Gelehrte – Schulen – Netzwerke: Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert [1 ed.] 9783412515683, 9783412516666

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Gelehrte – Schulen – Netzwerke: Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert [1 ed.]
 9783412515683, 9783412516666

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JOACHIM BAHLCKE, ROLAND GEHRKE (HG.)

GELEHRTE – SCHULEN – NETZWERKE GESCHICHTSFORSCHER IN SCHLESIEN IM LANGEN 19. JAHRHUNDERT

NEUE FORSCHUNGEN ZUR SCHLESISCHEN GESCHICHTE

NEUE FORSCHUNGEN ZUR SCHLESISCHEN GESCHICHTE herausgegeben von JOACHIM BAHLCKE Band 28

GELEHRTE – SCHULEN – NETZWERKE Geschichtsforscher in Schlesien im langen 19. Jahrhundert

Herausgegeben von Joachim Bahlcke und Roland Gehrke

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN WEIMAR

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Festakt in der Aula Leopoldina anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau im Jahr 1911 (Foto: bpk-Bildagentur Berlin). Satz: Oliver Rösch, Würzburg Umschlaggestaltung: Michael Haderer | GRAFIKDESIGN, Wien

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51568-3

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Inhaltsverzeichnis Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Joachim Bahlcke und Roland Gehrke Karriereforschung im wissenschaftlichen Milieu Schlesiens im langen 19. Jahrhundert – das Beispiel der Geschichtsforscher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I. Akademische Qualifikations- und Karrieremuster in der Breslauer Geschichtswissenschaft Joachim Bahlcke Geschichtswissenschaftliche Habilitationen an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau zwischen 1811 und 1914: Akademische Qualifikation, personale Netzwerke und Einbindung in wissenschaftliche Schulen . . . . . . . . . . . . . 29 Roland Gehrke Die Berufung von Historikern an die Universität Breslau (1848–1914): Auswahlkriterien, Durchsetzung, Personalfluktuation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 II. Historiker- und Gelehrtenkarrieren an der Universität Breslau Norbert Kersken Die Begründung institutionalisierter landesgeschichtlicher Forschung im frühen 19. Jahrhundert: Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829) im Kontext der zeitgenössischen schlesischen Historiographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Ulrich Schmilewski Neue Forschungsmethode, neue Organisationsstrukturen: Zur wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit des Historikers Gustav Adolf Harald Stenzel (1792–1854) an der Universität Breslau . . . . . . . . . 159 Matthias Barelkowski Zwischen Breslauer Universität und Berliner Politik. Richard Roepell (1808–1893) als Historiker, liberaler Politiker und „Polenfreund“ . . . . . . . . . . . . . . . 173 Steffen Schlinker Aus Norddeutschland nach Schlesien. Die Rechtshistoriker Theodor Mommsen (1817–1903) und Otto Friedrich von Gierke (1841–1921) und ihre Netzwerke an der Universität Breslau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

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Inhaltsverzeichnis

Andreas Rüther Borussische Geschichtsforschung zu Schlesien: Colmar Grünhagen (1828–1911) – Werdegang, Schuleinflüsse und Wirkungskreise . . . . . . . . . . . . . . 217 III. Geschichtsforschung in Schlesien zwischen Universität und außeruniversitären Institutionen Urszula Bończuk-Dawidziuk Die Besetzung leitender Positionen in schlesischen Museen mit Universitätsprofessoren im 19. und frühen 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Franziska Zach Hof- und Dynastiegeschichtsschreibung in Schlesien: Rudolf Graf von Stillfried-Alcántara (1804–1882) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 IV. Religiöse Gruppen und ihr Anteil an der Geschichtsforschung in Schlesien Michael Hirschfeld Schlesische Priesterhistoriker vor dem Ersten Weltkrieg. Geschichtsschreibung zwischen institutionellen Anforderungen und individueller Schwerpunktsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307 Barbara Kalinowska-Wójcik Jüdische Geschichtsforscher im Schlesien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Jacob Caro (1835–1904), Markus Brann (1849–1920) und Ezechiel Zivier (1868–1925) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Winfried Irgang „Wissenschaft ist das Herz des Judentums“. Wege schlesischer Rabbiner des 19. Jahrhunderts zur Geschichtsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Anhang Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 386 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 387 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 396

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Vorwort der Herausgeber Die zunehmende Normierung akademischer Karriereverläufe in der Geschichtswissenschaft lässt sich während des langen 19. Jahrhunderts auch in Schlesien nachvollziehen. Da es viele der an die Universität Breslau berufenen Historiker nicht lange im Oderland hielt, geraten hier freilich auch die an außeruniversitären Bildungsinstitutionen tätigen Gelehrten in den Fokus, die Bibliothekare, Archivare und Museumsdirektoren, ferner katholische und jüdische Religionswissenschaftler. Im Mittelpunkt des vorliegenden Sammelbandes stehen die akademischen Werdegänge schlesischer Geschichtsforscher sowie deren Einbindung in wissenschaftliche Schulen und regionale wie überregionale Netzwerke. Der wachsende Einfluss staatlicher Stellen bis hinauf zum Preußischen Kultusministerium in Berlin wird dabei ebenso in den Blick genommen wie die Haltung der einzelnen Akteure zu den politischen Zäsuren und Umbrüchen zwischen Spätaufklärung und Erstem Weltkrieg. Welche spezifischen Voraussetzungen brachten die einzelnen Wissenschaftler mit, um für Positionen im akademischen Betrieb qualifiziert zu sein? Welche Rahmenbedingungen waren einer Karriere im Umfeld der Geschichtswissenschaft förderlich, welche erwiesen sich dagegen als Hindernis? Welche Bedeutung besaßen außeruniversitäre Beziehungen und Kontakte, und wie lassen sich allgemein die Verflechtungen zwischen Wissenschaft und Politik vor dem Ersten Weltkrieg erfassen und bewerten? Diese und andere Leitfragen standen im Mittelpunkt einer internationalen Fachtagung der Historischen Kommission für Schlesien, die Historiker, Archivare, Rechts-, Kunst- und Kirchenhistoriker aus Deutschland und Polen vom 31. August bis zum 2. September 2017 in Erfurt zusammenführte. Der Sammelband dokumentiert die einzelnen Tagungsbeiträge, ergänzt um eine Fallstudie von Winfried Irgang über die Zugänge schlesischer Rabbiner des 19. Jahrhunderts zur Geschichtsforschung. Ohne die ideelle und materielle Unterstützung mehrerer Institutionen wäre die Drucklegung dieses Buches allerdings nicht möglich gewesen. Wir danken besonders der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien sowie dem Vorstand der Historischen Kommission für Schlesien für die großzügige Förderung des Projekts. Gedankt sei ferner der Leitung der Begegnungsstätte Kleine Synagoge Erfurt, die die Räumlichkeiten für die oben genannte Tagung zur Verfügung stellte, und den Mitarbeitern am Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Stuttgart für mannigfache Unterstützung bei der Herstellung des Buchmanuskripts. Was die ansprechende Gestaltung des Bandes angeht, danken wir allen Bildgebern im In- und Ausland sowie Oliver Rösch M.A. (Würzburg), der die Drucklegung gewohnt zuverlässig betreut hat.

Stuttgart, im September 2019

Joachim Bahlcke – Roland Gehrke

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Akademisches Zeremoniell einer Disputation an der Universität Breslau im ausgehenden 19. Jahrhundert. Holzstich von Heinrich Binde. Bildnachweis: Moderne Kunst. Illustrirte Zeitschrift mit Kunstbeilagen 11 (1896/97) 351.

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Karriereforschung im wissenschaftlichen Milieu Schlesiens im ­langen 19. Jahrhundert – das Beispiel der Geschichtsforscher I. Das Promotionswesen an den deutschen Hochschulen des 19. Jahrhunderts bot vielerorts Anlass für Kritik. Ebenso wie die Doktordissertation, deren tatsächlicher Wert für die Wissenschaft zunehmend in Zweifel gezogen wurde, galt die am Ende zu absolvierende mündliche Disputation vielen als überholt. Das institutionelle Streitgespräch war zwar noch immer ein unumgänglicher Prüfungsakt und überdies Ausdruck akademischer Tradition, an der man ebenso festhielt wie an speziellen Privilegien und Autonomierechten der Korporation. Mitunter aber hatte es nur noch den Charakter eines gelehrten Schauspiels mit fest einstudierten Rollen, eines wohlinszenierten Spektakels, das bereits im Jahrhundert der Aufklärung spöttische Kommentare nach sich gezogen hatte.1 In seinem einflussreichen Werk Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn beklagte Friedrich Schleiermacher im Jahr 1808 die „scholastische Form der Disputationen“, die längst zu einem „leeren Spielgefecht geworden“ sei. Ja, unterdessen sei „der Credit fast aller auf der Universität ertheilten Würden tief unter den Punkt der Satire herabgesunken“.2 Auch in den folgenden Jahrzehnten riss diese Kritik nicht ab. Theodor Mommsens vernichtendes Urteil über die „deutschen Pseudodoctoren“, das er 1876 in einer der führenden historischen Fachzeitschriften Preußens publik machte, liest sich als Forderung einer umfassenden Promotionsreform an den deutschen Universitäten.3 Bei der Abbildung, die für die Einleitung zum vorliegenden Sammelband über die akademischen Karrieren und Netzwerke der im langen 19. Jahrhundert in Schlesien wirkenden Geschichtsforscher ausgewählt wurde, handelt es sich um eine der wenigen bildlichen Darstellungen eines solchen examen rigorosum an der Universität Breslau aus

1 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Füssel, Marian: Die Praxis der Disputation. Heuristische Zugänge und theoretische Deutungsangebote. In: Gindhart, Marion/Marti, Hanspeter/Seidel, Robert (Hg.): Frühneuzeitliche Disputationen. Polyvalente Produktionsapparate gelehrten Wissens. Köln/Weimar/Wien 2016, 27–48; Marti, Hanspeter: Disputation und Dissertation. Kontinuität und Wandel im 18. Jahrhundert. In: Gindhart, Marion/Kundert, Ursula (Hg.): Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Berlin/New York 2010 (Trends in Medieval Philology 20), 63–85. 2 Schleiermacher, F[riedrich]: Gelegentliche Gedanken über Universitäten in deutschem Sinn. Nebst einem Anhang über eine neu zu errichtende. Berlin 1808, 131. 3 Mommsen, Theodor: Die deutschen Pseudodoctoren. In: Preußische Jahrbücher 37 (1876) 17–22.

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dieser Zeit.4 Im Mittelpunkt der Doktorprüfung in der Aula Leopoldina ist der Kandidat zu sehen, der seine Thesen gegen die Argumente der in der ersten Reihe sitzenden Kritiker zu verteidigen sucht. Geleitet wird das Verfahren von dem links vom Kandidaten sitzenden, wie stets bei solchen Anlässen in einen Talar gekleideten Dekan der für das Prüfungsverfahren und die Vergabe der Doktorwürde zuständigen Fakultät. Anwesend sind zudem mehrere Gäste, unter ihnen auch Damen. Eine die Disputation karikierende, sozialkritische Darstellung universitärer Gepflogenheiten, wie wir sie in deutschen Satirezeitschriften der wilhelminischen Ära vielfach finden, lag gewiss nicht in der Absicht des Zeichners, im Gegenteil: Das erkennbare Bemühen um eine historisch genaue Rekonstruktion unterstreicht noch die Feierlichkeit und die Würde des Verfahrens, dem sich der Disputant zu stellen hatte. Der Holzstich stammt von Heinrich Binde (1862–1929),5 einem aus dem schlesischen Groß-Glogau gebürtigen Zeichner und Illustrator. Dessen Vater Friedrich Robert Binde, bis zu seinem Tod 1889 als Oberlehrer am Glogauer Königlichen Evangelischen Gymnasium tätig, hatte bereits seit seiner Studienzeit an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin über enge Kontakte in die preußische Hauptstadt verfügt.6 Die pulsierende Metropole wurde zur neuen Heimat seines Sohnes Heinrich, den es von Beginn an in einen künstlerischen Beruf zog. Von 1884 an besuchte er die Berliner Hochschule für bildende Künste, seit 1892 beschickte er mehrere akademische Ausstellungen mit Genrebildern und Portraits. Als prägend erwies sich die Ausbildung an der Akademie der Künste, deren Festakt zum zweihundertjährigen Bestehen 1896 Binde miterlebte und in einem Aquarell festhielt,7 das in der gleichen Zeitschrift abgebildet wurde wie sein Holzstich über die Breslauer Disputation. Binde war an der Akademie Meisterschüler von Anton von Werner,8 der seit 1871 in der neuen Reichshauptstadt eine bedeutende Stellung als Künstler und Kunstpoliti4 Abgebildet in: Moderne Kunst. Illustrirte Zeitschrift mit Kunstbeilagen 11 (1896/97) 351. Zur Aussagekraft des Bildmaterials universitärer Prüfungsakte vgl. Smolka, Wolfgang J.: Disputationsund Promotionsszenen. Gedanken zur akademischen Ikonografie als einer Disziplin der Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. In: Müller, Rainer A. (Hg.): Bilder – Daten – Promotionen. Studien zum Promotionswesen an den deutschen Universitäten der frühen Neuzeit. Bearb. v. Hans-Christoph Liess und Rüdiger vom Bruch. Stuttgart 2007 (Pallas Athene 24), 11–23. 5 Zu seiner Person vgl. Das geistige Deutschland am Ende des XIX. Jahrhunderts. Enzyklopädie des deutschen Geisteslebens in biographischen Skizzen, Bd. 1: Die Bildenden Künstler. Leipzig/Berlin 1898; Degener, Hermann A. L. (Hg.): Wer ist’s? Unsere Zeitgenossen. Berlin/Leipzig 101935, 125; Börsch-Supan, Helmut u. a.: Verein Berliner Künstler. Versuch einer Bestandsaufnahme von 1841 bis zur Gegenwart. Berlin 1991, 49f. 6 Muth, Friedrich: Geschichte des Königlichen Evangelischen Gymnasiums zu Glogau 1708–1908. Festschrift zur zweihundertjährigen Jubelfeier am 1. November 1908. Glogau 1908, 64; Robert Binde [Nekrolog]. In: Neue Jahrbücher für Philologie und Paedagogik 60 (1890) 493–496. 7 Binde, H[einrich]: Festact zur 200jährigen Jubelfeier der Kgl. Akademie der Künste zu Berlin (Aquarell-Facsimile). In: Moderne Kunst. Illustrirte Zeitschrift mit Kunstbeilagen 11 (1896/97) 242f. 8 Archiv der Preußischen Akademie der Künste Berlin, Sign. 0435, Bl. 227f., 232, 254, 260f.

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ker innehatte. Der aus Frankfurt an der Oder gebürtige Maler hatte zuerst als Illustrator der populären Werke Joseph Victor von Scheffels Aufmerksamkeit erregt, war aber bald zur Figurenmalerei übergegangen. Berühmt wurde er für seine Historienbilder, die wichtige zeremonielle Ereignisse des preußischen Hof- und Staatslebens der wilhelminischen Ära in großer Detailgenauigkeit darstellen.9 In seinen Stoffen wie in seinen Techniken orientierte sich Binde an Werners konservativem, um historische Treue bemühten Malstil, durch den die Realität sozusagen ohne jede Veränderung dargestellt werden sollte. Der modernen Kunst stand er, ähnlich wie sein Meister, Zeit seines Lebens kritisch gegenüber. Im Berliner Adressbuch war bei Heinrich Binde der Beruf „Porträtmaler“ angegeben, auf der standesamtlichen Heiratsurkunde von 1919 wird er als „Kunstmaler“ bezeichnet. Ungleich bekannter wurde Binde allerdings durch seine Illustrationen für auflagenstarke Familienzeitschriften und Unterhaltungsblätter wie Die Gartenlaube, deren breite Leserschaft für eine anschauliche Bebilderung vor allem der kultur- und alltagsgeschichtlichen Beiträge empfänglich war. Binde bediente damit eine stetig wachsende Nachfrage: Mit Blick auf den kontinuierlichen Rückgang der Textanteile in diesen Massenblättern während des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts spricht die Forschung von einer immer offenkundigeren Dominanz der Bilder und einer dadurch bewirkten gezielten Leserlenkung.10 Für die reichbebilderten Werke war der Holzstich, der geradezu nach einer detaillierten Wiedergabe von Einzelheiten verlangte, die am besten geeignete Reproduktionstechnik.11 Seit den frühen 1890er Jahren war Binde überdies für verschiedene Buchverlage tätig. Er illustrierte Kinder- und Jugendbücher, Romane und Novellen und arbeitete gelegentlich auch an größer angelegten Unternehmungen wie dem mehrbändigen Werk Die Sitten der Völker mit, das der Stettiner Völkerkundler und Anthropologe Georg Buschan seit 1914 veröffentlichte.12 Besonders intensiv gestaltete sich dabei die Zusammenarbeit mit Joseph Kürschner, einem gut vernetzten, kommerziell erfolgreichen Literaturfunktionär, der heute vor allem als Herausgeber periodischer Schriften und 19 Gaethgens, Thomas W.: Anton von Werner. Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches. Ein Historienbild im Wandel preußischer Politik. Frankfurt am Main 1990; Bartmann, Dominik: Anton von Werner. Zur Kunst und Kunstpolitik im Deutschen Kaiserreich. Berlin 1985; Schenk, Dietmar: Anton von Werner, Akademiedirektor. Dokumente zur Tätigkeit des ersten Direktors der Königlichen Akademischen Hochschule für die Bildenden Künste zu Berlin 1875–1915. Berlin 1993. 10 Stockinger, Claudia: An den Ursprüngen populärer Serialität. Das Familienblatt Die Gartenlaube. Göttingen 2018, 220–227; Mongi-Vollmer, Eva: Das Atelier des Malers. Die Diskurse eines Raums in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Berlin 2004, 12–14. 11 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Kreidt, Ulrich: Bilder in der Kinder- und Jugendliteratur. In: Brunken, Otto u.a. (Hg.): Handbuch zur Kinder- und Jugendliteratur. Von 1850 bis 1900. Stuttgart/Weimar 2008, Sp. 95–144, hier Sp. 107–111. 12 ����������������������������������������������������������������������������������������� Wendt, Eckhard: Stettiner Lebensbilder. Köln/Weimar/Wien 2004 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Pommern V/40), 106f.

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lexikalischer Nachschlagewerke bekannt ist. Große Erfahrung besaß der aus Gotha gebürtige Verleger, der sich nach längerer Tätigkeit in Stuttgart 1892 in Eisenach niederließ, zudem mit populären Buchreihen und Familienblättern.13 Dass Kürschner ein Unternehmer mit volksbildnerischen Ambitionen war, zeigt die 1897 begründete Roman- und Novellensammlung Kürschners Bücherschatz. Bibliothek fürs Haus, die „den Erziehern des deutschen Volkes, den deutschen Lehrern“, gewidmet war. Angesichts des wöchentlichen Erscheinens der Billigbuchreihe, für die Werke zeitgenössischer Autoren aller Literaturgattungen ausgewählt wurden, wuchs die Sammlung innerhalb weniger Jahre rasch an. In Anzeigen hieß es zu den Vorzügen der Reihe unter anderem: „gute Ausstattung, handliches Format, treffliche Illustrationen“.14 Die lebendigen, vor allem der deutschen und abendländischen Kulturgeschichte entnommenen Zeichnungen, die Binde für zahlreiche Ausgaben anfertigte, trafen ganz offensichtlich den Geschmack des Publikums. Die Ausstattung – und in diesem Zusammenhang vor allem die Bebilderung der Hefte – wurde jedenfalls in zahlreichen Zuschriften gewürdigt, die 1906 anlässlich der Ausgabe des 500. Bandes von Kürschners Bücherschatz als Faksimile-Druck erschienen.15 Der Verleger der Hefte, Kürschners Geschäftspartner Hermann Hillger, griff das bewährte Konzept später mit seiner eigenen Reihe Hillgers illustrierte Volksbücher auf, die allerdings nicht auf Unterhaltung, sondern auf Belehrung setzte und deshalb nur eine deutlich kleinere Zielgruppe erreichte.16 Joseph Kürschner und Heinrich Binde arbeiteten auch in anderen Fällen zusammen. So erschien der oben beschriebene Holzstich Bindes von der Disputation an der Universität Breslau 1897 in der Zeitschrift Moderne Kunst als Illustration zu einem Beitrag Kürschners zur Geschichte der Promotionspraktiken an den einzelnen Fakultäten deutscher Hochschulen. Im Gegensatz zu der würdevollen, den Ernst der Disputation dokumentierenden Bilddarstellung gab sich der Autor des Textes durchaus launig: „Den pompösen Abschluss der Universitätsprüfung in allen Facultäten bildet die öffentliche Vertheidigung einzelner wissenschaftlicher Sätze, der sogenannten Thesen gegen eine Anzahl von ‚Opponenten‘. Meist läuft diese ganze Geschichte auf ein

13 Osman, Gudrun: „Wer an sich verzagt, der ist verloren“. Joseph Kürschner – Zeugnisse aus dem Leben des literarischen Enzyklopädikers und Eisenacher Kulturförderers. Bucha bei Jena 2010; Graf, Andreas: „Wenn eine Arbeit fertig ist, wird sie eben zur Waare.“ Der Briefwechsel zwischen Joseph Kürschner und Balduin Möllhausen (1884–1898). In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 41 (1994) 215–254; Balzer, Rudolf Wilhelm: Aus den Anfängen schriftstellerischer Interessenverbände. Joseph Kürschner: Autor – Funktionär – Verleger. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 16 (1976) Sp. 1457–1648. 14 Zit. nach Balzer: Aus den Anfängen, Sp. 1624. 15 Hillger, Hermann: Mitarbeiter und Herausgeber widmen anläßlich der Ausgabe des 500. Bandes dieses Selbstschriften-Album den Lesern und Freunden von Kürschners Bücherschatz. Berlin/ Leipzig 1906. 16 Balzer: Aus den Anfängen, Sp. 1617–1633; Osman: Kürschner, 78–84.

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wohl vorbereitetes Schauspiel hinaus und nur ganz ausnahmsweise tritt ein Hörer aus der ‚corona‘ hervor, um seine Einwendungen zu machen. Das giebt mitunter zu den heitersten Episoden Veranlassung und in den Geschichtsbüchern des Deutschen Universitätswesens ist mancher culturgeschichtlich bemerkswerth gebliebene Dissertationsscherz verzeichnet.“17 So kurzweilig sich der Essay von Kürschner – der übrigens mit mehreren in Breslau wirkenden Historikern, unter ihnen die ebenfalls für breitere Leserkreise schreibenden Felix Dahn und Gustav Freytag, in Kontakte stand18 – auch liest: Hier wie in vielen anderen zeitgenössischen Texten zum Promotionswesen werden Dissertation und Disputation ausschließlich als Abschluss der Studienzeit begriffen, nicht aber als möglicher Anfang einer Gelehrtenlaufbahn. Dass für eine solche akademische Karriere frühzeitig Weichen gestellt und Beziehungen genutzt wurden, ist gleichwohl in zahlreichen Fällen nachzuweisen – auch in solchen an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau. Erfrischend offen sprach der Historiker Georg Kaufmann, der 1893 nach dem Tod Richard Roepells den renommierten Lehrstuhl für Mittlere und Neuere ­Geschichte übernommen hatte, die aktuellen Missstände an der eigenen Alma Mater 1911 in der Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau an. Die vermeintliche Selbständigkeit der Doktoranden ginge trotz aller Reformbemühungen „nicht selten an den Krücken des Professors“, der auf die wissenschaftlichen Ausarbeitungen seiner Schüler einen unbotmäßigen Einfluss nehme; auch spiele in den Verfahren die „Rivalität mit Kollegen, die als Schulhäupter glänzen“, eine nicht zu unterschätzende Rolle.19 Auch in anderen Abschnitten seiner Universitätsgeschichte sprach Kaufmann Formen der Einflussnahme (etwa auf Personalentscheidungen bei der Ergänzung des Lehrkörpers), Abhängigkeiten, Eigeninteressen der an der Fakultät agierenden Personen und Gruppen sowie Faktoren wie Konkurrenz und Cliquenbildung, die Themensetzung für Bewerbungsvorträge und die Praxis gutachterlicher Tätigkeit freimütig an.20

17 K[ürschner], J[oseph]: Wie man Doctor wird. In: Moderne Kunst. Illustrirte Zeitschrift mit Kunstbeilagen 11 (1896/97) 351–352, hier 352. Das Kürzel „J. K.“ verwendete Kürschner nicht nur bei eigenen Veröffentlichungen, sondern auch auf dem Einband der von ihm gegründeten Reihe Kürschners Bücherschatz. 18 Mitscherling, Maria: Joseph Kürschner. Verzeichnis des Nachlasses in der Forschungsbibliothek Gotha und Veröffentlichung ausgewählter Stücke. Gotha 1990 (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha 28), 21, 25, 27, 82–84, 91. 19 Kaufmann, Georg: Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Bd. 1: Geschichte der Universität 1811–1911. Breslau 1911, 249. Zur Entwicklung des Historischen Seminars vgl. Bahlcke, Joachim: Das Historische Seminar der Universität Breslau 1811 bis 1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte [2012/13]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2016 (Forschungen zu Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3), 217–238. 20 Kaufmann: Festschrift, Bd. 1, 132–158.

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II. Entsprechend steht das Promotionsverfahren selbst, was das begleitende Zeremoniell wie auch die fachlich-inhaltlichen Aspekte angeht, stellvertretend für den häufig mit den Schlüsselbegriffen der Modernisierung und Professionalisierung umschriebenen tiefgreifenden Wandlungsprozess der deutschen Universitäten zwischen Spätaufklärung und Erstem Weltkrieg. Aus einem gegen Gebühr und mitunter sogar in Abwesenheit des Promovenden, also ohne wirkliche Eigenleistung veranstalteten „performativen Einsetzungsritual“21 wurde im Laufe des 19. Jahrhunderts eine an zunehmend strengen wissenschaftlichen Kriterien gemessene Publikationsleistung einschließlich deren mündlicher Verteidigung. Im Kontext einer akademischen Laufbahn war die am Ende des Studiums stehende Promotion zugleich aber auch der erste Akt, bei dem die Verbindung zu einem anderen (älteren) Gelehrten – zunächst und vor allem zu dem Gelehrten, der die Arbeit angeregt hatte – eine besondere Rolle spielte. Ablesbar ist dies in vielen Fällen an Widmungen und Zueignungen in Dissertationen, die über den vordergründigen Dank für die erfolgreiche Betreuung hinaus nicht selten erste Indizien für spezielle Nahverhältnisse zwischen akademischen Lehrern und ihren Schülern liefern – Nahverhältnisse, die in späteren Jahren dann häufig den Charakter von akademischen Forschungsverbünden oder disziplinären Schulbildungen annahmen. Eben diese personalen Aspekte bilden den Fokus, durch den die schlesische Geschichtsforschung des langen 19. Jahrhunderts in dem hier vorgelegten Sammelband betrachtet werden soll. Im Sinn einer akademischen Karriereforschung22 wird also nicht primär nach den jeweiligen Forschungsinhalten gefragt, sondern vorrangig nach den spezifischen Voraussetzungen, die angehende Wissenschaftler mitbringen mussten, um für bestimmte Positionen im akademischen Betrieb qualifiziert zu sein. Neben der Promotion ist hier – als Bedingung für das Erreichen einer Professur beziehungsweise für die Besetzung eines Lehrstuhls – die sich im Lauf des 19. Jahrhunderts zunehmend durchsetzende Habilitation zu nennen. Erste Habilitationsordnungen etablierten sich an den Universitäten Berlin (1816/17) und Freiburg im Breisgau (1818), also bereits kurz nach 21 Füssel, Marian: Ritus Promotionis. Zeremoniell und Ritual akademischer Graduierungen in der frühen Neuzeit. In: Schwinges, Rainer Christoph (Hg.): Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert. Basel 2007 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 7), 411–450, hier 415. Vgl. ferner Rasche, Ulrich: Geschichte der Promotion in absentia. Eine Studie zum Modernisierungsprozess der deutschen Universitäten im 18. und 19. Jahrhundert. Ebd., 275–351; Müller, Rainer A. (Hg.): Promotionen und Promotionswesen an deutschen Hochschulen der Frühmoderne. Köln 2001 (Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen 10); ders. (Hg.): Bilder – Daten – Promotionen. 22 ������������������������������������������������������������������������������������������� Zur deutschen Geschichtswissenschaft vgl. in diesem Kontext die grundlegende Studie von Weber, Wolfgang: Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970. Frankfurt a. M. u. a. 21987 [11984] (Europäische Hochschulschriften III/216).

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dem Ende der Napoleonischen Kriege, wobei die eigentliche Habilitationsprüfung und die auf ihrer Grundlage erteilte Lehrbefugnis (venia legendi) sich zunächst noch kaum auf klar abgegrenzte Fächer bezogen. Analog zu der sich erst allmählich vollziehenden Verwissenschaftlichung des Promotionswesens dauerte es noch bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte hinein, bis in Deutschland ein halbwegs angeglichener Kanon dessen existierte, was in fachlicher Hinsicht von einem Habilitanden erwartet wurde.23 Mit der zunehmenden Normierung der einzelnen Qualifikationsschritte auf dem Weg zur Professur eng verbunden war eine Ausdifferenzierung des universitären Lehrkörpers und damit der akademischen Hierarchie. Die Durchsetzung der ­Habilitation schuf mit den Privatdozenten eine unterhalb der Professorenschaft angesiedelte, finanziell in keiner Weise abgesicherte Kaste von fachlich oft hochqualifizierten Wissenschaftlern, deren bloße Zahl wie auch deren Bedeutung für die Sicherstellung der universitären Lehre im 19. Jahrhundert beständig zunahm.24 Zugleich sorgte die disziplinäre Ausdifferenzierung der einzelnen Fächer – auch und gerade in der Geschichtswissenschaft – ab der zweiten Jahrhunderthälfte für eine vermehrte Einrichtung von außerordentlichen Professuren („Extraordinariaten“). Deren Inhaber genossen im Gegensatz zu den Privatdozenten in der Regel eine finanzielle Versorgung, blieben rangmäßig aber unter den ordentlichen Professoren beziehungsweise Lehrstuhlinhabern („Ordinarien“) angesiedelt – weshalb ein Extraordinariat im Rahmen einer akademischen Karriere zumeist auch nur als Zwischenstation angesehen wurde.25 Resultat 23 Hammerstein, Notker: Vom Interesse des Staates. Graduierungen und Berechtigungswesen im 19. Jahrhundert. In: Schwinges (Hg.): Examen, Titel, Promotionen, 169–194, hier 176, 180, 188–192; Schubert, Ernst: Die Geschichte der Habilitation. In: Kössler, Henning (Hg.): 250 Jahre Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Festschrift. Erlangen 1993, 115–151. Einen kursorischen Überblick zur Entwicklung der Habilitation im Bereich der Geschichtswissenschaft bietet Weber: Priester der Klio, 130–145. Eine sowohl lokal als auch disziplinär spezifizierte Fallstudie liegt vor mit Paletschek, Sylvia: Zur Geschichte der Habilitation an der Universität Tübingen im 19. und 20. Jahrhundert – Das Beispiel der Wirtschaftswissenschaftlichen (ehemals Staatswirtschaftlichen/ Staatswissenschaftlichen) Fakultät. In: Marcon, Helmut (Hg.): 200 Jahre Wirtschafts- und Staatswissenschaften an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Leben und Werk der Professoren, Bd. 2. Stuttgart 2004, 1364–1399. 24 Eine statistische Aufschlüsselung für die Universität Berlin bietet McClelland, Charles E.: State, Society, and University in Germany 1700–1914. London u. a. 1980, 261. McClelland zufolge wurde dort 1815 erst ein gutes Viertel der angebotenen Lehrveranstaltungen von Privatdozenten abgehalten, 1909 indes bereits über die Hälfte. Ein gleichlautender Befund findet sich bei Prahl, Hans-Werner: Sozialgeschichte des Hochschulwesens. München 1978, 209. Zum Status des Privatdozenten allgemein vgl. Busch, Alexander: Die Geschichte des Privatdozenten. Eine soziologische Studie zur großbetrieblichen Entwicklung der deutschen Universitäten. Stuttgart 1959 (Göttinger Abhandlungen zur Soziologie unter Einschluß ihrer Grenzgebiete 5); Schmeiser, Martin: Akademischer Hasard. Das Berufsschicksal des Professors und das Schicksal der deutschen Universität 1870–1920. Eine verstehend soziologische Untersuchung. Stuttgart 1994, 52. 25 Baumgarten, Marita: Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler. Göttingen 1997 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 121), 16.

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dieser klaren Hierarchisierung war das Leitbild (und erst viel später, in den 1960er Jahren, auch das Feindbild) der klassischen deutschen „Ordinarienuniversität“.26 Zu ergänzen ist, dass gerade die Philosophischen Fakultäten noch eine zusätzliche, spezifische Klientel in Gestalt der von ihnen ausgebildeten Gymnasiallehrer gewannen, die – nicht zufällig auch mit dem Titel eines „Gymnasialprofessors“ angesprochen – über ihre schulische Lehrtätigkeit hinaus der wissenschaftlichen Forschung in vielen Fällen verbunden blieben.27 Neben den einzelnen Qualifikationsschritten und Graduierungen ist auch der sich im Lauf des 19. Jahrhunderts vollziehende Wandel der universitären Berufungsverfahren in den Fokus der Bildungs- und Wissenschaftshistoriker gerückt.28 In diesem Kontext ist hier also danach zu fragen, welche Konkurrenzsituation die Bewerber auf eine Breslauer Professur gegebenenfalls zu bestehen hatten und auf welche Hindernisse und Widerstände sie trafen, welche Rolle wissenschaftliche, aber möglicherweise auch außerwissenschaftliche Aspekte und Beziehungen im Berufungsverfahren spielten und nicht zuletzt, wie die Stellenbesetzung in den universitären Gremien und auch in einer breiteren Öffentlichkeit aufgenommen wurde. Zugleich kommt hier die staatliche Seite ins Spiel: Während Promotionen und Habilitationen weitgehend universitätsinterne Angelegenheiten blieben, wird nicht umsonst auch von „Berufungspolitik“ – als fester Bestandteil staatlicher Bildungs- und Hochschulpolitik29 – gesprochen. Dies gilt insbesondere für die mit dem Namen des 26 McClelland: State, Society, and University, 267. 27 Baumgarten: Professoren und Universitäten, 13f.; Lundgreen, Peter: Zur Konstituierung des „Bildungsbürgertums“: Berufs- und Bildungsauslese der Akademiker in Preußen. In: Conze, Werner/Kocka, Jürgen (Hg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Tl. 1: Bildungssystem und Professionalisierung in internationalen Vergleichen. Stuttgart 1985 (Industrielle Welt 38), 79– 108, hier 83; Stichweh, Rudolf: Differenzierung von Schule und Universität im 18. und 19. Jahrhundert. In: Schubring, Gerd (Hg.): ,Einsamkeit und Freiheit‘ neu besichtigt. Universitätsreformen und Disziplinenbildung in Preußen als Modell für Wissenschaftspolitik im Europa des 19. Jahrhunderts. Stuttgart 1991 (Boethius. Texte und Abhandlungen zur Geschichte der Mathematik und der Naturwissenschaften 24), 38–49. 28 ������������������������������������������������������������������������������������������ Baumgarten: Professoren und Universitäten, 160–172; Weber: Priester der Klio, 160–182; McClelland: State, Society, and University, 182–184; Coelln, Christian von: Die Entwicklung von Berufungsrecht und Berufungsverfahren. In: Hesse, Christian/Schwinges, Rainer Christoph (Hg.): Professorinnen und Professoren gewinnen. Zur Geschichte des Berufungswesens an den Universitäten Mitteleuropas. Basel 2012 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitätsund Wissenschaftsgeschichte 12), 105–125; Brocke, Bernhard vom: Berufungspolitik und Berufungspraxis im Deutschen Kaiserreich. Ebd., 55–103. 29 Pfetsch, Frank R.: Zur Entwicklung der Wissenschaftspolitik in Deutschland 1750–1914. Berlin 1974; Bruch, Rüdiger vom: Wissenschaft, Politik und öffentliche Meinung. Gelehrtenpolitik im Wilhelminischen Deutschland (1890–1914). Husum 1980 (Historische Studien 435); ders.: Gelehrtenpolitik und politische Kultur im späten Kaiserreich. In: Schmidt, Gustav/Rüsen, Jörn (Hg.): Gelehrtenpolitik und politische Kultur in Deutschland 1830–1930. Bochum 1986, 77– 106; ders.: Wissenschaftspolitik, Wissenschaftssystem und Nationalstaat im Deutschen Kaiserreich. In: Kaufhold, Karl Heinrich/Sösemann, Bernd (Hg.): Wirtschaft, Wissenschaft und Bil-

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preußischen Kultusbeamten Friedrich Althoff verbundene Epoche zwischen 1882 und 1907 („Ära Althoff “), die zu Recht als eine Phase der besonders rigiden Einmischung des Kultusministeriums in laufende Berufungsverfahren an den preußischen Universitäten gilt – an den betroffenen Fakultäten vorbei oder notfalls auch gezielt gegen sie.30 Die Zahl der Historiker- und Gelehrtenbiographien, anhand derer sich die vorstehend genannten Karriereschritte und -muster nachvollziehen lassen, ist kaum mehr überschaubar. Jenseits individueller Einzelfallbetrachtungen gilt es freilich ebenso, distinktive Merkmale des „Gelehrtenstandes“ als spezifische soziale Gruppe im Blick zu behalten. Der tiefgreifende Wandel des Berufs- und Selbstbildes der deutschen Professorenschaft zwischen Spätaufklärung und Jahrhundertwende, ihr Aufstieg zu einer gesellschaftlichen Elite – der „Vorhut einer Aristokratie des Geistes“31 – und zugleich ihre zunehmend enger werdende Einbindung in den Staatsdienst ist in der Forschung mit den Begriffen Sozialprestige, Status und Habitus32 verschiedentlich beschrieben und, im Rahmen kollektivbiographischer Ansätze, hinsichtlich ganz verschiedener Fragestellungen analysiert worden.33 dung in Preußen. Zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte Preußens vom 18. bis zum 20.  Jahrhundert. Stuttgart 1998 (Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Beihefte 148), 73–89; Brocke, Bernhard vom: Preußische Hochschulpolitik im 19. und 20. Jahrhundert. Kaiserreich und Weimarer Republik. In: Buchholz, Werner (Hg.): Die Universität Greifswald und die deutsche Hochschullandschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 2004 (Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 10), 27–56. 30 Brocke, Bernhard vom: Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907. Das „System Althoff “. In: Baumgart, Peter (Hg.): Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs. Stuttgart 1980 (Preußen in der Geschichte 1), 9–118; ders.: Preußische Hochschulpolitik, 32–41; McClelland: State, Society, and University, 269, 282f.; Baumgarten: Professoren und Universitäten, 187–193; Vierhaus, Rudolf: Zur Entwicklung der Wissenschaften im deutschen Kaiserreich (1870–1914). In: ders.: Vergangenheit als Geschichte. Studien zum 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Hans Erich Bödeker, Benigna von Krusenstjern und Michael Matthiesen. Göttingen 2003 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 183), 409–422, hier 414–416; Laitko, Hubert: Friedrich Althoff und seine Professoren. Oder die Dreieinigkeit von Information, Intuition und Supervision. In: Banse, Gerhard (Hg.): Von Aufklärung bis Zweifel. Beiträge zu Philosophie, Geschichte und Philosophiegeschichte. Festschrift für Siegfried Wollgast. Berlin ���������������������������������������������������������� 2008 (Abhandlungen der Leibniz-Sozietät der Wissenschaften 25), 189–227. 31 McClelland: State, Society, and University, 265 („the vanguard of an aristocracy of the mind“). 32 �������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. exemplarisch Füssel, Marian: Akademische Lebenswelt und gelehrter Habitus. Zur Alltagsgeschichte des deutschen Professors im 17. und 18. Jahrhundert. In: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 10 (2007) 35–51; Demm, Eberhard/Suchoples, Jarosław (Hg.): Akademische Lebenswelten. Habitus und Sozialprofil von Gelehrten im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. u. a. 2011. 33 McClelland, Charles: Die deutschen Hochschullehrer als Elite 1815–1850. In: Schwabe, Klaus (Hg.): Deutsche Hochschullehrer als Elite 1815–1945. Boppard am Rhein 1988 (Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit 17), 27–53; Jansen, Christian: Die soziale Lage der Hochschullehrerschaft im Kaiserreich und in der Weimarer Republik im Vergleich. Zum Beispiel Heidelberg. In: Buchholz (Hg.): Die Universität Greifswald, 169–189; Ries, Klaus: Professoren als bürgerli-

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Wenn die fachlichen Inhalte akademischer Geschichtsforschung im Folgenden also ausdrücklich nicht Gegenstand der einzelnen Fallstudien sein sollen, so bedeutet dies keinesfalls, dass die Karrieren der in Schlesien wirkenden Historiker losgelöst von deren Einbindung in interne oder auch universitäts- und provinzübergreifende Netzwerke betrachtet werden könnten. Den Rahmen hierfür bildet zum einen die sich in Breslau ebenso wie an anderen Universitäten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschleunigt vollziehende disziplinäre Ausdifferenzierung der Geschichtswissenschaft, die sich an einer quantitativen Zunahme der Lehrstühle und Extraordinariate ablesen lässt.34 Nicht zuletzt die anfänglich vor allem in den laienhaft oder doch bestenfalls semiprofessionell agierenden Geschichtsvereinen verankerte Disziplin der Landesgeschichte setzte sich auf der universitären Ebene erst mit einiger Verspätung durch.35 che Werteproduzenten. In: Hahn, Hans-Werner (Hg.): Bürgerliche Werte um 1800. Entwurf, Vermittlung, Rezeption. Köln/Weimar/Wien 2005, 51–68; Wagner, Frank: Professoren in Stadt und Staat. Das Beispiel der Berliner Universitätsordinarien. In: Schwinges, Rainer Christoph (Hg.): Universität im öffentlichen Raum. Basel 2008 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 10), 365–385; Lundgreen, Peter: Professoren: Wissenschaftler, Hochschullehrer, Bildungsbürger. In: Thom, Ilka (Hg.): Mittendrin. Eine Universität macht Geschichte. Eine Ausstellung anlässlich des 200-jährigen Jubiläums der HumboldtUniversität zu Berlin, 16. April bis 15. August 2010. Berlin 2010, 248–255; Birn, Marco/Moritz, Werner: Karriere in der Heimat. Heidelberger Professoren und ihre regionale Bindung im 19. Jahrhundert. In: Krauß, Martin (Hg.): Stadt, Land, Heimat. Beiträge zur Geschichte der Metropolregion Rhein-Neckar im Industriezeitalter. Ubstadt-Weiher u. a. 2011, 215–238; Meusburger, Peter/Schuch, Thomas: Karrieren, soziale Herkunft und räumliche Mobilität der Heidelberger Professoren 1803–1932. In: Demm/Suchoples (Hg.): Akademische Lebenswelten, 217–249; Schopferer, Julia: Sozialgeschichte der halleschen Professoren 1694–1806. Lebenswege, Netzwerke und Raum als Strukturbedingungen von universitärer Wissenschaft und frühmoderner Gelehrtenexistenz. Halle a. d. Saale 2016 (Studien zur Geschichte und Kultur Mitteldeutschlands); Hirschfeld, Gerhard: Deutsche Professoren im Ersten Weltkrieg. In: Runde, Ingo (Hg.): Die Universität Heidelberg und ihre Professoren während des Ersten Weltkriegs. Heidelberg 2017 (Heidelberger Schriften zur Universitätsgeschichte 6), 59–76. Speziell für die Universität Breslau vgl. Czapliński, Marek: Wolność, obiektywizm, niezalesżność poglądów profesorów Uniwersytetu Wrocławskiego w XIX wieku. Studium wybranych przykładów. In: Stępiński, Włodzimierz (Hg.): Tempus nostrum est. Księga pamiątkowa ofiorowania profesorowi Edwardowi Włodaczykowi w 60. rocznicę urodzin. Szczecin 2006, 427–442; Harasimowicz, Jan: Profesorowie – Professors. In: ders. (Hg.): Księga Pamiątkowa Jubileuszu 200-lecia utworzenia Państwowego we Wrocławiu – Commemorative Book for the 200th Anniversary of the Establishment of the State University in Wrocław, Bd. 2: Universitas litterarum Wratislaviensis 1811– 1945. Wrocław 2013, 590–613. 34 �������������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke: Das Historische Seminar der Universität Breslau, 217–238; Herzig, Arno: Geschichtsforschung in der Metropole Breslau. Das Historische Seminar der Universität Breslau im 19. Jahrhundert. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/ Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 73–83. 35 ������������������������������������������������������������������������������������������ Mit dem konkreten Blick auf Bayern (Universität München), Preußen (Berlin), Sachsen (Leipzig), das Rheinland (Bonn) und Tirol (Innsbruck) vgl. Friedrich, Cathrin: Regionale Varianten

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Eng mit akademischen Lehrer-Schüler-Verhältnissen verknüpft sind zum anderen die diversen methodischen Schulen der Geschichtswissenschaft, die aufgrund eines überregional ausgestalteten Berufungswesens rasch an verschieden Universitäten Preußens und ganz Deutschlands präsent waren, entsprechend interagierten und – mit den jeweiligen „Kontrahenten“ – auch gehörig stritten.36 Zu fragen ist also, welche personellen und institutionellen Kontakte die betrachteten Historiker im Lauf ihrer Karriere pflegten, zu welchen Anlässen man sich hochschulübergreifend überhaupt begegnete und auf welche Weise Konflikte zwischen Wissenschaftlern ausgetragen wurden – einerlei, ob es sich dabei um inhaltlich begründete akademische Dispute oder (nicht zu selten) um persönliche Auseinandersetzungen handelte. Gerade im Fall der preußischen Provinz Schlesien gewönne man freilich ein unvollständiges Bild, richtete man den Blick ausschließlich auf die dort erst 1811 begründete Landesuniversität in Breslau. Dem Charakter dieser Alma Mater als einer noch jungen und vergleichsweise unbeliebten „Durchgangsuniversität“ – an der es die dorthin berufenen Wissenschaftler oft nur für wenige Jahre aushielten, bevor sie andernorts dem Höhepunkt ihrer Karriere zustrebten37 – ist es geschuldet, dass im Oderland die außeruniversitären Institutionen der Geschichtsforschung fast zwangsläufig eine wichtigere Rolle spielten als anderswo.38 Gefragt wird daher nach den Verflechtungen zwischen universitärer Forschung und Lehre einerseits sowie den Archiven und Bibliotheken,39

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der Institutionalisierung von Landesgeschichte im Vergleich. In: Middell, Matthias/Lingelbach, Gabriele/Hadler, Frank (Hg.): Historische Institute im internationalen Vergleich. Leipzig 2001 (Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert 3), 221–246. Bruch, Rüdiger vom: Historiker und Nationalökonomen im Wilhelminischen Deutschland. In: Schwabe (Hg.): Deutsche Hochschullehrer, 105–150, hier 123–132; ders.: Wissenschaftspolitik, 82–84. Detailliert hierzu vgl. Weber: Priester der Klio, 199–293, der hier, unter dem Leitbegriff der „Verflechtung“, im Wesentlichen drei große, auf dem Lehrer-Schüler-Verhältnis basierende historiographische Schulen – die Leopold von Rankes, die Johann Gustav Droysens und schließlich diejenige Theodor Mommsens – unterscheidet und in ihrer personellen Zusammensetzung für jeweils mehrere Generationen nachzeichnet. Bahlcke: Das Historische Seminar der Universität Breslau, 217. Mit Blick auf diese außeruniversitären Institutionen ist zu verweisen auf den Band von Bahlcke/ Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, an den die hier vorliegende Aufsatzsammlung thematisch anknüpft. Mrozowicz, Wojciech: Die Bibliotheken Schlesiens als Orte der Geschichtspflege vor dem Ersten Weltkrieg – unter besonderer Berücksichtigung der Universitäts- und der Stadtbibliothek in Breslau. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 365–379; Żerelik, Rościsław: Das „Königliche Akademische Provinzialarchiv“ zu Breslau. Geschichtspflege im Spiegel der Organisation des schlesischen Archivwesens im 19. Jahrhundert. Ebd., 381–392. Einen vergleichbaren Blick auf den deutschen Südwesten richtet Wolgast, Eike: Heidelberger Professoren als Karlsruher Archivare – Karlsruher Archivare als Heidelberger Professoren. In: Kretzschmar, Robert (Hg.): Staatliche Archive als landeskundliche Kompetenzzentren in Geschichte und Gegenwart. Zum 65. Geburtstag von Volker Rödel. Stuttgart 2010 (Werkhefte der Staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg A 22), 163–180.

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den Museen40 und den historischen Vereinen41 andererseits. Gefragt wird aber ebenso nach dem Anteil besonderer religiöser Gruppen an der Geschichtsschreibung in Schlesien, die qua Hauptberuf zwangsläufig außerhalb der akademischen Fachgemeinde standen – konkret nach der historiographischen Produktion katholischer und auch jüdischer Theologen. Schließlich darf der Blick auch nicht ausschließlich auf den sprichwörtlichen Elfenbeinturm – die akademische Ebene – gerichtet bleiben, sondern muss ebenso die Verflechtungen zwischen Wissenschaft und Politik berücksichtigen. So ist gerade das 19. Jahrhundert wiederholt als die hohe Zeit des (partei-)politisch engagierten oder gar parlamentarisch aktiven „politischen Professors“ beschrieben worden – ein Begriff, der in der historischen Forschung entsprechend breiten Niederschlag gefunden hat.42 Hier ist die Haltung der betrachteten Gelehrten zu den großen politischen Zäsuren und Umbrüchen des Untersuchungszeitraums in den Fokus zu rücken – etwa zur Revolution von 1848/49 oder zum deutschen Einigungsprozess der Jahre 1866 bis 1871, was im Zweifel wiederum Rückschlüsse auf eine eher großdeutsche oder eher kleindeutsch-borussische Orientierung zulässt. Auch ein professorales Engagement in den größeren nationalen Agitationsvereinen der Wilhelminischen Ära ist gegebenenfalls zu berücksichtigen.43 40 ����������������������������������������������������������������������������������������� Bończuk-Dawidziuk, Urszula: Geschichtspflege im Breslauer Universitätsmuseum und in anderen Museen Schlesiens vor dem Ersten Weltkrieg. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 297–322. 41 �������������������������������������������������������������������������������������������� Um hier nur den wichtigsten und langlebigsten schlesischen Geschichtsverein zu berücksichtigen, vgl. Kersken, Norbert: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung: Der „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“. Ebd., 87–120. 42 �������������������������������������������������������������������������������������������� Brocke, Bernhard vom: Professoren als Parlamentarier. In: Schwabe (Hg.): Deutsche Hochschullehrer, 55–92; Muhlack, Ulrich: Der „politische Professor“ im Deutschland des 19. Jahrhunderts. In: Burkholz, Roland/Gärtner, Christel/Zehentreiter, Ferdinand (Hg.): Materialität des Geistes. Zur Sache Kultur – im Diskurs mit Ulrich Overmann. Weilerswist 2001, 185–204; Rebenich, Stefan: Theodor Mommsen, die deutschen Professoren und die Revolution von 1848. In: Demandt, Alexander (Hg.): Theodor Mommsen. Wissenschaft und Politik im 19. Jahrhundert. Berlin/Boston 2005, 13–35; Vierhaus, Rudolf: Der politische Gelehrte im 19. Jahrhundert. In: ders.: Vergangenheit als Geschichte, 302–318; Speitkamp, Winfried: Zwischen Aufklärung, Reform und Restauration. Gießener Professoren als Politiker im frühen 19. Jahrhundert. In: Carl, Horst (Hg.): Universalität in der Provinz. Die vormoderne Landesuniversität Gießen zwischen korporativer Autonomie, staatlicher Abhängigkeit und gelehrten Lebenswelten. Darmstadt 2009 (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission N. F. 30), 123–139; Ries, Klaus: Burschenturner, politische Professoren und die Entstehung einer neuen Öffentlichkeit. In: Brunck, Helena (Hg.): „... ein großes Ganzes ..., wenn auch verschieden in seinen Teilen“. Beiträge zur Geschichte der Burschenschaft. Heidelberg 2012 (Darstellungen und Quellen zur Geschichte der deutschen Einheitsbewegung im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert 19), 1–123; Kraus, HansChristof: Zur parlamentarischen Rhetorik politischer Professoren. Friedrich Christoph Dahlmann und Friedrich Julius Stahl. In: Feuchter, Jörg (Hg.): Parlamentarische Kulturen vom Mittelalter bis in die Moderne. Reden, Räume, Bilder. Düsseldorf 2013 (Beiträge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 164; Parlamente in Europa 2), 197–212. 43 Bruch: Gelehrtenpolitik, 90–94; ders.: Historiker und Nationalökonomen, 132–135.

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Zugleich gilt, dass eine gründliche Beschäftigung mit den historiographischen Traditionen eines 1945 polnisch gewordenen Landes ohne die Einbeziehung der neueren polnischen Forschung wenig sinnvoll erscheint. Dabei ist zunächst freilich zu konstatieren, dass die polnische Wissenschaftsgeschichtsschreibung sich den hier einschlägigen Phänomenen – akademische Hierarchien, Karriereverläufe, Schul- und Netzwerkbildungen während des langen 19. Jahrhunderts – jenseits biographischer Einzelfallbetrachtungen erst in Umrissen zugewandt hat. Auch eine konzentrierte Gesamtbetrachtung der Breslauer Geschichtswissenschaft, wie sie etwa für die dortige Germanistik mittlerweile vorliegt,44 fehlt von polnischer Seite bislang. Anschlussfähige Ansätze existieren allerdings zur disziplinären Ausdifferenzierung der historischen Wissenschaften (Geschichte, Archäologie, Kunstgeschichte) während der Frühzeit der Universität Breslau, insbesondere im Zusammenhang mit der Person Johann Gustav Gottlieb Büschings,45 sowie zum spezifischen Beitrag jüdischer Wissenschaftler zur Breslauer Geschichtsforschung.46 In der bewussten Einbeziehung polnischer Historikerinnen und Historiker versteht der vorliegende Band sich als Anregung, die vorstehend skizzierten Forschungspostulate am Beispiel Schlesiens auch künftig im fruchtbaren Austausch zwischen deutscher und polnischer Wissenschaft weiter zu verfolgen. Unter der im Obertitel dieses Bandes aufscheinenden Begriffstrias „Gelehrte – Schulen – Netzwerke“ lassen sich die im Folgenden präsentierten Einzelsonden jedenfalls treffend zusammenzufassen. Den Voraussetzungen, Begleitumständen und Problemen einer individuellen Historikerkarriere im Schlesien des langen 19. Jahrhunderts wird darin ebenso breiter Raum gewidmet wie den Kontakten, Verflechtungen und Konflikten innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde. Soweit diese Interaktionen wiederum 44 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Unter retrospektiver Berücksichtigung auch der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg vgl. die deutschsprachige Publikation von Kunicki, Wojciech: Germanistik in Breslau 1918–1945. Dresden 2002 (Silesiaca 2). 45 Bończuk-Dawidziuk, Urszula/Jęzierska, Anna/Wojtyła, Arkadiusz: Wykaz zawartości Akt ­Büschinga z lat 1810–1812 ze zbiorów Biblioteki Uniwersyteckiej we Wrocławiu. In: Hereditas Monasteriorum 3 (2014) 241–300; dies.: Zbiory biblioteczne, archiwalne i artystyczne znajdujące się w 1811 r. w opactwie norbertanów we Wrocławiu w świetle inwentarza i sprawozdania z postępowania kasacyjnego z Akt Büschinga. In: Hereditas Monasteriorum 4 (2014) 295–329; Bończuk-Dawidziuk, Urszula: Wkład Johanna Gustava Büschina (1783–1929) w tworzenie bazy materialnej i koncepcji naukowo-dydaktycznych Uniwertsytetu Wrocławskiego. ��������� In: Harasimowicz, Jan (Hg.): Księga Pamiątkowa Jubileuszu 200-lecia utworzenia Państwowego we Wrocławiu – Commemorative Book fort he 200th Anniversary of the Establishment of the State University in Wrocław, Bd. 4: Uniwersytet Wrocławski w kulturze europejskiej XIX i XX wieku – Wrocław University in the European Culture of the 19th and 20th Centuries. Wrocław 2015, 57–67; Bończuk-Dawidziuk, Urszula/Burdukiewicz, Jan Michał/Demidziuk, Krzysztof: Profesor Büsching na Uniwersytecie Wrocławskim. Początki archeologii akademickiej w Europie. In: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczonych – Schlesische Gelehrtenrepublik – Slezská vědecká obec, Bd. 7. Wrocław 2016, 180–204. 46 Kalinowska-Wójcik, Barbara: Między Wschodem i Zachodem. Ezechiel Zivier (1868–1925). Historyk i archiwista. Katowice 2015.

