eben jene Abweisung der Eigenverantwortung des Menschen auf deutliche Weise: »Diejenigen, die Gott andere Götter beigesellen, werden sagen: ›Wenn Gott gewollt hätte, hätten wir – aber auch unsere Väter – Ihm nichts beigesellt und hätten nichts für verboten erklärt.‹ Genauso bezichtigten die früheren Anhänger der Vielgötterei ihre Gesandten der Lüge und beharrten so lange darauf, bis sie Unsere Strafe auskosteten. Sage ihnen: ›Habt ihr etwa tatsächliches Wissen, worauf eure Behauptungen beruhen, das ihr uns vorlegen könntet? Nein! Ihr befolgt nur Mutmaßungen und ihr stellt nur falsche Vermutungen an.‹«67 Somit soll den Schülern im Sinne des normativen Charakters des Religionsunterrichts und seiner erziehenden Funktion – im islamischen Sinne ta’dı¯b – Verantwortungsbewusstsein für das eigene Handeln auch in Anbetracht des qadar und qada¯’ vermittelt, ˙ gleichzeitig das Rüstzeug für Argumentationen gegenüber den oben genannten und häufig angeführten Vorwürfen gegeben werden, um ihnen eine selbstbewusstere Identifizierung mit ihrer Religion – was eben auch die notwendige Basis für eine angstfreie kritische Auseinandersetzung mit der eigenen wie auch mit anderen Religionen ist – zu ermöglichen. Ein weiteres Ziel ist es, den Schülern einen Einblick in die innerislamische Ambiguität zu gewähren, was ganz besonders in modernen islamwissenschaftlichen Diskursen – in denen immer wieder ›neue alte Ansätze‹ anhand zuvor bereits vorhandener, im Laufe der Zeit jedoch aus dem Blickfeld des Interesses geratener und somit verloren gegangener Ansichten innerhalb mu˘

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64 Denn häufig wird seitens des sogenannten Neo-Mu tazilı¯tentums ausgeblendet, dass die angenehm wirkende Einräumung eines freien Willens des Menschen der mu tazilı¯tischen Vorstellung von göttlicher Gerechtigkeit entspringt, wie aber nun einmal auch das hiervon nicht trennbare mu tazilı¯tische Dogma, dass das Begehen einer ›großen Sünde‹ (kaba¯’ir) ohne darauffolgende Buße (tawba) den Muslim auf eine Stufe (hukm) zwischen Glaube (ı¯ma¯n) und Unglaube (kufr) bringt (manzila bayna manzilatayn), ˙wobei der sich auf dieser Stufe befindende Muslim als auf ewig in der Hölle verweilender Sünder betrachtet wird (fa¯siq muhallad fı¯ n-na¯r), da göttliche Gerechtigkeit im Sinne der mu tazila auch die absolute ˘ Konsequenz in Belangen der Realisierung der angedrohten Strafe verlangt. 65 Vgl. Sabrı¯ (1933) 30.218.265. 66 Vgl. ˙J. Bürgel (1991) 108. 67 Koran 6:148. ˘

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slimischer Kreise gesucht werden – häufig von großer Bedeutung ist und dem Schüler ermöglicht, die entsprechenden Ansichten und Auffassungen zumindest grob einzuordnen und seine religiöse Urteilskraft zu stärken (tahkı¯m). ˙

Unterrichtsansätze Was die die Thematik einleitende Unterrichtseinheit anbelangt, so bietet es sich an – vor der eigentlichen intensiveren Auseinandersetzung mit dem Thema – mit einer Selbsteinschätzung und Positionierung der Schüler bezüglich der Schicksalsvorstellung, der Selbstbestimmtheit des Menschen und Gottes Wirken und Einflussnahme im Werdegang des Einzelnen zu beginnen; dies, damit die Schüler selbst mögliche Unterschiede ihrer Betrachtung – sowie ihre Vergleichbarkeit und (Nicht-)Konformität mit klassisch-islamischen Vorstellungen – nach der genaueren Erarbeitung der Thematik beurteilen können. Hierzu werden auf Plakate aufgedruckte fiktive Statements bezüglich der Selbstwahrnehmung als komplett freies autonomes Wesen bis hin zur Selbstwahrnehmung als in jeglichen Situationen gezwungen, beziehungsweise von Gott gesteuert oder gar geleitet handelndes Wesen – und einige zwischen den beiden Extremen einzuordnenden, differenziertere Statements zum Thema – im Klassenzimmer verteilt aufgehängt. Den Schülern wird hierzu zu Beginn der Unterrichtsstunde Zeit gegeben, sich jeweils zu positionieren und anschließend ihre Wahl im Plenum kurz zu begründen. Alternativ kann als einleitender Impuls ein Filmabschnitt aus dem Film Der seltsame Fall des Benjamin Button (2008) abgespielt werden, der sich um die Balletttänzerin Daisy dreht, welche auf tragische Weise von einem Auto erfasst wird. Das Kollidieren des Autos mit Daisy wird als eine unglückliche Aneinanderreihung von vermeintlich zufälligen Ereignissen dargestellt, welches – wäre auch nur eines der dargestellten Ereignisse nicht bzw. nur leicht abgeändert geschehen – nicht zustande gekommen wäre – also ein typischer ›Schicksalsschlag‹. In diesem Zusammenhang kann anhand von Leitfragen eine Plenumsdiskussion angeregt werden, in der es zur Frage kommen soll, ob und inwieweit der Unfall zu verhindern war ; ob es sich nach Meinung der Schüler um Zufall oder um ein gottgewolltes – oder gar von ihm bewirktes – Ereignis handelte, und falls ja, inwiefern er den Menschen, die durch ihre jeweiligen Handlungen ihren Teil zur Entstehung eben dieses vermeintlich gottgewollten Ereignisses beigetragen haben, beeinflusst hat oder nicht, et cetera. Nachdem die Problematik deutlich wurde und zur Sprache kam, kann zur Schicksalsthematik im Islam – also zu qadar und qada¯’ – übergeleitet werden, ˙ wobei die Schüler sich in Expertengruppen anhand von Texten mit eben diesen Begriffen, in ihrer sprachlichen und jeweils unterschiedlichen theologischen Definition, auseinandersetzen und anschließend in Stammgruppen erläutern.

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Hiermit sollen nach einer persönlichen Auseinandersetzung mit der Thematik fachliche Grundlagen zu ihrer Behandlung aus islamwissenschaftlicher Sicht vermittelt werden. Hierauf basierend können die Schüler sich in einer folgenden Unterrichtseinheit bei erneuter Arbeit in Expertengruppen in die verschiedenen Schulen und ihre – vereinfachten – theologischen Grundlagen und Ansichten zur Thematik anhand von Fragestellungen wie beispielsweise der Urheberschaft der Realisierung einer Handlung, des ihr zugrunde liegenden Willens und der für ihr Zustandekommen nötigen Potenz, sowie der jeweils zugrundeliegenden theologischen Intention einarbeiten. Die Ergebnisse werden dann anhand eines Gruppenvortrags der Klasse vorgestellt. Abrundend können die Ergebnisse durch einen Lehrervortrag und/oder eine abschließende resümierende Plenumsdiskussion, in welcher die Schüler erneut ihre persönliche Meinung darstellen und das Erlernte beurteilen, gesichert werden.

Nadia el Kadi / Marie-Luise Krebs

Das Thema Gerechtigkeit anhand von Sure 18:60 – 82 (al-kahf ). Die Geschichte von Mose und al-Hidr ˘ ˙

1.1. Zusammenfassung von Sure 18:60 – 82 Nadia el Kadi

Während des Begleitseminars vom 23.3. bis zum 24.3. 2012 hatten Marie-Luise und ich den Auftrag, uns mit dem Thema Gerechtigkeit anhand von Sure 18:60 – 82 zu beschäftigen. Sie trägt den Titel al-kahf (die Höhle) und beinhaltet mehrere Erzählungen, darunter die von uns zu behandelnde Geschichte von Moses und al-Hidr, dem Grünen Mann oder dem Diener, dem Gott viel Wissen gegeben ˘ ˙ hat. Moses ist auf der Suche nach diesem Diener Gottes, den er zusammen mit seinem Burschen am Zusammenfluss der zwei Meere finden soll. Ihr Essen, einen Fisch, vergisst der Bursche bei einem Felsen, und dies ist das Zeichen für das Treffen. Moses darf dem Diener folgen, aber nur unter der Bedingung, keine Fragen zu stellen. Als erstes besteigen beide ein Schiff von armen Leuten und der Diener zerstört es, was Moses entrüstet. Der Diener meint, Mose könne keine Geduld aufbringen, aber er gibt ihm noch eine Chance. Als der Diener daraufhin einen Jungen tötet, wird Moses ganz aufgeregt, hört aber wieder die gleichen Worte noch einmal. Als er sich aber wiederum mit seiner Meinung einmischt, als der Diener eine Mauer aufrichtet, muss er ihn verlassen, nicht ohne aufgeklärt zu werden, warum er keine Geduld aufbringen konnte. Das Schiff gehöre armen Leuten, hinter denen ein grausamer König her sei, der alle funktionsfähigen Schiffe für sich beschlagnahme; der Junge habe gläubige Eltern, denen er in der Zukunft das Leben schwer machen werde; und unter der Mauer befinde sich ein Schatz, der Waisen gehöre. Der Diener beendet seine Erklärungen damit, dass er nicht aus eigenem Antrieb gehandelt habe, sondern im Auftrage Gottes.

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1.2. Einbettung in den Kontext Die Verse 60 – 82 liegen eingebettet in die Sure al-kahf. Schon der Titel der Sure macht neugierig, aber vor diesen Versen steht die Geschichte der ’asha¯bu l-kahf, ˙˙ bzw. die Legende der Siebenschläfer, die auch aus dem frühen Christentum bekannt ist. Nach der Geschichte von al-Hidr folgt die Geschichte von du¯ l¯ ˘ ˙ qarnayn (›der mit den zwei Hörnern‹) der im fernen Osten eine eiserne Mauer bauen ließ (man vermutet einen Bezug auf Alexander den Großen). In den Anfängen des Islams wurde Muhammad von den Juden nach einem Beweis seiner Prophetie gefragt, und er vertröstete sie immer wieder. Allerdings kam für mehrere Tage der Erzengel auch nicht, und der Prophet wusste nicht, was er den Juden antworten sollte. Erst nach längerer Zeit kam der Engel mit dieser Sure, in der vor den drei Geschichten steht: »Sprich nie von einer Sache: ›Ich werde es morgen tun‹, es sei denn, du fügst hinzu: ›so Allah will‹«.1 Man bemerkt also, dass es sich hier um Geschichten handelt, die aus vorislamischer Zeit stammen und die Muhammad als Beweis gegeben wurden, dass es sich beim Koran um Gottes Worte handelt und nicht um eigene Erdichtungen.

1.3. Problematik des Arbeitsauftrags Als wir diese Verse gelesen hatten, fiel uns auf, dass sie in erster Linie ein Schlüsselwort aufweisen, und zwar das der Geduld. Deshalb fanden wir es anfangs schwierig, sie unter dem Aspekt der Gerechtigkeit zu bearbeiten, zumal das Verhalten des Dieners auf den ersten Blick ungerecht war. Allerdings wurde uns dann beim intensiven Lesen klar, dass man für die Gerechtigkeit Gottes oft Geduld braucht, denn der göttliche Plan ist oft vorerst undurchschaubar. Erst viel später versteht man den Sinn der Sache. Unter diesem Gesichtspunkt wollten wir uns an die Arbeit machen.

2.1. Didaktische Überlegungen zum Text Marie-Luise Krebs

Die Sure von Mose und dem grünen Mann (al-Hidr) stellt für mich eine erste ˘ ˙ Auseinandersetzung mit einem Textauszug aus dem Koran dar. Aus christlicher Sicht bin ich zunächst erstaunt über die Vielschichtigkeit und Anschaulichkeit, 1 Sure 18:22 – 24, Al-Qur’a¯n al-Karı¯m: Al-Muntakhab. Auswahl aus den Interpretationen des Heiligen Korans, Ministerium für religiöse Stiftungen, Kairo 1999.

Das Thema Gerechtigkeit anhand von Sure 18:60 – 82 (al-kahf)

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mit der diese Begebenheit erzählt wird.2 Ist mir auf der einen Seite Mose – als Figur der Bibel – ein Begriff, so bleibt al-Hidr zunächst ein Rätsel. Die Deutung ˘ ˙ der drei Ereignisse, die Mose nicht ertragen kann (das Loch im Schiff, die Ermordung des Jungen, das Aufrichten der Mauer) erinnern unmittelbar an Jesu Auslegungen seiner Gleichnisse. Doch was fangen wir mit diesem Text an? Mit ›unserer Gerechtigkeitsperspektive‹ machen wir uns an den Text, indem wir uns konkret fragen, was Schüler über die Gerechtigkeit aus dieser Sure lernen können. Deshalb schlagen wir vor, die Schüler hierfür zunächst drei Sätze notieren zu lassen, die den Begriff Gerechtigkeit differenzieren: »Gerecht ist jemand, der…«3 Anschließend diskutieren wir zunächst darüber, ob folgende rhetorische Fragen im Bezug auf den Dreischritt der Handlung für die Schüler sinnvoll sind: Ist Gott gerecht, wenn er das Schiff von armen Leuten beschädigen lässt? Ist Gott gerecht, wenn er jemanden schickt, einen Jungen zu töten? Ist Gott gerecht, wenn er ein Wesen erschafft (al-Hidr), dessen Dankbarkeit mit Un˘ ˙ dankbarkeit begegnet wird?4

Die Fragen scheinen uns zu eindimensional, weil sie alle intuitiv mit einem Nein beantwortet werden müssen. Deswegen lenken wir unseren Blick auf das Ende der Geschichte. Nadia bringt den Begriff Geduld ein. Mose muss Geduld aufbringen, um Gottes Gerechtigkeit zu erfahren. Im Moment der Handlung erscheint diese als ungerecht, erst durch einen Zeitsprung wird verständlich, warum Gott so handelt.5 Man könnte also folgern, dass der Mensch die Geduld benötigt, um das, was er als ungerecht betrachtet, später als Gottes Gerechtigkeit zu erkennen.

2 Nadia erzählt mir die Sure anhand eines illustrierten Buches nach, das sie auch in der Schule (Klasse 4) verwendet: Abdel Morda: Aus dem Leben der Propheten. Moses und El Khidr, Almajarra-Verlag 2009. 3 Hier eröffnet sich bereits ein didaktisches Problem: Wir lenken die Schüler auf ein Thema und zwingen sie, eine Antwort zu suchen, die vielleicht nicht ihren Assoziationen und ihren ersten Fragen an den Text entsprechen. Im Unterricht müsste deshalb zu Beginn Raum für spontane Reaktion geschaffen werden, um den Schülern nicht die Motivation an der Auseinandersetzung mit dem Text zu nehmen. Andererseits kann die Fokussierung auf den Begriff Gerechtigkeit als eine didaktische Reduktion verstanden werden, die im Kontext der Ausführlichkeit des Textes angebracht scheint. 4 Unsere erste Formulierung war: »Ist Gott gerecht, wenn er eine Mauer aufrichten lässt?« Diese Frage haben wir dann umformuliert (siehe oben), da der Mensch, dem Undankbarkeit begegnet, das zentrale Thema dieser Sure ist. 5 In den Versen von Sure 18:80ff ist die Rede von »wir«, bzw. »wollte Dein Herr«, was darauf schließen lässt, dass hier Gott gemeint ist.

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Als nächster Schritt ist uns der Vergleich mit einer Perikope aus der Bibel wichtig.6 Das Thema Gerechtigkeit ist ein zentrales Thema der Bibel.7 Im Alten Testament taucht es im Dekalog (Ex 20,1 – 17, Die Zehn Gebote und in Dtn 5,6 – 21) auf. Wiederaufgenommen wird es durch die Propheten, bei denen es vor allem um soziale Gerechtigkeit (Am 2,6 – 16) und gerechte Gerichtsbarkeit geht.8 Im Neuen Testament wird die Gerechtigkeit im Reiche Gottes offenbart. Zentraler Text sind die Seligpreisungen der Bergpredigt (Mt 5,3 – 12). Ebenfalls bedeutsam ist die Geschichte vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25 – 37). Schließlich wird die Gerechtigkeit durch Kreuz und Auferstehung offenbar. Dabei meint der Begriff bei Jesus die Parteinahme und den Einsatz für Benachteiligte, und nicht die unparteiische Gleichbehandlung aller. Er lässt sich am besten im Begriff der Gnade fassen. Religionspädagogisch bedeutsam ist das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1 – 16). Hier entfaltet Jesus die »Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes. Gottes Gerechtigkeit hat als Bezugspunkt das Individuum, dessen Verhältnis zum Schöpfer und die Güte des Schöpfers. Die Gerechtigkeit dieser Welt hat als Bezugsrahmen den Vergleich mit den Mitmenschen. Hier gibt es also Erste und Letzte. Im Reich Gottes ist dies wegen des anderen Bezugsrahmens von Gerechtigkeit so nicht der Fall«.9 Uns scheint die zentrale Bedeutung von Kreuz und Auferstehung, wie sie in der Begegnung der Emmausjünger (Lk 24,13 – 49) deutlich wird, ein interessanter Versuch, um den Text mit Sure 18:60 – 82 zu vergleichen. Freudig überrascht stellen wir fest, dass diese beiden Texte der Heiligen Schriften ganz ähnlich aufgebaut sind. Einer Handlung folgt eine Deutung (Handlung: Sure 18:60 – 77 / Lk 24,13 – 24; Deutung: Sure 18:78 – 82 / Lk 24,25 – 34). Es würde sich also eine Herausarbeitung der Parallelen dieser beiden Texte anbieten, um anschließend auf ein Resümee zu kommen: Was lässt sich über die Gerechtigkeit Gottes bzw. die Geduld sagen? Es lassen sich dabei folgende Lernziele formulieren: – Die Schüler sollen erkennen, dass die Gerechtigkeit Gottes nicht mit dem menschlichen Verstand zu begreifen ist. – Sie sollen reflektieren über den Zusammenhang von Geduld und Gerechtigkeit.10 6 Denn bei der Ausbildung der Religionslehrer ist die Auswahl geeigneter Texte aus den Heiligen Schriften relevant. 7 Quelle: http://www.bsbz.de/unterricht/gerechtigkeit_in_der_bibel.htm. 8 Fragen nach dem rechten Gottesdienst werden beispielsweise bei Mi 2,6 – 16 thematisiert. 9 Vgl. Abitur. Prüfungsaufgaben mit Lösungen. Grundkurs ev. Religion. Gymnasium Bayern 2002 – 2008, Starck-Verlag, Freising 2008, 2007, 23 f. 10 Daran scheitert der Mensch immer wieder. Er muss Geduld aufbringen, um Gottes Gerechtigkeit zu erfahren; das ist eine wesentliche Aussage von Sure 18:60 – 82.

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– Anhand der Figur des Moses soll den Schülern deutlich werden, dass Geduld eine Prüfung ist, der viele Menschen nicht gewachsen sind. Damit sind folgende Kompetenzen religiöser Bildung verlangt: Das eigene Verständnis von Welt und Selbst wird zum Ausdruck gebracht. Die religiöse Deutung der Geschehnisse im Leben wird wahrgenommen. Andere religiöse Überzeugungen werden kommuniziert (Christentum-Islam).11

2.2. Die Emmausjünger (Lk 24,13 – 49) im Vergleich zu Sure 18:60 – 82 Nachdem ich kurz über den Begriff der Gerechtigkeit mit Nadia gesprochen habe, scheint uns die Begegnung des Auferstandenen, wie sie den Emmausjüngern geschieht, bedeutsam. Anhand dieser Perikope wird verständlich, warum Menschen weiterhin an Christus, den Auferstandenen, glauben. Allerdings wird der Text nicht in erster Linie als Beispieltext für Gerechtigkeit verstanden. Bei näherer Untersuchung stellen wir fest, dass auch hier eine Zweiteilung vorliegt: Handlung (Lk 24,13 – 24: Der Auferstandene erscheint den Emmausjüngern) und Deutung des Geschehens (Lk 24,25 – 34: Christus erklärt sich; Lk 24,31: »Da wurden ihre Augen geöffnet und sie erkannten ihn«).

3.1. Die Sure im Kontext des Themas Gerechtigkeit Nadia el Kadi

Wir kamen zum Schluss, dass es für Schüler relativ schwierig ist, die 22 Verse der Sure in erster Linie unter dem Aspekt der Gerechtigkeit zu behandeln, denn als Schlüsselwort gilt erst einmal der Begriff der Geduld, der siebenmal vorkommt. Ebenso müssten die Schüler mit der Vorgeschichte des Moses vertraut gemacht werden, da al-Hidr die Aufgabe hatte, Mose beizubringen, dass es Geschöpfe ˘ ˙ gibt, die mehr Wissen haben als er12. Das Verhalten des Dieners verlangt also erst einmal eine große Überwindung zur Geduld, um dann zu verstehen, dass hinter diesem Handeln ein bestimmtes Ziel liegt, das Moses erst später erkennt. Deshalb kam uns die Idee, die Schüler aus ihren eigenen Erfahrungen erzählen zu lassen, ob sie schon einmal die Erfahrung gemacht haben, sich zu gedulden, um

11 Vgl. D. Fischer ; V. Elsenbast: Grundlegende Kompetenzen religiöser Bildung, Münster 2006. 12 Moses hatte auf die Frage der Juden, wer am meisten wisse, geantwortet, dass er es sei.

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danach zu erkennen, dass etwas Besseres dabei herausgekommen sei, als sie dachten.

3.2. Zusammenhang der Themen Geduld und Gerechtigkeit aus islamischer Sicht Im gemeinsamen Gespräch kommen wir zur Erkenntnis, dass Geduld und Gerechtigkeit stark zusammenhängen, besonders im Islam. Der Mensch muss oft Leid erleben und braucht dazu Geduld, um durchzuhalten und nicht zu verzweifeln (Ayyu¯b / Hiob ist das beste Beispiel dafür). Allerdings bedeutet das nicht, Ungerechtigkeit zu dulden, sondern gegen Unrecht zu kämpfen.13 Auch das Kämpfen verlangt Geduld, um am Ende zur Gerechtigkeit zu gelangen.

3.3. Mögliche Alternativen aus dem Koran

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Unter diesem Gesichtspunkt kann man also die genannten Verse mit dem Thema Gerechtigkeit verbinden. Allerdings würde ich einen anderen Einstiegstext aus dem Koran benutzen, und zwar den Vergleich mit dem Rebgarten (Sure 18:32 – 43), wo Gott einen Angeber für sein Verhalten straft. Diese Verse stehen auch als abgeschlossene Geschichte in dieser Sure. Oder Sure 80 ( abasa), wo Gott Muhammad tadelt, weil er sich einem Blinden gegenüber ungerecht verhält.

3.4. Zusammenhang der Themen Geduld und Gerechtigkeit aus christlicher Perspektive (Theodizee) Marie-Luise Krebs

Im Gespräch wird uns deutlich, dass die besprochenen Texte eng mit der Theodizeefrage zusammenhängen (Warum lässt der gerechte Gott all das Leid in der Welt zu?). So wie wir es bereits bei der Besprechung der Sure festgestellt haben, brauchen auch die Emmausjünger Geduld, bis sie dem Auferstandenen begegnen. Im Augenblick größter Verzweiflung und Verlassenheit begegnet ihnen Jesus Christus, und sie sehen endlich wieder eine Perspektive für ihr Leben. Damit wird deutlich, dass das Thema Gerechtigkeit im Zusammenhang mit der 13 Ein Hadith des Propheten besagt: »Wer Unrecht sieht, soll es zuerst mit seiner Zunge ändern – dann mit seiner Hand – dann mit seinem Herzen, und dies ist das schwächste Mittel« (Sammlung Buha¯rı¯ und Muslim). ˘

Das Thema Gerechtigkeit anhand von Sure 18:60 – 82 (al-kahf)

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Geduld und der Frage der Theodizee im Kontext dieser Textstellen verstanden werden muss.

Aus der nachfolgenden Diskussion: Die Erzählung des Grünen Mannes zeigt Moses in der Schule Gottes. Die Frage der Theodizee wird insbesondere dann virulent, wenn jede Handlung des Grünen Mannes mit dem göttlichen Willen identifiziert wird. Aber ist das im Sinne der Erzählung wirklich notwendig? Oder wäre es denkbar, dass der göttliche Auftrag lautete, das Unglück der armen Leute abzuwenden (Schiffsepisode) und das Glück der Waisen zu bewahren (Mauerepisode), wohingegen die Entscheidung für die konkrete Maßnahme zur Erreichung des Ziels jeweils auf den Grünen Mann zurückgeht?14 Allerdings wird nirgendwo eine göttliche Missbilligung der unternommenen Maßnahmen ausgesprochen, so dass die Episode der Tötung des Adoleszenten (arabisch g˙ulam bezeichnet nicht das Kind, sondern den pubertierenden Halbwüchsigen) grundsätzlich schwierig im Verständnis ist. Dies gilt nicht nur für das biblische Gottesbild, sondern auch für das islamische Gottesbild. Das jüdische Bild göttlicher Gerechtigkeit auf der Basis der alttestamentlichen Quellen bezeichnet Gott als hebr. zaddı¯q (der Begriff meint das solidarische Gerechtigkeitsschaffen Gottes) oder hebr. ˇsille¯m (der Begriff bezeichnet das vergeltende Gerechtigkeitsschaffen Gottes). Dahinter stehen Gedanken des ius talionis und der Solidargesellschaft des Bundesvolkes. Ebenso wird die Verbindung von Gerechtigkeit und Erbarmen ausgedrückt, insbesondere in der frühen jüdischen Armentheologie, durch welche auch Jesus geprägt ist. Schwer vorstellbar ist im biblischen Verständnis ein Präventivschlag Gottes, der aufgrund seines Allwissens über zukünftiges Unrecht den Übeltäter vor der Tat tötet – nach biblischem Verständnis hat er ein solches Verhalten spätestens nach Gen 4 (Der Brudermord an Abel und das Kainsmal) oder Gen 9 (Noah und die Sintflutgeschichte) aufgegeben und allen Menschen versprochen: ›Ich hänge meinen Bogen in die Wolken / Nie wieder werde ich die Erde vernichten!‹ (vgl Gen 9,1 – 17). Wenn es einen solchen göttlichen Präventivschlag gäbe, wie könnten wir ihn nach Auschwitz, da er selbst in der Shoah ausblieb, anders verstehen als die Willkürtat eines menschenfeindlichen Despoten?

14 Hier wäre auf Grundlage des Beitrags von Samuel Dog- an (s. o.) erweitert zu diskutieren, welche Möglichkeiten zur freien Entscheidung oder Gestaltung seines Auftrages dem Grünen Mann nach Maßgabe der einzelnen Richtungen der klassischen islamischen Theologie zugestanden werden konnten.

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Auch für das islamische Gottesbild ist ein solcher Präventivschlag problematisch, da er die Umkehr des Sünders und seine tawba verhindert. Von daher bleibt die Frage, ob es sich im koranischen Text um etwas anderes als diesen Präventivschlag handeln kann? Bereits der frühe tafsı¯r nimmt sich dieser Problematik der Geschichte an. Der Koranexeget Muqa¯til Ibn Sulayma¯n15 (8. Jh. AD) konstruiert zur Stelle einen Fall extremer Notwehr, da der Heranwachsende als Wegelagerer die Gemeinschaft gefährdet, den ehelichen Frieden der Eltern zerstört, sie aus der Heimat treibt und sie letztlich durch Gewaltanwendung vom Glauben abbringen will. Die böse Tat geht also der Handlung des Grünen Mannes voraus, präventiv verhindert wird lediglich weiteres, noch schlimmeres Unrecht. Gegen das Leben des Täters stehen das Leben potenzieller Opfer, die Ehe der Eltern und deren leibliches wie geistliches Wohl. Trotzdem wäre es natürlich einfacher zu verstehen, wenn sich Gottes Macht in der Bekehrung des Missratenen zeigen würde. Offensichtlich standen diese Mittel dem Grünen Mann aber nicht zur Verfügung. Muqa¯til Ibn Sulayma¯n legt daher einen Schwerpunkt seiner Argumentation auf Gottes gute Neuschöpfung eines besseren Sohnes, durch die er die geprüften Eltern belohnt (vgl. Sure 18:81). Gottes Wille einer neuen guten Schöpfung steht somit als Klimax am Ende der Episode. Von diesem Punkt aus will sie wohl verstanden werden. Trotzdem bleibt der Preis dafür hoch, da sich daraus eine ganze Reihe anderer Schwierigkeiten ergeben. Das Sujet der (präventiven?) Tötung bleibt ein Stolperstein, und der Wille Gottes zur Neuerschaffung eines Sohnes könnte so verstanden werden, dass der erste Sohn zum Bösen prädestiniert war. Oder muss der erste Sohn als eine Fehlproduktion der göttlichen Schöpfung verstanden werden, welche Gott im Nachhinein verwirft? Auch dies ist im modernen Verständnis schwer zu bewältigen. In der Diskussion wird weiterhin noch einmal die Einordnung des Textes in die Komposition von Sure 18 angesprochen. Der Text von Sure 18:60 – 82 dient als Schaltstück zwischen der Vernichtung der sündhaften Städte (Sodom & Gomorrha) in Sure 18:59 und der Behütung der Zivilisation durch ein eisernes Tor, das die Chaos-Völker (Gog & Magog) zurückhält (vgl. Sure 18:83 – 98). Letzteres ist ein Motiv, das in seiner literarischen Form aus dem syrischen Alexanderroman bekannt ist, der wahrscheinlich nach der Rückeroberung der orientalischen Provinzen und der Stadt Jerusalem durch den byzantinischen Kaiser Heraclius I im Jahr 628 AD verfasst wurde.16 Die Niederringung des persischen Sassanidenreiches durch Heraclius einerseits und die arabische Machtübernahme andererseits wurden im orientalischen Christentum zeitnah 15 Vgl. Muqa¯til Ibn Sulayma¯n: Tafsı¯r (ed. A. Farid), Bde. 1 – 3, Neudruck Beirut 2003, hier Bd. 2, 298 f. 16 Vgl. K. van Bladel: The Alexander Legend in the Qur’a¯n 18:8 – 102, in: G.S. Reynolds (Hrsg.): The Qur’a¯n in Its Historical Context, London 2008, 175 – 203.