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den spezifischen methodischen Rahmen der Sicht auf die Vergangenheit betrafen, beeinflussten sie ihrerseits naturgemäß die Themen und konkreten Perspektiven von Geschichtsschreibung. Diese fachlichen Inhalte der Historiographie in Schlesien zwischen Spätaufklärung und Erstem Weltkrieg wiederum sollen den Schwerpunkt eines weiteren, in Vorbereitung befindlichen Bandes bilden, der insofern an die hier vorgelegte Aufsatzsammlung direkt anschließen wird.

III. Der erste thematische Block („Akademische Qualifikations- und Karrieremuster in der Breslauer Geschichtswissenschaft“) umfasst zwei Beiträge, die in zeitlicher und sachlicher Hinsicht gezielt einen weiteren Zugriff wählen. Beide widmen sich der Frage, nach welchen Regularien, Anforderungen und Erwartungen der Lehrkörper der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau nach deren Neugründung 1811 ergänzt und erweitert wurde. Voraussetzung für eine jede akademische Laufbahn war seit dem frühen 19. Jahrhundert die Habilitation. Joachim Bahlcke skizziert zunächst die im Jahrhundert der Aufklärung einsetzenden Bemühungen, die akademische Graduierung und die Erteilung der Lehrbefugnis zu entkoppeln und eine über der Promotion stehende neue Qualifikationsform zu etablieren, um im Anschluss Anspruch und Wirklichkeit des Habilitationsverfahrens in den Blick zu nehmen. Die Analyse von Herkunft, akademischer Sozialisation und Werdegang der rund drei Dutzend Habilitanden der Geschichtswissenschaft, die zwischen 1811 und 1914 eine Aufnahme in den Lehrkörper der Philosophischen Fakultät anstrebten, zeigt deutlich, dass eine erfolgreiche Karriere unabhängig von Begabung, Talent und Leistung stets von einer Vielzahl von Faktoren abhing: von familiären und finanziellen Gegebenheiten, der spezifischen Konkurrenzsituation vor Ort, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie der Belastbarkeit individueller Netzwerke. Letztlich war ein Aufstieg an der Universität bis zum frühen 20. Jahrhundert weder plan- noch kalkulierbar. Generell bestätigt sich der allgemeine Befund, dass gescheiterte Karrieren von Privatdozenten nur selten im Fokus der bildungsgeschichtlichen Fokus stehen. Stellte die Habilitation eine wesentliche Voraussetzung zur Erlangung einer Professur dar, so richtet Roland Gehrke in seinem Beitrag den Fokus auf die im Spannungsfeld zwischen universitärem Autonomieanspruch und ministerieller Aufsicht durchgeführten Berufungsverfahren, die die anschließend in Breslau tätigen Historiker nach 1848 durchliefen. Hier zeigte sich das Problem einer typischen „Durchgangsuniversität“, qualifizierte Geschichtswissenschaftler erstens überhaupt einmal zu gewinnen und sie, wenn sie dem Ruf denn Folge geleistet hatten, zweitens auch längerfristig in Breslau zu halten. Die wegen der häufigen Abwesenheit des Parlamentariers Richard Roepell 1874 provisorisch eingerichtete Ergänzungsprofessur für Mittlere und Neuere ­Geschichte jedenfalls erlebte in knapp zwei Jahrzehnten nicht weniger als sechs Neubesetzungen.

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Zwar zog Breslau etwa mit Dietrich Schäfer (in Breslau 1884–1888) oder Eduard ­Meyer (in Breslau 1885–1889) auch einige später sehr bedeutende Historiker an, doch lehrten diese dort lediglich in der Frühphase ihrer Karriere. Immerhin gelang es der Breslauer Philosophischen Fakultät auch während der berüchtigten „Ära Althoff “ um die Jahrhundertwende, ihre Autonomie hinsichtlich der Besetzung geschichtswissenschaftlicher Lehrstühle weitgehend zu wahren und Oktroi-Versuche der ministeriellen Seite abzuwehren. Ein zweiter thematischer Block („Historiker- und Gelehrtenkarrieren an der Universität Breslau“) stellt Werdegänge und Wirkungskreise ausgewählter Geschichtsforscher vor, die jeweils einen bestimmten Gelehrtentypus verkörperten und prägend auf ihr jeweiliges Fachgebiet einwirkten. Dass die Jahrzehnte um 1800 für die schlesische landesgeschichtliche Forschung eine Scharnierfunktion zwischen der Historiographie der Aufklärungszeit und der modernen kritischen Geschichtswissenschaft besaßen, verdeutlicht Norbert Kersken am Beispiel des aus Berlin gebürtigen Historikers und Wissenschaftsorganisators Johann Gustav Gottlieb Büsching. Dessen Aufgabengebiet in Breslau war denkbar breit, so dass seine Tätigkeit in den zwei Jahrzehnten zwischen 1809 und 1829 für die Entwicklung gleich mehrerer Einzelwissenschaften prägend wurde. Ein besonders scharfes Profil entwickelte Büsching im Bereich der sich herausbildenden universitären Geschichtswissenschaft und der schlesischen Landesgeschichte. Vorgestellt werden zudem Personen und Personenkreise, die sich in jener Phase in Breslau und Umgebung der Erforschung der Vergangenheit widmeten. Dazu zählten auch Dilettanten, die „begeisterten Liebhaber“ der Geschichte, meist unzulänglich geschulte Juristen, Pfarrer, Lehrer und Ärzte, auf die gerade die orts- und landesgeschichtliche Forschung noch das ganze 19. Jahrhundert über angewiesen bleiben sollte. Die wissenschaftliche und wissenschaftsorganisatorische Tätigkeit des aus Zerbst stammenden Historikers Gustav Adolf Harald Stenzel wird von Ulrich Schmilewski beleuchtet. Stenzel, der mit einer Tochter des ebenfalls in Breslau lehrenden Historikers Gabriel Gottfried Bredow verheiratet war, begründete das Historische Seminar in seiner frühen Form, führte als einer der ersten Geschichtsforscher die historisch-kritische Methode in Lehre und Forschung ein und schuf mit der Gründung des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens eine wichtige Plattform für alle landesgeschichtlichen Bemühungen. Darüber hinaus leistete Stenzel Grundlegendes im Rahmen des schlesischen Archivwesens. Der auf Stenzel nachfolgende Historiker Richard Roepell hatte dessen Lehrstuhl nominell zwischen 1854 und 1893 inne, also für annähernd vier Jahrzehnte. Zwar hatte Roepell sich mit dem 1840 vorgelegten ersten Band einer breitangelegten Geschichte Polens schon früh den Ruf eines „Polenspezialisten“ erworben, doch verkörperte er zugleich den im 19. Jahrhundert populären Typus des „politischen Professors“, dessen wissenschaftliches Schaffen in späteren Jahren deutlich hinter sein öffentliches Wirken als nationalliberaler Parlamentarier zurücktrat. Matthias Barelkowski zeichnet in seinem Beitrag die wissenschaftliche ebenso wie die politische Karriere Roepells detailliert nach

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und relativiert dabei den Nimbus des „Polenfreundes“, den Roepell sich als Förderer polnischer Studenten in Breslau erwarb. So habe dieser eine mögliche Erneuerung der polnischen Staatlichkeit weniger aus Sympathie als vielmehr aus nüchterner preußischdeutscher Staatsräson heraus befürwortet: als „Pufferstaat“ in einem künftigen Krieg gegen Russland. Wie durchlässig die Grenzen zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen auch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch waren, zeigt das Beispiel der beiden in Breslau lehrenden Juristen Theodor Mommsen und Otto Friedrich von Gierke, die beide ein breites historiographisches Œuvre hinterließen. Der Umstand, dass das geltende Recht seine wesentlichen Grundlagen in den lateinischen Rechtsquellen fand, weckte Mommsens generelles Interesse an der Geschichte des griechisch-römischen Altertums, deren Erforschung er sich als der später wohl prominenteste deutsche Althistoriker überhaupt zur Lebensaufgabe machte. In Breslau wirkte Mommsen indes nur vier Jahre lang und versah die dortige Alma Mater rückblickend mit wenig schmeichelhaften Attributen, wie Steffen Schlinker in seinem vergleichend angelegten Aufsatz herausarbeitet. Der um 24 Jahre jüngere Gierke brachte es demgegenüber auf immerhin 13 Breslauer Jahre. Im Unterschied zu Mommsen galt sein Augenmerk vornehmlich dem mittelalterlichen deutschen Recht, das Gierke als Ausdruck einer zeitlosen, von konkreten staatlichen Gegebenheiten losgekoppelten Rechtsordnung begriff. Die im 19. Jahrhundert häufig enge Verbindung zwischen Archivwesen und akademischer Wissenschaft verkörpert idealtypisch Colmar Grünhagen, der 1862 zum Leiter des schlesischen Provinzialarchivs bestellt und vier Jahre später zum Extraordinarius an der Universität Breslau berufen wurde, womit die Disziplin der schlesischen Landesgeschichte erstmals eine feste universitäre Verankerung erfuhr. In seinem ­Anliegen, eine enge historische Verbindung Schlesiens zu Preußen aufzuzeigen und diese möglichst weit zurückzuverfolgen, ist Grünhagen fraglos der „borussischen Schule“ der Geschichtsschreibung zuzuordnen. Andreas Rüther warnt jedoch davor, ihn lediglich als Panegyriker der Metropole Breslau und Apologeten eines preußischen geschichtlichen Auftrags abzutun. Vielmehr sei Grünhagen, der seit 1871 auch für mehrere Jahrzehnte an der Spitze des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens stand, als ein ebenso produktiver wie schöpferischer Historiker anzusprechen, der seine vielseitigen Variationen zu den Themenkreisen Friedrich II. von Preußen und Schlesien stets weiter vorangetrieben habe. Der dritte thematische Block („Geschichtsforschung in Schlesien zwischen Universität und außeruniversitären Institutionen“) widmet sich den Querverbindungen zwischen akademischer Historiographie und anderen Orten beziehungsweise Institutionen, an denen Geschichtsschreibung im weitesten Sinne produziert wurde. Wie eng sich der entsprechende Konnex gerade auch in personeller Hinsicht gestaltete, zeigt Urszula Bończuk-Dawidziuk am Beispiel der schlesischen Museumslandschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts auf. Ausgehend von dem generellen Befund, dass Museen neben ihrer primären Aufgabe der Aufbewahrung, Erhaltung und Zurschaustellung meist auch in die akademische Forschung und Lehre eingebunden sind, wird

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nachgezeichnet, dass die Leitung eines Museums in vielen Fällen fester Bestandteil einer akademischen Karriere war. Dies gilt zunächst für das Breslauer Universitätsmuseum selbst, an dessen Spitze vor 1914 stets ein Ordinarius für Klassische Philologie stand, dies gilt aber auch für eine Reihe weiterer historischer und kunstgeschichtlicher Museen des Oderlandes, deren Leitungspersonal von der Autorin detailliert beschrieben wird. Zugleich konstatiert sie für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Professionalisierungsprozess, in dessen Verlauf sich vor allem die neu eröffneten Museen ein klareres Profil gaben, ihre Sammlungen also stärker auf spezifische Genres hin ausrichteten. Solche Professionalisierungsprozesse berührten letztlich auch einen Bereich, der auf den ersten Blick der universitären Historiographie denkbar fern zu stehen scheint: der Hof- und Dynastiegeschichtsschreibung. In dem aus Hirschberg gebürtigen Aristokraten Rudolf Graf von Stillfried-Alcántara, als studierter Jurist auf dem Feld der Geschichtswissenschaft selbst lediglich ein Autodidakt, fand Friedrich Wilhelm IV. von Preußen einen Vertrauten, dessen Dienste als Zeremonienmeister, Leiter des Königlichen Hausarchivs und Hofhistoriograph bald als unverzichtbar galten. Dass Stillfried nicht nur ein umfangreiches Œuvre hinterließ – darunter mit der Edition Hohenzollernsche Alterthümer ein maßgebliches Referenzwerk für andere dynastiegeschichtliche Quellensammlungen –, sondern auch enge Kontakte zu universitären Historikern und zu zahlreichen Archivaren unterhielt, ist Ergebnis der Studie von Franziska Zach. Zu nennen sind hier etwa Stillfrieds durchaus streitbares Verhältnis zum Breslauer Geschichtsprofessor Stenzel, den er aus seiner eigenen Studienzeit her kannte, aber auch seine Beziehung zu einer solchen Prominenz wie Leopold von Ranke, den Stillfried in seinen Tagebüchern ehrfürchtig als sein unerreichtes Vorbild apostrophierte. Im vierten thematischen Block schließlich („Religiöse Gruppen und ihr Anteil an der Geschichtsforschung in Schlesien“) werden Personen gewürdigt, die in traditionellen Übersichten historiographischer Forschung gern übersehen oder zumindest marginalisiert werden: katholische Kirchenhistoriker und jüdische Religionswissenschaftler. Dies trifft besonders für Schlesien zu, dessen professionelle Geschichtswissenschaft in großen Teilen protestantisch geprägt war. Geschichtsforschung durch katholische Geistliche erfolgte im langen 19. Jahrhundert, wie Michael Hirschfeld in seinem Beitrag über ausgewählte schlesische Priesterhistoriker vor dem Ersten Weltkrieg betont, nur zu einem kleinen Teil im universitären Kontext. Sehr viel wichtiger als die Berufskirchenhistoriker waren in der Provinz tätige Geistliche, die mehrheitlich aus bescheidenen Verhältnissen stammten und in aller Regel keine über das Theologiestudium hinausgehende Vorbildung besaßen. Das Arbeitsfeld dieser Personen, die – von Ausnahmen abgesehen – in der geschlossenen Welt ihrer katholischen Konfession verblieben, wurde von der Stadt-, Orts- und Pfarreigeschichte sowie von personen- und familiengeschichtlichen Forschungen bestimmt. Eine eigentliche Systematik in den gewählten Themen ist nicht erkennbar. Eine Sonderstellung nahm in dieser Gruppe Joseph Jungnitz ein, dessen Aufstieg zum Leiter aller drei bischöflichen Kultureinrichtungen in Breslau – der Bibliothek, des Archivs und des Museums – singulär ist. Dies gilt auch für die ihm zuteil gewordenen Auszeichnungen: Die

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Katholisch-Theologische Fakultät verlieh ihm 1908 den Titel eines Honorarprofessors, die Philosophische Fakultät drei Jahre später die Würde eines Ehrendoktors. Im Mittelpunkt des Beitrags von Barbara Kalinowska-Wójcik stehen mit Jacob Caro, Markus Brann und Ezechiel Zivier drei jüdische Geschichtsforscher, die in der schlesischen Hauptstadt vielfältig wissenschaftlich tätig waren. Sie stammten zwar alle drei aus dem Gebiet des 1795 aufgelösten polnisch-litauischen Staates, ihre beruflichen Werdegänge aber verliefen gänzlich unterschiedlich. Der Weg des Gnesener Rabbinersohns Caro, der in vielerlei Hinsicht ein Sonderfall blieb, führte bis zu einer ordentlichen Professur für Geschichte an der Universität Breslau. Brann dagegen fand seine Berufung ausschließlich im jüdisch-theologischen Milieu, in dem er sich als Wissenschaftsorganisator und als Herausgeber grundlegender Werke im Bereich der „Wissenschaft des Judentums“ einen Namen machte. Der vielseitigste Gelehrte war fraglos Zivier, der nach dem Studium als Archivar in den Dienst einer einflussreichen schlesischen Fürstenfamilie trat. Er verstand es, eigene wissenschaftliche Ambitionen mit Aufträgen seines Arbeitgebers zu verbinden. Zu Ziviers Verdiensten gehört auch die Idee zur Errichtung eines Gesamtarchivs der deutschen Juden. Die rechtliche Gleichstellung der deutschen Juden im 19. Jahrhundert und der durch die jüdische Aufklärung geförderte Prozess der Verbürgerlichung und Akkulturation stellten auch Rabbiner, die vor 1850 noch größtenteils in den gewohnten Bahnen rein talmudischer Gelehrsamkeit verblieben, vor große Herausforderungen. Winfried Irgang geht in seinem Beitrag der Frage nach, wie sich dieser Personenkreis in der preußischen Provinz Schlesien mit diesem Phänomen auseinandersetzte und welche Bedeutung er der Wissenschaft und speziell der Geschichtsforschung und -schreibung beimaß. Grundsätzlich sei zu beobachten, dass die wissenschaftliche Methodik in der mitteleuropäischen Rabbinerausbildung generell in der zweiten Jahrhunderthälfte eine deutliche Aufwertung erfuhr. Großes Gewicht kam in diesem Zusammenhang dem 1854 gegründeten jüdisch-theologischen Seminar in Breslau zu, dessen vom ersten Direktor, Zacharias Frankel, entworfenes Konzept eine umfassende Einbeziehung der „Profanwissenschaften“ sowie eines parallel zu absolvierenden humanwissenschaftlichen Studiums an einer Universität vorsah. Das gestiegene Interesse an der Geschichte lässt sich auch in Schlesien an der Bildung mehrerer Vereine für jüdische Geschichte und Literatur erkennen, in deren Vorständen häufig Rabbiner zu finden waren.

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I. Akademische Qualifikations- und Karrieremuster in der Breslauer Geschichtswissenschaft

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Geschichtswissenschaftliche Habilitationen an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau zwischen 1811 und 1914: ­Akademische Qualifikation, personale Netzwerke und Einbindung in wissenschaftliche Schulen I. Fragestellung, Forschungskontext und Quellenproblematik Akademische Schul- und Netzwerkbildungen lassen sich inhaltlich an bestimmten Positionen, Denktraditionen und theoretisch-methodischen Ansätzen, an der Verwendung einer mit den Jahren begrifflich verfeinerten Wissenschaftssprache, an spezifischen Argumentationsformen und eigenen Publikationsorganen erkennen. Sie sind keine Organisationen im strengen Sinn: Im Gegensatz zu traditionellen ­Bildungseinrichtungen kennen sie keine formalen Bedingungen für eine Mitgliedschaft.1 Der Begriff einer wissenschaftlichen Schule, der sich im deutschsprachigen Raum bis Ende des 18. Jahrhunderts allmählich durchsetzte und die ältere Bezeichnung „Sekte“ ablöste, bezog sich zunächst auf die Unterscheidung philosophischer Lehrsysteme. Parallel zur Ausweitung und Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems sprach man schon bald von einer Vielzahl von Schulbildungen. Zur Ab- und Ausgrenzung einer wissenschaftlichen Schule konnte die Methode ausschlaggebend sein, eine disziplinäre Zugehörigkeit, der Name einer Universität, eines Ortes oder der schulbildenden Autorität.2 In Streitfällen nutzten Publizisten wie Gelehrte allerdings auch noch im 19. Jahrhundert die ältere Begrifflich1 Speziell zur Entwicklung im langen 19. Jahrhundert vgl. Riedl-Dorn, Christa: Ein uomo universale des 19. Jahrhunderts und sein wissenschaftliches Netzwerk. Stephan Ladislaus Endlicher und seine Korrespondenz mit Wissenschaftlern seiner Zeit. Wien 2019 (Schriften des Archivs der Universität Wien 26); Krierer, Karl R./Friedmann, Ina (Hg.): Netzwerke der Altertumswissenschaften im 19. Jahrhundert. Wien 2016; Busse, Neill: Der Meister und seine Schüler. Das Netzwerk Justus Liebigs und seiner Studenten. Hildesheim/Zürich/New York 2015 (Studia Giessensia N. F. 2); Kolk, Rainer: Berlin oder Leipzig? Eine Studie zur sozialen Organisation der Germanistik im „Nibelungenstreit“. Tübingen 1990 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 30). Aktuell werden akademische Schul- und Netzwerkbildungen vor allem im Kontext universitärer Karriereplanung diskutiert. Vgl. exemplarisch Döhling-Wölm, Jasmin: Karriere, Macht und Netzwerke: Spielregeln und Felddynamiken akademischer Karriereentwicklung. Opladen/Berlin/Toronto 2016; Kahlert, Heike: Riskante Karrieren. Wissenschaftlicher Nachwuchs im Spiegel der Forschung. Opladen/Berlin/Toronto 2013 (Wissenschaftskarrieren 1). 2 Stichweh, Rudolf: Zur Soziologie wissenschaftlicher Schulen. In: Bleek, Wilhelm/Lietzmann, Hans J. (Hg.): Schulen der deutschen Politikwissenschaft. Opladen 1999, 19–32; Geison, Gerald L.: Scientific Change, Emerging Specialities, and Research Schools. In: History of Science. A review of literature and research in the history of science, medicine and technology in its intellectual and social context 19 (1981) 20–40.

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keit, um Gegner und Konkurrenten in Verruf zu bringen. So sprach der Heidelberger Historiker Friedrich Christoph Schlosser, der Geschichtsschreibung stets in Verbindung mit sittlicher Bildung sah und eine systematische Quellenkritik, wie sie Leopold (von) Ranke forderte, vehement ablehnte, in einer Grabrede auf einen befreundeten Dichter 1826 vom gemeinsamen „Kampfe gegen todtes und tolles Wissen, gegen die finsteren Katheder, gegen die Schulen, welche aufgeblasene Sektenstifter gebildet“.3 Georg Weber veröffentlichte die Rede Schlossers – der 1861 gestorben war – im Jahr 1876 aus Anlass des hundertsten Geburtstages seines akademischen Lehrers ein weiteres Mal. Für die Frage nach akademischen Schul- und Netzwerkbildungen ist sein Vorwort höchst aufschlussreich. Im Gegensatz zu Ranke, der von der gegenwärtigen Geschichtsforschung als „Feldhauptmann und Fahnenträger“ verehrt werde, habe Schlosser „keine Schule gebildet, die den Namen des Stifters und Meisters fortpflanzte“. Die Gründe dafür, so Weber, seien in Schlossers nicht mehr zeitgemäßer Geschichtsauffassung, aber auch in seiner spezifischen Lehrtätigkeit und Arbeitsweise zu suchen: „Zwischen Meister und Schülern bestand ein nur wenig erkennbares Band; nur ein scharfblickendes Auge vermag die dünnen Fäden zu entdecken.“4 Ganz anders nahm Wilhelm Dilthey, der von 1871 bis 1883 als Professor für Philosophie an der Universität Breslau lehrte, die Auseinandersetzung zwischen beiden Kreisen wahr. Über eigene Erinnerungen an die 1830er und 1840er Jahre schrieb er rückblickend: „Der Gegensatz zwischen der Geschichtschreibung von Schlosser und der von Ranke beherrschte in meiner Jugend, in dem dritten und vierten Jahrzehnt, die ganze historische Literatur Deutschlands. Blickt man heute zurück, so hatten doch diese beiden Schulen gemeinsam miteinander den universalhistorischen Standpunkt, wie ihn das 18. Jahrhundert ausgebildet hatte. Und von ihnen grenzt sich die nationale Tendenz deutlich ab, wie sie in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts dann die deutsche Geschichtschreibung ergriffen hat.“5 Eigenwahrnehmung und Fremdwahrnehmung weichen in diesem Fall offensichtlich weit voneinander ab. Die Existenz einer Schule kann ebenso wenig vorausgesetzt wer3 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Schlosser, F[riedrich] C[hristoph]: Worte, mitgetheilt, wie sie an J. H. Voß Grabe sollten gesprochen werden. In: Paulus, H[einrich] E[berhard] G[ottlob] (Hg.): Lebens- und Todeskunden über Johann Heinrich Voß. Heidelberg 1826, 70–109, hier 78f. 4 Weber, Georg (Hg.): Friedrich Christoph Schlosser der Historiker. Erinnerungsblätter aus seinem Leben und Wirken. Eine Festschrift zu seiner hundertjährigen Geburtstagsfeier am 17. November 1876. Leipzig 1876, IX, XI (die Grabrede 241–260). 5 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Dilthey, Wilhelm: Erinnerungen an deutsche Geschichtschreiber. In: ders.: Vom Aufgang des geschichtlichen Bewußtseins. Jugendaufsätze und Erinnerungen. Hg. v. Erich Weniger. Göttingen 5 1988 (Gesammelte Schriften 11), 215–231, hier 215. Zur gegensätzlichen Geschichtskonzeption von Ranke und Schlosser vgl. Stegmüller, Dagmar: Friedrich Christoph Schlosser und die Berliner Schule. In: Muhlack, Ulrich (Hg.): Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert. Berlin 2003 (Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel 5), 49–60; Muhlack, Ulrich: Leopold von Ranke und die Begründung der quellenkritischen Geschichtsforschung. In: Elvert, Jürgen/Krauß, Susanne (Hg.): Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 2003 (Historische Mitteilungen. Beiheft 46), 23–33.

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den wie das Bewusstsein einer Schulzugehörigkeit. Es ist insofern erstaunlich, wie wenig differenziert der Schulbegriff für das 19. Jahrhundert unverändert verwendet wird. Ob sich eine bestimmte Wissenschaftsgemeinschaft als Schule betrachtete oder ob diese lediglich „ein nachmaliges Konstrukt der historischen Wissenschaft ist, um bestimmte geistesgeschichtliche Entwicklungen besser erfassen zu können“,6 wird in aller Regel nicht reflektiert. Dies gilt selbst für Studien zur wirkungsmächtigen „preußischen“, „borussischen“ oder „kleindeutsch-borussischen Schule“ der deutschen Geschichtswissenschaft, für die das Zusammenfallen einer spezifischen fachlich-methodischen Ausrichtung mit einer konkreten politisch-weltanschaulichen Identität als charakteristisch angenommen wird.7 Wenn der Begriff der Schule im Folgenden benutzt wird, dann ausschließlich in einem engeren Sinn: als Bezeichnung für einen Kreis, der sich als klar abgrenzbare Gruppe um einen akademischen Lehrer verstand und nur Personen integrierte, die unmittelbar miteinander in Kontakt standen.8 Ihre Wirksamkeit und Durchsetzungskraft verdanken akademische Schul- und Netzwerkbildungen – die gewöhnlich nicht mehr als zwei Wissenschaftsgenerationen überdauerten – nicht nur der Übereinstimmung in Sachfragen, sondern auch und vor allem der Einflussnahme auf personelle und organisatorische Entscheidungen, die im Kern auf die Absicherung und Erweiterung einer Gruppe abzielen. Das universitäre Ausbildungs- und Wissenschaftssystem bot seit dem frühen 19. Jahrhundert ­vielfältige Möglichkeiten, um die Zusammensetzung und Ausrichtung eines Lehrkörpers zu beeinflussen: durch die Aufnahme von neuen, den Vorstellungen einer Fakultät oder eines Instituts entsprechenden Kandidaten ebenso wie durch die Ablehnung anderer, missliebiger Konkurrenten.9 Dieser Perspektive ‚von oben‘ ist freilich stets diejenige ‚von 6 Kirchhof, Tobias: Der Tod Schleiermachers. Prozess und Motive, Nachfolge und Gedächtnis. Leipzig/Berlin 2006, 90. 7 Borowsky, Peter: Schlaglichter historischer Forschung. Studien zur deutschen Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Hamburg 2005, 13–61; Doering-Manteuffel, Anselm: Die deutsche Frage und das europäische Staatensystem 1815–1871. München 1993 (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 15), 53–59; Wehler, Hans-Ulrich: Nationalismus und Nation in der deutschen Geschichte. In: Berding, Helmut (Hg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 2. Frankfurt am Main 1994, 163–175. 8 Kirchhof: Der Tod Schleiermachers, 92f. 9 ������������������������������������������������������������������������������������������� Brocke, Bernhard vom: Wege aus der Krise: Universitätsseminar, Akademiekommission oder Forschungsinstitut. Formen der Institutionalisierung in den Geistes- und Naturwissenschaften 1810 – 1900 – 1995. In: König, Christoph/Lämmert, Eberhard (Hg.): Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900. Frankfurt am Main 1999, 191–215; Baumgarten, Marita: Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler. Göttingen 1997 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 121). Speziell zur Entwicklung der Historischen Institute vgl. Huttner, Markus: Historische Gesellschaften und die Entwicklung historischer Institute – zu den Anfängen institutionalisierter Geschichtsstudien an den deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts. In: Middell, Matthias/Lingelbach, Gabriele/Hadler, Frank (Hg.): Historische Institute im internationalen Vergleich. Leipzig 2001 (Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert 3), 39–83; Pandel, Hans-Jürgen: Von der Teegesellschaft zum Forschungsinstitut. Die historischen Seminare vom Beginn des

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unten‘ an die Seite zu stellen: Es konnte durchaus im Interesse des wissenschaftlichen Nachwuchses sein, sich einer bestehenden Schulbildung anzuschließen, um so die eigenen Karrieremöglichkeiten zu erhöhen. In der wissenschaftlich wie wirtschaftlich prekären Phase der akademischen Qualifikation, mithin im Vorfeld einer Habilitation und während der anschließenden Jahre als in der Regel nicht besoldeter Dozent, versprach ein universitärer Zirkel Halt und Förderung; mit ihm konnte sich ein junger Akademiker in der Zeitspanne, in der es noch keine Seminare oder Institute gab, auch am ehesten identifizieren. Bei einer näheren Betrachtung der Privatdozenten, die sich „in einem komplexen Dreiecksverhältnis zwischen den anderen Akteursgruppen“ – den Fakultäten und den ministeriellen Behörden – befanden,10 ist die Integration in örtliche Schulund Netzwerkbildungen daher von besonderer Bedeutung. Deutlich zu erkennen und entsprechend häufig untersucht wurden Konturen einer solchen Personalpolitik bei der Besetzung von Lehrstühlen, bei der universitätsinterne, ministeriale und hochschulpolitische Interessen am stärksten aufeinanderstießen.11 Ungleich schwieriger zu fassen ist die vorhergehende Phase der Qualifikation für die akademische Laufbahn. Für die Habilitation, die sich an allen deutschen Universitäten im Laufe des 19. Jahrhunderts als Sonderform akademischer Graduierung etablierte, wurden zwar in Universitäts- und Fakultätsstatuten exakte Bestimmungen erlassen, die allen Kandidaten ein unabhängiges und transparentes Verfahren sicherstellen sollten. Welche Faktoren jedoch in der Praxis über Erfolg oder Misserfolg in dieser Phase der wissenschaftlichen Karriere entschieden, ist gerade in der Übergangszeit, in der sich das Institut des Privatdozenten neuen Stils erst langsam festigte, schwer auszumachen.12 Nicht weniger schwierig ist es, auf Basis des überlieferten Aktenmaterials, das oftmals 19. Jahrhunderts bis zum Ende des Kaiserreichs. In: Blanke, Horst Walter (Hg.): Transformation des Historismus. Wissenschaftsorganisation und Bildungspolitik vor dem Ersten Weltkrieg. Interpretationen und Dokumente. Waltrop 1994 (Wissen und Kritik 4), 1–31. 10 ������������������������������������������������������������������������������������������ Pöppinghege, Rainer: „Wo unterm, überm Firmament, gleicht einer dem Privatdozent?“ Wissenschaftliche Leistungselite oder akademisches Proletariat? In: Pöppinghege, Rainer/Klenke, Dietmar (Hg.): Hochschulreformen früher und heute – zwischen Autonomie und gesellschaftlichem Gestaltungsanspruch. Köln 2011 (Abhandlungen zum Studenten- und Hochschulwesen 18), 65–79, hier 78. 11 ����������������������������������������������������������������������������������������� Hesse, Christian/Schwinges, Rainer Christoph (Hg.): Professorinnen und Professoren gewinnen. Zur Geschichte des Berufungswesens an den Universitäten Mitteleuropas. Basel 2012 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 12); ­Baumgarten, Maria: Vom Gelehrten zum Wissenschaftler. Studien zum Lehrkörper einer kleinen Universität am Beisspiel der Ludoviciana Gießen 1815–1914. Gießen 1988 (Berichte und Arbeiten aus der Universitätsbibliothek und dem Universitätsarchiv Gießen 42); Ferber, Christian von: Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864–1954. Göttingen 1956 (Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer 3). 12 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Die umfassendste Untersuchung zu dieser Frage liegt für die Universität Göttingen vor. Vgl. Tütken, Johannes: Privatdozenten im Schatten der Georgia Augusta. Zur älteren Privatdozentur (1734 bis 1831), Bd. 1: Statutenrecht und Alltagspraxis, Bd. 2: Biographische Materialien zu den Privatdozenten des Sommersemesters 1812. Göttingen 2005.

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nur die rein bürokratischen, durch Verordnungen vorgeschriebenen Abläufe dokumentiert, inner- und außeruniversitäre Einwirkungen gegeneinander zu gewichten. Autobiographische Zeugnisse, die gerade für das 19. Jahrhundert in beachtlicher Zahl vorliegen, geben allenfalls Anhaltspunkte, erschöpfen sich ansonsten aber vielfach in austauschbaren Erzählmustern und Rückblicken zwischen „Unabhängigkeit und Lebensnot“.13 Es gibt freilich Ausnahmen. Der aus Berlin gebürtige Mediziner Bernhard Naunyn, der nach seiner Habilitation 1867 an der Friedrich-Wilhelms-Universität als Hochschullehrer zahlreiche deutsche Universitäten kennenlernte, berichtet in seinen Erinnerungen ebenso präzise wie kritisch über „das ganze Titelwesen“ zwischen Dorpat und Straßburg. In Berlin etwa habe er in der Philosophischen Fakultät „eine Anzahl von Historikern und Archäologen“ vorgefunden, „die lange des Rufes harrten. Darunter tüchtige, sehr tüchtige Männer, z. B. [Bernhard] Erdmannsdörfer, sogar [Heinrich von] Treitschke, der freilich schon seine Stellung in Freiburg gehabt und aufgegeben hatte, gehörten dazu. Sie saßen allabendlich beim ‚schweren Wagner‘ und führten so grimme und gotteslästerliche Reden gegen das Schicksal, die deutschen Fakultäten, die sie noch nicht berufen hätten, und gegen das Leben, daß wir jungen frechen Streber ihre Versammlung als den ‚Selbstmörderklub‘ zu bezeichnen liebten.“14 Im Folgenden soll danach gefragt werden, ob sich bei der Habilitationspraxis an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau zwischen 1811 und 1914 bestimmte Muster, Gesetzmäßigkeiten oder lokale Gepflogenheiten erkennen lassen, die auf Gruppenbildungen, Netzwerkstrukturen und wissenschaftliche wie außerwissenschaftliche Einflussnahmen bei der Erneuerung des Lehrkörpers hindeuten. Im Mittelpunkt stehen dabei einerseits die Werdegänge von Historikern und andererseits Habilitationsschriften, die im weiteren Sinn geschichtliche Themen und Probleme zum Gegenstand haben. Dabei ist zu bedenken, dass sich die Habilitation erst allmählich zu einer fachorientierten Qualifikation entwickelte. Etwa bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts konnte man durchaus in Geschichte Vorlesungen halten, obwohl man sich in einer anderen Disziplin habilitiert hatte – und ebenso umgekehrt eine geschichtswissenschaftliche Habilitation verfasst haben und später in anderen Fächern lesen. Hinzu kommt, dass sich die Denominationen der gemeinhin dem Fach Geschichte zugerechneten Stellen vielfach nur 13 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Steinbach, Matthias: „... durch jahrelange Versumpfung jeglichen Halt verloren...“. Jenaer Privatdozenten zwischen Unabhängigkeit und Lebensnot. In: Steinbach, Matthias/Gerber, Stefan (Hg.): „Klassische Universität“ und „akademische Provinz“. Studien zur Universität Jena von der Mitte des 19. bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts. Jena/Quedlingburg 2005, 193–214. Vgl. ferner Bettin, Hartmut/Friedrich, Christoph: „Ich will so gern – und kann auch wol –; aber, aber –!!!“ – die Misere eines Privatdozenten zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Sudhoffs Archiv. Zeitschrift für Wissenschaftsgeschichte 84 (2000) 184–200. 14 Naunyn, B[ernhard]: Erinnerungen, Gedanken und Meinungen. Berlin/Heidelberg 1925, 421f. Zur Lage der Privatdozenten an der Berliner Universität vgl. McClelland, Charles E.: Die Professoren an der Friedrich-Wilhelms-Universität. In: Tenorth, Heinz-Elmar/McClelland, Charles E.: Geschichte der Universität Unter den Linden, Bd. 1: Gründung und Blütezeit der Universität zu Berlin 1810–1918. Berlin 2012, 427–511.

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schwer voneinander abgrenzen lassen. Und schließlich: Habilitationsleistungen konnten mitunter auch erst nach Erreichen einer Professur erbracht werden, so dass die eigentliche Habilitationsschrift nicht mehr Bedingung der Möglichkeit eines beruflichen Aufstiegs an der Universität sein konnte (selbst bereits habilitierten Privatdozenten oder Extraordinarien wurden entsprechende Leistungen mitunter zusätzlich abverlangt). Ein eindeutiges Bild zu diesen Fragen, dies ist einschränkend sogleich anzumerken, lässt sich angesichts des unbefriedigenden Wissensstands über die innere Entwicklung der Universität Breslau vor dem Ersten Weltkrieg nicht zeichnen.15 Für zahlreiche Einzelfragen, die die Philosophische Fakultät betreffen, ist man noch immer auf die zweibändige Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der 1811 in der schlesischen Landeshauptstadt neu gegründeten Universität angewiesen, deren Herausgabe Rektor und Senat dem seit zwei Jahrzehnten in Breslau lehrenden Historiker Georg Kaufmann übertragen hatten.16 Als Verfasser einer breit angelegten Darstellung zur Geschichte der deutschen Universitäten war Kaufmann für diese Aufgabe bestens gewappnet.17 Dass diese Festschrift gerade für die Fragestellung des vorliegenden Beitrags besonders wertvoll ist, hängt mit zwei Sachverhalten zusammen. Zum einen ist dem Text anzumerken, dass Kaufmann Strukturen und örtliche Besonderheiten aus eigenem Erleben beschrieb: kritisch, mitunter polemisch, ankämpfend „gegen bureaukratische Überweisheit“18 und stets auf die Autonomie seiner Alma Mater und die Lehrfreiheit ihrer Mitglieder bedacht – als ein „Feuerkopf “, wie Arnold Oskar Meyer, der sich 1908 in Breslau im Fach Geschichte habilitiert hatte, in seinem Nachruf treffend formulieren sollte.19 Freimütig äußerte sich Kaufmann zur „Rivalität mit Kollegen, die als Schulhäupter glänzen“,20 berichtete von subtilen Formen der Einflussnahme bei Promotions- und Habilitationsverfahren, der Praxis gutachterlicher Tätigkeit, Abhängigkeiten, „Schulmeinungen“ und Eigeninteressen der an der Fakultät agierenden Personen und 15 Zur Universität Breslau im 19. Jahrhundert vgl. Harasimowicz, Jan (Hg.): Księga Pamiątkowa Jubileuszu 200-lecia utworzenia Państwowego Uniwersytetu we Wrocławiu, Bd. 2: Universitas litterarum Wratislaviensis 1811–1945; Bd. 4: Uniwersytet Wrocławski w kulturze europejskiej XIX i XX wieku. Wrocław 2013–2015; Kulak, Teresa/Pater, Mieczysław/Wrzesiński, ­Wojciech: Historia Uniwersytetu Wrocławskiego 1702–2002. Wrocław 2002, Pater, Mieczysław: Historia Uniwersytetu Wrocławskiego do roku 1918. Wrocław 1997 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1945). 16 Kaufmann, Georg: Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Bd. 1: Geschichte der Universität Breslau 1811–1911. Breslau 1911; ders. (Hg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Bd. 2: Geschichte der Fächer, Institute und Ämter der Universität Breslau 1811–1911. Breslau 1911. 17 Ders.: Die Geschichte der Deutschen Universitäten, Bd. 1: Vorgeschichte, Bd. 2: Entstehung und Entwicklung der deutschen Universitäten bis zum Ausgang des Mittelalters. Stuttgart 1888– 1896 [ND Norderstedt 2017]. 18 Ders.: Festschrift, Bd. 1, 144. 19 Meyer, A[rnold] O[skar]: Georg Kaufmann [Nachruf ]. In: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (1929/30) 22–24, hier 24. 20 Kaufmann: Festschrift, Bd. 1, 249.

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Gruppen und scheute auch nicht davor zurück, sich offen über brisante Themen wie Konkurrenz und Cliquenbildung auszulassen.21 Zum anderen konnte Kaufmann für sein Werk noch auf Akten des Senats und der Fakultäten zugreifen, die in späterer Zeit, vor allem durch Kriegshandlungen, vernichtet wurden.22 Nur unwesentlich besser als für die Philosophische Fakultät als ganze stellt sich der gegenwärtige Forschungsstand zur Entwicklung des 1843 in Breslau eingerichteten ­Historischen Seminars dar, dessen Gründung die Differenzierung und Spezialisierung des Forschungsbetriebs weiter beförderte.23 Formal hatte das anfangs von den beiden einzigen ordentlichen Professoren der Geschichte geleitete Seminar, so das Statut von 1863, „sowohl in die Methode historischer Forschung einzuführen, als auch tüchtige Lehrer für den Unterricht in der Geschichte an höheren Schul-Anstalten vorzubilden“.24 Seminare – oder Institute, wie sie andernorts hießen – waren allerdings immer auch disziplinär geschlossene Sozialsysteme wissenschaftsinterner Kommunikation. Dass Einrichtungen dieser Art, in denen Lehrangebote und Forschungsthemen erörtert, soziale Kontakte gepflegt und Angelegenheiten der Fakultät debattiert wurden, zugleich Orte personaler Netzwerkbildungen darstellen, ist für andere Universitäten überzeugend dargelegt worden.25 War für die Graduierung auch weiterhin die Fakultät zuständig, so war doch die Karriere des einzelnen Fakultätsmitglieds fortan in Teilen auch „von Institutsdirektoren abhängig“.26 21 Ebd., V, 132–158. 22 Detaillierte Angaben zur Überlieferung der Fakultäts- und Habilitationsakten bei Drozd, Józef: Inwentarz akt Uniwersytetu Wrocławskiego 1811–1945. Wrocław 1977; ders.: Die Universität zu Breslau und ihre Akten aus den Jahren 1911–1945. In: Jahrbuch der Schlesischen FriedrichWilhelms-Universität zu Breslau 31 (1990) 239–263. 23 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Andreae, Friedrich: Zur Geschichte des Breslauer Historischen Seminars. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 70 (1936) 320–328; Bahlcke, Joachim: Das Historische Seminar der Universität Breslau 1811 bis 1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte [2012/13]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2016 (Forschungen zu Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3), 217–238; Herzig, Arno: Geschichtsforschung in der Metropole Schlesiens. Das Historische Seminar der Universität Breslau im 19. Jahrhundert. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/ Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 73–83. 24 Statut für das historische Seminar der Königlichen Universität in Breslau vom 7. September 1863. In: Centralblatt für die gesammte Unterrichts-Verwaltung in Preußen (1863) 526–527. 25 Vgl. etwa zum Göttinger Pädagogischen Seminar von 1837 bis 1891 Herrlitz, Hans-Georg: Von Herbart zu Nohl – Göttinger Pädagogik im 19. Jahrhundert. In: Hoffmann, Dietrich (Hg.): Pädagogik an der Georg-August-Universität Göttingen. Eine Vorlesungsreihe. Göttingen 1987 (Göttinger Universitätsschriften A/7), 83–107, hier 97–106. Breitere Zusammenhänge erörtert Stichweh, Rudolf: Zur Entstehung des modernen Systems wissenschaftlicher Disziplinen. Physik in Deutschland 1740–1890. Frankfurt am Main 1984; ders.: Differenzierung der Wissenschaft. In: Zeitschrift für Soziologie 8/1 (1979) 82–101. 26 Tütken: Privatdozenten, Bd. 1, 446.

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Die folgenden Ausführungen, die auf den im Universitätsarchiv Breslau überlieferten Dokumenten der Philosophischen Fakultät, Akten des Preußischen Kultusministeriums im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin sowie biographischen Materialien der einzelnen Habilitanden beruhen, können insofern nicht mehr als eine erste Annäherung an das Leitthema bieten. Sie sollen neben den konkreten Abläufen des Verfahrens vor allem einen Personenkreis vorstellen, der, sofern sich ­keine Berufung auf einen ordentlichen Lehrstuhl anschloss, im 19. Jahrhundert überraschend schwer zu fassen ist. Dieser Befund beeinträchtigt zwangsläufig jeden Versuch, eine kollektive Biographie der Breslauer Privatdozenten zu erstellen und darüber hinaus Verbindungen der jeweiligen Kandidaten zu einzelnen Fakultätsmitgliedern, außerhalb Breslaus tätigen Wissenschaftlern oder politisch-administrativen Kreisen aufzuzeigen.

II. Qualifikationsformen für die akademische Laufbahn: Kontinuität und Wandel vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert „Woher kommet es nun/ daß heutigen Tages von denen rechtschaffenen ­gelehrten Männern/ so wenig regard auf die Gradus Academicos gemacht wird? Da sitzet mancher hochgelehrter Doctor in einem hohen Ehren-Ampt; tituliret man ihn Herr Doctor, so macht er ein saur Gesichte/ schämet sich deß praedicats, und erreget ihm eine empfindliche Mortification. Wiederumb mancher qualificirter Candidadus legt auf hohen Schulen herrliche Proben ab seiner Gelehrtheit/ erwirbt auch frühzeitig eine gute renommée; aber/ den verdienten Gradum schlägt er aus. Warumb? Es ärgert ihn der Mißbrauch/ indem so viele Idioten seiner bekannten Schulgesellen darzu gelangen.“27 Was der aus Schlesien gebürtige Gelehrte Friedrich Lucae in seinem 1711 erschienenen Handbuch über das europäische Hochschulwesen in Vergangenheit und Gegenwart beklagte, erwies sich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als zunehmendes Ärgernis: der Normenverfall bei akademischen Prüfungen und der widerrechtliche Erwerb von Graden, der Bedeutungsverlust des Disputationsaktes, die Promotion in Abwesenheit (in absentia) ohne Vorlage einer schriftlichen Leistung, der Missbrauch bei Prüfungs- und Graduierungsgebühren.28 27 Lucae, Fridericus: Europäischer Helicon Auff welchem Die Academien, Oder Hohe Schuhlen Von Anfang der Welt biß jetzo Aller Nationen, besonders Europae Mit Ihren Fundationen, Unglücksfällen/Restaurationen, Privilegiis, Jubilaeis, Nothwendigkeiten und Hindernüssen/ Wachsthum und Abnehmen/ rechten Gebrauch und Mißbrauch; Sambt Ihren vornehmsten Lehrern/ deren Verdienste/ Und Academischen Ehren-Tituln In sieben haupt Theilen vorgestelt. Franckfurt am Mayn 1711, 74. 28 Marti, Hanspeter: Disputation und Dissertation. Kontinuität und Wandel im 18. Jahrhundert. In: Gindhart, Marion/Kundert, Ursula (Hg.): Disputatio 1200–1800. Form, Funktion und Wirkung eines Leitmediums universitärer Wissenskultur. Berlin/New York 2010 (Trends in Medieval Philology 20), 63–88; Rasche, Ulrich: Geschichte der Promotion in absentia. Eine Studie zum Modernisierungsprozess der deutschen Universitäten im 18. und 19. Jahrhundert. In:

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Abb. 1: In seinem monumentalen Handbuch über das europäische Hochschulwesen beschrieb der aus Schlesien gebürtige Gelehrte Friedrich Lucae 1711 detailliert den Normenverfall bei Prüfungen an der Universität und den widerrechtlichen Erwerb akademischer Grade. Bildnachweis: Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Sign. HBF.232.

Eigentlich hatten alle Doktoren und Magister das Recht, allein aufgrund ihrer Promotion an einer Universität im römisch-deutschen Reich lehren zu dürfen. Die genannten Missstände waren jedoch ein Grund, warum viele Universitäten eine über der traditionellen Promotion stehende neue Qualifikationsform einführten. Die Einforderung einer weiteren Disputation vor Ort (disputatio pro loco), für die sich bald der Name Habilitationsdisputation einbürgerte, war ein erster Schritt, um die tatsächliche Zulassung zur Lehre neu zu regeln. Zwar folgten Promotion und Habilitation in der Praxis noch lange rasch aufeinander, so dass sich die wissenschaftliche Qualität der zu erbringenden Leistungen nur langsam verbesserte, doch war mit der prinzipiellen Entkoppelung von akademischer Graduierung und Erteilung der Lehrbefugnis ein gangbarer Weg aus der Krise gefunden worden. Dieser komplexe, naturgemäß auch von außeruniversitären Faktoren abhängige Prozess vollzog sich an den einzelnen Schwinges, Rainer Christoph (Hg.): Examen, Titel, Promotionen. Akademisches und staatliches Qualifikationswesen vom 13. bis zum 21. Jahrhundert. Basel 2007 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 7), 275–351; ders.: Die deutschen Universitäten und die ständische Gesellschaft. Über institutionengeschichtliche und sozioökonomische Dimensionen von Zeugnissen, Dissertationen und Promotionen in der Frühen Neuzeit. In: Müller, Rainer A. (Hg.): Bilder – Daten – Promotionen. Studien zum Promotionswesen an deutschen Universitäten der frühen Neuzeit. Stuttgart 2007 (Pallas Athene 24), 150–273, hier 178–201.

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Hochschulen und Fakultäten in unterschiedlicher Geschwindigkeit und nach unterschiedlichen Mustern. Die Phasenverschiebungen tragen in der Forschung ebenso zur Verwirrung bei wie die Vielfalt der lokal gebräuchlichen Bezeichnungen, die sich für eine neue wissenschaftliche Qualifikation etablierten, deren Anforderungen und Verfahren zunächst nirgendwo präzisiert waren.29 Für die sich neu konstituierende Philosophische Fakultät, die in der Vergangenheit – als Artistenfakultät – als einzige keinen Doktorgrad, sondern lediglich den Grad eines magister artium liberalium verliehen hatte, war die neue Graduierung auch ein Akt der Emanzipation und Verselbständigung gegenüber den anderen Fakultäten gewesen, die traditionell als ‚höhere‘ galten.30 Auf der anderen Seite büßten alle vier Fakultäten, die bis zur Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert über die venia legendi größtenteils autonom entschieden hatten, in der Folgezeit wichtige Rechte ein. Graduierungen und Prüfungen wurden immer mehr auch eine Angelegenheit des Staates. Dies gilt in besonderer Weise für die neue Habilitation, die in den meisten deutschen Staaten ministerieller Genehmigung bedurfte. Mochten die Universitäten auch die Verfahren verantworten, so war es doch der Staat, der sich eine Bestätigung des Habilitanden vorbehielt.31 Dass die Habilitation zunehmend als Voraussetzung für eine akademische Laufbahn gesehen wurde, lässt sich den einschlägigen Ordnungen entnehmen, die bis in die 1860er Jahre in den Ländern des Deutschen Bundes erlassen wurden. Welche Leistungen allerdings konkret zu erbringen waren, unterschied sich auch weiterhin von Hochschule zu Hochschule. Mal genügte eine an die Promotion angelehnte zweite, inhaltlich nahezu identische Disputation, mal wurde eine eigenständige Habilitationsschrift vom Kandidaten gefordert, mal lassen sich weitere Zulassungsvarianten feststellen – waren diese Leistungen hier vor Aufnahme der Vorlesungen zu erbringen, so genügte dort ein Nachweis nach Übernahme einer Professur. Der Trend zu einer gewissen Einheitlichkeit bei den Anforderungen lässt sich erst im Kaiserreich beobachten.32

29 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Schubert, Ernst: Die Geschichte der Habilitation. In: Kössler, Henning (Hg.): 250 Jahre Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Festschrift. Erlangen 1993 (Erlanger Forschungen. Sonderreihe 4), 115–151, hier 119–122; Huttner, Markus: Humboldt in Leipzig? Die ‚Alma Mater Lipsiensis‘ und das Modell der preußischen Reformuniversität im frühen 19. Jahrhundert. In: Hettling, Manfred/Schirmer, Uwe/Schötz, Susanne (Hg.): Figuren und Strukturen. Historische Essays für Hartmut Zwahr zum 65. Geburtstag. München 2002, 529–561, hier 552f. 30 ����������������������������������������������������������������������������������������� Hammerstein, Notker: Vom Rang der Wissenschaften. Zum Aufstieg der Philosophischen Fakultät. In: Kohnle, Armin/Engehausen, Frank (Hg.): Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte. Festschrift für Eike Wolgast. Stuttgart 2001, 86–96. 31 Ders.: Vom Interesse des Staates. Graduierungen und Berechtigungswesen im 19. Jahrhundert. In: Schwinges (Hg.): Examen, Titel, Promotionen, 169–194; Sellert, Wolfgang: Zur Problematik der Habilitation in ihrer historischen Entwicklung. In: Zeitschrift für Rechtspolitik 5 (1972) 68–72. 32 Brocke, Bernhard vom/Krüger, Peter (Hg.): Hochschulpolitik im Föderalismus. Die Protokolle der Hochschulkonferenzen der deutschen Bundesstaaten und Österreichs 1898 bis 1918. Bearb. v. Bernhard vom Brocke. Berlin 1994.