Das Thema Gerechtigkeit anhand von Sure 18:60 – 82 (al-kahf)

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als Hinweis auf das bevorstehende Zeitenende verstanden und in zahlreichen syrischen und koptischen Apokalypsen verarbeitet.17 Das im Alexanderroman errichtete eiserne Tor hält die Chaos-Völker aber nur bis zu einem durch Gott vorherbestimmten Tag zurück. Danach folgen die letzte Schlacht zwischen Zivilisation und Chaos, zwischen Gut und Böse – und das Weltende. Auch in Sure 18:99 – 101 folgt auf die Episode des du¯ l-qarnayn das apokalyptische Motiv der ¯ Posaune des Jüngsten Tages. Gottes wunderbares Eingreifen, das unseren Verstand übersteigt, ist weiterhin Thema der Verse Sure 18:9 – 26, welche der Sure al-Kahf ihren Namen gaben, und die einen Kommentar zur christlichen Siebenschläfer-Episode abgeben.18 Im Christentum ist das Auferwecken der Toten oder im Todesschlaf Gefangenen immer auch ein apokalyptisches Motiv, das auf die Öffnung der Gräber am Jüngsten Tag hinweist. Sure 18 scheint sich also mit einer ganzen Reihe von christlichen apokalyptischen Motiven auseinanderzusetzen, und in diesem Rahmen muss die Geschichte von Moses und al-Hidr wohl gedeutet werden. Es ˘ ˙ geht – auch – darum, die verstörenden, beängstigenden Zeichen der Endzeit richtig zu deuten.

17 Vgl. H. Suermann: Koptisch-arabische Apokalypsen, in: H. Teule (Hrsg.): Studies on the Christian-Arabic Heritage (FS Samir Khalil), 2004, 25 – 45; B. Flusin: Ist dies das Ende der Zeiten?, in: Welt und Umwelt der Bibel 1/2005, 34 – 40. 18 Vgl. S. Griffith: Christian Lore and the Arabic Quran, in: G.S. Reynolds (Hrsg.), The Qur’a¯n in Its Historical Context, London 2008, 109 – 138.

Gülsan Acıkgöz ˙

Gott ist Licht … und das Licht ist in mir: Der Lichtvers im Koran – Sure 24:35 (an-nu¯r)

Einleitung Lichtsymboliken sind in den verschiedensten Formen zu erleben. Man begegnet ihnen in allen Kulturen, bei allen Völkern, in allen Religionen. Licht bedeutet Leben, Orientierung und Wärme. Im Gegensatz zum Licht steht die Finsternis. Sie steht für Orientierungslosigkeit, Bedrohung, Tod. Aufgrund dieser Aspekte hat sich unsere Gruppe entschlossen, sich mit der Thematik des so genannten Lichtverses zu befassen. Die Erarbeitungsgrundlage für unsere spätere Präsentation war zunächst Vers 35 der 24. Sure des Korans – Surat an-nu¯r. Dieser Vers, nach dem die gesamte Sure bezeichnet ist, wird aufgrund seiner Thematik als Lichtvers bezeichnet. Er wird wie der größte Teil der Sure auf das Jahr 626 AD datiert. Der angesprochene Vers stellt sich dem Leser als Gleichnis dar, in dem Gott als Licht bezeichnet wird. Dabei wird es mit einer Nische verglichen, in der eine Lampe steht, die wiederum von einem funkelnden Glas umhüllt ist, das wiederum in seiner Beschaffenheit so strahlend ist, dass man es mit einem Stern vergleichen kann. Diese Lampe wird mit einem kostbaren Öl angezündet, welches von einem gesegneten Olivenbaum stammt, der weder östlich noch westlich ist und dessen Glanz von solch einer Qualität ist, dass es beinahe bereits leuchtet, ohne dass es vom Feuer berührt wurde. Weiterhin wird betont, dass Gott lediglich diejenigen zu Seinem Licht führt, die Er will. Somit verbindet der Lichtvers ganz grundlegende menschliche Erfahrungen von Helligkeit und Dunkelheit mit der Erfahrung Gottes, der in der dunklen Nische durch den Glauben gesucht werden will oder sich offenbaren will. Weiterhin wird Gott in dem Vers als Licht der Himmel und der Erde bezeichnet. So heißt es nu¯ru s-sama¯wa¯ti wa-l-’ardi. Dass Gott hier mit dem Licht, ˙ also einer physischen Sache gleichgesetzt wird, steht im offensichtlichen Widerspruch zur islamischen Gottesvorstellung, da diese vollständig transzendent ist. Somit ist Gott frei von jeglicher Art dinglicher, räumlicher oder zeitlicher Kontingenz. Außerdem erscheint es prinzipiell als schwierig, dass der Begriff des Lichtes verwendet wird. Denn dieser ist sehr unklar und wird nicht nur im

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täglichen Sprachgebrauch, sondern auch in seiner metaphorischen Sprachnutzung im Koran – und auch in der islamischen Theologiegeschichte – vielfach interpretiert und ist somit ein belasteter Begriff (siehe unten). Interessant ist außerdem die Positionierung des Verses, denn nicht nur durch seine Bedeutung, sondern auch durch seine Platzierung innerhalb der Sure sticht der Lichtvers hervor. Betrachten wir die Verse vor und nach dem Lichtvers, so zeigt sich, dass diese Verse sich mit profanen alltagsrechtlichen Thematiken, wie beispielsweise dem Umgang mit Sexualität, Ehe und mit der Alltagsorganisation befassen. Daher stellt dieser vielfach ausgelegte und diskutierte Vers die Exegeten vor Schwierigkeiten. Die Diskussion innerhalb der Gruppe betrachtete diese Problematik des Verses mit Hilfe einer islamisch-theologischen Analyse, an welche sich ein knapper christlicher Input anknüpfte, und ging dabei schnell auf den Bereich der Symbolsprache bzw. der Gleichnishaftigkeit über, welche für den Lichtvers von besonderer Bedeutung sind. Um die Symbolik des Gleichnisses zu verdeutlichen, brach die Gruppe das Gleichnis auf drei zentrale Punkte herab, deren Gehalt für das metaphorische Verständnis essenziell erschienen. Dabei wurde zu Anfang die Begrifflichkeit des Lichtes betrachtet und die damit verbundenen Konnotationen erläutert. Zuerst wurden äußere, also physische Eigenschaften des Lichtes benannt. Das die materielle Welt sichtbar machende Licht gibt dem Menschen Orientierung. So steht er ohne Licht in der Dunkelheit, zum Beispiel bei einem Stromausfall, hilflos da. Ebenso dunkel und beängstigend kann eine mondlose Nacht sein. Allerdings stellt das Licht den Menschen auch vor Herausforderungen, denn durch seine Beschaffenheit, Dinge zu beleuchten und überhaupt ans Licht zu bringen, stellt es dem Menschen diese Dinge gegenüber, und fordert damit von uns einen Bewusstwerdungsprozess ein. Das heißt wir sind gefordert, Dinge reflexiv zu betrachten, und somit eine Fremd- und Selbstwahrnehmung zu betreiben. Jedoch werden nicht nur äußere Wahrnehmungsprozesse durch Licht aktiviert, sondern auch innere Empfindungen angesprochen. Denn Licht wird emotional häufig mit Wärme, Geborgenheit und Sicherheit assoziiert. Es gibt uns Führung, Leitung und dient uns als Orientierungshilfe. Doch kann es in Form des Feuers nicht nur Nutzen, sondern auch Gefahr bedeuten. Interessant ist weiterhin, dass Licht häufig mit geistigen Erfahrungen verbunden wird. Denn nicht ohne Grund gibt es Redewendungen, wie zum Beipiel: »Ihm geht ein Licht auf«, »sie ist ein heller Kopf« oder »das ist mir sonnenklar«. Weiterhin lag das Augenmerk der Gruppe auf den beiden Aspekten Stern und Öl. Sterne dienen den Menschen als Hilfe, um sich in der Dunkelheit – z.B. auf einer Seefahrt oder in der Wüste – zurechtzufinden. Sie können als Wegweiser dienen, so wie der Stern von Bethlehem im christlichen Kontext den Heiligen drei Königen den Weg zur Krippe leuchtete. Zentral ist auch zu bemerken, dass

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Sterne nicht von sich aus leuchtende Körper sind, sondern dass sie das Licht reflektieren. Auch in unserem Vers ist nicht das wie ein Stern funkelnde Glas der Ursprung des Lichtes, sondern es verstärkt dieses nur durch seinen Widerschein. Die eigentliche Quelle des Lichtes ist das Öl, das beinahe aus sich selbst leuchtet. Die Reflexion der Begrifflichkeit des Öls ergab innerhalb der Gruppe, dass mit dem Öl eine Form der Unsichtbarkeit oder Verborgenheit verknüpft ist. Denn Olivenbäume, die sehr alt werden und genügsam sind, da sie auf kargem Boden gedeihen, die deformierte harte Rinden und harte Blätter haben, verbergen in ihren Früchten feinstes Öl, das Speisen verfeinert, zur Körperpflege dient und heilende Wirkungen hat. Also ist das gute Öl des Baumes durch seine Beschaffenheit nicht sichtbar, was innerhalb des Gleichnisses darauf schließen lassen könnte, dass das göttliche Licht unsichtbar ist, aber durch sein Wirken sichtbar und heilend wird. Im Anschluss daran arbeitete die Gruppe didaktische Aspekte zur schülergerechten Vermittlung des theologischen Gehalts heraus. Im Zuge dessen wurden Lernziele erarbeitet, die nach der Darstellung der Präsentation vorgestellt werden sollen. Daraus ergaben sich ein möglicher Unterrichtsansatz und Vorüberlegungen zur Didaktisierung, die im weiteren Verlauf des Artikels nach einer fachwissenschaftlich theologischen Präzisierung der Thematik beschrieben werden sollen.

Zur klassischen islamischen Exegese des Lichtverses An erster Stelle der Ergebnispräsentation stand die Beschreibung der Problemdarstellung innerhalb der islamischen Theologie, wobei die unterschiedlichen Auslegungen verschiedener Koranexegeten dargestellt wurden. Was die Interpretation und Auslegung des Lichtverses angeht, so sind uns bereits seit den frühesten Quellen muslimischer Koranexegese verschiedenste Möglichkeiten und Meinungen bezüglich seiner Bedeutung überliefert worden,1 wobei im Großen und Ganzen festgehalten werden kann, dass es besonders die einleitende Aussage »Gott ist das Licht der Himmel und der Erde« war, welche die Aufmerksamkeit der Exegeten auf sich zog. Denn gemäß dem koranischen Grundsatz laysa kamitlihı¯ ˇsay’ (nichts kommt Ihm gleich),2 welcher die absolute ¯ ˘

˘ arı¯r : G ˘ a¯mi al-Baya¯n, Mu’assasat ar-risa¯la, Beirut 2000, XIX, 177 ff. 1 Vgl. at-Tabarı¯, Ibn G ˙˙ 2 Sure 42:11. Es sei hierbei angemerkt, dass diese und ähnliche Übersetzungen nicht dem tatsächlichen Wortlaut des Verses entsprechen, da dieser innerhalb der Genitivverbindung »mitlihı¯« zwischen Gott – auf welchen sich das Personalpronomen bezieht – und einem ihm ¯ eigenen ›Seinesgleichen‹ – welches das Leitwort der Genitivverbindung ist – unterscheidet. Das Negieren einer Ähnlichkeit aber bezieht sich rein sprachlich nicht auf das Pronomen, das sich auf Gott bezieht, sondern auf das ›Seinesgleichen‹, weswegen die wörtliche Übersetzung

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Transzendenz Gottes auszudrücken sucht, erscheint es problematisch, Gott als Licht der Himmel und der Erde zu bezeichnen; da dies nun einmal ganz banale, materielle und immanente Gegebenheiten, wie die Sonne, elektrisches Licht, Sterne und ähnliches einschließt und Gott – konsequent weitergedacht – gar zu einem Teil der Schöpfung machen würde. Diesem Problem einer mangelnden Vereinbarkeit der wortwörtlichen Bedeutung einiger Verse mit der ebenso im Koran postulierten Transzendenz Gottes, welches im Koran an zahlreichen Stellen auftritt, versuchte die islamische Gelehrsamkeit der Usu¯l ad-Dı¯n (die ˙ Grundlagen der Religion) mit Hilfe von Prinzipien und Richtlinien der Exegese entgegenzutreten. So sagt beispielsweise der hanbalı¯tische Gelehrte Ibn al˘ awzı¯, wobei er anthropomorphe Strömungen˙ innerhalb seiner Rechtsschule G anprangert: »Sodann, als sie die verschiedenen Dinge als Eigenschaften Gottes postulierten, sagten sie, dass sie die Dinge nicht entsprechend der sprachlich induzierten Bedeutung auslegten, […] sondern sie sagten, sie legten sie in ihrer Gesamtheit mit der wortwörtlichen Bedeutung aus, […]. Doch eine Aussage wird nur dann in ihrem wortwörtlichen Sinne verstanden, wenn dies [in Bezug auf Gott, Anm. des Verf.] problemlos möglich ist, wenn nicht, so ist sie allegorisch zu verstehen«3 (Übersetzung u. Hervorhebung d. Verf.). Entsprechend diesem Grundsatz gehört also auch der Lichtvers zu jenen Versen, die der Koran selbst als mutasˇa¯bih4 – nämlich als unklar oder uneindeutig – bezeichnet und eröffnet für seine Exegese somit die Möglichkeit einer allegorischen Auslegung sowie, aufgrund der fehlenden Festlegung seiner Bedeutung durch den Koran oder durch die Hadithen-Literatur, einer zulässigen Ambiguität innerhalb dieser Auslegung. ˘ arı¯r at-Tabarı¯, welcher als Urvater der islamischen Koranexegese gilt Ibn G ˙˙ und im Jahre 311 der Hig˘ ra gestorben ist, gibt unmittelbar nach der Erwähnung des Verses seine Interpretation zur Begrifflichkeit des Lichtes kund: »Er, der Erhabene, meint mit seiner Aussage ›Gott ist das Licht der Himmel und der Erde‹, dass Er der Rechtleiter jener ist, die sich in den Himmeln und der Erde befinden; denn durch sein Licht finden sie den Weg zur Wahrheit und durch seine Rechtleitung retten sie sich vor den Wirren der Irreleitung«5 (Übers. d. Verf.). Gottes Dasein als Licht wird also als sein Dasein als jener, von dem die (Recht-) Leitung ausgeht, zu arabisch al-ha¯dı¯, verstanden, was sowohl sprachlich-me-

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des Verses lauten müsste: »nichts gleicht Seinesgleichen«. Traditionell wird dies in der arabischen Rhetorik und Koranexegese jedoch als eine Art der Allegorie – nämlich al-Mag˘a¯z biz-Ziya¯da – angesehen und daher in den meisten Übersetzungen unberücksichtigt gelassen. ˘ awzı¯, Abu¯ al-Farag˘ : Daf ˇsubah at-tasˇbı¯h bi-akuff at-tanzı¯h, al-Maktaba al-Azhariyya 3 Ibn al-G li-t-tura¯t, Kairo 1992, 4 f. ¯ 4 Vgl. hierzu Sure 3:7. ˘ arı¯r: G ˘ a¯mi al-Baya¯n, XIX, 177. 5 At-Tabarı¯, Ibn G ˙˙ ˘

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taphorisch – ist es doch das Licht, das dem Menschen die Orientierung ermöglicht – als auch im Hinblick auf den koranischen Kontext vertraut wirkt. So werden die Begriffe des Lichts und der Dunkelheit an zahlreichen Stellen des Korans zur Kontrastierung der Rechtleitung und des Irrwegs verwendet, wie beispielsweise im Vers 257 der Sure al-Baqara: »Gott ist der Freund derer, die glauben. Er führt sie aus den Finsternissen ans Licht. Die Ungläubigen aber haben die Götzen zu Freunden, die sie aus dem Licht hinaus in die Finsternis führen« (Übers. d. Verf.). Diese Art der Auslegung, nämlich die Auslegung des Korans durch den Koran selbst (tafsı¯r al-qur’a¯n bi-l-qur’a¯n), ist ein anerkanntes und gängiges Prinzip muslimischer Koranexegese.6 Diese Auslegung führt at˙ Tabarı¯ anschließend ebenfalls auf weitere muslimische Autoritäten der frühes˙ ten Generationen zurück, wie beispielsweise auf den Prophetengefährten Ibn Abba¯s oder auch den Diener Muhammads, Anas Ibn Ma¯lik.7 Eine weitere mögliche Auslegung der Phrase, dass Gott das Licht der Himmel und der Erde sei, führt at-Tabarı¯ unter anderem auf den Schüler des Ibn Abba¯s, ˙˙ Mug˘a¯hid zurück. Diese besagt, dass »Er die Angelegenheiten in ihnen [d.h. in den Himmeln und der Erde, Anm. d. Verf.] reguliert, ihre Sterne, ihre Sonne, ihren Mond.«8 Die Bedeutung des »Lichtes der Himmel und der Erde« bezieht sich hier also auf den Verwalter (Mudabbir) der Lichtquellen der Himmel und der Erde. Die dritte von at-Tabarı¯ angeführte Deutungsmöglichkeit ist jene, dass Gott ˙˙ das Licht der Himmel und der Erde im tatsächlichen Verständnis des Lichtes als Schein oder Strahlung (dau’) sei. Diese Art der Auslegung, welche die Bestäti˙ gung des offenbaren Wortlauts ist und welche zugleich die beschriebene theologische Problematik der mit ihr einhergehenden Immanenz Gottes aufwirft, führt at-Tabarı¯ auf Ubayy Ibn Ka b zurück.9 ˙˙ Zu guter Letzt verteidigt at-Tabarı¯ die Auslegung des Verses im Sinne der ˙˙ Rechtleitung, indem er den unmittelbar vorangehenden Vers der Sure erwähnt und thematisch verknüpft: »Wir haben euch doch verdeutlichende Verse herab gesandt, und ein Beispiel derer, die vor euch dahingegangen sind, sowie eine Ermahnung für die Gottesfürchtigen« (Übers. d. Verf.). Schließlich sei die Herabsendung der koranischen Verse eine Art der Rechtleitung, weshalb at˙ Tabarı¯ die beiden Verse wie folgt in eigenen Worten wiedergibt: »O ihr Men˙ schen, wir sandten euch deutliche Verse, die die Wahrheit vom Irrtum unterscheiden […] und leiteten euch durch sie recht, und wir verdeutlichten euch ˘

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˘ unaydı¯, Abdulla¯h: Risa¯la ila¯ ahl at-tag˙ r bi-ba¯b al-abwa¯b, ¯Imadat al-baht al- ilmı¯, 6 Vgl. al- G ˙˙ ˙¯ Medina 1992, 39. ˘ arı¯r : G ˘ a¯mi al-Baya¯n, XIX, 177. 7 Vgl. at-Tabarı¯, Ibn G 8 Ebd. ˙ ˙ ˘ arı¯r : G ˘ a¯mi al-Baya¯n, XIX, 178. 9 Vgl. at-Tabarı¯, Ibn G ˙˙ ˘ ˘

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durch sie, was ihr in Bezug auf eure Religion zu wissen habt; und dies, da ich der Rechtleiter der Himmel und der Erde bin […]«10 (Übers. d. Verf.) Interessant sind ebenfalls die verschiedenen von at-Tabarı¯ angeführten ˙˙ Auslegungen der zweiten Erwähnung des Lichtes im genannten Vers, welches nun nicht als Gott selbst, sondern als ihm zugehörig dargestellt wird: »Gott ist das Licht der Himmel und der Erde. Das Gleichnis seines Lichtes [Herv. d. Verf.] ist das einer Nische […] [Übers. d. Verf.]« So überliefert at-Tabarı¯ beispielsweise ˙˙ mit seiner Überlieferungskette zu Ka b al-Ahba¯r, dass dieser das Licht Gottes an ˘ jener Stelle mit dem Propheten Muhammad identifizierte.11 Auch hierzu lassen sich Indizien in anderen Versen des Korans finden, die den Propheten Muhammad mit Licht in Verbindung bringen, wie beispielsweise in der 33. Sure: »O Prophet! Wir sandten dich als Zeugen, als Verkünder froher Botschaft, als Warner sowie als Aufrufer zu Gott mit seiner Erlaubnis und auf dass du eine lichtspendende Leuchte seiest.«12 Andere wiederum, wie der berühmte HadithGelehrte Hasan al-Basrı¯ oder auch Ibn Abba¯s, deuteten das Licht als den Koran,13 ˙ ˙ der sich selbst an anderer Stelle ebenso explizit als solches bezeichnet: »So glaubet an Gott und seinen Gesandten und an das Licht, das wir herabsandten.«14 ˘ ubayr, welcher ein Schüler des Ubayy Ibn Ka b dagegen, wie auch Sa ¯ıd Ibn G ¯ Ibn Abba¯s wie auch der Frau Muhammads, Aisˇa war, sowie ad-Dahhak, welcher ˙ ˙ ˙˙ auch zu den Autoritäten islamischer Koranexegese der zweiten Generation gehörte, bezogen das Possessivpronomen in »das Gleichnis seines Lichtes« nicht etwa, wie zu vermuten wäre auf Gott, sondern die Rede sei nun vom »Licht des Gläubigen, der den Koran und den Glauben [d.h. al-ı¯ma¯n, Anm. d. Verf.] verinnerlicht hat.«15 At-Tabarı¯ selbst äußert keine eigene Präferenz, was die Of˙˙ fenheit des Verses und die in seinen Augen vorhandene Plausibilität aller genannten Auslegungsmöglichkeiten nahelegt. Neben der Auslegung und Erklärung der genaueren Gestalt und Bedeutung der im Vers erwähnten Nische sowie der sich in ihr befindlichen Lampe – deren Darstellung in der Exegese an dieser Stelle den Rahmen sprengen würde – sei zuletzt auf den im Vers erwähnten gesegneten Baum eingegangen, dessen Bezeichnung als »weder östlich noch westlich« nicht einfach zu deuten ist. Der asˇ arı¯tische Theologe und Historiker Fahr ad-Dı¯n ar-Ra¯zı¯ erwähnt einige ver˘ schiedene Auslegungen in seinem bekannten 33-bändigen Korankommentar ˙ ayb (die Schlüssel des Verborgenen) oder in der Literatur einfach Mafa¯tı¯h al-G ˙ nur at-Tafsı¯r al-Kabı¯r (der große Korankommentar) genannt, welcher im Ge˘

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Ebd. ˘ arı¯r: G ˘ a¯mi al-Baya¯n, XIX,179. Vgl. at-Tabarı¯, Ibn G ˙˙ Sure 33:45.46. ˘ arı¯r: G ˘ a¯mi al-Baya¯n, XIX, 179. Vgl. at-Tabarı¯, Ibn G ˙˙ Sure 64:8. ˘ arı¯r : G ˘ a¯mi al-Baya¯n, XIX, 179. At-Tabarı¯, Ibn G ˙˙ ˘ ˘

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gensatz zum Kommentar des Tabarı¯ weniger durch die Auslegung des Korans ˙ durch die Überlieferungen der Altvorderen, als vielmehr durch seine eigenen Schlüsse und logischen Herleitungen bekannt wurde. So führt er zunächst die auf Hasan al-Basrı¯ zurückgehende Meinung an, bei ˙ ˙ dem im Vers geschilderten Baum handele es sich um einen paradiesischen Baum, da er, wäre er weltlich, irgendeiner östlich- bzw. westlich gelegenen Örtlichkeit – so deutet al-Basrı¯ diese Symbolik – zuzuordnen wäre. Ar-Ra¯zı¯ selbst lehnt diese ˙ Interpretation ab mit der Begründung, dass das Anführen eines Gleichnisses, welches der Lichtvers ja sei, den Nutzen hätte, dem Menschen Unbekanntes durch das ihm Bekannte und seinerseits Nachvollziehbare näherzubringen. Dies wäre aber nicht erfüllt, würde das Gleichnis selbst mit dem Menschen fernen und nicht greifbaren Dingen – wie es ein paradiesischer Baum eben wäre – arbeiten.16 Eine weitere unter den Exegeten vertretene Auslegung ist, dass es sich bei dem Baum um einen syrischen Ölbaum handele. Dies, da Syrien in der klassischen Epoche nahe dem Mittelpunkt der damals bekannten Welt lokalisiert wurde und weil es für seine Ölbäume, deren Öl man in der Tat für Lampen verwendete, berühmt war. Dies kommentiert ar-Ra¯zı¯ wie folgt: »Und auch hierbei handelt es sich um eine schwache Meinung, denn wer davon ausgeht, dass die Erde rund ist, kann nicht davon ausgehen, dass der Osten und der Westen bestimmte Orte sind [wodurch Syrien als absolut gesehen mittig bezeichnet werden könnte, Anm. d. Verf.], sondern vielmehr hat jedes Land einen [relativen, Anm. d. Verf.] Osten und Westen. Des Weiteren, da das Gleichnis für einen jeden, dem das Öl bekannt ist, geprägt wurde und Bäume dergleichen auch außerhalb Syriens vorhanden sein könnten.«17 Die dritte Meinung, die ar-Ra¯zı¯ anführt, ist jene, dass es sich um einen Baum handelt, der von anderen Bäumen umgeben ist und den somit weder zum Sonnenaufgang – worauf durch das Wort östlich hingewiesen wird – noch zum Sonnenuntergang – westlich – Sonnenstrahlen erreichen. Diese Meinung verwirft er mit der Begründung, dass der Vers von qualitativ herausragendem Öl spricht, was jedoch nur durch dauerhafte Aufnahme des Sonnenlichtes gewährleistet wird, wodurch er zu seiner abschließenden Meinung kommt, dass es sich um einen Ölbaum handele, der entweder auf einer Anhöhe oder aber auf einer flachen Ebene ohne andere Bäume um ihn herum, ohne Hindernisse von morgens bis abends dem Sonnenlicht ausgesetzt ist. Somit versteht er weder östlich als weder ausschließlich östlich, sowie noch westlich als noch ausschließlich westlich; vielmehr kann er beiderseits und jederzeit Sonnenlicht aufnehmen,

˙ ayb, Da¯r al-Fikr, Beirut:2005, XXIII, 390. 16 Vgl. ar- Ra¯zı¯, Fahr ad-Dı¯n: Mafa¯tı¯h al-G ˙ ˘ 17 Ebd.

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wodurch das Öl energiereicher und qualitativer wird »und gar brennen würde, ohne dass das Feuer es berührte.«18 Es ist also ersichtlich, dass der Vers in seiner Gesamtheit auf die verschiedensten Arten interpretiert wird und Spielraum für Interpretationen und Allegorien lässt, wobei diese Ambiguität, da es sich nach koranischem Selbstverständnis, wie zuvor erwähnt, um einen bewusst mehrdeutigen (mutasˇa¯bih) und nicht eindeutigen (muhkam) Vers handelt, stets Akzeptanz unter den musli˙ mischen Exegeten fand.

Zur Lichtsymbolik in christlicher (biblischer) Tradition Die Präsentation wurde mit einer christlich-theologischen Reflexion der Lichtsymbolik weitergeführt, wobei das christliche Verständnis des Jesus-Wortes »Ich bin das Licht der Welt« (Joh 8,12) als Vergleich herangezogen wurde. Zu dieser Stelle ist besonders die Meinung des Johannes hervorzuheben, dass durch Jesus das Licht allen offenbart wurde. Allerdings machen auch Christen die Erfahrung, dass Menschen dieses Licht trotz seiner öffentlichen Präsentation dennoch nicht erkennen, denn so heißt es in Johannes 1,9 f: »Das wahre Licht, das die Finsternis erleuchtet, kam in die Welt, (…) doch die Welt hat es nicht erkannt.« Im folgenden Abschnitt soll nun auf diese christliche Perspektive eingegangen werden. Diese ist insbesondere deshalb wichtig, da die die Lichtthematik in der Bibel zentral ist und an verschiedenen Stellen verwendet wird. Hierbei ist es besonders interessant, dass dabei kein konstanter Lichtbegriff genutzt wird, sondern dass unterschiedliche Auffassungen von Licht dargestellt werden. Aus diesen sollen exemplarisch einige vorgestellt werden. Neben Verweisen auf die Sonne als dem großen Lichtträger und auf andere Lichtquellen, die sich von der Sonne unterscheiden, wird der Begriff in biblischen Texten hauptsächlich im moralischen Sinn, meist in Kontrast zur Dunkelheit verwendet. So wird in Johannes 3,1 – 21 beschrieben, wie Nikodemus die Gelegenheit der Dunkelheit nutzt, um Jesus mit seinen Fragen aufzusuchen. Jesus stellt sich diesen Fragen und beendet das Zwiegespräch mit dem Hinweis, »(…) dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, der hasst das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbart wird, dass seine Werke in Gott getan sind.«19 Somit nimmt Jesus direkten Bezug auf Nikodemus, der ihn in der 18 Vgl. ebd. 19 Joh 3,1 – 21.

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Dunkelheit der Nacht aufsuchte, um nicht entdeckt zu werden. Wobei hier Licht und Dunkelheit moralisch konnotiert werden, indem Dunkelheit mit negativen Tätigkeiten und Unwahrheit gleichgesetzt wird. Dadurch wird dargestellt, dass nur derjenige, der sich bewusst ist, dass seine Taten bei Gott Billigung finden, diese bei Licht, also öffentlich begeht und zu ihnen steht. Jedoch zieht das Licht nicht nur das Schlechte und die Gefahren der Erde aus der Dunkelheit hervor, sondern es dient den Menschen auch als Orientierung und leuchtet ihnen als Lampe den richtigen Weg.20 Weiterhin bezeichnet Gott sich selbst in Psalm 27,1 als Licht. So wie natürliches Licht dem Körper Kraft und Gesundheit bringt, gibt das göttliche Licht der Seele Heilung.21 Interessant erscheint hier auch die Betrachtung des Abschnittes aus dem Lukas-Evangelium Lk 11,33 – 36. Hier zeigt der Text eine öffentliche Sichtbarkeit des göttlichen Lichtes, das niemand in einer dunklen Nische halten kann, da die göttliche Offenbarung nach außen drängt, um von allen erkannt zu werden. Wobei unterschieden wird zwischen einem gesunden, also das Licht wahrnehmenden Auge und einem kranken Auge, das seinen Besitzer zur Finsternis zwingt, weil es die göttliche Offenbarung nicht wahrnimmt. Dem korrespondiert das christliche Verständnis, dass Christen ›Licht im Herrn‹ sind und als solche ermahnt werden, als ›Kinder des Lichts‹ zu wandeln22. Inmitten der Dunkelheit ist es ihre Aufgabe, als Lichter in der Welt zu leuchten23. Besonders wichtig erscheint in diesem Kontext das Jesus-Wort »Ich bin das Licht der Welt…«24, denn fällt es im islamischen Kontext auch schwer nachzuvollziehen, dass Gott trotz seiner Transzendenz als Licht der Himmel und Erde beschrieben wird, ist es greifbarer, dass Jesus als Mensch sich selbst als Licht der Welt bezeichnet.