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Die privatim docentes – diejenigen also, die im Gegensatz zu den fest besoldeten Fakultätsmitgliedern nicht öffentlich, sprich unentgeltlich, und auf eigenes Risiko lehrten und dabei lediglich Anspruch auf die fälligen Hörergelder hatten – waren für die Universitäten anfänglich nur günstige Privatlehrer; der Sprung aufs Katheder gelang letztlich nur einem kleinen Teil dieser Akademiker, die parallel gewöhnlich noch einer anderen beruflichen Tätigkeit nachgingen.33 Erst langsam entstand mit den Privatdozenten ein neuer Typus des Gelehrten, der gezielt eine Professorenlaufbahn anstrebte und über die Lehre hinaus auch die Forschung als sein Betätigungsfeld betrachtete. Faktisch war diese Neuausrichtung nur durch eine Spezialisierung auf ein konkret umrissenes Fachgebiet möglich. Deutlich wird dieser Wandel im Selbstverständnis auch in der Praxis der Habilitation. Lehrbefähigung und Lehrbefugnis bezogen sich zunächst auf die Fakultät. Bei der Philosophischen Fakultät bedeutete dies, dass die Habilitation die Fähigkeit und das Recht des Kandidaten bestätigte, alle dort vertretenen Disziplinen in ihrer gesamten Breite lehren zu dürfen. Zuständig für den Privatdozenten war quasi die gesamte Fakultät. Mit der Ablegung der Habilitation für ein bestimmtes Fach nahm zwangsläufig auch die Einflussnahme einzelner Ordinarien, die bald als Betreuer („Habilitationsväter“) auftraten, auf den wissenschaftlichen Nachwuchs zu.34 Zeitgenössische Darstellungen dieser wachsenden Abhängigkeit der Privatdozenten gibt es zuhauf, in der Regel aus Sicht der Betroffenen. Friedrich Wilhelm Conrad Beckhaus, der lange Jahre im Streit mit der Bonner Juristenfakultät lag, schrieb dazu 1858: „Was soll aus dem Privatdocenten werden, wenn er nur über Nebenfächer lesen darf, wenn er, um die Sicherheit seiner Stellung besorgt, auf jeden leisen Wink eines ordinarius professor ängstlich achten soll? Wie will er seine Fähigkeit, die Hauptfächer seiner Wissenschaft zu lehren, beweisen, wenn man ihm gerade diese Hauptfächer nimmt oder ihn, wagt er es dennoch, sie in Konkurrenz zu einem ordentlichen Professor zu lehren, mit allen kleinlichen Mitteln der Disciplin verfolgt?“35 Zum Nutzen für diejenigen, die sich trotz der bekannten Rechtlosigkeit des Nachwuchses „auf solch dornenvolle Laufbahn“ wagten,36 griff Beckhaus zwei Jahre später nochmals zur Feder. Die wider33 Tütken: Privatdozenten, Bd. 1, 444f. 34 Fallstudien zu unterschiedlichen Universitäten bieten Rasche, Ulrich: Studien zur Habilitation und zur Kollektivbiographie Jenaer Privatdozenten 1835–1914. In: Steinbach/Gerber (Hg.): „Klassische Universität“ und „akademische Provinz“, 129–191; Paletschek, Sylvia: Die permanente Erfindung einer Tradition. Die Universität Tübingen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik. Stuttgart 2001 (Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 53), 225–309; Emundts-Trill, Petra: Die Privatdozenten und Extraordinarien der Universität Heidelberg 1803–1860. Frankfurt am Main u. a. 1997 (Europäische Hochschulschriften III/764); Busch, Alexander: Die Geschichte des Privatdozenten. Eine soziologische Studie zur großbetrieblichen Entwicklung der deutschen Universitäten. Stuttgart 1959 (Göttinger Abhandlungen zur Soziologie unter Einschluß ihrer Grenzgebiete 5); Nauck, E[rnst] Th[eodor]: Die Privatdozenten der Universität Freiburg i. Br. 1818–1955. Freiburg im Breisgau 1956 (Beiträge zur Freiburger Wissenschafts- und Universitätsgeschichte 8). 35 Beckhaus, F[riedrich] W[ilhelm] K[onrad]: Die Stellung der Privatdocenten. Leipzig 1858, 7f. 36 Ders.: Abschiedswort in Sachen der Privatdocenten. Königsberg 1860, 3.

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Joachim Bahlcke Abb. 2: Mit seiner 1877 unter dem Pseudonym „Bonaventura Sauerampfer“ publizierten Gelehrtensatire über das Leben und Leiden von Privatdozenten lieferte der aus Heidelberg gebürtige Mediziner Gustav Waltz das Porträt einer Statusgruppe, deren Bedeutung während des 19. Jahrhunderts immer mehr zunahm. Zum Erfolg des Buches trugen auch die Illustrationen von Adolf Oberländer bei, der typische Szenen einer akademischen Laufbahn in schlichten Zeichnungen festhielt: die anfänglich hohen Karriereerwartungen, den Habitus der etablierten Ordinarien, die um sich greifende Ernüchterung über ausbleibende Hörer. „Ihm dünkt die Stellung doch prekär, Doch etwas zweifelhaft die Ehr’, Am Hochschulwagen – welche Pein! – Das siebte, achte Rad zu sein.“ Oft erst am Lebensabend folgte dann zumindest der Aufstieg zum Extraordinarius. Bildnachweis: Projektbereich Schlesische Geschichte an der Universität Stuttgart.

sprüchliche Rechtsstellung der habilitierten Fakultätsmitglieder und darüber hinaus die grundsätzliche Frage des Selbstergänzungsrechts der Universitäten standen vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Spannungsfeld zwischen Hochschulautonomie und Staatskontrolle.37 Die im Zuge jener Auseinandersetzungen entstandene Fachliteratur und Publizistik liefert reiches Anschauungsmaterial für Forschungen zur Entwicklung der Habilitation und der Statusgruppe der Privatdozenten.38 Gleiches gilt 37 Bruch, Rüdiger vom: Universitätsreform als soziale Bewegung. Zur Nicht-Ordinarienfrage im späten Deutschen Kaiserreich [1984]. In: ders.: Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Björn Hofmeister und Hans-Christoph Liess. Stuttgart 2006, 186–197. 38 Hinschius, [Paul]: Die Disciplin über die Privatdozenten an den preußischen Universitäten. In: Centralblatt für die gesammte Unterrichts-Verwaltung in Preußen (1895) 752–776; Jastrow, I[gnaz]: Die Stellung der Privatdozenten. Berlin 1896; Paulsen, Friedrich: Die deutschen Universitäten und die Privatdozenten. In: Preußische Jahrbücher 83 (1896) 121–144; Daude, P[aul]: Die Rechtsverhältnisse der Privatdozenten. Zusammenstellung der an den Universitäten Deutschlands und Oesterreichs, sowie an den deutschsprachlichen Universitäten der Schweiz über die rechtliche Stellung der Privatdozenten erlassenen Bestimmungen. Berlin 1896; Bornhak, Conrad: Die Rechtsverhältnisse der Hochschullehrer in Preußen. Berlin 1901; Horn, Ewald: Zur Geschichte der Privatdozenten. In: Mitteilungen der Gesellschaft für deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte 11 (1901) 26–70; Eulenburg, Franz: Der „akademische Nachwuchs“. Eine Untersuchung über die Lage und die Aufgaben der Extraordinarien und Privatdozenten. Leipzig/ Berlin 1908.

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für belletristische Texte, waren doch im Kaiserreich längst „die Leiden der Privatdozenten und die Bosheit der Ordinarien zu einem literarischen Motiv“ ­geworden.39 Beispiele dafür bietet auch die Universität Breslau. Man darf annehmen, dass die aus der schlesischen Hauptstadt gebürtige Schriftstellerin Bianca Bobertag in ihrem satirischen, 1888 unter Pseudonym veröffentlichten Universitätsroman Roderich Klinghart. Eine Abenteurer-Geschichte aus den höchsten und allerhöchsten Bildungskreisen vor allem die heimische Hochschule vor Augen hatte.40 Dort hatte sich nicht nur ihr Vater, ein Physiker, habilitiert und bis zu seinem Lebensende als professor extraordinarius gelehrt, dort war auch ihr Mann, Felix Bobertag, tätig, der nach seiner Habilitation zum Privatdozenten für Neuhochdeutsche Sprache und Literatur 1874 nahezu zwei Jahrzehnte auf die Verleihung des Titels eines Professors hatte warten müssen.41 Jenseits dieses sozialgeschichtlichen Kontextes wird man in Breslau gleichwohl einige Besonderheiten vorfinden, die sich vor allem aus der Neugründung im Jahr 1811, als die Frankfurter Viadrina mit der Breslauer Leopoldina zusammengelegt wurden, erklären lassen. Auch wenn ältere Traditionen namentlich aus Frankfurt an der Oder noch länger nachwirkten, so war doch der Einfluss der preußischen Universitätsreform bereits in der Gründungsphase unverkennbar. Der Wille zur Erneuerung nach dem Vorbild der preußischen Hauptstadt, die „Übernahme eines ‚Berliner Modells‘“,42 lässt sich nicht nur im Hinblick auf die Verfassung und den Aufbau der Universität erkennen, sondern auch bei der Neufassung der Habilitationsanforderungen. Die Vielzahl der teils langjährigen Konflikte in dieser Frage, die in allen Fakultäten zu beobachten sind, zeigt letztlich nur, dass man die höheren Anforderungen von Beginn an ernst nahm.43 Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist der Fall des aus Breslau gebürtigen Ernst Theodor Ludwig Rambach, der in Jena den Doktor der Philosophie erworben hatte und mit dieser Qualifikation an der Universität seiner Heimatstadt unter die Privatdozenten aufgenommen werden wollte. Sein Gesuch um sofortige Habilitation, das er 1820 an die in Breslau lehrenden Henrik Steffens und Ludwig Thilo gerichtet hatte, wurde jedoch abgelehnt: Die Philosophische Fakultät bestand auf Einhaltung der vorgeschriebenen Regularien. Da Rambach mit seiner Weigerung, weitere Prüfungen 39 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Kroll, Wilhelm: Der akademische Nachwuchs. In: Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst 67 (1908) 637–642, hier 638. 40 Wasservogel, Irenäus [d. i. Bobertag, Bianca]: Roderich Klinghart. Eine Abenteurer-Geschichte aus den höchsten und allerhöchsten Bildungskreisen. Leipzig 1888. Zur Einordnung des Werks vgl. Kolk: Berlin oder Leipzig?, 82f. 41 ������������������������������������������������������������������������������������������ Lummer, Otto: Physik. In: Kaufmann (Hg.): Festschrift, Bd. 2, 440–448; Donien, Jürgen: Bobertag, Felix Karl. In: König, Christoph (Hg.): Internationales Germanistenlexikon 1800–1950, Bd. 1. Berlin/New York 2003, 209–210. 42 Becker, Thomas: Diversifizierung eines Modells? Friedrich-Wilhelms-Universitäten 1810, 1811, 1818. In: Bruch, Rüdiger vom (Hg.): Die Berliner Universität im Kontext der deutschen Universitätslandschaft nach 1800, um 1860 und um 1910. München 2010 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 76), 43–69, hier 56. Kritischer in diesem Punkt Schubert: Die Geschichte der Habilitation, 122–129. 43 Kaufmann: Festschrift, Bd. 1, 11–23, 36f.

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zu absolvieren, nicht durchdrang, machte er seinen Fall durch mehrere polemische Publikationen in den folgenden Jahren öffentlich.44 Die nicht weniger bissigen Reaktionen, zu denen auch Steffens beitrug, ließen allerdings nicht lange auf sich warten: Um „gleichsam die ganze Welt, wenigstens das Vaterland, gegen die phil[osophische] Facultät zu Breslau zu alarmiren“, lasse Rambach „einen förmlichen Aufruf an die Edleren in Breslau, seiner Vaterstadt, und im ganzen übrigen Deutschland ergehen, um auch diese für seine Sache zu gewinnen. Vorzüglich ermahnt er die Bewohner Breslau’s, eingedenk der grossen Männer, [Christian] Wolf und [Christian] Garve, welche aus ihrer Mitte hervorgingen, auch seiner sich thätigst anzunehmen, da er seiner Vaterstadt schon jetzt nicht weniger als diese zur Zierde gereiche.“45 Durchzusetzen vermochte sich Rambach gegenüber der Universität Breslau nicht. Immerhin aber, so ein Leipziger Gelehrter 1828 ironisch, habe er durch seinen jahrelangen Streit mit der Fakultät „eine gewisse Celebrität“ erlangt.46 Eine einheitliche Habilitationsordnung gab es in Preußen, dem Einzelstaat mit den meisten Hochschulen im Deutschen Bund, nicht.47 In Breslau waren die einschlägigen Bestimmungen Teil der Statuten, die die Universität durch eine königliche Verordnung am 21. Februar 1816 empfangen hatte. Im achten Abschnitt „Von den Vorlesungen bei der Universität“ hieß es in § 2: „Das Recht, Vorlesungen bei der Universität zu halten, wird erworben: 1) durch eine ordentliche oder ausserordentliche Professur; 2) von Privatdozenten durch Habilitation in derjenigen Fakultät, zu welcher die zu haltenden Vorlesungen gehören.“48 Details enthielt § 5: „Privatdozenten müssen sich in der Fakultät, in welcher sie lesen wollen, habilitiren, und haben hierbei zugleich mit der Meldung zur Habilitation die Fächer anzuzeigen, über welche sie Vorlesungen zu halten gesonnen 44 Rambach, Ernst Theodor Ludwig: Ideale und Reale Philosophie, in einer wahren merkwürdigen Begebenheit und in einer Reihe dadurch veranlaßter philosophischer Aufsätze und Abhandlungen nach Grundsätzen seines Systems, den Edleren seiner Mitbürger zur Wahl ausgestellt. Leipzig 1821; vgl. dazu Rambachs „Ankündigung“ vom 29. August 1821. In: Literarischer Anzeiger (zu den in der Buchhandlung Brockhaus in Leipzig erscheinenden Zeitschriften) 28 (1821), unpaginiert; ders.: Dreißig und einige Lügen, Helfer in Nöthen von Zwanzig und einigen Fehlern [...]. Breslau 1822; ders.: Der neueste Streit für die Ehre der Logik und Gründlichkeit mit einem der vornehmen Geister unsrer Zeit [...]. Leipzig 1824. 45 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Rezension zu Rambach: Ideale und Reale Philosophie. In: Ergänzungsblätter zur Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung 9/2 (1821) Sp. 252–256, hier Sp. 256. Vgl. ferner den überaus präzisen Artikel „Polemik“. In: Leipziger Literatur-Zeitung, Nr. 134–135 (1824) Sp. 1065–1077. 46 Krug, Wilhelm Traugott: Allgemeines Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, nebst ihrer Literatur und Geschichte, Bd. 3. Leipzig 1828, 373. 47 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Evers, Hans-Ulrich: Lehrbefähigung und Lehrbefugnis. In: Flämig, Christian u. a. (Hg.): Handbuch des Wissenschaftsrechts, Bd. 1. Berlin/Heidelberg/New York 1982, 453–476, hier 453– 455; Daude: Die Rechtsverhältnisse der Privatdozenten, 3. 48 Statuten der Universität Breslau vom 21. Februar 1816. In: Koch, Johann Friedrich Wilhelm: Die Preussischen Universitäten. Eine Sammlung der Verordnungen, welche die Verfassung und Verwaltung dieser Anstalten betreffen, Bd. 1: Die Verfassung der Universitäten im Allgemeinen. Berlin/Posen/Bromberg 1839, 318–341, hier 337. Zur Verfassung der Universität in den ersten Jahrzehnten vgl. Kaufmann: Festschrift, Bd. 1, 125–158.

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Abb. 3: Auch in anderen Universitätsstädten wurde über Personalangelegenheiten der 1811 neu gegründeten Universität Breslau regelmäßig berichtet. Artikel wie der hier abgebildete aus der Leipziger Literatur-Zeitung erlaubten es jüngeren Wissenschaftlern, sich ein Bild der einzelnen Hochschulen zu machen, die Wege anderer Akademiker zu verfolgen und Namen möglicher Kontaktpersonen in Erfahrung zu bringen. Bildnachweis: Projektbereich Schlesische Geschichte an der Universität Stuttgart.

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Joachim Bahlcke Abb. 4: An der Universität Breslau waren die Bestimmungen über das Verfahren der Habilitation Teil der Statuten, die die Universität durch eine königliche Verordnung am 21. Februar 1816 empfangen hatte. Einzelheiten enthielt das Reglement für die Philosophische Fakultät, das am 13. September 1840 vom ­Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten in Berlin erlassen wurde. Die hier abgebildete Einladung zur öffentlichen Vorlesung eines Habilitanden stammt aus einer Akte des Universitätsarchivs Breslau, die wie viele andere Unterlagen starke Brandspuren aus dem Zweiten Weltkrieg aufweist. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 191.

sind. Nur in Bezug auf diese erhalten sie die Erlaubniß, zu lesen. – Zur Habilitation können sich nur solche melden, welche den Doktorgrad, und bei den beiden theologischen Fakultäten und der philosophischen Fakultät auch solche, welche den Licentiatengrad haben. Die Habilitation geschieht durch eine öffentliche Vorlesung im freien Vortrage über ein Thema, welches von der Fakultät aufgegeben, oder mit Beistimmung derselben von dem Aspiranten gewählt wird, nachdem die Fakultät vorher, auf die in dem Reglement bestimmte Art sich von der Fähigkeit des Aspiranten vergewissert hat. Uebrigens hängt es lediglich von dem Urtheil derselben über den Aspiranten ab, ob er die Erlaubniß zu lesen erhalten könne, und es steht ihr frei, denselben nach Befinden abzuweisen.“49 Nähere Bestimmungen enthielten die einzelnen Fakultätsreglements, die bereits 1816 angekündigt worden waren, dann aber erst am 13. September 1840 vom Ministerium der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten in Berlin erlassen wurden.50 Im Reglement für die Philosophische Fakultät wurden im dritten Abschnitt 49 Koch: Die Preussischen Universitäten, 337. 50 Nikel, Johannes: Die katholisch-theologische Fakultät. In: Kaufmann (Hg.): Festschrift, Bd. 2, 97–173, hier 105. Genaue bibliographische Nachweise bei Pretzsch, Karl (Bearb.): Verzeichnis der Breslauer Universitätsschriften 1811–1885. Mit einem Anhange, enthaltend die außeror-

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„Von den Privat-Dozenten“ in 13 Paragraphen das Zulassungsrecht, die Erfordernisse der Zulassung, anfallende Gebühren, die Rechte und Pflichten der Privatdozenten sowie deren Beaufsichtigung angesprochen. Diese Bestimmungen sind genauer zu betrachten, um im Anschluss die Diskrepanz von Norm und Wirklichkeit, die Abweichungen zwischen Studiengesetzgebung und Hochschulalltag, schärfer fassen zu können.51 Bei der Zulassung gab es zwei Einschränkungen: Zuzulassen seien zum einen nur „Bewerber einer christlichen Konfession“, zum anderen lediglich „talentierte junge Männer, von denen zu erwarten ist, daß sie sich in der akademischen Laufbahn tüchtig zeigen werden“.52 Der Ausschluss von Juden in akademischen Berufen wurde in Deutschland zu jener Zeit breit und kontrovers diskutiert. Überregionale Bekanntheit erlangte der Fall des aus einer Frankfurter Bankiersfamilie stammenden Heinrich Bernhard Oppenheim, dessen Habilitation in Berlin an seiner jüdischen Herkunft gescheitert war (an der Universität Heidelberg wurde er 1842 allerdings als Privatdozent für Natur-, Staats- und Völkerrecht zugelassen). Eine wichtige Fürsprecherin hatte Oppenheim in ­Bettina von Arnim besessen. Berühmt ist ihre spöttische, die allgemeine Lage der ­Privatdozenten treffend beschreibende Frage an ihren Schwager, den Berliner Rechtsgelehrten Friedrich Carl von Savigny, der die Zulassung zu verhindern suchte: „Nicht einmal Privatdozent werden, nicht einmal verhungern dürfen die Juden in Preußen?“53 In Breslau hatte erstmals 1848 ein Jude einen Antrag auf Habilitation gestellt, ein Jahr nach Erlass des Emanzipationsgesetzes in Preußen, das Juden die Übernahme von Staatsämtern ermöglichte und ihnen den Zugang zu ordentlichen Professuren eröffnete.54 Obwohl das Ministerium Druck ausübte und sich für die Zulassung Karl Siegfried

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dentlichen und Ehrenpromotionen sowie die Diplomerneuerungen. Breslau 1905 [ND Hildesheim/New York 1975], 1. Schubert: Die Geschichte der Habilitation, 136–138. Reglement für die philosophische Fakultät der Königlichen Universität zu Breslau. Breslau 1841. Hier zit. nach der erweiterten Ausgabe des Jahres 1886, 14. Zit. nach Benöhr, Hans-Peter: Der Beitrag jüdischer Juristen zum Aufbau des Rechts- und Sozialstaats im 19. Jahrhundert. In: Brömmelmeyer, Christoph/Ebers, Martin/Sauer, Mirko (Hg.): Innovatives Denken zwischen Recht und Markt. Festschrift für Hans-Peter Schwintowski. Baden-Baden 2017, 837–856, hier 838. Vgl. ferner Schroeder, Klaus-Peter: „Sie haben kaum Chancen, auf einen Lehrstuhl berufen zu werden“. Die Heidelberger Juristische Fakultät und ihre Mitglieder jüdischer Herkunft. Tübingen 2017 (Heidelberger Rechtswissenschaftliche Abhandlungen 16), 54–64; Richarz, Monika: Der Eintritt der Juden in die akademischen ­Berufe. Jüdische Studenten und Akademiker in Deutschland 1678–1848. Tübingen 1974 (­Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 28), 209–211; Henne, Thomas/ Kretschmann, Carsten: Friedrich Carl von Savignys Antijudaismus und die „Nebenpolitik“ der Berliner Universität gegen das preußische Emanzipationsedikt von 1812. Anmerkungen zu einem berühmten Fall der Universitätsgerichtsbarkeit. In: Jahrbuch der Universitätsgeschichte 5 (2002) 217–225. Hahn, Hans-Werner: Zwischen Emanzipation und Restauration. Die Auseinandersetzungen um die preußische Judengesetzgebung zwischen Wiener Kongreß und Judengesetz von 1847. In: Speitkamp, Winfried/Ullmann, Hans-Peter (Hg.): Konflikt und Reform. Festschrift für Helmut Berding. Göttingen 1995, 183–197.

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Günsburgs aussprach, um keine neuerliche Diskussion über die Judengesetzgebung aufkommen zu lassen, entschied sich die Fakultät für eine Ablehnung – nicht wegen der jüdischen Herkunft Günsburgs, sondern aus fachlichen Gründen. „Das Recht der Fakultät, über die Habilitation allein zu entscheiden, ward durch diese Vorgänge neu gestärkt, erst 1859 ließ sie den Dr. Günsburg als Privatdozenten zu.“55 Während die erste im Reglement für die Philosophische Fakultät von 1840 genannte Zulassungsbeschränkung bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts praktisch kaum ins Gewicht fiel, spielte die zweite in einem Großteil der Habilitationsverfahren eine Rolle. Hierin unterschied sich Breslau nicht von anderen Universitäten in Deutschland. Angesichts der nur selten günstigen Berufsaussichten für Privatdozenten waren ökonomische Schwierigkeiten absehbar – vom „applausus“ allein konnte niemand existieren. Die Laufbahnrisiken waren der Fakultät ebenso bewusst wie der Regierung, so dass die Frage des künftigen Unterhalts bereits bei der Selektion der Bewerber berücksichtigt werden sollte.56 Im Reglement wurde denn auch ausdrücklich betont, dass kein Privatdozent, nur weil er länger an der Universität gelehrt habe, „Ansprüche auf eine Professur“ habe; allenfalls seien „verdiente Privat-Dozenten dem Ministerium zu Remunerationen zu empfehlen“.57 Erst seit 1875 gab es in Preußen zusätzlich zu diesen Gratifikationen die Möglichkeit einer Förderung durch den „Staatsfonds von Stipendien für Privatdozenten und andere jüngere für die Universitätslaufbahn voraussichtlich geeignete Gelehrte“.58 Die einzelnen Bestimmungen lassen erkennen, dass die Philosophische Fakultät aus ihrem Recht, die venia legendi zu erteilen, das Recht ableitete, die Lehrtätigkeit der neuen Privatdozenten zu reglementieren und zu kontrollieren.59 Wer als Privatdozent zugelassen werden wollte, hatte der Fakultät ein Gesuch zukommen zu lassen und diverse Unterlagen beizufügen: einen lateinisch geschriebenen Lebenslauf, die Promotionsurkunde, den Nachweis, dass seit der Beendigung des akademischen Trienniums zwei Jahre vergangen seien, eine Liste mit Nennung der geplanten Vorlesungen, eine in lateinischer Sprache verfasste Abhandlung aus den Fächern, über die der Bewerber zu lesen beabsichtige (die „Doktor-Dissertation des Ansuchenden kann zu diesem Zwecke nicht gebraucht werden“), ferner eine Unbedenklichkeitserklärung des Kuratoriums, dass einer Zulassung des Bewerbers keine rechtlichen Gründe entgegenstünden (§ 35).60 55 Kaufmann: Festschrift, Bd. 1, 152. Zu Günsburg vgl. Kayserling, M[eyer]: Bibliothek jüdischer Kanzelredner. Eine chronologische Sammlung der Predigten, Biographieen und Charakteristiken der vorzüglichsten jüdischen Prediger, Bd. 1. Berlin 1870, 15–19. 56 Tütken: Privatdozenten, Bd. 1, 396–401; Schubert: Die Geschichte der Habilitation, 141; Busch: Die Geschichte des Privatdozenten, 109–111. 57 Reglement für die philosophische Fakultät, 19. 58 Pfetsch, Frank R.: Zur Entwicklung der Wissenschaftspolitik in Deutschland 1750–1914. Berlin 1974, 317; Andernach, Norbert: Der Einfluß der Parteien auf das Hochschulwesen in Preußen 1848–1918. Göttingen 1972 (Studien zum Wandel von Gesellschaft und Bildung im Neunzehnten Jahrhundert 4), 65; Busch: Die Geschichte des Privatdozenten, 113f. 59 Kaufmann: Festschrift, Bd. 1, 142–145. 60 Reglement für die philosophische Fakultät, 15 (die nachfolgenden Zitate ebd., 16–18).

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Abb. 5: Von den Breslauer Professoren des 19. Jahrhunderts gibt es keine Darstellung als ­Gruppe. Der abgebildete Holzstich, der anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Universität am ­3. ­August 1861 in einer Leipziger Zeitung erschien, zeigt den Rektor bei seiner Festrede in der Aula Leopoldina vor den in ihrer Amtstracht versammelten Professoren. Von den „etwa 2000 Zuhörern“, von denen in dem Zeitungsartikel die Rede ist, gewinnt der Betrachter allerdings ebenso wenig eine Vorstellung wie vom eigentlichen Lehrkörper der Universität. Bildnachweis: Illustrirte Zeitung. Wöchentliche Nachrichten über alle Ereignisse, Zustände und Persönlichkeiten der Gegenwart [...], Bd. 37, No. 947 vom 24. August 1861, 129.

Derjenige Ordinarius, in dessen Fach die vorgelegte Abhandlung vornehmlich falle, hatte die „Probeschrift“ zu prüfen und über sie ein „motiviertes Gutachten“ zu erstellen. Im Umlaufverfahren sollten die anderen Fakultätsmitglieder Gutachten und Abhandlung in Augenschein nehmen; kam eine einfache Stimmenmehrheit zustande, so war der Bewerber zur Habilitation zugelassen, im andern Fall sei sein Gesuch zurückzuweisen (§ 36). Wer keinen Doktorgrad von einer preußischen Universität vorweisen konnte, hatte zusätzliche Auflagen zu erfüllen (§ 37). Weitere Paragraphen regelten die Leistungen, die der von der Fakultät als „habilitationsfähig“ anerkannte Bewerber daraufhin zu erbringen hatte: die „Probe-Vorlesung“ vor der versammelten Fakultät auf Latein oder „in einem freien deutschen Vortrage“ – gegebenenfalls auch mehrere, sofern Vorlesungen über verschiedene Fächer gehalten werden sollten – und im Anschluss ein Kolloquium (§ 38). Hatte der Bewerber beide Leistungen erfüllt, so musste er noch „über eine von ihm geschriebene, mit Genehmigung der Fakultät und unter der Autorität derselben auf Kosten des Verfassers zum Druck beförderte lateinische Abhandlung

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öffentlich und in lateinischer Sprache disputieren“. War auch diese Leistung mit Erfolg erbracht, so hatte der Bewerber abschließend eine öffentliche Vorlesung über ein von der Fakultät zu beschließendes Thema zu halten. „Genügt er auch in dieser Vorlesung den Anforderungen der Fakultät, so wird ihm von dem Dekan namens der Fakultät und unter beigedrücktem Fakultäts-Siegel ein Attest über seine Zulassung zum PrivatDozenten auf seine Kosten ausgefertigt. In diesem sind die Vorlesungen, für welche der Bewerber sich habilitiert hat, namhaft zu machen.“ (§ 39). Das Reglement für die Philosophische Fakultät aus dem Jahr 1840 erfuhr im Lauf der Zeit mehrfache Änderungen: durch Ministerialreskripte, verschiedene vom Ministerium bestätigte Beschlüsse der Fakultät und Abänderungen der Universitätsstatuten. Die letztlich geringfügigen Modifikationen, die beispielsweise dem Bedeutungsrückgang der geforderten Lateinkenntnisse Rechnung trugen, sind jeweils in den Neudrucken des Reglements aus den Jahren 1886 und 1899 vermerkt; eine eigentliche Modernisierung des Universitätsrechts und in diesem Zusammenhang auch der Habilitationsordnung, wie sie an anderen Universitäten bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erfolgte,61 war in Breslau offenbar nicht notwendig. Der eigentliche Wandel des Habilitationswesens vor dem Ersten Weltkrieg vollzog sich allerdings auch an der schlesischen Landesuniversität in der Praxis, nicht in Folge bürokratischer Setzungen.

III. Die Statusgruppe der Privatdozenten im Lehrkörper der Universität Ähnlich wie an anderen deutschen Universitäten veränderte sich während des langen 19. Jahrhunderts auch in Breslau das Verhältnis der einzelnen Statusgruppen zueinander erheblich. Die Philosophische Fakultät, der nach dem Vorbild Berlins auch die mathematisch-naturwissenschaftlichen Lehrstühle zugeordnet waren, war die mit Abstand größte der fünf Fakultäten. Hier konnte der Lehrbetrieb in den Anfangsjahren nach der Neugründung noch weitgehend von den Ordinarien gestaltet werden. Im Wintersemester 1811/12 standen 18 Professoren lediglich zwei Privatdozenten gegenüber.62 Deren Zahl stieg allerdings im Laufe der Jahre kontinuierlich an. Im Wintersemester 1857/58 gab es erstmals mehr Privatdozenten (17) als etatmäßige Lehrstuhlinhaber (16); hinzu kamen noch fünf habilitierte Dozenten, denen der Sprung auf ein ­Extraordinariat gelungen war.63 Insgesamt lehrten in den ersten fünfzig Jahren, von 1811 bis 1861, 61 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Brocke, Bernhard vom: Die Entstehung der deutschen Forschungsuniversität, ihre Blüte und Krise um 1900. In: Schwinges, Rainer Christoph (Hg.): Humboldt International. Der Export des deutschen Universitätsmodells im 19. und 20. Jahrhundert. Basel 2001 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 3), 367–401. 62 Nadbyl, Bernhard: Chronik und Statistik der Königlichen Universität zu Breslau. Breslau 1861, 14; Kaufmann: Festschrift, Bd. 1, 47. 63 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Nadbyl: Chronik und Statistik der Königlichen Universität zu Breslau, 16. Bei der Zahl der außerordentlichen Professoren und Privatdozenten berücksichtigte Nadbyl diejenigen nicht, die „später durch Ascension vorrückten“ (ebd., 11), die also einen Lehrstuhl übernahmen. Vgl. ferner

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an der Philosophischen Fakultät 57 ordentliche und 21 außerordentliche Professoren sowie 42 Privatdozenten. An den vier anderen Fakultäten (der Medizinischen, der Juristischen und den beiden Theologischen Fakultäten) zusammen lehrten im gleichen Zeitraum lediglich 50 Privatdozenten.64 Diese Zahlen beziehen sich allerdings nur auf die tatsächlich in Breslau lehrenden Dozenten, nicht auf die Zahl der an der Fakultät durchgeführten Habilitationsverfahren; diese liegt deutlich höher. Die Chronik und Statistik der Königlichen Universität zu Breslau, die Bernhard Nadbyl 1861 anlässlich der Feierlichkeiten zum fünfzigjährigen Bestehen der Friedrich-Wilhelms-Universität im Auftrag des Senats zusammengestellt hatte und der die genannten Zahlen entstammen, fand in der Folge keine Fortsetzung.65 Einen gewissen Ersatz stellt zwar die seit dem akademischen Jahr 1886/87 jährlich veröffentlichte Chronik der Königlichen Universität zu Breslau dar, die jeweils über Veränderungen im Lehrkörper der Universität informierte (Abgänge, Zugänge, Beurlaubungen, Auszeichnungen, sonstige Veränderungen). Die Zahlenangaben zur Entwicklung der Privatdozenten, die auch andernorts erfasst wurden, weichen jedoch mitunter voneinander ab. Für 1874/75 führt Hans Adam Stoehr lediglich sechs Privatdozenten an der Philosophischen Fakultät an, neben 25 ordentlichen und elf außerordentlichen Professoren.66 Tatsächlich scheint die Zahl der Extraordinarien und Privatdozenten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts leicht rückläufig gewesen zu sein, während umgekehrt „die Zahl der Ordinarien entsprechend der Spezialisierung der Wissenschaften rasch vermehrt“ wurde.67 So gab es 1891/92 an der Fakultät 31 Ordinarien, aber nur jeweils zwölf außerordentliche Professoren und Privatdozenten. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts stieg dann auch die Zahl der Privatdozenten erneut deutlich an. 1910/11 lehrten an der Philosophischen Fakultät in Breslau neben 41 Ordinarien – unter ihnen zwei Honorarprofessoren – weitere 13  außerordentliche Professoren sowie 36 Privatdozenten.68 Bei der Philosophischen Dieterici, Wilhelm: Geschichtliche und statistische Nachrichten über die Universitäten im preussischen Staate. Berlin 1836, 33. Zu abweichenden Zahlen kam Kux, J[ohann] P[eter]: Organismus und vollständige Statistik des Preußischen Staats aus zuverlässigen Quellen. Leipzig 2 1942, 71, weil er Privatdozenten und Lektoren zu einer Gruppe zusammenfasste. 64 Nadbyl: Chronik und Statistik der Königlichen Universität zu Breslau, 11f. 65 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Es existiert lediglich in Anlehnung an Nadbyls Werk eine handschriftlich überlieferte Fortsetzung bis 1886. Vgl. Becker, Thomas: Patriae doloribus Alma mater nata. Die 50-Jahr-Feiern der drei Friedrich-Wilhelms-Universitäten Berlin, Breslau und Bonn im Vergleich. In: Becker, Thomas/Schaper, Uwe (Hg.): Die Gründung der drei Friedrich-Wilhelms-Universitäten. Universitäre Bildungsreform in Preußen. Berlin/Boston 2013 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 108), 127–145, hier 143. 66 Stoehr, Hans Adam: Königl. Preuß. Universität zu Breslau. In: ders.: Deutsches Akademisches Jahrbuch. Vollständiges Verzeichniß sämmtlicher in Deutschland, Oesterreich, der Schweiz und den deutschen Provinzen Rußlands befindlichen Akademien der Wissenschaften, Universitäten und Technischen Hochschulen, ihrer Mitglieder, Lehrkräfte und Vorstände, Bd. 1. Leipzig 1875, 107–127, hier 117f. 67 Kaufmann: Festschrift, Bd. 1, 242. 68 Ebd.

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und der Medizinischen Fakultät war der Lehrkörper seit Gründung der neuen Oderuniversität besonders stark angewachsen. Bei der Philosophischen Fakultät ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Studenten der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer seit den 1890er Jahren ein deutliches Übergewicht gegenüber denjenigen der philologischen und historischen Fächer erlangten und entsprechend auch der Dozentenanteil innerhalb der Fakultät unterschiedlich zunahm. Überblickt man die Veränderungen im Lehrkörper der Universität Breslau im ersten Jahrhundert ihres Bestehens, so war die Zahl der Privatdozenten, wie Johannes Ziekursch – zu jener Zeit selbst Privatdozent an der Philosophischen Fakultät – im Jubiläumsjahr 1911 konstatierte, am stärksten angewachsen: „sie verdoppelte sich bis 1815/16 auf 8, vervierfachte sich bis 1838, verachtfachte sich bis 1861/62, versechzehnfachte sich bis 1906/07; 1910/11 betrug sie 77 oder den 19fachen Stand des Gründungsjahres. Kamen damals auf einen Privatdozenten 9 Ordinarien, so besitzen gegenwärtig beide Gruppen eine ungefähr gleiche Stärke. Bildeten anfangs die Privatdozenten ein kleines, wohl entbehrliches Anhängsel des Lehrkörpers, mag heute in manchen Fächern starke Überfüllung herrschen, so kann doch die Universität mit ihren Kliniken, Instituten und Seminaren ihrer längst nicht mehr entraten; denn – ganz abgesehen von der gewaltigen Spezialisierung aller Wissenschaften – wenn auch 100 Studenten, wie früher 20, die gleiche Vorlesung hören können, in den Seminaren und Instituten ergeben sich bei den Privatdozenten wie bei den Extraordinarien, wohl auch bei den Studenten starke Wünsche nach mannigfaltigen Reformen, und es entstehen ernste Probleme für die Weiterentwicklung der Universitätsverfassung.“69 Was die quantitative Zunahme der Privatdozenten und die qualitative Verschärfung der damit verbundenen sozialen und rechtlichen Probleme betrifft, unterschied sich Breslau nicht grundlegend von den anderen 21 Universitäten in Deutschland. Blickt man allein auf die elf preußischen Universitäten, so war im Zeitraum zwischen 1870 und 1914 die Zahl der ordentlichen Professoren im Durchschnitt um 78 Prozent, die der unbesoldeten Privatdozenten mit und ohne Professorentitel dagegen um 282 Prozent angestiegen.70 Es liegt auf der Hand, dass hierbei zahlreiche Faktoren, die völlig unabhängig waren von den konkreten Bedingungen der örtlichen Hochschule, eine Rolle spielten – von der generellen Zunahme der Bevölkerung des Reiches über den wachsenden Bedarf an Fachkräften bis hin zu einer zuvor nicht gekannten Differenzierung und Arbeitsteilung in den Wissenschaften.71 69 Ziekursch, Johannes: Universitätshaushalt, Lehrkörper und Studentenzahl. In: Burgemeister, Ludwig u. a. (Hg.): Erinnerungsblätter zum hundertjährigen Jubiläum der Universität Breslau. Breslau 1911, 51–60, hier 58. 70 Die preußischen Universitäten 1870–1914. Eine statistische Übersicht. In: Vom Brocke/Krüger (Hg.): Hochschulpolitik im Föderalismus, 436 (die Berechnung der Zunahme ist dort allerdings falsch). 71 Brocke, Bernhard vom: Berufungspolitik und Berufungspraxis im Deutschen Kaiserreich. In: Hesse/Schwinges (Hg.): Professorinnen und Professoren gewinnen, 55–103, hier 55–64.

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Die in jener Phase im Kaiserreich begründete Bildungs- und Hochschulstatistik hat freilich die Tendenz, vorhandene Unterschiede allzu schnell in den Hintergrund treten zu lassen. Der Blick auf den Werdegang des einzelnen Dozenten ist daher unverzichtbar, um lokale Besonderheiten und Abweichungen ausreichend scharf zu erkennen. Und solche gab es an der Breslauer Universität, die sich während des langen 19. Jahrhunderts als „typische Einstiegs- und Durchgangsuniversität“ erwies,72 auch bei der Habilitationspraxis und der Rekrutierung der Privatdozenten.

IV. Zur Habilitationspraxis in der Breslauer Geschichtswissenschaft Namentlich in den ersten Jahrzehnten der 1811 neu gegründeten Universität ist es nicht immer einfach, in den einschlägigen Fakultätsakten die Habilitationsvorgänge bei den zwei in Frage kommenden Gruppen auseinanderzuhalten: den ordentlichen und außerordentlichen Professoren, die bereits ernannt worden waren, eine Habilitation aber nachträglich innerhalb eines vorgegebenen Zeitraums vorzuweisen hatten, einerseits und denjenigen, die bei der Fakultät eine Zulassung als Privatdozent beantragten und ihre förmliche Aufnahme in den Lehrkörper ebenfalls durch eine Habilitation erwirkten, andererseits. Was die bereits zu ordentlichen oder außerordentlichen Professoren Ernannten betrifft, so gab es hierzu in den Statuten von 1816 keine näheren Erläuterungen.73 Erst das Reglement der Philosophischen Fakultät von 1840 machte es diesem Personenkreis zur Auflage, „sich den vorschriftsmäßigen Habilitations-Leistungen zu unterziehen“.74 Solange diese Leistung nicht erbracht war, wurde der jeweilige Gelehrte im Vorlesungsverzeichnis lediglich als „Professor ordinarius designatus“ beziehungsweise „Professor designatus“ aufgeführt.75

72 Bahlcke: Das Historische Seminar der Universität Breslau, 217. 73 Koch: Die Preussischen Universitäten, Bd. 1, 318–341. 74 Reglement für die philosophische Fakultät, 12. 75 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Die Bezeichnung stand mitunter auch auf den Titelblättern der Ausarbeitungen, die als Habilitationsschrift eingereicht wurden. Vgl. Hagen, Fridericus Henricus von der: Monumenta Medii Aevi Plerumque Inedita, Graeca, Latina, Itala, Franco-Gallica, Palaeogermanica et Islandica. Specimen primum. Vratislaviae 1821. Zum Verfasser, der seit 1811 in Breslau wirkte und sechs Jahre später zum ordentlichen Professur für germanische Philologie ernannt wurde, vgl. Grunewald, Eckhard: Friedrich Heinrich von der Hagen 1780–1856. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Germanistik. Berlin/New York 1988 (Studia Linguistica Germanica 23), 20–25. Die Titulatur findet sich ferner in zahlreichen Lebensläufen und autobiographischen Zeugnissen. Zur akademischen Karriere von Anton Matthias Sprickmann etwa vgl. Meyer, Herbert: Die deutsch-rechtlichen Fächer. In: Kaufmann (Hg.): Festschrift, Bd. 2 214–227, hier 220; Webersinn, Gerhard: Anton Matthias Sprickmann. Erster Ordinarius für Deutsches Recht an der Universität Breslau. In: Schlesien. Eine Vierteljahresschrift für Kunst, Wissenschaft und Volkstum 22 (1977) 17–25; Hegel, Eduard: Anton Matthias Sprickmanns Berufung nach Breslau. Briefe aus dem Sprickmann-Nachlaß der Universitätsbibliothek Münster. In: Iserloh, Erwin/Repgen, Konrad (Hg.):

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Joachim Bahlcke Abb. 6: Eine Habilitation wurde in Breslau bis 1870 auch von außerordentlichen und ordentlichen Professoren erwartet, die neu an die Universität berufen worden waren. Wilhelm Junkmann hatte 1847 in Bonn seine Dissertation verteidigt und sich drei Jahre später in Münster habilitiert; 1854 übernahm er am Lyceum Hosianum im ostpreußischen Braunsberg ein Extraordinariat. Als er ein Jahr später an der Universität Breslau zum ordentlichen Professor für Geschichte aufstieg, musste auch er eine weitere schriftliche Habilitationsleistung – die noch häufig als „Dissertation“ bezeichnet wurde – vorlegen. Junkmann kam dieser Verpflichtung allerdings erst vier Jahre später nach. Bildnachweis: Projektbereich Schlesische ­Geschichte an der Universität Stuttgart.

Diese scheinbar randseitige Formalie war ein halbes Jahrhundert lang von größerer Bedeutung, als man vordergründig meinen sollte, denn sie berührte einen empfindlichen Streitpunkt zwischen Fakultät und Ministerium. Dem Willen der preußischen Regierung nach sollte jeder von ihr berufene Professor unmittelbar Mitglied der Fakultät sein, alle damit verbundenen Rechte genießen und auch an der Verwaltung des Dekanats teilhaben dürfen. Die Fakultäten dagegen vertraten die Auffassung, dass ein jeder von Berlin berufene Professor zunächst einer in Breslau zu erfolgenden und von den örtlichen Gremien zu kontrollierenden Aufnahme bedürfe. Einen entsprechenden Beschluss fasste die Philosophische Fakultät bereits in ihrer ersten Sitzung am 23. Oktober 1811.76 Es ging mithin vorrangig darum, nach außen hin die eigene Autonomie zu unterstreichen und die kritisch beäugte Entscheidungsbefugnis des Ministeriums in Berufungsfragen zumindest symbolisch einzuschränken. Die wichtigsten Bestimmungen zu den aus Sicht der Philosophischen Fakultät notwendigen Habilitationsleistungen enthielt § 31 des Reglements: Demnach sollte, wer zum außerordentlichen Professor ernannt worden war, „eine lateinische Abhandlung schreiben, dieselbe auf seine Kosten drucken lassen und unter Zuziehung eines Respondenten verteidigen, ohne Unterschied, ob er von auswärts kommt oder bereits Reformata reformanda. Festgabe für Hubert Jedin zum 17. Juni 1965, Bd. 2. Münster Westf. 1965 (Reformationsgeschichtliche Studien und Texte. Suppl.-Bd. 1/2), 431–446. 76 Kaufmann: Festschrift, Bd. 1, 34–37.

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an der Breslauer Universität gelehrt hat“. In gleicher Weise sollte verfahren werden, sofern jemand zum ordentlichen Professor ernannt wurde, „der nicht schon anderswo ordentlicher Professor gewesen ist, oder als außerordentlicher Professor in Breslau den ihm als solchem obliegenden Habilitations-Leistungen noch nicht genügt hat“; wer dagegen bereits auf einer anderen Universität als ordentlicher Professor angestellt war oder sich in Breslau zufolge seiner Ernennung zum außerordentlichen Professor den erforderlichen Habilitationsleistungen unterzogen habe, sollte nach seiner Beförderung zum ordentlichen Professor „die Wahl haben, ob er eine in Druck gegebene lateinische Abhandlung verteidigen, oder ob er eine Antrittsrede halten will, zu welcher er durch ein, irgend einen wissenschaftlichen Gegenstand behandelndes, von ihm verfaßtes und auf seine Kosten gedrucktes lateinisches Programm einzuladen hat“. Für den Fall, dass die genannten Personen wegen fehlenden philosophischen Doktorgrads ohnehin in Breslau disputieren müssten, bedürfe es „keiner besonderen Leistung zum Behufe der Habilitation“. Schließlich behielt sich das Ministerium vor, „in geeigneten Fällen überhaupt von den Habilitations-Leistungen zu dispensieren“.77 Alle genannten Varianten, zu denen mitunter noch individuelle Sonderbestimmungen traten, lassen sich unter den Professoren der Philosophischen Fakultät während der ersten Jahrzehnte finden.78 Nur selten wurde in den ersten Jahrzehnten die zeitliche Vorgabe für die Publikation der wissenschaftlichen Abhandlung eingehalten, die lange Zeit unter dem Begriff „Antritts-Programm“ – als eine für den Antritt der Professur erwartete Studie79 – firmierte. So veröffentlichte beispielsweise der aus Zerbst gebürtige Historiker Gustav Adolf Harald Stenzel, der am 11. April 1820 zum außerordentlichen Professor für Geschichte, Geographie und Statistik an der Philosophischen Fakultät ernannt worden war, seine in lateinischer Sprache verfasste Habilitationsschrift über die markgräfliche Gewalt in deutschen Territorien – die nach altem Herkommen weiterhin als „Dissertation“ bezeichnet wurde – erst vier Jahre später.80 Sieben Jahre später wurde Stenzel dann zum ordentlichen Professor ernannt.81 77 Reglement für die philosophische Fakultät, 12f. 78 Wertvoll sind in diesem Zusammenhang die biographisch-bibliographischen Informationen bei Pretzsch (Bearb.): Verzeichnis der Breslauer Universitätsschriften 1811–1885, 289–304; Nadbyl: Chronik und Statistik der Königlichen Universität zu Breslau, 45–51. 79 Gelehrte Anzeigen der k. bayerischen Akademie der Wissenschaften Nr. 6 vom 13. Juli 1855, Sp. 53f. (zur Verleihung einer außerordentlichen Professur an Gustav Adolf Harald Stenzel an der Universität Breslau 1820 und der „zu ihrem Antritt“ verfassten Abhandlung). 80 Stenzel, Gustavus Adolphus Haraldus: De Marchionum In Germania Potissimum Qui Saeculo Nono Extitere Origine Et Officio Publico Dissertatio. Wratislaviae 1824. Der philosophische Doktorgrad war Stenzel 1815 an der Universität Leipzig verliehen worden (ders.: De Ducum Germanorum Post Tempora Caroli Magni Origine et Progressu Dissertatio Prima. Lipsiae 1816). Die Tatsache, dass beide Qualifikationsschriften als „Dissertation“ bezeichnet wurden, führte bei Stenzel wie auch bei anderen Gelehrten immer wieder zu Verwechslungen. 81 �������������������������������������������������������������������������������������������� Zu Stenzels wissenschaftlichem Werdegang vgl. Stenzel, Karl Gustav Wilhelm: Gustav Adolf Harald Stenzels Leben. Gotha 1897; Rachfahl, Felix: Gustav Adolf Harald Stenzel. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 11 (1898) 1–31.

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Den Lehrstuhl Stenzels übernahm nach dessen Tod 1854 der aus Danzig stammende Historiker Richard Roepell, der seine akademische Ausbildung an den Universitäten Halle und Berlin absolviert hatte. Roepell war 1834 in Halle promoviert worden – die Dissertation war bereits zwei Jahre zuvor im Druck erschienen – und hatte sich dort noch im gleichen Jahr mit einer weiteren, auf Latein verfassten Abhandlung habilitiert.82 Er unterrichtete mehrere Jahre als Privatdozent und Gymnasiallehrer in Halle, bevor er am 12. Mai 1841 auf ein Extraordinariat an die Universität Breslau berufen wurde. Die dort notwendige Habilitationsschrift veröffentlichte er jedoch erst am 7. August 1855, zu einem Zeitpunkt also, als er längst zum ordentlichen Professor befördert worden war.83 Roepell zählt damit zu der von Georg Kaufmann genannten Gruppe von Extraordinarien, denen es gelang, „die Sache so lange zu verschieben, bis sie zu Ordinarien ernannt wurden und nun beide Pflichten in einem Akte erledigten“.84 Auch bei denjenigen, die direkt auf eine ordentliche Professur berufen wurden, hielt man in der Regel an den Auflagen des Fakultätsreglements fest. Dies gilt etwa für Wilhelm Junkmann, dessen wechselvoller Werdegang – zu dem auch die Verurteilung zu mehrjähriger Festungshaft und das Verbot, in den preußischen Staatsdienst einzutreten, gehörten – zunächst nicht auf eine akademische Karriere hingedeutet hatte. Junkmann war 1847 in Bonn promoviert worden und hatte sich drei Jahre später in Münster habilitiert; 1854 wechselte er an das Lyceum Hosianum nach Braunsberg (Ostpreußen) und 82 ����������������������������������������������������������������������������������������� Roepell, Richard: Die Grafen von Habsburg. Eine von der Universität zu Halle gekrönte Abhandlung über Genealogie und Besitzungen dieses Geschlechts bis zur Thronbesteigung Rudolfs im J. 1273. Halle 1832; ders.: De Alberto Waldsteinio Fridlandiae Duce Proditore. Halae 1834. In erweiterter Form erschien die „akademische Gelegenheitsschrift“, so Roepell, ein Jahrzehnt später in deutscher Übersetzung. Vgl. ders.: Der Verrath Wallenstein’s an Kaiser Ferdinand II. in: Raumer, Friedrich von (Hg.): Historisches Taschenbuch. Neue Folge, 6. Jg. Leipzig 1845, 239–306. 83 Ders.: Schlesien’s Verhalten zur Zeit der böhmischen Unruhen. März bis Juli 1618. Breslau 1855. Die Studie erschien als selbständiger Druck („Zur Uebernahme der ordentl. Professur der Geschichte an der Universität zu Breslau am 7. Aug. 1855, Vorm. 11 Uhr öffentlich vertheidigt“), wurde aber zeitgleich auch im ersten Band der neubegründeten Zeitschrift des Breslauer Geschichtsvereins publiziert. Vgl. ders.: Das Verhaltens Schlesiens zur Zeit der böhmischen Unruhen. März bis Juli 1618. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1/1 (1855) 1–32. Zu Roepells wissenschaftlichem Werdegang vgl. Barelkowski, Matthias: Die Teilungen Polen-Litauens interpretieren. Richard Roepell und Jakob Caro – zwei deutsche „Polenhistoriker“ zwischen Wissenschaft und Politik. In: Bömelburg, Hans-Jürgen/Gestrich, Andreas/ Schnabel-Schüle, Helga (Hg.): Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen. Osnabrück 2013, 105–154; Knot, Antoni: ­Ryszard Roepell 1808–1893 (Związki z Polską). In: Przegląd Zachodni 9 (1953) 108–168; Reimann, Eduard: Ueber die Lehrthätigkeit Richard Röpells in den ersten vier Jahren seines Breslauer Aufenthalts. In: Silesiaca. Festschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens zum siebzigsten Geburtstage seines Präses Colmar Grünhagen. Breslau 1898, 379–384; Caro, J[acob]: Richard Roepell. In: Chronik der Königlichen Universität zu Breslau für das Jahr vom 1. April 1893 bis zum 31. März 1894, Bd. 8. Breslau 1894, 99–119. 84 Kaufmann: Festschrift, Bd. 1, 36.