Formulierung von Lernzielen und ein Unterrichtsansatz Aus der nun bisher umfassend erläuterten Sachanalyse soll durch Didaktisierung ein Unterrichtsansatz entstehen. Hierzu wird im Vorfeld auf die Formulierung von Lernzielen eingegangen, woraufhin diese anschließend nach dem Kompetenzschema von Harry Harun Behr25 religionspädagogisch begründet 20 21 22 23 24 25

Vgl. Ps 119,105. Vgl. Ps 27,1. Vgl. Eph 5,8 sowie 1 Thes 5,5. Vgl. Phil 2,15. Joh 8,12. Vgl. dazu H.H. Behr : Worin liegt die Zukunft der islamischen Religionspädagogik in Deutschland? In: Zeitschrift für die Religionslehre des Islam 4 (2010) Heft 7, 22 ff. Und: Ders.: Ursprung und Wandel des Lehrerbildes im Islam mit besonderem Blick auf die deutsche Situation. In: H.H. Behr ; D. Krochmalnik; B. Schröder (Hrsg.): Was ist ein guter

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werden sollen. Im folgenden Abschnitt wird kurz Grundsätzliches zur Lernzielformulierung geklärt, um dann im weiteren Verlauf Ziele für eine Unterrichtseinheit, die sich mit dem Lichtvers auseinandersetzt, zu formulieren. Lernziele beschreiben den angestrebten Lerngewinn der Schülerinnen und Schüler zu einem bestimmten Inhalt. Diese Lernziele lassen sich aufgrund verschiedener Aspekte ordnen und dimensionieren. Mögliche Formen der Dimensionierung sind nach Reichweite bzw. nach Abstraktionsniveau (wobei Grobziele und Feinziele unterschieden werden), nach Fachbezug (allgemeine oder fachspezifische Lernziele), nach Lernzielebenen (Reproduktion, Reorganisation, Transfer, problemlösendes Denken) und nach Lernbereichen. Auf die Dimension der Lernbereiche beziehen sich die weiterführenden Erläuterungen. In diesem allgemeinen Abschnitt beziehe ich mich auf die Ausführungen von Ruth Meyer aus ihrem Lehrbuch »Lehren kompakt«.26 Meyer unterscheidet drei Arten von Lernzielen.27 Diese können kognitiv, psychomotorisch oder affektiv sein. Dies entspricht im groben dem Ganzheitlichkeitsprinzip Pestalozzis – lernen mit Kopf, Herz und Hand. Kognitive Lernziele sind Lernziele im Bereich Wissen, Kennen, Verstehen. Diese werden also im Kopf erarbeitet. Psychomotorische Lernziele hingegen sind Lernziele im Bereich des Könnens, Handelns und Tuns. Diese werden mit den Händen geübt und sollen bedacht ausgeübt werden. Den dritten Bereich der Lernziele bilden die affektiven Lernziele. Diese sind Lernziele, die sich im Bereich der Gefühle, Einstellungen und Werte befinden. Sie werden zum Beispiel über die Reflexion, den Austausch und das praktische Üben erlangt. Die damit verbundene Wertebildung sollte aber natürlich auf einer freiwilligen Basis geschehen, da alles andere der Selbstbestimmung und der Würde des Menschen entgegenstehen würde. Außerdem erwähnt Meyer,28 dass gut ausformulierte Lernziele drei Segmente enthalten, nämlich das Endverhalten (was), die Bedingungen (wie) und den Maßstab (wie viel). Dabei ist es notwendig, dass das vom Lernenden erwartete Endverhalten in präzise Worte gefasst wird und dass ein beobachtbares Verhalten beschrieben wird. Das Endverhalten ist das Verhalten, das die Lernenden nach Durchlaufen des Lernprozesses an den Tag legen. Das Wie der Lernzielformulierung beschreibt die Bedingungen und die Mittel, die von den Lernenden genutzt, beziehungsweise nicht genutzt werden, oder unter denen sich das Verhalten so äußert wie ein wünschenswertes Endverhalten. Zuletzt muss ein Beurteilungsmaßstab für die Art des Verhaltens aufgestellt werden. Diese Religionslehrer? Antworten von Juden, Christen und Muslimen (Religionspädagogische Gespräche zwischen Juden, Christen und Muslimen), Berlin 2009, 149 – 188. 26 Vgl. R. Meyer : Lehren kompakt. Von der Fachperson zur Lehrperson, Bern 2004. 27 R. Meyer (2004) 36. 28 R. Meyer (2004) 38.

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Maßstäbe können bezogen sein auf Qualität, Menge oder Zeit (zum Beispiel: Wie lange haben die Lernenden Zeit, die Aufgaben zu lösen?). Auf dieser generellen Basis sollen nun Lernziele und Kompetenzen für einen Unterrichtsansatz mit der Thematik des Lichtverses formuliert werden. Lernziele Die Schülerinnen und Schüler sollen Gefallen finden und sich am Austausch über ihr bisheriges Erleben des Lichts beteiligen. Außerdem sollen die Schülerinnen und Schüler einen persönlichen Zugang zum Vers entwickeln

ta lı¯m: die Übermittlung und Kunde der religiösen Informationsbestände

Die Schülerinnen und Schüler sollen die Inhalte des Verses 35 der 24. Sure sowie der Verse 33 – 36 aus Lukas 11 erfassen. Sie sollen außerdem die Verse analysieren und ihre Sachverhalte in ihre Bestandteile zerlegen können, um im letzten Schritt die Gemeinsamkeit innerhalb der Verse zusammenzufügen.

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Geforderte Kompetenzen tila¯wa: Die Deutung der Welt und des Selbst auf Grundlage der religiösen Informationsbestände

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Abschließend soll hier ein möglicher Unterrichtsansatz für eine christlich-islamisch gemischte Lerngruppe im Religionsunterricht dargestellt werden. Nennen wir die Stunde: »Wir basteln uns unsere theologische Nische«. Es wäre möglich, diese Unterrichtsstunde mit einem Tafelanschrieb zu beginnen. Dieser stellt einerseits einen Ausschnitt aus Sure 24:35 dar, nämlich: »Alla¯hu […]nu¯run ala¯ nu¯rin« zu deutsch: »Allah ist … Licht über Licht« (Übers. d. Verf.), und andererseits den Ausspruch Jesu »Ich bin das Licht der Welt« aus Johannes 8,12. Diese Elemente sollen den Schülerinnen und Schülern als Impuls dienen, um über das Licht, dessen Beschaffenheit und Eigenschaften zu reflektieren. Hierbei können die Schülerinnen und Schüler ihre Assoziationen an die Tafel schreiben. Helligkeit, Wärme, Kerzenlicht, Feuer, Blitz und unerträglicher Atomblitz könnten erwartungsgemäß Verknüpfungen sein, die die Schülerinnen und Schüler mit dem Begriff Licht herstellen werden. Nachdem diese Anknüpfungspunkte gesammelt wurden, wäre es im nächsten Schritt interessant, die Schülerinnen und Schüler mit der Frage zu konfrontieren, welches Licht gemeint ist, wenn Allah im Koran und Jesus im Evangelium von sich selbst als Licht sprechen. Auch hierzu können die Schülerinnen und Schüler ihre Gedanken und Assoziationen äußern. Im Anschluss daran sollen sich die Schülerinnen und Schüler in einem Stuhlkreis zusammenfinden. Hierbei sollen sie sie den Stuhlkreis um eine Ecke bilden und hier einen Freiraum lassen. Dieser Raum soll später als Nische dienen. Den Schülerinnen und Schülern werden nun Korane ausgeteilt, um den Lichtvers zu rezitieren. Im Anschluss daran folgt die deutsche Übersetzung.

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Gülsan Acıkgöz ˙

Nachdem die Schülerinnen und Schüler den Text in der Originalsprache und ihrer Übersetzung kennen, soll der Text nun detaillierter betrachtet werden. Hierzu werden die einzelnen Teilelemente des Gleichnisses als Artefakte mitgebracht und im Stuhlkreis durch die Hände gereicht, um die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler anzusprechen. Der erste Begriff, den es zu erklären gilt, ist ka-misˇka¯tin29. Mit diesem Begriff wird das Licht des Gleichnisses in der Nische beschrieben. Um diese Worterklärung haptisch zu unterstreichen, kann ein schwarzes Tuch, womit man anschließend die Ecke auskleidet und somit eine Nische bildet, durch die Hände gereicht werden. Das nächste zu erläuternde Wort ist fı¯ha¯ misba¯hun30. Dieses Wort bezeichnet ˙ ˙ eine Schwimmlampe, also eine Öllampe, in deren Öl der Docht schwimmt. Auch diese Lampe lassen wir herumgehen und stellen sie anschließend auf das Tuch. Einen weiteren zu erklärenden Begriff stellt fı¯ zugˇa¯gˇatin31 dar. Hierbei ist die Rede von einer Glashaube, die über der Schwimmlampe angebracht ist, welche das Licht verstärkt. Außerdem ist dieses Glas ka-’annaha¯ kawkabun durriyyun32, also wie ein ›Perlenstern‹. Diesem Begriff könnte ein Kristallglas sehr nahe kommen, da dieses das Licht – wie ein funkelnder Stern – in seinen vielen Facetten und Nuancen bricht und somit das Licht verstärkt. Das Kristallglas wird ebenfalls herumgereicht und schließlich über die Lampe gestülpt. Der Begriff, der zuletzt in diesem Abschnitt geklärt wird, ist yaka¯du zaytuha¯ yud¯ı’u wa˙ lawlam tamsashu na¯run33, also ein Öl, das beinahe von sich selber aus Helligkeit verbreitet, auch wenn das Feuer es nicht berührte. Hier könnte man als Artefakt eine Flasche mit feinem Olivenöl mitbringen, das einen eigenen Glanz hat. Hiermit können die Schülerinnen und Schüler visuell, haptisch, olfaktorisch und gustatorisch angesprochen werden, denn sie sehen den Eigenglanz des Öls, können es in der Hand halten, sich damit sogar einreiben, können es riechen und schmecken. Dabei kann die Frage aufgeworfen werden, ob jemand so kostbares Öl überhaupt anzünden würde, und nicht doch eher günstiges Öl nutzt, um es anzuzünden. Auch im Unterricht wird man das kostbare Öl lediglich durch die Hände gehen lassen und dann brennbares Öl nutzen, um die Lampe im abgedunkelten Raum anzuzünden. Nun sollen die Schülerinnen und Schüler bisher Erkanntes weiter vertiefen und reflektieren. Die Schülerinnen und Schüler sollen weiterhin darüber nachdenken, dass dieses Licht, zu dem Gott den führt, den Er will, in alle Dimensionen der Welt und des menschlichen Lebens leuchtet. Denn Er ist »das Licht der Himmel und der Erde«, »über Ost und West hinaus« und Er ist »Licht 29 30 31 32 33

Sure 24:35. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

Gott ist Licht … und das Licht ist in mir

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über Licht«, und dennoch erkennen Menschen das Licht nicht. Also stellt sich in diesem Kontext den Schülerinnen und Schülern die Frage, was erkennen oder wissen überhaupt bedeutet. Welchen Grund hat es, dass einige Menschen das Licht erkennen, andere wiederum nicht? Liegt es vielleicht daran, dass Er nicht will, dass alle zum Licht kommen? Die bisher dezidiert islamische Herangehensweise an die Thematik des Lichts wird nun für die religiös gemischte Lerngruppe durch den Input des LukasEvangeliums, und somit um die christliche Sichtweise erweitert. Hierzu werden den Schülerinnen und Schülern Bibeln ausgeteilt, um aus Lukas 11,33 – 36 zu lesen. Dieser Text spricht von der Sichtbarkeit des göttlichen Lichtes, das niemand in einer dunklen Nische halten kann, sondern dass öffentlich sichtbar platziert, so, dass Hereinkommende den Schein sehen (vgl. Lk 11,33). Somit ist hier, im Gegensatz zum koranischen Text, das nach außen Drängen des göttlichen Lichtes, also der göttlichen Offenbarung betont. Grundgedanke ist hier, dass Gott nicht denjenigen zum verborgenen Licht führt, den Er will, sondern dass durch Jesus das Licht allen offenbart wurde. Mit diesem Licht verbinden Christen ganz ähnliche Erfahrbarkeiten34, also auch die Erfahrung, dass die Menschen trotz seiner Öffentlichkeit es nicht erkennen35. Folglich bleibt die Thematik des Nicht-Erkennens also auch hier bestehen. Im letzten Stundenabschnitt sollte die grundlegende Gemeinsamkeit herausgearbeitet werden. Denn gemeinsam ist die Erfahrung, dass die ganze Welt und das eigene Selbst vom Licht Gottes erfüllt sein können, also die therapeutische und spirituelle Dimension des göttlichen Lichts. So wie eine Schülerin eine existenzielle Auslegemöglichkeit beider Verse im Unterricht herausarbeitete: »Ich bin die Lampe in der Nische, das göttliche Licht erfüllt mich ganz und so leuchtet es für die Welt!«

34 Vgl. die Kostbarkeit des Salböls in Mk 14,3 – 9. 35 Vgl. Joh 1,9 – 10.

Frank van der Velden

Unterrichtsprojekt: Existenzieller Koranbezug im Religionsunterricht der gymnasialen Oberstufe

Vorbemerkung: Im Revolutionsjahr 2011 verlief der Unterricht an den deutschen Schulen in Kairo häufig zu besonderen Bedingungen. Dies betraf nicht nur die Schulschließungen und den Unterrichtsausfall während der Revolution. Vielmehr mussten unsere Schülerinnen und Schüler ja auch ihre Erlebnisse vom TahrirPlatz ins eigene Leben einordnen und sich der Bedeutung dieser Ereignisse für sich selber bewusst werden. Manches Mal sind wir deswegen begründet vom Lehrplan abgewichen, um den Schülerinnen und Schülern diese Auseinandersetzung mit einer schwierigen, belastenden Lebenssituation im Unterricht zu ermöglichen, soweit dies eben ging. Der folgende Artikel dokumentiert eine solche Projektreihe abseits des Lehrplans, die aber sehr wohl zeigt, welche Kompetenzen Schülerinnen und Schüler der gymnasialen Oberstufe in der Deutung ihrer Heiligen Schriften entwickeln können, wenn man sie denn lässt.

Die Aufgabenstellung: Zeig mir, was Dir Hoffnung gibt! Während der Januarrevolution 2011 hatten wir in Kairo über zwei Wochen hinweg mit Ausgangssperren, abgeschalteten Internetprovidern und blockierten Mobilfunkfrequenzen zu kämpfen, und wer nicht trotz der Ausgangssperre auf dem Tahrir politisch aktiv war, verbrachte lange Abende und Nächte zu Hause vor dem Fernseher, um sich auf al-Jezeera die neueste Entwicklung schildern zu lassen. Als im November 2011 die Situation erneut eskalierte und über zwei Wochen hinweg Gewalt und Tränengasschwaden die Nachbarschaften um den Tahrir-Platz durchzogen, bat ich meine Schülerinnen und Schüler in der gymnasialen Oberstufe, sich zusammen mit mir auf die Suche nach dem zu machen, was uns in unserer jeweiligen Religion Hoffnung für solche existenziell bedrohlichen Situationen gebe, was uns persönlichen Halt und Orientierung geben könne. Ich traute mich immer direkter zu fragen, ob nun diese hoffnungsgebende Botschaft auch etwas mit den Heiligen Schriften zu tun habe und an welche Texte diese sich knüpfe. Da rund 80 % meiner Schülerinnen und

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Schüler Muslime sind, führten diese Unterrichtsgespräche nicht zuletzt in eine oft unerwartete Begegnung mit dem Koran, wie ihn junge Musliminnen und Muslime verstehen und mit der Art, wie sie sich selber in diesen Texten wiederfinden. Als Christ konnte ich meine eigenen Erfahrungen mit biblischen Texten beisteuern, als Lehrer habe ich diese Koranauslegungen meiner muslimischen Schülerinnen und Schüler empathisch begleitet und aufgeschrieben, da sie mir zahlreiche Aneignungsformen und persönliche Umgangsformen mit dem Koran vor Augen führten, welche im islamischen Religionsunterricht in Ägypten und auch in Deutschland bisher noch wenig Berücksichtigung finden. Die Aufgabenstellung ging also erst einmal auf den persönlichen Bezug zum Text des Korans, und damit auf die Frage, wie sich Schülerinnen und Schüler in den Texten selber wiederfinden; es ging nicht primär um die Frage, wie die Schülerinnen und Schüler den Koran als Text verstehen, etwa ob seine wortwörtliche Bedeutung unantastbar ist, und wie man dann vor dem Forum der Vernunft mit ihm umgeht. Gleichwohl ergab sich notwendigerweise auch die Frage nach der Angemessenheit und Legitimität der einzelnen Schülerauslegungen vor den Möglichkeiten der klassischen und der modernen islamischen Theologie und vor dem, was man im islamischen Religionsunterricht bis dato gelernt hatte. Diese Frage hat uns auch bereits in den Unterrichtsgesprächen immer wieder beschäftigt. Daher werden jeder Schülerauslegung im Folgenden nicht nur der arabische Korantext und dessen deutsche Wiedergabe beigegeben, sondern es wird vor allem auch die allgemeine Auslegung des Textes in der islamischen Religionspädagogik erklärt. Das Besondere der persönlichen Textbeziehung kann gerade dadurch deutlich herausgestellt werden.

Sure 94: asˇ-sˇarh Die Weitmachung – Tränenengas und Goethe auf ˙ dem Tahrir-Platz Die Schülergeschichte Zu den heftigsten Auseinandersetzungen im November 2011, als die Enttäuschung der Demonstranten über den erst gefeierten Hohen Militärrat deutlich zutage trat, gehörte die gewalttätige Belagerung des Innenministeriums, welche in einer Woche von Straßenschlachten endete, in deren Verlauf dichte Wolken aus Tränengas ganzen Straßenzügen Sicht und Atem nahmen. Auf dem Höhepunkt des Steinewerfens wurde die Sharea Muhammad Mahmoud, die Straße zwischen Tahrir-Platz und Innenministerium, von den Sicherheitskräften komplett zugemauert. Später betraf diese Maßnahme auch andere Straßen des Regierungsviertels. Die ägyptische Presse witzelte sofort über ›Zustände wie in

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Palästina‹ und verglich das eigene Militär somit provokativ mit den IDF (Israeli Defense Forces). Eine der größten Besorgnisse in diesen Tagen, als die Tränengasschwaden über die Nachbarschaften am Tahrir-Platz zogen, war die Unsicherheit, was genau in diesem Gasgemisch enthalten war, da es wesentlich heftigere Reaktionen verursachte als das im Frühjahr an gleicher Stelle verwendete Tränengas. Die lokalen Zeitungen überboten sich im November 2011 mit Spekulationen: CS-Reizgas, CR-Kampfgase, militärisches Nervengas, Senfgas … Ängste und journalistische Spekulationen lösen sich dabei langsam aber sicher von der Realität ab – und genau das will in dieser Situation richtig eingeschätzt und emotional verarbeitet werden. Nicht nur für die Schülerinnen und Schüler war diese Situation schwer zu deuten. Mehrere meiner Schülerinnen und Schüler wohnen in direkter Nachbarschaft der Vorgänge und waren daher täglich den Tränengasschwaden ausgesetzt. Einer dieser Schüler ist der Meinung, er könne sich in einer solchen Situation gar nicht in Ruhe mit einem Korantext auseinandersetzen, es drängte ihn zu sehr nach draußen auf die Straße, wo gerade Geschichte geschrieben wird. Aber dann benennt er für sich das Thema »Atem holen … den Atem nehmen – den Atem geben …« als die für ihn aktuell drängende, existenzielle Erfahrung. Nach längerem Blättern im Koran – wie bei meinen Schülerinnen und Schülern üblich von hinten nach vorne, denn hinten stehen die kurzen Suren, die man als erste beigebracht bekommt – entscheidet er sich für Sure 94. Diesen Text kennt er bereits aus dem islamischen Religionsunterricht tieferer Klassen. Was ihn sofort anspricht, ist die Erleichterung, welche die Sure gegenüber einer bedrängenden Situation beschreibt, welche die Brust einengt und den Atem schwer macht; wie dem Glaubenden durch Gott eine Last von den Schultern genommen wird, um ihm etwas zu ermöglichen, was er sonst nicht leisten kann, was ansonsten über seine Kraft geht.

Text und Transkription von Sure 94 – Die Weitmachung ’a-lam nasˇrah laka sadraka ˙ ˙ wa-wada na¯ anka wizraka ˙ allad¯ı ’anqada zahraka ¯ ˙ ˙ wa-rafa na¯ laka dikraka ¯ fa-’inna ma a l- usri yusran ’inna ma a l- usri yusran fa-’ida¯ farag˙ta fa-nsab ¯ ˙ wa-’ila¯ rabbika fa-rg˙ab ˘ ˘

˘

˘ ˘ ˘ ˘

1 2 3 4 5 6 7 8

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Übersetzung: (Diyanet, Ankara 1995)1 1 Dehnten wir nicht aus Deine Brust 2 Und nahmen ab von Dir Deine Last, 3 Die Deinen Rücken bedrückte, 4 Und erhöhten für Dich Deinen Namen? 5 Drum siehe, mit dem Schweren kommt das Leichte. 6 Siehe, mit dem Schweren kommt das Leichte! 7 Und wenn Du Zeit hast, dann mühe Dich 8 Und trachte nach Deinem Herrn.

Wie verstehen wir den arabischen Text? ˘

Mehrere alte Codices, der von Ibn Mas u¯d (Kufa) und die schiitischen Lesart von Ar-Rabı¯ Ibn Hutaim überliefern diese Sure ohne den 6. Vers.2 Die Wiederholung ˘ ¯ von Vers 5 hat nach einer alten Tradition der Sunna aber eine Bedeutung, die allerdings erst mit Blick auf den arabischen Originaltext sichtbar wird, welcher in beiden Versen von »dem Schweren« (bestimmter Artikel) aber, so wörtlich, von »einem Leichten« (unbestimmter Artikel) spricht. Al-Nawawi kommentiert dies bei der Auslegung des 19. Hadith seiner Sammlung folgendermaßen: »Bei den Arabern ist es aber so: Wenn ein durch einen Artikel bestimmtes Wort wiederholt wird, dann handelt es sich um ein und dasselbe Ding in der Einzahl, weil der bestimmte Artikel vor dem wiederholten Wort anzeigt, dass dieses schon bekannt ist. Wenn aber ein unbestimmtes Wort wiederholt wird, dann handelt es sich um zwei verschiedene Dinge. Die Drangsal erwähnte Gott zweimal als bestimmtes Wort, die Erleichterung dagegen zweimal als unbestimmtes Wort, weshalb also die Erleichterungen zwei sind. Deshalb sprach der Prophet – Gott segne ihn und gebe ihm Heil – : ›Eine Drangsal wird zwei Erleichterungen nicht übermannen!‹«3 Die Wiederholung wird also als Stilmittel eingesetzt, um auf die Berechtigung der Hoffnung des Beters hinzuweisen. Sinnvollerweise muss in Vers 6 also übersetzt werden: »Siehe, mit dem Schweren kommt noch ein Leichtes!« In den Versen 7 und 8 geht es abschließend um das, was der Beter tun soll, wenn er nach überwundener Bedrohung wieder zu Kräften gekommen ist – es geht weniger um den temporären Aspekt des ›Zeit Habens‹. ˘

1 Der Gnadenreiche Koran (Kur’–n-l Ker„m). Originaltext mit deutscher Übersetzung (Publikation der türkischen Religionsstiftung 33), Ankara 1995, 598. 2 Vgl. A. Jeffery : Materials for the History of the Text of the Qur’a¯n: the old Codices, Leiden 1937, 354. 3 Al-Nawawı¯: Das Buch der vierzig Hadithe, aus dem Arabischen übersetzt und herausgegeben von M. Schöller, Frankfurt/Main 2007, 138.

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Der traditionelle Sitz im Leben der Sure und die persönliche Aneignung

˘

Es gibt in der islamischen Theologie mehrere Meinungen dazu, welche schwere Situation im Leben Muhammads hier gemeint sein könnte und für was die Brust Muhammads geweitet wurde: »für den Islam (vgl. 6,125), oder für Geduld und Großmut (so Ibn Abba¯s, [nach der islamischen Tradition einer der ältesten Ausleger]) oder für Wissen und Weisheit [so der Iraker Hasan al-Basrı¯ im 8. Jh.]. ˙ ˙ Manche Traditionen nehmen den Text hier wörtlich und erzählen, wie Gabriel dem zehnjährigen Muhammad das Herz aus der Brust herausnahm und, nachdem er es von allem Übel gewaschen hatte, wieder in die Brust zurückbrachte«4 [Text in Klammern vom Verf.]. In der Klasse diskutieren wir kurz über die traditionelle Zuordnung, wer denn der im Text von Allah angesprochene Mensch gewesen sei. Manche Schüler nennen Moses, die meisten aber Muhammad, wie es auch die islamische Tradition durchgehend tut. Tatsächlich wird im Koran aber mehrmals mit ganz ähnlichen Worten über die Erleichterung einer schweren Situation gesprochen. »Ich möchte beten, wie Moses im Koran: Herr, mache mir Raum in meiner engen Brust!« schreibt bereits Goethe 1772 in einem Brief an Herder und zitiert dabei Sure 20:25, in der diese Formulierung aus Sure 94:1 noch einmal anhand einer Situation aus dem Leben des Moses aufgenommen wird. Es handelt sich also bereits in koranischer Zeit um eine geprägte Wendung, eine formelhafte Sprache, die zur nachahmenden, aktualisierenden Aneignung geradezu einlädt. Der persönliche Bezug dieser Wendung – und der Sure – auf das eigene Schicksal ist der islamischen Tradition also alles andere als fremd.

Zum interreligiösen Potential der Sure Auf seinem Nachhauseweg kommt der gleiche Schüler übrigens täglich in der Nähe des Tahrir-Platzes am Goethe-Institut in der Sh. Bustan vorbei. Ihm ist sicherlich nicht bewusst, dass die große Goethe-Kennerin Katharina Mommsen genau hier am Tahrir-Platz ihre bahnbrechende Studie »Goethe und die arabische Welt«5 öffentlich vorgestellt hat – auf einer von den Goethe-Instituten der Region organisierten Vortragsreise durch den Orient im Jahre 1965. Von Katharina Mommsen stammt im Übrigen auch eine Zusammenstellung aller Zitate Goethes, die seine Auseinandersetzung mit dem Islam widerspiegeln und die im 4 Der Koran: arabisch-deutsch / Übersetzung und Wissenschaftlicher Kommentar von Adel Theodor Khoury, Band 12, Suren 58,1 – 114, Gütersloh 2001, 587. 5 Die folgende Zusammenstellung von Zitaten Goethes und der genaue Schriftnachweis finden sich bei: K. Mommsen: Goethe und der Islam, 1964, 5 – 22.

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Unterricht immer wieder irritierte Fragen auslösen. »Der Stil des Koran ist … streng, groß, furchtbar, stellenweis’ wahrhaft erhaben« schreibt Goethe in den Noten und Abhandlungen zum Diwan. Und weiter in einem Brief von 1831 an eine Freundin während der Cholera-Epidemie: »Im Islam leben wir alle, unter welcher Form wir uns auch Mut machen«. Der alternde Goethe bewunderte am Stil des Korans die dort geforderte bedingungslose Hingabe an den Willen Gottes, insbesondere in hoffnungslosen Situationen. »Weiter kann ich nichts sagen, als dass ich auch hier mich im Islam zu halten suche«, schreibt er in einem Brief an einen Freund im Jahre 1820, als seine Schwiegermutter schwer erkrankte. Im Prinzip bewundert Goethe also genau jene Haltung, welche moderne Mitteleuropäer nicht mehr einfachhin mit Gottvertrauen identifizieren, sondern häufig in der Nähe von Selbstaufgabe und Fatalismus sehen. Genau das irritiert viele Heutige auch am modernen Islam. An diesem Punkt kommt man wohl nicht umhin zu konstatieren, dass Goethe anders wahrgenommen hat als die meisten von uns es heute tun. Darüber hinaus beabsichtigte Goethe natürlich nicht, zur historisch existierenden Religionsgemeinschaft der Muslime überzutreten oder die Pflichten und Regeln ihrer Fünf Säulen zu erfüllen – die Ablegung der Shaha¯da (das islamische Glaubensbekenntnis), die fünf täglichen Pflichtgebete, die Armensteuer, das Ramadan-Fasten und die Pilgerfahrt nach Mekka. Goethe – wie immer gut informiert – kannte die doppelte Definition, welche bereits die traditionelle islamische Theologie dem Begriff »Islam« beilegt.6 Es wird dabei zwischen dem allgemeinen Islam – die Herzenshaltung des Sich-Ergebens in den Willen und die Verehrung des Einen Gottes, welche alle Monotheisten im Idealfall verbindet – und dem speziellen, historischen Islam – die von Muhammad auf Grundlage dieses Eingottglaubens installierte historische Religionsgemeinschaft der Muslime – unterschieden. ›Islam‹ im allgemeinen Sinn sieht ein Muslim auch bereits in seinen Propheten Ibrahı¯m (Abraham) und Mu¯sa¯ (Moses) verwirklicht, obwohl letzterer traditionell der jüdischen Religionsgemeinschaft zugerechnet wird und Ibrahı¯m als hanı¯f (Monotheist vor Einrichtung der ältesten mono˙ theistischen Religionsgemeinschaft) verstanden wird. In diesem Sinne bezieht sich Goethe auf den allgemeinen Islam als Herzenshaltung der Ergebung in Gottes Willen. Diesen sah er allerdings von seinen muslimischen Zeitgenossen positiv verwirklicht und bewunderte ihn offensichtlich. In diesem Kontext ist auch das berühmte Zitat aus dem West-östlichen Diwan zu verstehen: »Wenn Islam Gott ergeben heisst / Im Islam leben und sterben wir alle«. Die zu bestimmten islamischen Geisteshaltungen affine Einstellung Goethes hat aber wohl auch Gründe, die sich an der Sprache des Korans festmachen, wie 6 Vgl. M. Zakzouk: Ein Islam und viele Interpretationen, in: ders.: Einführung in den Islam, Kairo 2000, 104 – 109.