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übernahm dort ein Extraordinariat.85 Nur ein Jahr später, am 21. März 1855, wurde er an der Universität Breslau zum ordentlichen Professor für Geschichte ernannt. Auch in diesem Fall dauerte es vier Jahre, bis die schriftliche Habilitationsleistung („Dissertatio historica“) endlich vorgelegt wurde.86 Die Bestimmungen des Reglements der Philosophischen Fakultät zu den einzelnen Habilitationsleistungen, die an der Universität Breslau auch von den bereits ernannten ordentlichen und außerordentlichen Professoren zu erbringen waren, wurden schließlich am 17. September 1870 durch den preußischen Kultusminister Heinrich von Mühler außer Kraft gesetzt. Die Formulierung „in Betracht der seither gemachten Erfahrungen“, die sich in dem Reskript findet,87 deutet zumindest vorsichtig an, dass sich die Auflagen in der Praxis nicht bewährt hatten. Tatsächlich hatte es noch bis in die 1860er Jahre hinein oftmals kleinlichen Streit um die Erfüllung der genannten Forderungen und die Festsetzung möglicher Alternativen gegeben – die Zahl der Anträge, in denen Ordinarien beim Dekan um einen Aufschub ihrer zu erbringenden Leistungen ersuchten, ist beachtlich.88 Auch die Frage, ob die Universitätsprofessoren vor Abschluss des Habilitationsverfahrens an der Wahl des Rektors und der Senatoren teilnehmen durften oder nicht, hatte wiederholt ein Eingreifen des Ministeriums notwendig gemacht. Insofern ist das kritische Urteil Kaufmanns in seiner Festschrift von 1911 nachvollziehbar: „im ganzen zeigte sich doch schon in den ersten Jahren der Breslauer Universität, daß jene alte Form der Habilitation überlebt sei. Alle Fakultäten, auch die philosophische, haben von Anfang an Schwierigkeiten gehabt, ihre neu eintretenden Mitglieder zur Leistung dieser Aufgaben zu bringen.“89 Nicht zuletzt erregte auch die Frage, ob die Beherrschung des Lateinischen weiterhin gefordert werden könne, regelmäßig die Gemüter.90 85 ���������������������������������������������������������������������������������� Iunkmann, Guilelmus: De Vi Ac Potestate Quam Habuit Pulchri Studium In Omnem Graecorum Et Romanorum Vitam. Bonnae 1847. Zu Junkmanns wissenschaftlichem Werdegang vgl. neben der älteren, zum Teil unzuverlässigen Biographie von Nettesheim, Josefine: Wilhelm Junkmann. Dichter, Lehrer, Politiker, Historiker 1811–1886. Nach neuen Quellen bearbeitet. Münster Westfalen 1969, vor allem Mütter, Bernd: Die Geschichtswissenschaft in Münster zwischen Aufklärung und Historismus. Unter besonderer Berücksichtigung der historischen Disziplin an der Münsterschen Hochschule. Münster/Westf. 1980 (Geschichtliche Arbeiten zur westfälischen Landesforschung. Geistesgeschichtliche Gruppe 1); ders.: Die Geschichtswissenschaft an der alten Universität und Akademie Münster von der Aufklärung bis zum Historismus (1773 bis 1902). In: Westfälische Zeitschrift. Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde 126/127 (1976/77) 141–162, hier 151f. 86 �������������������������������������������������������������������������������������� Junkmann, Guilelmus: De Peregrinationibus Et Expeditionibus Sacris Ante Synodum Claromontanam. Vratislaviae 1859. 87 Ministerial-Blatt für die gesammte innere Verwaltung in den Königlich Preußischen Staaten. 32. Jg. 1871. Berlin 1872, 43f.; Reglement für die philosophische Fakultät, 12. 88 Vgl. exemplarisch Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 10: Kutzen an Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau, Breslau 23. August 1845. 89 Kaufmann: Festschrift, Bd. 1, 36. 90 �������������������������������������������������������������������������������������������� Diese Frage wurde auch öffentlich immer wieder thematisiert. Zu der genannten Habilitationsschrift Wilhelm Junkmanns etwa meinte 1859 der Breslauer evangelische Theologieprofessor Wil-

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Wesentlich interessanter als diese Gruppe ist naturgemäß der deutlich größere Kreis der Nachwuchswissenschaftler, die bei der Philosophischen Fakultät eine Habilitation als Privatdozent anstrebten; zu ihm liegt überdies ein ungleich umfangreicherer Aktenbestand vor. Die Entscheidung, wer dabei als Historiker zu betrachten ist, fällt allerdings gerade in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schwer, zumal bei Bedarf auch Lehrkräfte anderer Fächer für historische Vorlesungen eingebunden wurden. 1846 etwa teilte das Kultusministerium der Philosophischen Fakultät nach Prüfung des Lehrangebots mit, sie müsse „in Zukunft der alten Geschichte eine größere Aufmerksamkeit zuwenden“ und dafür Sorge tragen, dass diese in einem bestimmten Zyklus und mit Rücksicht auf die Vollständigkeit des akademischen Unterrichts gelesen werde; für diese Aufgabe sei auch die Verwendung von Julius Athanasius Ambrosch denkbar.91 Der gebürtige Berliner, den man 1834 auf ein Extraordinariat nach Breslau berufen hatte, war seit 1839 Ordinarius für Archäologie und Klassische Philologie.92 Wie Ambrosch wurden Gelehrte nicht nur anderer Fächer, sondern auch anderer Fakultäten für die akademische Lehre der Geschichtsstudenten eingesetzt. Diese Personen, die eine Außenseiterrolle spielten, bleiben im Folgenden unberücksichtigt. Hinzu kommt, dass man sich mit seinem Gesuch an die Philosophische Fakultät zunächst nicht für ein bestimmtes Fach zu qualifizieren suchte. Im Prinzip war jeder zugelassene Dozent berechtigt, über sämtliche in der Fakultät vertretenen Fächer Vorlesungen zu halten, und auf dieses Verständnis der venia legendi hin waren auch alle mündlichen wie schriftlichen Prüfungen bei Promotions- und Habilitationsverfahren angelegt.93 Wie andere Nachwuchswissenschaftler seiner Generation äußerte Joseph August Kutzen in einem 1831 der Philosophischen Fakultät vorgelegten Antrag lediglich den Wunsch, sich in Breslau „als Privatdocent [...] habilitiren zu dürfen“; erst die Prüfungskommission erklärte nach Abschluss des Verfahrens, dass der zwei Jahre zuvor in Breslau „rite promovirte“ und nun mit Erfolg habilitierte Kandidat befähigt sei, Lehrveranstaltungen an der Universität anzubieten und gleichzeitig „Unterricht in den beiden alten Sprachen und in der Geschichte in allen Klassen der Gymnasien auch in den obersten zu ertheilen“.94 Zwei Jahre später lag der Fakultät ein Antrag von Carl 91 92 93 94

helm Böhmer, das „Latein dieser Schrift“ sei zwar „nicht durchweg classisch“, immerhin aber „doch einfach und klar“. Böhmer, Wilh[elm]: Rezension zu Junkmann: De Peregrinationibus Et Expeditionibus Sacris. In: Theologisches Literaturblatt, 36. Jg., No. 22 vom 28. Mai 1859, Sp. 503f. Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 11–12: Preußisches Kultusministerium an Philosophische Fakultät der Universität Breslau, Berlin 28. Oktober 1846. Kinne, Johanna: Die Klassische Archäologie und ihre Professoren an der Universität Breslau im 19. Jahrhundert. Eine Dokumentation. Dresden 2010, 157–225. Anschauliche Beispiele zur „Mannigfaltigkeit der Fächer“, die jeweils geprüft wurden, und zu den daraus bereits im frühen 19. Jahrhundert resultierenden Konflikten liefert Kaufmann: Festschrift, Bd. 1, 141–143. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 3, Bd. 3, Bl. 183: Kurator der Universität Breslau an Preußisches Kultusministerium, Breslau 2. September 1831. Zu Kutzens akademischem Werdegang vgl. Schmidt, Ferdinand: Leben und Bildungsgang des Verfassers. Nach brieflichen Mittheilungen zusammengestellt. In: Kutzen, Joseph:

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Halling vor. Dieser gedenke, wie der Kurator dem Kultusinisterium in Berlin mitteilte, „bey hiesiger Universität, nach seiner Habilitation als Privatdozent, Vorlesungen über Geschichte und Geographie, besonders der älteren Zeiten, zu halten“.95 Bei Karl Heinrich Lachmann hieß es 1836 wiederum lediglich, dieser wolle sich in der Philosophischen Fakultät „als Privat Docent für das Fach der Geschichte habilitiren“.96 Nahezu wortgleich war das entsprechende Schreiben zur Bewerbung von Bruno Hildebrand im gleichen Jahr.97 Auf der anderen Seite konnte man sowohl bei der Dissertation als auch bei der Habilitation ein geschichtswissenschaftliches Thema ausarbeiten, im Anschluss aber den Schwerpunkt auf ein anderes Fach verlagern und in diesem sogar Karriere machen. Dies zeigt der akademische Werdegang von Karl Gustav Kries, der in beiden Qualifikationsschriften 1838 und 1839 in Breslau historische Fragestellungen untersucht und danach entsprechende Vorlesungen (etwa „Geschichte der Vereinigten Staaten“, „Ueber den deutschen Zollverein“) angeboten hatte, sich mit der Zeit aber als Experte für Nationalökonomie profilierte und einige Jahre später ein Extraordinariat für Staatswissenschaften übernahm.98 Auch der eben genannte Bruno Hildebrand übernahm später – 1841, an der Universität Marburg – einen Lehrstuhl für Staatswissenschaften. Im Laufe der Jahre wurden die Anträge an die Fakultät zwar zunehmend konkreter, die eindeutige Qualifikation für ein bestimmtes Fach blieb jedoch noch lange die Ausnahme. 1839 zum Beispiel bat der Kurator der Breslauer Universität das Kultusministerium, Theodor Jacobi „als Privat-Docenten für die Geschichte, Litteratur-Geschichte

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Aus der Zeit des siebenjährigen Krieges. Umrisse und Bilder deutschen Landes, deutscher Thaten, Charaktere und Zustände. Berlin [1863] (Deutsche National-Bibliothek. Volksthümliche Bilder und Erzählungen aus Deutschlands Vergangenheit und Gegenwart 8), VII–XXIV. Die Aussage, Kutzen habe die „Laufbahn eines akademischen Lehrers“ eingeschlagen und sich „als Privatdocent der Geschichte an der Breslauer Universität“ habilitiert (ebd., XIV), ist missverständlich. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 3, Bd. 4, Bl. 24: Kurator der Universität Breslau an Preußisches Kultusministerium, Breslau 3. Mai 1833. Zu Hallings akademischem Werdegang vgl. Goedeke, Karl: Grundriß zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen, Bd. 17. Bearb. v. Herbert Jacob. Berlin 1989, 529–531. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 3, Bd. 4, Bl. 107–108: Kurator der Universität Breslau an Preußisches Kultusministerium, Breslau 27. Juni 1836. Zu Lachmann vgl. dessen autobiographische Angaben in Lachmann, K[arl] H[einrich]: Mein Blödsinnsprozeß. Zwei Eingaben und eine Nachschrift. Hirschberg 1848. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 3, Bd. 4, Bl. 115: Kurator der Universität Breslau an Preußisches Kultusministerium, Breslau 25.  August 1836. Zum akademischen Werdegang Hildebrands vgl. Krawehl, Otto Ernst: Die „Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik“ unter den Herausgebern Bruno Hildebrand und Johannes Conrad (1863 bis 1915). München 1977 (Buch und Zeitschrift in Geistesgeschichte und Wissenschaft 1), 12–27. Kries, C[arolus] G[ustavus]: De Gregorii Turonensis Episcopi Vita Et Scriptis. Vratislaviae 1839; ders.: Sententiae controversae [...]. Vratislaviae 1839. Zum akademischen Werdegang von Kries vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 3, Bd. 7, Bl. 35–39, 42–45; Bahlcke: Das Historische Seminar der Universität Breslau, 221f.

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und deutsche Sprache“ zuzulassen.99 Dieser Themenbreite entsprach denn auch Jacobis anschließender Unterricht, der ebenso Vorlesungen zur Kulturgeschichte des Mittelalters vorsah wie Lehrveranstaltungen zum literarischen Werk Goethes oder zu linguistischen Problemen in den germanischen Sprachen. Treffend schrieb der deutsche Philologe Karl Weinhold in seinem Nekrolog auf den 1848 mit nur 32 Jahren verstorbenen Jacobi über dessen fachliche Entwicklung: „Unter geschichte und deutsche sprache und litteratur teilte er von anfang seine lehrtätigkeit, allmählich trat die geschichte sehr zurück und die vergleichende grammatik kam dafür hinzu.“100 In gewisser Weise umgekehrt verlief die Entwicklung bei Gustav Freytag, der sich in Breslau ebenfalls 1839 habilitiert hatte. Er konzentrierte sich anfänglich auf deutsche Sprache und Literatur, Mythologie und Poetik, entwickelte aber immer größere Vorlieben für vergleichende Kultur- und Sittengeschichte, studierte eine große Zahl erzählender Quellen und unternahm überdies aufwendige Archivreisen. Dies war einer der Gründe, warum sich die Konflikte zwischen Freytag, der Fakultät und dem Ministerium mit den Jahren häuften. 1847 schließlich gab Freytag seine bisherige Universitätsdozentur auf, verließ Breslau und begann in Leipzig und Dresden einen neuen Lebensabschnitt als Bühnenautor, Schriftsteller und Journalist.101 An den Breslauer Habilitationsakten ist erkennbar, dass sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts auch an der Philosophischen Fakultät mit ihren zahlreichen Disziplinen eine fachorientierte Qualifikation allmählich durchzusetzen begann. Deutlich wird dies am Fall von Carl Adolf Cornelius, der am 20. Dezember 1850 in Münster promoviert worden war und nur wenige Wochen später, am 20. Januar 1851, beim Preußischen Kultusministerium anfragte, wann er sich „nach Breslau zur Habilitation und zur Eröffnung von historischen Vorlesungen an der dortigen Universität zu verfügen habe“.102 199 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 3, Bd. 5, Bl. 45f.: Kurator der Universität Breslau an Preußisches Kultusministerium, Breslau 3. Dezember 1839. 100 Weinhold, Karl: Zur Erinnerung an Theodor Jacobi. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 5 (1874) 85–98, hier 89 (Kleinschreibung der Substantive im Original). 101 ����������������������������������������������������������������������������������������� Zu den Konflikten zwischen Freytag, der Universität Breslau und dem Preußischen Kultusministerium vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 3, Bd. 5, Bl. 53–55; ebd., Bd. 7, Bl. 57–59, 73, 79–85. Zum Hintergrund vgl. Nissen, Martin: Populäre Geschichtsschreibung. Historiker, Verleger und die deutsche Öffentlichkeit (1848–1900). Köln/Weimar/Wien 2009 (Beiträge zur Geschichtskultur 34), 276–281; Schmidt, Erich: Gustav Freytag als Privatdocent. In: Euphorion. Zeitschrift für Litteraturgeschichte 4 (1897) 91–98. Zur Konkurrenz von Jacobi und Freytag in Breslau finden sich wichtige Quellen in der Edition von Meves, Uwe (Hg.): Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten im 19. Jahrhundert. Dokumente zum Institutionalisierungsprozess, Bd. 1/1. Berlin/New York 2011. 102 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 41, Bd. 1, Bl. 144: Cornelius an Preußisches Kultusministerium, Münster 20. Januar 1851. Zum akademischen Werdegang von Cornelius vgl. Ritter, Moritz: Cornelius, Karl Adolf. In: Bettelheim, Anton (Hg.): Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog, Bd. 8, Berlin 1905,

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Auf seine Beziehungen nach Berlin, vor allem zur sogenannten Katholischen Abteilung innerhalb des Ministeriums, wird später noch einzugehen sein. Das Ministerium bestätigte noch einmal, dass sich Cornelius „für das Fach der Geschichte als Privatdocent habilitiren“ solle.103 Dem Kurator der Universität Breslau teilte man entsprechend mit, der Kandidat werde sich innerhalb der Philosophischen Fakultät „dem akademischen Lehrfache für die Geschichte“ widmen.104 Wie schnell sich die weitere Differenzierung der Geschichtswissenschaft nach 1850 vollzog, lässt sich auch an den angestrebten beziehungsweise erteilten Denominationen der Lehrbefugnis erkennen. Colmar Grünhagen trat 1855 an die Philosophische Fakultät mit der Bitte heran, sich in Breslau „als Privatdocent für das Fach der Geschichte (vorzugsweise der mittleren) habilitiren zu dürfen“.105 Julius Krebs bat 1879 bereits in seinem Antrag darum, „als Docent für neuere Geschichte“ zugelassen zu werden.106 Nicht immer folgte die Fakultät dem jeweiligen Antrag, mitunter wurde die venia legendi nach den Prüfungen auch bewusst eingeschränkt. So hatte Ernst Kruse an die Fakultät ein Gesuch um Habilitation gerichtet und um „Zulassung als Privatdocent für Geschichte und deren Hilfswissenschaften“ gebeten;107 zugelassen wurde er jedoch, wie der Kurator der Universität 1889 dem Kultusministerium mitteilte, als Privatdozent für Mittlere und Neuere Geschichte, „und zwar politische und Verfassungsgeschichte, sowie der geschichtlichen Hülfswissenschaften“.108 Die weiteren Spezifizierungen, die sich 15–25; Goetz, Walter: Historiker in meiner Zeit. Gesammelte Aufsätze. Hg. v. Herbert Grundmann. Köln/Graz 1957, 187–197; Nettesheim: Wilhelm Junkmann, 134–137; Mütter: Die Geschichtswissenschaft in Münster, 150f. 103 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 41, Bd. 1, Bl. 172: Preußisches Kultusministerium an Cornelius, Berlin 31. Januar 1851. 104 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., Bl. 207: Preußisches Kultusministerium an Kurator der Universität Breslau, Berlin 16. Februar 1852. 105 �������������������������������������������������������������������������������������� Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 173–175: Grünhagen an Philosophische Fakultät der Universität Breslau, Breslau 23. Januar 1855. Zum akademischen Werdegang Grünhagens vgl. Meinardus, Otto: Zu Colmar Grünhagens Gedächtnis. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 46 (1912) 1–65; Wendt, Heinrich: Colmar Grünhagen. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 17. bis 19. Jahrhunderts. Breslau 1928 [Sigmaringen ²1985] (Schlesische Lebensbilder 3), 362–371; Baumgart, Peter: Colmar Grünhagen (1828– 1911). Ein nationalliberaler Historiker Schlesiens im Zweiten Kaiserreich [1998]. In: ders.: Brandenburg-Preußen unter dem Ancien Régime. Ausgewählte Abhandlungen. Hg. v. FrankLothar Kroll. Berlin 2009 (Historische Forschungen 92), 533–553. 106 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 365: Krebs an Philosophische Fakultät der Universität Breslau, 1879. Zum beruflichen Werdegang von Krebs (ohne nähere Angaben zu seinem Verhältnis zur Universität Breslau) vgl. Rudkowski, Wilhelm: Julius Krebs. Ein Lebensbild. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 59 (1925) 164–179. 107 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 93, Bl. 91: Kruse an Philosophische Fakutät der Universität Breslau, Köln [Datumsangabe verbrannt]. 108 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 41, Bd. 4, Bl. 24: Kurator der Universität Breslau an Preußisches Kultusministerium, Breslau 15. August 1889.

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bis zum frühen 20. Jahrhundert in den Habilitationsakten beobachten lassen, betrafen stets die Neuere und Neueste Geschichte, niemals dagegen die älteren Epochen. Die jeweiligen Habilitationsverfahren folgten im Grundsatz den rechtlichen Vorgaben, so dass in den Akten häufig vermerkt ist, die erbrachten Leistungen des Habilitanden hätten „der Fakultät statutenmäßig genügt“.109 Gleichwohl lassen sich hier und da Besonderheiten erkennen. Auf das ganze 19. Jahrhundert betrachtet, nahmen Standardisierungen und Formalisierungen – wie nicht anders zu erwarten – spürbar zu. Dies lässt sich exemplarisch am zeitlichen Abstand zwischen Studienabschluss und Habilitation und dem damit einhergehenden Stellenwert der schriftlichen Habilitationsleistung aufzeigen. Der Fall von Carl Adolf Cornelius wurde bereits genannt. Ähnlich stellte sich die Situation bei Theodor Jacobi dar, der am 27. August 1839 in Breslau promoviert worden war; seine Habilitation an derselben Universität folgte nur wenige Wochen später.110 Auch in den folgenden Jahrzehnten lag zwischen den zwei Qualifikationsstufen, zumal wenn sie beide in Breslau erfolgten, in der Regel nicht mehr als ein Jahr. Dies zeigt noch der akademische Werdegang von Eberhard Gothein: Seine Promotion in Breslau fand mit der üblichen Disputation am 10. Juli 1877 ihren Abschluss, ein Dreivierteljahr später, am 8. August 1878, hatte er bereits das vollständige Habilitationsverfahren mit Erfolg bestanden; es schien ihm offensichtlich geraten, der Fakultät zu versichern, dass es sich bei der eingereichten Studie um eine „zu diesem Zwecke“, dem aktuellen Verfahren, von ihm „angefertigte wissenschaftliche Arbeit“ handle,111 also nicht um die Einreichung einer bereits früher verwendeten, allenfalls überarbeiteten Abhandlung. Es war die Habilitation als solche, die während des 19. Jahrhunderts als Voraussetzung für eine akademische Laufbahn gesehen wurde – die Habilitationsschrift dagegen fand zunächst keine größere Beachtung. Das hing naturgemäß mit der geringen Zeitspanne zusammen, die für ihre Ausarbeitung überhaupt zur Verfügung stand. Kutzen übersandte dem Kultusminister 1831 seine kurz zuvor im Druck erschienene, 34 Seiten umfassende Habilitationsschrift De Pericle Thucydideo, seine „zweite, durch diese hohe Gnade veranlaßte Abhandlung über Perikles“,112 wie er anmerkte – es war tatsächlich nur eine Fortschreibung seiner zwei Jahre zuvor ebenfalls in Breslau publizierten Dissertation, die sogar den selben Titel getragen hatte; beide Veröffentlichungen wieder109 Ebd., Nr. 3, Bd. 3: Kurator der Universität Breslau an Preußisches Kultusministerium, Breslau 2. Dezember 1831 (betr. das Habilitationsverfahren von Joseph August Kutzen). 110 Ebd., Nr. 3, Bd. 5: Kurator der Universität Breslau an Preußisches Kultusministerium, Breslau 3. Dezember 1839; Weinhold: Zur Erinnerung an Theodor Jacobi, 85–98. 111 ��������������������������������������������������������������������������������������� Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 355: Gothein an Philosophische Fakultät der Universität Breslau, o. O. 16. Juni 1878. Zu Gotheins akademischen Qualifikationsverfahren vgl. Maurer, Michael: Eberhard Gothein (1853–1923). Leben und Werk zwischen Kulturgeschichte und Nationalökonomie. Köln/Weimar/Wien 2007, 27–29 (Promotion), 30–33 (Habilitation). 112 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 3, Bd. 3, Bl. 195–196: Kutzen an Karl vom Stein zum Altenstein, Breslau 10. Dezember 1831.

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um verstand Kutzen nur als Vorarbeiten derjenigen Abhandlung, die dann 1834 auf Deutsch unter dem Titel Perikles als Staatsmann während der gefahrvollsten Zeit seines Wirkens in Grimma im Druck erschien.113 Auch andere Angehörige der Philosophischen Fakultät bezeichneten Habilitationsschriften, die thematisch eng an ihre Dissertation anknüpften, als „Pars altera“ oder „Specimen II“. Wieder andere, unter den Historikern zum Beispiel Eduard Cauer,114 Theodor Lindner115 und Eberhard Gothein,116 kamen der Pflicht zur Publikation ihrer schmalen Habilitionsschriften zwar nach, markierten diese aber für den Leser bereits im Titel als Vorstudie und publizierten kurz darauf eine deutlich umfangreichere Abhandlung zum selben Thema. Bei Walter Otto, der 1903 in Breslau mit der althistorischen Dissertation Die Organisation der griechischen Priesterschaft im hellenistischen Ägypten promoviert worden war, erfolgte die Habilitation an der selben Universität zwar erst vier Jahre später; seine Habilitationsschrift aber, die ebenfalls von Priestern im hellenistischen Ägypten gehandelt hatte, publizierte er noch zusammen mit der früheren Dissertation.117 Diese Praxis änderte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts allerdings grundlegend. Bei anderen, vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Breslau habilitierten Historikern – die prominentesten unter ihnen waren Johannes Ziekursch,118 Manfred 113 Pretzsch (Bearb.): Verzeichnis der Breslauer Universitätsschriften 1811–1885, 293. 114 Cauer, Eduardus: Quaestionum De Fontibus Ad Agesilai Historiam Pertinentibus Pars Prior. Vratislaviae 1847. Die 34 Seiten umfassende Habilitationsschrift erschien noch 1847 in Breslau unter gleichem Titel als erweiterte Buchausgabe im Umfang von 93 Seiten. Auch diese Ausgabe verstand der Autor freilich als Vorarbeit, wie ein Rezensent des Werkes vermerkte: „Herr Cauer, welcher eine ausführliche Geschichte des Agesilaus und seiner Zeit zu schreiben beabsichtigt, schickt derselben als Vorläufer einen Theil seiner Untersuchungen über die Quellen der Geschichte seines Helden voraus, nämlich über Xenophon und Diodor von Sicilien, insofern diese sich auf den Agesilaus beziehen.“ Literarische Zeitung No. 13 vom 9. Februar 1848, Sp. 199– 200, hier 199. 115 ��������������������������������������������������������������������������������������� Lindner, Theodorus: De Santo Annone Archiepiscopo Coloniensi. (Pars Prior: Usque Ad Annum 1062). ����������������������������������������������������������������������������������� Vratislaviae 1868. Die 31 Seiten umfassende Habilitationsschrift erschien in erweiterter Form (im Umfang von 117 Seiten) unter dem Titel: Anno II. der Heilige, Erzbischof von Köln. 1056–1075. Leipzig 1869. 116 Gothein, Eberhard: Religiöse Volksbewegungen vor der Reformation. Part. I. [Hirschberg 1878]. Die 51 Seiten umfassende Habilitationsschrift erschien in erweiterter Form (im Umfang von 124 Seiten) unter dem Titel: Politische und religiöse Volksbewegungen vor der Reformation. Breslau 1878. 117 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Otto, Walter: Priester und Tempel im hellenistischen Ägypten. Ein Beitrag zur Kulturgeschichte des Hellenismus, Bd. 1–2. Leipzig/Berlin 1905–1908. Zum akademischen Werdegang Ottos vgl. Bengtson, Hermann: Kleine Schriften zur Alten Geschichte. München 1974, 599–618. 118 �������������������������������������������������������������������������������������� Promotion 1900 in München, Habilitation 1904 in Breslau; Qualifikationsschriften: Ziekursch, Johannes: Die Kaiserwahl Karls VI. (1711). Gotha 1902 (Geschichtliche Studien 1/1); ders.: Sachsen und Preussen um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des österreichischen Erbfolgekrieges. Breslau 1904. Zum akademischen Werdegang Ziekurschs vgl. Schleier, Hans: Die bürgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik. Berlin 1975 (Akademie der Wissenschaften der DDR. Schriften des Zentralinstituts für Geschichte 40), 399–451.

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Laubert119 und Friedrich Andreae120 – lagen die jeweiligen Qualifikationsschriften, die nicht mehr an ein und derselben Universität verteidigt worden waren, thematisch ungleich weiter auseinander und wurden selbständig veröffentlicht. Die im 19. Jahrhundert noch vergleichsweise unbedeutenden Habilitationsschriften brachten es mit sich, dass auch die Gutachten über diese Abhandlungen in aller Regel sehr kurz ausfielen. Damit fehlen uns Stellungnahmen, die in späterer Zeit wichtige Aufschlüsse über akademische Netzwerke, Schulbildungen, Abhängigkeiten und Förderungen enthalten. Einige wenige Beispiele müssen genügen, um die Gutachterpraxis und die institutionellen Ablaufmuster des Habilitationsverfahrens insgesamt zu beleuchten. Am 21. Oktober 1851 informierte der Dekan der Philosophischen Fakultät – zu jener Zeit der Orientalist Adolf Friedrich Stenzler – seine Kollegen, dass Carl Adolf Cornelius die Abhandlung Der Antheil Ostfrieslands an der Reformation bis zum Jahre 1535 als schriftliche Habilitationsleistung eingereicht habe. Gleichzeitig bat er den Historiker Gustav Adolf Harald Stenzel als fachlich zuständigen Kollegen um die Erstbegutachtung. Stenzel notierte seinen Befund, der gerade einmal acht Zeilen umfasste, fünf Tage später direkt auf dem Anschreiben des Dekans, das dann im Umlaufverfahren an die anderen Mitglieder der Fakultät weitergereicht wurde; da sich alle dem Urteil des Erstgutachters anschlossen, war dieser Teil des Verfahrens bereits nach gut einer Woche abgeschlossen.121 Diese Praxis wurde noch Jahrzehnte beibehalten. Auch Richard Roepell, der eine 1879 von Julius Krebs eingereichte Abhandlung zu begutachten hatte, brauchte nicht mehr als eine Seite für seine Stellungnahme. Zu Verzögerungen kam es allenfalls dann, wenn der Hauptgutachter oder andere Mitglieder der Fakultät Bedenken gegen eine Annahme äußerten. So merkte in diesem Fall der Historiker Alfred Dove an, dass die 119 Promotion 1899 in Leipzig, Habilitation 1908 in Breslau; Qualifikationsschriften: Laubert, Manfred: Kritik der Quellen zur Schlacht bei Kunersdorf (12. August 1759). Leipzig 1900, erweiterte Buchausgabe unter dem Titel: Die Schlacht bei Kunersdorf am 12. August 1759. Berlin 1900; ders.: Presse und Zensur der Provinz Posen in neupreußischer Zeit (1815–1847). Lissa i. P. 1908. Zum akademischen Werdegang Lauberts vgl. Rhode, Gotthold: Manfred Laubert (1877–1960). In: Zeitschrift für Ostforschung 10 (1961) 630–632. 120 Promotion 1905 in Berlin, Habilitation 1912 in Breslau; Qualifikationsschriften: Andreae, Friedrich: Preußische und russische Politik in Polen von der taurischen Reise Katharinas II. ( Januar 1787) bis zur Abwendung Friedrich Wilhelms II. von den Hertzbergischen Plänen (August 1789). Erstes Kapitel: Russische und preußische Staatskunst in den ersten Jahren der Regierung Friedrich Wilhelms II. Berlin 1905; ders.: Beiträge zur Geschichte Katharinas II. Die Instruktion vom Jahre 1767 für die Kommission zur Abfassung eines neuen Gesetzbuches. Berlin 1912. Zum akademischen Werdegang Andreaes vgl. Bahlcke, Joachim: Friedrich Andreae (1879–1939). In: ders. (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 12. Würzburg 2017, 275–299. 121 ������������������������������������������������������������������������������������������� Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 105: Stenzler an Mitglieder der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau, Breslau 21. Oktober 1851. Das Schriftstück enthält abschließend den Vermerk, dass die Publikation der Habilitationsschrift genehmigt werde; sie erschien wenige Monate später im Druck. Vgl. Cornelius, C[arl] A[dolf ]: Der Antheil Ostfrieslands an der Reformation bis zum Jahre 1535. Münster 1852.

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Abb. 7: Das Gutachten über die von Carl Adolf Cornelius 1851 eingereichte Habilitationsschrift, das der Breslauer Historiker Gustav Adolf Harald Stenzel im Auftrag des Dekans zu erstellen hatte, umfasste gerade einmal acht Zeilen. Stenzel schrieb seine Stellungnahme direkt auf das Anschreiben des Dekans, das daraufhin die anderen Mitglieder der Fakultät erhielten, um sich dem Urteil des Erstgutachters anzuschließen oder gegebenenfalls ein abweichendes Votum zu vermerken. Da alle Kollegen die Einschätzung Stenzels teilten, war dieser Teil des Verfahrens bereits nach gut einer Woche abgeschlossen. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 105.

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als Manuskript eingereichte Arbeit von Krebs unterdessen im Druck erschienen sei. Das aber, so Dove, „verstößt wohl allerdings gegen die hier wie anderswo herrschende Sitte; ob auch gegen unsere Statuten, scheint mir aus §§ 35 u. 39 unseres Reglements nicht vollkommen zu erhellen.“122 Darüber hinaus hatte jeder Kollege die Möglichkeit, unabhängig vom Bericht der Fakultät ein Separatvotum zu formulieren und dem Kultusministerium direkt zuzuleiten. In Breslau gab es solche Voten vor allem dann, wenn Habilitationsverfahren im weitesten Sinn die „Professur der Geschichte katholischer Confession“ betrafen.123 Erst nach der Jahrhundertwende wurde es üblich, auch auswärtige Gutachter in das Verfahren einzubeziehen. So wurde die 1911 in Breslau vorgelegte Habilitationsschrift von Friedrich Andreae zur russischen Geschichte des 18. Jahrhunderts nicht nur von Georg Friedrich Preuß, dem örtlichen Ordinarius für Mittlere und Neuere Geschichte, begutachtet, sondern auch von dem Osteuropahistoriker Theodor Schiemann in Berlin, der den Habilitanden seit dessen Studienzeit kannte und bereits Andreaes Dissertation betreut hatte.124 Die neue Begutachtungspraxis brachte nicht nur neue Möglichkeiten der Einflussnahme von außen mit sich, sie erlaubte es auch dem jeweiligen Habilitanden, eigene Verbindungen zu nutzen. Andreae jedenfalls dankte seinem alten Berliner Lehrer am 5. August 1911 (mithin vor Abschluss des Verfahrens), dass sich dieser „abermals auf das tatkräftigste“ für ihn und seine „Breslauer Angelegenheit“ eingesetzt habe.125 Verfahren konnten prinzipiell noch beschleunigt werden, wenn Habilitanden einzelne der durch die Statuten und das Reglement vorgeschriebenen Leistungen erlassen wurden. Auf die Vorlage einer bisher nicht veröffentlichten wissenschaftlichen Arbeit scheint 122 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 369–370: Dekan an Mitglieder der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau, Breslau 15. Oktober 1879. Dove bezog sich auf die Veröffentlichung von Krebs, Julius: Die Schlacht am weissen Berge bei Prag (8. November 1620) im Zusammenhang der kriegerischen Ereignisse. Breslau 1879. Zu Doves akademischem Werdegang vgl. Stadler-Labhart, Verena/Stadler, Peter: Die Welt des Alfred Dove 1844– 1916. Profil eines Historikers der Jahrhundertwende. Bern 2008; Cymorek, Hans: „... doch reicht mein Einfluß nicht weit“. Alfred Dove als Berater Friedrich Althoffs. In: Schalenberg, Marc/Walther, Peter Th. (Hg.): „... immer im Forschen bleiben“. Rüdiger vom Bruch zum 60. Geburtstag. Stuttgart 2004, 311–336. 123 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 42: Preußisches Kultusminiserium an Kurator der Universität Breslau, Berlin 5. November 1849; ebd., Bl. 56: Preußisches Kultusministerium an Philosophische Fakultät der Universität Breslau, Berlin 17. November 1849. Zur Entwicklung der sogenannten katholischen Professur vgl. Herzig: Geschichtsforschung in der Metropole Schlesiens, 73–83. 124 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 94, Bl. 189–192 (Gutachten Preuß), 204– 206 (Gutachten Schiemann). 125 �������������������������������������������������������������������������������������� Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA, Nachlass Theodor Schiemann, Nr. 187: Andreae an Schiemann, Breslau 5. August 1911. Zum Hintergrund vgl. ­Bahlcke, Joachim: Od historii Europy Wschodniej do historii oświaty i kultury Śląska. Kariera historyka i archiwisty Friedricha Andreae’a (1879–1939). In: Hałub, Marek (Hg.): Śląska republika ­uczonych – Schlesische Gelehrtenrepublik – slezská vědecká obec, Bd. 8. Dresden/Wrocław 2018, 291–322, hier 303f.

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man bei der Philosophischen Fakultät – im Gegensatz zu anderen Fakultäten – nur in wenigen Fällen ganz verzichtet zu haben. Einen Sonderfall stellt in diesem Zusammenhang das Verfahren von Karl Heinrich Lachmann dar. Er hatte den Antrag gestellt, man möge ihm bei seinen „sehr geringen Subsistenzmitteln die Druckkosten einer abermaligen Dissertation“ ersparen und eine „Dispensation“ der geforderten Habilitationsschrift gewähren.126 Da die Fakultät ihrerseits auf eine lateinisch geschriebene Abhandlung verzichtete und einer bloßen Disputation über gedruckte Thesen zustimmte, stimmte das Ministerium dieser Lösung zu.127 Lachmanns 1838 im Druck erschienene Theses [...] pro venia legendi umfassten zwei Blätter.128 Auch Theodor Paur stellte 1851 den Antrag an die Fakultät, sie möge ihm die Habilitation gewähren, aber „ohne Einreichung und öffentliche Vertheidigung einer besonderen Dissertation“.129 Eine Entscheidung über diese Frage erübrigte sich allerdings, da Paurs Antrag ohnehin abgelehnt wurde. Derartige Ausnahmeregelungen erklären sich, sofern sie nicht wie bei den beiden eben geschilderten Fällen pekuniäre Ursachen haben, in erster Linie durch die Nähe des neuen Habilitationsverfahrens zum älteren Graduierungszeremoniell. Johann Gustav Gottlieb Büsching, der am Provinzialarchiv in Breslau tätig war, hatte zwar im November 1815 an der Universität die venia legendi erworben und wurde seit dieser Zeit auch in der Chronik der Philosophischen Fakultät im Verzeichnis „Nomina Privatim Docentium“ geführt.130 Eine in diesem Zusammenhang vorgelegte Abhandlung ist allerdings nicht bekannt. Dies ist bisher übersehen worden, zumal Büsching in den folgenden Jahren noch zwei Habilitationsschriften („Antritts-Programme“) veröffentlichte, die sich allerdings auf die Übernahme zunächst der außerordentlichen Professur für mittelalterliche Kunstgeschichte und Diplomatik in Breslau im November 1817, dann der ordentlichen Professur im August 1822 bezogen.131 126 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 3, Bd. 4, Bl. 109–110: Lachmann an Preußisches Kultusministerium, Breslau 27. Juni 1836. 127 Ebd., Bl. 111: Preußisches Kultusministerium an Kurator der Universität Breslau, Berlin 28. Juni 1836. 128 Pretzsch (Bearb.): Verzeichnis der Breslauer Universitätsschriften 1811–1885, 295 („Breslau, Phil. Fak., Hab.-Thesen v. 20. Jan. 1838“). 129 ���������������������������������������������������������������������������������������� Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 111–114: Paur an Philosophische Fakultät der Universität Breslau, Breslau 20. Juni 1851. Zum akademischen Werdegang Paurs vgl. Meves (Hg.): Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten, 1100. 130 Hałub, Marek: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829. Ein Beitrag zur Begründung der schlesischen Kulturgeschichte. Wrocław 1997 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1978), 14, 61, 89. 131 Büschingius, Iohannes Gustavus Theophilus: De Signis Seu Signetis Notariorum Veterum In Silesiacis Tabulis, Praemissa Brevi Comparatione Tabularum Silesiacarum Cum Germanicis. Vratislaviae 1820; ders.: Descriptiones Authenticae Nonnullorum Sigillorum Medii Aevi, In Tabulis Silesiacis Repertae. Vratislaviae 1824. Korrekt sind die Angaben bei Pretzsch (Bearb.): Verzeichnis der Breslauer Universitätsschriften 1811–1885, 289 („Breslau, Phil. Fak., Antr.Progr. als außerord. Prof. v. 1820“), 291 („Breslau, Phil. Fak., Antr.-Progr. als ord. Prof. v. 2. März 1824“).

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Die Befreiung von einzelnen Auflagen bezog sich im Kern auf die mündlich zu erbringenden Leistungen und auf amtliche Formalien. Es war nicht zwingend der Habilitand selbst, der auf eine Veränderung des vorgeschriebenen Regelwerks spekulierte, auch die an universitären Reformen interessierten Fakultätsmitglieder drängten auf eine Modernisierung des Verfahrens. So protestierte Henrik Steffens, der bereits 1808/09 Vorlesungen zur Neukonzeption der Universitäten in Deutschland gehalten hatte und mit hohem Interesse die bildungspolitischen Initiativen in Berlin verfolgte,132 im Zuge der Habilitation Büschings vehement gegen den nach wie vor bestehenden Zwang, auf Lateinisch disputieren und eine in dieser Sprache verfasste Abhandlung verteidigen zu müssen. „Warum sollen wir ihn [Büsching] mit alten Formen quälen? Wozu das Latein reden? Man wage es consequent zu sein. Man verdränge von allen Lehrstühlen in Deutschland einen Jeden, der, weil er ernsthaft mit seinem Fache beschäftigt war, jene Fertigkeit auszuüben versäumte. Wenn man nun die pfuscherhaften Lateinsprecher – die ächten würden wohl kaum eine Universität besetzen, – zusammentrommelt, meint man dann wirklich den ächten Kern von Talent, Kenntnissen und Geist concentriert zu haben? Wahrlich, den stinkenden Sumpf abgestandener Begriffe, die Armseligkeit alter Formeln, die innere Leerheit, die, was sie sich schämen würde auf gut Deutsch zu sagen, frisch weg in schlechtem Latein herplappert, würde man eher als etwas Geistreiches gewinnen. Herr Dr. Büsching kann ohne allen Zweifel einen lateinischen Aufsatz zu Stande bringen. Ob wir ihn fordern sollten ist ein anderes.“133 Was die Verfahren der ordentlichen und außerordentlichen Professoren betrifft, die bereits ernannt worden waren, innerhalb einer vorgegebenen Frist aber eine Habilitation nachzuweisen hatten, so zeigte man sich in der Regel flexibel – innerhalb der Fakultät nicht anders als beim Kultusministerium. Deutlich wird dies am Fall von Karl Neumann, dessen akademischer Weg auf einen Lehrstuhl in Breslau höchst ungewöhnlich verlief. Neumann war zwar 1860 auf ein Extraordinariat für Alte Geschichte und Geographie an die schlesische Universität berufen worden, war jedoch die nächsten drei Jahre zunächst im Auftrag der preußischen Regierung in verschiedenen Funktionen in Berlin tätig. Erst im November 1863 trat er seine Stellung als außerordentlicher Professor in Breslau an. Nachdem er einen Ruf an die Universität Greifswald ausgeschlagen hatte, wurde seine Stelle 1866 in eine ordentliche Professur umgewandelt. Abermals ein Jahr später, am 11. September 1867, teilte das Kultusministerium der Philosophischen Fakultät mit, dass man gegen den Antrag Neumanns, von den „für den Eintritt in die Facultät vorgeschriebenen Habilitationsleistungen dispensirt zu werden“, in Anbetracht der bisher erbrachten wissenschaftlichen Leistungen keine Bedenken habe.134 132 Schmidt, Sarah/Miodoński, Leon (Hg.): System und Subversion. Friedrich Schleiermacher und Henrik Steffens. Berlin/Boston 2018; Abelein, Werner: Henrik Steffens’ politische Schriften. Zum politischen Denken in Deutschland in den Jahren um die Befreiungskriege. Tübingen 1977 (Studien zur deutschen Literatur 53). 133 Zit. nach Kaufmann: Festschrift, Bd. 1, 143. 134 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 227: Preußisches Kultusministerium an Philosophische Fakultät der Universität Breslau, Berlin 11. September 1867. Zum akademi-

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Weniger aufgeschlossen für eine solche Befreiung zeigte man sich dagegen zumindest in den ersten Jahrzehnten nach der Neugründung bei denjenigen, die bei der Fakultät eine Zulassung als Privatdozent beantragten und zu diesem Zweck die Habilitation anstrebten. Aber auch bei dieser Gruppe lässt sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts ein allmählicher Wandel beobachten. 1847 fand im Rahmen der Habilitation von Theodor Jacobi erstmals eine Disputation in deutscher Sprache statt; auch seine im gleichen Jahr publizierte Habilitationsschrift war die erste auf Deutsch erschienene Universitätsschrift in Breslau überhaupt.135 Ein ähnliches Bild ergibt sich bei den in den Habilitationsakten überlieferten Schriftwechseln. Mit seinem Gesuch, sich an der Philosophischen Fakultät als Privatdozent habilitieren zu dürfen, bat Colmar Grünhagen 1855 zugleich darum, sowohl für die hierzu einzureichenden Schriftstücke als auch für die öffentliche Verteidigung seiner Abhandlung „den Gebrauch der deutschen Sprache gestatten zu wollen“.136 Einer wohlwollenden Genehmigung dieser und anderer Anträge stand in der Regel nichts entgegen. Gezielte Bevorzugungen oder umgekehrt absichtliche Benachteiligungen lassen sich in keinem der untersuchten Habilitationsverfahren erkennen.

V. Karrieren und Barrieren: Chancen, Risiken und Erfolgsfaktoren bei der Habilitation Ob ein junger Historiker mit einer Habilitation an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau den Grundstein für eine akademische Karriere legte oder ob die zusätzliche Qualifikation über kurz oder lang in einer Sackgasse endete, hing unabhängig von Begabung, Talent und Leistung gewiss von einer Vielzahl von Faktoren ab: von persönlichen, vor allem finanziellen Gegebenheiten, von der Entwicklung der Immatrikulationszahlen und dem sich daraus ergebenden Bedarf an Lehrkräften, bildungspolitischen Weichenstellungen in Universität und Kultusministerium, der Anzahl gleichaltriger Konkurrenten und der Belastbarkeit beruflicher wie familiärer Netzwerke. Stets gab es gesellschaftliche, politische und auch rechtliche Rahmenbedingungen, die einem Erfolg in der Wissenschaft förderlich waren – und umgekehrt solche, die sich als hinderlich erwiesen für einen weiteren Aufstieg.137 Hierbei ist, zumindest perspektivisch, schen Werdegang Neumanns vgl. Kupferschmidt, Franz: Karl Neumann. Ein Beitrag zur Geschichte der wissenschaftlichen Geographie im 19. Jahrhundert. Leipzig 1935; Partsch, J[oseph]: Zur Erinnerung an Carl Neumann. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 17 (1882) 81–111. 135 Mützell, J[ulius]: Personalnotizen. In: Zeitschrift für das Gymnasialwesen 2 (1848) 174–176, hier 175; Pretzsch (Bearb.): Verzeichnis der Breslauer Universitätsschriften 1811–1885, 298. 136 �������������������������������������������������������������������������������������� Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 173–175: Grünhagen an Philosophische Fakultät der Universität Breslau, Breslau 23. Januar 1855. 137 Aus der umfangreichen Fachliteratur zur akademischen Karriereforschung vgl. exemplarisch Weber, Wolfgang: Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft

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über die „männliche Ahnengalerie des Faches“138 hinaus auch an Frauen zu denken, strebten doch seit den 1920er Jahren in Deutschland auch zahlreiche Historikerinnen eine Habilitation an.139 Die häufig spärliche Überlieferung zu einzelnen akademischen Werdegängen von Habilitanden mahnt gleichwohl zur Vorsicht. Bildungsverläufe sind meist dann ausführlich dokumentiert, wenn sie erfolgreich verliefen, gescheiterte Karrieren dagegen hinterlassen deutlich weniger Spuren. Man wird sicher hier und da Indizien finden, die eine Erklärung für den spezifischen Verlauf eines wissenschaftlichen Werdegangs geben. Aber es bleiben häufig punktuelle Einblicke, die sich nur selten zu Mustern verdichten und faktisch nie eindeutige Aussagen erlauben. Schon einige wenige, zufällig aufgefundene Schriftwechsel können bewirken, das Geschehen in einem völlig anderen Licht zu sehen. Methodisch fragwürdig ist es vor allem, aus bestimmten Handlungen der Bewerber Rückschlüsse auf vermeintliche Intentionen und Überzeugungen abzuleiten. „Strategien für eine erfolgreiche selbstgesteuerte Karriere“,140 die eine auf Marktorientierung und Planbarkeit ausgerichtete Literatur empfiehlt, werden auch in der Historischen Bildungsforschung mitunter allzu schnell auf ältere Epochen mit gänzlich anderen Voraussetzungen übertragen. Die unzureichende Überlieferung fordert ihren Tribut. Seriöse Aussagen über den Einfluss der sozialen Herkunft auf den Bildungserfolg lassen sich bei den rund drei Dutzend Habilitanden der Geschichtswissenschaft, die zwischen 1811 und 1914 eine weitere Qualifikation an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau anstrebten, nicht treffen. Gelegentliche Angaben zu den eigenen familiären Verhältnissen, die und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970. Frankfurt a. M. u. a. 21987 [11984] (Europäische Hochschulschriften III/216); Birn, Marco/ Moritz, Werner: Karriere in der Heimat. Heidelberger Professoren und ihre regionale Bindung im 19. Jahrhundert. In: Krauß, Martin/Nieß, Ulrich (Hg.): Stadt, Land, Heimat. Beiträge zur Geschichte der Metropolregion Rhein-Neckar im Industriezeitalter. Ubstadt-Weiher u. a. 2011, 215–238; Meusburger, Peter/Schuch, Thomas: Karrieren, soziale Herkunft und räumliche Mobilität der Heidelberger Professoren 1803–1932. In: Demm, Eberhard/Suchoples, Jarosław (Hg.): Akademische Lebenswelten. Habitus und Sozialprofil von Gelehrten im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. u. a. 2011, 217–249. 138 Paletschek, Sylvia: Ermentrude und ihre Schwestern: Die ersten habilitierten Historikerinnen in Deutschland. In: Albrecht, Henning u. a. (Hg.): Politische Gesellschaftsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert. Festgabe für Barbara Vogel. Hamburg 2006, 175–187, hier 175. 139 ������������������������������������������������������������������������������������������ Auga, Ulrike u. a. (Hg.): Das Geschlecht der Wissenschaften. Zur Geschichte von Akademikerinnen im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/New York 2010; Vogt, Annette: Der lange Weg zur Gleichberechtigung? Zur Geschichte der Habilitation von Frauen an deutschen Universitäten. In: Zeitschrift für Frauenforschung und Geschlechterstudien 19/4 (2001) 85–94; Brinkschulte, Eva: Wissenschaftspolitik im Kaiserreich entlang der Trennungslinie Geschlecht. Die ministerielle Umfrage zur Habilitation von Frauen aus dem Jahre 1907. In: Dickmann, Elisabeth/Schöck-Quinteros, Eva (Hg.): Barrieren und Karrieren. Die Anfänge des Frauenstudiums in Deutschland. Berlin 2000 (Schriftenreihe des Hedwig-Hintze-Instituts Bremen 5), 177–192. 140 ��������������������������������������������������������������������������������������� Hyll, Melanie: Karriereformen im Wandel. Herausforderungen für Individuen und Organisationen. München/Mering 2014, 9.

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sich in den Lebensläufen der Bewerber beziehungsweise gedruckt in den Qualifikationsschriften finden, sind nicht aussagekräftig genug. Die Kluft zwischen einem Habilitanden wie Joseph August Kutzen, dessen Vater in der niederschlesischen Provinzstadt Frankenstein als Mühlenbesitzer tätig war, sowie Hans Droysen und Arnold Oskar Meyer, deren Väter ( Johann Gustav Droysen und Oskar Emil Meyer) zum Zeitpunkt der Bewerbung ihrer Söhne in Breslau seit langem als Professoren an renommierten Universitäten unterrichteten, ist jedenfalls hoch. Der Begriff „Universitätskarriere“ ist in den Breslauer Habilitationsakten vor 1914 kaum zu finden. Nur bei einem Bewerber, dessen Werdegang trotz aller Eigenwilligkeiten Züge aufweist, die sich in ähnlicher Ausprägung bei vielen Habilitanden nachweisen lassen, hatte er einen außergewöhnlich hohen Stellenwert. Dieses Verfahren soll im Folgenden daher genauer vorgestellt werden. Der bereits genannte, aus Landeshut in Schlesien gebürtige Karl Heinrich Lachmann141 hatte sich für einen Antrag an die Philosophische Fakultät entschieden, obwohl er eigenen Angaben zufolge „in sehr beschränkten Einkommens-Verhältnißen“ lebte. Als Kurator habe er ihm, wie Ferdinand Heinke Kultusminister Karl vom Stein zum Altenstein am 27. Juni 1836 wortreich versicherte, „zwar mit der gänzlichen Aussichtslosigkeit, beÿ hiesiger Universität bald in ein Gehalt zu treten, bekannt gemacht“; Lachmann aber strebe dennoch mit Nachdruck eine Zulassung als Privatdozent in Breslau an, „obwohl er selbst noch nicht entschieden ist, ob er die Universitäts Carrière verfolgen, oder vielleicht vorkommenden Falls die Anstellung beÿ einem Gymnasium vorziehen werde“.142 Wie bereits geschildert, war man Lachmann bei dessen Antrag, die Fakultät möge auf eine weitere akademische Abhandlung verzichten, großzügig entgegengekommen. Knapp zwei Monate später, am 19. August, musste Heinke jedoch nach Berlin berichten, Lachmann habe der Universität angezeigt, dass er „von dieser hohen Vergüngstigung für jetzt keinen Gebrauch machen werde, da er zur Verwaltung einer Lehrerstelle an dem Gymnasium zu Brieg von dem hiesigen [Breslauer] Provinzial-Schul-­Kollegium berufen worden“ sei. Dieses Angebot habe er seiner Mittellosigkeit wegen nicht abschlagen können. Der Kurator kommentierte diese Entscheidung mit den Worten: „Bey der wenigen Aussicht auf Fortkommen, welche [...] Lachmann beÿ Verfolgung der Universitäts-Laufbahn hier gehabt haben würde, dürfte seine Anstellung beÿ dem Gymnasium zu Brieg als ein willkommenes Ereigniß zu betrachten seÿn.“143

141 �������������������������������������������������������������������������������������� Karl Heinrich Lachmann war nicht verwandt mit dem germanistischen Mediävisten und Altphilologen an der Universität Berlin Karl Lachmann, der sich, so sein Biograph Martin Hertz, „bis zum Ueberdrusse häufig die Frage nach etwaiger Verwandtschaft“ mit dem Schlesier anhören musste. Hertz, Martin: Karl Lachmann. Eine Biographie. Berlin 1851, XXXVI. 142 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 3, Bd. 4, Bl. 107–108: Kurator der Universität Breslau an Preußisches Kultusministerium, Breslau 27. Juni 1836. 143 Ebd., Bl. 112: Kurator der Universität Breslau an Preußisches Kultusministerium, Breslau 19. August 1836.