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sich an unserem Beispiel aus Sure 94 ganz gut zeigen lässt. Einerseits wird hier, wie in mehreren Suren, die enge Parallele des Korans zur Bildersprache der biblischen Psalmen deutlich. Das ist nur auf den ersten Blick erstaunlich. Beide Male handelt es sich um Texte, in denen ein einzelner Beter Gott um Kraft bittet, häufig in einer lebensbedrohenden Situation. Menschen haben in diesen Situationen aber nur einen begrenzten Fundus von Wortbildern, die dieses ausdrücken können. Und das Motiv der eingeschnürten Kehle, der Luft, die mir wegbleibt, ist eine universale Metapher. So formuliert zum Beispiel der vierte biblische Psalm: »Wenn ich rufe, erhöre mich, / Gott, du mein Retter! Du hast mir Raum geschaffen, als mir angst war, / Sei mir gnädig und hör auf mein Flehen« (Psalm 4,1 – 2). Ich versuche daher einmal, das interreligiöse Potential von Sure 94 durch eine freie Übertragung deutlich machen. Den Eingangsvers der Sure gebe ich dazu in der Übersetzung wieder, die Goethe für die Parallele in Sure 20:25 wählt. In Vers 4 habe ich eine moderne Interpretation gewählt. Wörtlich heißt es: »Und hoben [wir nicht] dein Gedächtnis?« (F. Rückert).7 1 Machten wir Dir nicht Raum in Deiner engen Brust 2 Und nahmen von Dir Deine Last, 3 Die Deinen Rücken niederdrückte? 4 Und ließen wir nicht viele an Dich denken? 5 Drum, sieh mal, mit dem Schweren kommt ein Leichtes. 6 Und, sieh mal, mit dem Schweren kommt noch ein Leichtes! 7 Und wenn Du wieder kannst, dann mühe Dich 8 Und strecke Dich nach Deinem Herrn aus.

Exkurs: Ein Streit um den Islam im Europa der Aufklärungszeit Neben der allgemeinen Orient-Begeisterung im Europa des frühen 19. Jhs. AD liegt die Affinität des alternden Goethe zum Koran nicht zuletzt auch in der zeitgleichen Entwicklung der europäischen Theologie und Geistesgeschichte begründet. Bis zum 19. Jh. galt Muhammad in Europa vorwiegend als ein ›Sittenstrolch‹, der die Mehrehe und ähnliche Verrohungen der Moral eingeführt habe, und als ein religiöser ›Betrüger‹, der mithilfe einheimischer Christen und Juden die ungläubigen Araber für seine ›Irr-Lehre‹ gewonnen habe8. Bestimmend für das Muhammad-Bild Europas war dabei die Übernahme christlicher 7 Der Koran. In der Übersetzung von Friedrich Rückert; hrsg. von Hartmut Bobzin, Würzburg 2000. 8 Vgl. die Zusammenstellung dieser historischen Vorwürfe und der entsprechenden Literaturnachweise bei H. Bobzin: »A Treasury of Heresies«. Christian polemics against the Koran, in: S. Wild, (Hrsg.): The Qur’a¯n as text (Islamic Philosophy, Theology and Science 27), 1996, 157 – 175.

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anti-islamischer Polemik aus dem Orient, die bis auf Johannes von Damaskus (7. Jh.) zurückgeht. »Scharf kritisiert er die … erlaubte Vielweiberei, auch Muhammads persönliches Eheleben … sowie den Kaabakult … Zum ersten Mal tauchen auch Polemiken auf, die jahrhundertelang wiederholt werden sollten: Muhammad, ein Pseudoprophet, der Islam, Vorläufer des Antichrist, der Koran enthalte viel Lächerliches«9. Erst zu Beginn des 19. Jhs. fiel die pauschale Verurteilung der Person Muhammads und des Korans. Den Umbruch innerhalb der orientalistischen Forschung bezeichnete im deutschsprachigen Bereich die von Goethe häufig rezipierte Muhammad-Monographie von Karl-Engelbrecht Oelsner aus dem Jahr 1810: »Wenn man die Geschichte und den Koran gehörig untersucht, so zeigt uns Mohamed mehr Aufrichtigkeit als Betrug, und es ist äußerst ermüdend, in unseren christlichen Schriftstellern zu lesen, wie sie Mohamed bei jedem Wort, was er sagt, oder welches an ihn gerichtet wird, als Werkzeug des Teufels und als Erzschurken darstellen.«10 Auch die »Vielweyberei« der Muslime erklärte Oelsner als eine sittliche Restriktion, durch die Muhammad die unbeschränkte Polygamie der vorislamischen Araber eingegrenzt habe11. Immerhin fand es noch Goethe einer eigenen Erwähnung wert, dass er, wohl im Gegensatz zur herrschenden Meinung, »Mahomet … nie als einen Betrüger hatte ansehen können«.12 Goethe dagegen gibt weiter an, »ehrfurchtsvoll jene heilige Nacht zu feiern, wo der Koran vollständig dem Propheten von obenher dargebracht ward«.

˘

Das Mantra von Sure 103: al- asr – Der Nachmittag ˙ Die Schülergeschichte Eine Schülerin erzählte, sie habe in bedrohlichen oder entscheidenden Situationen auf dem Tahrir-Platz oder in Ängsten zuhause den kurzen Text der Verse 2 – 3 von Sure 103 immer wieder vor sich hin gesagt. Auch diese Sure gehört zu den Standardtexten im Curriculum des islamischen Religionsunterrichts tieferer Klassen. Ein persönlicher Zugang zum Text war für die Schülerin zum einen die arabische Semantik des Begriffs husr, welcher einen existenziellen, nicht mehr ˘ gut zu machenden Verlust beschreibt. In dieser Gefahr sah sie sich gefangen und hielt sich fest an der Gewissheit, dass ihr persönlicher Glaube (’ima¯n) sie gegen 9 J. Gnilka: Bibel und Koran, 2004, 30. 10 K.E. Oelsner : Mohamed. Darstellung des Einflusses seiner Glaubenslehre auf die Völker des Mittelalters, 1810, 27, Anm. 1. 11 K.E. Oelsner (1810) 45 f. 12 J.W. v.Goethe: Dichtung und Wahrheit, Hamburger Ausgabe X, 39,19 f.

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diesen Verlust wappnen würde, wenn sie – wie die Sure im weiteren Verlauf fordert – selber in dieser Situation das Rechte täte und die anderen zu Wahrhaftigkeit und Geduld mahnen würde. Wer die üble Gerüchteküche und die spontane Eskalation von Gewalt in diesen Tagen miterlebt hat, weiß dass die Schülerin hier die beiden essenziellen Punkte benannt hat, an denen sich Verlustängste und Hoffnungen im Stundentakt festmachten.

Text und Transkription von Sure 103 – Der Nachmittag ˘

1 wa-l- asri ˙ 2 ’inna l-’insa¯na la-fı¯ husrin ˘ 3 ’illa¯ llad¯ına ’a¯manu¯ wa- amilu¯ s-sa¯liha¯ti wa-tawa¯saw bi-l-haqqi wa-tawa¯saw ¯ ˙˙ ˙ ˙ ˙ ˙ bi-s-sabri ˙˙ ˘

Übersetzung: (Diyanet, Ankara 1995) 1 Bei dem Nachmittag! 2 Siehe, der Mensch ist wahrlich verloren, 3 Außer denen, welche glauben und das Rechte tun und einander zur Wahrheit mahnen und zur Geduld.

Die traditionelle Auslegung und die Schüleraneignung Die traditionelle Auslegung sieht in der Sure eine allgemeine Aufforderung zum tätigen Bekennen des tawh¯ıd (Eingottglaubens) sowie zur Geduld gegenüber ˙ Gottes Ratschluss. Die Schülerin hat in ihrer Aneignung den Text also in ihre spezifische Situation aktualisiert, wie es ja bereits auch an Sure 94 gezeigt wurde. Ihr Glaube drängt sie zur rechten Handlung, für Wahrhaftigkeit und Geduld einzustehen und auch andere dahin zu motivieren. Darin liegt für sie Zuspruch auf Rettung, welche der Text von Sure 103 verheißt. Zusätzlich hat sie in der steten Wiederholung der Verse 2 – 3 – und durch den Rhythmus der koranischen Reimprosa – für sich ein durchlaufendes meditatives Gebet entdeckt, in dem sie die situationsbezogen wichtigsten existenziellen Punkte regelmäßig ansprechen kann und dadurch Ermutigung und Tröstung erfährt. In diesem Sinne kann man von einer Textaneignung im Sinne eines therapeutisch wirksamen Mantras sprechen. Mit der folgenden Übertragung von Friedrich Rückert kann man diese ästhetische Qualität des Textes am besten nachempfinden. In der Wiederholung der Stychen ergibt sich eine Reihung der Bedeutungssilbe »räth«, welche von Synkopen mit der Alliteration »G…t« unterbrochen wird. Probieren Sie es mal aus – das Meditieren gelingt sowohl mit

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dem arabischen Text als auch mit Rückerts Wiedergabe: »Des Menschen Fleiß misräth, / Nur dessen nicht, der glaubet und das Gute thut, / Der zur Geduld räth und zur Wahrheit räth.«13 … / Des Menschen Fleiß misräth, / Nur dessen nicht, der glaubet und das Gute thut, / Der zur Geduld räth und zur Wahrheit räth. …

Das interreligiöse Potential der Sure Der Duktus der Aussage von Sure 103 ist unverwechselbar koranisch. Die therapeutische Funktion der Sure ist dagegen universal und weckt Empathie bei Menschen gleichwelchen Bekenntnisses. Auch im christlichen Bereich werden meditative Texte solcher Art gerne im Religionsunterricht eingesetzt und teilweise wie ein Mantra wiederholt, man denke nur an die bekannten Taiz¦-Lieder, die auf Grundlage traditioneller Texte entstanden sind. Die vielleicht bekanntesten Beispiele sind »Nada te turbe, nada te espante, todo se pasa, … Sûlo Dios basta« (Teresa de Ývila) und »Selig seid Ihr, wenn Ihr einfach lebt« (auf Grundlage der biblischen Seligpreisungen, vgl. Mt 5,3 – 12).

Sure 105: al-fı¯l – Kriegselefanten und Polizisten auf dem Tahrir-Platz Die Schülergeschichte Vom 25. November bis zum 18. Dezember 2011 blockierten Demonstranten durch eine weitgehend friedliche Sitz-Blockade die Zufahrt zum ägyptischen Parlament, um gegen den regierenden Hohen Militärrat (SCAF) und gegen die von ihm eingesetzte Regierung zu protestieren. Am 18. Dezember 2011 spricht Übergangspremier Kamal al-Gansuri von der ›Rettung der Revolution‹, als das Militär eine Sitzblockade vor dem Parlament und ein Zeltlager auf dem TahrirPlatz räumt. Bilanz der dreitägigen Straßenschlacht: 13 Menschen starben, zum Teil durch gezielte Schüsse, über 400 wurden verletzt. Einige Demonstranten wandten dabei, wie bereits bei den Ausschreitungen vor dem Innenministerium im November 2011 selber Gewalt an – mit Steinen und Molotow-Cocktails – die überwiegende Menge lehnte Gewalt ab. Zur Symbolfigur eines gewaltlosen Widerstands wurde der muslimische Geistliche Emad Effat, Rechtsgelehrter des Dar Al-Ifta, der Behörde des Groß-

13 Der Koran. In der Übersetzung von Friedrich Rückert; hrsg. von Hartmut Bobzin, Würzburg 2000.

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Mufti von Kairo.14 Emad Effat wurde an der al-Azhar-Universität ausgebildet und gehörte salafistischen Kreisen an, bevor er in der Revolution politisch und theologisch auf die andere Seite schwenkte. Er gehört zu den Opfern dieser Tage. Die Sache mit dem gewaltfreien Widerstand beschäftigt uns im Unterricht immer wieder, gerade bei den Schülerinnen und Schülern, die selber schon während der Februar-Revolution auf dem Tahrir-Platz mit demonstriert haben. Ich bin mir sicher, dass die meisten meiner Schülerinnen und Schüler selber keine Steine oder schlimmeres geworfen haben, sondern friedlich demonstrierten. Häufig wird in Gesprächen aber deutlich, dass sie die Gewalt anderer Demonstranten als Widerstand gegen eine als ungerecht empfundene Übermacht legitim empfinden. Ein Schüler sucht sich ebenfalls eine der kurzen Suren zu Ende des Korans aus, die »Sure des Elefanten« (Sure 105). Er kennt die Sure und ihre traditionsgeschichtlichen Kontext aus dem islamischen Religionsunterricht der Unterund Mittelstufe, welcher den Text unter dem Thema präsentiert: Wie Allah in vorislamischer Zeit die Kaaba durch ein Wunder vor der Zerstörung bewahrte. Eine feindliche Übermacht, sogar ein Kriegselefant ist dabei, zieht gegen die Kaaba und wird durch Scharen von Vögeln zurückgeschlagen, welche aus der Luft einen Steinhagel auf diese Armee herabregnen lassen. Soweit die traditionelle Einordnung der Sure durch die islamische Religionspädagogik, aber warum sucht der Schüler ausgerechnet diesen Text aus? Er wendet die Wundergeschichte des Koran auf seine eigene Situation an: Der Elefant entspricht für ihn der Polizei (ar. ˇsurta), die Vögel stehen für die Demonstranten, die Steine in ˙ den Händen sind Teil der gerechten Sache. Natürlich sind es immer die anderen, die mit der Gewalt anfangen. Der Schüler fühlt seine Partei offensichtlich so weit im Recht, dass er sich diesen Text symbolisch aneignet, indem er sich in die Rolle der damaligen Verteidiger der Kaaba hinein versetzt. Hat er dabei so weit gedacht, dass er den Erfolg der Revolution bisher als eine quasi göttliche Billigung seines Tuns versteht? Unsere Diskussionen im Unterricht drehen sich somit schnell nicht nur um die Grenzen eines ethisch legitimen Widerstands, sondern auch um die Grenzen einer entsprechenden Aneignung von Texten.

Text und Transkription von Sure 105 – Der Elefant ˘

1 ’a-lam tara kayfa fa ala rabbuka bi-’asha¯bi l-fı¯li ˙˙ 2 ’a-lam yagˇ al kaydahum fı¯ tadlı¯lin ˙ 3 wa-’arsala alayhim tayran ’aba¯bı¯la ˙ ˘ ˘

14 Vgl. den Artikel der Journalistin Nada Hussein Rashwan in al-ahram online, Sonntag, 18. Dez. 2011.

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˘

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4 tarmı¯him bi-higˇa¯ratin min sigˇgˇ¯ılin ˙ 5 fa-gˇa alahum ka- asfin ma’ku¯lin ˙

Übersetzung: (Diyanet, Ankara 1995) 1 Siehst Du nicht, wie dein Herr mit den Elefantengefährten verfuhr? 2 Führte er nicht ihre List irre? 3 Und schickte er nicht über sie Vögel in Scharen, 4 Die sie bewarfen mit Steinen und gebranntem Ton? 5 Und er machte sie wie abgefressene Saat. Übertragung von Rückert: 1 Sahst Du nicht, was Dein Herr that an den Herrn des Elefanten? 2 Macht’ er nicht ihre List zu Schanden, 3 Da er auf sie ein Heer von Vögeln sandte, 4 Das sie mit Steinen warf, gebrannten; 5 So mach’ er sie gleich abgefressnen Saaten.

Wie verstehen wir den arabischen Text? Die Übertragung von Friedrich Rückert gibt den Charakter des Textes als arabische Reimprosa wieder. Zur Wiedergabe der arabischen Begriffe im Einzelnen: Vers 1 – bi-’asha¯bi l-fı¯li = die ›Gefährten des Elefanten‹ kann auch die ˙˙ ›Eigner‹ oder ›Herren‹ des Elefanten bedeuten. Vers 3 – »Das Wort ’aba¯bı¯l = bedeutet entweder : gesammelt, oder : hintereinander, oder : getrennt aus verschiedenen Himmelsrichtungen kommend«;15 das Wort ist lautmalerisch, eine entsprechende Bildung im Deutschen wäre ›Vogel-Bomberverband‹. Vers 4 – sigˇgˇ¯ılin = wird meist mit ›gebranntem Ton(-ziegel)‹ übersetzt; das Wort bezeichnet eigentlich das in den Ziegel eingebrannte Register-Siegel der Handwerker ; in der arabischen religiösen Gerichtsbarkeit ist zudem eine dem griechischen Scherbengericht verwandte Praxis bekannt, bei dem der Name des zu Verurteilenden auf eine Tonscherbe (sigˇgˇ¯ıl) geritzt wurde; eine weitere mögliche Wiedergabe ist daher : ›Die bewarfen sie mit Steinen, auf denen ihr Name stand‹. Bei at-Tabari16, dem großen Koranausleger des 9. Jhs. AD, findet sich dagegen ˙˙ eine längere Diskussion, welche die Wurfgeschosse als Tonstücke ›größer als eine Linse, aber kleiner als eine Kichererbse‹ rekonstruiert; ebenso wie eine alternative traditionsgeschichtliche Auslegung, welche auf Lot und die Ver15 A.Th. Khoury (2001) Bd. 12, 567. 16 at-T. abari, Abu Dja’far, Dja¯me’ al-baya¯n ‹an ta’wı¯l al-Qur’a¯n, ed. A.M. Shaker, Bde. 1 – 16, 2. ˙ Aufl., Kairo 1969, hier Bd. 30, 299.

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nichtung von Sodom und Gomorrha durch Feuer und Steine vom Himmel anspielt. Demnach habe es sich bei sigˇgˇ¯ıl um Nafta gehandelt.

Der traditionelle Sitz im Leben der Sure und die Schülerauslegung

˘

Der arabische Stadt-Historiker von Mekka, al-Azraki (9. Jh. AD), beschreibt in seiner Geschichte der Stadt Mekka17 die Kaaba in vorislamischer Zeit als den wichtigsten polytheistischen Wallfahrtsort Südarabiens, welcher 269 unterschiedliche Gottesdarstellungen und Götterbilder beherbergte, darunter wohl auch eine christliche Muttergottes-Ikone. Die Geschichte mit dem Kriegselefanten ist daher nicht ohne Pointe: War es da nicht eine gerechte Sache, wenn aus dem Jemen eine christliche Armee unter Feldherr Abraha mit einem Kriegselefanten heranzog, um diese polytheistische Kaaba zu zerstören? Immerhin wäre damit auch nach islamischer Sichtweise ein polytheistischer Kult durch einen monotheistischen, nämlich den christlichen, ersetzt worden. Alle muslimischen Schülerinnen und Schüler kennen die Antwort der islamischen Überlieferung: Bereits Ibrahı¯m (Abraham) soll mit seinem Sohn ’Isma il (Ismael) in grauer Vorzeit die Kaaba als monotheistisches Heiligtum eingerichtet haben, lange bevor sie durch die Quraischiten sozusagen unter die Räuber fiel und zu einem polytheistischen Wallfahrtsort verkam. Die göttliche Vorsehung bewahrte die Kaaba, damit sie durch Muhammad gereinigt und ihrem von Ibrahı¯m beabsichtigten Zweck erneut zugeführt werden konnte. Daher wird das Jahr des Elefanten mit der Geschichte Muhammads verbunden. Sein Großvater ’Abd elMuttalib soll die Verteidigung der Kaaba militärisch organisiert haben und ˙˙ traditionell wird sogar das Geburtsjahr Muhammads in das Jahr des Kriegszugs verlegt (570 AD), auch wenn die historischen Daten dies wenig wahrscheinlich machen, da der historisch belegte Feldherr Abraha bereits um 560 AD starb. Der Kriegszug müsste demnach um das Jahr 553 AD herum stattgefunden haben. Für den Umgang mit dem Text des Korans wirft diese Auslegung aber erst einmal die Frage auf, ob ein Text, der ein göttliches Wunder zur Erhaltung der Kaaba beschreibt, generell aus seinem historischen Kontext heraus genommen und auf eine aktuelle menschliche Aktion bezogen werden darf. Die zweite Frage ist spezieller Natur und geht auf die Bedingungen, unter denen diese Übertragung auf die heutige persönliche Situation geschehen darf. Was machst Du zum Beispiel, wurde der Schüler gefragt, wenn der Vater eines Deiner Mitschülers 17 Geschichte und Beschreibung der Stadt Mekka von Abul-Wal„d Muhammed ben Abdallah elAzrak†: nach den Handschriften zu Berlin, Gotha, Leyden, Paris und Petersburg auf Kosten der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft hrsg. von Ferdinand Wüstenfeld, Bde. 1 – 4, Leipzig 1857 – 1861, Nachdruck Hildesheim 1981, hier Band 4, S. 17 – 89.

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Polizei-Offizier oder Militär-Angehöriger ist? Wie sehen dieser Mitschüler, oder sein Vater, wohl auf Deine Text-Interpretation?! Die persönliche Aneignung eines Textes durch Übertragung ist ja immer eine sehr individuelle Auslegung, deren Aussagen je nach Betroffenheit längst nicht von allen Gläubigen geteilt werden. Kann eine solche private persönliche Aneignung denn dem Heiligen Text als solchem gerecht werden, oder geht diese persönliche Auslegung völlig gegen die Intention des Textes? Haben also Muslime – spitz gefragt – ›nur‹ weil sie sich verfolgt und benachteiligt wähnen, das Recht, den Koran gegen andere Muslime auszulegen und damit im Extremfall auch Gegengewalt als Notwehr zu rechtfertigen? Eine schwer zu beantwortende Frage, die viele Schüler instinktiv zurückschrecken ließ und wieder unter das sichere Dach der vorsichtigen traditionellen Auslegungen zurückbrachte. Wichtiger als ein klares Ja oder Nein erscheint mir aber an dieser Stelle, dass dem Schüler die Problematik seiner Auslegung sehr wohl bewusst war. Die extreme persönliche Notlage war für ihn die ausschlaggebende religiöse Begründung, sich in den Text von Sure 105 hineinzuversetzen und situativ die Rolle der Partei Gottes zu übernehmen. Soweit erscheint die Sache durchaus legitim. Deutlich waren dem Schüler aber auch die wichtigen Grenzen dieser Methode, dass nämlich der Text überall dort für eine persönliche Absicht instrumentalisiert zu werden droht, wo eine parteiergreifende Auslegung der Heiligen Schrift generell eine göttliche Legitimation des eigenen Handelns reklamiert. Dies wäre illegitim, war aber deutlich nicht seine Absicht. Diese Kompetenz, nämlich die eigenen Aneignungen eines Heiligen Textes einer skrupulösen Kritik zu unterziehen, für Grenzen des eigenen Vorgehens sensibel zu sein und diese in die Diskussion einzubringen, ist jedoch eine der wichtigsten pädagogischen und nicht zuletzt auch theologischen Erfahrungen, welche in der gymnasialen Oberstufe ihren legitimen Platz hat. Sie sollte eher gefördert als gehindert werden, wenn es die theologische Sache erlaubt.

Zum interreligiösen Potential der Sure Um es gleich zu sagen: Drohworte gegen den Feind und gewalttätiger Widerstand (in Notwehr?), der bis zur Tötung des Feindes geht, sind kein Spezifikum des Korans, sondern tauchen gerade auch in biblischen Texten immer wieder auf. Die bekanntesten Beispiele sind vielleicht die Tötung der Erstgeburt der Ägypter und die Vernichtung des Heeres Pharaos beim Durchzug durch das Rote Meer während des Exodus der Israeliten unter Moses (Exodus 12 – 14), die Vernichtung ›aller Feinde des jüdischen Volkes‹ am Ende des Buches Esther, die Tötung des Holofernes im Buch Judith oder die zahlreichen Flüche und Vernichtungswünsche gegen die Feinde in den Psalmen.

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In der christlichen Bibelauslegung kennen wir das Problem einer parteilichen Aneignung des Textes sehr gut am Beispiel der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, welche die ganze christliche Bibel in den Gesamtrahmen einer göttlichen Option für die Armen einpasst, die den Hintergrund jeder Exegese bildet. Manche moderne muslimische Ausleger wie Farid Esack18 versuchen heute ganz entsprechend, den Koran als befreiendes Buch für die sozial Schwachen und Unterdrückten zu verstehen. Ich streue persönliche Erfahrungen aus meiner eigenen Oberschul- und Studentenzeit ein, als wir Mitte der 80er Jahre als studentische Gruppe mit Kaffee-Brigaden während des Contra-Krieges in Nicaragua arbeiteten oder politischen Widerstand gegen den NATO-Nachrüstungsdoppelbeschluss von 1981 leisteten. Frei nach einer Grundüberzeugung der politischen Theologie: Dort wo Unrecht Recht wird, wird Widerstand Pflicht. Damals war für uns Gewaltfreiheit aber eine wichtige dogmatische Entscheidung, von der wir nicht abließen – so wie ich es auch von meinem Schüler weiß.

Sure 75:28 – 30.40 al-qiya¯ma – die Auferstehung Die Schülergeschichte Wenn man heute noch an den Mauern der American University in Cairo vorbeigeht und die Graffiti mit den Namen und Bildern der jungen Menschen sieht, die als Märtyrer der Revolution verehrt werden, versteht man, warum sich etliche unserer Schüler fragten, welchen Sinn die eigene Existenz vor einem möglichen Tod habe. Anders gesagt: Wo ordnet man sein eigenes Leben ein, wenn es auf dem Spiel steht und vielleicht nicht weitergeht? Ein Schüler suchte sich sehr gezielt den Text von Sure 75:28 – 30.40 heraus, in dem sich individueller Tod und Auferstehung in ein apokalyptisches Paradigma des Jüngsten Tages fügen.

18 Vgl. F. Esack: Qur’a¯n Liberation and Pluralism: An Islamic Perspective of Interreligious Solidarity Against Oppression, One World 1996; ders.: Whose Qur’a¯n?: A Concise Guide to Progressive Islam, The New Press 2012.

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Text und Transkription von Sure 75:28 – 30.40 – die Auferstehung wa-zanna ’annahu l-fira¯qu ˙ wa-ltaffati s-sa¯qu bi-s-sa¯qi ’ila¯ rabbika yawma’idin-i l-masa¯qu … ¯ ’a-laysa da¯lika bi-qa¯dirin ala¯ ’an yuhyiya l-mawta¯ ¯ ˙ ˘

28 29 30 31

Übertragung von Khoury : 28 und wenn er meint, es sei (jetzt) der Abschied 29 und wenn (bei ihm) das eine Bein auf das andere trifft, 30 an jenem Tag wird er zu deinem Herrn getrieben. … 31 Ist ein solcher (Gott) denn nicht imstande, die Toten wieder lebendig zu machen?

Wie verstehen wir den arabischen Text? 75:28 – 29: Die Passage ist aus der Sicht eines Sterbenden geschrieben. »und wenn (bei ihm) das eine Bein auf das andere trifft: und nicht mehr so richtig zum Laufen tauglich ist; oder : wenn seine Beine so sind, wie man sie im Totentuch einwickelt; oder im übertragenen Sinne: wenn die Not am Ende des diesseitigen Lebens mit der Not des Jenseits zusammentrifft.«19

Die traditionelle Verortung und die Schülerauslegung Die traditionelle Auslegung sieht in Sure 75 die Ereignisse des Jüngsten Tages beschrieben, zu welchen der individuelle Tod in Beziehung gesetzt wird. Die Schülerauslegung übernimmt diese Auslegung und verbindet somit das Ende der eigenen Existenz mit der Perspektive auf den Jüngsten Tag. Hierbei wird jedoch nicht nur mit der Auferstehung als realer Hoffnung nach dem eigenen Ableben gerechnet, sondern die eigene Existenz gerät – durch das Märtyrertum – in eine Relation mit Ereignissen von weltgeschichtlicher Bedeutung. Die eigene Existenz wird in Perspektive auf den Jüngsten Tag hin eingesetzt. Es entsteht somit eine Art heilsgeschichtliche Rahmung des eigenen Tuns. Die jungen Leute auf dem Tahrir-Platz setzen das eigene Leben nicht nur zielgerichtet ein und riskieren es dabei, sondern ihr Leben findet einen Platz in den geschichtlichen Abläufen bis zum göttlich verursachten Ende der Welt. Die Konstruktion eines 19 A. Th. Khoury (2001) 12/298.

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solchen Weltbezugs ist im Übrigen typisch für so genannte ›Begeisterungsfähigkeit‹ Heranwachsender kurz vor Erreichen des Erwachsenenalters. Sie findet in allen Kulturen und Religionen statt und entspricht dem menschlichen Bedürfnis, die eigene begrenzte Existenz in den größeren Rahmen einer welt- oder heilsgeschichtlichen Bedeutung einzuordnen. Wieder einmal ist es Rückert, welcher mit seiner Übertragung der bedeutsamen Schwere wie dem bezugreichen Pathos der Situation nahe kommt: »28 Und er nun merkt, es kommt die Stunde, 29 Und Schenkel sich streckt an Schenkel unten; 30 Zu Deinem Herrn ist dann der schwere Gang gefunden. … 40 Sollt’ Er nicht haben Macht, dass Todtes aufersteh’?«20

Abschluss: Kompetenzerwerb in vier Dimensionen einer anthropozentrischen Schrifthermeneutik

˘

Amin Rochdi vom IZIR, dem Ausbildungsseminar für muslimische Lehrerinnen und Lehrer an der Universität Erlangen-Nürnberg, hat die meines Wissens erste Untersuchung zu den entwicklungspsychologischen Bedingungen durchgeführt, unter denen sich muslimische Schülerinnen und Schüler im Unterricht den Koran aneignen. Er schreibt: »In allen durchgesehenen Lehrplänen spielen die sog. kurzen Suren des letzten Dreißigstels des Korans (dschus al- amma) eine besondere Rolle. In allen Curricula, die das Auswendiglernen von Koransuren erwähnen, wird auf diese Suren hingewiesen. Vor allem in den Fachlehrplänen für den Schulversuch Islamunterricht an den bayerischen Grund- und Hauptschulen fallen relativ viele Suren in diese Kategorie. Eine besondere Rolle spielen hierbei die sog. Schutzsuren (mu a¯widhata¯n), die sich am Ende des Korans finden (die Sure su¯ratul-falaq 113 und die Sure su¯ratunna¯s 114). Sie gehören neben der ersten Sure (fa¯tiha) zum Elementarwissen eines jeden Muslims, da sie ˙ zu den ersten Gebetstexten, die junge Muslime lernen, gehören und mit den rituellen Gebeten verknüpft sind. Darum kommt diesen beiden Suren eine wichtige Bedeutung zu«.21 Manch Leser oder Lehrer hätte sicherlich vermutet, dass die Schülerinnen und Schüler nach 12 Jahren Religionsunterricht eher auf diese klassischen ˘

20 Der Koran. In der Übersetzung von Friedrich Rückert; hrsg. von Hartmut Bobzin, Würzburg 2000. 21 A. Rochdi: »Koran in der Schule«. Die Frage der pädagogisch begründeten Übertragung ausgewählter Koranverse in die deutsche Sprache für das Jugendalter unter entwicklungspsychologischen Aspekten am Beispiel der »Schutzsuren«. Zulassungsarbeit, Nürnberg 2008, 43 (die noch unveröffentlichte Arbeit wurde mir dankenswerterweise vom Verf. zur Verfügung gestellt).

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Bittgebete zurückgegriffen hätten, welche in der Tradition häufig für das persönliche Gebet empfohlen werden und auch im Unterricht eine besondere Bedeutung finden. Warum sind meine Schülerinnen und Schüler dann an diesen Texten vorbeigegangen? Möglicherweise waren sie ihnen zu selbstverständlich und omnipräsent, um bei einer speziell gestellten Aufgabe an sie zu denken. Möglicherweise werden sie von den Schülerinnen und Schülern aber auch gerade aufgrund ihrer herausgehobenen Bedeutung in der Tradition als derart festgefahrene – ritualisierte oder standardisierte – Texte wahrgenommen, dass sie für die persönliche Aktualisierung andere Texte gewählt haben.22 Ähnliches geschieht im Übrigen auch, wenn ich meinen christlichen Schülerinnen und Schülern mit der gleichen Aufgabe eine Bibel in die Hand drücke. Kaum jemand sucht dann bewusst den Text im 6. Kapitel des Matthäus-Evangeliums heraus, den wir gemeinhin unter dem Titel des Vaterunsers kennen. Schüler suchen vielmehr häufig einen ›eigenen‹, also ihren persönlichen Text. Die vier geschilderten Korananeignungen zeigen dabei sehr deutlich, welches Rüstzeug Schülerinnen und Schüler in der gymnasialen Oberstufe für einen kompetenten Umgang mit diesen Texten haben. Es wurden von ihnen einerseits bevorzugt Suren aus dem hinteren Teil des Korans ausgewählt, welche im Unterricht tieferer Klassen sowohl kognitiv erlernt als auch handlungsorientiert angeeignet wurden. Andererseits bewiesen sie durch die sehr persönliche Aneignung dieser Texte – und durch den selbständigen Umgang mit dem Koran – die Kompetenz, das eigene Leben im Licht dieser Texte zu deuten, als auch andersherum die Texte vor dem eigenen Leben zu deuten. Diese Deutekompetenz auf dem Feld ›Ich und mein Heiliger Text‹ lässt sich in den angeführten Beispielen anhand eines vierfachen Textbezugs darstellen. Ich und mein Leben in Angst, Glück, Hoffnung etc.: Die Aneignung von Sure 94 war ganz von der unmittelbaren Ansprache des Textes – das Weitmachen der Brust durch Gott – bestimmt, indem der um Atem ringende Mensch sich in einem Wort des Korans wiederfindet. Durch dieses existenzielle Paradigma erhielt der Textbezug erst seine Relevanz, die dann im zweiten Schritt nach seiner koranischen Verortung fragen ließ, ob man die Sure denn sachlich richtig und im Sinne der Tradition legitim verstanden habe. Ich und mein Heil(werden): Die existenzielle Aneignung von Sure 103 wurde davon bestimmt, in der persönlichen Aneignung eines Textes Tröstung und Hilfe im Leid zu erfahren. Auch wenn dieses therapeutische Paradigma – zum Glück – nur selten den Alltag des Religionsunterrichts abbildet, ist es allgemein ein 22 Möglicherweise ist es auch die religionswissenschaftlich schwere Kost, welche insbesondere Sure 113 bietet – in Vers 2 wird Gott als Erschaffer auch des Bösen vorgestellt, in Vers 4 wird auf antike okkulte Praktiken verwiesen – die der persönlichen Aneignung für eine konkrete Situation des eigenen Lebens widerstrebt.

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wichtiges Moment, den Text als wirksam, heil machend zu erfahren. Dies spricht natürlich nicht gegen die Wichtigkeit einer kognitiven und hermeneutischen Verortung des Textes im Unterricht, sondern setzt diese voraus. Ich und ›Gott auf meiner Seite‹: Die persönliche Aneignung von Sure 105 geschah im Rahmen einer Konfliktsituation mit einem Gegner, der als ungerecht und übermächtig empfunden wurden, so dass der eigene Erfolg als etwas Wundersames erschien. Dieses befreiungstheologische Paradigma führte in der Auslegung von Sure 105 in die verantwortliche Diskussion, inwieweit Gottes Beistand hier als Gottes Parteinahme für die eine und gegen die andere Seite verstanden werden darf. Wo ist die Grenze, ab der ein Text für eine persönliche oder politische Meinung instrumentalisiert wird? Dieses Problem aber zu erkennen und zu wägen, gehört zu den wichtigen Deutekompetenzen für den selbständigen Umgang mit den Heiligen Schriften überhaupt, und sollte daher in geeignet erscheinender Weise in jedem Curriculum der gymnasialen Oberstufe thematisiert werden. Ich und meine Geschichte in der Geschichte: Zu den grundlegenden Deutekompetenzen gehört die Antwort auf die Frage, welchen Platz ich in der Welt habe, in welchem größeren Rahmen jenseits der Grenzen meiner eigenen Existenz ich mich sehe. Die Aneignung von Sure 75 geschah am Beispiel einer Grenzerfahrung, welche die eigene Endlichkeit vor dem Text von Sure 75 in einen größeren heilsgeschichtlichen Zusammenhang stellte, wenn man diesen christlichen Begriff konsentiert. Generell gibt es viele unterschiedliche Paradigmen des Weltbezugs, in diesem speziellen Fall des Weltbezugs im Verhältnis zur eigenen Endlichkeit kann man von einem apokalyptischen Paradigma reden.

Ich und mein Leben in Angst, Glück, Hoffnung etc. (existenzielles Paradigma)

Ich und "Gott auf meiner Seite" (befreiungstheologisches Paradigama)

Ich und mein Heiliger Text

Ich und mein Heil(werden) (therapeuFsches Paradigma)

Ich und meine Geschichte in der Geschichte (apokalypFsches Paradigma)

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Bedeutsam ist bei allen vier Bezugsebenen, dass sie von den Schülerinnen und Schülern selbständig erarbeitet und angeboten wurden, obwohl diese Formen der persönlichen Textaneignungen im Religionsunterricht der tieferen Klassen nicht eigens eingeübt wurden. Im Prinzip mussten die Schüler sich das Werkzeug ihres Textbezuges also aus der Erfahrung mit anderen Texten – etwa aus dem Deutsch-, Geschichts- oder Ethikunterricht – zusammensuchen und gemeinsam mit ihren Lehrerinnen und Lehrern zu dem in Beziehung setzen, was islamisch verantwortbar schien. Diese Vorgehensweise ist für ein Unterrichtsprojekt in besonderer Situation sicherlich legitim. Für einen Regelunterricht in der gymnasialen Oberstufe ist es dagegen wichtig, die Lernenden und die Lehrenden mit solchen Fragen nicht allein zu lassen, sondern den angesprochenen Bereich des schülerorientierten – und in diesem Sinne anthropozentrischen – Schriftbezugs fachdidaktisch zu gestalten. Natürlich ist dabei vorrangig zu fragen, welche hermeneutischen und didaktischen Modelle die islamische Theologie in Moderne und Klassik für solche Fragestellungen anbietet; aber auch die Rolle der Bezugswissenschaften zur Religionspädagogik muss in diesem Zusammenhang definiert werden. Nur so verhindert man eine religiöse Persönlichkeitsabspaltung, welche die Welt in ein separates ›Haus der Religion‹ und in ein ›Haus der Wissenschaften‹ trennt. Hermeneutik und Didaktik werden aber auch durch die Nachbarschaft christlicher, islamischer und jüdischer Lerngruppen in der Schule beeinflusst. ›Mein‹ eigener Religionsunterricht – sei er christlich, islamisch oder jüdisch – wird hermeneutisch, didaktisch und in der Auswahl der theologischen Inhalte ›anders‹ dadurch, dass meine Schülerinnen und Schüler mit den Schülerinnen und Schülern aus den Lerngruppen der anderen Religion(en) kommunikationsfähig werden müssen. Inwieweit dieses Desideratum im Rahmen des schulischen Religionsunterrichts – nicht nur des islamischen, auch des christlichen in allen Lerngruppen! – Einzug halten kann, wird in den kommenden Jahren spannend zu beobachten sein.

Teil IV – Essays der Praktikanten zum Schulpraktikum an der DEO Kairo im März 2012

Christiane Ritter

Mit welchem Fuß sind Sie heute aufgestanden?

Wussten Sie eigentlich, dass mancher Muslim in der Tradition des Propheten lieber eine ungerade Zahl Äpfel kauft, am Morgen lieber mit dem rechten Fuß aufsteht oder dass es eine Gebetszeiten-App mit dem Imam-Ruf für das Smartphone gibt? Vor meinem Praktikum in Kairo war mir dies nicht bekannt. Man kann dies als Banalität abtun, jedoch sind es genau diese Kleinigkeiten, die dem Islam für mich persönlich, neben allem reflektierten Wissen, ein Gesicht gegeben haben. Einblicke wie diese weckten ein ehrliches Interesse in mir und förderten meine Sensibilität gegenüber anderen Religionen und deren Traditionen. Selbstverständlich schließe ich aus diesen und den weiter beschriebenen Erfahrungen nicht auf alle Gläubigen, vielmehr möchte ich aufzeigen, wie mir der Islam als Religion in der Gestalt unterschiedlicher Gläubiger begegnet ist. Ich habe viel über den Islam gelesen und mich auf unterschiedlichen Ebenen mit Gläubigen ausgetauscht. Gelebt begegnete ich ihm in Kairo. Der Puls dieser Stadt schlägt im Rhythmus des Islams. Ich selbst wuchs in einer beschaulichen Stadt im pietistischen Schwarzwald auf. Mein erster Kontakt zum Islam entstand durch einen Mitschüler in der Grundschule. Er war begeisterter Fußballer und zu Zeiten des Fastenmonats Ramadan hoffte er stets darauf, kein wichtiges Spiel zu haben. Im Laufe meiner Schulzeit begegnete mir der Islam sonst nur oberflächlich: Die fünf Säulen des Islams waren im Religionsunterricht auswendig wiederzugeben, tiefergehend wurde darüber jedoch auch nicht in der mündlichen Abiturprüfung diskutiert. Einen reflektierten Blick auf den Islam zu werfen, erlernte ich während meines Studiums, vielfältige Studienreisen ermöglichten mir zudem zahlreiche authentische Begegnungen mit Gläubigen. Innerhalb der Praktikantengruppe in Kairo lebten sechs Menschen zusammen, die jeweils ihren individuellen theologischen und religiösen Hintergrund mitbrachten und bereit waren, diesen im Rahmen des Praktikums einzubringen. Am Küchentisch der Deutschen Evangelischen Oberschule begegneten sich nicht die zwei Religionen Islam und Christentum, sondern interessierte und aufgeschlossene Menschen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen und indi-

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vidueller Religiosität. Diese Zusammensetzung ermöglichte einen interessanten Rahmen zum interreligiösen Austausch. Es klingt trivial, doch war es für mich vor meiner Reise selbstverständlich, dass es viele unterschiedliche Ansichten und eine anders gelebte Religiosität zwischen der anderen Christin in der Gruppe und mir geben wird. Die Vielfalt der muslimischen Religion zu erleben, war für mich allerdings eine neue und hochinteressante Erfahrung und in dieser Form nicht zu erwarten gewesen. Neben vielseitigen Diskussionen innerhalb der Gruppe gab es zudem interessante Begegnungen durch die interreligiösen Lerngruppen im kooperativen Religionsunterricht.

Lernen durch Begegnung im kooperativen Religionsunterricht Kooperativer Religionsunterricht an der Deutschen Evangelischen Oberschule macht Lernen durch Begegnung nicht zum Unterrichtsthema, nicht zur Unterrichtseinheit, sondern zum Unterrichtsprinzip. Dies war in jeder Religionsstunde zu spüren und zu erleben. An der Deutschen Evangelischen Oberschule war ich unter anderem für den kooperativen Religionsunterricht einer elften Klasse verantwortlich. Für diese war im Lehrplan der Themenhorizont und Lernbereich Jesus Christus / Isa Ibn Maryam vorgesehen. Vor dem Hintergrund meines Studiums der Religionspädagogik war es mir wichtig, den christlichen, muslimischen, koptischen und atheistischen Schülerinnen und Schülern meiner Klasse die Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus und dem Christus, an den die Christen glauben, zu verdeutlichen. Viel zu häufig habe ich in Diskussionen zwischen Christen untereinander und in Gesprächen zwischen Christen und Muslimen erlebt, dass in diesem Punkt unzureichend differenziert wird. Ohne diese Unterscheidung ist es jedoch schwer, von Jesus zu sprechen, denn dann versteht man die Evangelien als Lebensbiographie Jesu und nicht als Glaubensbekenntnis der frühen Christengemeinden. Theologische Grundlagen dieser Differenzierung werden in einem anderen Beitrag dieses Buches geklärt.1 Im Folgenden wird ein Blick auf den im Rahmen des Praktikums durchgeführten kooperativen Religionsunterricht selbst geworfen. Dies soll einen Eindruck von der religionspädagogischen Umsetzung ermöglichen. In den ersten beiden Stunden erarbeitete ich gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern den Themenbereich des historischen Jesus. Hierzu führte ich die Differenzierung zwischen dem historischen Jesu und dem Christus ein. Zudem besprachen wir die politische und ökonomische Situation in Palästina zur Lebenszeit Jesu 1 Vgl. den Beitrag von C. Ritter ; M. Yavuz: Jesus – interreligiöser Kompetenzerwerb in einem islamisch-christlichen Gespräch über die asba¯b an-nuzu¯l von Sure 19 (Maryam), Kapitel 3.1 Mehr als ein Stein des Anstoßes – Jesus im Religionsgespräch aus christlicher Perspektive.

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aus Nazareth. Dabei war es mir wichtig, dass sich die Jugendlichen in die Lage der Menschen dieser Zeit einfühlen können. Wir simulierten unter anderem einen modernen Wahltag. Die Klasse erarbeitete dafür in kleinen Gruppen die unterschiedlichen religiösen und politischen Positionen der jüdischen Gruppierungen zur damaligen Zeit und erstellte in Teamarbeit Wahlplakate, die sie dem Plenum vorstellten. In diesem Kontext entstand eine tiefgehende Diskussion innerhalb der Klasse über Pflicht, Ausmaß und Notwendigkeit politischer Partizipation von Religionsgemeinschaften. Die Jugendlichen sollten sich anschließend mithilfe von Stimmzetteln positionieren und begründen, warum ihre Wahl auf diese religiöse Gruppe gefallen ist. Mit dieser Vorgehensweise beabsichtigte ich, einen ersten Schritt zu einem kompetenten Umgang mit den Evangelien zu ermöglichen. Die Entwicklung und die Situation der jüdisch-religiösen Gruppen unter römischer Besatzung sind für mich wesentliches Hintergrundwissen, um die Aussagen von Jesus in den Evangelien deuten und einordnen zu können. Es war mir ein Anliegen, dieses Wissen an meine Schülerinnen und Schüler weiterzugeben. Während des Unterrichts verknüpften und verglichen einige Jugendliche die Situation zur Lebenszeit Jesu unter der Besatzung der Römer und den damaligen Aufständen mit der aktuellen politischen Lage in Ägypten. Eine weitere Situation ist für mich erzählenswert: Nach der zweiten Unterrichtseinheit kam die Klasse mit der Anfrage auf mich zu, wer Jesus Christus denn nun für die Christen heutzutage sei und wie man die Trinität erklären könne. Diese Frage freute mich einerseits, denn sie spiegelte ein ehrliches Interesse wider, das ich mit meinem Unterricht anzuregen versuche. Gleichzeitig erlebte ich diese Frage als Herausforderung. Ich unterbreitete der Klasse den Vorschlag, in der kommenden Stunde mit ihnen über Jesus sowie seine Rolle für das Christentum und über die Trinität zu sprechen, um dies aus heutiger Sicht zu verdeutlichen. Die Frage nach der Trinität ist für mich als Christin nicht einfach zu beantworten. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine Unterrichtsstunde zu dieser Thematik zu gestalten.

Theologie als Meereskarte Verankern möchte ich meine Überlegungen mit einem Bild von C. S. Lewis. Er vergleicht die Theologie mit einer Meereskarte in einem Atlas, die auf den Erkenntnissen hunderter, tausender Seeleute beruht, die das Meer befahren haben. In jeder Karte steckt dadurch eine Unmenge von Erfahrungen. Die Karte fasst all die verschiedenen Einzelbeobachtungen zusammen, der Einzelne hat aber immer nur einen eingeschränkten Blick. Theologie ist wie eine solche Karte, die auf Erfahrungen hunderter Menschen beruht. Dies beschreibt zum einen die

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Nützlichkeit einer Karte, eines Erklärungsmodells, zum anderen zeigt sie, dass Theologie etwas Praktisches ist.2 Für mich stellt dies eine geeignete Metapher dar, Erfahrungen mit Gott mithilfe der Trinität zu erklären. Die Konzilien in Nicäa und Chalcedon sind für mich im Kontext des Unterrichts die Ankerpunkte, um darzustellen, wie Christen mit theologischen Erfahrungen umgegangen sind. Die Kenntnis darüber, dass die Konzilien auch aufgrund politischer Bestrebungen und Ergebnisse politisch durchgesetzt wurden, stand am Beginn meiner Agenda. Neben der Vermittlung der Vorstellungen, die auf den Konzilien diskutiert wurden, war für mich vor allem die Erkenntnis zentral, dass Christen die Trinität, die Erklärung der Göttlichkeit und die Menschwerdung Gottes in Jesus, seit jeher diskutieren. Seit Jahrhunderten und bis in unsere Zeit ist dies ein zentrales Element christlicher Diskurse. Dabei gibt es unterschiedliche Ansätze, dies zu erklären, jedoch ist es letztendlich eine Erfahrung mit Gott. Die Dreieinigkeit Gottes ist für mich ein Erklärungsmodell für die Erfahrungen mit Gott. Der Glaube an einen dreieinigen Gott kann auch ›vom Strand aus‹ und ohne Meereskarte gelebt werden. Erst im Gespräch mit dem Anderen werden Meereskarte und Kompass notwendig. Theologische und historische Diskurse über Jesus und die Trinität sollten der Klasse zeigen, dass das Christentum seit Jahrhunderten die Frage nach Jesus Christus und seiner Göttlichkeit diskutiert. Dabei gibt es unterschiedliche Erklärungsversuche und Modelle. Die Beschreibung des Göttlichen hat aber immer eine ganz natürlich Grenze. Bei der Frage nach Jesus treffen sich die Gesprächspartner im interreligiösen Dialog. Die Wege gehen jedoch beim Austausch über Glaubenserfahrungen oder Erklärungsmodelle von Erfahrungen mit Gott auseinander. Wie ausgeführt, unterscheidet die christliche theologische Fachwissenschaft den historischen Jesus aus Nazareth von Jesus, dem Christus. Im Kreuzestod treffen sich diese Wege, doch wo kreuzt er das Leben von uns heute? Dies sind Fragen, die Gläubige der beiden Religionen zunächst für sich beantworten – Muslime wie Christen. Die Fragestellung nach der Bedeutung Jesu für die Christen in heutiger Zeit ist für mich nur bedingt theologisch zu klären. Im kooperativen Religionsunterricht sprachen die Jugendlichen über Religion sowie über ihre persönlichen Erfahrungen und Einschätzungen mit großer Ernsthaftigkeit, Vertrauen und einer bemerkenswerten Offenheit. Dies hat mich tief beeindruckt, insbesondere im Hinblick auf die religiöse Beheimatung der Lernenden. Besonders bei dieser Unterrichtsthematik, die jeder Gläubige nur individuell und persönlich beantworten kann. Zwei sehr persönliche und offene Aussagen beeindruckten mich besonders: »Ich bin Atheistin« oder nach meiner Nachfrage nach dem Armband einer Schülerin »Ich bin Christ und trage darum 2 vgl. C.S. Lewis: Pardon, ich bin Christ. Meine Argumente für den Glauben. 13. Auflage, Basel 1998, 138 – 140.

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das Armband WWJD«3. Auf dem Hintergrund meiner Schulerfahrungen in anderen Kulturkreisen habe ich die Schülerinnen und Schüler an der Deutschen Evangelischen Oberschule als ungewöhnlich deutlich und klar formulierend bezüglich ihres religiösen Selbstverständnisses und ihrer religiösen Stellungnahmen erlebt. In meiner eigenen evangelischen Tradition las ich vor dieser Religionsstunde die Losung und wurde in meinem Ansatz für den Unterricht bestärkt. Das Bibelwort war im Johannesevangelium 14,6 zu finden: »Jesus spricht zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich« (Übersetzung nach Martin Luther). Dies war ein entscheidender Moment für mich, da ich genau hier spürte, wie wichtig die Auseinandersetzung auf historisch-kritischer Ebene für mich ist.

Der interreligiöse Dialog wirft mich auf mich selbst zurück Wenn ich als christliche Gläubige von Jesus spreche, habe ich – neben allen identischen – auch grundsätzlich andere vorherrschende Assoziationen, andere innere Bilder als ein Muslim, und wiederum andere als ein zweiter Christ. Dies verdeutlicht nochmals, dass Angehörige derselben Religionsgemeinschaft sich dieser unterschiedlichen Wahrnehmung im Rahmen eines gemeinsamen Religionsgesprächs bewusst sein sollten. Ein Gespräch mit dem Fremden über das Eigene führt immer auch zu einer Bewusstwerdung des Eigenen. Unter Christen wird der Glaube nicht existenziell nach der Trinität hinterfragt, so mein Eindruck. Durch die Gespräche, durch das Miteinander mit Muslimen wurde ich ihnen gegenüber religiös sprachfähig(er). Andererseits konnten sich im Mit(er)leben und Nachfragen die fünf Säulen mit Farbe füllen. Zahlreiche Familientraditionen, wie die abendlichen Feiern zu Ramadan, wurden mir erzählt. Die Pflicht der fünf täglichen Gebete war mir bewusst, jedoch habe ich einen ganz neuen Blick darauf werfen dürfen, als ich gesehen habe, wie die Gebetszeiten geplant wurden, wie es neben aller zeitlichen Intuition auch mal plötzlich hieß: »Jetzt, schnell, wir müssen noch beten!« Die Berührungsängste, darüber zu sprechen oder dabei zu sein, fielen weg und ich durfte problemlos im Raum sein, wenn das Gebet vollzogen wurde. Meine Mitpraktikantin Carmen und ich, als die beiden Christinnen, diskutierten häufig während der Gebetszeit, wie das für und bei uns ist. Einige Male standen wir vor der Überlegung, wie wir mit der Abwesenheit eines rituellen Gebets in unserer Religion umgehen und in welchen Bereichen wir diesem Aspekt im eigenen Glauben nachspüren können. Diese Impulse 3 Dies steht für : »What Would Jesus Do?«, vom Englischen übersetzt: »Was würde Jesus tun?«

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gaben mir ein vertieftes Traditionsbewusstsein für das Eigene. Stephan Leimgruber formuliert dies so: »Interreligiöses Lernen kann mithin die eigene Religion im Spiegel anderer Glaubensweisen deutlicher hervortreten lassen.«4 Für mich ist Glauben, welchen ich als tiefes Vertrauen beschreiben möchte, zumeist einfach. Aber diesen, meinen Glauben zu erklären und naturwissenschaftlichen und logischen Fragen anderer auszusetzen, ist für mich eine Herausforderung. Zugleich erlebte ich diese, wie beschrieben, als große Chance. Rückfragen aus anderen Religionen und Weltanschauungen fordern gleichermaßen heraus und regen zum Nachdenken an. Sie machen die beschriebene Meereskarte nach C. S. Lewis notwendig und unabdingbar, wenn man nicht untergehen will. Wer sich auf das Meer hinauswagt, braucht eine Meereskarte, um sich zu orientieren und einen Kompass, um die Richtung nicht zu verfehlen.

4 St. Leimgruber : Neue Wege interreligiösen Lernens. In: L. Kuld; B. Schmid (Hrsg.): Islamischer Religionsunterricht in Baden-Württemberg. Zur Differenzierung des Lernfelds Religion, Berlin 2009, 71 – 86, 75.

Dina Salama

Lernen in der Begegnung. Persönliche Anmerkungen zu einer interreligiösen Praktikumserfahrung

Allah legt die Liebe nicht in die Herzen der Menschen, sondern zwischen sie. Dadurch geschieht Bewegung – die Voraussetzung für Begegnung… (frei nach Koran 30:21)

Rückblende

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»…Dina Salama ist mein Name. Ich war fünf Jahre Schülerin an der DEO und habe 2006 hier mein Abitur gemacht. Kurze Zeit später habe ich an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Orientalistik und Germanistik studiert und mache nun dort meinen Master in Nahoststudien. Parallel dazu studiere ich auch Deutsch als Zweitsprache und Islamische Religionspädagogik. Ich erinnere mich noch an das erste Blockseminar in der islamischen Religionspädagogik. Die Rede war von einer Gruppe von Leuten, die eng im Kreis sitzen. In der Mitte des Kreises befindet sich ein helles Licht. Jede Person in dieser Runde schaut direkt in Richtung des Lichts. Allerdings befindet sich zwischen diesem Licht und jeder Person ein farbiges Glas. Jedes Glas hat eine andere Farbe, aber alle richten sich mit beliebiger Distanz dem Licht zu. Je näher man sich diesem Licht zuwendet, umso stärker wird man vom Licht geblendet und nimmt seine Außenwelt nur noch in der je eigenen Farbe wahr. Wichtig dabei ist, dass jede Person aber eine gewisse Freiheit hat, ihre Distanz zum Licht selbst zu bestimmen und einzuhalten. Vor ein paar Tagen habe ich das Isha-Gebet, das islamische Nachtgebet, im Zimmer verrichtet. Beim taslı¯m, dem Friedensgruß, mit dem das Gebet beendet wird, habe ich meine Zimmergenossin, Christiane Ritter, gesehen, wie sie neben mir auf dem Boden kniete, ihre Hände gefaltet, und ihr Gebet aufsagte. Ich dachte spontan an das Licht-Modell, und dass eigentlich etwas fehlte: Nicht nur der Blick geradeaus – in Richtung der Lichtquelle – ist von Nöten, sondern auch die Wahrnehmung dessen, was links und rechts von mir geschieht. Denn was bedeutet es, wenn die Blicke der anderen Farbspektren im Grunde genommen in

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dieselbe Quelle hinter dem Glas schauen? Und würde jeder einmal nach oben schauen, dann könnte er feststellen, dass das ganze Szenario von einem gemeinsamen weißen Licht überstrahlt wird. Um das aber sehen zu können, muss man von der eigenen Mattscheibe ein paar Schritte zurücktreten … Wir Praktikanten hatten in diesem letzten Monat genügend Möglichkeiten, die verschiedenen Farbnuancen wahrzunehmen, uns mit ihnen auseinanderzusetzen und letztendlich zu verstehen. Selbstverständlich gab es Momente, in denen die Sicht etwas unscharf war – aber auch dort gab es viel zu lernen: nämlich wie man damit umgeht, wenn man an seine inneren und äußeren Grenzen stößt. Ich spreche hier im Namen der gesamten Gruppe der Praktikanten und bedanke mich bei Herrn van der Velden, Herrn Behr und Herrn Haußmann. Außerdem richte ich meinen herzlichen Dank an die Betreuungslehrer : Frau Krebs, Herr Ashraf, Herr Salah und Herr Bühler. Wir hatten die Ehre, durch ein Mit- und Voneinander in der ganz besonderen Umgebung der DEO den Kooperativen Religionsunterricht in einer bunten Farbvielfalt zu erleben und mitzugestalten. Wir gehen mit der Erkenntnis: Al-hayya ’alwan! Das ˙ Leben besteht aus Farben! …»

Vorrede Das war meine Rede am Festakt an der DEO am 30. 03. 2012 zum Thema Kooperativer Religionsunterricht und zu unseren Erfahrungen. Dieser Abend diente als Abschluss des Praktikums. Der Ablauf des Abends war so gelungen, dass ich überzeugt sagen kann, ein weit größerer Planer hat über diesen Abend gewacht. Aber vielleicht sollte ich doch von Anfang an berichten … Ich habe mich dazu entschieden, einen Erfahrungsbericht der anderen Art zu gestalten. Ich möchte die Eindrücke, die Erfahrungen, die Gedanken und vor allem die Erinnerungen dem Leser lebhafter mitteilen. Anhand kleiner Reflektionen und kursiv gesetzter Geschichten wird nun das Setting des einmonatigen Aufenthaltes in der »Mutter der Welt« angezeichnet …

DEO oder ›die Ankunft‹ Sogar die Pförtner sind noch dieselben. Der Zaun um die Schule herum ist inzwischen etwas höher als damals. ›Sicherheitsmaßnahmen‹, denke ich mir. Ich bin zwei Tage später dran, alle anderen Praktikanten sind schon eingetroffen. Ich laufe über den Schulhof und stelle fest, dass sich die DEO wohl nie ändern wird. Sie bleibt eine schöne, deutsche, bunte, gepflegte Seifenblase im staubigen, heißen, lauten, zauberhaften Herzen Kairos. Ich schlendere herum, flaniere über den

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Schulhof, mache noch einen Rundgang durch meine Erinnerungen. Am Kiosk angekommen bemerke ich, dass es inzwischen auch Leberkäse zu kaufen gibt – ›halal‹ versteht sich. Ich gehe hoch ins Lehrerzimmer und erinnere mich, dass ich zum letzten Mal diese Stufen nahm, um mein Abiturzeugnis abzuholen. Dort befindet sich auch meine Gruppe, ich bin in gewisser Weise für die Praktikanten verantwortlich; die Veranstalter hatten mich gebeten, die fünf anderen etwas an die Hand zu nehmen. Ich trete ein und sehe interessante Leute. Insgesamt sind wir sechs. Wir geben uns die Hände und pflegen den üblichen Smalltalk … Eigentlich nichts außergewöhnliches. Aber ich bemerke sofort die geschickte Konstellation der Praktikantentypen: Ein ›frommer-Islamische-Studien-Student‹ mit Bärtchen, der sich mehrere Jahre im Sudan aufgehalten hat und mir beim Reden nicht wirklich in die Augen blickt, ein sehr aufgeschlossener, interessanter junger Türke, der keine Scheu zeigt mich anzusprechen und auf mich einzugehen, zwei Theologiesabsolventinnen, die einen sehr netten und auch gespannten Eindruck hinterlassen und eine sehr hübsche junge Türkin, die mir später vorhalten wird, ich sei da zu arrogant aufgetreten.