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In den Habilitationsakten findet sich auch das Schreiben, mit dem Lachmann einen Tag zuvor seine „Willensänderung“ begründet hatte. Demnach hatte er noch einige Monate zuvor keinerlei Aussicht auf eine Anstellung im Schuldienst gesehen und den Weg einer Habilitation nur eingeschlagen, „um wenigstens in irgend eine öffentliche Function zu treten“. Nun aber habe man ihm die „interimistische Verwaltung einer erledigten Lehrerstelle“ angetragen. Als Privatdozent hätte er notgedrungen auf Kosten seiner Mutter gelebt. In Anbetracht der „jetzt sehr geringen Aussichten, welche die Universitätslaufbahn darbietet“, habe er sich daher für Brieg entscheiden müssen. Lachmann versicherte zum Ende seines Schreibens noch einmal mit Nachdruck: „Nichtsdestoweniger ist die Ueberzeugung, daß ich in der academischen Laufbahn dem Staate ersprießlichere Dienste zu leisten vermögen werde, als in der Gymnasiallaufbahn, so lebendig in mir, als je, und ich werde auch in Brieg, so viel die gewissenhafte Erfüllung meiner Amtspflichten nur Zeit übrig läßt, dieselbe wissenschaftlichen Arbeiten im Gebiet der Geschichte widmen.“144 Tatsächlich erschien von Lachmann, der sich unmittelbar nach Abschluss seines Breslauer Habilitationsverfahrens für den Gymnasialschuldienst entschieden hatte, bereits 1839 eine umfangreiche Geschichte Griechenlands von dem Ende des peloponnesischen Krieges bis zu dem Regierungsantritte Alexanders des Großen. Auf dem Titelblatt stand kein Hinweis auf seine aktuelle Berufstätigkeit, sondern die Bezeichnung „Privatdocent an der Universität Breslau“.145 Das Werk war als „Erster Theil“ angekündigt, fand jedoch lange keine Fortsetzung. Denn sein Verfasser war bereits im Jahr seiner Habilitation, am 14. August 1838, in die Irrenheilanstalt nach Leubus eingeliefert worden. Drei Jahre später brachte man ihn für 15 Monate in eine entsprechende Einrichtung im Großherzogtum Posen. 1845 schließlich wurde er amtlich für blödsinnig erklärt. Lachmann selbst beschrieb diese Vorkommnisse 1848 in seinem Werk Mein Blödsinnsprozeß.146 Auf die Titelblätter späterer Werke setzte er unter seinen Namen nicht wie zuvor einen Hinweis auf den schwer erkämpften Status an der Universität, sondern den Zusatz „Königl[ich] Preuß[ischer] Blödsinniger“ oder „Privatmann zu Warmbrunn“.147 Die Folgen des Habilitationsverfahrens Lachmanns sind gewiß nicht typisch für die Gruppe der Bewerber, wohl aber die im Vorfeld geäußerten Zweckmäßigkeitsüberlegungen. Eine Laufbahn an der Universität war während des 19. Jahrhunderts weder plannoch kalkulierbar, jedenfalls nicht nach den Erwartungen moderner Karriereplanung. Bereits in den Gesuchen um Zulassung zur Habilitation war vielfach von beruflichen 144 Ebd., Bl. 113–114: Lachmann an Preußisches Kultusministerium, Breslau 18. August 1836. 145 Lachmann K[arl] H[einrich]: Geschichte Griechenlands von dem Ende des peloponnesischen Krieges bis zu dem Regierungsantritte Alexanders des Großen, Th. 1. Leipzig 1839. 146 Ders.: Mein Blödsinnsprozeß, 3–9. 147 �������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Ueber die Unsterblichkeit der menschlichen Seele, nach den Vorstellungen des Philosophen Platon und des Apostels Paulos. Landeshut 1848; ders.: Ueber Platon’s Vorstellungen von Recht und Erziehung, mit Rücksicht auf die Gegenwart. Hirschberg 1849; ders.: Ideeen [!] zu einer Reform der Kirche. Hirschberg 1849.

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Abb. 8: Der aus Frankenstein in Niederschlesien gebürtige Historiker Joseph August Kutzen war einer der wenigen Geisteswissenschaftler, dessen akademische Karriere – vom Privatdozenten über die Stelle als Extraordinarius bis hin zur ordentlichen Professur – sich vollständig an der Universität Breslau vollzog. Bildnachweis: Projektbereich Schlesische Geschichte an der Universität Stuttgart.

Brüchen und finanziellen Problemen die Rede. Gleich mehrfach bemühte sich Theodor Paur seit 1848 darum, an der Universität Breslau Fuß zu fassen – dies aber gerade nicht, weil er gradlinig eine Gelehrtenlaufbahn angestrebt hätte, sondern weil er seine Stelle als Oberlehrer an der Realschule in Neisse verloren hatte und über anderweitige Finanzmittel nicht verfügte.148 Üblich war es freilich noch das ganze 19. Jahrhundert über, sich aus einer gesicherten Lehrerstelle heraus zu habilitieren. Damit war allenfalls die Hoffnung, kaum aber ein ernstzunehmender Plan verbunden, gänzlich an die Universität zu wechseln. August Wilhelm Kephalides war bereits wie viele Bewerber nach ihm Lehrer an einem Breslauer Gymnasium, bevor er 1814 an der örtlichen Universität habilitiert wurde.149 Er verblieb auch in der Folgezeit in seiner früheren Stellung, ebenso wie Julius

148 Meves (Hg.): Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten, 307f. 149 �������������������������������������������������������������������������������������������� Pretzsch (Bearb.): Verzeichnis der Breslauer Universitätsschriften 1811–1885, 289. Zu Kephalides vgl. Kayßler, A[dalbert] B[artholomäus]: Ueber die Poesie als Erziehungsmittel zur Sittlichkeit. Breslau 1820, nach 54 (unpaginiert).

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Krebs, der als Lehrer am Gymnasium zu Ohlau 1879 einen Anlauf zur höheren Qualifikation an der Universität unternommen hatte, damit aber gescheitert war.150 Dass es ein Bewerber tatsächlich schaffte, auf Dauer im Universitätssystem Fuß zu fassen und eine Festanstellung zu erlangen, blieb vor 1900 die Ausnahme. Theodor Lindner etwa, der sich 1868 während seiner Tätigkeit als Lehrer an einer Breslauer Realschule habilitiert hatte, stieg – unterbrochen durch die Teilnahme am Frankreich-Feldzug 1870/71 – erst zum außerordentlichen Professor in Breslau und 1874 (als erster Protestant) zum Ordinarius für Geschichte an der Akademie von Münster auf; zwölf Jahre später wurde er nach Halle berufen.151 Die bloßen Eckdaten dieser vermeintlich gradlinigen akademischen Karriere sagen allerdings noch nichts über die schwierige Situation vor und nach der Habilitation aus. Was Lindner betreffe, so hatte das Preußische Kultusministerium noch 1873 der Philosophischen Fakultät in Breslau mitgeteilt, sei eine Beförderung zum außerordentlichen Professor zwar denkbar, allerdings ohne Gehalt und auch nur dann, „falls seine bisherigen Leistungen als Universitätslehrer und Schriftsteller neben seiner Stellung als Gymnasiallehrer seine Beförderung in der akademischen Laufbahn rechtfertigen“.152 Es bedurfte der Zustimmung und des Wohlwollens zahlreicher Institutionen und Personen, um allein die hier genannten Voraussetzungen zu erfüllen. Wer als Privatdozent an der Universität lehrte, erhielt zunächst in aller Regel die ernüchternde Auskunft, dass es für eine Ausweitung der Lehrtätigkeit keinen Bedarf gebe. Die Zahl der Extraordinarien im „Normal-Etat der Universität für die genannte Facultät“ sei „bereits um ein Bedeutendes überschritten“, teilte das Kultusministerium 1852 dem fünf Jahre zuvor in Breslau habilitierten Historiker Eduard Cauer mit; zudem bestehe kein dringendes Bedürfnis „neben dem ordentlichen Professor Dr. [­Gustav Adolf Harald] Stenzel und dem außerordentlichen Professor Dr. [Richard] Roepell noch einen Lehrer für das Fach der Geschichte dort anzustellen“.153 Cauer wollte offenbar Gewissheit, wie seine beruflichen Perspektiven an der Universität standen, zumal er, wie sein Sohn später berichtete, im Vorjahr geheiratet und aus Gründen der materiellen Versorgung seiner Familie eine Stellung am Gymnasium zu St. Maria Magdalena angenommen hatte.154 An der Universität gab es jedoch auch in den nachfolgenden Jahren 150 Rudkowski: Julius Krebs, 168f. 151 Zu Lindners akademischem Aufstieg in Breslau vgl. Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 299–302, 318, 326; Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 41, Bd. 3, Bl. 89. Zu seiner Biographie allgemein vgl. Werminghoff, Albert: Theodor Lindner zum Gedächtnis. Berlin 1920; Sommerlad, Theo: Theodor Lindner. In: Mitteldeutsche Lebensbilder, Bd. 5: Lebensbilder des 18. und 19. Jahrhunderts. Magdeburg 1930, 503–519; Mütter: Die Geschichtswissenschaft in Münster, 209–234. 152 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 299: Preußisches Kultusministerium an Philosophische Fakultät der Universität Breslau, Berlin 24. Dezember 1873. 153 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 41, Bd. 1, Bl. 215: Preußisches Kultusministerium an Cauer, Berlin 5. April 1852. 154 Cauer, Paul: Paul Eduard Cauer. In: Biographisches Jahrbuch für Alterthumskunde 5 (1882) 38–40, hier 39f.

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keine Aufstiegsmöglichkeit. 1863 teilte Cauer daher der Fakultät mit, dass er auf seine venia legendi in Breslau endgültig verzichte, da er eine Oberlehrerstelle an einem Gymnasium in Potsdam antreten werde.155 Im Rückblick, im Wissen mithin um den Erfolg des Wechsels aus einer gesicherten Stellung an die Universität, wird das damit verbundene hohe Risiko, das jeder Bewerber kannte, leicht übersehen. Stehen Quellen zur Verfügung, zeigen diese immer wieder, wie flexibel junge Akademiker sein mussten, um sich zwischen Schule und Universität längerfristig zu etablieren. So hieß es 1851 im Habilitationsgesuch von Carl Adolf Cornelius, der später große Erfolge erzielte und bereits nach weniger als einem Jahrzehnt gleich mehrere Rufe an deutsche Universitäten erhielt: „Wenn ich erwäge, dass ich bereits seit dem Jahre 1840 an verschiedenen Gymnasien gelehrt, in mehrere Fächer in der Prima gewirkt, und als ordentlicher Gymnasiallehrer eine Besoldung von 450 Thl. zu beziehen, dass ich als Dank drei Semester hindurch in Braunsberg als Privatdocent in der Geschichte gelehrt, und diese mit einer Besoldung von 500 Thl. verbundene Stelle nur deshalb aufgegeben habe, um mir den Uebergang an eine Universität möglich zu machen, dann durfte ich vielleicht ohne Unbescheidenheit den Wunsch aussprechen, meine Thätigkeit an der Universität zu Breslau als Extraordinarius zu eröffnen.“156 Diese Forderung lehnte man in Berlin zwar ab; um Cornelius gleichwohl entgegenzukommen, wurde ihm eine auf zwei Jahre beschränkte jährliche Unterstützung in Höhe von 200 Talern zugesagt.157 Auch das war bereits ein beachtlicher Erfolg, der nur wenigen Nachwuchswissenschaftlern zuteil wurde. Dass sich ein Habilitand gerade für die Universität Breslau entschied, hatte nur bedingt mit der Herkunft des Bewerbers zu tun. Nur knapp die Hälfte der Bewerber kam aus Schlesien, und auch diese hatten mehrheitlich ihre Dissertation an einer anderen preußischen Universität verfasst. Typisch sind in dieser Gruppe Bildungswege wie der von Colmar Grünhagen aus Trebnitz, der neben Breslau die Universitäten Berlin und Jena besucht hatte und 1850 schließlich in Halle promoviert wurde.158 An welcher preußischen Universität man am Ende des Studiums die Dissertation verfasste, hing oft von den familiären Verhältnissen ab. Joseph August Kutzen etwa kam von der Universität Berlin nur deshalb nach Breslau zurück, weil sein neunundsiebzigjähriger Vater im Sterben lag und die Mutter mit der häuslichen Situation überfordert war.159 Generell ist den Lebensläufen schlesischer Akademiker noch im 19. Jahrhundert anzumerken, dass es eine bis weit in die Frühe Neuzeit zurückreichende Tradition gab, höhere Bil155 ���������������������������������������������������������������������������������������� Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 204: Cauer an Philosophische Fakultät der Universität Breslau, Breslau 30. Juli 1863. 156 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 41, Bd. 1, Bl. 183: Cornelius an Preußisches Kultusministerium, Münster 28. März 1851. 157 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., Bl. 207: Preußisches Kultusministerium an Kurator der Universität Breslau, Berlin 16. Februar 1852. 158 Gruenhagen, Colmarus: Vitae Urbani Secundi Particula Prima [...]. Halis Saxonuum 1848. 159 Schmidt: Leben und Bildungsgang, XIIf.

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dung aufgrund des Fehlens einer eigenen Landesuniversität außerhalb des Oderlandes zu erlangen.160 Für auswärtige Bewerber wiederum, die sich mit dem Gedanken einer Habilitation im Fach Geschichte trugen, war die Universität Breslau vor dem Ersten Weltkrieg nur eine Option unter mehreren – und sie war offensichtlich nicht die erste. Die bevorzugte Wahl war stets Berlin, doch an der renommierten Friedrich-Wilhelms-Universität in der preußischen beziehungsweise deutschen Hauptstadt war auch die Konkurrenzsituation zwangsläufig am stärksten. Der 1862 in Berlin geborene Ernst Kruse hatte in seiner Heimatstadt sowie in Tübingen, Göttingen und Köln studiert und war 1884 mit einer mediävistischen Dissertation im Fach Geschichte in Berlin promoviert worden.161 Bei seinem Vorhaben, auf diesem Gebiet auch zu habilitieren, wurde Kruse von dem Mittelalterhistoriker Julius Weizsäcker unterstützt, einem erfahrenen akademischen Lehrer, der vor der Übernahme des Ordinariats in Berlin 1881 bereits in Tübingen, München, Erlangen, Straßburg und Göttingen gewirkt hatte und mit der deutschen Universitätslandschaft bestens vertraut war.162 Von dem anfänglichen Plan Kruses, in Berlin zu habilitieren, versprach sich Weizsäcker wegen der „Überfüllung in diesem Fach“ allerdings wenig Aussicht auf Erfolg.163 Als Alternative bot sich die Universität Breslau an, die für Nachwuchswissenschaftler deutlich weniger Attraktivität besaß. Da aber jede weitere Qualifikation riskant blieb, empfahl Weizsäcker seinen aussichtsreichen Schüler zugleich – neben Franz Gfrörer und Otto Hintze – für die neu geschaffene Stelle eines wissenschaftlichen Archivangestellten am Stadtarchiv Aachen.164 Grundsätzlich war ein junger Akademiker bei der Wahl der Hochschule, an der er sich habilitieren wollte, frei, und er hatte auch jederzeit die Möglichkeit, seine Entscheidung rückgängig zu machen. Dass Informationen über die ins Auge gefasste Universität im Vorfeld von Nutzen waren, liegt auf der Hand. Im Fall von Hans Droysen bedurfte es nicht der Erfahrung eines akademischen Lehrers, um die richtige Universität zur 160 �������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim: Bildungswege, Wissenstransfer und Kommunikation. Schlesische Studenten an europäischen Universitäten der Frühen Neuzeit. In: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 18 (2010) 37–55. 161 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Kruse, Ernst: Verfassungsgeschichte der Stadt Strassburg. Trier 1884. Der Teildruck der Berliner Dissertation erschien noch im selben Jahr in einer längeren Fassung unter dem Titel: Verfassungsgeschichte der Stadt Strassburg besonders im 12. und 13. Jahrhundert. In: Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst. Ergänzungsheft 1 (1884) 1–64. Zum akademischen Werdegang Kruses vgl. die Personalunterlagen in Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 41, Bd. 4, Bl. 24–26, 92. 162 Helmrath, Johannes: Geschichte des Mittelalters an der Berliner Universität 1810–1918. In: Tenorth, Heinz-Elmar (Hg.): Geschichte der Universität Unter den Linden 1810–2010, Bd. 4: Genese der Disziplinen. Die Konstitution der Universität. Berlin 2010, 265–289; Wein, Martin: Die Weizsäckers. Geschichte einer deutschen Familie. Stuttgart 1988, 80–142. 163 ������������������������������������������������������������������������������������������ Zit. nach Lepper, Herbert: Das Stadtarchiv Aachen und seine Archivare 1821–1945. In: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 84/85 (1977/78) 579–699, hier 620. 164 Ebd., 616–621.

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Habilitation zu finden, hier genügte die Expertise des Vaters: Johann Gustav Droysen war bereits seit mehr als vier Jahrzehnten als Professor an verschiedenen Universitäten tätig, seit 1859 ebenfalls an der prestigeträchtigen Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, als sein jüngster Sohn (aus zweiter Ehe) im Alter von 25 Jahren am 6. Januar 1877 ein Habilitationsgesuch an die Philosophische Fakultät in Breslau richtete165 – er war vier Jahre zuvor in Berlin mit einer Abhandlung zur Alten Geschichte promoviert worden.166 Mit den Verhältnissen an der Universität Breslau war der Vater seit langem vertraut; Mitte der 1850er Jahre war er dort einmal als Nachfolger von Gustav Adolf Harald Stenzel im Gespräch gewesen, hatte den möglichen Ruf aber offenbar von Anfang an als schwer erträglich empfunden.167 Die von Hans Droysen eingereichte Schrift, die ebenfalls „dem Gebiet der alten Geschichte und der griechischen Staats- und Rechtsalterthümer“ angehörte, war von den Professoren Karl Neumann und August Reifferscheid, einem Althistoriker und einem Klassischen Philologen, begutachtet worden. Ihr Ergebnis war eindeutig: Eine Empfehlung zur Annahme der vorgelegten Habilitationsschrift könne nicht gegeben werden, denn diese sei lediglich „zusammengesetzt“ aus Fragmenten, „die mit theils unerheblichen, theils unüberlegten Bemerkungen beschrieben sind“. Beide ­konstatierten allgemein einen „Mangel an historischem Sinn“ bei Droysen und kamen zu dem abschließenden Urteil: „die doctor dissertation ist erheblich besser, aber ebenfalls kein Specimen für historische Begabung“.168 Vermutlich blieb diese Einschätzung nicht vertraulich. Denn am 11. März 1877 teilte Droysen dem Dekan mit, dass er sich veranlasst sehe, „sein Habilitationsgesuch in der philosophischen Facultät der Universität Breslau zurückzuziehen“,169 und bat um Rücksendung sämtlicher Unterlagen. Vier Wochen später bat er zusätzlich um schriftliche Bestätigung, dass er sein Gesuch ­zurückgezogen 165 ������������������������������������������������������������������������������������������ Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 328: Dekan an Mitglieder der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau, Breslau 13. Januar 1877; das Gesuch ebd., Bl. 346– 347, der beigelegte Lebenslauf Bl. 329–331. Zum akademischen Werdegang Droysens vgl. ferner Droysen, Zoe: Lebenslauf Hans Droysen. In: Droysen, Hans (Hg.): Der Briefwechsel Friedrichs des Großen mit der Gräfin Camas und dem Baron Fouqué. Köln/Berlin 1967 (Veröffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz 1), 79–80 (Bibliographie ebd., 81–83). 166 Droysen, Joannes: De Demophanti Patroclidis Tisameni Populiscitis Quae Inserta Sunt Andocidis orationi ΠΕΡΙ ΜΥΣΤΗΡΙΩΝ. Berolini 1873 (im Anschluss an die Theses, nach 47, ist ein Lebenslauf abgedruckt). 167 Hübner, Rudolf (Hg.): Johann Gustav Droysen. Briefwechsel, Bd. 2 (1851–1884). Stuttgart/ Berlin/Leipzig 1929, 233–235; Nippel, Wilfried: Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik. München 2008, 208f. 168 ������������������������������������������������������������������������������������� Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 337–345: Gutachten von Karl Neumann und August Reifferscheid zur Habilitationsschrift von Hans Droysen, 1877. 169 Ebd., Bl. 332: Droysen an Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau, Berlin 11. März 1877. Um einer Ablehnung zuvorzukommen, wurden immer wieder Habilitationsgesuche zurückgezogen. Zum akademischen Werdegang des Osteuropahistorikers Karl Fritzler, der hier nur exemplarisch genannt werden soll, vgl. Zeil, W[ilhelm]: Fritzler, Karl. In: Eichler, Ernst u. a. (Hg.): Slawistik in Deutschland von den Anfängen bis 1945. Ein biographisches Lexikon. Bautzen 1993, 126–127.

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habe, bevor er über das Ergebnis des Verfahrens in Kenntnis gesetzt worden sei.170 Offenbar wollte er einem möglichen Gerede über den Ausgang seines Habilitationsverfahrens vorbeugen. Das spätere Urteil seiner Tochter Zoe Droysen – „Durch Intrigen zerschlugen sich seine [Hans Droysens] Hoffnungen, wie sein Vater an die Universität berufen zu werden“171 – ist fragwürdig; das Verfahren in Breslau lieferte jedenfalls keine Anhaltspunkte für einen solchen Verdacht. Generell ist nur schwer zu beurteilen, welche Rolle die universitäre Sozialisation bei der geschichtswissenschaftlichen Habilitation in Breslau spielte. Die Frage, ob man sich bereits als „Schüler“ eines bestimmten akademischen Lehrers empfand, als man diese Qualifikation in Angriff nahm, ist auf Grundlage des vorliegenden Quellenmaterials nicht zu beantworten. Für die eigene Doktorarbeit hatte man zwar thematische Anstöße durch einen Dozenten erhalten. Eigentliche Betreuer der Dissertation („Doktorväter“) gab es im 19. Jahrhundert allerdings ebenso wenig wie anschließende Betreuer der Habilitation, da für das Verfahren unverändert die gesamte Fakultät zuständig war.172 Überlieferte Selbstzeugnisse geben gewisse Aufschlüsse, sind als Selbstzuschreibungen methodisch aber nicht unproblematisch; gleiches gilt für Widmungen und andere Bekundungen akademischer Dankbarkeit. Für Paul Cauer etwa war seit dem Tod des Vaters im Jahr 1834 der Altphilologe Friedrich Haase, der seit jenem Jahr in Schulpforta lehrte, eine prägende Persönlichkeit. Das zeigte sich privat ebenso wie beruflich. Haase, der 1838 in Halle promoviert worden war, übernahm 1840 eine außerordentliche Professur an der Universität Breslau. 1846, ein Jahr bevor Cauer sein Habilitationsgesuch in Breslau stellen sollte, hatte man Haase dort zum Ordinarius ernannt.173 Dem Bericht von Cauers Sohn nach war es Haase, der den Weg des Vaters zum Privatdozenten in Breslau geebnet hatte: „Er hatte ihn überhaupt nach Breslau gezogen, und von seinem Rath fortdauernd unterstützt, begann mein Vater dort seine akademische Lehrthätigkeit.“174 Seinem „Tutor und väterlichen Freunde“, wie es an gleicher Stelle heißt, widmete Paul Cauer zu dessen fünfundzwanzigjährigem Doktorjubiläum 1863 eine kleine Festschrift, in der dieses Nahverhältnis auch öffentlich dokumentiert wurde.175 170 ��������������������������������������������������������������������������������������� Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 337: Droysen an Dekan der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau, Berlin 13. April 1877. 171 Droysen: Lebenslauf Hans Droysen, 79. 172 Hammerstein: Vom Interesse des Staates, 190. 173 Schneider, Alfred: Pariser Gelehrtenbriefe an Professor Friedrich Haase in Breslau 1845–1863. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 46 (1929) 113–128; ders.: Zur Geschichte einer Breslauer Professur. Germanistenbriefe aus den Jahren 1850–52. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 65 (1931) 502–528. Die hier edierten, für die Universitätsgeschichte bisher nicht genutzten Briefe liefern wichtige Einblicke in die Abläufe bei Habilitations- und Berufungsverfahren an der Philosophischen Fakultät. 174 Cauer: Paul Eduard Cauer, 39. 175 Herrn Professor Dr. Friedrich Haase wünschen Glück zum fünfundzwanzigjährigen DoctorJubiläum am 10. Mai 1863. Die Mitglieder des wissenschaftlichen Vereins zu Breslau [...]. Bres-

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Ein vergleichbarer Fall begegnet uns bei Eberhard Gothein, der in seinem Lebenslauf, den er in der 1877 in Breslau verteidigten Dissertation abdruckte, festhielt: „Nach dem Tode meiner Eltern wurde ich von meinem Onkel Dr. G[ustav] Stenzel in Breslau erzogen.“176 Das war zweifelsohne Ausdruck einer besonderen Dankbarkeit und Wertschätzung, die Gothein ein Leben lang empfand. Eine Schwester seiner Mutter war mit dem Botaniker Karl Gustav Wilhelm Stenzel verheiratet, dem ältesten Sohn des einflussreichen Breslauer Historikers Gustav Adolf Harald Stenzel. Beiden Akademikern, die ihn in besonderer Weise prägten und förderten, widmete Gothein in späteren Jahren ein literarisches Denkmal.177 Im Gegensatz zu diesen aussagekräftigen Verflechtungen ist der traditionelle Dank, der akademischen Lehrern in Qualifikationsschriften ausgesprochen wird, nicht mehr als eine verbreitete Gepflogenheit. So heißt es beispielsweise am Ende des knappen Curriculum vitae in der eben genannten Dissertation Gotheins: „Den Herren Professoren [Wilhelm] Dilthey, [Bernhard] Erdmannsdörffer, [Karl] Knies, [Karl] Neumann schulde ich besonderen Dank für wissenschaftliche Förderung.“178 Ähnliche Formulierungen finden sich zuhauf auch in anschließenden Habilitationsschriften. Noch vager ist die Bezeichnung „Schüler“, die sich ebenfalls in den selbst verfassten Lebensläufen von Doktoranden und Habilitanden sowie in Nachrufen von Kollegen findet und die oft nicht mehr als einen Topos im universitären Milieu darstellte. Anlässlich der Einweihung des Ranke-Museums, die 1907 im kursächsischen Wiehe an der Unstrut, der Geburtsstadt Rankes, feierlich begangen wurde, bezeichnete sich Theodor Lindner in seiner Rede beispielsweise als „eine[n] der letzten unmittelbaren Schüler des Meisters, dem es noch vergönnt war, ihm näher zu treten“.179 Lindner hatte bereits die Festrede bei der Einweihung des Ranke-Denkmals gehalten, das 1896, zehn Jahre nach dem Tod des Historikers, am gleichen Ort eingeweiht worden war. Bei jener Gelegenheit hatte er sein Verhältnis zu Ranke ebenfalls angesprochen: „Aber es gereicht mir auch zur hehren Freude, die Weiherede für Ranke’s Denkmal zu halten, nicht allein als Fachgenosse und Schüler, wie es im Grunde alle deutschen Historiker sind, sondern als einer, der selbst noch zu Ranke’s Füßen gesessen hat und zu den wenigen Jüngeren gehört, denen es noch vergönnt war, ihm persönlich näher zu treten und sich auch über lau 1863. Cauer veröffentlichte in der Festschrift den Beitrag „Friedrich der Grosse und das classische Alterthum“ (9–27). 176 Gothein, Eberhard: Der gemeine Pfennig auf dem Reichstage von Worms. Breslau 1877, nach 57 (Curriculum vitae). Einzelheiten über die familiäre Situation Gotheins und das Verhältnis zur Familie Stenzel bei Maurer: Eberhard Gothein, 20f., 141, 175–177, 184, 326; Stenzel: Gustav Adolf Harald Stenzels Leben, 147, 201f. 177 Gothein, Eberhard: Gustav Adolf Stenzel und Leopold v. Ranke. In: Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nr. 82 (Beilage Nr. 69) vom 22. März 1892, 1–5, Nr. 83 (Beilage Nr. 70) vom 23. März 1892, 1–3; ders.: Karl Gustav Stenzel. In: 83. Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Breslau 1906, 14–22 (Schriftenverzeichnis ebd., 22–25). 178 Gothein: Der gemeine Pfennig auf dem Reichstage von Worms, nach 57. 179 ���������������������������������������������������������������������������������������� Lindner, Theodor: Die Weihe des Ranke-Museums in Wiehe. In: Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nr. 108 vom 4. Juni 1907, 265–266, hier 265.

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die Studienzeit hinaus seines Wohlwollens zu erfreuen.“180 Was genau in diesem Zusammenhang gemeint war und welchen Einfluss der fraglos einflussreiche Altmeister konkret auf die über Breslau führende Karriere Lindners genommen hatte, bleibt unklar. Verfolgt man die Lebensläufe der Breslauer Historiker bis zum frühen 20. Jahrhundert, so drängt sich tatsächlich der Eindruck auf, dass „alle Schüler Rankes“ waren,181 die jemals bei ihm als Hörer in einer Vorlesung gesessen hatten. Das Problem der Schülerschaft brachte Jacob Caro treffend in seinem 1894 in der Chronik der Königlichen Universität zu Breslau erschienenen Nachruf auf Richard Roepell zum Ausdruck: „Wenn man auf Grund dieser äusserlichen Züge seines Bildungsgangs Roepell hier als einen Schüler Heinrich Leo’s, dort als einen Schüler Leopold Ranke’s bezeichnete, so sind allenfalls die Impulse ins Auge gefasst, welche auf die Technik und Methode Bezug haben. Eine tiefere geistige Verwandtschaft hat er mit Keinem von Beiden gemein.“182 Hinzu kommt ein zweiter Punkt: Es adelte gleichsam den eigenen akademischen Werdegang, wenn man bei Ranke gehört hatte und dies öffentlich machte. Selbst wenn man ihn wie Joseph August Kutzen nicht hören konnte, als man in Berlin studiert hatte, war auch dies immer noch eine Mitteilung im Lebenslauf wert.183 Ähnlich schwierig ist der Einfluss akademischer Lehrer auf die Themenstellung der Habilitationsschriften zu bemessen. Grundsätzlich führte die Nähe der seit Beginn des 19. Jahrhunderts regelmäßig eingeforderten zusätzlichen Qualifikationsschrift zur älteren Dissertation dazu, dass nur in Ausnahmefällen wirklich neue Fragestellungen aufgegriffen und bearbeitet wurden. Wie andernorts lag das durchschnittliche Habilitationsalter in Breslau um 1850 bei unter 25 Jahren. Um sich auf ein neues Thema einzulassen, fehlte schlichtweg die Zeit. Einfluss auf die Habilitationsschriften nahmen also, sofern sich überhaupt davon sprechen lässt, allenfalls diejenigen Dozenten, die einen Habilitanden schon von der Studienzeit her kannten. Da diese spezifische Abhandlung aber bis weit in das 19. Jahrhundert hinein ohnehin einen gänzlich untergeordneten Wert besaß, lässt sich jener Einfluss oft bei anderen Veröffentlichungen leichter aufzeigen. So publizierte Theodor Jacobi noch im Jahr seiner Habilitation in Breslau, 1841, eine im Vergleich zu der schmalen Qualifikationsschrift ungleich substantiellere Studie 180 Ders.: Rede bei der Weihe des Leopold v. Ranke in Wiehe errichteten Denkmals. In: Beilage zur Allgemeinen Zeitung, Nr. 122 vom 28. Mai 1896, 1–3, hier 1. 181 Muhlack, Ulrich: Leopold von Ranke (1795–1886). In: Raphael, Lutz (Hg.): Klassiker der Geschichtswissenschaft, Bd. 1: Von Edward Gibbon bis Marc Bloch. München 2006, 38–63, hier 58. 182 Caro, J[acob]: Richard Roepell. In: Chronik der Königlichen Universität zu Breslau für das Jahr vom 1. April 1893 bis zum 31. März 1894, Bd. 8. Breslau 1894, 99–119, hier102. Hilfreich ist ebenfalls die Differenzierung von „Schule“ und „Schüler“, die Richard Winners am Beispiel von Jakob Burckhardt vornahm: „Burckhardt ist aus der Schule Rankes hervorgegangen, aber es ist unmöglich, ihn als einen Schüler Rankes zu bezeichnen.“ Winners, Richard: Weltanschauung und Geschichtsauffassung Jakob Burckhardts. Wiesbaden 1929 (Beiträge zur Kulturgeschichte des Mittelalters und der Renaissance 40), 32. 183 Schmidt: Leben und Bildungsgang, XIII.

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über eine Briefsammlung König Johanns von Böhmen.184 Sie basierte auf einer aus dem Hedwigstift stammenden, nach der Säkularisation der Klöster in das Breslauer Provinzialarchiv gelangten Handschrift, auf die ihn Gustav Adolf Harald Stenzel aufmerksam gemacht hatte. Bei Stenzel hatte Jacobi einst studiert, und ihm, seinem „verehrten Lehrer“, war das Werk „mit innigstem Dank für Rath und Unterstützung“ auch gewidmet.185 Karl Gustav Kries, der zwei Jahre vor Jacobi in Breslau habilitiert worden war, erfuhr ebenfalls durch Stenzel wesentliche Anregungen für seine Forschungen zur Entwicklung der ständischen Verhältnisse im Oderland – ihr enges Vertrauensverhältnis war ein Grund für die spätere Kontroverse mit Heinrich Wuttke.186 In diesem Fall ist es nachvollziehbar, dass Leopold Ranke 1845 in einem Schreiben an Stenzel diese beiden Nachwuchswissenschaftler, Jacobi und Kries, als die „wahren Schüler“ seines Breslauer Kollegen bezeichnete.187 Ob und inwieweit akademische Schul- und Netzwerkbildungen auf den Ausgang eines Verfahrens Einfluss hatten, ist den Habilitationsakten nicht zu entnehmen. Gewiss gab es für ältere Lehrstuhlinhaber Möglichkeiten, jüngere Mitglieder der Fakultät zu fördern. 1833 etwa setzte sich Ludwig Wachler in einer gutachterlichen Stellungnahme, die er direkt an den Preußischen Kultusminister sandte, mit Nachdruck für eine Ernennung des zwei Jahre zuvor in Breslau habilitierten Joseph August Kutzen zum Extraordinarius ein. Er habe die Leistungen Kutzens bereits seit Jahren genau verfolgt und sei überzeugt, dass dieser „zu einem akademischen Lehramte Beruf und Tüchtigkeit“ besitze: „Er ist philologisch treflich vorbereitet, hat sich die Ausbildung des kritischen Sinns gewißenhaft angelegen seÿn laßen und zeichnet sich durch mündlichen Vortrag auf das vortheilhafteste aus.“188 Umgekehrt gibt es keinen Beleg dafür, dass ein Bewerber aufgrund einer spezifischen wissenschaftlichen Position oder seiner Nähe zu einem bestimmten Akademiker und dessen Schule benachteiligt oder zur Gänze abgewiesen worden wäre. In vier Fällen 184 Jacobi, Theodor (Hg.): Codex Epistolaris Johannis Regis Bohemiae. Briefe des Königs Johann von Böhmen, seiner Verwandten und anderer Zeitgenossen, nebst Auszügen aus Urkunden desselben Königs, als einer Ergänzung zu Fr. Böhmer’s Regesten. Berlin 1841. Zur Genese der Edition vgl. neben der Vorrede auch Schneider: Zur Geschichte einer Breslauer Professur, 513. 185 Jacobi (Hg.): Codex Epistolaris Johannis Regis Bohemiae, III. 186 ������������������������������������������������������������������������������������������ Bahlcke, Joachim: Ständeforschung. In: ders. (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2005 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 11), 207–234, hier 210f. 187 Ranke an Stenzel, Berlin 6. Oktober 1845. Abgedruckt in: Gothein: Gustav Adolf Stenzel und Leopold v. Ranke, Nr. 83 [70], 3. 188 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 3, Bd. 4, Bl. 48: Wachler an Preußischen Kultusminister, Breslau 25. August 1833. Zu Wachler vgl. Löffler, Robert: Pädagogik, Politik und Wissenschaft. Der Historiker Ludwig Wachler (1767–1838) in seiner Zeit. Frankfurt a. M. 2011; ders. (Hg.): Ludwig Wachler (1767–1838) – Professor, Herausgeber, Bibliothekar. Briefwechsel und wissenschaftliches Netzwerk. Berlin 2018.

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gab es Probleme aufgrund der wissenschaftlichen Qualität einzelner Habilitationsleistungen. Im Fall von Julius Krebs hatte die Philosophische Fakultät zwar mehrheitlich akzeptiert, das Verfahren fortzusetzen, obwohl die 1879 als Manuskript eingereichte Habilitationsschrift – die positiv begutachtet wurde – bereits vor Ablauf des Verfahrens veröffentlicht worden war.189 Nach den Vorträgen war man sich jedoch einig, wie ein Vermerk auf dem Gutachten Roepells verrät: „Das Colloquium fiel unbefriedigend aus.“190 Fünf Jahre später bewarb sich der aus dem livländischen Dorpat gebürtige Arthur Fränkel, der sechs Jahre zuvor an der Universität Leipzig promoviert worden war,191 mit einer Habilitationsschrift zur Alten Geschichte in Breslau. Eine Begutachtung durch Benedikt Niese, der seit drei Jahren die Professur für Klassische Philologie bekleidete, ergab allerdings stärkere Vorbehalte gegen die Eignung des Antragstellers, so dass auch dessen Gesuch nicht weiter verfolgt wurde.192 Bei dem aus Cottbus gebürtigen, 1889 an der Universität Marburg promovierten Althistoriker Julius Koch193 war die „nicht einwandsfreie Habilitationsschrift“, so der Extraordinarius Ulrich Wilcken in seinem Hauptgutachten 1892, der Grund, warum man die Abhandlung zur Überarbeitung zurückgab; Koch zog sein Gesuch daraufhin jedoch zurück.194 Unklar ist – zumindest was die nur teilweise überlieferten Habilitationsakten im Universitätsarchiv Breslau angeht – der Ausgang des Verfahrens von Walther Stein aus Langenberg im Rheinland, dessen im Jahr 1900 vorgelegte Habilitationsschrift zur Geschichte der Hanse bei mehreren Mitgliedern der Philosophischen Fakultät auf Kritik gestoßen war. Stein, der 1889 in Berlin promoviert worden war,195 hatte im Anschluss mehrere Jahre am Stadtarchiv Köln gearbeitet. Mit Blick auf die bisherige Berufstätigkeit Steins gab Jacob Caro überdies zu bedenken, dass der Antragsteller bereits 36 Jahre alt sei; eine weitere wissenschaftliche Entwicklung sei in diesem Alter wohl nicht zu er189 Vgl. Anm. 122. 190 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 369–370: Dekan an Mitglieder der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau, Breslau 15. Oktober 1879. 191 Fraenkel, Arthur: De Condicione, Jure, Jurisdictione Sociorum Atheniensium. Rostochii 1878 (Vita, 80). 192 ������������������������������������������������������������������������������������������ Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 93, Bl. 3–4: Fränkel an Philosophische Fakultät der Universität Breslau, Breslau 5. Januar 1884; der Lebenslauf Fränkels ebd., Bl. 6–10, das Gutachten Nieses vom 20. Januar 1884 Bl. 10–12. Zu Fränkels akademischem Werdegang vgl. Gottzmann, Carola L./Hörner, Petra: Lexikon der deutschsprachigen Literatur des Baltikums und St. Petersburgs. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Bd. 1. Berlin/New York 2007, 431f. 193 ����������������������������������������������������������������������������������������� Koch, Julius: De Codicibus Cuiacianis Quibus In Edendo Claudiano Claverius Usus Est. Mar���� purgi Cattorum 1889 (Vita, nach 62). 194 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 93, Bl. 155: Koch an Philosophische Fakultät der Universität Breslau, Breslau 26. April 1892; das Gutachten ebd., Bl. 156–159, das Schreiben Kochs vom 20. Juni 1892, mit dem er sein Habilitationsgesuch zurückzog, Bl. 160. Zum akademischen Werdegang Kochs vgl. Schraut, Sylvia: Kartierte Nationalgeschichte. Geschichtsatlanten im internationalen Vergleich 1860–1960. Frankfurt/New York 2011, 69f., 80. 195 Stein, Walther: Die Genossenschaft der deutschen Kaufleute zu Brügge in Flandern. Berlin 1889.

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warten.196 Stein übersandte gleichwohl drei Themen für seine Probevorlesung. Die Fakultät beschloss, ihn zu den weiteren Habilitationsleistungen zuzulassen.197 Im Herbst 1900 war sein Verfahren, wie anderen Quellen zu entnehmen ist, abgeschlossen, drei Jahre später ging er dann als Extraordinarius für Geschichte an die Universität Göttingen.198 Die eingereichte Habilitationsschrift, die in der Forschung allgemein gute Aufnahme fand, hatte Stein noch im Jahr 1900 veröffentlicht.199 Wenn es in Habilitationsverfahren während des 19. Jahrhunderts zu Konflikten kam, dann nicht aus wissenschaftlichen, sondern aus außerwissenschaftlichen Gründen. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass die Universität zwar ein solches Verfahren verantwortete, der Staat sich aber die Bestätigung vorbehielt.200 Angesichts der vormärzlichen Erfahrungen und der Angst vor politisch missliebigen Privatdozenten wurde die geforderte Staatstreue eines jeden Habilitanden vom Kultusministerium sorgfältig überprüft.201 Prekär wurde die Situation vor 1848 immer dann, wenn Bewerber der burschenschaftlichen Bewegung zu nahe standen. Dies verdeutlicht der Fall des aus Koblenz stammenden Friedrich Wilhelm Carové, dessen 1820 an der Universität Breslau ins Auge gefasste Habilitation letztlich aus politischen Gründen scheiterte. Carové war ein führendes Mitglied der burschenschaftlichen Bewegung. Er war nicht nur als Redner auf dem Wartburgfest von 1817 aufgetreten,202 er hatte mit seiner ein Jahr später in Eisenach publizierten Schrift Entwurf einer Burschenschafts-Ordnung und Versuch einer Begründung derselben auch überregional Aufmerksamkeit gefunden. Was er in diesem Buch schrieb, musste zwangsläufig Zweifel an seiner Staatstreue wecken: „Als todt, oder doch als nur mehr vegetirend, müssen näher diejenigen Staaten bezeichnet werden, in denen alle Befehle einzig vom Throne ausge196 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 93, Bl. 217: Stein an Philosophische Fakultät der Universität Breslau, Gießen 2. April 1900; das Gutachten ebd., Bl. 219–224. Zum akademischen Werdegang Steins vgl. Chronik der Georg-August-Universität zu Göttingen für das Rechnungsjahr 1904. Göttingen 1905, 10. 197 Vgl. die Unterlagen in Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 93, Bl. 225–241. 198 Chronik der Königlichen Universität zu Breslau für das Jahr vom 1. April 1903 bis 31. März 1904, Bd. 18. Breslau 1904, 6; Zentralblatt für die gesamte Unterrichts-Verwaltung in Preußen (1903) 630; Altpreussische Monatsschrift 41 (1904) 139. 199 Stein, Walther: Beiträge zur Geschichte der deutschen Hanse bis um die Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts. Giessen 1900 (am Ende, nach 151, die Thesen, die er zusammen mit der Arbeit am 25. Oktober 1900 in der Aula Leopoldina verteidigt hatte). 200 Hammerstein: Vom Interesse des Staates, 188f. 201 ������������������������������������������������������������������������������������������ Eine herausragende Regionalstudie bietet Oelschlägel, Thomas: Hochschulpolitik in Württemberg 1819–1825. Die Auswirkungen der Karlsbader Beschlüsse auf die Universität Tübingen. Sigmaringen 1995 (Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 43). 202 Carové, Friedrich Wilhelm: Rede gehalten am 19. October 1817 zu denen, auf der Wartburg versammelten deutschen Burschen. Eisenach 1817; ders.: Drei Reden an die Burschenschaft. Eisenach 1817. Zu seiner Biographie vgl. Schürmann, Albert: Friedrich Wilhelm Carové. Sein Werk als Beitrag zur Kritik an Staat und Kirche im frühliberalen Hegelianismus. Bochum 1971.

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Joachim Bahlcke Abb. 9: Der Fall von Friedrich Wilhelm Carové, der 1818 in Heidelberg bei Hegel promoviert worden war und anschließend in Breslau die Habilitation als Privatdozent anstrebte, verdeutlicht das Spannungsverhältnis zwischen Universität und Kultusministerium. Die Fakultät erkannte zwar alle Habilitationsleistungen Carovés an, die preußische Regierung jedoch versagte dem Kandidaten aus Zweifel an dessen Staatstreue die Zulassung. Bildnachweis: Kurpfälzisches ­Museum der Stadt Heidelberg, Sign. S 7558.

hen, und den einzelnen Gesammtheiten für ihren Kreis alle Wirksamkeit, alle Selbstbestimmung verweigert und benommen ist. [...] Nicht blos das Gesetz soll überall walten und das abstracte Recht, sondern dieses soll nur die Grundlage seyn für das Höhere, – die Freyheit, – für die ungestörte Aeußerung nämlich des vernünftigen Willens der Einzelnen und ihrer Eigenthümlichkeit, sofern diese das Allgemeine nicht stört.“203 Mit einer Arbeit über die Verfassung der Burschenschaft war Carové 1818 denn auch an der Universität Heidelberg bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel promoviert worden.204 Seine anschließenden Schritte, die in Breslau auf eine Habilitation an der Philosophischen Fakultät abzielten, lassen sich nicht zweifelsfrei rekonstruieren. Offenbar absolvierte Carové einen Teil der geforderten Leistungen, wie mehrere Zeitungen meldeten.205 Strittig ist aber unverändert die Frage, ob das Verfahren formal abgeschlossen war, bevor ihn die preußische Regierung von der Universität wieder entfernte.206 203 �������������������������������������������������������������������������������������� Carové, Friedrich Wilhelm: Entwurf einer Burschenschafts-Ordnung und Versuch einer Begründung derselben. Eisenach 1818, 18. 204 Jaeschke, Walter: Hegel-Handbuch. Leben – Werk – Schule. Stuttgart 32016, 40f. 205 Leipziger Literatur-Zeitung, Nr. 56 vom 4. März 1820, Sp. 441. 206 Hoffmeister, Johannes (Hg.): Briefe von und an Hegel, Bd. 2. Hamburg 31969, 458–465; Klutentreter, Wilhelm: Die Rheinische Zeitung von 1842/43 in der politischen und geistigen Be-

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Nicht in Heidelberg, sondern in Leipzig war Bruno Hildebrand bei der Burschenschaft aktiv gewesen, bevor er 1832 zum Studium an die Universität Breslau ging. Dort wurde er zwei Jahre später festgenommen und inhaftiert. Unmittelbar nach der Promotion 1836 in Berlin207 stellte Hildebrand ein Habilitationsgesuch in Breslau. Der Kurator der Universität informierte am 25. August 1836 zunächst wie üblich das Kultusministerium in Berlin und fragte an, ob die burschenschaftliche Vergangenheit Hildebrands „als ein Hinderniß seiner beabsichtigten Habilitation zu betrachten“ sei. Parallel wandte er sich an den örtlichen Polizeipräsidenten: Mit Erlass des Ministers vom 28. Dezember des Vorjahres, so der Kurator, sei er angewiesen worden, bei der Bewerbung eines Nachwuchswissenschaftlers zu prüfen, ob „der Kandidat einer Theilnahme an verbotenen Verbindungen überführt oder verdächtig geworden“ sei; die „Integrität des Kandidaten in politischer Beziehung“ müsse gewährleistet sein. Hildebrand sei im März 1834 von der Universität Breslau abgegangen, wolle dort aber nunmehr habilitieren, da er eine Universitätslaufbahn in Preußen anstrebe. Gegen ihn spreche, dass er sich zuvor in Leipzig der burschenschaftlichen Bewegung angeschlossen habe. Er bitte daher um Auskunft, ob man Hildebrands Gesuch überhaupt weiterverfolgen dürfe.208 Der Kultusminister antwortete am 8. September, die Bedenken gegen Hildebrand seien „nicht beseitigt“; der Kurator solle dem Bewerber daher, soweit dies in seiner Macht stehe, von einer wissenschaftlichen Laufbahn abraten.209 Ferdinand Heinke erstattete zwei Monate später, am 8. November 1836, dem Minister Bericht, er habe Hildebrand hingewiesen „auf das beklagenswerthe Schiksal des Professor Knobel und anderer hiesiger Universitäts-Lehrer“ und ihn „auf die Schwierigkeit des Vorwärtskommens als Docent beÿ hiesiger Universität“ aufmerksam gemacht. Hildebrand habe sich davon allerdings unbeeindruckt gezeigt und strebe unverändert die akademische Laufbahn an.210 wegung des Vormärz, Bd. 2. Dortmund 1967 (Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung 10/2), 251; Brümmer, Franz: Deutsches Dichter-Lexikon. Biographische und bibliographische Mittheilungen über deutsche Dichter aller Zeiten. Unter besonderer Berücksichtigung der Gegenwart. Nachtrag. Eichstätt/Stuttgart 1877, 33f. 207 Hildebrand, Frid[ericus] Bruno: De Veterum Saxonum Re Publica. Pars Prior. Berolini 1836. 208 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 3, Bd. 4, Bl. 115: Kurator der Universität Breslau an Preußisches Kultusministerium, Breslau 25. August 1836; sein Schreiben an den Breslauer Polizeipräsidenten ebd., Bl. 116–117. 209 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., Bl. 118: Preußischer Kultusminister an Kurator der Universität Breslau, Berlin 8. September 1836. Hildebrand sandte dem Ministerium wenig später, am 8. November, seine soeben im Druck erschienene Habilitationsschrift (ebd., Bl. 119). Es war, wie in anderen Fällen, lediglich eine Erweiterung der Berliner Dissertation; die Abhandlung erschien daher entsprechend als „zweiter Teil“. Vgl. Hildebrand, Bruno: De Veterum Saxonum Re Publica. Pars Altera. Vratislaviae 1836. Noch im selben Jahr erschien eine dritte Variante in Breslau unter dem gleichen Titel, aber ohne die Angabe der beiden Teile. Vgl. Pretzsch (Bearb.): Verzeichnis der Breslauer Universitätsschriften 1811–1885, 294. 210 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 3, Bd. 4, Bl. 120: Kurator der Universität Breslau an Preußisches Kultusministerium, Breslau 8. November 1836.

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Heinke spielte in seinem Schreiben auf die prekäre Lage des evangelischen Theologen August Knobel an, der seit Jahren unter widrigsten persönlichen Umständen an der Universität Breslau tätig war – zunächst als Privatdozent, seit 1835 als ­Extraordinarius, jeweils aber in unvergüteter Stellung.211 Bei Hildebrand setzte sich am Ende die Fakultät durch, zumal das Gutachten der Habilitationsschrift positiv ausgefallen war und auch alle anderen Leistungen ordnungsgemäß erbracht wurden. Anfragen beim Breslauer Polizeipräsidenten gab es bei mehreren Habilitanden. Auch bei Joseph August Kutzen – der 1822 das Studium in Breslau aufgenommen und sich dort ebenfalls burschenschaftlich engagiert hatte – ließ sich der Kurator 1831 nach dessen Habilitationsgesuch versichern, dass sich dieser „in staatsbürgerlicher und polizeilicher Hinsicht“ ohne jeden Zweifel „vorwurfsfrei betragen“ habe.212 Nicht weniger wichtig als die politische Gesinnung war bei Kutzen die theologische Ausrichtung, brachte man ihn doch frühzeitig mit der katholischen Professur in Breslau in Verbindung. Dies erklärt, warum Ludwig Wachler 1833 in seiner bereits zitierten, direkt an das Kultusministerium gerichteten Stellungnahme über Kutzen schrieb: „Er ist frommer Katholik, ohne beschränkende und unduldsame Einseitigkeit.“213 Nicht bei allen Bewerbern war die religiöse Haltung derart unproblematisch. Die meisten Nachfragen ergaben sich in Breslau beim Habilitationsgesuch von Theodor Paur 1851. Der evangelische, als Oberlehrer an der Realschule zu Neisse tätige Historiker war drei Jahre zuvor von seiner Stelle suspendiert worden. Wegen offensichtlicher Abweichung von der christlich-dogmatischen Lehre hatte die dienstvorgesetzte Stelle ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet. Paur gab seit 1845 die Gesammelten Werke des aus Neisse gebürtigen, von kirchlichen Kreisen als Atheist verurteilten Friedrich von Sallet heraus, der fünf Jahre zuvor gestorben war. Über den freigeistigen Dichter, dessen religionskritische Ansichten in Preußen ebenso für Aufruhr gesorgt hatten wie satirische Äußerungen zum Militärwesen, hatte Paur zudem bereits eine größere Studie veröffentlicht.214 Im Oktober 1848 hatte sich Paur schon einmal vergeblich an das Kul211 Arnold, Franklin: Die evangelisch-theologische Fakultät. In: Kaufmann (Hg.): Festschrift, Bd. 2, 175–199, hier 183f.; Jahrbuch für Freunde des Gustav-Adolf-Vereins 1 (1864) 126f. 212 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 3, Bd. 3, Bl. 183: Kurator der Universität Breslau an Preußisches Kultusministerium, Breslau 2. September 1831. Zu Kutzens Anteil an der burschenschaftlichen Bewegung und deren Verfolgung in Breslau vgl. Nicolai, Walter: Die Breslauer Burschenschaft bis zum Ende der Demagogenverfolgungen 1817–1835. Heidelberg 1990 [ND d. Ausgabe Berlin 1935] (Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung. Beiheft 5), 502–505. 213 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 3, Bd. 4, Bl. 48: Wachler an Preußischen Kultusminister, Breslau 25. August 1833. 214 Paur, Theodor (Hg.): Friedrich von Sallet’s sämmtliche Schriften, Bd. 1–5. Breslau 1845–1848 („Biographisches Vorwort“ von Paur in Bd. 1, I–VIII). Die Augabe erlebte in den kommenden Jahren eine Vielzahl von Neuauflagen. Vgl. ferner ders.: Lebens- und Bildungsgeschichte Friedrichs von Sallet. In: Leben und Wirken Friedrich von Sallet’s nebst Mittheilungen aus dem literarischen Nachlasse desselben. Herausgegeben von einigen Freunden des Dichters. Breslau

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tusministerium mit der Bitte gewandt, man möge ihm „den Übergang zur akademischen Laufbahn“ ermöglichen; konkret bat er darum, ihm die Stelle des im Februar des Jahres verstorbenen Extraordinarius Theodor Jacobi an der Universität zu übertragen.215 Auf Paurs Habilitationsgesuch vom 20. Juni 1851 hin wurde rasch klar, dass es zu Differenzen zwischen Kurator, Ministerium und Fakultät kommen würde. Nach den üblichen Erkundigungen seitens des Kurators erhielt Paur am 25. Juli ein Ablehnungsschreiben. Daraufhin wandte er sich am 13. August erneut direkt an die Fakultät, um die Mutmaßungen über die Ereignisse in Neisse richtigzustellen. Es stehe ihm zwar nicht zu, so Paur, ein Urteil über „das Verhältniß der hiesigen Universität zur katholischen Kirche“ zu fällen, aber es sehe doch danach aus, als ob diese auf sein Verfahren Einfluss genommen habe.216 Gustav Adolf Harald Stenzel beantragte im Oktober schließlich eine außerordentliche Sitzung der Philosophischen Fakultät, um den Fall ausführlich zu erörtern. Die Fakultät ließ ihre Stellungnahme einen Tag später dem Kurator zukommen. Zunächst einmal sei es ein Irrtum, dass Paur sich für das Fach Philosophie habilitieren wolle (es waren seine philosophisch-religiösen Publikationen, die in Neisse das Disziplinarverfahren ausgelöst hatten), er plane vielmehr ausschließlich Vorlesungen in Geschichte und Literatur anzubieten. Dazu aber sei er nach dem Urteil der Fakultät unzweifelhaft befähigt, wie seine bisherigen Schriften zeigten. Zum „Hauptmotiv“ der Ablehnung seines Habilitationsgesuchs nahm man mit klaren Worten Stellung: Es sei aus Sicht der Fakultät nicht zielführend und der Universität insgesamt nicht förderlich, „wenn religiöse Glaubensrichtungen zum Maßstabe für Anstellungsfähigkeit“ gemacht würden.217 Durchzusetzen vermochte sich die Fakultät in diesem Fall allerdings nicht. Es blieb dabei, dass die von ihr bereits genehmigte Habilitation vom Kultusministerium verweigert wurde. Nur in Ausnahmefällen wurden bei Habilitationsgesuchen noch ­weitergehendere Informationen durch die Universität eingeholt. Als sich zwei Jahre nach Ausbruch des Weltkriegs der Wiener Historiker Otto Forst de Battaglia nach Breslau wandte, um sich dort „als Privatdocent habilitieren zu dürfen“, ersuchte der Kurator abermals den Preu1844, 31–130. Zu Sallet vgl. Koenig, George H.: Friedrich von Sallet. A social and political satirist of the „Vormärz“. Ann Arbor, Mich. 1974. 215 Paur an Preußisches Kultusministerium, Berlin 27. Oktober 1848. In: Meves (Hg.): Deutsche Philologie an den preußischen Universitäten, 307f., Nr. 161. Die Philosophische Fakultät, die um ein Gutachten gebeten worden war, erklärte sich am 3. Januar 1849 gegen eine Anstellung des Bewerbers. Ebd., 309f., Nr. 162. 216 ���������������������������������������������������������������������������������������� Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 122–123: Paur an Philosophische Fakultät der Universität Breslau, Breslau 13. August 1851. Auch später kam es in Breslau wiederholt zu Konflikten zwischen Paur und katholischen Kreisen. Vgl. Bahlcke, Joachim: „Circel gebildeter, gelehrter Männer“. Zur Entwicklung, Struktur und inhaltlichen Ausrichtung aufgeklärter Sozietäten in Schlesien während des 18. Jahrhunderts. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsschreibung in Schlesien, 45–71, hier 51f. 217 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 116–117: Philosophische Fakultät an Kurator der Universität Breslau, Breslau 29. Oktober 1851.