Christiane oder ›von Herz zu Herz‹ Wir sechs wohnen verteilt auf drei 2-Bett-Zimmer im Obergeschoss des Kindergartengebäudes auf dem Campus der DEO mit gemeinsamer Küche. Damit der Austausch noch intensiver wird, hat man sich ausgedacht, dass in jedem Zimmer eine Christin mit einer Muslimin zusammenlebt. So haben wir die Möglichkeit, 24 Stunden heiße Debatten zu führen. Oft finden die brennenden Diskussionen mit der ganzen Gruppe am Küchentisch statt, die dann auf den jeweiligen Zimmern zu zweit weitergeführt werden. Ich bin dem ›Appartement 2: Christiane Ritter und Dina Salama‹ zugeteilt, wie mir das Schild an der Tür verrät. Ich trete hinein und fühle mich gleich wohl. Christiane kommt dazu und wir lernen uns näher kennen. Ich erinnere mich noch daran, als ich zum ersten Mal im Zimmer bete und Christiane mich ängstlich und mit leiser Stimme fragt: »Darf ich mich dann im Zimmer aufhalten, oder soll ich hinaus?« Dieser Kontakt, dieses Miteinanderleben auf einer ziemlich kleinen Fläche hat mir gezeigt, dass eigentlich diese simplen Sachen von uns Muslimen nicht wirklich vermittelt werden. Darüber werden Debatten, Diskussionen und sogar Streitigkeiten in der Öffentlichkeit geführt, aber wird auch in der Öffentlichkeit gezeigt, wie wir Muslime beten? Damit wird nicht nur die persönliche religiöse Praxis angesprochen, sondern die sichtbare Ausübung der Religion in der Öffentlichkeit. ›Ruheminuten mit einem Gemurmel und sich wiederholende Bewegungen‹ ist es zum Beispiel beim Gebet. Wie ich feststellen kann, fehlt die Wahrnehmung dieser Praxis des Islams in der Öffentlichkeit – einfach um an-

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deren einen Einblick zu gewähren, wie friedlich und harmonisch die Ausübung des Islams doch in Wirklichkeit ist. Natürlich besteht hier das Problem, dass nicht alle Muslime ihren Glauben in gleicher Art und Weise ausüben. Auch das habe ich in Kairo während des Praktikums gelernt. Nicht alle Muslime in der Gruppe praktizierten den Islam nämlich so wie ich es verstehe, aber dazu später mehr. Es dauerte nicht lange und Christiane fragte mich, was diese Bewegungen bedeuten, die wir während des Gebets machen. Oder ob es in Ordnung wäre, wenn sie sich im Zimmer aufhielt, während ich mich – als Muslima – umzog. Dann kam die nächste vorsichtige Frage, und dann die nächste. Um ehrlich zu sein, hatte ich nicht alle Antworten gleich parat, denn diese Dinge waren für mich wie selbstverständlich, aber ich bemühte mich darum, Antworten herauszufinden. So entwickelte sich das ganze, bis wir einmal am Küchentisch saßen und kurz vor dem Abendessen alle ein gemeinsames Gebet aufsagten. Auch kam es einmal zu einem gemeinsamen Gebet: Christiane und ich im Zimmer. Zu Beginn wusste ich nicht, ob mir das als Muslimin erlaubt sei, dass eine Nicht-Muslimin mit mir mitbetet. Dann aber fragte ich mich, was eigentlich dürfen in diesem Kontext bedeutet und wer eigentlich dieses dürfen oder nicht dürfen festgesetzt hat. Wäre ich in Deutschland gewesen, hätte ich meine Antworten dafür in Büchern gesucht. Aber in Kairo tat ich das anders: Ich fragte Leute aus meiner Umgebung. Die Betreuer, Freunde, Bekannte, Verwandte oder fremde Leute, mit denen ich kurze Gespräche führte. Einige Wochen nach dem Praktikum in Kairo sollte ich mit einer Kollegin eine Vertretung in einer ›Islamvorlesung‹ halten. Das Thema war das Gebet. Ich zögerte nicht lange, denn die Überzahl der Studierenden waren christliche Theologen. Von meinen christlichen Mitpraktikantinnen wusste ich bereits, was sie wirklich interessiert. Diesmal verzichtete ich auf Folien oder einer Powerpointpräsentation mit albernen Figuren, wo wahrscheinlich noch das Gesicht nicht mit abgebildet ist. Also nahm ich einen Gebetsteppich und meinen Gebetsumhang und führte das Gebet vor. Ich versuchte zeitgleich in die deutsche Sprache zu übersetzen, was ich normalerweise auf Arabisch sage, und was die Bewegungen bedeuten könnten. Nach der Vorlesung erfuhr ich von den Studierenden, dass sie das noch nie so erlebt hatten.

Dokki oder ›Islam to go‹ Am Ende des Monats stellte ich fest, was mir eigentlich dieses Praktikum gebracht hatte: Manchmal muss man im Leben aufhören, in den Büchern nach Antworten auf bestimmte Fragen zu suchen, denn nicht mit dem Verstand lernt man auf die schönste Art und Weise, Religion zu verstehen, sondern mit dem

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Herzen. Neben dem Schulunterricht und den Blockseminaren an der DEO lernten wir den Islam auch unterwegs kennen. Die Menschen in den Straßen in Kairo, mit denen wir Praktikanten täglich in Kontakt standen, egal welcher Konfession diese Leute angehörten, zeigten das sehr gerne. Manchmal gab es Situationen, die mich an bestimmte Koranstellen erinnerten, oder anhand derer ich verstand, was im Koran eigentlich damit gemeint ist. Es ist kurz vor Maghrib. Ich stehe am Dokkiplatz und beobachte die Menschen. Alles steht still. Der Verkehr ist wieder etwas schwierig. Die Straßen, die Kreuzung und die Brücke sind überfüllt. Einige Auto- und Motorradfahrer hupen. Es riecht nach Staub, Autoabgasen und gegrilltem Kebab. Die Menschen haben es jetzt leicht, die Straße zu überqueren. Einige bleiben zwischen den Autos stehen und unterhalten sich. Die Lichter einiger kleiner Geschäfte und der Straßenlaternen gehen an. Jetzt ertönt auch der Azan: »Allahu Akbar…« Vor mir läuft eine Frau, sie murmelt das Bittgebet des Gebetsrufes vor sich hin. Der Himmel wird rosa. Das ist meine Lieblingszeit in Kairo. Ich frage mich, wie es denn wäre, wenn es in Nürnberg eine Moschee gäbe, aus der, gleichzeitig zum Glockengeläut, öffentlich der islamische Gebetsruf zu hören ist. Mir kommt es so vor, als würde dieser ungeheure Straßenlärm etwas leiser, jetzt wo man zum Gebet gerufen wird. Ich suche die Moschee, aus der dieser Azan zu hören ist, aber ich sehe sie nicht. Vielleicht ist sie hinter diesen ganzen Schildern versteckt, vielleicht stehen die Lautsprecher auf irgendeinem Dach. Es wird langsam dunkel. Die Autos stehen noch. Außer den Menschen bewegt sich nichts. Ich laufe über die Straße zu dem Fischlokal an der Ecke. Die Besitzerin, eine würdevolle ältere Dame, fragt mich höflich, was ich gerne hätte. Ich sage ihr »Ein Fischsandwich, bitte.« und warte. Ein Bedürftiger tritt neben mich und bittet die Frau um »eine Kleinigkeit für Allah«. Sie schaut ihn kurz an und arbeitet weiter. Sie bereitet zwei Fischsandwiches vor und legt sie auf den Tresen. »Welches ist meines?«, fragte ich. »Nimm Dir einfach eines, beide sind gleich!«, antwortet sie, schon dem nächsten Kunden zugewandt. Sofort kommt mir Sure 2:177 in den Sinn: »Frömmigkeit besteht nicht darin, dass ihr euer Gesicht nach Osten oder Westen wendet. Frömmigkeit besteht darin, dass man aus Liebe zu Allah den Bedürftigen, den Reisenden und den Bettlern hilft …« (sinngemäße Übersetzung). Aber nicht nur das. Mir gefällt es, dass sie dem Bedürftigen das gleiche gibt wie einer, die für das Sandwich bezahlt. Nun verstehe ich auch den Vers von der Sure 55 (Ar-rahma¯n): »Ihr sollt das Gewicht beim Wägen nach Gerechtigkeit messen und beim Wägen nicht weniger geben.« So könnte also die öffentlich praktizierte Religion aussehen, also die Performanz nach der Perzeption und der Kognition. Oder einfacher : sehen, verstehen, handeln. So ähnlich hat es auch Muhammad ausgedrückt: Erst die Hand, so lange das geht, dann die Zunge, und wenn das nicht mehr geht, dann mindestens das Herz.

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Ich habe bemerkt, dass dieses aufeinander Schauen und solidarisch füreinander da Sein sehr stark nach dem Umbruch zugenommen hat – vor allem nachdem die staatlichen Systeme zunehmend versagen.

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Ich treffe mich später mit den Praktikanten und wir rauchen gemeinsam eine Shisha. Wir unterhalten uns über die Menschen, die in Kairo leben. Dabei sprechen wir über eine bestimmte Person: Auf dem Weg von der DEO zum Shisha-Caf¦ begegnen wir immer einem älteren Mann, der Zitronen verkauft. Wenn es bei uns spät wird, schläft er schon neben seiner Ware. Er hat keine Angst davor, dass seine gelben und grünen kleinen Zitronen gestohlen werden könnten. Lange überlegen wir, wie er denn beruhigt schlafen kann. Ich erzähle Christiane und den anderen, dass hier im Land das Zutrauen, also der arabische Begriff tawakkul, eine enorme Rolle spielt. Es könnte sein, dass man sich in anderen Ländern darüber lächerlich machen kann und meint, das wäre doch Unachtsamkeit, doch auf den Straßen Kairos hält man daran fest: tawakkaltu ala Alla¯h – »Ich vertraue auf Gott.«

Auf dem Weg begegnen wir einem Süßkartoffelverkäufer. Er ist ein fliegender Händler mit seinem kleinen Holzwagen, auf dem dieser typische Süßkartoffelofen steht. Ich kaufe ihm einige gegrillte Süßkartoffeln ab, er überreicht sie mir auf einem bedruckten Papier aus einem Buch. Er sagt mir, er befinde sich in einer schweren finanziellen Lage und brauche noch Geld für seine Kinder. Er habe sieben, die er noch durch die Schule bringen müsse. Er brauche Lebensmittel für sie. Ich gehe zu den anderen und erzähle ihnen davon. Sie fragen mich, ob er denn die Wahrheit sagt. Aber da erinnere ich mich an den Hadith mit Jesus, einen Bericht von Muhammad, in dem er auf Jesus verweist: Als Jesus einen Mann stehlen sah und ihn danach fragte, ob er denn gestohlen habe, schwor der Mann: ›Bei dem, dem allein die Anbetung gebührt, nein‹. Jesus erwiderte: ›Ich glaube Gott und misstraue meinen Augen.‹ Also antworte ich den anderen, dass ich das nicht beurteilen kann. Sie überlegen kurz, aber am Ende geben alle Praktikanten dem Süßkartoffelverkäufer etwas Geld. Danach laufen wir weiter und kommen an einem Supermarkt an. Einige kaufen etwas ein, um es mit aufs Zimmer zu nehmen – und da stoßen wir wieder auf den Süßkartoffelhändler, wie er Milch, Brot, Wurst und Käse einkauft.

Amir oder ›ein Glücksbringer‹ Al-Hussein. Irgendwie ist dieser Ort magisch. Ich laufe durch dieses Viertel und versuche mir vorzustellen, wie es hier wohl damals war. Hier im alten, islamischen Kairo. Mit all diesen kleinen Häusern und diesen kleinen Gässchen. Ein

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grüner Zaun beschützt die große Al-Hussein Moschee. Viele Moscheen gibt es hier. Die Architektur der einen ist schöner als die der anderen. Ich schaue mir einige Dinge an. ›Geschenke für meine Freunde in Deutschland‹ denke ich mir. Aber eigentlich bin ich auf der Suche nach etwas ganz anderem. Ich trage eine Spielzeugpistole mit mir. Er wollte eine. Er hat mir das letzte Mal seine gezeigt, aber die war nicht ganz. Er trug sie an seinem kaputten Hosenbund. Zeigte sie mir immer wieder. Ich spüre, wie mich einige Männer anstarren, aber das interessiert mich gerade nicht. Ich muss ihn finden. Wo steckt er nur? Er sagte, er ist jeden Tag hier, außer Freitag. Das ist sein Familientag. Er ist gerne bei seiner Familie. So wie ich. Ich laufe durch die kleinen Gassen, nehme vieles wahr, was ich zuvor nicht kannte. Männer wollen, dass ich mich in Caf¦s setze. Es steht eines neben dem anderen, und die Kellner versuchen, die vorbeilaufenden Menschen zu angeln. Doch ich habe jetzt keine Zeit, denn diesmal muss ich ihn finden. Ich gehe genau zu dem Ort, wo ich ihn letztes Mal getroffen habe. Mir fällt ein, dass er mir zeigte, wo er auf die Toilette geht. ›Es sei dort der einzige Ort‹, sagte er. Ich laufe dorthin. Ich werde wieder von fliegenden Händlern gestoppt. Ich mache mich von ihnen frei und versuche wieder, den Weg zur Toilette zu finden. Dort ist er aber nicht. Ich eile wieder zurück – erneut versuchen mich die Verkäufer der kleinen Geschäfte abzufangen. Einige sprechen mich auf anderen Sprachen an. Ich habe keine Zeit nachzudenken, welche Sprachen das sind. Mich beschäftigt etwas anderes: Was mache ich, wenn ich Amir finde? Reicht es mir ihn nur zu sehen? Werde ich ihn dann nochmal suchen müssen? Die Gassen werden immer dunkler und schmaler. Ich weiß nicht mehr, wo ich bin. Nein, es darf nicht mehr vorkommen, dass ich ihn suchen muss. Ich werde zu seinen Eltern gehen. Werde mich mit ihnen anfreunden und sie besuchen. Ich werde sie auch zu mir einladen. Wofür haben wir denn sonst so ein großes Haus? Amir hatte mir gesagt, er besuche eine Schule, was ich ihm aber nicht glaube. Er konnte kaum lesen und schreiben. An jenem Tag hatte ich mit ihm geübt. Er konnte es nicht. Ich werde ihn und seine Geschwister auf eine anständige Schule schicken. Ich werde für ihn eine aussuchen, Privatlehrer besorgen und das Schulgeld bezahlen. Das, was er vom Straßenverkauf dieser lächerlichen Armbänder nach Hause bringt, werde ich den Eltern bezahlen. Ich werde ihn besuchen und unterstützen. Ein Handy bekommt er von mir. Dann finde ich ihn immer sofort, und er kann mich jederzeit erreichen. Mir fällt auf, dass ich mich verirrt habe, doch ich habe das Gefühl, heute bin ich Amir näher als sonst. »Amir« höre ich mich leise rufen, ohne es kontrollieren zu können, »Amir« … In meinem Kopf überlagern sich Bilder von einer besseren Zukunft für Amir mit Erinnerungen an meine Kindheit in Imbaba. Ich kenne es aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, barfuß draußen herumzulaufen. Ich war damals an der DEO das einzige Kind aus diesem Armenviertel Kairos. Ich sitze auf einem Gehsteig gegenüber dem Caf¦, in dem wir uns kennenge-

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lernt haben. Das war ein schöner Abend. Mit zwei Praktikanten lernten wir diesen sympathischen Elfjährigen kennen. Er verkaufte uns Armbänder und sagte, das wären Glücksbringer. Wir haben uns sofort mit ihm verstanden. Wir fragten ihn vorsichtig, wie es denn dazu komme, dass so ein intelligenter Junge Armbänder verkaufe. Er lachte und sagte: »Mein Schicksal. Ich helfe meiner Familie. Es geht nicht anders.« Er blinzelte ständig und erklärte uns, dass er eigentlich eine Brille brauche. Er hätte eine daheim. Wir forderten ihn auf, sie immer zu tragen, und er versprach uns, er werde das tun. Damals wollte er nicht, dass er von uns Frauen berührt wird. Islamisch? Ägyptisch? Pubertär? Ich muss seine Lebensverhältnisse ständig mit anderen elfjährigen Kindern aus der DEO vergleichen. Schicksal? Wer weiß … Am Ende jenes Abends begleitete er uns bis zur Metro, stieg mit ein und verabschiedete sich, als er aussteigen musste, mit dem Charme und der Höflichkeit eines wohlerzogenen und gebildeten Erwachsenen. Wie viel islamische Kultur steckt hinter dem, was wir an anderen sehen können? Der Islam zeigt sich manchmal im bescheidenen Gewand eines Kindes … Ich schaue auf den Boden und frage mich, wann ich nochmal herkommen könnte, bevor ich abfliege. Ach ja, bald fliege ich wieder. Mit dem Stock in der Hand kritzle ich auf den staubigen, dreckigen Boden ein Flugzeug und denke an die Vergänglichkeit … Ein halbes Jahr später habe ich mich fast zwei Monate in Indonesien aufgehalten. Wegen dieser Erfahrung mit Amir ist es mir gelungen, intelligenten, bedürftigen Kindern aus einem Armenviertel in Jakarta zu helfen. Ich habe sie unterrichtet und ein Projekt ins Leben gerufen: In der öffentlichen Bibliothek eines Instituts habe ich ein Klassenzimmer für diese Kids organisieren können. Dort findet monatlich auch ein ›movie screening‹ mit anschließender Diskussion statt. Durch Spenden wurden für einige ihre Schulgebühren bezahlt. Die Kids erhalten auch für Materialienanschaffung eine monatliche Spende vom Institut. Das Projekt läuft bis heute noch. Amir habe ich bis heute nicht gefunden. Ich werde ihn weiter suchen. Seinen Glücksbringer trage ich noch in meinem Geldbeutel.

Hablun min Alla¯h, hablun mina n-na¯s Wenn ich jetzt zurückschaue und in einigen Sätzen abschließend beschreibe, was mir dieses interreligiiöse Praktikum gebracht hat, dann ist es folgendes: Im Unterricht selbst habe ich gelernt richtig zu hospitieren, im team-teaching zu unterrichten, eine methodische Reihe zu entwickeln – überhaupt einen gelungenen Unterricht vor- und nachzubereiten. Aber es gibt noch eine Sache, die man nicht im Unterricht lernt, sondern nur in der Begegnung mit Menschen. Es gibt zwei Stränge im Leben eines Menschen. Der erste Strang ist die Beziehung

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zu Allah. Er läuft direkt von Mensch zu Allah – er ist so stark, dass keine weiteren Vermittler gebraucht werden. Dieser Strang verbindet den Körper mit dem Verstand, aber auch das Herz mit der Seele eines Menschen. Er braucht viel Pflege, damit er entsteht und erhalten bleibt. Dann gibt es auch einen weiteren. Der Strang zwischen Mensch und Mensch. Dieser ist die Verbindung, die Bewegung voraussetzt, um aufeinander zugehen zu können. Durch diese Begegnung mit Menschen wird auch der erste Strang zu Allah gestärkt.

Mehmet Sevki Yavuz

Das Schulpraktikum und Kairo als interreligiöser Lernort

Oktober 2011: Ich befinde mich im Rahmen meines Studiums für das Grundund Hauptschullehramt gerade in York, als ich durch meine Dozentin von der Ausschreibung für das Schulpraktikum erfahre. Als Student der islamischen Religionspädagogik verbindet das Praktikum die Möglichkeit, ein neues Land mit einer religiösen Pluralität kennenzulernen und meine erworbenen Kenntnisse im Bereich der Religionspädagogik zu festigen. Ferner kommt mein persönliches Interesse an der arabischen Sprache und Kultur dazu. Nach einer Bewerbung erfolgt ein positiver Bescheid von Seiten des Lehrstuhls von Herrn Prof. Dr. Harry Harun Behr. März 2012: Mit weiteren fünf Praktikantinnen und Praktikanten aus Deutschland befinde ich mich nun in der Deutschen Evangelischen Oberschule (DEO) in Kairo. Während unseres Aufenthalts sind wir auf dem Schulgelände untergebracht, genau genommen im Kindergarten. Von draußen ist nur wenig von der Schule zu erkennen, da der gesamte Komplex ummauert ist. Mit dem Eintritt durch das grüne Tor, das durchgehend überwacht wird, fühlt man sich fast wie zu Hause an einer großen Schule in Deutschland. Das Schulgelände birgt ein reichhaltiges Platzangebot und eine Vielfalt an Möglichkeiten für die bunte Gestaltung des Schulalltags, selbst für eine Schulmoschee mit Waschraum und eine Schulkapelle ist gesorgt. Außerdem stößt man immer wieder auf die zahlreichen arabischen Schriftzüge im Schulkomplex, und die Schüler und das Schulprofil sind natürlich anders. Das Besondere an der Schule ist, dass sie die unterschiedlichsten Menschen zusammenbringt, nicht nur die Schüler. Nachmittags bei den verschiedenen Sportaktivitäten werden die Mannschaften aus Lehrern, Pförtnern und ehemaligen Absolventen zusammengestellt, die den im Land vertretenen Religionen angehören. Und deshalb sind wir hier! Beim Kooperativen Religionsunterricht Christentum/Islam in der gymnasialen Oberstufe werden die Schüler von jeweils einem christlichen und einem muslimischen Lehrer gleichzeitig unterrichtet. Wir haben die Gelegenheit, einige Unterrichtsversuche durchzuführen und uns somit den interreligiösen Herausforderungen, die dieses Fach mit sich bringt, zu stellen. Im Wesentlichen

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Mehmet Sevki Yavuz

sollen die Religionsgemeinschaften sich gegenseitig besser kennen lernen, indem Unterschiede und Gemeinsamkeiten klargestellt werden. Dies ist eine Bedingung für die respektvolle Behandlung der Differenzen während des Religionsunterrichts und sicherlich auch außerhalb der Klasse. In den Wochenendseminaren, die freitags und samstags stattfinden, haben wir die Möglichkeit, unseren Mentoren die eigenen Stundenentwürfe vorzustellen und uns hilfreiche Tipps zu holen. Unsere Mentoren sind sehr hilfsbereit und haben stets ein offenes Ohr für unsere Wünsche und Probleme. Doch in erster Linie haben die fachdidaktischen Seminare das Ziel, sowohl aus christlicher als auch aus islamischer Perspektive eine theologische Fundierung zum Thema Gottesbild und Christologie zu vermitteln. Für unsere Zukunft sind hierbei vor allem die Antworten auf die methodischen Fragen im pädagogischen Umgang mit den heiligen Schriften der drei monotheistischen Religionen von großer Bedeutung, egal ob bei einer Diskussion in einem interreligiösen Gesprächskreis oder als Lehrkraft im religionsbezogenen Unterricht. Eine weitere Facette des Praktikums sind die zahlreichen Exkursionen. Bei den Besuchen religiöser Stätten vor Ort wird die Begegnung der drei monotheistischen Religionen erst richtig deutlich. Die DEO ist wie eine große Familie. Dies hat Vor- und Nachteile. Eine Art Parallelgesellschaft ist Realität. Die deutschen Lehrer und ihre Kinder bleiben oft auch außerhalb der Schule untereinander und können sich in der Landessprache kaum ausdrücken, allerdings gibt es auch hier Ausnahmen. Als Neuling in Kairo sollte man sich als allererstes auf den Lärm einstellen. Denn noch bevor man an der Hauptstraße ankommt, hört man Hupen und laute Stimmen, jedoch gewöhnt man sich schnell daran. Auch das vorherrschende Verkehrschaos scheint normal zu sein. Kairo ist eine sehr schöne und bunte Stadt, aber auch eine Stadt der Gegensätze. Auf der einen Seite gibt es die Reichen, Gebildeten, die in ihren Hochhäusern und Villen leben, und auf der anderen Seite arme Analphabeten und bettelnde Menschen, meistens Kinder. Eines dieser Straßenkinder lernen wir persönlich kennen. Sein Name ist Yousef. Als es schon ziemlich spät in der Nacht ist, begegnet uns dieser etwa 10-jährige Junge barfuß auf den Straßen von Kairo. »Guine¯y Guine¯y«, ruft er uns lautstark hinterher. Bargeld möchte er haben. Mit ein paar Münzen gibt er sich schon zufrieden, obendrein darf er sich beim nächsten Kiosk einiges aussuchen. Das strahlende Lächeln in seinem Gesicht wird breiter und breiter. Später erzählt er uns, dass sein Vater im Gefängnis sitzt und er gerne zur Schule gehen würde. Die Einheimischen teilen uns mit, dass die Stadt vor der Revolution noch lebendiger war. Zwar ist die Revolution vorbei, aber nach dem Freitagsgebet gehen nach wie vor Tausende auf die Straßen; mal laufen sie mit Parteiplakaten ausgerüstet durch die Stadt und machen auf ein bestimmtes Ereignis aufmerksam, mal ist das Ziel das Konsulat einer bestimmten Nation. Es scheint, als gäbe es

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immer einen Grund zum Demonstrieren. Nachdem nun der langjährige Präsident Mubarak gestürzt wurde, steht die erste demokratische Wahl an. Im Kollegium der DEO ist die anstehende Wahl das große Gesprächsthema. In den Runden herrscht Misstrauen, denn laut Vorhersagen einiger Experten machen ein Anhänger des alten Regimes und ein Kandidat aus den Kreisen der Muslimbrüderschaft das Rennen. Auf dem Weg zum Tahrir-Platz kommen uns Bedenken: Wurde nicht erst vor einigen Wochen über blutige Ausschreitungen auf diesem Platz berichtet? Hatten uns unsere Familien und Freunde nicht ausdrücklich darum gebeten, uns von diesem Platz fernzuhalten? Doch diese Gedanken werden rasch von uns beiseite gewischt. Die Revolution wirkt sich auch auf die Zahl der Touristen aus, doch die Zahl der Straßenhändler bleibt gleich. Dadurch vermehrt sich die Anzahl der aufdringlichen Verkäufer pro Besucher. Dies wird vor allem spürbar, als wir bei den Pyramiden von Gizeh sind. Schon auf unserem Weg dorthin, bevor wir überhaupt ankommen, geht es los. Jugendliche werfen sich vor unser Taxi, um uns anzuhalten und Eintrittskarten anzudrehen. Dies ist mit Abstand die negativste Erfahrung, die ich während der Zeit meines Praktikums mache. Sicherlich gehören diese Leute nicht zu den Wohlhabenden des Landes, jedoch empfinde ich es als beschämend, dass sich dieser Zustand als völlig normal durchgesetzt hat, sodass die Polizei, die durchgehend vor Ort ist, keinen Grund sieht, dagegen etwas zu unternehmen.

Ein Praktikumstag in Kairo Wenn man in der DEO untergebracht ist, ist es nicht notwendig, zum Morgengebet den Wecker zu stellen, denn nicht weit entfernt vom Schulgelände befindet sich eine Moschee, und vor allem in den ersten Tagen ist der Ruf des Muezzins nicht zu überhören. Jedoch wird nicht nur der Gebetsruf durch die Lautsprecher ausgesendet, so wie ich es bisher kannte, sondern während des gesamten Gebets sind die elektronischen Hilfsgeräte im Einsatz. Und der Kenner weiß, dass der Imam sich beim Morgengebet in der Regel nicht die kürzesten Suren zum Rezitieren aussucht. Nach dem Gebet lege ich mich wieder hin, stelle meinen Wecker und nehme mir vor, tief durchzuschlafen – doch es bleibt nur bei dem Gedanken. Denn noch bevor der Wecker klingelt, wache ich von dem Kindergeschrei direkt vor unserer Tür auf. Ich werfe einen Blick hinunter auf den Schulhof. An der ›Sonnenuhr‹ treffen sich bereits die unteren Klassen, um gemeinsam die ägyptische Nationalhymne zu singen, die an allen Schulen im Land vorgeschrieben ist. Die Melodie klingt sehr euphorisch. Mit der Zeit kann ich sogar den Anfang der Hymne mitsingen. Ich verlasse das Zimmer und gehe zur Küche, um mir einen Kaffee zu kochen. Am Küchentisch sitzen etwa zehn

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Mehmet Sevki Yavuz

größtenteils einheimische Kinder und eine deutsche Erzieherin, die gerade die Zutaten für ihre selbstgemachte Pizza vorbereiten. Es wird, wie zu erwarten, nur deutsch geredet. Sie sind so sehr in ihre Arbeit vertieft, dass sie mich nicht einmal bemerken. Immer wieder kommen einzelne Kinder in die Küche, laufen zum Wasserspender, bedienen sich und stellen ihre Becher vorbildlich ins Spülbecken. Dort steht eine weitere Frau in traditioneller Kleidung, die meine Präsenz bemerkt. Mit »Sabah al-kheir« (»guten Morgen«) und einem netten Lächeln begrüßt sie mich. Sie spricht ägyptisch, ich kann ihr antworten, und dies ermutigt mich. Während ich meinen Kaffee trinke, entwickelt sich ein Gespräch mit einer von meiner Seite aus reduzierten Anzahl von Wörtern und ausreichender Zeichensprache. Sie holt ihr Portemonnaie heraus und zeigt mir Bilder ihrer Familienmitglieder. Erst kürzlich ist sie Großmutter geworden. »Alhamdulillah«, sagt sie immer wieder, sie scheint glücklich zu sein. Auch ich bin froh darüber, dass ich meine erlernten Arabischkenntnisse anwenden kann und sie auszureichen scheinen. Außerhalb der Küche begegne ich Kindern, die gerade am Malen sind. Ahmad heißt der kleine Junge mit den lockigen Haaren; er redet viel, scheint auch viel zu wissen und keine Angst vor unbekannten Leuten zu haben. Er malt ein großes Haus mit einem Garten und einem Schwimmbecken, daneben einen Basketballplatz und zwei Autos. »Das ist unser Haus«, sagt Ahmad. Schnell merkt man, dass die Kinder hier nicht aus Ägyptens durchschnittlichen Familien kommen. Es wird Zeit, der Unterricht beginnt bald. Heute hat eine Mitpraktikantin den Unterricht vorbereitet. Ich setze mich hinten zu unseren Mentoren, beobachte das Unterrichtsgeschehen und mache mir dabei einige Notizen. Das heutige Thema ist das Bilderverbot im Alten Testament. Die Schüler sind begeistert dabei, sie diskutieren und kommentieren. Es dauert nicht lange, bis ein muslimischer Schüler aus seinen persönlichen Erfahrungen berichtet und die ganze Debatte an Komplexität zunimmt. Doch die Praktikantin hat den Unterricht in der Hand. Nach dem Unterricht gibt es eine gemeinsame Reflexion, es wird besprochen, was gut war und worauf man in welcher Situation hätte mehr achten können. Anschließend gehe ich zu Waleed, dem beliebten Mann am Schulkiosk. Das Geld wird zunächst gegen Bonmarken getauscht, bevor der Einkauf überhaupt erfolgen kann. Heimische Brezel oder Schokocroissant, am Sortiment lässt sich nichts aussetzen, jedoch bleibe ich beim Sandwich, zu dem es als Beilage saure Torshi (eingelegte Gemüse) in verschiedenen Farben gibt. Später treffen sich alle Praktikanten und die Mentoren am grünen Tor, da eine Exkursion die Teilnehmer in einen Trialog der Religionen führen wird und einer Besichtigung und Führung durch religiöse Stätten der drei monotheistischen Religionen. Unser erster Halt ist die Amr Ibn al-Ass-Moschee, welche die erste und somit gleichzeitig die älteste Moschee in ganz Afrika ist. Unser nächstes Ziel ist das koptische Kairo. Kopten gehören zur orthodoxen Kirche und machen etwa zehn Prozent der ägyptischen Bevölkerung aus. Viele

Das Schulpraktikum und Kairo als interreligiöser Lernort

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von ihnen tragen ein kleines Kreuz an ihrem rechten Handgelenk als Tattoo. Da wir uns gerade mitten in der 40-tägigen Fastenzeit vor Ostern befinden, sind die Kirchen gut besucht. Die Straßen sind belebt, man hört Gebete und Gesänge sowohl in arabischer als auch in koptischer Sprache, die heute nur noch als Kirchensprache verwendet wird. In diesem Viertel liegt auch die Ben-EsraSynagoge, die laut lokaler Tradition genau an der Stelle errichtet wurde, an der die Tochter des Pharao den kleinen Moses fand. Heutzutage sind die Besucher dieser religiösen Stätte größtenteils Touristen. Von hier aus geht es mit dem Bus wieder zurück zur DEO und die Gestaltung des restlichen Tages steht uns frei. Nach einer kurzen Erholung in unseren Appartements laufen wir an den vielen Bügelstuben, Saftläden, Fischgeschäften etc. vorbei und ziehen weiter in die islamische Altstadt. In der Hussein-Moschee, die vor allem während des Freitagsgebets von sehr vielen Muslimen besucht wird, verrichten wir das Abendgebet. Anschließend wird mit einem Koshari (Linsengericht) der tägliche Bedarf an Kohlenhydraten abgedeckt. Wenn man sich schon hier befindet, ist ein Besuch beim Basar Khan al-Khalili ein Muss. Hier kann man alles von Kunst bis Kitsch bekommen. Sprachliche Probleme stehen kaum im Wege, da die meisten Händler englisch, einige sogar deutsch sprechen. Nach zahlreichen Feilschversuchen, bei denen vor allem Geduld gefragt ist, geht es zu einem ganz bestimmten Kaffeehaus in einer der vielen Gassen des Basars: El Fishawy. Hier herrscht großer Betrieb, daher hat das Lokal auch täglich 24 Stunden geöffnet, außer im Ramadan. Auch der ägyptische Literaturnobelpreisträger Nagib Mahfuz besuchte zu Lebzeiten oft dieses Caf¦, etliche der dort hängenden Bilder halten diese Momente fest. Den anstrengenden Tag lasse ich bei einem Karkade (Malventee) und einer Wasserpfeife mit Apfelaroma ausklingen. Immer wieder kommen Händler und ziehen mit ihren Waren an uns vorbei, doch diese stören nicht mehr, sondern sorgen für angenehme Unterhaltung.