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ßischen Kultusminister um Unterstützung. „Da der Gesuchsteller Ausländer – österreichischer Untertan – ist, bitte ich Eure Exzellenz gehorsamst, geneigtest durch das Auswärtige Amt feststellen zu lassen, ob etwa gegen seine Persönlichkeit Einwendungen zu erheben sein würden.“218 Eine Woche später informierte der Kurator das Ministerium in Berlin über einen Hinweis, den er von dem Mediävisten Franz Kampers erhalten hatte, der seit 1903 die katholische Professur für Allgemeine Geschichte in Breslau innehatte. Kampers’ Informant aus München – dem gegenwärtigen Aufenthaltsort von Forst de Battaglia – zufolge solle dieser „in hohem Maße nationalpolnischer Umtriebe verdächtig sein“; überdies sei er angeblich „Vorsitzender des österreichischen Polenklubs“. Kampers habe ihm zudem mitgeteilt, so der Kurator, „daß die wissenschaftliche Befähigung des Dr. Forst-Battaglia derart sei, daß die Fakultät, die dies allein bei der Habilitation ihrerseits zu beurteilen habe, ihm die Zulassung zur Habilitation nicht verweigern könnte, wenn ihm staatlicherseits die im § 35 Ziffer 6 des Fakultätsreglements vorgeschriebene Erklärung ausgestellt würde, daß seiner Zulassung als Privatdozent nichts im Wege stehe.“219 Weitere Schritte erübrigten sich jedoch, da Forst de Battaglia sein Habilitationsgesuch am 9. Juni 1916 zurückzog. Zwei Wochen später erhielt das Berliner Kultusministerium dann Nachricht vom Auswärtigen Amt, das Nachforschungen über den Bewerber veranlasst hatte. Man kam zu dem Ergebnis: „Etwas Belastendes hätten die Erhebungen [...] nicht ergeben.“220 Wenn abschließend nach Möglichkeiten und Formen der Einflussnahme auf Habilitationsverfahren vor der eigentlichen Überprüfung der fachlichen Eignung gefragt werden soll, so ist zumindest kurz die Antragstellung als solche anzusprechen. Da es hierzu im 19. Jahrhundert bei Lichte besehen keine einheitliche Praxis gab, konnten sich bereits im Vorfeld des Verfahrens wichtige Weichenstellungen ergeben – je nachdem, ob sich ein Bewerber zunächst an das Ministerium, an den Kurator, die Fakultät, den Dekan oder sogar an einzelne Professoren wandte. Die „abstrakte Studiengesetzgebung“ setzte zwar, wie Ernst Schubert mit aussagekräftigen Beispielen unterstreicht, Normen, sagt aber nichts über tatsächliche Empfehlungen, mögliche Interventionen und das konkrete Vorgehen des Bewerbers aus.221 Außergewöhnlich gut vernetzt war Carl Adolf Cornelius, der bereits im Vorfeld seines Habilitationsgesuchs an die Universität Breslau 1851 mit dem Preußischen Kultus218 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 41, Bd. 6 [ohne Blattzählung]: Kurator der Universität Breslau an Preußisches Kultusministerium, Breslau 18. April 1916. Zum akademischen Werdegang von Forst de Battaglia vgl. Huszcza, Krzysztof/Juzwenko, Adolf/Zybura, Marek (Hg.): Człowiek Śródeuropy – Otto Forst de Battaglia (1889–1965). Wrocław 2011 (Biblioteka austriacka 40). 219 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 41, Bd. 6 [ohne Blattzählung]: Kurator der Universität Breslau an Preußisches Kultusministerium, Breslau 26. April 1916. 220 Ebd. [ohne Blattzählung]: Auswärtiges Amt an Preußisches Kultusministerium, Berlin 27. Juni 1916. 221 Schubert: Die Geschichte der Habilitation, 136.

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ministerium in Kontakt gestanden hatte. Der in Münster promovierte Historiker hatte einen Onkel, Theodor Brüggemann, der seinerseits enge Verbindungen zu der unter König Friedrich Wilhelm IV. innerhalb des Ministeriums eingerichteten Katholischen Abteilung besaß.222 Obwohl die Abteilung formal gar nicht für das Hochschulwesen zuständig war, konnte Brüggemann seine Position und seine Beziehungen doch wiederholt zugunsten katholischer Nachwuchswissenschaftler nutzen. Seiner Unterstützung war es bereits zu verdanken gewesen, dass sein Neffe Cornelius zuvor als Dozent der Geschichte und Literatur an das Lyceum Hosianum nach Braunsberg berufen worden war.223 Zu diesem Netzwerk gehörte auch der katholische Theologe Peter Joseph Elvenich, der seit 1829 die Professur für Philosophie an der Universität Breslau bekleidete.224 Zum Vorteil für Habilitanden wirkte sich naturgemäß die Fürsprache hochgestellter Persönlichkeiten aus, auch wenn sich ein direkter Einfluss auf Entscheidungen der Fakultät oder des Ministeriums, anders als im eben skizzierten Fall, nicht nachweisen lässt. Joseph August Kutzen zum Beispiel hatte bereits während des Studiums eine Stelle als Hauslehrer bei Lazarus Graf Henckel von Donnersmarck angenommen.225 Ein von diesem ausgestelltes Zeugnis wurde im Habilitationsverfahren Kutzens im Jahr 1831 herangezogen, um dessen Lehrbefähigung zu unterstreichen.226 Ähnlich vertrauensvoll war die Beziehung zum Haus Schaffgotsch, für das Kutzen seit 1830 nicht nur ebenfalls als Hauslehrer tätig war, sondern auch die Verantwortung für die Überführung der wertvollen Majoratsbibliothek in die seit der Säkularisation leerstehenden Räume der ehemaligen Propstei in Warmbrunn bei Hirschberg trug.227 Graf Karl Gotthard Wenzeslaus von Schaffgotsch förderte Kutzen direkt in Breslau, versuchte seinem Günstling 222 Holtz, Bärbel: Ministerialabteilung auf Zeit – Die Katholische Abteilung zwischen „Kölner Wirren“ und Kulturkampf. In: Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817–1934), Bd. 3/1: Kulturstaat und Bürgergesellschaft im Spiegel der Tätigkeit des preußischen Kultusministeriums. Fallstudien. Berlin 2012 (Acta Borussica N.F. 2/1), 139–212, hier 147–152. Zu Brüggemann vgl. Klöcker, Michael: Theodor Brüggemann (1796–1866). Eine Studie zur preußischen Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Kultuspolitik und des politischen Katholizismus. Ratingen/Kastellaun 1975 (Schriftenreihe zur Geschichte und politischen Bildung 17). 223 Mütter: Die Geschichtswissenschaft in Münster, 150f., 175. 224 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 92, Bl. 107. Zum Verhältnis von Cornelius und Elvenich vgl. ferner die Hinweise bei Bacht, Heinrich: Die Tragödie einer Freundschaft. Fürstbischof Heinrich Förster und Professor Joseph Hubert Reinkens. Köln/Wien 1985 (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 20); Kaufmann: Festschrift, Bd. 1, 166–168. 225 Schmidt: Leben und Bildungsgang, XII. 226 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep 76, Va Sekt 4 Tit. IV, Nr. 3, Bd. 3, Bl. 183: Kurator der Universität Breslau an Preußisches Kultusministerium, Breslau 2. September 1831. 227 Bahlcke, Joachim: Die „Fürsorge der Väter für ihr Geschlecht und den Glanz ihres Hauses“. Archiv, Bibliothek und Erinnerungskultur der Schaffgotsch in Schlesien vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert. In: Keller, Katrin/Maťa, Petr/Scheutz, Martin (Hg.): Adel und Religion in der frühneuzeitlichen Habsburgermonarchie. Wien 2017 (Veröffentlichungen des In-

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aber auch durch Kontakte nach Berlin zu Hilfe zu kommen. Nach dem Tod des Breslauer Historikers Gustav Adolf Harald Stenzel am 2. Januar 1854 notierte Graf Rudolf von Stillfried, der in der preußischen Hauptstadt das Königliche Hausarchiv leitete und unter Friedrich Wilhelm IV. eine einflussreiche Stellung am Hof einnahm, in seinem Tagebuch: „Schaffgotsch verwendet sich wegen Professor Kutzen, der die durch Stenzels Tod erledigte Stelle eines Directors des Schlesischen Prov[inzial]archivs zu Breslau zu erhalten wünscht.“ Er könne dabei allerdings, so Stillfried, „nur hinter den Culissen Rath geben“, sonst würden andere Personen, die ihm nicht wohlgesonnen seien, „gleich wieder gegen den empfohlenen Mann arbeiten“.228 Insgesamt hielt sich die Fürsprache bei jungen Nachwuchskräften, die sich nach ihrer Dissertation sogleich für eine Habilitation entschieden, aber offenbar in Grenzen. Der Wunsch nach einer solchen zusätzlichen Qualifikation machte es in der Regel nicht erforderlich, entsprechende Kanäle zu besitzen beziehungsweise zu nutzen. Erst wenn konkrete Stellen an der Universität oder im universitären Umfeld zu vergeben waren – und dafür ist die eben genannte Empfehlung des Grafen Schaffgotsch ein gutes Beispiel –, waren solche Unterstützungsmaßnahmen geradezu geboten. Für die Zeit nach der Habilitation, in der Privatdozenten darauf hinarbeiteten, eines der wenigen Extraordinariate zu erhalten, finden sich daher nicht zufällig deutlich mehr Belege für Versuche einer solchen Einflussnahme.

VI. Schlussbetrachtung Unter den an der Universität Breslau im langen 19. Jahrhundert tätigen Historikern sind die Privatdozenten, die sich an der Philosophischen Fakultät habilitiert hatten, im Anschluss aber in der Regel nicht auf eine außerordentliche oder ordentliche Professur gelangten, die mit Abstand unbekannteste Gruppe. Welche Faktoren bei diesen akademischen Werdegängen über Erfolg oder Misserfolg entschieden, ist auf der Basis des überlieferten Aktenmaterials, das oft nur die rein bürokratischen Abläufe dokumentiert, nur selten zu entscheiden. Dies hängt freilich auch mit dem Institut des Privatdozenten als solchem zusammen, das sich im 19. Jahrhundert nur langsam zu festigen vermochte. Erst allmählich entstand mit den privatim docentes – denjenigen also, die im Gegensatz zu den fest besoldeten Fakultätsmitgliedern gegen Hörergelder und auf eigenes Risiko lehrten – ein neuer Typus des Gelehrten, der gezielt eine Professorenlaufbahn anstrebte und über die Lehre hinaus auch die Forschung als sein Betätigungsfeld betrachtete. Diese Entwicklungen sind grundsätzlich zu berücksichtigen, wenn nach Gruppenbildungen, Netzwerkstrukturen und Formen wissenschaftlistituts für Österreichische Geschichtsforschung 68), 339–364, hier 351; Schmidt: Leben und Bildungsgang, XVIf. 228 Projektbereich Schlesische Geschichte an der Universität Stuttgart: Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 7 (1854), Bl. 5b.

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cher beziehungsweise außerwissenschaftlicher Einflussnahme bei der Erweiterung des Lehrkörpers gefragt werden soll. Die Bemühungen, die akademische Graduierung und die Erteilung der Lehrbefugnis zu entkoppeln und eine über der Promotion stehende neue Qualifikationsform zu etablieren, verdankten sich den nach 1800 von Berlin ausgehenden Universitätsreformen. Die prägenden Einflüsse des Berliner Modells auf die 1811 neu gegründete Universität Breslau sind unverkennbar. Ebenso unverkennbar ist allerdings auch, dass es in Preußen keine einheitliche Habilitationsordnung gab und sich an jeder Hochschule in der Praxis eigene Verfahrensformen entwickelten; der Trend zu einer gewissen Einheitlichkeit bei den Habilitationsanforderungen ist erst im Kaiserreich zu beobachten. Hinzu kommen deutliche Unterschiede bei der Entwicklung und Etablierung einzelner Fächer. Eine Habilitation an der Philosophischen Fakultät bestätigte im Grundsatz die Fähigkeit und das Recht des Kandidaten, alle dort vertretenen Disziplinen in ihrer gesamten Breite lehren zu dürfen. Ab wann man sich auf ein fest umrissenes Sachgebiet konzentrierte und die Habilitation entsprechend für ein bestimmtes Fach ablegte, variierte von Universität zu Universität. Unklarheiten ergaben sich ferner bei der Rechtsstellung der habilitierten Fakultätsmitglieder, denn diese berührte die prinzipielle Frage des Selbstergänzungsrechts der Universitäten. Die Fakultät leitete aus ihrem Recht, die venia legendi zu erteilen, zugleich das Recht ab, die Lehrtätigkeit der neuen Dozenten zu reglementieren und zu kontrollieren. Das zuständige Kultusministerium in Berlin vertrat in diesem Punkt eine andere Auffassung. Die Statusgruppe der Privatdozenten geriet so unwillkürlich in das Spannungsfeld von Hochschulautonomie und Staatskontrolle. Bei den Habilitationsverfahren sind prinzipiell zwei Gruppen auseinanderzuhalten: die ordentlichen und außerordentlichen Professoren, die bereits ernannt worden waren, die aber gleichwohl eine Habilitation nachträglich innerhalb einer vorgegebenen Frist vorzuweisen hatten, auf der einen Seite, und diejenigen, die bei der Philosophischen Fakultät eine Zulassung als Privatdozent beantragten und eine förmliche Aufnahme in den Lehrkörper ebenfalls durch eine Habilitation erwirkten, auf der anderen Seite. Die Bestimmungen hierzu waren eindeutig, in der Praxis dagegen lässt sich eine Vielzahl von Sonderabsprachen, Ausnahmeregelungen und Abweichungen von der Norm beobachten. Die wachsende Bedeutung der Privatdozenten für den Lehrbetrieb während des 19. Jahrhunderts ist bereits für viele Universitäten in Deutschland herausgearbeitet worden. Der Befund bestätigt sich auch am Beispiel der Philosophischen Fakultät in Breslau. Die Gründe dafür sind vielfältig und nur sehr bedingt auf die spezifische Situation der schlesischen Landesuniversität zurückzuführen. Sie hängen vor allem mit der wachsenden Differenzierung und Arbeitsteilung in den Wissenschaften, aber auch mit allgemeinen gesellschaftlichen, demographischen und politischen Entwicklungen zusammen. Die Universitätsstatistik erfasst allerdings nur die an der Fakultät lehrenden Dozenten, nicht die Zahl der tatsächlich durchgeführten Habilitationsverfahren, die deutlich höher liegt. Damit beginnen bereits erste methodische Probleme, die es erschweren,

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die einzelnen Vorgänge quantitativ und qualitativ zu erfassen und zu vergleichen. Wenn im Mittelpunkt dieser Untersuchung Historiker und geschichtswissenschaftliche Habilitationen stehen, so dürfen beide Bezeichnungen nicht in einem modernen Verständnis von Fachkultur zu eng gefasst werden. Für Vorlesungen zur Geschichte wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Lehrkräfte mehrerer Disziplinen herangezogen. In dieser Phase qualifizierte sich ein Bewerber in aller Regel nicht für ein bestimmtes Fach. Über welche Gebiete er später las, war zum Zeitpunkt der Bewerbung ebenso wenig ersichtlich wie sein späterer akademischer Werdegang. Erst nach 1850 setzte sich an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau, wie aus den angestrebten beziehungsweise nach Abschluss des Verfahrens erteilten Denominationen der Lehrbefugnis deutlich wird, allmählich eine fachorientierte Qualifikation durch. Voraussetzung für eine akademische Laufbahn war der Akt der Habilitation als solcher. Die Habilitationsschrift selbst dagegen, der seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine immer größere Bedeutung zuwuchs, stand zunächst vollständig im Hintergrund. Dies hängt hauptsächlich mit der Nähe dieser zusätzlich geforderten Qualifikationsschrift zur älteren Dissertation zusammen. Der zeitliche Abstand zwischen Studienabschluss (Promotion) und Habilitation war viel zu kurz, um eine neue Studie auszuarbeiten. In vielen Fällen wurden beide Arbeiten, die faktisch einer einzigen Fragestellung galten, auch zusammen publiziert. Thematisch und methodisch war ein Bewerber lange Zeit völlig frei, sofern der Gegenstand generell zu den in der Philosophischen Fakultät vertretenen Disziplinen passte: Ein Historiker konnte eine literaturwissenschaftliche Arbeit vorlegen, ebenso wie umgekehrt ein Philologe eine historische Abhandlung. An der Habilitationsschrift allein lässt sich vor 1900 weder die Einflussnahme eines akademischen Lehrers noch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten wissenschaftlichen Schule nachweisen. Gleiches gilt für das im 19. Jahrhundert lediglich von einem Hochschullehrer vor Ort erstellte Hauptgutachten, das nur in seltenen Fällen Hinweise enthielt, die etwas über die Anbindung des Habilitanden an bestimmte Denktraditionen und akademische Lehrer aussagten. Damit fehlen zeitgenössische Stellungnahmen, die Aufschlüsse über akademische Netzwerkbildungen, Abhängigkeiten und Förderungen geben könnten. Die Vorlage einer Habilitationsschrift und das Bestehen aller sonstigen Prüfungen entschieden nicht primär über den weiteren beruflichen Weg. Die nähere Betrachtung von Herkunft, akademischer Sozialisation und Werdegang der rund drei Dutzend Habilitanden der Geschichtswissenschaft, die zwischen 1811 und 1914 um Aufnahme in den Lehrkörper der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau ersuchten, zeigt deutlich, dass eine erfolgreiche Karriere unabhängig von Begabung, Talent und Leistung stets von einer Vielzahl von Faktoren abhing: von familiären und finanziellen Gegebenheiten, der spezifischen Konkurrenzsituation vor Ort, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen sowie der Belastbarkeit individueller Netzwerke. Generell bestätigt sich auch an der Fallstudie Breslau der allgemeine Befund, dass gescheiterte Karrieren nur selten im Fokus der bildungsgeschichtlichen Forschung stehen. Gerade ihre Einbeziehung aber ist unverzichtbar, will man nicht das Bild eines allzu geradlini-

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gen, von Beginn an planvoll und zielbewusst angestrebten und organisierten Aufstiegs im akademischen Umfeld lediglich bestätigen, das sich in einer Vielzahl universitärer Selbstzeugnisse und Nachrufe findet. Im Ergebnis wird deutlich, dass eine Karriere an der Universität bis zum frühen 20. Jahrhundert bei Lichte besehen weder plan- noch kalkulierbar war. Den Habilitanden, deren Bewerbung und anschließende Lehrtätigkeit von Zweckmäßigkeitsüberlegungen bestimmt waren, war dies in ihrer großen Mehrheit offenbar bewusst. Eine Gelehrtenlaufbahn war stets nur eine Option unter mehreren. Auch die Frage, an welcher Universität man eine Habilitation anstreben sollte, wurde vergleichsweise nüchtern und unter Abwägung aller Möglichkeiten entschieden. Noch das ganze 19. Jahrhundert über war es die Regel, sich aus einer gesicherten Lehrerstelle heraus zu habilitieren. Dass es einem Bewerber – in Breslau oder andernorts – gelang, auf Dauer im Universitätssystem Fuß zu fassen und eine Festanstellung zu erlangen, blieb die Ausnahme.

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Die Berufung von Historikern an die Universität Breslau (1848–1914): Auswahlkriterien, Durchsetzung, Personalfluktuation I. Einleitung Die Wiederbesetzung der durch den Weggang von Max Lenz vakant geworde­nen Profes­ sur für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Breslau schien im Frühjahr 1890 so gut wie geregelt zu sein. Auf der Grundlage einer Liste, die von einer im Auftrag der Philosophischen Fakultät tätigen Berufungskommission zusammengestellt worden war und die Namen von vier in Frage kommenden Nachfolge­kandidaten enthielt,1 hatte sich das preußi­sche Kultusministerium für den Archivar und außerordentlichen Profes­sor an der Berliner Universität Reinhold Koser2 entschieden; die entspre­chenden Verhandlun­gen liefen bereits. Kurz vor seiner offiziellen Ernennung – der „Bestal­lung“, wie es zeitgenös­sisch hieß – sagte Koser dann aber doch noch ab. Dies ist insofern ein bemerkenswerter Vor­gang, als es in Breslau um eine ordentliche Professur ging. Koser ver­zichtete also nicht nur auf eine akademische Ranger­höhung, sondern auch auf die damit ver­bundene finanzielle Besserstellung – und dies mit einer für die Universität Breslau wenig schmeichelhaften Begrün­dung. Am 3. April 1890 schrieb er an Kultusminister Gustav von Goßler, er habe in Berlin „einen befriedigenden Wirkungskreis“ gefunden und genieße dort, am Sitz des königlichen Hausarchivs, zudem das Privileg, die Arbeit seines verstor­benen Leh­rers Johann Gustav Droysen fortsetzen zu kön­nen. Koser wörtlich: „Die grosse Tradition, an welche ich hier anknüpfen durfte, würde ich in Breslau nicht vorfinden.“3 Was die Besetzung geschichtswissenschaftlicher Professuren in Bres­lau vor 1914 angeht, ist der Vorgang durchaus bezeichnend. Peter Moraw hat angemerkt, eine Rangfolge deutscher Universitäten im 19. Jahrhundert lasse sich am ehesten erstellen, „wenn man sie sozialgeschichtlich als Teile eines Systems unterschiedlicher Berufungspraxis versteht: Anfängeruniversitäten versus ,Endstationen‘, mit Anstalten mittleren Ranges 1 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 15, Bl. 172–175. Die Liste enthielt die folgenden Namen: 1. Friedrich von Bezold, ordentlicher Professor in Erlangen, 2. Hans Delbrück, außerordentlicher Professor in Berlin, 3. Reinhold Koser, gleichfalls außerordentlicher Professor in Berlin, 4. Goswin Freiherr von der Ropp, ordentlicher Professor in Gießen. 2 Brocke, Bernhard vom: Art. Koser, Reinhold. In: Neue Deutsche Biographie 12 (1980) 613–615. 3 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Reinhold Koser an Berliner Kultusministerium, Berlin 3. April 1890 (beglaubigte Abschrift): Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 15, Bl. 183–184 (Zitate Bl. 183).

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Abb. 1: Kommissionsbericht der Breslauer Philosophischen Fakultät zur Nachfolge von Max Lenz als Professor für Mittlere und Neuere Geschichte, 30. März 1890. Da mehrere der genannten Kandidaten eine Übersiedlung nach Breslau ausschlugen, erging der Ruf schließlich an den Viertplazierten, den Gießener Ordinarius Goswin Freiherr von der Ropp. Bildnachweis: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 15, Bl. 172.

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dazwischen“.4 In ganz ähnlicher Weise hat Mari­ta Baumgarten zwi­schen „Einstiegs-“, „Aufstiegs-“ und „Endstationsuniversitä­ten“ unterschieden5 – wobei Bres­lau, das vor allem jüngere, am Beginn ihrer Karriere stehende Historiker anzog, eben eine „Einstiegsuniversität“ oder, wie Joachim Bahlcke den Begriff variiert hat, eine klassische „Durchgangsuniversi­tät“ war und blieb.6 Blickt man in die entsprechenden Quellen, so tritt frei­lich nicht nur das ­Problem zutage, neuberufene Geschichtswissenschaftler längerfristig in Breslau zu halten, sondern auch, wie im Fall Koser, sie überhaupt erst für Bres­lau zu gewin­nen. Herauslesen lassen sich diese Vorgänge aus dem im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zu Berlin verwahrten Bestand „betreffend die Anstellung und Besoldung der ordentlichen und außerordentlichen Professoren in der Philosophischen Fakultät der Universität zu Bres­lau“, der in 25 Bänden den Zeitraum der Jahre 1847 bis 1912 umfasst und die wesentliche Materialgrundlage der folgenden Ausführungen bildet. Außerhalb der Betrachtung verbleibt damit die mit den Namen Johann Gustav Gottlieb Büsching und Gustav Adolf Harald Stenzel verbundene Frühzeit der Geschichtswissenschaft an der 1811 gegründeten Universität Breslau, die im Rahmen des vorliegenden Bandes freilich eine gesonderte Würdigung erfährt.7 Hervorgehoben sei ferner, dass der Blick sich im Folgenden zwar auf die Philosophische Fakultät beschränken soll, dass Beiträge zur historischen Forschung und Lehre im Kontext einer sich erst allmählich vollziehenden Abgrenzung der einzelnen Disziplinen voneinander aber auch an anderen Breslauer Fakultäten erbracht wurden. Dies galt bereits für den 1844 zum außerordentlichen Professor für Staatswissenschaften berufenen Historiker und Nationalökonomen Karl Gustav Kries, der 1848 allerdings von seiner Professur zurücktrat.8 Ebenfalls an der Juristischen Fakultät angesiedelt wa4 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Moraw, Peter: Der deutsche Professor vom 14. bis zum 20. Jahrhundert [1998]. In: ders.: Gesammelte Beiträge zur deutschen und europäischen Universitätsgeschichte. Strukturen – Personen – Entwicklungen. Leiden/Boston 2008 (Education and Society in the Middle Ages and Renaissance 31), 353–367, hier 364. 5 Baumgarten, Marita: Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler. Göttingen 1997 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 121), 18. 6 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim: Das Historische Seminar der Universität Breslau 1811 bis 1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte [2012/13]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2016 (Forschungen zu Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3), 217–238, hier 217. 7 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. die Beiträge von Norbert Kersken (zu Büsching) und Ulrich Schmilewski (zu Stenzel) in diesem Band. 8 Bahlcke: Das Historische Seminar der Universität Breslau, 221; Grünhagen, Colmar: Art. Kries, Gustav. In: Allgemeine Deutsche Biographie 17 (1883) 169–171. Zu den Umständen von der Beurlaubung von Kries beziehungsweise seiner nachfolgenden Entlassung aus dem Universitätsdienst vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 1, Bl. 135, 205–206v, 337–339v, 343, 344.

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ren zwei der wohl prominentesten Breslauer Gelehrten des 19. Jahrhunderts. Während Felix Dahn, der ein breites Œuvre zur Geschichte der germanischen Völker und der Völkerwanderungszeit vorlegte und darüber hinaus als Autor zeitgenössisch populärer historischer Romane (Ein Kampf um Rom) hervortrat, die gesamte Spätphase seiner wissenschaftlichen Laufbahn in der Odermetropole zubrachte,9 blieb Theodor Mommsens Breslauer Professur zwischen 1854 und 1858 letztlich nur Episode.10 Da ­zumindest Mommsen Lehrveranstaltungen aber auch im Namen der Philosophischen Fakultät anbot und noch lange nach seiner Zeit in Breslau in dort laufende Berufungsverfahren zur Besetzung geschichtswissenschaftlicher Lehrstühle eingriff, soll er im Rahmen der folgenden Ausführungen Berücksichtigung finden. Wenn immer wieder betont wird, dass die gesamte universitäre wie außer­universitäre Wissenschaftsorganisation im Laufe des langen 19. Jahrhunderts einen Prozess der Professionalisierung, Formalisierung und Verrechtlichung durchlief, so gilt dies erwartungsgemäß ebenso für das Procedere der Professo­renberufung. Im Folgenden wird daher zunächst ein Überblick über die zeitgenössische uni­versitäre Hierarchie sowie den typischen Ablauf eines Berufungsverfahrens im Spannungsfeld zwischen ­Hochschule und Kultusbürokratie vor 1914 ge­geben (Abschnitt II), bevor in einem zweiten, deutlich umfangreicheren Teil (Abschnitte III, IV und V) konkret die Breslauer Berufungsverfahren untersucht werden sollen, sofern sie dortige geschichtswissenschaftliche Professuren betreffen. Im Kontext der allmählichen disziplinären Ausdifferen­zierung der Breslauer Geschichtswissen­schaft nach 184811 wird dabei nach den maßgeblichen Auswahlkriterien zu fragen sein, nach dem konkreten Prozess der Entscheidungs­findung – sowohl auf Seiten des Ministeriums und der Fakultät als auch auf Seiten der umworbenen Gelehrten – sowie nach der möglichen Rolle von persönlichen Beziehungen und fachlichen Netzwerken im Zuge der Professorenbe­rufung.

II. Universitäre Hierarchie und Professorenberufung in Preußen vor dem ­Ersten Weltkrieg Waren die Philosophischen Fakultäten in der frühneuzeitlichen Universitäts­struktur den drei höheren Fakultäten – also der Theologie, der Jurisprudenz und der Medizin – üblicherweise nachgeordnet gewesen, so erlebten sie mit dem Siegeszug des neuhuma19 ��������������������������������������������������������������������������������������� Zu Dahns Breslauer Zeit (zwischen Berufung 1888 und Emeritierung 1910) vgl. Gehrke, Roland: Felix Dahn (1834–1912). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 9. Neustadt an der Aisch 2007, 285–292, hier 288–291. 10 Zu Mommsens Breslauer Zeit vgl. Wickert, Lothar: Theodor Mommsen. Eine Biographie, Bd. 3: Wanderjahre. Leipzig – Zürich – Breslau – Berlin. Frankfurt a. M. 1969, 298–398; vgl. ferner den Beitrag von Steffen Schlinker in diesem Band. 11 Baumgarten: Professoren und Universitäten, 54f., 57f., unterscheidet bezüglich des disziplinären Ausbaus der geisteswissenschaftlichen Fächergruppe im 19. Jahrhundert verschiedene Phasen, die sich so im Wesentlichen auf die Universität Breslau übertragen lassen.

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nistischen Universitätsideals in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen sowohl inhaltlichen als auch quanti­tativen Bedeutungszu­wachs. Einerseits nahmen sie die in rascher Folge neugegründeten na­turwissenschaftlichen Lehrstühle in sich auf, andererseits fiel den Philosophen im Zuge der Professionalisierung der Gymnasiallehrerbildung die alleinige Verantwortung für die wissenschaftliche Ausbildung eines ganzen Berufszweiges zu.12 Nicht zuletzt die Geschichtswissen­schaft profitierte hiervon erheblich, da die staatliche Anerkennung der ersten Historischen Seminare – und zumindest in dieser Hinsicht gehörte Breslau mit seiner bereits 1843 erfolgten Seminargründung zu den Pionier-Universitäten13 – kaum zu trennen ist von der sukzessiven Steigerung der Anforderungen an die fachspezifische Ausbildung der preußischen Gymnasiallehrer.14 In einer Zeit, in der eine klare Trennung zwischen der Diplom- beziehungsweise Doktorprüfung sowie dem Staatsexamen noch nicht existierte, bestand auch in der universitären Lehrerbildung das oberste Ziel weniger in einer Vermittlung pädagogisch-didaktischer Fertigkeiten als vielmehr darin, „wissenschaftliche Forschung fortzupflanzen“.15 Die im Laufe des 19. Jahrhunderts am schnellsten wachsende Größe in­nerhalb der universitären Lehrkörper war die Privatdozentur.16 Im Gegensatz zu ihr existierte so etwas wie ein „akademischer Mittelbau“ zunächst noch gar nicht. Besoldete Assistentenstellen entstanden zuerst in der Medizin, nach 1870 dann auch in den diversen Naturwissenschaften, deren Labore technischer Be­treuung bedurften. In den Geisteswissenschaften hingegen spielte die Assi­stentur bis zum Ersten Weltkrieg kaum eine Rolle. Noch 1910 war weniger als ein Zehn­tel der an deutschen Universitäten lehrenden geisteswissenschaftlichen Privatdozenten über eine Assistenz finanziell zumindest temporär abgesichert.17 Die Masse der Privatdozenten hin­gegen übte nach Abschluss der Habilitation eine freie Lehrtätigkeit ohne amtliche Verpflich­tung aus und bezog anstelle 12 Ebd., 13f. 13 �������������������������������������������������������������������������������������������� Herzig, Arno: Geschichtsforschung in der Metropole Breslau. Das Historische Seminar der Universität Breslau im 19. Jahrhundert. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 73– 83, hier 78f. 14 Huttner, Markus: Historische Gesellschaften und die Entstehung historischer Seminare – zu den Anfängen institutionalisierter Geschichtsstudien an den deutschen Universitäten des 19. Jahrhunderts. In: Middell, Matthias/Lingelbach, Gabriele/Hadler, Frank (Hg.): Historische Institute im internationalen Vergleich. Leipzig 2001 (Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert 3), 39–83, hier 71. 15 Zit. nach Busch, Alexander: Die Geschichte des Privatdozenten. Eine soziologische Studie zur großbetrieblichen Entwicklung der deutschen Universitäten. Stuttgart 1959 (Göttinger Abhandlungen zur Soziologie unter Einschluß ihrer Grenzgebiete 5), 91. 16 ������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., 36; McClelland, Charles E.: State, Society, and University in Germany 1700–1914. London u. a. 1980, 166. Vgl. den Aufsatz von Joachim Bahlcke in diesem Band. 17 Schmeiser, Martin: Akademischer Hasard. Das Berufsschicksal des Professors und das Schicksal der deutschen Universität 1870–1920. Eine verstehend soziologische Untersuchung. Stuttgart 1994, 49, 52.

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ei­nes Festgehalts lediglich die bis in die 1960er Jahre hinein üblichen Hörergelder. Noch auf dem 3. deutschen Hochschullehrertag des Jahres 1909 rechtfertigte der Psychiater Emil Kraepelin diesen Zustand mit dem Argument, der Karriereweg bis hin zur Professur müsse „unter allen Umständen ein wirtschaftliches Opfer bedeuten“, damit er „nur von denjenigen angestrebt wird, die den inneren Beruf dazu in sich spüren“.18 Die Privatdozentur blieb damit eine Situation wissenschaftlicher Bewährung, aus der – abgesehen von der Option einer ‚Flucht‘ in ein wissenschaftsfernes Erwerbsleben – allein die Ernennung zum außerordentlichen oder ordentlichen Professor herausführte. Neben den Privatdozenten waren es die im 19. Jahrhundert gleichfalls in großer Zahl entstehenden Extraordinariate und Honorarprofessuren, die die Ausweitung des Lehrangebots und damit die zunehmende Spezialisierung des Studiums überhaupt erst ermöglichten. Ihre Einrichtung wurde von den Philoso­phischen Fakultäten vor allem mit dem Argument betrieben, dass erstens die Vertreter des Mutterfachs, von der zunehmenden Spezialisierung überfordert, in be­stimmten Subdisziplinen der Entlastung bedürften und man zweitens nicht hinter anderen Universitäten zurückstehen dürfe, an denen entsprechende Professuren bereits eingerichtet seien.19 Zumindest in Preußen waren auch die Ex­traordinarien im disziplinarrechtlichen Sinne Beamte, also Inhaber von Etatstellen, die ih­nen eine finanzielle Versorgung auf Lebenszeit sicherten.20 Die schon aus dem 18. Jahrhundert tradierte Auffassung, wonach die außeror­dentliche Professur ein Durchgangs- und Wartepo­sten sei, der nach einer gewis­sen Zeit quasi ­automatisch zum Ordinariat führe, blieb auch im 19. Jahrhundert bestimmend.21 Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass eine ordentliche Professur und ein Lehrstuhl in Preußen nicht zwingend zusammen­gehörten; allerdings führte der Weg zum etatmäßigen Lehrstuhl, also zur institu­tionellen Verstetigung über die eigene Wirkungszeit hinaus, häufig über das per­sönliche Ordinariat, dessen Inhaber in den Fakultäten bereits mitentscheidungs­befugt waren.22 Die Professorenbesoldung war bis in die 1890er Jahre hinein nicht allge­mein fixiert, die Höhe der Gehälter also zum Großteil Verhandlungssache. Die bereits genannten Hörergelder stellten dabei einen naturgemäß variablen, im Verhältnis zu Festgehalt und Wohngeldzulage aber bedeutsamen Teil des Einkommens dar. Ein stetes Ge­feilsche um Gehaltszulagen – sei es aus besonderen familiären Gründen heraus, zur Finanzierung von Forschungsreisen oder zwecks Anschaffung seltener und teurer Fachliteratur – ist in den Breslauer Akten omnipräsent.23 Erst für das Haushaltsjahr 1897/98 setzte der lei18 Zit. nach ebd., 38. 19 Baumgarten: Professoren und Universitäten, 16. 20 �������������������������������������������������������������������������������������������� Ferber, Christian von: Die Entwicklung des Lehrkörpers der deutschen Universitäten und Hochschulen 1864–1954. Göttingen 1956 (Untersuchungen zur Lage der deutschen Hochschullehrer 3), 112. 21 Busch: Die Geschichte des Privatdozenten, 108f. 22 Baumgarten: Professoren und Universitäten, 17. 23 Vgl. exemplarisch ein Schreiben des Inhabers des Breslauer Lehrstuhls für slawische Sprachen und Literaturen, Władysław Nehring, an den Universitätskurator und schlesischen Oberpräsi-

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tende preußische Kultusbeamte Friedrich Althoff – bezeichnenderweise gegen den erklärten Widerstand der Universitäten – feste, allerdings regional gestaffelte Sät­ze durch,24 die an der Universität Berlin am höchsten ausfie­len. An den übrigen ­preußischen Universitäten, Breslau eingeschlossen, bezogen die Extraordinarien nach zwanzig Dienstjahren ein jährliches Festgehalt von maximal 4.000 Mark, die ordentlichen Professoren kamen nach Ablauf dieser Frist auf höchstens 6.000 Mark.25 Allerdings wurden die zusätzlich eingenommenen Hörergelder nunmehr gedeckelt: Von allem, was über der Grenze von 3.000 Mark jährlich lag, griff der Fiskus 50 Prozent ab.26 Ergänzend wurden die preußischen Professoren fortan generell nicht mehr pensioniert, sondern emeritiert, kassierten ihr volles Gehalt nebst Wohngeldzulage also bis an ihr Lebensende weiter.27 Was die Maßstäbe des zeitgenössischen preußischen Staats­dienstes angeht, bezogen zumindest die Ordinarien damit durchaus Spitzengehälter – und es ist wohl kein Zufall, dass die Fixierung der Professorenbesoldung zu einem Zeitpunkt erfolgte, als mit dem „Übergang vom biedermeierlich-schlichten zum bourgeois-künstlerischen Lebensstil [...] der alte schlichte Gelehrtentypus verschwand“28 und das gesellschaftliche Pre­stige deutscher Ordinarien seinen Höhepunkt erreichte. Entsprechend wurde bei der Besetzung von Professuren und Lehrstühlen zunehmend darauf geachtet, dass die Prinzipien der fachlichen Bestenauslese Be­achtung fanden, wobei die Geschichtswissenschaft neben der Philosophie eine Vorreiterrolle einnahm.29 Ein wesentlicher Unterschied zum Berufungsverfahren der Ge­genwart ist dabei der Umstand, dass im 19. Jahrhundert noch keine öffentliche Aus­schreibung statt-

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denten Otto Theodor von Seydewitz vom 12. Oktober 1884. Nehring bat Seydewitz darin, sich beim Kultusminister für seine, Nehrings, Gehaltserhöhung zu verwenden. Zur Begründung verwies er auf die Notwendigkeit, zwecks eines profunden Überblicks über das eigene Fach die wichtigsten Werke und Zeitschriften zu beziehen – was aber gerade bei Slavica nicht nur aufwendig, sondern auch extrem kostspielig sei. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz BerlinDahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 13 [unpaginiert] (beglaubigte Abschrift). Brocke, Bernhard vom: Berufungspolitik und Berufungspraxis im Deutschen Kaiserreich. In: Hesse, Christian/Schwinges, Rainer Christoph (Hg.): Professorinnen und Professoren gewinnen. Zur Geschichte des Berufungswesens an den Universitäten Mitteleuropas. Basel 2012 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 12), 55–103, hier 64–68. Das Einstiegsgehalt für außerordentliche Professoren betrug demnach 2.000 Mark (in Berlin 2.400 Mark) und erhöhte sich in insgesamt fünf Dienstaltersstufen auf maximal 4.000 Mark (in Berlin nach sechs Dienstaltersstufen auf maximal 4.800 Mark). Ordentliche Professoren stiegen mit 4.000 Mark (in Berlin 4.800 Mark) ein und kamen an der Spitze des erwähnten Stufenschemas auf maximal 6.000 Mark (in Berlin maximal 7.200 Mark). Vgl. die gedruckte Übersicht über die Professorengehälter in Preußen für das Haushaltsjahr 1897/98: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 19, Bl. 78–78v. Ebd. Auch in dieser Hinsicht waren die Berliner Professoren finanziell privilegiert: Bei ihnen blieben maximal 4.500 Mark Hörergelder abgabenfrei. Busch: Die Geschichte des Privatdozenten, 98. Ebd., 102f. (Zitat), 104f.; McClelland: State, Society, and University, 189. Baumgarten: Professoren und Universitäten, 121.

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Roland Gehrke Abb. 2: Der leitende preußische Kultusbeamte Friedrich Althoff (1907). Der Schöpfer des berüchtigten „Systems Althoff “ war bestrebt, die ver­meint­lich bes­ten Gelehrten notfalls auch gegen massive Widerstände der Fakultäten auf die Lehrstühle zu berufen, um Preußen auf diesem Weg einen internationalen Spitzenplatz in der Forschung zu verschaffen. Bildnachweis: Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft.

fand. Die Hoheit über das eigentliche Verfahren30 lag zunächst bei der von der Vakanz betroffenen Fakultät, aus deren Mitte heraus meist eine eigens eingesetzte Kommission mit der Suche nach geeig­neten Kandidaten beauftragt wurde. Sowohl die Fakultäten als auch ihr Gegenüber, das je­weilige Kultus­ministerium, neigten ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu, kompe­tenten Rat auch von außerhalb der je­weiligen Universität und wenn möglich sogar aus der gesamten deutsch­sprachigen Wissenschaftswelt einzuholen.31 Entsprechende Gutachten exter­ner Hochschullehrer tauchen in den Breslauer Akten seit den 1880er Jahren jeden­falls ver­mehrt auf. Im Ergebnis dieses informellen und diskreten Findungsprozesses stand ein detaillierter Fakultätsbericht, der eine bereits gereihte Liste mit Namen in Frage kommender Kandidaten enthielt – die Zahl variierte, oft waren es drei oder vier –, deren akademischer Wer­degang, Forschungsprofil und Publikationen eingehend gewürdigt wurden. Dass einzelne Fakultätsmitglieder mit dem Vorschlag der Mehrheit nicht einverstan­den waren und Separatvoten einreichten, in denen weitere Namen genannt wur­ 30 Einen konzisen Überblick über den bei Berufungen an deutsche Universitäten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts üblichen Verfahrensgang bietet McClelland: State, Society, and University, 182f., dem die Darstellung hier im Wesentlichen folgt. 31 Ebd., 184.

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den, kam immer wieder vor. Adressat des Fakultätsberichts war das Mini­ste­rium, bei dem allein die abschließende Entscheidung lag. Da sich die Vakanz eines Lehrstuhls in der wissenschaftli­chen Gemeinde naturgemäß stets rasch herumsprach, kam es immer wieder auch zu einzelnen Initiativbewerbungen, die bezeichnenderweise nicht an die Universität, sondern ebenfalls gleich direkt an den Kultusminister gerichtet wurden. War die Wahl auf einen der Vorgeschla­genen (oder auch auf einen anderen Kandidaten) gefallen, wurden über einen vom Ministerium eigens be­stellten Agenten konkrete Be­rufungsverhandlungen aufgenommen, die etwa um thematische Schwerpunkte der Lehre und das künftige Forschungsprofil, nicht zu­letzt aber auch um materielle Aspekte kreisten – um Gehalt, Zulagen oder die Erstattung der Um­zugskosten.32 Gab der Umworbene abschließend seine Zusage, wurde die offi­zielle „Bestal­lungsurkunde“ ausgestellt; den Lehrbetrieb nahm der neue Profes­sor dann in der Regel zu Beginn des jeweiligen Folgesemesters auf. Nicht immer freilich wurde den Fakultäten ein nennenswertes Mitwirkungs­recht eingeräumt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatte besonders in solchen Fällen, in denen Extraordinariate oder neu eingerichtete Lehrstühle zu besetzen waren, die Initiative noch häu­fig beim preußischen Kultusministerium gelegen, das bereits im Vorfeld seine eigenen Kan­didaten auserkoren hatte. Ge­gen solche „Oktroyierungen“ regte sich fortwährender Widerstand der Universitäten und einzelnen Fakultäten – und das nicht gänzlich ohne Er­folg, da die Politik sich in dieser Hinsicht nach 1849 deutlich stärker zurückhielt und eigene Kan­di­daten gegen den erklärten Willen der betroffenen Fakultät nur noch in Aus­nahmefällen durchdrückte.33 Deutlich konfliktträchtiger gestaltete sich das Verhältnis zwischen den preußischen Universitäten beziehungsweise Fakultäten und der Berliner Hochschulpolitik dann erst wieder im Zeichen des besonderen Vorgehens von Friedrich Althoff. Der bereits erwähnte Karrierebeam­te war 1882 als Universitätsreferent an das Ministerium berufen worden und spätestens mit seiner Ernennung zum Ministerialdirektor der ersten Unterrichtsabteilung zum heimlichen Kultusminister, also faktisch zum Leiter des gesam­ ten Unterrichts- und Hochschulwesens in Preußen, aufgestiegen. Ziel des berüchtigten ­„Systems Althoff “ war es, das gesamte Hochschulwesen quantitativ auszubauen und dabei gründlich zu modernisieren. Dafür sollten die ver­meint­lich bes­ten Gelehrten notfalls auch gegen massive Widerstände auf die Lehrstühle berufen werden, um Preußen auf diesem Weg einen internationalen Spitzenplatz in der Forschung zu verschaffen.34 32 Ebd., 183. 33 Ebd., 185, mit exemplarischen Zahlen für die Juristischen Fakultäten an preußischen Universitäten: Während unter der Ägide des preußischen Kultusministers Karl vom Stein zum Altenstein (also im Zeitraum 1817 bis 1840) immerhin noch jede dritte Berufung ohne Konsultation der Fakultät oder sogar gegen deren erklärten Wunsch erfolgte, war dies zwischen 1862 und 1895 nur noch bei jeder fünften Berufung der Fall. Kultusminister Karl Otto von Raumer hatte während seiner Amtszeit (1850 bis 1858) sogar ganz auf „Oktoyierungen“ verzichtet. 34 ������������������������������������������������������������������������������������������ Brocke, Bernhard vom: Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907. Das „System Althoff “. In: Baumgart, Peter (Hg.): Bildungspolitik in Preußen

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Die autoritäre Art und Weise, in der Althoff in Verfolgung dieses Ziels die universitäre Selbstverwaltung wiederholt auszuhebeln pflegte, trug ihm in der deutschen Geisteswelt vielfach Kritik ein. In der von Friedrich Naumann herausgegebenen Zeitschrift Die Hilfe. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst etwa wurde anlässlich von Althoffs Amtsverzicht 1907 dessen „fast diktatorisches Regiment über die preußische Gelehrsamkeit“ betont, letztlich aber ein ambivalentes Urteil gefällt: „Heute sehen wir beides vor uns: Eine Vermehrung der staatlichen Leistungen für fast alle Zweige des Wissens, viele und mustergültige Neubauten von Universitätsbestandteilen, neue Professuren, neue Gymnasien und polytechnische Anstalten, zugleich aber eine Abhängigkeit der Lehrkräfte von der Zentralstelle, wie sie früher nicht vorhanden war. Althoff bedeutet die Erweiterung der Staatsallmacht gegenüber der älteren, mehr republikanischen Verfassung der Universitäten.“35 Scheute Althoff in konkreten Berufungsfragen also keineswegs den Konflikt mit den jeweiligen Fakultäten, so geschah dies nun immerhin auf der Grundlage nachvollziehbarer wissen­schaftlicher Standards. Eine Profes­sur allein nach politischen Gesichts­punkten oder im Rahmen persönlicher Patronage zu besetzen, war zum Ende des 19. Jahr­hunderts faktisch unmög­lich geworden.36

III. „Evangelische“ und „katholische“ Geschichtswissenschaft: Konfessionelle Dimensionen der Professorenberufung in Breslau seit den 1840er Jahren Wenn die genannten Prozesse nun am konkreten Beispiel der Universität Bres­lau nachvollzogen werden sollen, so ist zunächst ein Blick auf die Ausdifferenzierung der dortigen Geschichtswissenschaft zu werfen. Seit den 1840er Jahren hatte sich im Fach Geschichte eine informelle kon­fessionelle Doppelbesetzung ergeben. Neben dem schon seit 1820 als Professor für Geschichte, Geographie und Statistik amtierenden Protestanten Gustav Adolf Harald Stenzel war der Katholik Joseph August Kutzen37 1835 erst zum außerordentlichen, 1843 dann zum ordentlichen Professor für Geschichte und historische Hilfs­wissenschaften berufen worden. Als sich Kutzen im Herbst 1849 zur Zeit des Kaiserreichs. Stuttgart 1980 (Preußen in der Geschichte 1), 9–118; ders.: Berufungspolitik und Berufungspraxis, 55–64; Lischke, Ralph-Jürgen: Friedrich Althoff und sein Beitrag zur Entwicklung des Berliner Wissenschaftssystems an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Berlin 1990 (Berliner Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 11). 35 Art. „Ministerialdirektor Dr. Althoff “. In: Die Hilfe. Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst Nr. 36 vom 8. September 1907, 1. Vgl. die Zahlen bei Brocke: Berufungspolitik und Berufungspraxis, 58. Demnach stieg im Zeitraum zwischen 1880 und 1910 – der die Amtszeit Althoffs einschließt – die Zahl der ordentlichen Professoren an den insgesamt elf preußischen Universitäten von 460 auf 654, die der außerordentlichen Professoren von 228 auf 325 und die der Privatdozenten sogar von 254 auf 733. 36 McClelland: State, Society, and University, 187. 37 Poten, [Bernhard von]: Art. Kutzen, Dr. Josef K. In: Allgemeine Deutsche Biographie 17 (1883) 444.

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aus privaten Gründen von seiner Pro­fessur zurückzog,38 wurde die Frage der künftigen Besetzung im Fach Geschichte wieder aktuell. In einem Schreiben an Kultusminister Adalbert von Ladenberg wies der Breslauer Fürstbischof Melchior von Diepenbrock am 18. Oktober 1849 ausdrücklich darauf hin, dass der kurz vor seinem Abschied stehende Kutzen die Geschichte in Breslau „als katholischer Professor“ – die Unterstreichung befindet sich im Original – vertreten habe. Daher sei es angemessen, den demnächst vakanten Lehrstuhl erneut mit einem Ka­tholiken zu besetzen.39 Der Historiker Richard Roepell40 wiederum, der bereits 1840 mit einem ersten, das Früh- und Hochmittelalter umfassenden Band einer groß angelegten Geschichte Polens hervorgetreten war und das Fach Geschichte an der Universität Breslau seit 1841 als Extraordinarius verstärkte, sah nun sei­nerseits die Gelegenheit gekommen, die Beförderung zum Ordinarius zu erreichen. Am 8. November 1849 schrieb Roepell an Kultusminister Ladenberg: „Inzwischen verlautet hier und ist sicher nicht ohne Grund dass die Katho­liken diese zweite ordentliche Professur der Geschichte als eine ihnen aus­ schliesslich gebührende betrachten, und demgemäss, die Forderung erheben werden, dass dieselbe nur mit einem Katholiken besetzt werde. Diese Forderung ist indes we­der durch das Herkommen noch, soviel mir bekannt ist, rechtlich begründet.“41 Den Interessen der Katholiken könne problemlos auch durch die Anstel­lung eines Extraordinarius Rechnung getragen werden, während er, Roepell, nach achtjährigem Wirken zwei­ fellos einen „Anspruch auf Beförderung“ erwor­ben habe.42 Die Philosophische Fakultät sekun­dierte ihm am 6. Dezember 1849 mit folgender Einlassung: „Für die confessionellen Interessen bei der Behandlung der Geschichte kann und darf innerhalb der philo38 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 1, Bl. 297, 304. 39 Ebd., Bl. 294. 40 Aus der reichen deutschen und polnischen Literatur zu Roepell, der als Wissenschaftler wie auch als liberaler Parlamentarier als ausgesprochen polonophil galt, vgl. Barelkowski, Matthias: Die Teilungen Polen-Litauens interpretieren. Richard Roepell und Jakob Caro – zwei deutsche „Polenhistoriker“ zwischen Wissenschaft und Politik. In: Bömelburg, Hans-Jürgen/Gestrich, Andreas/Schnabel-Schüle, Helga (Hg.): Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen. Osnabrück 2013, 105–154; Widawska, Barbara: Richard Roepell (1808–1893) und Jacob Caro (1836–1904) als deutsch-polnische Kulturvermittler. Zu ihrem Briefwechsel mit polnischen Gelehrten. In: Brandt, Marion (Hg.): Solidarität mit Polen. Zur Geschichte und Gegenwart der deutschen Polenfreundschaft. Frankfurt a. M. 2013 (Colloquia Baltica. Beiträge zur Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas 25), 125–146; Gerlich, Hubert: Organische Arbeit und nationale Einheit. Polen und Deutschland (1830–1880) aus der Sicht Richard Roepells. Münster 2004 (Arbeiten zur Geschichte Osteuropas 13); Żerelik, Rościsław: Jeszcze o związkach Richarda Roepella z uczonymi polskimi w świetle nieznanych listów Aleksandra Batowskiego. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 45 (1990) 525–535; Knot, Antoni: Ryszard Roepell 1808–1893 (Związki z Polską). In: Przegląd Zachodni 9 (1953) 108–168. Vgl. auch den Beitrag von Matthias Barelkowski in diesem Band. 41 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 2, Bl. 43–43v (beglaubigte Abschrift; Zitat Bl. 43). 42 Ebd., Bl. 43v.