Fazit Zusammenfassend ist mein Aufenthalt in der ägyptischen Hauptstadt positiv zu bewerten, da er eine optimale Gelegenheit bietet, viele interessante interkulturelle und interreligiöse Erfahrungen zu sammeln. Kairo ist eine Stadt, die in vieler Hinsicht allerhand zu bieten hat. Der Einblick in das Lehrerleben an einer deutschen Schule im Ausland ist sehr bereichernd und die Tätigkeit in einem internationalen Umfeld vermittelt eine attraktive Atmosphäre. Durch die eigenständige Vorbereitung der Unterrichtseinheiten können wir unsere Zeit eigenständig und flexibel einteilen. Somit bleibt neben dem reichhaltigen Programm auch Zeit für private Interessen, um seinen Erfahrungshorizont noch zu erweitern.

Carmen Trautner

Kairo – Chancen und Herausforderung für dialogbezogene, religionswissenschaftliche und religionspädagogische Kompetenzen

Intention zur Teilnahme am Praktikum Während meines Studiums für das Lehramt an Grundschulen entschloss ich mich für ein sechsmonatiges Auslandspraktikum an einer Schule in Indien/ Nashik. Ausschlaggebend für die Entscheidung nach Indien zu gehen war, neben der Lehrertätigkeit und der damit verbundenen Möglichkeit, Praxiserfahrung zu sammeln, auch das Land an sich mit seinen zahlreichen Religionen. Diese spirituell-religiöse Fülle hautnah und zeitintensiv erleben zu dürfen, war für mich als zukünftige Religionslehrkraft ein belebender wie auch inspirierender Moment, der mein Leben prägen sollte. Innerhalb des Schulalltags in einer anderen Kultur partizipieren zu können, wurde durch eine Reise durch das Land ergänzt, die mir Einblicke in die religiöse Praxis im Hinduismus, Buddhismus wie auch Islam und Christentum eröffnete. Begeistert von der Glaubenstiefe, der Orthopraxie und Vielfältigkeit begann ich, zurück in Deutschland, mit meinem Forschungsvorhaben im Zuge der Zulassungsarbeit für das Lehramt an Grundschulen im Bereich des Hinduismus. Aus dieser Auseinandersetzung entwickelte sich das verstärkte Interesse an interreligiösen und interkulturellen Prozessen, welches ich nun im Rahmen einer Dissertation wissenschaftlich fundiert aufarbeite und darlege. Somit war die Teilnahme an dem Praktikum im Kooperativen Religionsunterricht Christentum/Islam an der Deutschen Evangelischen Oberschule in Kairo eine neue bereichernde Herausforderung hinsichtlich religionspädagogischer, religionswissenschaftlicher und dialogbezogener Kompetenzen.

Leitgedanken zum Praktikum Bevor ich die Reise nach Kairo antrat, setzte ich mich mit meinen Leitgedanken für dieses Praktikum auseinander. Welche Erwartungen hatte ich an mich und an dieses Praktikum? Welche Ziele setze ich mir für diesen Monat? Zum einen

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wollte ich mein Wissen über die drei monotheistischen Religionen vertiefen und durch die Seminare neue Wissensbereiche ergründen. Auch meine Kompetenzen hinsichtlich des Unterrichtens sollten erweitert werden, indem ich die Unterrichtspraxis in einer Oberstufe kennenlernen würde. Im Vorfeld stand eine intensive Recherche hinsichtlich des Landes, der Stadt und der DEO, um mich auf die vorherrschende Situation in Ägypten einstellen zu können. All diese Vorbereitungen und Überlegungen sind eingebettet in mein Bestreben, meine Kompetenzen im interkulturellen und interreligiösen Miteinander zu schulen und weiterzuentwickeln, um aktiv an Küngs fundamentalen Thesen – »Kein Weltfriede ohne Religionsfriede« und »Kein Religionsfriede ohne Religionsdialog«1 – partizipieren zu können. Diese Thesen begleiten mich seit dem Studium, und die Grundlage des Religionsdialoges sollte in Kairo für mich den maßgeblichen Entwicklungsprozess darstellen. Anhand dieser Überlegungen sollen im Folgenden meine Erfahrungen hinsichtlich dieser Vorüberlungen dargelegt und reflektiert werden.

Interreligiöse Begegnung – interreligiöser Dialog. Begegnung im Sinne Adornos: »Religionsdialog – Gemeinsam leben lernen ›ohne Angst verschieden zu sein‹«2 Eine Begegnung zwischen Menschen ist durch vielfältige Faktoren gekennzeichnet und der situative Charakter dieses Zusammenkommens kann maßgeblich für das Gelingen oder Scheitern sein. Die Begegnung der Studenten gestaltete sich im Vorfeld des Praktikums durch Mailkontakte, die neben Vorstellungen zur eigenen Person auch Raum für offene Fragen und Vorschläge ließen. Alle sechs Praktikanten lernten sich persönlich an der DEO in der für die nächsten Wochen bedeutungsträchtigen Kindergartenküche kennen. Diese ersten Begegnungen, das erste Sehen und die ersten Gespräche bildeten für die folgenden Wochen die Grundlage für das Entstehen und die Entwicklung intensiver interreligiöser Dialoge. Die angeführte Auseinandersetzung mit dem Begriff Begegnung ist hinsichtlich des interreligiösen Dialoges für mich sehr bedeutungsvoll. Die zwischenmenschliche Begegnung kann als Startpunkt für die Gestaltung des gemeinsamen Alltags an der DEO und das Miteinander entweder im gemeinsamen 1 J. Lähnemann: XIV. Zugänge zu den Weltreligionen. In: G. Adam; R. Lachmann (Hrsg.): Religionspädagogisches Kompendium.Göttingen, 2003, 441. 2 H. Noormann: Religionsfreiheit, Religionskompetenz, Religionsdialog – drei Zeitansagen in religionspädagogischer Perspektive. In: H. Noormann; U. Becker ; B. Trocholepczy (Hrsg.): Ökumenisches Arbeitsbuch Religionspädagogik. Stuttgart, 2004, 39.

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Zweierzimmer oder in der Küche gesehen werden. Die Begegnung als Herantasten – das neugierig sein und die Haltung des Einzelnen – ist ein wichtiger Aspekt und war in unserer Situation für das Entstehen von theologischen Gesprächen sehr wertvoll. Wenn aus einer Begegnung ein interreligiöser Dialog werden soll, sind einige Schritte zu beachten, die wir durch die Praxis des Gespräches erarbeitet haben. Dieses induktive Vorgehen war natürlich geprägt durch die Bearbeitung theoretischer Dialoggrundlagen im Vorfeld – dennoch kann von induktiven Vorgängen gesprochen werden, da die Gestaltung der Gespräche wie auch die Metareflexionen der Dialogsituationen aus den damit verbundenen Erfahrungen wuchsen und sich entwickelten. Unsere Begegnungen waren somit geprägt durch unsere individuelle Lebenssituation, und diese Pluralität im Bereich der Zwischenmenschlichkeit steigerte sich in theologischen Ansichten und vielfältigen intrareligiösen Positionen. Diese heterogene Ausgangslage ist meines Erachtens die produktivste Herausforderung für meinen Kompetenzerwerb im Feld des interreligiösen Dialogs. Wenn man sich in die Situation eines Praktikums dieser Intensität gibt und durch beginnende Gespräche sich allmählich Dialoge herauskristallisieren, wird bald die notwendige persönliche Positionierung deutlich. Wie gestaltet sich die eigene Position zu bestimmten theologischen wie auch ethischen Themen? Was ist für mich an dieser Position so bedeutungsvoll, oder welche theologischen Bereiche habe ich noch nicht voll durchdrungen und was lässt noch Zweifel offen? Wie kommuniziere ich diese Situation? All diese Fragen kommen zu Tage, und sich diesen zu stellen ist unabdingbar für unseren Dialog gewesen, da eines unserer Ziele das gegenseitige Kennenlernen von Gläubigen anderer Religionen war. Diese Positionierung ermöglichte uns die Wahrnehmung einer anderen Religion in der direkten Auseinandersetzung mit einem Gläubigen und dessen religiöser Situation. Sich konkret mit der Vielfältigkeit und Individualität unterschiedlicher Glaubender auseinanderzusetzen, ließ uns einerseits Zeuge werden und andererseits an einer gemeinsamen Wirklichkeit partizipieren. Diese gemeinsame Wirklichkeit konnte für uns jedoch nur dann fruchtbar gestaltet werden, wenn wir zielorientiert an unserer Begegnung gearbeitet haben. Eine Zielsetzung für eine Begegnung, die in einem belebenden Dialog münden soll, ist für mich in diesem Monat zu einer bedeutsamen Prämisse geworden. Was wird mit dem Gespräch verfolgt und aus welcher Perspektive wird diskutiert? Es war wichtig, diese Aspekte zu reflektieren, um die Dialoge nicht verwässern oder gar fehlgeleitet dahin laufen zu lassen. Gemeinsam Ziele zu formulieren und während der Begegnung, bzw. des Dialoges zielgerichtet zu bleiben, war für das Gelingen unserer Gespräche maßgebend und ein lehrreicher Prozess. Für diese Entwicklung ist die Frage meiner Perspektive ein wichtiger Punkt geworden, um die sensiblen und intimen Momente eines interreligiösen Dialoges wahrnehmen zu können – denn für einen belebenden Diskurs ist neben

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der Zielsetzung auch das Wissen um die Perspektive notwendig, um sich nicht fehlleiten zu lassen. Zudem ist es für eine reflektierende Bearbeitung dieser Thematik sehr interessant, welche unterschiedlichen Perspektiven eingenommen werden können: sei es die des Gläubigen, der von seiner individuellen Praxis Auskunft gibt; oder die Perspektive aus einer übergeordneten konfessionellen / religiösen Position, die allgemeine Grundzüge darlegt oder das Augenmerk auf die Diversifikation der Konfession bzw. Religion legt; oder sei es die Perspektive einer religionswissenschaftlichen Position, die aus dem ihr eigenen Blickwinkel Konfessionen / Religionen analysiert und deskriptiv darstellt. Diese Perspektive vorab zu kommunizieren oder während des Dialoges die Perspektiven kenntlich für alle Beteiligten zu wechseln, sind für das zielgerichtete Gelingen unserer Begegnung maßgebend gewesen und haben unsere Blickwinkel wachsen und reflektierter werden lassen. Gewiss gehören aus dem Bereich des interreligiösen Dialoges noch weitere Aspekte angeführt3 – wie z. B. tiefgründige Reflexionen über Chancen und Grenzen, oder die Dialogfähigkeit; jedoch stellte sich mein Fokus in diesen vier Wochen auf die dargelegten Bereiche ein, und dies hat mich die Thematik des interreligiösen Dialoges aus den genannten Blickwinkeln beurteilen lassen. Der Prozess dieser Reflexionen und auch des Herauskristallisierens bedeutender Aspekte für einen Dialog sind für mich maßgebend für die Weiterarbeit geworden.

Kairo – eine Lernumgebung Neben der Tatsache, dass wir unsere interreligiösen Kompetenzen durch unsere Begegnung innerhalb der Praktikantengruppe entwickeln konnten, hatten wir die Möglichkeit, unseren Lernraum zudem in ein anderes Land zu versetzen. Im Folgenden soll auch diesem Aspekt eine Betrachtung gewidmet werden. Einführend erscheint es für mich bedeutungsvoll, die Komplexität der Chance zu beschreiben, die solch ein Auslandsaufenthalt in sich birgt. Zunächst ist das Einfinden in fremde kulturelle Kontexte bemerkenswert.4 Andersartigkeit mitzuerleben, kulturelle Strukturen direkt zu erfahren – und dies nicht gebunden an 3 Vgl. hierfür Literatur zum Themenfeld Interreligiöser Dialog: Chr. Knoblauch: Interreligiöser Dialog beginnt an den Wurzeln. Religionsunterricht und Religious Studies auf der Suche nach interreligiösem Verständnis. Eine Analyse und empirisch-explorative Vergleichsstudie beider Konzeptionen, Tübingen 2010. Oder W. Höbsch: Voraussetzungen und Perspektiven für den interkulturellen und interreligiösen Dialog, in: J. Freise; M. Khorchide (Hrsg.): Interreligiösität und Interkulturalität. Herausforderungen für Bildung, Seelsorge und Soziale Arbeit im christlich-muslimischen Kontext, Münster, 2011, 43 – 48. 4 Für eine eingehende Auseinandersetzung mit den Begriffen Religion und Kultur, beziehungsweise Interreligiösität und Interkulturalität sei auf J. Freise; M. Khorchide (Hrsg.) (2011) verwiesen.

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eine mediale Perspektive, sondern durch den eigenen Blick – steigert das Reflexionsvermögen und die Kommunikationsfähigkeit. Ich benutze hierbei das Wort Andersartigkeit bewusst, da dieses für mich eine Nähe impliziert, die durch einen Auslandsaufenthalt dieser Art ausgedrückt wird. Fremde wäre an dieser Stelle für mich aufgrund des Aspekts einer intensiven Begegnung nicht treffend genug. Das Entwicklungspotential dieser Situation zu erkennen und fruchtbar für sich zu machen, ist ein Geschenk, welches sich lohnt anzunehmen und sich daran zu erfreuen. Ägypten: Auch wenn ich es als Geschenk ansehe, diese Erfahrung machen zu dürfen, kann nicht außer Acht gelassen werden, dass dieses Land im Zuge des arabischen Frühlings von einer Revolution durchzogen wurde, die ihre Spuren hinterlassen hat. Dies wurde nicht nur bei Gesprächen mit Lehrern der DEO deutlich, sondern auch im Stadtbild. Panzer und bewaffnete Soldaten, Zelte und Flaggen am Tahrir-Platz ließen eine Stimmung entstehen, die für einen Menschen aus Deutschland mehr als nur eine neue Erfahrung war – es war ein direkter Einblick in ein Land, welches mit den Ausläufern und Folgen der Revolution einen Umgang zu finden versuchte. Neben diesen Stadteindrücken wurde uns die Möglichkeit eröffnet, Julia Gerlach zu treffen, die durch ihre journalistische Arbeit von der Revolution wie auch den weiteren Geschehnissen berichtet. Diese Unterhaltung und ihre Eindrücke waren neben der eigenen Erfahrung eine interessante und informative Gelegenheit, sich weiterzubilden und Anstöße zu schaffen näher hinzusehen. Und somit wurde durch die nähere Betrachtung der Ort Kairo zu einem mehrdimensionalen Lernort, der Impulsgeber und zugleich Reflexionsgrund war. Diese zahlreichen Dimensionen zeichnen die Intensität des Praktikums aus und eröffnen in gesellschaftlicher, politischer, religiöser und didaktischer Hinsicht eine konzentrierte Auseinandersetzung mit den Lerngegenständen.

Religionswissenschaftliche Perspektive Neben den religionspädagogischen und -didaktischen Aspekten des Praktikums und hinsichtlich der Mehrdimensionalität des Lernortes Kairo war dieser Aufenthalt für mich auch aus religionswissenschaftlicher Sicht bereichernd. Diese Bereicherung gründet sich auf die Möglichkeit, aktiv an der gegenseitigen Wahrnehmung von Religionen teilhaben zu dürfen und diese Dialoge zu evaluieren. Diese weitere Perspektive eröffnete uns als Gruppe ein weiteres Kompetenzfeld und ließ uns unsere – teils auch sehr persönlichen – Gespräche durch eine andere wissenschaftliche Ebene analysieren, damit wir im Sinne unserer Dialogziele Neujustierungen vornehmen konnten. Die Vereinigung der Kompetenzen der unterschiedlichen Disziplinen postuliert Tworuschka in dem Buch

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»Die Weltreligionen und wie sie sich gegenseitig sehen«5 – und durch unsere gemeinsame Arbeit habe ich den Gewinn dieser Verbindung erleben können. Angeregt durch Tworuschkas Blicke auf Religionen und durch die religionswissenschaftliche Partizipation an der Gestaltung interreligiöser Prozesse, konnte ich die Gespräche und Begegnungen zudem aus dieser Sicht bewerten. Wie gestalten sich Blicke auf die andere Religion? Wie sind diese geprägt und wie werden diese kommuniziert? Zu diesen Fragen stellen das religiöse Spektrum innerhalb einer Glaubensgemeinschaft und die damit verbundenen intrareligiösen Diskurse interessante Anknüpfungspunkte für weitere religionswissenschaftliche Forschungsarbeiten dar. Zudem war Kairo der Ort, an dem ich innerhalb und außerhalb unserer Gruppe die muslimische Vielfalt kennenlernen durfte. Dass der Islam nicht existieren kann, ist eine Tatsache, der ich mir durch meine religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit Religionen schon immer bewusst war. Jedoch hautnah und zeitintensiv die Vielfalt und Diversifikation, die sogenannte muslim diversity, miterleben zu dürfen – durch den Aufenthalt in Kairo, dem damit verbundenen Leben in der Stadt, dem Leben innerhalb der DEO und mit den anderen Praktikanten – war eine Bereicherung, die durch reines Studieren der Fachliteratur unmöglich gewesen wäre.

Religionspädagogische Kompetenzen Neben all diesen Aspekten stand auch das Praktikum unter dem Anspruch einer interreligiösen religionspädagogischen Kompetenzentwicklung. Der Unterricht fand in der Kollegstufe statt – für mich als ausgebildete Grundschullehrerin war dieser Faktor eine Herausforderung und Bereicherung, da die Anforderung der didaktischen Reduktion in diesem Kontext für mich eine neue Aufgabe war. Hilfreich für diese Aufgabenbewältigung waren die religionspädagogischen Seminare, die Methoden, Herangehensweisen und neue Fragestellungen vermittelten. Neben diesen theoretischen wie auch praktischen Fundierungen ergänzten die Praktikanten mit Impulsreferaten die Wissensbasis. Diese einführenden Vertiefungen der Anforderungen an eine Religionslehrkraft wurden durch religionsgemischte Referentengruppen weitergeführt. Die gemeinsame Bearbeitung theologischer Konstrukte und ihre Präsentation im Plenum ließ unsere interreligiöse Zusammenarbeit weiterwachsen und hob sie auf die Ebene eines intensiven interreligiösen Diskurses. Diese Inhalte in einer Unterrichtssituation des Kooperativen Religionsunterrichts zu vermitteln, war für mich eine sehr bereichernde und lehrreiche Aufgabe. In der Unterrichtssituation, wie auch in der Vorbereitungsphase, sind mir in der Auseinandersetzung und Reflexion 5 Vgl. U. Tworuschka: Die Weltreligionen und wie sie sich gegenseitig sehen, Darmstadt, 2008, 9.

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des Praktikums folgende Kompetenzen deutlich geworden, die mir für den kooperativen wie auch den konfessionell getrennten Religionsunterricht wichtig erscheinen: Zum einen eine Sensibilisierung und Öffnung für das Eigene und das Andere. Wichtig ist eine persönliche Positionierung, die getragen sein sollte von einer intensiven Vertiefung und einer stetigen Bearbeitung durch den Einzelnen. Dieser Ansatzpunkt hilft bei einem sensiblen und offenen Umgang mit dem anderen – denn im anderen ist die Andersartigkeit und Besonderheit des Eigenen nachspürbar und erfahrbar. Zudem ist der Umgang mit dieser Andersartigkeit eine Herausforderung, die fundiertes Wissen über beide Akteure beinhaltet, wie auch Handlungsstrategien. Diese habe ich in Ansätzen und in meiner individuellen Fokussierung in diesem Artikel bereits dargelegt. Für eine zielgerichtete und belebende Unterrichtssituation sind einführende und gemeinsam erarbeitete Dialogregeln wichtig, zudem habe ich den Fokus auf unterschiedliche Perspektiven gelegt, da mir diese Kompetenz zentral für das Gelingen erscheint. Dieser Perspektivwechsel soll nicht nur inter- oder intrareligiös gesehen werden, sondern auch im Bereich von Begriffsbestimmungen kann eine intensive Bearbeitung von unterschiedlichen Herangehensweisen hilfreich sein und die Schülergemeinschaft darauf aufmerksam machen, dass eine klare und deutliche Kommunikation über Perspektive oder Disziplin für einen gelingenden Dialog vonnöten ist. Die Erkenntnisse, die ich durch die Zusammenarbeit mit den Schülern und Schülerinnen erfahren konnte, werden mich auf meinem weiteren Lebens- wie auch Lern- und Lehrweg begleiten.

Leben in und mit Vielfalt Die damit verbundenen Chancen und Herausforderungen konstruktiv zu gestalten und für eine aktive Gesellschaft zu nutzen, stellt für mich eine Aufgabe dar, die ich gerne annehmen möchte und die ich durch meine Arbeit belebend zu fördern versuche. Rückblickend auf dieses Praktikum kann ich resümieren, dass Begegnung – sei sie inter- oder intrareligiös – für mich und meine Weltwahrnehmung bereichernd und entwicklungsfördernd ist. Diese Entwicklungsprozesse erscheinen mir notwendig, um aufbauend auf individuellen Erfahrungswerten solche Lernsituationen zielgerichtet gestalten zu können. Der Beginn dieser Entwicklung liegt für mich in dem Ausspruch Küngs: »Erwartet ist ›nur’ unbedingte Bereitschaft zu hören und zu lernen.«6

6 Zitiert nach Chr. Knoblauch (2010) 26.

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Dialog mit Verantwortung

Das einmonatige Praktikum in Kairo war in vielerlei Hinsicht gewinnbringend und nützlich. Im Folgenden möchte ich mich jedoch weniger dem Praktikum, seinem Verlauf und sonstigen Details, sondern vielmehr den erlebten, grundsätzlichen Herangehensweisen und Gedanken, die zum interreligiösen Dialog geäußert wurden, wie auch der Beurteilung dieser aus islamischer Perspektive widmen. Selbstverständlich ergibt sich bereits hieraus die erste für den Dialog durchaus relevante Problematik, da die Begrifflichkeit der islamischen Perspektive zunächst definiert sein möchte, bevor man sich ihrer Betrachtung widmet, wo es doch zahlreiche Facetten und Schulen innerhalb des Islams gibt, was eine objektive Beurteilung oder Fassung des Islams, der innerhalb eines Dialogs repräsentiert werden möchte, schwer verwirklichbar erscheinen lässt. Dieser Problematik soll sich nach einer kurzen Anmerkung zum Verhältnis von Dialog und Theologie im Allgemeinen gewidmet werden.

Dialog mit Verantwortung – die Erste Ein meiner persönlichen Einschätzung nach unterschätzter Faktor ist die Verantwortung, die jener, der den Dialog betreibt, gegenüber den verschiedenen, direkt oder indirekt beteiligten Parteien trägt. Dies bezieht sich sowohl auf den bzw. die direkten Dialogpartner, als auch auf die Gesellschaft, die sich oftmals aus dem Dialog bestimmte Ziele erhofft. Das ist ein an und für sich kritisch zu betrachtender Gedanke, auf den im späteren Verlauf noch weiter eingegangen werden soll, aber auch – und dies soll der Kernpunkt der folgenden Betrachtung sein – gegenüber der eigenen Theologie bzw. Religion, die man in seiner Rolle als am Dialog Beteiligter vertritt. Dies soll heißen, dass es – so zunächst die These – nicht zu rechtfertigen ist, einstimmig feststehende Tatsachen binnen der eigenen Theologie auf Kosten eines erfolgreichen Dialoges in Frage zu stellen, zu igno-

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rieren oder zu leugnen. Hierbei ergeben sich jedoch einige Probleme, die an die angesprochene Problematik der innerislamischen Pluralität anknüpfen.

Das Problem mit den feststehenden Tatsachen

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Die Vertreter der verschiedensten islamischen Wissenschaften versuchten die unklare Grenze zwischen dem, was islamisch ist und dem, was es nicht mehr ist, bestmöglich zu definieren. Hierzu teilten sie die verschiedenen Textquellen, sowohl in Belangen ihrer Authentizität und Verlässlichkeit (at-tubu¯t), als auch in ¯¯ ihrer semantischen Bedeutung (ad-dala¯la) in die Kategorien des Präsumtiven (an-nazarı¯) und des zweifelsfrei Feststehenden (qa¯ti oder qat ¯ı) ein. Ebenso ˙ ˙ ˙ verhält es sich mit der Beschaffenheit der verschiedenen Urteile des Verstandes,1 welche entweder präsumtiv, also wiederum nazarı¯, oder aber logisch notwendig ˙ (daru¯rı¯), beziehungsweise offensichtlich (badahı¯) sind. Letzteres bedeutet: Sie ˙ stehen mit einer solchen Offensichtlichkeit fest, dass sie keine weitere Beweisbarkeit erfordern bzw. dass sie eine weitere Beweisführung gar nicht zulassen, wie etwa der Umstand, dass zwei größer eins ist. So einigte sich ein Großteil der muslimischen Theologen also darauf, dass eine jede Person, die nichts, was entweder durch die sowohl in ihrer Authentizität unanzweifelbaren (qat ¯ı at-tubu¯t), als auch in ihrer Bedeutung eindeutig ˙ ¯¯ feststehenden (qat ¯ı ad-dala¯la) schriftlichen Textquellen des Islams, aber auch ˙ den sich (aus diesen) ergebenden, notwendigen Urteilen des Verstandes leugnet, als Muslim zu bezeichnen ist.2 Dementsprechend sollte auch jener, der den Islam binnen des Dialogs zu vertreten ausgibt, diese Grenze nicht überschreiten. Das sich hierbei ergebende Problem ist, wie bereits dargestellt, die innerislamische Ambiguität, welche die Unterscheidung zwischen dem Islamischen und dem Nichtislamischen auch auf die oben erwähnte Weise nicht vollständig zulässt. So können beispielsweise innerhalb der systematischen Theologie des Schiitentums andere angenommene logische Axiome als innerhalb der sunnitischen Theologie vorausgesetzt werden. Ebenso verhält es sich mit der Quellenbeurteilung, denn was nach sunnitischen Maßstäben als zweifelsfrei authentisch (qat ¯ı at-tubu¯t) gilt, kann nach schiitischen Maßstäben als unau˙ ¯¯ thentisch gelten und umgekehrt. Dasselbe gilt auch für andere, kleinere, oder auch modernere Bewegungen ˘

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1 Es sei betont, dass es hier um die Beschaffenheit der Urteile des Verstandes geht, nicht etwa um die Urteile selbst, welche die logische Notwendigkeit (wugˇu¯b), die Unmöglichkeit (imtina¯, iha¯la oder istiha¯la) und die Möglichkeit (imka¯n oder gˇawa¯z) sind. ˙ hierzu beispielsweise ˙ 2 Vgl. Ibn Tilmsa¯ni: Sˇarh ma a¯lim usu¯l ad-dı¯n, Amman 2010, 53 – 161; ˙ ˙ aber auch vergleichbare Werke in den Disziplinen der systematischen Theologie ( ilm alkala¯m bzw. ilm at-tawh¯ıd oder usu¯l ad-dı¯n) oder Grundlagen der Jurisprudenz (usu¯l al-fiqh). ˙ ˙ ˙ ˘

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innerhalb des Islams wie etwa die Ahmadiyya oder die Aleviten. Die innerislamische Problematik, die sich aus diesen verschiedenen Grenzziehungen dessen ergibt, was eine islamisch feststehende Tatsache ist und was nicht, ist nicht übersehbar : So führt sie beispielsweise zwangsweise dazu, dass ein Muslim, der sich der Ahmadiyya zuschreibt, sich nach obiger Systematik aus sunnitischer oder schiitischer Sicht außerhalb des Islamischen befindet. Warum? Er leugnet das, was die sunnitische oder schiitische Theologie als feststehend (qat ¯ı) be˙ trachtet, nämlich, dass es nach dem Propheten Muhammad keinen Propheten mehr geben wird, weder einen gesetzgebenden Propheten (rasu¯l), noch einen bloßen Propheten (nabı¯). Diese innerislamische Problematik der Definition des Islamischen ist jedoch in Belangen des Dialogs, binnen dessen ein Muslim seinen Glauben repräsentiert, nicht von Bedeutung. Dies jedoch unter der Bedingung, dass der Muslim nicht etwa für sich beansprucht, die Gesamtheit der Muslime in Fragestellungen, die innerhalb der muslimischen Schulen umstritten sind, zu repräsentieren. Ich rede also von der internen Verantwortung, die beispielsweise ein ausdrücklicher Vertreter des schiitischen Islams im Dialog gegenüber seiner eigenen, schiitischislamischen Religion hat, oder aber der Sunnit gegenüber seiner eigenen, sunnitischen Schule, deren interne Meinungsunterschiede sich auf den Bereich des Präsumtiven beschränken, weswegen sie hierbei unerheblich sind. In diesem Zusammenhang ist es unabdingbar, eine Aussage, welche auch binnen unseres interreligiösen Praktikums immer wieder in eben diesem oder ähnlichen Wortlauten fiel, zu betrachten. Denn damit es möglich ist, eine Schule oder Denkrichtung des Islams angemessen zu vertreten, indem man sich im Bereich der ihrerseits feststehenden Tatsachen (qawa¯ti ) befindet, ist zunächst ˙ die Anerkennung der Existenz dieser feststehenden Tatsachen und eben dieser Systematik erforderlich. Die Anerkennung dieser Systematik wiederum erfordert logisch-notwendigerweise den Ausschluss dessen, was sich außerhalb dieses Bereiches der feststehenden Tatsachen (qawa¯ti ) befindet, aus dem Kreise ˙ des Islamischen. Gemeint ist die oft gut gemeinte Aussage: ˘

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»Man kann niemandem seinen Glauben absprechen.« Ein Satz wie dieser wirft die Frage auf, was denn gemeint ist – der subjektive oder der objektive Bezug, die persönliche Glaubensüberzeugung oder die erkennbare Zugehörigkeit zu einer Religion als Symbol- und Deutungssystem? Hier soll im Weiteren die Frage nach den subjektiven Überzeugungen gegenüber der nach der Systematik einmal zurücktreten. Denn genau genommen kann man dies sehr wohl – es funktioniert sogar recht einfach. So steht es jedem Sunniten frei, einem jeden Muslim, der feststehende

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Tatsachen seiner Schule leugnet, den Islam abzusprechen. Dem muss seinerseits eben eine bestimmte Definition zu Grunde liegen, nämlich die, die ihn zu einem Sunniten macht, denn ansonsten wäre seine Selbstverortung als Sunnit nicht überzeugend. Dieselbe Möglichkeit hat andersherum auch der Schiit und auch der Ahmadi, aus dessen Perspektive der Nicht-Ahmadi, da er das Prophetentum des Mirza Ghulam Ahmad leugnet, einem der Grundpfeiler des Glaubens – nämlich des Glaubens an die Gesamtheit der Propheten Gottes – widerspricht. Wer das prinzipiell in Frage stellt, wird sich notwendigerweise in nicht endenden logischen Widersprüchen wiederfinden und darüber hinaus seinen Mitmenschen eben diese Widersprüche aufzwängen. Denn dann wäre es einem Schiiten verboten, einem Ha¯rigˇ¯ıten den Islam abzusprechen, wenn dieser Alı¯, ˘ den Schwiegersohn und Neffen des Propheten Muhammad, als hinzurichtenden Ungläubigen und Apostaten ansieht. Dies deshalb, weil Alı¯ für die schiitische Religion von absolut elementarer Bedeutung ist und als rechtmäßiger Nachfolger des Propheten gilt – und als Oberhaupt der Imame, die sich in dieser Funktion in die legitime Nachfolge Muhammads gestellt sehen. Auch hier spielt wieder die systematische Definition im Sinne der Schia eine Rolle, welcher der Ha¯rigˇ¯ıt nun einmal widerspricht. ˘ Vielmehr müsste ein Schiit akzeptieren, dass es zutrifft und im Sinne der eben selbigen Religion ist, die er vertritt, zu sagen, Alı¯ sei ein abtrünniger Apostat, und zugleich fest davon ausgehen, dass Alı¯ das nach den Propheten vollkommenste Geschöpf Gottes ist, und dass es sich hierbei um ein zentrales im Islam feststehendes Dogma handelt. Das allerdings wäre nichts als ein krasser logischer Widerspruch, da zwei gegenteilige Aussagen einander im selben Objekt der Betrachtung zur selben Zeit ausschließen. Natürlicherweise löst sich das Problem, wenn man auf die oben angesprochene Aufteilung zurückgreift. So müsste der Schiit sagen, der Ha¯rigˇ¯ıt sei zwar ein Muslim – jedoch aber ein ˘ ha¯rigˇ¯ıtischer Muslim; ein Muslim nach einem ha¯rigˇ¯ıtischen Islamverständnis ˘ ˘ also, während der Schiit selbst jedoch als Konsequenz seines Daseins als Schiit die Überzeugung trägt, dass eben dieses ha¯rigˇ¯ıtische Islamverständnis ein nicht ˘ wahrheitsgemäßes ist. Würde er dies wiederum nicht tun, sondern sagen, dass es sich bei beiden Verständnissen lediglich um verschiedene Islamverständnisse handele, welche aber beide richtig seien, wären wir erneut bei der bewussten Inkaufnahme logischer Unvereinbarkeit. Es mag auf den ersten Blick kompromisslos klingen, aber das bedeutet, dass es an dieser Stelle keinen Mittelweg gibt: Wem man das Recht abspricht, anderen Menschen den Glauben abzusprechen, dem spricht man das Recht ab, seinen Glauben durch feststehende Tatsachen (qawa¯ti ) einzugrenzen oder zu definie˙ ren und davon ausgehend Urteile zu finden. Dadurch droht der gesamte Glaube zur Farce zu werden, und es wird darüber hinaus einer Person unmöglich gemacht, ihre Position nach außen hin im Dialog zu vertreten. Oder aber man ˘

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provoziert und duldet logische Widersprüche, was seitens des Vernunftbegabten ebenso wenig hinzunehmen ist. Somit muss also beispielsweise jeder Sunnit, der den sunnitischen Islam im Dialog vertreten möchte, deutlich machen, dass es Schulen oder Gruppierungen gibt, die sich nach Eigenaussage zwar dem Islam zuschreiben, dem seine Definition zugrunde liegenden Islam jedoch fremd sind, weswegen er nicht für sich beansprucht, diese zu repräsentieren.3 Hinzu kommt, dass die Forderung, man dürfe anderen ihren Glauben unter keinen Umständen absprechen, in sich mehr als inkohärent ist. Diese Forderung birgt in sich eine ungemeine Intoleranz, wo sie doch Menschen vorzuschreiben sucht, wie sie ihren Glauben zu verstehen und zu beurteilen haben – während sie im selben Moment eben dieses Verhalten zu kritisieren vorgibt. Selbstverständlich impliziert auch eine Vorverurteilung als nicht-islamisch, was nicht der eigenen Schule entspricht, die Vorschrift dessen, was in Belangen des Glaubens richtig sei und was nicht. Jedoch beklagen sich jene nicht, die sich das Recht herausnehmen, anderen ihren Glauben abzusprechen, sollte ihnen seitens der jeweils anderen Fraktion das Gleiche widerfahren. Viel mehr behandeln sie dies mit vollkommener Gleichgültigkeit, da das islamische Urteil einer bei ihnen ohnehin als nichtig geltenden islamischen Schule kein Gewicht hat. Das Problem liegt also in dem unehrlichen Doppelstandard, wie es die Forderung, man dürfe keinem seinen Glauben absprechen, zwangsweise tut. Somit ist die Akzeptanz, dass ein jeder Mensch das Recht hat, anderen Menschen ausgehend von seiner eigenen Definition einer Religion eben diese Religion abzusprechen, viel eher im Sinne der Freiheit und Gerechtigkeit. Aber das verlangt zweierlei: Einmal dass jeder dasselbe seitens anderer duldet, und einen sachlichen und nüchternen Umgang mit der Thematik. Wer jedoch tatsächlich die Auffassung vertritt, man dürfe anderen den

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3 Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass bezüglich der zweifelsfrei feststehenden Tatsachen (qawa¯ti ) tatsächlich recht große Gemeinsamkeiten festzuhalten sind. So hat die klassische ˙ sunnitische Gelehrsamkeit – selbstverständlich mit einigen Ausnahmen – sowohl die Mu tazila, als auch die Ha¯rigˇ¯ıten und deren bis heute vorhandenen Abkömmlinge der Iba¯d¯ıten, und auch einige˘Gruppierungen der Schiiten, wie etwa die Zaydiyya, nicht aus dem ˙ der Muslime ausgeschlossen und auch bei den übrigen Gruppierungen und Strömungen Kreis nur in seltensten Fällen pauschale Aussagen getroffen. Was jedoch moderne Entwicklungen wie die erwähnte Ahmadiyya oder auch die Aleviten angeht, so herrscht – wenn auch die Aussprache dieses Umstandes ganz besonders in Belangen des interreligiösen Dialoges natürlich gern ignoriert oder totgeschwiegen wird – in der Realität ein nur schwer relativierbarer Konsens unter modernen Vertretern sunnitischer wie auch schiitischer Theologie, dass diese nicht zum Kreise der Muslime zu zählen sind. Dabei spielt für die islamische Normenlehre aber auch eine Rolle, inwieweit sich solche Gruppierungen selbst als eigene Religionsgemeinschaft definieren. Dieses Recht auf religionsgemeinschaftliche Selbstverortung darf nach der Scharia niemandem verwehrt werden. Zur Herausforderung wird dabei, dass solche Gruppierungen in dieser Frage nicht geschlossen, sondern in sich heterogen auftreten. Das gilt zum Beispiel für die diversen alevitischen Gruppen. ˘

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Glauben nicht absprechen, muss sich letztendlich damit abfinden, dass eine Person, die beispielsweise die historische Existenz des Propheten Muhammad oder gar die essenzielle bzw. wesentliche Existenz Gottes negiert, trotzdem für sich beanspruchen darf, ein Muslim zu sein. Dass dies letztlich in eine nicht hinnehmbare Vergewaltigung des Verstandes und in ideologische Willkür mündet, die sich heutzutage unter dem Deckmantel der Toleranz in das Religionsverständnis vieler ›Theologen‹ eingeschlichen hat, bleibt keinem vernunftbegabten Menschen verborgen.

Dialog mit Verantwortung – die Zweite

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Mit Blick auf die bisher erläuterten innerislamischen Umstände also gilt es, die Rolle des Muslims im Dialog mit anderen Religionen binnenperspektivisch zu beurteilen. Denn der Umstand, dass es dem Muslim verboten ist, während des Dialogs mit Vertretern anderer Religionen, innerhalb seines Glaubens feststehende Tatsachen (qawa¯ti ) zu negieren oder gar nur zu relativieren, ist bereits ˙ seitens des Korans deutlich geworden, und zwar vor allem da, wo er die Situation Muhammads reflektiert: »Gehorche nun nicht denen, die [die Botschaft] für Lüge erklären! Sie wünschen, dass du dich ihnen gegenüber entgegenkommend verhältst, dann würden auch sie sich dir gegenüber entgegenkommend verhalten [Übers. d. Verf.].«4 Ebenso im folgenden Vers: »Sag: ›Die rechte Leitung ist jene, die von Gott kommt.‹ Solltest du aber nach dem Wissen, das dir [von Gott her] zugekommen ist, ihren Neigungen folgen, dann hast du Gott gegenüber weder Freund noch Helfer.«5 Des Weiteren verurteilt der Koran das bewusste Ausblenden, Ignorieren oder Infragestellen einiger Aspekte des Glaubens unter Ausschluss anderer, entsprechend den Erfordernissen äußerer Umstände und Interessen: »Glaubt ihr denn an einen Teil der Schrift, und an den andern nicht? Diejenigen unter euch, die so handeln, verdienen nichts als Schmach im diesseitigen Leben. Und am Tag der Auferstehung werden sie der schwersten Strafe zugewiesen werden. Und Gott ist nicht achtlos eures Tuns.«6 In einem zwar etwas anderen Kontext, aber dasselbe Prinzip verdeutlichend, lässt sich auch folgender Vers anführen: »Diejenigen, die nicht an Gott und seine Gesandten glauben und einen Unterschied zwischen Gott und seinen Gesandten 4 Koran 68:9. Alle im weiteren Verlauf angeführten Koranverse sind – sofern nicht anders angegeben – vom Verfasser selbst übersetzt. 5 Koran 2:120. 6 Koran 2:85.

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machen möchten und sagen: ›Wir glauben an die einen, und verwerfen die anderen‹ und die einen Zwischenweg einschlagen möchten [Herv. d. Verf.], das sind die wahren ka¯firu¯n.«7 All jene Verse lassen also keinen Zweifel daran, dass der Muslim unter keinen Umständen irgendeinen seiner Standpunkte, von denen er überzeugt ist, aufgeben oder sie zum Beispiel im Interesse des friedlichen Miteinanders oder etwas anderem relativieren darf – ungeachtet dessen, wie diese – je nachdem ob es sich um einen schiitischen oder sunnitischen Muslim oder andere handelt – variieren können. Es sei hier angemerkt, dass hiermit nicht etwa die Reflexion der eigenen Position und die fortdauernde Wahrheitssuche verneint wird; vielmehr geht es um Überzeugungen, die sich nach der Reflexion und Wahrheitssuche beim Muslim eingestellt haben und nun aufgrund äußerer Umstände oder Interessen relativiert werden – und nicht etwa aufgrund der, einer fortdauernden Reflexion entspringenden, Einsicht, dass der zuvor eingenommene Standpunkt nicht wahrheitsgemäß war. An dieser Stelle bietet es sich an, eine weitere Aussage, die dem Autor dieses Essays während des besagten Praktikums vorgehalten wurde, anzuführen und zu betrachten.

»Warum bist du dann überhaupt hier? Warum betreibst du dann überhaupt Dialog?« Dies scheint zunächst eine berechtigte Frage zu sein. Denn wenn man von vornherein einen Standpunkt einnimmt, von dem man bis dahin überzeugt ist, und es als nicht erlaubt ansieht, von eben diesem Standpunkt im Interesse der Gesamtheit der Dialogpartner auch nur in geringstem Maße abzutreten, stellt sich die Frage, was dann überhaupt Sinn und Zweck des Dialogs ist. Und dieser Punkt ist in der Tat von enormer Wichtigkeit, da ein Großteil der Probleme, die sich innerhalb des Dialogs ergeben, auf ein tiefgreifendes Missverständnis vom Sinn und Zweck des Dialogs zurückzuführen sind. Die These des Verfassers lautet hier : Die gegenseitige Annäherung kann und darf nicht das Ziel des Dialogs sein. Wer mit eben dieser Festlegung Dialog betreibt, hat den Dialog – und im Falle des religiösen Dialogs auch die Theologie 7 Koran 4:151. Die verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten der Begrifflichkeit des ka¯fir (Plural: ka¯firu¯n / kuffa¯r / kafara) und die jeweiligen Argumente hierzu anzuführen, würde an dieser Stelle den Rahmen sprengen, weswegen die begründete Wahl einer Übersetzungsmöglichkeit unter Ausschluss der anderen an dieser Stelle ausblieb und der Begriff im Original belassen wurde. Allen Auffassungen gemeinsam jedoch dürfte sein, dass die Begrifflichkeit ka¯fir im Großen und Ganzen den Nichtmuslim, sei er ein Atheist oder Anhänger einer anderen Religion, bezeichnet.

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– ideologisch oder politisch instrumentalisiert, vor allem wenn der Dialog von staatlicher Seite geführt oder gefördert wird. Denn wer dem Dialog a priori die Möglichkeit versagt, dass man sich gedanklich und theologisch weniger nahe steht als dies vor dem Dialog der Fall war, da man sich der bestehenden Unterschiede und ihrer Unüberwindbarkeit noch bewusster wurde, betreibt einen Dialog, der weder ergebnisoffen noch ehrlich ist und somit zur Posse zu werden droht. Dementsprechend kann das Ziel des Dialogs also nur sein, einander kennen zu lernen und den Standpunkt des anderen bzw. dessen Argumentation nachvollziehen zu können. Dies kann nun entweder dazu führen, dass man sich einander annähert, oder aber dazu, dass man sich gedanklich voneinander entfernt. Trotz allem hat der Dialog in beiden Fällen positive Konsequenzen und ist somit erstrebenswert. Denn selbst wenn im Rahmen des Dialogs Unterschiede deutlich werden, derer man sich zuvor nicht bewusst war, und sich diese teilweise auch als unüberwindbar herausstellen, so gibt der Dialog trotz allem die Möglichkeit, den Standpunkt eines Gegenübers kennen zu lernen und zu verstehen. Dazu gehört auch die mögliche Einsicht, dass die Argumente – mögen sie auch den eigenen widersprechen – durchaus nachvollziehbar sein können. Genau das kann dann zu einer höheren Wertschätzung und gegenseitigem Respekt, aber auch zur erneuten Reflexion des eigenen Standpunktes und zu Bescheidenheit führen, was das Miteinander fördert. Womöglich lernt man dann eben nicht nur etwas über den anderen, sondern von ihm.

Dialog mit Verantwortung – die Dritte Doch an dieser Stelle zurück zu unserem prototypischen Muslim und seinen nicht relativierbaren Überzeugungen. Gesetzt den Fall, der Muslim darf feststehende Tatsachen nicht relativieren, und zwar gemäß den Maßstäben derjenigen Quellen, von deren Wahrheit er überzeugt ist, dann darf er auch die sich aus eben diesen textlichen Quellen ergebenden logischen Konsequenzen nicht relativieren. So ist beispielsweise die logisch notwendige Konsequenz der Bestätigung einer wahrheitsfähigen Aussage – und eben das und nichts anderes ist der Glaube bzw. die Religion – die Negierung der jeweils gegenteiligen Aussage. Einigen Theologen von heute scheint es diesbezüglich an Verständnis zu fehlen. Das mag daran liegen, dass sie in ihrer Expertise aus welchen Gründen auch immer an bestimmten Punkten die Basis der logischen Deduktion verlassen und induktiv, emotional, ja sogar intuitiv vorgehen. Somit könnte sich die Frage nach dem theologischen Satz von der objektiven Wahrheitsfrage zur subjektiven Geschmacksfrage wandeln. Wenn man auf dieser Ebene Dialog führen möchte, muss man das offen legen und darf nicht selektiv und je nach

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Gutdünken zwischen beiden Modi der Argumentation hin und her springen – das wäre unredlich und führt am Ende dazu, dass die Unwahrheit gesagt wird. Die Problematik soll an einem Beispiel deutlich gemacht werden. Es gelte die hypothetische Annahme: (1) Entweder zeugt Gott einen Sohn oder nicht. Dieser erste Satz ist – ausgehend von der Prämisse, dass Gott existent ist – notwendigerweise wahrheitsgemäß. Als nächste Prämisse im Sinne einer Glaubensaussage (Glaube wurde oben definiert als Bestätigung einer wahrheitsfähigen Aussage) gelte der Satz: (2) Gott zeugt nicht. Daraus ergibt sich die Schlussfolgerung: (3) Die Aussage ›Gott zeugt‹ ist nicht wahrheitsgemäß. Es ergibt sich also ganz selbstverständlich: Ein jedes Individuum, dass in dieser Fragestellung eine bestimmte Position einnimmt – also die zweite Prämisse des Syllogismus festlegt – muss zwangsweise aussagen, dass die gegenteilige Behauptung nicht wahrheitsgemäß ist. Wer dies verweigert, kann nicht verlangen, ernst genommen zu werden. Denn wie soll ernst genommen werden, wer sich und seinen Standpunkt offensichtlich selbst nicht ernst nimmt. Und in der Tat wurde im Laufe einer der zahlreichen nächtlichen Diskussionen – dies im Zusammenhang mit der Thematik der Unterschiedlichkeit des Islams und des Christentums – von einer beteiligten Person die folgende persönliche Meinung vertreten: »Für mich ist das alles richtig. Wirklich!« Unter der Begrifflichkeit des Richtigen jedoch versteht man gängigerweise das Wahrheitsgemäße. So müsste also, entsprechend der Übertragung dieser Vorgehensweise auf das vorherige Beispiel, Gott sowohl zeugen als auch nicht zeugen, wobei die eine Aussage der anderen nicht widersprechen dürfe. Aus dem Blickwinkel reiner Logik wäre das natürlich Unfug. Wer auch immer nun das Christsein dadurch definiert, dass Gott seinen leiblichen – gezeugten, nicht geschaffenen!8 – Sohn als Opfer für die Menschen zur Erde sandte, bzw. in seinem gezeugten Sohn Mensch wurde, um für die Sünden der Menschen zu sterben, sollte notwendigerweise auch den Mut haben zu sagen, dass das islamische Postulat, dass Gott weder zeugte, noch gezeugt wurde,9 nicht der Wahrheit entspricht, wie auch ein jeder Muslim dies bezüglich des Postulats der Gottessohnschaft Jesu tun muss. Hierbei spielt es nicht im Geringsten eine Rolle, was das genaue christliche Verständnis der Begrifflichkeit des Zeugens an dieser Stelle ist. Denn solange diese Aussage auch nur in irgendeiner Weise beinhaltet, dass Jesus nicht wie ein jeder andere Mensch er-

8 Gemäß dem Glaubensbekenntnis des 1. Konzils von Nicäa 325 AD. 9 Vgl. Sure 112.

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schaffen wurde, ist sie islamisch inakzeptabel, denn »Jesus ist vor Gott wie Adam – er erschuf ihn aus Erde, sodann sagte Er zu ihm: ›Sei!‹ – und er war.«10 Etwa in ähnlichem Sinne wurde auch der folgende Indikativ binnen unseres Praktikums kontrovers diskutiert: »Du darfst in religiösen Belangen die Worte ›falsch‹ und ›richtig‹ nicht benutzen!« Das kann auf zweierlei Arten verstanden werden: Entweder darf ein religiöser Mensch zwar zur Verinnerlichung eines Glaubens durchaus wahrheitsgemäße Aussagen tätigen, darf die Konsequenzen dessen jedoch in der Diskussion mit anderen nicht teilen, um sie emotional nicht zu kränken. Dies mag in gewissen Kreisen zwar akzeptabel und sinnvoll sein. Wer sich aber auf akademischer Ebene mit Theologie auseinandersetzt und nicht in der Lage ist, frei von Emotionen und ohne sich persönlich angegriffen oder gekränkt zu fühlen auf offene und sachliche Weise über theologische Standpunkte und Belange zu diskutieren, muss sich die Frage gefallen lassen, ob er am richtigen Ort ist. Oder aber die in anderen Bereichen geltenden logischen Grundprinzipien und Axiome haben in der Theologie keine Geltung. Wer diesen Standpunkt vertritt, spielt jenen, die das Existenzrecht der Theologie an Universitäten in Frage stellen, in die Hände, in deren Augen es bei der Theologie nicht nur nicht um eine exakte Wissenschaft, sondern um eine defizitäre, da von normativen Prämissen ausgehende Philosophie handelt.

Dialog mit Verantwortung – die Vierte All dies mag nun den Anschein vermitteln, der Dialog sei in seiner Gesamtheit abzulehnen – eine Position, die in einigen muslimischen Sparten durchaus vertreten wird. Das jedoch ist es nicht, was anhand dieses Essays gesagt sein möchte. Vielmehr gilt es, den Dialog zu betreiben und zu fördern und dies lässt sich auch innerislamisch begründen, wie zum Beispiel anhand des folgenden Koranverses: »O ihr Menschen, wir haben euch aus Mann und Frau erschaffen und euch zu verschiedenen Völkern und Stämmen gemacht, auf dass ihr einander kennenlernen möget. Wahrlich, der beste unter euch ist der Gottesfürchtigste.«11 So spricht dieser Vers nicht etwa nur Muslime, sondern die Menschen im Gesamten an und fordert sie zum gegenseitigen Kennenlernen auf, was das Hauptziel des Dialogs sein sollte und als Nebeneffekt stets positive Ergebnisse für ein gemeinsames Miteinander bringen wird. Ebenso bezeugt die Biographie des Propheten Muhammad, dass die frühislamische Gemeinde unter dem Pro10 Koran 3:59. 11 Koran 49:3.

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pheten mit und nicht etwa lediglich neben anderen Religionsgemeinschaften lebte, wofür man zahlreiche Beispiele anführen könnte. Da das heutige Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen sich jedoch in der Regel innerhalb (je nachdem mehr oder weniger) pluralistischer Staaten abspielt und auch dementsprechend die dem Staat zugrundeliegende Verfassung und die jeweiligen Gesetze dieses Miteinander maßgebend bestimmen, bietet sich als originär islamische Form des religiösen Miteinanders unter einem Staat der Gesellschaftsvertrag von Medina als Orientierungshilfe an. Es wäre besser, man würde sich lieber weniger den damals durchaus vorhandenen Konflikten zwischen den frühen Muslimen und den medinensischen Juden widmen, welche für die Konflitkgeschichte eine Ausnahme bildeten, und sich mehr mit diesem Vertrag befassen. Dieser sogenannte Vertrag von Medina nämlich, dessen Authentizität auch in der westlichen Islamwissenschaft bzw. Orientalistik weitgehend anerkannt ist, konstituiert im 37. Absatz12 die folgende Regel: »Die Juden tragen ihre Kosten und ebenso die Muslime die ihren. Sie helfen einander gegen jeden, der gegen die Leute dieser Urkunde kämpft. Zwischen ihnen herrscht echte Freundschaft und Treue ohne Verrat [Übers. d. Verf.].«13 Ebenso im 25. bis 33. Absatz desselben Dokuments: »Die Juden im Stamme Auf [im Folgenden wird der identische Satz bezüglich der Juden der Stämme ˇ usˇam, ’Aus, Ta laba, G ˇ afna, einem Unterstamm der Nagˇ gˇa¯r, Ha¯rit, Sa¯ ida, G ¯ ˙ ¯ Ta laba und Sˇutaiba angeführt, Anm. d. Verf.] bilden mit den Gläubigen [ge¯ ˙ meint sind die Muslime, Anm. d. Verf.] eine Gemeinde [umma, Anm. d. Verf.]. […] Treue geht vor Verrat.«14 Ein gemeinsames Miteinander und somit auch der Dialog ist also im islamischen Sinne – da im Sinne des Propheten als Vorbild – erstrebenswert und zu befürworten, jedoch ist dies wie erläutert an Bedingungen gebunden. Denn so erwähnt beispielsweise derselbe Vertrag ebenfalls: »Die Juden im Stamme Auf bilden mit den Gläubigen eine Gemeinde. Den Juden ihre Religion und den Muslimen die ihre! [Übers. d. Verf.]«15 So gehört es – ganz im Gegenteil zum Trend der heutigen Zeit – im islamischen Sinne nicht zu einem gemeinsamen Miteinander, die Unterschiede der verschiedenen Religionen zu ignorieren oder kleinzureden, sondern sie zu akzeptieren und die Freundschaft und Liebe auf einer von der Religion unabhängigen Ebene zu etablieren. So fordert auch der Koran schon Muhammad zum folgenden Postulat gegenüber den Nichtmuslimen auf: »Ich verehre nicht, was ˘

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12 Nach der Einteilung von J. Wellhausen: Muhammads Gemeindeordnung von Medina. In: J. Wellhausen: Skizzen und Vorarbeiten, Bd. 6, Berlin 1889, 65 – 83. 13 Ahmad Asˇ-Sˇalbı¯,: Mawsu¯ a at-ta¯rı¯h al-isla¯mı¯, Bd. I, Kairo 1963, 270 ff. ˙ ˘ 14 Ebenda. 15 Ebenda.

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ihr verehrt. Und ihr verehrt nicht, was ich verehre. Und ich werde nicht verehren, was ihr bisher verehrt habt; und ihr verehrt nicht, was ich verehre. Euch die eure, und mir die meine Religion!«16 Den anderen nicht lieben und respektieren zu können, solange dieser eine abweichende Position vertritt, ist keine wirkliche Toleranz oder Akzeptanz. Die Frage nach der logischen Konsequenz aus eigenen und anderen Standpunkten oder nach ihrer jeweiligen Relativierung sowie die dadurch ausgelöste Kontroverse um die Wahrheit darf nicht dazu führen, dass aus dem Argument der persönliche Anwurf wird. Und andersherum darf die Sorge um den Verlust von Sympathie nicht dazu führen, den eigenen Wahrheitssatz aufzugeben für nichtsagende religiöse Befindlichkeiten, die jeder theologischen Basis entbehren. Wenn bereits die Klarheit in der theologischen Aussage als fundamentalistisch oder extremistisch abgeurteilt wird, dann ist der Sinn von Dialog in Frage gestellt.

16 Koran 106:2 – 6.

Liste der Beitragenden (in alphabetischer Ordnung)

Gülsan Acıkgöz: Studiert Anglistik/ Amerikanistik, Wirtschaftswissenschaf˙ ten und Islamische Religionspädagogik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Prof. Dr. theol. Katja Boehme: Professorin für Katholische Theologie/Religionspädagogik an der PH Heidelberg Prof. Dr. Harry Harun Behr : Leiter des Interdisziplinären Zentrums für Islamische Religionslehre (IZIR) im Department Fachdidaktiken der Philosophischen Fakultät (und Fachbereich Theologie) der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Samuel Dog¯an: Studierte arabischen Sprachwissenschaften an der International University of Khartoum, seit 2011 Student der Islamischen Studien an der Goethe-Universität Frankfurt/Main. Nadia el Kadi: Lehrerin für Muslimischen Religionsunterricht im Deutschen Programm (MRD) an der DEO Kairo. Dr. Werner Haußmann: Akad. Direktor am Lehrstuhl für Religionspädagogik und Didaktik des Evangelischen Religionsunterrichts der Friedrich-AlexanderUniversität Erlangen-Nürnberg. Marie-Luise Krebs: Lehrerin für evangelische Religion und Deutsch, zurzeit an der DEO Kairo tätig. Christiane Ritter: Doktorandin der Evangelischen Theologie/Religionspädagogik an der PH Weingarten; Stipendiatin der Landesgraduiertenförderung in Baden-Württemberg; Altstipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung.

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Liste der Beitragenden

Prof. Dr. theol. habil. Clauß Peter Sajak: lehrt Religionspädagogik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Dina Salama: Mitarbeiterin am IZIR der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen- Nürnberg. Interdisziplinärer MA Nahoststudien. Studierte Germanistik, Orientalistik, Didaktik des Deutschen als Zweitsprache und Islamische Religionslehre. Carmen Trautner: Doktorandin der Religionswissenschaft an der FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg Dr. Frank van der Velden: Fachleiter für Christliche Religion und Kooperativen Religionsunterricht an der DEO Kairo. Mehmet Sevki Yavuz: Studiert Islamische Religionslehre, Sport, Deutsch, Englisch und Didaktik des Deutschen als Zweitsprache an der PH Ludwigsburg. Prof. Dr. Wolfram Weiße: Direktor der Akademie der Weltreligionen an der Universität Hamburg.