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Abb. 3: Als offiziell in den Akten des Ministeriums verwahrte „Bestallungsurkunde“ Richard ­Roepells dient kurioserweise ein Vordruck „­Approbation für den Candidaten der Medicin und Chirurgie als ­Wundarzt erster Klasse und Geburtshelfer in den königlichen Landen“. Der offizielle Text darauf ist einfach durchgestrichen, der eigentliche Vorgang, die Ernennung Roepells zum ­ordentlichen Professor, handschriftlich in schmuckloser Form hinzugesetzt. Bildnachweis: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 3, Bl. 299.

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sophischen Fakultät kein Raum gegeben wer­den, dage­gen wird [...] in den beiden theologischen Fakultäten durch die Lehr­stühle der Kirchengeschichte für die spezifisch katholisch und protestantische Entwick­lung der beiden Theile der Geschichte, welche in diesem Sinne ver­schiedene Entwicklungen zulassen, hinreichend gesorgt. [...] Die Fakultät glaubt aber, daß ein Mann von unverkennbar wissenschaftlicher Tüchtigkeit wie der Professor Dr. Roepell [...] jetzt, da gerade die Gelegenheit dazu sich darbie­tet, der Beförderung wohl werth sei.“43 Zugleich beantragte die Fakultät die Berufung des Privatdozenten Eduard Cauer44 zum Extraordinarius für Alte Geschichte, damit diese Teildisziplin erstmals eine eigenständige Vertretung im Rahmen der akademischen Lehre erhalte.45 Erst einmal wurden freilich sowohl Diepenbrock als auch Roepell ent­täuscht. Der Lehrstuhl blieb vakant, auch die von der Fakultät gewünschte Berufung Cauers unterblieb. Der Minister beschied Roepell im Frühjahr des Folgejahres, angesichts von dessen politischer Betätigung als Abgeordneter des Erfurter Unionsparla­ments müsse „die Beschluß­nahme hinsichtlich ihres Ge­suchs um Beförderung zu einer ordentlichen Professur, für jetzt noch vorbehalten“ blei­ben.46 Am Ende setzte sich die kirchliche Seite auf höchster Ebene durch. Per Kabinettsorder entschied König Friedrich Wilhelm IV. am 26. September 1853, dass an den Universitäten seiner teilweise oder überwiegend katholisch geprägten Pro­vinzen – das betraf neben Breslau auch Bonn – im Fach Geschichte dauerhaft paritätische Doppelprofessuren eingerichtet wurden: eine protestantische, eine katholische.47 Roepell indes musste noch ein weiteres Jahr zuwarten. Erst der Tod Stenzels am 2. Januar 1854 ermöglichte ihm zu Beginn des Folgejahres, auf erneute Fürsprache der ­Philosophischen Fakultät hin, die förmliche Berufung auf dessen Lehr­stuhl im Rang eines Ordinarius.48 Bemerkenswert hierbei ist freilich, dass – wenn auch nicht inmitten der Breslauer Fa-

43 Philosophische Fakultät der Universität Breslau an Regierungsrat Ferdinand Heinke, Breslau 6. Dezember 1849: ebd., Bl. 33–38 (Zitat Bl. 35–36). 44 Cauer, Paul: Art. Paul Eduard Cauer, geb. 18. August 1823, gest. 29. September 1881. In: Biographisches Jahrbuch für Alterthumskunde 5 (1882) 38–40. 45 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 2, Bl. 36v. 46 Kultusminister Ladenberg „an den Abgeordneten zum Volkshause Herrn Professor Dr. Roepell“, Berlin 5. April 1850: ebd., Bl. 97. 47 Kaufmann, [Georg]/Ziekursch, [ Johannes]: Geschichte. In: Kaufmann, Georg (Hg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Tl. 2: Geschichte der Fächer, Institute und Ämter der Universität Breslau 1811–1911. Breslau 1911, 359–368, hier 364. 48 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 3, Bl. 184–184v (Philosophische Fakultät an Kultusminister Karl Otto von Raumer mit der Bitte um Berufung Roepells zum Ordinarius, Breslau 12. Januar 1854), Bl. 204, 298 (förmliche Ernennung Roepells zum ordentlichen Professor, Februar 1855). Als Kuriosum sei ergänzt, dass als offiziell in den Akten verwahrte „Bestallungsurkunde“ für Roepell ein (mit in das Papier eingeprägtem Siegel ver­sehener) Vordruck „Approbation für den Candidaten der Medi-

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kultät – mit dem zu dieser Zeit in Jena lehrenden Johann Gustav Droysen sowie dem Marburger Ordinarius Heinrich von Sybel offenbar auch zwei bereits sehr prominente Historiker für die Stenzel-Nachfolge im Gespräch waren. Sybel schrieb am 8. Februar 1854 an Droysen, er bedaure es, „daß Sie noch nicht den Ruf nach Breslau erhalten haben, [...] obgleich ich Sie nicht gerne so weit wegziehen sähe. Lieber denke ich mir, daß Johannes [der Direktor der Unterrichtsabteilung im Berliner Kultusministerium Johannes Schulze, R. G.] auf Sie für Berlin reflektiert. Das denke ich aus patriotischen Gründen, weil ich niemand lieber als Sie dort sähe, und auch aus egoistischen, weil ich noch lieber in Jena als in Kiel Ihr Nachfolger würde. Ein Ruf für Breslau aber würde mich in einige Verlegenheit setzen. Ablehnen, um in Hessen jetzt zu bleiben, wäre ebenso wenig reizend, wie mir aus persönlichen und Familienrücksichten das Hinüberziehen nach Schlesien erschiene.“49 Daraus erhellt, dass im Zuge der Professorenberufung in Preußen die Möglichkeit eines ministeriellen Oktroys über den Wunsch der betroffenen Fakultät hinweg zumindest stets im Raum stand. Die Beförderung Roepells war übrigens kaum ausgesprochen, da wurde die nun offiziell so genannte „Professur der Geschichte katholischer Confession“ bereits zum zweiten Mal be­setzt. Ihr erster Inhaber Carl Adolph (von) Cornelius50 hatte sich nach gerade einjährigem Wirken schon wieder an die Universität Bonn verabschiedet, ehe mit Wilhelm Junkmann51 im Frühjahr 1855 ein Gelehrter berufen wurde, der den Lehrstuhl bis zu sei­nem Tod im Jahr 1886 innehatte. In seinem an das Ministerium gerichteten Bewerbungsschreiben stellte Junkmann, der bis 1854 als Privatdozent in Münster gelehrt und gerade erst eine Gymnasialprofessur im ostpreußischen Braunsberg angenommen hatte,52 unter anderem sein aktuelles Arbeitsvorhaben vor: „ein größeres Werk über die Verbreitung der christlichen Religion und Bildung unter den nichtchristlichen Völkern inner­halb und außerhalb Europas seit dem Mittelalter“. Der Schlusssatz seiner Bewerbung war gleichfalls ganz auf den besonderen konfessionellen Charakter des zu besetzenden Lehrstuhls zugeschnitten: „Ew. Excellenz würden mich daher durch die Beförderung an eine grössere Anstalt mit ihren reichen Hülfsmitteln

cin und Chirurgie als Wundarzt erster Klasse und Geburtshelfer in den königlichen Landen“ d­ ient. Der offizielle Text darauf ist einfach durchgestrichen, der eigentliche Vorgang, die Ernennung Roepells, handschriftlich in schmuckloser Form hinzugesetzt (ebd., Bl. 299). 49 ����������������������������������������������������������������������������������������� Heinrich von Sybel an Johann Gustav Droysen, Marburg 8. Februar 1854. Abgedruckt bei Hübner, Rudolf (Hg.): Johann Gustav Droysen. Briefwechsel, Bd. 2 (1851–1884). Stuttgart/Berlin/ Leipzig 1929, 233–235 (Zitat 234f.), Nr. 714 mit Anm. 1 (dort der Hinweis, dass „Droysens Name auf keiner Vorschlagsliste der Breslauer Fakultät“ stehe. Für Sybel gilt überdies das gleiche). – Den Hinweis auf den Briefwechsel Sybel – Droysen verdanke ich Joachim Bahlcke. 50 Zu Cornelius, der 1848/49 als Parteigänger der rechten Mitte („Casino“ beziehungsweise „Pariser Hof “) ein Mandat in der Frankfurter Nationalversammlung innegehabt hatte, vgl. Goetz, Walter: Art. Cornelius, Carl Adolf Wenzeslaus v. In: Neue Deutsche Biographie 3 (1957) 363. 51 Nettesheim, Josefine: Wilhelm Junkmann. Dichter, Lehrer, Politiker, Historiker 1811–1886. Nach neuen Quellen bearbeitet. Münster 1969. 52 Ebd., 150f.

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und dem reichen geistigen Verkehr von neuem zu grösstem Danke verpflichten, den ich durch gewissen­hafte Pflichttreue und angestrengte Thätigkeit im Dienste christlicher Wissen­schaft und Jugendbildung nach Kräften abzutragen nicht ermüden werde.“53 Neben seiner akademischen Lehrverpflichtung betätigte Junkmann sich so­wohl literarisch als auch politisch. Seine exponiert katholisch-konservativen und großdeutschen Überzeugungen ließen seine Position an der Universität Breslau nach Anbruch des Kulturkampfes zunehmend prekär werden. Auf dem Höhepunkt des Konflikts in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre etwa wurde er wiederholt aus Prüfungskommissionen ausgeschlossen, freilich ohne dass seine persönliche Integrität von seinen Breslauer Kollegen dabei je in Frage gestellt worden wäre.54 Junkmanns Neffe, Ziehsohn und auch Nachfolger Aloys Schulte,55 hat die mehr als drei Jahrzehnte währende Lehrtätigkeit seines Onkels später wohlwollend bilanziert: „Er hat keine Schule begründet, aber viele Studenten in dem Lande sprachlicher und konfessioneller Mischung dauernd befruchtet. Als ich 1896 seine Professur antrat, fand ich oft Herren, die ihn dankbar verehrten.“56 Junkmanns Tod am 23. November 1886 veranlasste die Philosophische Fakultät dazu, für den amtierenden Kultusminister Gustav von Goßler einen längeren Bericht zu verfassen und darin die Entwicklung der katholischen Breslauer Geschichtsprofessur von Kutzen über Cornelius bis Junkmann noch einmal Revue passieren zu lassen.57 Unter den für die Nachfolge in Frage kommenden Persönlichkeiten wurde dort an ­erster Stelle bereits der Name des Münsteraner Privatdozenten Georg Hüffer58 genannt. Nachdem der westfälische Oberpräsident Conrad von Studt Charakter, Werdegang und Leistungen Hüffers in einem an Goßler gerichteten Schreiben in hohen Tönen gelobt59 und der Breslauer Ordinarius Dietrich Schäfer im Auftrag der Fakultät zudem ein

53 „Unterthänigste Bitte des Professors Dr. W. Junkmann am Lyceum zu Braunsberg um Berücksichtigung bei Erledigung einer ordentlichen Profes­sur, gerichtet an den hochgebietenden Herrn Staats-Minister“, Braunsberg 10. Februar 1855: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 3, Bl. 287–287v (beglaubigte Abschrift; Zitate Bl. 287v); die Unterlagen zur offiziellen Bestallung Junkmanns als Breslauer Ordinarius finden sich ebd., Bl. 293, 294–294v, 295–297v, 302, 303. 54 Nettesheim: Wilhelm Junkmann, 152f. 55 ������������������������������������������������������������������������������������������ Repgen, Konrad: Art. Schulte, Aloys. In: Neue Deutsche Biographie 23 (2007) 687–689; Braubach, Max: Aloys Schulte und die rheinische Geschichte. In: Rheinische Vierteljahrsblätter 22 (1957) 1–30. 56 Zit. nach Nettesheim: Wilhelm Junkmann, 152. 57 Die Philosophische Fakultät an Minister Goßler betr. die Frage der Wiederbesetzung des katholischen Geschichtslehrstuhls, Breslau 30. Dezember 1886: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 14, Bl. 41–46. 58 Ebd., Bl. 44v; Mütter, Bernd: Georg Hüffer (1851–1922) – ein katholischer Historiker zwischen Kirche und Staat, Ultramontanismus und Historismus. In: Westfälische Forschungen 61 (2011) 307–343. 59 Oberpräsident Studt an Minister Goßler, Münster 25. Januar 1887: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 14, Bl. 49–51,

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dezidiert positives Gutachten über dessen gerade erst publizierte Arbeit zu Bernhard von Clairvaux verfasst hatte,60 stand der offiziellen Berufung Hüffers im Februar 188761 nichts mehr im Wege. Größere wissenschaftliche Spuren hat Hüffer – wie letztlich auch Junkmann – in seinen Breslauer Jahren nicht hinterlassen, bevor er sich 1896 von seinen Lehrverpflichtungen in ein Privatgelehrtendasein in München (beziehungsweise später in Paderborn) zurückzog.62 Ein durchaus bedeutendes Œuvre vornehmlich auf dem Gebiet der deutschen Verfassungsgeschichte seit dem Hochmittelalter hat indes der fünfte Inhaber der katholischen Ge­schichtspro­fessur vorzuweisen, der vorstehend erwähnte Aloys Schulte, der sich im Berufungsverfahren gegen einen einzigen von der Fakultät genannten Konkurrenten, den Münsteraner Privatdozenten Heinrich Finke, auf der Basis eines einstimmigen Fakultätsvotums durchzusetzen vermochte.63 Seine Berufung erfolgte, obwohl den zuständigen Stellen in Breslau und Berlin bekannt war, dass Schulte als Katholik an seiner vormaligen Wirkungsstätte, der Universität Freiburg im Breisgau, massiv angefeindet worden war.64 Insofern zeigen Schultes insgesamt sieben Breslauer Jahre, dass die virulente Konfessionsfrage hier zumindest im Fach Geschichte letztlich als befriedet gel­ten konnte; eine konfessionell aufgeladene Konfliktlage wie zuvor in Freiburg wiederholte sich in der Odermetropole nicht. Entsprechend reibungslos gestaltete sich auch die Berufung von Schultes Nachfolger, die notwendig geworden war, als Schulte im Herbst 1902 zum Direktor des Historischen Instituts in Rom ernannt worden war.65 Da Schulte sein Breslauer Ordinariat unter der Zusicherung, auch weiterhin im Sommersemester regelmäßig Vorlesungen zu halten, zunächst aber behielt, ging es formal nur um eine Vertretungsprofessur im Rang eines Extraordinariats: In dem entsprechenden Verfahren setzte sich der auch als Dichter von Kommersliedern ausgewiesene Münchner Bibliothekar Franz Kampers ge-



hier Bl. 51: „Sein [Hüffers] Auftreten im geselligen Verkehr wie im öffentlichen Leben zeugt von einem ruhigen Wesen [und] von guten Umgangsformen.“ 60 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., Bl. 53–60v (Abschrift); Hüffer, Georg: Der heilige Bernhard von Clairvaux. Eine Darstellung seines Lebens und seines Wirkens. Münster 1886. 61 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 14, Bl. 73–75v, 77, 79–80v. 62 Hüffers Bitte um Entpflichtung und deren Gewährung finden sich ebd., Bd. 18 [unpaginiert]. 63 Ebd. 64 Vgl. den Zeitungsartikel „Zum Abgang des Professors A. Schulte von der Universität Freiburg.“ In: Germania vom 14. März 1896: „Schulte hatte als einziger Katholik einen schweren Stand. Man ließ es ihn bei jeder Gelegenheit fühlen, daß er ein Eindringling sei; trotz seines freundlichen Wesens, trotz seiner Zurückgezogenheit von allen katholischen Kundgebungen hat er es nicht dahin gebracht, sich die Gunst seiner Kollegen zu erwerben.“ Der dem Zentralorgan der katholischen Zentrumspartei entstammende Artikel ist dem vorstehend zitierten Aktenbestand zur Berufung Schultes beigefügt. 65 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 21, Bl. 215 (Abschrift).

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gen zwei Mitbewerber durch.66 Erst die endgültige Wegberufung Schultes nach Bonn ebnete im Frühsommer 1903 den Weg für Kampers’ postwendende Beförderung zum ordentlichen Professor und Lehrstuhlinhaber.67

IV. Die fachliche Ausdifferenzierung der Breslauer Geschichtswissenschaft nach 1848 Während sowohl Roepell als auch Junkmann seit Mitte der 1850er Jahre unge­achtet ihrer persönlichen Forschungsinteressen formell die allgemeine Geschich­te vertraten, kam es mit der Einrichtung eines althistorischen Lehrstuhls 1863 erstmals zu einer institutionellen Verbreiterung und damit zu einer größeren fachlichen Diffe­renzierung des historischen Lehrangebots an der Breslauer Universität. Das entsprechende Bedürfnis war bereits zuvor verschiedentlich artikuliert worden – erstmals mit dem erwähnten ergebnislosen Gesuch der Philosophischen Fakultät um Verleihung eines althistorischen Extraordinariats an den Gymnasiallehrer Eduard Cauer (Dezember 1849). Im Zuge des nach Stenzels Tod anstehenden Personalrevirements ergriff Cauer Anfang 1854 persönlich die Initiative. In einem Schreiben an die Fakultät legte er dar, er sei ausgewiesener Experte für die Geschichte des Altertums – „ein Feld also[,] welches dem Studienkreise der anderen an hiesiger Universität wirkenden Lehrer der Geschichte anerkanntermaßen ferner liegt“ – und bereit, im Gegenzug zu seiner Berufung zum Extraordinarius sein schulisches Lehramt aufzugeben.68 Obwohl die Fakultät Cauers Ansinnen dem Ministerium gegenüber auch diesmal befürwortete, war ihm erneut kein Erfolg beschieden.69 Cauers Sohn Paul erwähnt in seinem knappen Biogramm über den Vater immerhin die neben dessen „Thätigkeit des Schulmeisters [...] nie ganz aufgegebenen Vorlesungen an der Universität [Breslau]“.70 Hinzu kam, dass die Alma mater der Odermetropole mit dem aufstrebenden Ordinarius Theodor Mommsen seit 1854 über einen Altertumswissenschaftler von Rang verfügte, wenn auch in den Reihen der Juristischen Fakultät.71 Es illustriert die nach wie 66 Ebd., Bl. 217–219. Mitbewerber waren der Tübinger Extraordinarius Heinrich Günter sowie der Münsteraner Privatdozent Ludwig Schmidt. Zu Kampers vgl. Birgler, Ingrid: Art. Franz Kampers. In: Deutsches Literatur-Lexikon. Biographisch-bibliographisches Handbuch 8 (1981) Sp. 876–877. 67 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 21, Bl. 41–42v, 43–44v, 46, 47–48v, 49, 50. 68 Eduard Cauer an die Philosophische Fakultät, Breslau 12. Januar 1854: Ebd., Bd. 3, Bl. 186–187 (Zitat Bl. 186v). 69 Vgl. ebd., Bl. 188, 205, 217. 70 Cauer: Art. Paul Eduard Cauer, 40. 71 Zu den genauen Umständen der Berufung Mommsens nach Breslau, die „zu diesem Zeitpunkt gänzlich unerwartet und nur halb willkommen“ gewesen sei, vgl. Wickert: Theodor Mommsen, Bd. 3, 298–304 (Zitat 298).

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vor mangelhafte Berücksichtigung der Antike im Rahmen der Breslauer Geschichtswissenschaft, dass Mommsen erstmals im Wintersemester 1855/56 auf besondere Veranlassung des Kultusministers – und sozusagen als Sonderzugabe – eine althistorische Vorlesung anbot („Geschichte Roms unter den julischen Kaisern“); die gastgebende Philosophische Fakultät hatte die Erlaubnis hierzu „mit Vergnügen“ erteilt.72 Mommsens Weggang nach Berlin 1858 ließ die fachliche Lücke dann umso deutlicher hervortreten, so dass sich auch das Ministerium den Wünschen der Breslauer Fakultät nach Einrichtung eines eigenständigen althistorischen Lehrstuhls nicht mehr länger verschloss. Dessen 1863 berufener erster Inhaber Karl Neumann73 hatte zunächst allerdings zusätzlich noch das Fach Geographie zu vertreten – und mahnte ange­sichts seiner Beförderung vom außerordentlichen zum ordentlichen Professor 1865 an, die Universität möge nun doch bitte endlich jene geographischen Unterrichtsmateria­lien anschaffen, über die „selbst jede leidlich ausgestattete Schule ver­fügt“.74 Im Zuge der Wieder­beset­zung des Lehrstuhls nach Neumanns Tod am 29. Juni 1880 mussten derlei Probleme nicht mehr berücksichtigt werden, da sich die Geogra­phie 1876 mit der Berufung des noch jungen, später wissenschaftlich bedeutenden Fachvertreters Joseph Partsch75 als Dis­ziplin mittlerweile ver­selbständigt hatte. Das Wiederbesetzungsverfahren für den althistorischen Lehrstuhl indes war von Komplikationen begleitet. Zunächst hatte die Fakultät nach eingehenden Beratungen eine Dreierliste erstellt, an deren Spitze der Tübinger Ordinarius für Alte Geschichte Alfred von Gutschmid stand.76 Da die Verhandlungen mit Gutschmid jedoch zu keinem Ergebnis führten, verwies das Ministerium die Angelegenheit an die Fakultät zurück, die daraufhin etwas kleinlaut zusicherte, sie werde nunmehr darauf achten, einen Kandidaten auszuwählen, „den sie zweifellos [Unterstreichung im Original] für geeignet hält, das erledigte Amt in dieser Hinsicht [d. h. mit Rücksicht auf das von Neumann Aufgebaute, R. G.] würdig zu bekleiden“.77 Ergebnis war im November 1880 eine völlig

72 Ebd., 316. 73 Partsch, J[oseph]: Art. Neumann: Karl Johann Heinrich N. In: Allgemeine Deutsche Biographie 23 (1886) 530–532. 74 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 6, Bl. 116–117 (Zitat Bl. 117); vgl. ebd., Bl. 146–147, 153. 75 Brogiato, Heinz Peter: Leben und Werk von Joseph Partsch (1851–1925) – ein Überblick. In: ders. (Hg.): Joseph Partsch – wissenschaftliche Leistungen und Nachwirkungen in der deutschen und polnischen Geographie. Beiträge und Dokumentationen anlässlich des Gedenkkolloquiums zum 150. Geburtstag von Joseph Partsch (1851–1925) am 7. und 8. Februar 2001 im Institut für Länderkunde Leipzig. Leipzig 2002 (Beiträge zur regionalen Geographie 58), 11–28; Klementowski, Jan: Quellen zu Joseph Partsch im Breslauer Universitätsarchiv. Ebd., 154–169. 76 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 11, Bl. 128–132v. Auf der Liste folgten zweitens der Straßburger Ordinarius Heinrich Nissen sowie drittens der Wiener Ordinarius Otto Hirschfeld. Zu Gutschmid vgl. Bengtson, Hermann: Art. Gutschmid, Hermann Alfred. In: Neue Deutsche Biographie 7 (1966) 348–349. 77 Philosophische Fakultät an Kultusminister Robert Viktor von Puttkamer, Breslau 21. November

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neu zusammengesetzte Liste mit dem Marburger Extraordinarius Benedikt Niese an der Spitze.78 Der an Niese nunmehr ergangene Ruf wäre trotzdem beinahe ungehört geblieben, da einige Mar­bur­ger Kollegen Nieses Weggang mit allen Mitteln zu verhindern suchten. Dessen mehrjährige Lehrtätigkeit, so ihr Appell an das preußische Kultusministerium, habe die Anerkennung der gesamten Universität gefunden und sei nicht zuletzt deshalb unverzichtbar, weil Niese neben der Alten Geschichte auch die Klassische Philologie mit abdecke und ein entsprechend qualifizierter Ersatz mittelfristig kaum zu finden sei. Da Niese in Marburg derzeit zudem die niedrigste mit einer ordentlichen Professur verbundene Besoldung in Höhe von 3.500 Mark erhalte, werde er seine Wechselpläne im Fall einer umgehenden Gehaltsaufbesserung möglicherweise überdenken.79 Tatsächlich betonte Niese selbst, in Marburg persönlich zwar zufrieden zu sein; er nehme die Stelle in Breslau jedoch gern an, „die mir die Aussicht auf einen grösseren Wirkungskreis eröffnet und auch eine materielle Verbesserung für mich in Gefolge haben soll“.80 Das entsprechende Angebot für Breslau – 4.000 Mark plus 660 Mark Zulage jährlich nebst voller Übernahme der Umzugskosten in Höhe von gut 700 Mark81 – gab den Ausschlag: Niese nahm zum Sommersemester 1881 seine Lehrtätigkeit in der Odermetropole auf, wurde dort aber offenbar nicht recht heimisch. Nur vier Jahre später jedenfalls wechselte er wieder zurück an die vertraute Marburger Philipps-Universität.82 Von der endgültigen Etablierung der Alten Geschichte als historischer Teildisziplin abgesehen, erfuhr das Breslauer Lehrangebot einen weiteren Ausbau durch die zusätzliche Einrichtung von Extraordinariaten und Honorarprofessuren. Mit der Berufung des Archivars und Privatdozenten Colmar Grünhagen83 zum außeror­dentlichen Professor



1880: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 11, Bl. 153–157v (Zitat Bl. 153v). 78 Ebd., Bl. 154–157. Es folgten zweitens der Dorpater Ordinarius der Philologie und Archäologie Georg Löschecke sowie drittens der Berliner Privatdozent Otto Seeck. Zu Niese vgl. SchlangeSchöningen, Heinrich: Art. Niese, Jürgen Anton Benedictus. In: Neue Deutsche Biographie 19 (1999) 241. 79 Gesuch der Marburger Professoren Carl Julius Cäsar und Leopold Schmidt an Kultusminister Puttkamer, Marburg 16. Dezember 1880: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz BerlinDahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 11, Bl. 162–163 (beglaubigte Abschrift). 80 Niese an Kultusministerium, Marburg 16. Dezember 1880: Ebd., Bl. 158–158v (Zitat Bl. 158). 81 Ebd., Bl. 164–166v, 281, 282. 82 Minister Goßler an den Universitätskurator und Oberpräsidenten Seydewitz betr. den Wechsel von Prof. Dr. Benedictus Niese an die Universität Marburg zum 1. Oktober, Breslau 2. April 1885: Ebd., Bd. 13 [unpaginiert]. 83 �������������������������������������������������������������������������������������������� Eine elaborierte Biographie Grünhagens steht bislang aus. Vgl. Wendt, Heinrich: Colmar Grünhagen. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 17. bis 19. Jahrhunderts. Breslau 1928 [Sigmaringen 21985] (Schlesische Lebensbilder 3), 362–371; Krusch, Bruno: Geschichte des Staatsarchivs zu Breslau. Leipzig 1908, 316–340; vgl. ferner den Beitrag von Andreas Rüther in diesem Band.

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für historische Hilfswissenschaften und „Provinzialgeschichte“ erfuhr die schlesische Landesgeschichtsforschung Ende 1866, also ein gutes halbes Jahrhundert nach Grün­ dung der Breslauer Alma mater, erstmals eine dauerhafte universitäre Veranke­rung.84 Der erfahrene Netzwerker Grünhagen revanchierte sich artig, indem er Preußens Kultusminister Heinrich von Mühler zum Dank für die erfolgte Berufung offiziell zu einem im März 1867 von ihm selbst gehaltenen Vortrag („Breslau nach der Preußischen Besitzergreifung“) an die Berliner Singakademie einlud.85 Dass Grünhagen sich seiner in fachlicher Hinsicht exklusiven Position an der Universität durchaus bewusst war, er­hellt aus seinen wiederholten Forderungen nach Gehaltsaufbesserung. Ein entsprechendes Gesuch wurde im Frühjahr 1870 vom Universitätskurator und Oberpräsidenten Eberhard von Stol­berg-Wernigerode gegenüber dem Berliner Kultusministerium mit dem Hinweis befürwortet, das Fach „Preußische Landesgeschichte“, das „durch alle Mittel gefördert“ wer­den müsse, werde von Grün­hagen an der Universität ganz allein vertreten, weshalb man ihm in finanziellen Dingen entgegenkommen müsse.86 Mit Jacob Caro87 stieß 1869 zudem der erste Historiker jüdischen Glaubens zum Breslauer Lehrkörper hinzu. Oberpräsident zu Stolberg-Wernigerode unter­stützte dessen Gesuch auf Ernennung zum Honorarprofessor88 mit einer kurzen, aber offenherzigen Darlegung der Lehrsituation im Fach Geschichte. Eigentlich, so schrieb er am 30. Juni 1869 an Kultusminister Mühler, sei das Fach mit drei Ordinariaten (Roepell, Junkmann, Neumann) und einem Extraordinariat (Grünhagen) ausreichend vertreten. Da aber Roepell als Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses die Politik seinen akademischen Pflichten der­zeit offenbar vorziehe, während Junkmann wiederum nur „mit Rücksicht auf die studi­rende katholische Jugend berufen“ worden sei und mit seinen Vor­trägen daher die entsprechenden Bedürfnisse weit eher bediene als echte 84 Universitätskurator und Oberpräsident Johann Eduard von Schleinitz an Kultusminister Mühler betr. die Beförderung des Provinzialarchivars Dr. Grünhagen zum außerordentlichen Professor, Breslau 15. November 1866: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 6, Bl. 229. Schleinitz betonte darin die Vorteile engerer Beziehungen zwischen Universität und Provinzialarchiv, dem Grünhagen nunmehr seit ­viereinhalb Jahre vorstehe. Zudem lehre dieser in seiner Funktion als Privatdozent ohnehin bereits an der Breslauer Universität. 85 Ebd., Bl. 263–263v. 86 Ebd., Bd. 8, Bl. 56 (Zitat), 57. 87 Barelkowski: Richard Roepell und Jacob Caro; Widawska: Richard Roepell und Jacob Caro; Rhode, Gotthold: Jüdische Historiker als Geschichtsschreiber Ostmitteleuropas: Jacob Caro, Adolf Warschauer, Ezechiel Zivier. In: ders. (Hg.): Juden in Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg. Marburg/Lahn 1989 (Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 3), 99–113; Ergetowski, Ryszard: Związki J. Caro z polskimi uczonymi w  latach 1862–1902. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 42 (1987) 17–40; ders.: ­Naukowa i dydaktyczna działalność Jacoba Caro. Ebd., 57 (2002) 345–356. Vgl. den Beitrag von Barbara Kalinowska-Wójcik in diesem Band. 88 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 7, Bl. 206 (beglaubigte Abschrift).

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wissen­schaftliche Interessen, bestehe gerade im Bereich der Neueren Geschichte eben doch dringender Bedarf.89 Dabei war Caros wissenschaftliche Karriere bis dahin alles andere als bruchlos verlaufen. Einerseits hatte er sich mit der 1863 erfolgten Veröffentlichung des zweiten Bandes der über zwei Jahrzehnte zuvor von Roepell begonnenen Geschichte Polens einiges Ansehen erworben,90 andererseits war ihm im gleichen Jahr nach Vorlage seiner Habilitationsschrift über den spätmittelalterlichen polnischen Geistlichen und Gelehrten Jan Długosz91 an der Universität Jena die dortige Habilitation zunächst verweigert worden – mit dem Argument, „ein Jude könne Weltgeschichte nicht adäquat vortragen“.92 Das Verfahren konnte erst zum Abschluss gebracht werden, nachdem Caros venia legendi demonstrativ auf den Bereich Hilfswissenschaften beschränkt worden war. Da in diesem Klima an eine akademische Karriere vorerst nicht zu denken war, verdingte Caro sich zunächst als Berichterstatter für das preußische Auswärtige Amt – eine Tätigkeit, in deren Rahmen er unter anderem den preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck mit vertraulichen Informationen über die Verhältnisse in Kongresspolen nach dem Scheitern des polnischen Januaraufstands versorgte.93 Der Wegfall dieser Einnahmequelle brachte Caro nach 1869 zunächst in erhebliche finanzielle Schwierigkeiten, da er als Honorarprofessor an der Universität Breslau keinerlei Festgehalt bezog. Dass er sich als Lehrkraft jedenfalls rasch unentbehrlich mach­te, zeigen indes seine Beförderungen erst zum Extraordinarius 1876,94 dann zum ordentli­ chen Professor 1882,95 wenngleich er im Kollegenkreis offenbar weitgehend isoliert blieb.96 Übrigens gleichfalls im Jahr 1869 erhielt mit Heinrich Graetz97 einer der wirkmächtigsten deutschsprachigen Historiographen der Geschichte des Judentums eine weitere Honorarprofessur an der Universität Breslau98 – an jener Hochschule also, an der Graetz selbst als Jude und Autodidakt 27 Jahre zuvor überhaupt nur mit ministe89 Ebd., Bl. 221–221v (Zitat Bl. 221); vgl. ebd., Bl. 222–223, 224. 90 Kalinowska-Wójcik, Barbara: Między wschodem i zachodem. Ezechiel Zivier (1868–1925). ­Historyk i archiwista. Katowice 2015, 195f. 91 Caro, Jacob: Johannes Longinus. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 15. Jahrhunderts. Jena 1863. 92 Rhode: Jüdische Historiker, 101. 93 Ebd., 102. 94 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 10, Bl. 150–151. 95 Ebd., Bd. 12, Bl. 89, 89v–90v, 92, 93–94. 96 Vgl. die Einschätzung bei Kaufmann/Ziekursch: Geschichte, 366: „Gewisse Schwächen seines Wesens haben gehindert, daß Caro trotz seiner bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen und trotz seiner Geschäftsgewandtheit die rechte Anerkennung der Kollegen gewann. Sein Vortrag war glänzend, aber auf die Dauer entbehrte er der Wirkung.“ 97 Aus der reichen Literatur zu Graetz sei lediglich genannt die neuere Studie von Pyka, Markus: Jüdische Identität bei Heinrich Graetz. Göttingen 2009. 98 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 8, Bl. 22–24.

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rieller Sondererlaubnis ein akademisches Studium hatte aufnehmen können. Das von Graetz dem Ministerium gegenüber unterbreitete Angebot, an der Universität künftig Vorlesungen „über biblische und nachbiblische Literatur und Geschichte, Gram­matik des Talmudischen Idioms, exegetisch-rabbinische und Talmudische Litera­tur“ zu halten,99 führte ihn dort allerdings in die Reihen der Theologischen Fakultät. Hatte schon Caro bei seinem Einstieg als Honorarprofessor von der häufigen Abwesenheit des Parlamentariers Roe­pell profitiert, so wurde mit diesem Umstand 1873 auch die Einrichtung eines zusätzlichen Ordinari­ats für Mittlere und Neuere Geschichte begründet. In ihrem entsprechenden Gesuch an das Ministerium vom 28. Februar hatte die Philosophische Fakultät dargelegt, dass im Fach Geschichte derzeit nur drei ordentliche Professuren zur Verfügung stünden: die von Neumann (Alte Geschichte), von Junkmann (Schwerpunkt Mittelalter) und von Roepell (Schwerpunkt Neuzeit). Da aber gerade der zuletzt genannte Dozent für die akademische Lehrtätigkeit nur noch sehr eingeschränkt zur Verfügung stehe, ergebe sich die Notwendigkeit, die Geschichte der mittleren und neueren Zeiten zu stärken – insbesondere die preußische Geschichte seit dem Herrschaftsantritt des Großen Kurfürsten sei vermehrt zu berücksichtigen.100 Unter der Hand war die Einrichtung der neuen Professur freilich auch als gegen einen zu großen Einfluss der katholischen Kirche gerichtet zu verstehen, da hiermit an der Breslauer Philosophischen Fakultät ein klares Übergewicht der „protestanti­schen“ gegen­über der „katholischen“ Geschichtswissenschaft wiederhergestellt war.101 Bereits im April 1873 gab Kultusminister Adalbert Falk in der Frage des neuen Lehrstuhls grünes Licht, ließ in diesem Zusammenhang aber bereits den Namen des Berliner Droysen-Schülers und Greifswalder Professors Bernhard Erdmannsdörffer als eines geeigneten Kandidaten fallen,102 gab also zu verstehen, dass er in diesem Fall die Entscheidung nicht unbedingt der Urteilskraft der Fakultät überlassen wollte. Während eine Mehrheit der Fakultät, erleichtert über die rasche Genehmigung der neuen Professur, den ministeriellen Oktroy hinzunehmen gedachte, wurde von drei Fakultätsmitgliedern – darunter übrigens Roepell selbst – ein Separatvotum eingebracht. Darin wurde betont, es gehe ja gerade um einen Ersatz für Roepell, dessen Forschungsschwerpunkte im 19. Jahrhundert, also in der jüngsten Vergangenheit, angesiedelt seien; ein vornehmlich auf das 17. Jahrhundert fixierter Gelehrter wie Erdmannsdörffer sei für die Nachfolge daher ungeeignet. Aus diesem Grund brachten die drei Frondeure zwei 199 Bitte des außerordentlichen Lehrers am Breslauer jüdisch-theologischen Seminar Heinrich Grätz [sic] an den Kultusminister um Verleihung einer Honorarprofessur an der Universität, Breslau 29. Oktober 1869: Ebd., Bl. 16–16v (beglaubigte Abschrift). 100 Ebd., Bl. 59–62. 101 Bahlcke: Das Historische Seminar der Universität Breslau, 225f. 102 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 9, Bl. 63; Oestreich, Gerhard: Art. Erdmannsdörffer, Bernhard. In: Neue Deutsche Biographie 4 (1959) 574–575.

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alternative Kandidaten ins Gespräch.103 Letztlich ließ der Minister sich in diese Angelegenheit aber nicht mehr hineinreden. Nachdem Erdmannsdörffer brieflich signalisiert hatte, die Professur bis Ende September 1873 antreten zu wollen, begannen die beiderseitigen Verhandlungen.104 Einschließlich der genannten neuzeitlichen ‚Entlastungprofessur‘ war das historische Angebot an der Universität Breslau damit für mehrere Jahrzehnte komplett. Erst mit der Einrichtung einer weiteren Professur für Mitt­lere und Neu­ere Ge­schichte, diesmal allerdings mit explizit wirtschaftshistori­schem Schwerpunkt, erfolgte 1907/08 auf Initiative des Kultusministeriums ein weiterer Ausbau, begründet nicht zuletzt mit der Lücke, die der 1904 verstorbene Caro im Lehrkörper hinterlassen hatte.105 Zunächst war hierfür lediglich ein Extraordinariat vorgesehen. In dem entsprechenden Berufungsverfahren, das im Frühjahr 1907 über die Bühne ging, setzte sich der aus Breslau gebürtige und aktuell in München lehrende außerordentliche Professor Georg Friedrich Preuß gegen drei Mitbewerber durch.106 Er trat die Stelle zum Sommersemester des gleichen Jahres an.107 Dieses erste Breslauer Semester hatte Preuß gerade erst hinter sich gebracht, als das Kultusministerium Ende November 1907 verlautbaren ließ, im nächsten preußischen Staatshaushalt sei für Breslau nunmehr sogar eine ordentliche Professur für Mittlere und Neuere Geschichte vorgesehen. Zugleich aber wurde klargestellt, dass es sich hierbei formaliter um einen ganz neuen Lehrstuhl handele und es folglich auch keineswegs einen Automatismus gebe, demzufolge der bereits amtierende Extraordinarius Preuß 103 Separatvotum der Professoren Richard Roepell, August Reifferscheid (Philologie) und Oskar Emil Meyer (Physik) bzgl. der Besetzung der neuen Geschichtsprofessur, Breslau 13. Juli 1873: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 9, Bl. 100–105. Genannt wurden die Kandidaten Rudolf Usinger, Ordinarius in Kiel, und Ludwig Oelsner, Gymnasialprofessor in Frankfurt am Main. 104 Ebd., Bl. 110–110v, 111–112v. 105 Kultusminister Ludwig Holle an den Universitätskurator, Berlin 13. Februar 1907: „Es erscheint mir empfehlenswert, die Lücke, welche durch das Ableben von Dr. Caro in der dortigen Vertretung der mittleren und neueren Geschichte entstanden ist, wenigstens teilweise wieder auszufüllen und zu die­sem Zweck einen jüngeren Historiker als Extraordinarius nach Breslau zu berufen. Ew. Excellenz ersuche ich daher ergebenst, die Philosophische Fakultät zu veranlassen, Vor­schläge für diese Berufung in der üblichen Dreizahl baldtunlichst einzureichen.“ Ebd., Bd. 24, Bl. 39. 106 Ebd., Bl. 47–50v. Auf Platz zwei war Albert Werminghoff gelangt, ein hauptamtlicher Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica. Auf Platz drei wurden als gleichwertige Kandidaten der Straßburger Privatdozent Robert Holtzmann sowie der Jenaer Extraordinarius Friedrich Keutgen gelistet. 107 Im Rahmen einer Vereinbarung mit dem Kultusministerium hatte Preuß eine „Anerkenntnis“Erklärung zu unterschreiben und damit seine Bereitschaft zu erklären, erstens das Fach Mittlere und Neuere Geschichte in Breslau zu vertreten und zweitens – auf den etwaigen Wunsch der preußischen Unterrichtsverwaltung hin –, eine außerordentliche oder ordentliche Professur gegebenenfalls auch an einer anderen preußischen Universität zu übernehmen. Ebd., Bl. 58; vgl. ebd., Bl. 61–62v (offizielle Bestallung), Bl. 80 (Personalbogen).

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auf Beförderung rechnen könne. Vielmehr solle die Fakultät in üblicher Weise Personalvorschläge unterbreiten und sich dabei insbesondere über den – im Ministerium ganz offenkundig als Stelleninhaber gewünschten – Kieler Professor Richard Fester gutachterlich äußern.108 Diesmal allerdings zeigte sich die Breslauer Philosophische Fakultät widerständig und erarbeitete eine Liste mit fünf Namen, auf der Preuß den ersten, Fester hingegen demonstrativ den letzten Platz einnahm – und dies mit dem süffisanten Hinweis, „die Nachrichten über Festers Lehrtätigkeit“ seien „keineswegs günstig“.109 Der geplante ministerielle Eingriff war damit erfolgreich abgewehrt, Preuß wurde im Sommer 1908 wie von der Fakultät gewünscht zum Ordinarius berufen.110

V. „Durchgangsuniversität“ und „Wartestation“: Der Personalwechsel ­innerhalb der Breslauer Geschichtswissenschaft nach 1848 Immer wieder sind Stimmen von Breslauer Professoren überliefert, die zeigen, dass die Odermetropole nicht nur aus Karrieregründen als Durchgangsstation diente, sondern auch von ihrer geographisch peripheren Lage, ihrer vermeintlich mangelnden Lebensqualität (einschließlich der besonderen klimatischen Bedingungen) und ihrer unbefriedigenden akademischen Arbeitsatmosphäre her bei vielen als ziemlich unattraktiv galt. Beinahe sprichwörtlich geworden ist Theodor Mommsens polemisches Verdikt über die Breslauer Studentenschaft: „Die akademischen Dinge sind nicht schön. Es ist kein Zug hier, weder unter den Studenten noch unter den Dozenten; jenes sind lauter Schlesier, viele arm, die meisten stinken, alle faul.“111 Die Alma mater als Ganze kam da kaum besser weg: „Unsere Anstalt ist eine Pfaffen- und Referendarienpepiniere, aber keine Universität und darunter leiden natürlich alle Fächer.“112 Da nimmt es nicht wunder, dass Mommsen die „Wartestation Breslau“113 bereits 1858, nach lediglich vier Jahren, wieder verließ. Um das eingangs problematisierte Wort von der „Durchgangsuniversität“ Breslau auf seine Stichhaltigkeit hin zu überprüfen, bedarf es freilich einer ge­wissen Differenzierung. Betrachtet man zunächst den ursprünglich von Stenzel begründeten Lehrstuhl, so zeigt sich, dass dieser mit den Stenzel-Nachfolgern Roepell (bis 1893) und Georg

108 Ebd., Bl. 142. 109 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., Bl. 236–242 (Zitat Bl. 242). Auf den Plätzen zwei bis vier rangierten der Hallenser Privatdozent Felix Rachfahl, der Tübinger Extraordinarius Walter Goetz sowie der Gießener Ordinarius Johannes Haller. 110 Ebd., Bl. 243–243v, 246–247v, 254, 263–265v. 111 So Mommsen kurz nach seiner Ankunft in Breslau in einem Schreiben an den befreundeten Zürcher Theologen Ferdinand Hitzig (7. November 1854), zit. nach Wickert: Theodor Mommsen, Bd. 3, 314. 112 Mommsen an Otto Jahn (12. April 1856), zit. nach ebd., 315. 113 Ebd., 310 (Kapitelüberschrift).

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Heinrich Kaufmann114 (bis 1918) gerade einmal drei Inhaber in 98 Jahren erlebte – was vordergründig als Ausweis größtmöglicher Kontinuität erscheint. Zu berücksichtigen ist hier freilich der schon erwähnte Umstand, dass Roepell seine universitären Pflichten im Dienste seiner politischen Karriere erheblich vernachlässigte und gerade seine häufige Abwesenheit die Geschichtswissenschaft an der Universität Breslau zunehmend als Krisenfach erscheinen ließ. Dass das geschilderte negative Image Breslaus die Verweildauer der Professoren – oder auch nur ihre Bereitschaft, überhaupt an die Oder zu kommen – bisweilen bestimmte, erhellt besonders aus der stark fluktuierenden Besetzung der Ergänzungsprofessur für Mittlere und Neuere Geschichte. Eben sie war eigens dafür eingerichtet worden, die von Roepell aufgerissene Lücke dauerhaft zu füllen, brachte es in den zwei Jahrzehnten ihrer Existenz zwischen 1873 und 1893 (dem Todesjahr Roepells) allerdings auf nicht weniger als sechs Inhaber. Deren erster, der vorstehend schon erwähnte Bernhard Erdmannsdörffer, steckte noch mitten in den Verhandlungen um die Übernahme seiner Umzugs- und Reisekosten, als er dem Ministerium am 19. Januar 1874 überraschend mitteilte, nun doch einen Ruf nach Heidelberg angenommen zu haben, weshalb er um die Entlassung aus dem preußischen Staatsdienst nachsuchte.115 Die Fakultät rea­gierte umgehend und empfahl nunmehr den Tübinger Or­dinarius Carl von Noorden.116 Mit Blick auf seine kränkelnde kleine Tochter erbat von Noorden sich jedoch Bedenkzeit, da ihn, wie er Anfang Februar an Kultusminister Adal­bert Falk schrieb, ein Kollege von der Tübinger Medizinischen Fakultät vor den Unbilden der schlesischen Witterung gewarnt habe: „Im peinlichen Konflikt zwischen akademischem Wunsch und väterlicher Pflicht [...] habe ich die Kleine gestern noch einmal [...] untersuchen lassen. Ich empfing den entschiede­nen Ausspruch, dass nach den Ergebnissen der Untersuchung das Kind unter günstigen klimatischen Bedingungen der nächsten Lebensjahre sich gedeihlich entwickeln und Vergangenes überwinden könne, demselben aber [...] aus jetziger Verpflanzung in das östliche, rauheren Winden und namentlich schärferen Tem­peraturwechseln ausgesetzte Breslauer Klima ernstliche Gefährdung erwachsen werde.“117 Am Ende blieb von Noorden jedenfalls im milden Tübingen. 114 Kaufmann, der zugleich ständiger Mitarbeiter an dem Reihenwerk Allgemeine Deutsche Biographie war und die Festschrift zum einhundertsten Jubiläum der Universität Breslau im Jahr 1911 herausgab, trat als Wissenschaftler vor allem mit mediävistischen Forschungen hervor. Vgl. Kaufmann, Georg Heinrich: Deutsche Geschichte bis auf Karl den Großen, Bd. 1–2. Leipzig 1880–1881; ders.: Die Geschichte der deutschen Universitäten, Bd. 1–2. Stuttgart 1888–1896. 115 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 9, Bl. 190. 116 Ebd., Bl. 197–199. Zu Noorden vgl. Buchholz, Gustav: Art. Noorden, Karl von. In: Allgemeine Deutsche Biographie 23 (1886) 768–772; Philippsborn, Leo: Carl von Noorden. Ein dt. Historiker d. 19. Jh. Mschr. Phil. Diss. Göttingen 1963. 117 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 9, Bl. 200–201v (beglaubigte Abschrift; Zitat Bl. 200v).

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Die Besetzung des Lehrstuhls war damit vorerst gescheitert, das Berufungsverfahren musste neu aufgerollt werden. Auf Grundlage einer von der Philosophischen Fakultät präsentierten Zweierliste entschied das Kultusministerium sich nunmehr für den gerade erst habilitierten Leipziger Privatdozenten Alfred Dove.118 Aber auch diese Personalentscheidung war zunächst von Ungewissheit begleitet. Zwar wurde Dove im Juli 1874 offiziell zum Extraordinarius berufen,119 signalisierte aber schon drei Monate später, zu Beginn des Wintersemesters, den Wunsch, die Stelle wieder aufzugeben und nach Leipzig zurückzukehren.120 Das Resultat der daraufhin erneut notwendig gewordenen Bleibeverhandlungen findet sich nicht in den Akten, am Ende harrte Dove aber immerhin zehn Jahre lang in Breslau aus und wurde – auf einstimmige Empfehlung der Fakultät hin – Anfang 1879 zum Ordinarius befördert.121 Dass Dove letztlich doch so lange blieb, dürfte auf familiäre Tradition – sein Vater, der Physiker und Meteorologe Heinrich Wilhelm Dove, war aus Liegnitz gebürtig und hatte in Breslau studiert – ebenso zurückzuführen sein wie auf sein enges persönliches Verhältnis zum schlesischen Schriftsteller Gustav Freytag, der für Dove so etwas wie ein bewunderter Ziehvater war.122 Dass Dove seine Breslauer Jahre rückblickend als „die besten seines Lebens“ glorifizierte,123 darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch er sich während seiner dortigen Lehrtätigkeit sehr kritisch über die akademischen Bedingungen in der Odermetropole äußerte und dabei Formulierungen benutzte, die von den vorstehend zitierten Polemiken Mommsens nicht weit entfernt waren. An Heinrich von Treitschke etwa schrieb er 1883, das, was einem in Breslau im Wege stehe, sei „weniger der ­Embonpoint unserer Universität an Historikern – 5 Ordinarien und 1 Extrordinarius – als die auf vorherrschender Armuth, niedriger Selbstgenügsamkeit und engherzigstem Banausenthum beruhende Miserabilität unserer Studentenmenge; beiläufig gesagt die einzige, aber auch tiefschwarze Schattenseite Breslaus, die einen allmählich dazu bringt, sich zwar nicht aus der Haut, wohl aber an die erste beste kleine Landhochschule, nach Kiel, Marburg oder dergleichen zu wünschen, wo man mit einem Dutzend wirklich deutscher, ernstlich aufstrebender junger Leute sich vorkommen müsste wie inmitten der 118 Ebd., Bl. 245–248v (Gutachten und Kandidatenliste der Fakultät), Bl. 249–250, 268 (Entscheidung des Ministeriums für Dove). Doves Konkurrent im Verfahren war der deutschbaltische Historiker und Dresdner Ordinarius Carl Schirren, der zuvor, zwischen 1858 und 1869, an der Universität Riga gelehrt hatte und 1869 als Autor der berühmten, gegen die Beseitigung der Autonomie der Ostseeprovinzen durch Russland gerichteten Streitschrift Livländische Antwort hervorgetreten war. Zu Dove vgl. Stadler-Labhart, Verena und Peter: Die Welt des Alfred Dove 1844–1916. Profil eines Historikers der Jahrhundertwende. Bern 2008. 119 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 10, Bl. 5–6v. 120 Dove an den Universitätskurator und Oberpräsidenten Ferdinand von Nordenflycht, Breslau 17. Oktober 1874: Ebd., Bl. 22. 121 Ebd., Bl. 11, Bl. 14–14v (Votum der Fakultät), Bl. 15–16, 18–18v (offizielle Bestallung Doves). 122 Stadler-Labhart: Die Welt des Alfred Dove, 48f. 123 Ebd., 47 mit Anm. 146.

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12 Apostel.“124 Über Schlesien an sich äußerte er sich schon kurz nach seiner Ankunft gegenüber Freytag wie folgt: „Im ganzen [...] ist’s hier gar wohl zu leben, aber nicht zu sterben! [...] Es ist eine stete Bewegung in dieser badewannenförmigen Provinz, aber das meiste sprudelt schaukelnd wieder drin zurück; was höher in Wellen geht, spritzt über nach draussen und kommt nicht mehr zurück.“125 Zu ergänzen wäre freilich auch, dass Dove, kaum dass er 1884 ein neues Ordinariat an der Universität Bonn angetreten hatte, die Verhältnisse dort wiederum als „fremdartig“ charakterisierte und bereits voller Nostalgie auf Breslau und den „ganze[n] alte[n] Osten“ zurückblickte.126 Für Doves Nachfolge brachte die Fakultät im Juni 1884 drei Namen ins Gespräch, wobei Althoff die Berufung des an Platz eins gesetzten Treitschke-Schülers und ordentlichen Jenaer Professors Dietrich Schäfer mit einem detaillierten ministeriellen Gutachten nachdrücklich unterstützte.127 Als Verfechter einer den Primat des Staates gegenüber der Kultur betonenden politischen Geschichte und zugleich als entschiedener Unterstützer der wilhelminischen Flotten-, Kolonial- und Ostmarkenpolitik128 gehörte Schäfer später, im Vor- und Umfeld des Ersten Weltkrieges, zu den wirkmächtigsten deutschen Historikern. Auf seiner Breslauer Professur hielt er es aber lediglich vier Jahre aus. In seinen Lebenserinnerungen gestand Schäfer unumwunden zu, dass es primär finanzielle Gründe gewesen seien, die ihn zur Annahme des Rufes in die Odermetropole bewogen hätten, da dort nahezu eine Gehaltsverdoppelung gewinkt habe.129 Sein Mentor Treitschke hatte Schäfer anlässlich von dessen Berufung bereits vorgewarnt, er werde „unter den Breslauer Studenten zwar manche verwahrloste Wasserpolaken und viel überbildetes Judentum finden, aber auch einen unverdorbenen deutschen Kern“.130 Schäfer selbst beurteilte die Situation in der Rückschau ambivalent: Zwar habe er sich in Breslau rasch eingelebt und dort „höchst angenehme Jahre verbracht“. Zugleich habe die ganz überwiegend aus materiell eher unterprivilegierten Landeskindern bestehende Studentenschaft jedoch einen unzweifelhaft „provinziellen Charakter“; die häufig auf-

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Dove an Treitschke, Breslau 20. April 1883. Abgedruckt ebd., 53–56 (Zitat 54). Dove an Freytag, Breslau 16. Januar 1875. Zit. nach ebd., 49. Dove an Karl Weinhold, Bonn 24, Oktober 1884. Abgedruckt ebd., 62–64 (Zitat 63). Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 13 [unpaginiert]: Gutachten und Kandidatenliste der Fakultät (16. Juni 1884), Stellungnahme des Geheimen Regierungsrats Althoff (15. September 1884). Schäfers Konkurrenten waren der Tübinger Ordinarius Bernhard Kugler (Platz zwei) sowie der Marburger Ordinarius Conrad Varrentrapp (Platz drei). 128 Thurnher, Eugen: Was ist Kulturgeschichte? Der historische Methodenstreit zwischen Dietrich Schäfer und Eberhard Gothein in den Jahren 1888/89. In: Sammer, Marianne (Hg.): Leitmotive. Kulturgeschichtliche Studien zur Traditionsbildung. Festschrift für Dietz-Rüdiger Moser zum 60. Geburtstag am 22. März 1999. Kallmünz/Opf. 1999, 663–670; Ackermann, Jens P.: Die Geburt des modernen Propagandakrieges im Ersten Weltkrieg. Dietrich Schäfer: Gelehrter und Politiker. Frankfurt am Main u. a. 2004 (Europäische Hochschulschriften III/987). 129 Schäfer, Dietrich: Mein Leben. Berlin/Leipzig 1926, 103. 130 Zit. nach Ackermann: Die Geburt des modernen Propagandakrieges, 81.

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Roland Gehrke Abb. 4: Der Historiker Dietrich Schäfer, der als entschiedener Unterstützer der wilhelminischen Flotten-, Kolonial- und Ostmarkenpolitik später zu den wirkmächtigsten deutschen Historikern zählte, lehrte seit 1884 in Breslau. Nachdem ihm für die Universität Tübingen ein attraktives Gehaltsangebot vorgelegt worden war, verließ er die Odermetropole 1888 aber schon wieder. Bildnachweis: Sammlungen der ­Berliner Humboldt-Universität.

tretenden Geldprobleme nötigten zudem auch manch begabteren Studenten dazu, irgendwann ohne akademischen Abschluss „im Hauslehrertum“ zu verschwinden.131 Neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit engagierte sich Schäfer in Breslau besonders für den weiteren Ausbau des noch von Stenzel begründeten Historischen Seminars, konkret für dessen räumliche Erweiterung. Nach wie vor habe „das Gedeihen der betreffenden Studien mit mancherlei Schwierigkeiten zu kämpfen, unter denen nicht die ge­ringste [die] Verquickung mit der Hausordnung des theilweise zu Dienstwohnungen verwendeten Universitätsgebäudes ist“.132 Die sich in diesem Zusammenhang aufstauende Frustration – „alle meine und meiner jüngeren Collegen Schritte, diesem Uebelstande abzuhelfen, sind bis jetzt erfolglos geblieben“133 – trug wohl das Ihre dazu bei, dass Schäfer sich im Frühjahr 1888 auf einen Gehalts­poker zwischen Breslau, Hal­le und Tübingen einließ, in dem die Tübinger am Ende das attraktivste Angebot vorlegten134 131 Schäfer: Mein Leben, 104. 132 ������������������������������������������������������������������������������������������� Schäfer an Geheimrat Althoff, Breslau 10. März 1888: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 14, Bl. 173–174 (beglaubigte Abschrift; Zitat Bl. 174). 133 Ebd. 134 Schäfer an Geheimrat Althoff, Breslau 25. März 1888: Ebd., Bl. 178–179v. Für die Universität Tübingen hatte Schäfer anfangs ein Gehaltsangebot von 8.200 Mark Jahresgehalt inklusive Zulagen erhalten, für Halle wenig später eines von 8.400 Mark, woraufhin Tübingen wiederum auf

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und ihn so zu einem Wechsel bewegten. Beginn und Ende von Schäfers Breslauer Lehrtätigkeit standen somit letztlich im Kontext finanzieller Erwägungen. Auch anschließend stellte sich im Bereich der Mittleren und Neueren Geschichte keine personelle Kontinuität ein; Schä­fers Nachfolger Max Lenz135 ging nach gerade zweijähriger Lehrtätigkeit an die Universität Berlin. Dessen Nachfolge wiederum gestaltete sich be­sonders schwierig, da sowohl Reinhold Koser als auch der gleichfalls favorisierte Berliner Extraordinarius Hans Delbrück ihr Desinteresse be­kundeten. Am Ende kam mit Goswin Freiherr von der Ropp der Viertplazierte zum Zuge,136 der aber gleichfalls nach Ablauf eines einzigen Semesters einen Ruf nach Marburg annahm. Betrachtet man die raschen Wechsel an der Spitze der 1873 eingerichteten Professur und die ebenfalls erhebliche Personalfluktuation auf den anderen Breslauer Geschichtslehrstühlen noch einmal in der Gesamtheit (im Anhang befindet sich hierzu eine tabellarische Übersicht), so wird deutlich, dass sich unter diesen Bedingungen weder in der Lehre noch in der Forschung eine nennenswerte Routine einstellen konnte. Mit jeder Neubesetzung hielten notgedrungen auch wieder ein neuer persönlicher Stil beziehungsweise neue thematische Schwerpunkte Einzug – ein Umstand, der das Seine zur mangelnden Attraktivität der Breslauer Geschichtswissenschaft beigetragen haben mag. Abschließend erwähnt sei mit Eduard Meyer noch einer der wenigen ,großen Namen‘ unter den in Breslau lehrenden Historikern, dessen „universalhistorischer“ Ansatz die deutsche Altertumswissenschaft nachhaltig geprägt hat.137 Als Nachfolger des Althistorikers Niese war Meyer von der Fakultät zunächst gar nicht favorisiert worden, auf ein Separatvotum der Professoren August Roßbach (Philologie/Archäologie) und Martin Hertz (Klassische Philologie) hin dann aber doch auf Platz eines gesetzt wor­ 9.000 Mark nachbesserte. Die von Schäfer gegenüber Althoff nachgeschobene Bemerkung, er warte nun „auf eine günstige Aussage Ihrerseits“ (Bl. 179v), führte offenbar nicht zum gewünschten Erfolg. 135 Bruch, Rüdiger vom: Art. Lenz, Max. In: Neue Deutsche Biographie 14 (1985) 231–233; Herkless, John L.: Idealism and the Study of History. The Development of the Historiography of Max Lenz. Phil. Diss. Birmingham 1977; Krill, Hans-Heinz: Die Rankerenaissance – Max Lenz und Erich Marcks. Ein Beitrag zum historisch-politischen Denken in Deutschland 1880– 1935. Berlin 1962 (Veröffentlichungen der Berliner Historischen Kommission beim FriedrichMeinecke-Institut der Freien Universität Berlin 3). 136 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 15, Bl. 172–175, Bl. 186–187v (Stellungnahme Roepells, der nach den Absagen Kosers und Delbrücks ein entschiedenes Wort für von der Ropp einlegte), Bl. 201–204 (Bestallung von der Ropps). Zu von der Ropp vgl. Busch, Wilhelm: Goswin Freiherr von der Ropp [Nachruf ]. In: Historische Zeitschrift 121 (1919) 373–376. 137 Näf, Beat: Eduard Meyers Geschichtstheorie. Entwicklung und zeitgenössische Reaktionen. In: Demandt, Alexander/Calder III, William M. (Hg.): Eduard Meyer. Leben und Leistung eines Althistorikers. Leiden u. a. 1990, 285–310; Wiesehöfer, Josef: „Alle Geschichte... muß ihrer Betrachtung und Tendenz nach notwendig universalistisch sein“: Eduard Meyers „Geschichte des Altertums“ und die Universalhistorie. In: Hardtwig, Wolfgang/Müller, Philipp (Hg.): Die Vergangenheit der Weltgeschichte. Universalhistorisches Denken in Berlin 1800–1933. Berlin 2010, 217–238.

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den,138 woraufhin er 1885, im Alter von gerade dreißig Jahren, den Ruf nach Bres­lau annahm.139 Wie bei vielen anderen vorstehend erwähnten Breslauer Historikern blieb aber auch sein Wirken in der Odermetropole bloße Episode. Meyers drohenden Abgang nach Tübingen wusste die Fa­kultät 1887 zwar noch zu verhindern, indem sie dem Kultusministerium unter Verweis auf „die allgemeinen Interessen der Fakultät und der gesammten Uni­versität“ ein verbes­sertes Gehaltsangebot abtrotzte.140 Zwei Jahre später waren derlei Vorstöße nicht mehr erfolgreich, Meyer verabschiedete sich nach acht Semestern an die Universität Halle. Als geeignete Nachfol­gekandidaten empfahl die Fakultät Anfang Juli 1889 den an der römischen Sa­pienza lehrenden Karl Julius Beloch (Platz eins), einen persönlichen Freund Meyers, sowie den in Breslau gerade erst habilitierten siebenundzwanzigjährigen Mommsen-Schüler Ulrich Wilcken (Platz zwei).141 In dieser Situation wandte sich Althoff an Mommsen mit der Bitte um eine Stellungnahme zu dem an dessen ehemaliger Wirkungsstätte anhängigen Berufungsverfahren.142 Das knapp gefasste Gutachten, das Mommsen daraufhin am 14. Juli 1889 an Althoff richtete, fiel eindeutig aus. Mommsens dürres Lob an die Adresse Belochs war erkennbar vergiftet: „Beloch ist 138 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 13 [unpaginiert]: Separatvotum von Roßbach und Hertz (9. Juni 1885) und offizielles Gutachten der Fakultät zur Besetzung der althistorischen Professur (19. Juni 1885; auf Platz zwei hinter Meyer rangierte der Erlanger Extraordinarius Robert Pöhlmann). 139 Ebd.: „Vorläufige Verabredung“ zwischen Meyer und Kultusminister Goßler, derzufolge Meyer die Professur zum 1. Oktober 1885 antreten, in der Lehre den gesamten Gegenstandsbereich der Alten Geschichte vertreten und dafür ein Anfangsgehalt von 3.000 Mark plus 660 Mark Zulagen jährlich beziehen soll (27. Juni 1885); offizielle Bestallung Meyers (1. Juli 1885); dessen Dankschreiben (10. Juli 1885). 140 Philosophische Fakultät an Kultusminister Goßler, Breslau 22. Juli 1887: Ebd., Bd. 14, Bl. 108– 108v (Zitat Bl. 108). 141 Ebd., Bd. 15, Bl. 7–11v. Zu Beloch vgl. Bengtson, Hermann: Art. Beloch, Julius. In: Neue Deutsche Biographie 2 (1955) 31–32; Christ, Karl: Karl Julius Beloch. In: ders.: Von Gibbon zu Rostovtzeff. Leben und Werk führender Althistoriker der Neuzeit. Darmstadt 31989 [11972], 248–285. Zu Wilcken vgl. Kruse, Thomas: Erkenntnis aus den kleinsten Teilen. Der Althistoriker Ulrich Wilcken und die Papyrologie in Deutschland. In: Baertschi, Annette M./ King, Colin Guthrie (Hg.): Die modernen Väter der Antike. Die Entwicklung der Altertumswissenschaften an Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts. Berlin 2009 (Transformationen der Antike 3), 503–528. 142 Althoff an Mommsen, Berlin 11. Juli 1889. Abgedruckt bei Rebenich, Stefan/Franke, Gisa (Hg.): Theodor Mommsen und Friedrich Althoff. Briefwechsel 1882–1903. München 2012 (Deutsche Geschichtsquellen des 19. und 20. Jahrhunderts 67), 337, Nr. 220: „In Breslau, von wo ich eben herkomme, sind als Ersatz für Ed[uard] Meyer vorgeschlagen: 1. Beloch in Rom 2. Dr. Wilken [sic] hier. Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, wenn Sie die Güte hätten, mir Ihre Ansicht über die Beiden u[nd] überhaupt über die beste Art der Besetzung der Stelle mitzutheilen.“ Zum Berufungsstreit Wilcken – Beloch vgl. Rebenich, Stefan: „Geben Sie ihm eine gute Ermahnung mit auf den Weg und den Ordinarius.“ Berufungspolitik und Schulbildung in der Alten Geschichte. In: Hesse/Schwinges (Hg.): Professorinnen und Professoren gewinnen, 355–372, hier 362–365.

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Abb. 5: Der bedeutende deutsche Althistoriker Eduard Meyer lehrte seit 1885 an der Universität Breslau. Die Bemühungen der Philosophischen Fakultät, ihn längerfristig dort zu halten, waren freilich nicht von Erfolg gekrönt. Nach lediglich acht Semestern nahm Meyer 1889 einen Ruf nach Halle an. Bildnachweis: Gemälde von Lovis Corinth (1910/11); bpk / Hamburger Kunsthalle.

talent­voll, aber wenig solid. Seine ersten Arbeiten sind compilatorisch und zum Theil schwindel­haft, aber begabt wie er ist, ist er allmählich auf bessere Wege gekommen [...]. Was er über römische Dinge geschrieben hat, liegt weiter zurück und steht tiefer. Aber es empfiehlt ihn, daß er in griech[ischer] wie röm[ischer] Geschichte soweit gearbeitet hat, um darüber lesen zu können.“143 Über Belochs Konkurrenten wiederum hieß es: „Mit Wilcken steht es ziemlich umgekehrt. Das heißt gescheidt und nicht über­solid ist er auch, aber im Gegensatz zu Beloch eine Specialität und mit den Vorzügen wie den Fehlern der Virtu­osität ausgestattet. [...] Es ist gewagt, ihm eine historische Professur anzuvertrauen; aber er ist jung und begabt und es kann wohl glücken.“144 Während Wilcken mit dieser machtvollen Fürsprache und einem weiteren positiven Gutachten des Berliner Althistorikers Ulrich Köhler im Rücken den Ruf nach Breslau erhielt,145 war Beloch schon das zweite Mal von Mommsens Bannstrahl ge143 ���������������������������������������������������������������������������������������� Mommsen an Althoff, Charlottenburg 14. Juli 1889: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 15, Bl. 12–13 (handschriftliche Originalfassung; Zitat Bl. 12). Abgedruckt findet sich das Gutachten zudem bei Rebenich/Franke (Hg.): Theodor Mommsen und Friedrich Althoff, 338f., Nr. 221. 144 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 15, Bl. 12v. 145 Das Gutachten Köhlers vom 22. Juli 1889, das Wilckens Konkurrenten Beloch immerhin deutlich besser wegkommen ließ als bei Mommsen und zusätzlich auch den Königsberger Ordinarius Franz Rühl sowie den Jenaer Ordinarius Heinrich Gelzer als grundsätzlich geeignet würdigte, findet sich ebd., Bl. 14–16.

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troffen worden: Bereits 1881 hatte dieser Belochs Berufung zum Extraordinarius in ­Greifswald gleichfalls zu verhindern ge­wusst.146 Dass Mommsen, der im Rahmen des von Althoff geknüpften Wissenschaftsnetzwerks ohnehin eine wichtige Ratgeberfunktion innehatte, gezielt in althistorische Berufungsverfahren eingriff, um ihm missliebige Kandidaten abzuservieren,147 war in der deutschen Wissenschaftswelt ein offenes Geheimnis. Hinter der Fehde mit Beloch verbarg sich frei­lich weniger persönliche Antipathie als vielmehr ein handfester Methodenstreit. Als Vertreter einer dem Gehalt der antiken Schriftquellen prinzipiell kri­tisch gegenüberstehenden, damit aber notwendigerweise subjektiven Rekonstruktion des Geschehenen kollidierte Beloch frontal mit Mommsens quellengeleitetem Ansatz,148 was ihn trotz der Fürsprache Meyers in der deutschen Wissenschaft zu einem Außenseiter werden ließ. Hier war Beloch spätestens mit dem Bres­lauer Berufungsstreit erledigt, weshalb er seine Laufbahn notgedrungen in Italien fortsetzte. Der ‚Sieger‘ Ulrich Wilcken wiederum blieb für immerhin elf Jahre in Breslau, bevor er im Sommer 1900 dem emeritierten Althistoriker Georg Friedrich Unger auf dessen Würzburger Lehrstuhl nachfolgte.149 Der Karriere von Wilckens Breslauer Nachfolger Conrad Cichorius150 hatte es gewiss nicht geschadet, dass dieser bereits im Kontext eines vorangegangenen Göttinger Berufungsverfahrens von Mommsen ausdrücklich als lehrstuhlreif gewürdigt worden war.151 Cichorius erhielt die Stelle 146 Rebenich: Berufungspolitik und Schulbildung, 357–362. 147 ������������������������������������������������������������������������������������������ Brocke: Berufungspolitik und Berufungspraxis, 62f.; Rebenich, Stefan/Franke, Gisa: Einleitung. In: dies. (Hg.): Theodor Mommsen und Friedrich Althoff, 1–56, hier 34: „Mommsen beeinflußte institutionell über das Ministerium und informell über effiziente Netzwerke die althistorischen Berufungsverfahren und brachte seinen Kandidaten erfolgreich ins Spiel. ­Mommsens akademische Patronage bedeutete zugleich, daß er Bewerber, die mit seinen Schülern um Stellen rivalisierten oder deren Qualifikation [er] für ungenügend erachtete, auszuschalten versuchte. So verhinderte er systematisch die Karriere des Althistorikers Karl Julius Beloch in Deutschland, der es gewagt hatte, ihm zu widersprechen.“ 148 Vgl. Beloch, Karl Julius: Der italische Bund unter Roms Hegemonie. Staatsrechtliche und statistische Forschungen. Leipzig 1880, und die harsche Replik darauf von Mommsen, Theodor: Gesammelte Schriften, Bd. 5. Berlin 1908 (Historische Schriften 2), 248–251. 149 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 20, Bl. 133, 147. 150 ���������������������������������������������������������������������������������������� Braunert, Horst: Conrad Cichorius. In: Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn, Bd. 5: Geschichtswissenschaften. Bonn 1868 (150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1818–1968 5), 340–350. 151 So verwies der Göttinger Altphilologe und spätere Präsident der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf, in einem Schreiben an Althoff vom 20. November 1896 darauf, Cichorius, zu dieser Zeit Extraordinarius in Leipzig, habe die Fürsprache sowohl Mommsens als auch Eduard Meyers sowie des Leipziger Altertumswissenschaftlers Kurt Wachsmuth erhalten. „Alt genug ist er, in die Prüfungs-Commission zu kommen und teuer wird er nicht sein.“ Abgedruckt bei Calder III, William M./Košenina, Alexander (Hg.): Berufungspolitik innerhalb der Altertumswissenschaft im wilhelminischen Preußen. Die Briefe von Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffs an Friedrich Althoff (1883–1908). Frankfurt a. M. 1989, 121–123 (Zitat 122).

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in Breslau, obwohl ihn die dortige Philosophische Fakultät ursprünglich nur auf Platz drei gelistet hatte.152

VI. Schlussbetrachtung Gerade im Kontext von Berufungsverfahren mag es naheliegend erscheinen, analog zum Titel dieses Bandes nach Schulen und Netzwerken zu fragen – wo­bei vor Überinterpretation freilich zu warnen ist. Während sich in dem geschilderten Berufungsstreit Wilcken – Beloch tatsächlich so etwas wie eine Konkurrenz doktrinärer Lehrmeinungen abzeichnet, ging es weit öfter um profanere Beweggründe: um das wissenschaftliche Prestige der jeweiligen Hochschule (und in diesem Wettlauf konnte Breslau eben nur be­dingt mithalten) oder um allein pekuniäre Aspekte. Dass die Universität Breslau offenkun­dig nicht im Zen­trum der großen Methodendebatten der deutschen Geschichtswissenschaft stand, liegt auch daran, dass einige später durchaus bedeutende Historiker – zu nennen wäre neben Meyer etwa Dietrich Schäfer – dort lediglich in der Frühphase ihrer Laufbahn lehrten, die Odermetropole also lediglich als Karrieresprungbrett nutzten. Immerhin bezeugen die aus­führlichen Gut­achten der Breslauer Philosophischen Fakultät das Bestreben, dem Prin­zip ei­ner überregionalen Bestenauslese Genüge zu leisten, wenngleich die Kriterien der Selektion nicht definiert waren und wohl auch noch nicht nennenswert reflektiert wurden. In manchen Gutachten findet sich eine diffizile Analyse der von den Kandidaten bislang publizierten Schriften, manch andere beschränken sich hingegen auf die affirmative Betonung des „Talents“ der in Frage kommenden Gelehrten.153 Zu personellen Oktroyierungen gegen das Votum der Fakultät ist es zumindest in der Breslauer Geschichtswissenschaft während des Untersuchungszeitraums – das gilt also ausdrücklich auch für die in dieser Hinsicht berüchtigte Ära Althoff – kaum je gekommen, wenngleich der potentielle Konflikt mit dem Kultusministerium stets wie ein Damoklesschwert über dem Gang der Berufungsverfahren schwebte und in Fakultätskreisen auch immer wieder Gesprächsthema war.154 152 �������������������������������������������������������������������������������������������� Vor Cichorius rangierten der Jenaer Ordinarius Heinrich Gelzer sowie der Straßburger Ordinarius Karl Johannes Neumann. Allerdings hieß es ergänzend: „Die Fakultät würde daher, wenn sie auch auf die Berufung eines der beiden an erster Stelle genannten Gelehrten ganz besonderes Gewicht legt, doch auch der Thätigkeit von Cichorius im Falle seiner Berufung mit vollem Vertrauen entge­gensehen können.“ Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz BerlinDahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 20, Bl. 221–225 (Zitat Bl. 225). Zu den Berufungsverhandlungen und der abschließenden Bestallung von Cichorius vgl. ebd., Bl. 226, 231–233, 237. 153 Vgl. den generellen Befund bei Rebenich: Berufungspraxis und Schulbildung (am Beispiel der Alten Geschichte), 368. 154 �������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. ein Schreiben Alfred Doves an seinen vormaligen Fakultätskollegen, den Philosophen Wilhelm Dilthey, vom 15. Januar 1883, in dem es um die Wiederbesetzung von Diltheys Breslauer

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Am ehesten noch lässt sich wohl bezüglich der Berufung Bernhard Erdmannsdörffers (1873) von einem Oktroy sprechen, doch hatte die Fakultätsmehrheit das ministerielle Vorpreschen in diesem Fall immerhin hingenommen – ganz abgesehen davon, dass Erdmannsdörffer von der Breslauer Professur wieder zurücktrat, ohne mit der eigentlichen Lehrtätigkeit überhaupt begonnen zu haben. Umgekehrt gelang es der Fakultät 1908 – bezeichnenderweise kurz nach dem Ende des „Systems Althoff “ – die versuchte Oktroyierung des Kandidaten Richard Fester abzuwehren. Das entscheidende Problem, mit dem die Fakultät in puncto Personalpolitik in der Geschichtswissenschaft konfrontiert war, lag ohnehin eher darin, dass die ausgesuchten Koryphäen dem Ruf an die schle­sische Peripherie aus ganz verschiedenen Gründen nicht Folge leisten mochten. Die, wenn man so will, einzige wirklich ,einheimische‘ historische Dis­ziplin, die schlesi­sche Landesgeschichte, blieb bei all dem auf universitärer Ebene eher randständig. Als Extraordina­rius Grünhagen 1874 mit dem preußi­schen Kultusministerium mal wieder um eine jährliche Gehaltszulage von 500 Mark verhandelte,155 verwies er auf das Beispiel des vormaligen Breslauer Universitätsar­chivars Wilhelm Wattenbach, dessen Bewerbungen um eine außerordentliche Professur für Provinzialgeschichte und Hilfswissenschaften 1857 und nochmals 1859 unberücksichtigt geblieben waren.156 Wattenbach, der daraufhin eine Professur zunächst in Hei­delberg, später in Berlin angenommen hatte, wäre, wie Grünhagen vielsagend an­merkte, im In­teresse der Pflege der schlesischen Landes­geschichtsforschung seinerzeit gewiss „gerne in Schlesien geblieben“157 – was sich durchaus als verkappte Drohung verstehen ließ.

Lehrstuhl ging: „Am liebsten allerdings wäre mir und wohl jedenfalls auch Ihnen, daß wir weder den einen noch den andren erhielten; aber giebt es dazu noch Aussicht? Bei der Eile, welche der Regierung erwünscht ist, wäre eine abermalige Zurückweisung zu dritter Wahl von Übel, ist also sehr unwahrscheinlich; auch würde diese Wahl an sich immer schwerer. Und statt dessen per dictaturam einen nicht von uns ernannten Mann herzusenden, ist doch auch peinlich für ein wohlmeinendes Ministerium [...]. Und vor allem: welche unangenehme und daher in seiner [sic] Wirksamkeit schädlich behinderte Stellung würde der Oktroyirte hier einnehmen!“ Abgedruckt bei Dilthey, Wilhelm: Briefwechsel. Hg. v. Gudrun Kühne-Bertram und Hans-Ulrich Lessing, Bd. 1. Göttingen 2011, 22–26 (Zitat 24). – Den Hinweis auf den Briefwechsel Dove – Dilthey verdanke ich Matthias Barelkowski. 155 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 9, Bl. 119–125v. 156 ������������������������������������������������������������������������������������������ Ebd., Bd. 4, Bl. 169–170, 171–171v, Bd. 5, Bl. 4–5; Rodenberg, Carl: Art. Wattenbach, Wilhelm. In: Allgemeine Deutsche Biographie 44 (1898) 439–443. 157 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 9, Bl. 119v.

Die Berufung von Historikern an die Universität Breslau (1848–1914)

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Anhang: Übersicht über die einzelnen historischen Lehrstühle beziehungsweise Professuren an der Universität Breslau und deren Inhaber (1848–1914) Lehrstuhl bzw. Professur Allgemeine Geschichte I

Inhaber 1. Gustav Adolf Harald Stenzel (bis 1854) 2. Richard Roepell (1855–1893) 3. Georg Heinrich Kaufmann (1893– 1918) Allgemeine Geschichte II (katholisch) 1. Joseph August Kutzen (bis 1849) 2. Carl Adolph (von) Cornelius (1854– 1855) 3. Wilhelm Junkmann (1855–1886) 4. Georg Hüffer (1886–1896) 5. Aloys Schulte (1896–1903) 6. Franz Kampers (ab 1903) Alte Geschichte 1. Karl Neumann (1863–1880) 2. Benedikt Niese (1881–1885) 3. Eduard Meyer (1885–1889) 4. Ulrich Wilcken (1889–1900) 5. Conrad Cichorius (ab 1900) Professur für Provinzialgeschichte und 1. Colmar Grünhagen (1866–1911) Hilfswissenschaften 2. Johannes Ziekursch (ab 1912) Ergänzungsprofessur für Mittlere und 1. Bernhard Erdmannsdörffer (1873– Neuere Geschichte 1874) 2. Alfred Dove (1874–1884) 3. Dietrich Schäfer (1884–1888) 4. Max Lenz (1888–1890) 5. Goswin Freiherr von der Ropp (1890–1891) 6. Georg Heinrich Kaufmann (1891– 1893) Zusätzliche Professur für Mittlere und 1. Jacob Caro (1876–1904) Neuere Geschichte 2. Georg Friedrich Preuß (1907–1908) Neue Professur für Mittlere und Neuere 1. Georg Friedrich Preuß (1908–1914) Geschichte (mit wirtschaftshistorischem Schwerpunkt)

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II. Historiker- und Gelehrtenkarrieren an der Universität Breslau

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Die Begründung institutionalisierter landesgeschichtlicher Forschung im frühen 19. Jahrhundert: Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829) im Kontext der zeitgenössischen schlesischen Historiographie Für die schlesische landesgeschichtliche Forschung haben die Jahrzehnte um 1800 eine Scharnierfunktion zwischen der Historiographie der Aufklärungszeit und der modernen kritischen Geschichtswissenschaft.1 Die Person, die diesen Neuanfang in all seinen Widersprüchlichkeiten am deutlichsten verkörpert, ist Johann Gustav Gottlieb Büsching.2

I. Büsching als Historiker und Wissenschaftsorganisator Büsching wurde 1783 in Berlin als zweitjüngstes Kind aus der zweiten Ehe seines Vaters Anton Friedrich Büsching geboren.3 Dieser wirkte als Professor für Philosophie in Göttingen, später als Prediger der lutherischen Gemeinde in St. Petersburg sowie schließlich als Direktor des Gymnasiums zum Grauen Kloster in Berlin und entfaltete

1 Menzel, Josef Joachim: Die Anfänge der kritischen Geschichtsforschung in Schlesien zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Festschrift Ludwig Petry, Tl. 2. Stuttgart u. a. 1969 (Geschichtliche ­Landeskunde 5,2), 245–267. 2 Die schillernde und umtriebige Persönlichkeit von Büsching hat in den zurückliegenden Jahren vor allem durch die Forschungen von Marek Hałub Beachtung erlangt. Vgl. Hałub, Marek: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829. Ein Beitrag zur Begründung der schlesischen Kulturgeschichte. Wrocław 1997 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1978); ders.: Johann Gustav Gottlieb Büsching. Ein vergessenes Leben für Schlesien. In: Scholz, Joachim J. (Hg.): Breslau und die ­oberschlesische Provinz. Literarische Studien zum Umfeld einer Beziehung. Berlin 1995 (Tagungsreihe der Stiftung Haus Oberschlesien 4), 45–58; ders.: Johann Gustav Gottlieb Büsching, die ­Breslauer Universität und die Viadrina. In: Gabryjelska, Krystyna/Knefelkamp, Ulrich (Hg.): Brückenschläge. Kulturwissenschaften in Frankfurt/Oder und Breslau. Berlin 2000 (Spektrum Kulturwissenschaften 3), 46–58. 3 Als Gesamtwürdigungen vgl. neben den Arbeiten Hałubs Seger, Hans: Johann Gustav Gottlieb Büsching zu seinem hundertsten Todestage. In: Altschlesien. Mitteilungen des Schlesischen Altertumsvereins und der Arbeitsgemeinschaft für oberschlesische Ur- und Frühgeschichte 2 (1929) 169–180; Jessen, Hans: Johann Gustav Büsching. In: Andreae, Friedrich/Graber, Erich/Hippe, Max (Hg.): Schlesier des 16. bis 19. Jahrhunderts. Breslau 1931 (Schlesische Lebensbilder 4), 288– 301; Jacob, Herbert (Bearb.): Grundriss zur Geschichte der deutschen Dichtung aus den Quellen. Hg. v. Karl Goedeke, Bd. 17: Vom Frieden 1815 bis zur französischen Revolution 1830. Berlin 2 1991, 232–245; ein umfassendes Verzeichnis von Büschings Veröffentlichungen findet sich ebd., 236–245, sowie bei Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 166–187.

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eine reiche wissenschaftliche Veröffentlichungstätigkeit.4 Johann Gustav Gottlieb Büschings älterer Halbbruder Johann Stephan Gottfried war preußischer Verwaltungsbeamter und wurde 1809 – im selben Jahr, in dem sein jüngerer Bruder sich zum ersten Mal nach Schlesien begab – Bürgermeister, 1813 Oberbürgermeister von Berlin, ein Amt, das er noch bis 1832 versah. Büsching selbst studierte Jura in Halle und Erlangen und kehrte 1806 nach Berlin zurück, wo er das Referendariat antrat und Kontakt zu einer literarischen Abendgesellschaft ehemaliger Hallenser Studenten gewann, dem „Freitag“. Hier entwickelte sich eine produktive germanistische Arbeits- und Editionsbeziehung mit dem um drei Jahre älteren Friedrich Heinrich von der Hagen.5 In diesem Zusammenhang, auf der Suche nach „altdeutschen“ Handschriften, unternahm er, unterstützt durch ein Empfehlungsschreiben des gerade ernannten Direktors der Sektion für Kultus und Unterricht im preußischen Ministerium des Inneren, Wilhelm von Humboldt, im Sommer 1809 eine Reise durch Schlesien. Hierbei sichtete er den Zustand der zahlreichen Bibliotheken im Land und formulierte bereits die Vorstellung, die Bestände in einer Haupt- oder Zentralbibliothek für Schlesien zusammenzuführen.6 Die Voraussetzungen hierfür wurden mit dem Säkularisationsedikt vom 30. Oktober 1810 geschaffen.7 Unmittelbar danach, am 8. November, erhielt Büsching das „General-Commissorium“ für die Bibliotheken und Archive der aufgehobenen Klöster und Stifte und traf am 23. November in Breslau ein. Im Zuge seiner nun einsetzenden Tätigkeit bereiste er das Land, worüber er auch eine anschauliche Landesbeschreibung vorlegte,8 und erstellte ein Verzeichnis der aufgehobenen kirchlichen Einrichtungen.9 4 Hoffmann, Peter: Anton Friedrich Büsching (1724–1793). Ein Leben im Zeitalter der Aufklärung. Berlin 2000. Ein Verzeichnis von Anton Friedrich Büschings Publikationen findet sich ebd., 271–296. 5 Grunewald, Eckhard: Friedrich Heinrich von der Hagen 1780–1856. Ein Beitrag zur Frühgeschichte der Germanistik. Berlin u. a. 1988 (Studia linguistica Germanica 23), 13–16; Herzig, Jobst/Herzig Arno: Zwischen Berlin und Breslau. Friedrich Heinrich von der Hagen (1780–1856) und die Anfänge der Germanistik. In: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska republika ­uczonych. Schlesische Gelehrtenrepublik. Slezská vědecká obec, Bd. 5. Dresden 2012, 241– 252. 6 Büschings eigene Darstellung hierüber findet sich in ders.: Bruchstücke einer Geschäftsreise durch Schlesien in den Jahren 1810, 11, 12 mit einem Anhange, worin vermischte Aufsätze, Schlesien betreffend. Breslau 1813, 492. Vgl. Krusch, Bruno: Geschichte des Staatsarchivs zu Breslau. Leipzig 1908 (Mitteilungen der K. Preussischen Archivverwaltung 11), 5; Seger: Büsching, 170; Jessen: Büsching, 290. 7 Derwich, Marek: Das Säkularisationsedikt des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. vom 30. Oktober 1810. Die Edition. In: ders. (Hg.): Die Auflösung der Klöster in Preußisch-Schlesien 1810. Wrocław 2016 (Dziedzictwo Kulturowe po Skasowanych Klasztorach = Das Kulturerbe der aufgehobenen Klöster 6), 15–18. 8 Büsching: Bruchstücke, 1–420. 9 Bończuk-Dawidziuk, Urszula/Jezierska, Anna: Verzeichnis der für die Auflösung bestimmten Klöster und Stifte in Büschings „Acta manualia“ aus den Beständen der Universitätsbibliothek Breslau. In: Derwich (Hg.): Die Auflösung der Klöster, 19–38. Vgl. Derwich, Marek: Aufstellung der

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Abb. 1: Johann Gustav Gottlieb Büsching nach einer zu seinen Lebzeiten in Breslau entstandenen Graphik. Bildnachweis: Krzysztof Demidziuk, Wrocław.

Büsching nahm schon bald nach seiner Ankunft ein Tätigkeitsfeld für sich in Anspruch, das den ihm übertragenen Rahmen eines staatlichen Kommissars deutlich überstieg. Seine organisatorische Aktivität galt einer Reihe kulturwissenschaftlicher Aufgabenfelder, für die er einen Bedarf ausgemacht hatte. So benannte er im einzelnen fünf Bereiche, die er institutionell verankert sehen wollte: eine Hauptbibliothek in Breslau, eine Gemäldegalerie, das Landesarchiv, mehrere Provinzialbibliotheken sowie eine „antiquarische Anstalt“ zum Verkauf von Dubletten aus den verschiedenen aufgelösten Bibliotheken.10 Büschings primäres Großprojekt war die Schaffung einer wissenschaftlichen Zentralbibliothek, in die die Bestände der aufgelösten kirchlichen Einrichtungen überführt werden sollten. Hierum bemühte er sich vom November 1810 bis Ende 1811, indem er die Bestände von 35 bislang visitierten Klöstern in das Gebäude des Breslauer Sandstifts bringen ließ. Nach einigen Monaten hatte er hierbei freilich die Unterstützung durch die Hauptkommission verloren, die ihm im September 1811 – zeitgleich mit der Schließung der Universität Frankfurt an der Oder und der Verbringung ihrer Buchbestände nach Breslau – untersagte, weitere Bestände nach Breslau schaffen zu lassen. Bis Mai 1812 unternahm Büsching letzte Visitationsreisen und verzeichnete diverse Bestände,

durch das Säkularisationsedikt von 1810 aufgehobenen kirchlichen Institutionen in PreußischSchlesien. Ebd., 269–300. 10 Büsching: Bruchstücke, 493f.

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dann endete seine Tätigkeit als Bibliothekar.11 Die von Büsching erhoffte Stelle des Direktors der Zentralbibliothek erhielt der Klassische Philologe Johann Gottlob Schneider, der von Frankfurt an der Oder nach Breslau versetzt worden und dort bereits an der Hauptbibliothek tätig gewesen war.12 Stattdessen trat Büsching zum 1. Juni 1812 eine Stelle als Archivar und Aufseher der Kunstgegenstände an, wofür der Saganer Superintendent Johann Gottlob Worbs einen Ordnungsplan entworfen hatte.13 Der Archivbestand, die Urkundenüberlieferung von 91 aufgelösten Klöstern und Stiften, wurde in den folgenden Jahren von Büsching und dessen Mitarbeiter Johann Karl Friedrich Jarick in Repertorien inventarisiert.14 Für Büsching bedeutete es einen erneuten beruflichen Einschnitt, als im Oktober 1815 das Archiv von der Bibliothek getrennt und – unter der Leitung des neu an die Universität berufenen Ludwig Wachler – als Königlich akademisches ProvinzialArchiv selbständig wurde.15 Aus Büschings Tätigkeit als Säkularisationskommissar entwickelte sich als weiteres Arbeitsfeld die Sammlung und Präsentation von Bildern und frühgeschichtlichen ar11 Krusch: Geschichte, 5–16; Milkau, Fritz: Die Königliche und Universitäts-Bibliothek zu Breslau. Eine Skizze. In: Kaufmann, Georg (Hg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Bd. 2: Geschichte der Fächer, Institute und Ämter der Universität Breslau, 1811–1911. Breslau 1911, 523–632, hier 544–553; Hippe, Max: Zur Vorgeschichte der Breslauer Stadtbibliothek. In: [Leyh, Georg (Hg.):] Aufsätze Fritz Milkau gewidmet. Leipzig 1921, 162–176, hier 166, 176; Fercz, Julian: Wrocław [Breslau] 1. In: Fabian, Bernhard: Handbuch der deutschen historischen Buchbestände in Europa, Bd. 6. Hildesheim u. a. 1999, 179– 203, hier 181; Karlak, Weronika: Die Altdruck-Bestände aus aufgehobenen Klöstern in der Universitätsbibliothek Breslau. Die Tätigkeit von J. G. G. Büsching und der derzeitige Stand der Provenienzforschung. In: Derwich (Hg.): Die Auflösung der Klöster, 269–300, hier 270–282. 12 Krusch: Geschichte, 40; Milkau: Die Königliche und Universitäts-Bibliothek, 534, 552; Karlak: Die Altdruck-Bestände, 279f.; Kumor-Gomułka, Bożena: Die Breslauer Kirchenbibliotheken in den Plänen zur Schlesischen Zentralbibliothek. Die Idee der Gründung einer vereinigten Stadtbibliothek Breslau in der Zeit vor und nach der Säkularisation. In: Derwich (Hg.): Die Auflösung der Klöster, 301–318, hier 312. 13 ����������������������������������������������������������������������������������������� Krusch: Geschichte, 34–38; Żerelik, Rościsław: Das „Königliche Akademische Provinzialarchiv“ zu Breslau. Geschichtspflege im Spiegel der Organisation des schlesischen Archivwesens im 19. Jahrhundert. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 381–392, hier 383. Vgl. hierzu die abweichende Würdigung von Worbs bei Kraus, Andreas: Der Beitrag der Dilettanten zur Erschließung der geschichtlichen Welt im 18. Jahrhundert. Eine Überschau über die Behandlung der Geschichte in deutschen Zeitschriften des Jahrhunderts der Aufklärung. In: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 57 (1962) 192–225, hier 204–207. 14 Büsching selbst gab einen Überblick über die Ordnung des Archivs, die Methodik und den Stand der Erschließungsarbeiten. Vgl. ders.: Das Schlesische Akademische Provinzial Archiv zu Breslau. In: Schlesische Provinzialblätter 73 (1821) 411–425. Vgl. ferner Krusch: Geschichte, 52–72; Żerelik: Das „Königliche Akademische Provinzialarchiv“, 383. 15 Krusch: Geschichte, 38–52.

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chäologischen Objekten, die zeitgenössisch als „Altertümer“ bezeichnet wurden. 1815 wurde im Gebäude der Universitätsbibliothek eine von Büsching konzipierte Gemäldegalerie eröffnet, die drei Jahre später als Königliches Museum für Kunst und Altertümer zu einem öffentlichen Museum erhoben wurde, in der auch die archäologischen Funde ausgestellt wurden.16 Im Zusammenhang damit steht das Wirken Büschings in der von ihm seit 1817 geleiteten „Sektion Kunst und Alterthum“ der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur.17 Schon im Juni 1818, zur Zeit des Breslauer Wollmarkts, fand eine erste, von Samuel Gottfried Reiche18 initiierte und sehr erfolgreiche Gemäldeausstellung statt. Unter Büschings Organisation wurden vergleichbare Ausstellungen von da an jährlich veranstaltet.19 Die Einnahmen investierte man in den Ankauf weiterer Kunstwerke, wodurch die Breslauer Sektion auch die Entwicklung künstlerischen Schaffens mitprägte.20 Ein weiteres Arbeitsfeld, das Büsching zeitgleich mit der Organisation der Kunstausstellungen erschloss, waren seine Bemühungen um die Bildung eines eigenen landes16 Mit Blick auf die Gewinnung weiterer Schenkungen berichtete Büsching über das Anliegen und die Sammlungsfortschritte. Vgl. Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Aufforderung zur Unterstützung der Herausgabe einer Sammlung Altschlesischer Denkmahle der Geschichte und Kunst. In: Schlesische Provinzialblätter 68 (1818) 411–416; ders.: Die Vermehrung der Breslauer Alterthümersammlung. Ebd., 73 (1821) 339–342. Eine Würdigung der eingezogenen Kunstwerke bie���� tet Bończuk-Dawidziuk, Urszula: Die Sammlungen der Malerei, Skulptur und Graphik an der Universität Breslau nach der Säkularisation der Klöster 1810. In: Derwich (Hg.): Die Auflösung der Klöster, 201–224, hier 204–212; zur Gemäldegalerie vgl. ebd., 212–217; Kinne, Johanna: Die klassische Archäologie und ihre Professoren an der Universität Breslau im 19. Jahrhundert. Eine Dokumentation. Dresden 2010, 38–40; Bończuk-Dawidziuk, Urszula: Geschichtspflege im Breslauer Universitätsmuseum und in anderen Museen Schlesiens vor dem Ersten Weltkrieg. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung, 297–322. 17 Gerber, Michael Rüdiger: Die Schlesische Gesellschaft für Vaterländische Cultur (1803–1945). Sigmaringen 1988 (Beihefte zum Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 9), 59f. 18 Reiche war zu dieser Zeit Lehrer am Maria-Magdalenen-Gymnasium. Vgl. ders. (Bearb.): Die Schlesischen Provinzialblätter 1785–1849. Sigmaringen 1995 (Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte 27), 244. 19 Unter dem Eindruck der gerade stattgefundenen ersten Ausstellung warb er für eine Weiterführung auch im Folgejahr. Vgl. Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Ansicht der von der ­Schlesischen vaterländischen Gesellschaft bezweckten jährlichen Kunst-Ausstellung. In: Schlesische Provinzialblätter 67 (1818) 493–500. 20 Vgl. den selbstbewussten Bericht Büschings, in dem dieser auch die finanziellen Erträge und deren Aufwendung für einzelne Kunstwerke darlegte: ders.: Was hat die Kunstausstellung der Schlesischen vaterl. Gesellschaft seit 10 Jahren geleistet? In: Schlesische Provinzialblätter 86 (1827) 525–547. Vgl. Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 58; Holtz, Bärbel: ­Kunstverein und Kunstmuseum in der Provinz. Die Kunst zwischen gesellschaftlicher Initiative, wirtschaftlichem Bedürfnis, regionalen Interessen und staatlicher Verantwortung. In: Acta Borussica N.F. 2/1 I: Das preußische Kultusministerium als Staatsbehörde und gesellschaftliche Agentur (1817–1934), Bd. 3/1: Kulturstaat und Bürgergesellschaft im Spiegel der Tätigkeit des preußischen Kultusministeriums – Fallstudien. Berlin 2012, 1–53, hier 4–15.

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geschichtlichen Vereins neben der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur.21 Zu dessen Gründung hatte er im November 1818 einen Aufruf publiziert22 und berichtete im Folgenden regelmäßig über die Vereinstätigkeit,23 die im Wesentlichen nur darin bestand, die Finanzierung seiner eigenen Editions- und Publikationsvorhaben zu ermöglichen. Dennoch bedeutete diese Einrichtung einen Schritt aus den Kreisen der gelehrten Breslauer Gesellschaft in eine breitere geschichtlich interessierte schlesische Öffentlichkeit. So versuchte Büsching, Mitglieder (Abonnenten) in allen Kreisen und größeren Städten zu gewinnen, und verzeichnete sämtliche Orte, wo ihm dies noch nicht gelungen war.24 Trotz des bis zur Unkenntlichkeit verkürzten Vereinsverständnisses Büschings wird bei ihm das Bemühen fassbar, im ganzen Land historisch Interessierte zusammenzuführen und das historische Erbe des Landes zu publizieren. In der Zusammenschau trat Büsching nach dem Scheitern bzw. dem Ende seiner ursprünglichen Mission 1812, seit 1815/18 also, in verschiedenen Teilbereichen als Organisator und Initiator landesgeschichtlicher Forschung in Schlesien auf. Dabei wird er auf keinen Fall nur als ein Organisator oder Popularisator von Forschung anzusprechen sein. In einem disziplinär noch offenen Milieu, in dem sich verschiedene geisteswissenschaftliche Spezialisierungen in Beziehung zur neuen Universität erst ausbildeten, gab der studierte Jurist Büsching verschiedene wissenschaftliche Anstöße, die heute für die Anfänge verschiedener Traditionen der schlesischen Wissenschaftsgeschichte beansprucht werden und es nachvollziehbar erscheinen lassen, dass Büschings Wirken als multikulturelle Vermittlung charakterisiert worden ist.25 Entsprechend ist seine Tätigkeit in Schlesien in den knapp zwei Jahrzehnten zwischen 1809 und 1829 für die Entwicklung verschiedener Einzelwissenschaften zu würdigen. Das betrifft zuerst die Germanistik. Auf diesem Gebiet war Büsching schon vor seiner Breslauer Zeit aktiv, gemeinsam mit dem erwähnten Friedrich Heinrich von der Hagen, den er dazu bewegen konnte, 1816 selbst nach Breslau zu kommen, und dessen germanistischen Lehrstuhl er nach dessen Rückkehr nach Berlin 1824 übernahm.26 21 Markgraf, Hermann: Die Entwicklung der schlesischen Geschichtsschreibung [1888]. In: ders.: Kleine Schriften zur Geschichte Schlesiens und Breslaus. Breslau 1915 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau 12), 1–29; Kersken, Norbert: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung: Der „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung, 87–120, hier 88f. 22 Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Aufforderung zur Unterstützung der Herausgabe einer Sammlung Altschlesischer Denkmahle der Geschichte und Kunst. In: Schlesische Provinzialblätter 68 (1818) 411–416. 23 Ders.: Der Verein für Schlesische Geschichte und Alterthümer. Ebd., 69 (1819) 317–319, 72 (1820) 537–543, 73 (1821) 445–449, 78 (1823) 38–41, 80 (1824) 487–488. 24 Ebd., 72 (1820) 540f., 73 (1821) 448. 25 Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 61–67. 26 Ebd.; ders.: Der Breslauer Frühgermanist J. G. G. Büsching als Fortsetzer der literarhistorischen Mittelalterrezeption des 18. Jahrhunderts. In: Kunicki, Wojciech (Hg.): Aufklärung in Schlesien im Europäischen Spannungsfeld, Bd. 1: Traditionen – Diskurse – Wirkungen. Wrocław 1996

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Büsching machte seine erste Bekanntschaft mit Schlesien im Sommer 1809 während einer Wanderung durch das Land, über die er den bereits erwähnten Reisebericht verfasste.27 Hier trafen sich seine literarischen, altertumskundlichen und kunstgeschichtlichen Interessen. Anknüpfend an ältere, gemeinsam mit von der Hagen unternommene Bemühungen28 besorgte er eine Märchensammlung, die nach der Herkunft der Überlieferungen gegliedert war und mit dem Abschnitt „Schlesische Sagen und Mährchen“ einsetzte.29 Aufgrund dieser Beobachtungen und Aufzeichnungen, die sich auf Erzählungen und Sagen, die mit bestimmten Orten verbunden waren, richteten,30 kann Büsching als einer der Begründer der schlesischen Volkskunde vor ihrer disziplinären Verselbständigung angesprochen worden.31 Mit diesem volkskundlichen Ansatz verbindet sich auch Büschings Interesse an der verfallenen Burg Kynsburg im Waldenburger Bergland an der Grenze zu Böhmen. Er erwarb die Anlage im September 1823 und versuchte, sie durch eine kleine Schrift für den Wandertourismus zu erschließen.32 Über seine Interessen an der materiellen Überlieferung erhielt Büsching rasch ein Profil als kunstgeschichtlicher Fachmann. Hinzu kam seine Organisation der Breslauer (Acta Universitatis Wratislaviensis 1757; Germanica Wratislaviensia 114), 249–258; ders.: ­Johann Gustav Gottlieb Büsching, die Breslauer Universität und die Viadrina, 46f., 54–57; ders.: Anfänge der Breslauer Germanistik. In: Honsza, Norbert (Hg.): Germanistik 2000. Wrocław – Breslau. Wrocław 2001 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2260; Germanica Wratislaviensia 124) 11–36, hier 14–18. 27 Büsching: Bruchstück. 28 Ders./Hagen [Friedrich Heinrich von der] (Hg.): Sammlung Deutscher Volkslieder, mit einem Anhange flammländischer und französischer, nebst Melodien. Berlin 1807. 29 Die weiteren Abschnitte betrafen: Sagen und Mährchen aus Böhmen, Mähren, Östreich und Ungarn; Sagen und Mährchen, aus der Lausitz, Sachsen und Thüringen; Märkische, Pommer’sche und Meklenburgische Mährchen; Heinrich der Löwe, Herzog von Braunschweig; Kindermährchen; Sagen und Mährchen vom Harz; Sagen und Mährchen aus verschiedenen Gegenden Deutschlands. Vgl. Büsching, Johann Gustav: Volkssagen, Märchen und Legenden. Zwei Abteilungen in einem Band. Leipzig 1812 [ND Hildesheim 1969]. Jacob Grimm veröffentlichte ­hierzu 1813 eine kritische Besprechung: ders.: Recensionen und vermischte Aufsätze, Bd. 3. ­Berlin 1882 (Kleinere Schriften 6) [ND Hildesheim 1991], 130–133. Vgl. Rölleke, Heinz: Art. Büsching, Johann Gustav Gottlieb. In: Brednich, Rolf Wilhelm (Hg.): Enzyklopädie des ­Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung. Berlin 1979, 1053f. 30 Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Sagen und Geschichten aus dem Schlesierthale und von der Burg Kinsberg. Mit 2 Steindrucken, Ansichten der Burg Kinsberg. Breslau 1824. 31 �������������������������������������������������������������������������������������������� Bönisch-Brednich, Brigitte: Reiseberichte als Quelle der Erzählforschung. Am Beispiel schlesischer Quellen. In: Fabula. Zeitschrift für Erzählforschung 34 (1993) 252–269, hier 257, 259f., 263; dies.: Volkskundliche Forschung in Schlesien. Eine Wissenschaftsgeschichte. Marburg 1994 (Schriftenreihe der Kommission für Deutsche und Osteuropäische Volkskunde in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 68), 34–39; Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 107–111. 32 Büsching: Die Burg Königsberg. In: Schlesische Provinzialblätter 79 (1824) 38–41; ders.: Die Kinsburg in ihrem gegenwärtigen Zustande mit Erinnerungen aus dem Fremdenbuche auf derselben. Breslau 1827. Vgl. Badstübner, Ernst u. a. (Hg.): Dehio-Handbuch der Kunstdenkmäler in Polen. Schlesien. München/Berlin 2005, 1166f.

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Kunstausstellungen und seine Bemühungen um eine Gemäldegalerie. Seine besondere Aufmerksamkeit galt der sogenannten Altertümersammlung, die auf Artefakten, darunter vor allem Plastiken und Skulpturen, die aus den aufgelösten Klöstern stammten, basierte.33 Schon 1811 hatte er, als Reaktion auf einen Vortrag von Johann Gottlieb Rhode34 in der Gesellschaft für vaterländische Cultur, die in den Breslauer Kirchen verwahrten Kunstschätze beschrieben.35 Im Zuge seiner Vorlesungstätigkeit bot er mehrfach Kollegien zur „Geschichte der deutschen Kunst des Mittelalters“ sowie zur „Geschichte der altdeutschen Baukunst“ an,36 die er auch zum Druck brachte.37 Eine architekturgeschichtliche Studie zu mittelalterlichen Zentralbauten in Breslau verdient in methodischer Hinsicht schon deshalb Beachtung, weil Büschimg seine schlesischen Befunde zu vergleichbaren Bauten in ganz Europa in Beziehung setzte.38 Im Oktober 1817 unternahm Büsching eine Reise durch das mittlere Deutschland. Er beschrieb ausführlich die Baudenkmäler und weitere mit diesen in Zusammenhang stehende Kunstwerke,39 wobei er seine Darstellung als Ergänzung zu Johann Dominik Fiorillos Handbuch verstand.40 Vor diesem Hintergrund ist zu sehen, dass Büsching wegen seiner kunsthistorischen Expertise in eines der großen Projekte der Denkmalpflege und der Erinnerungskultur des preußischen Staates in der Zeit seines Wiederaufbaus nach dem Wiener Kongress, der „Wiederentdeckung“ der Marienburg, einbezogen wurde. Theodor von Schön, der seit 1816 als Oberpräsident der Provinz Westpreußen amtierte und sich um die Restaurierung der verfallenen Burganlage, die im August 1818

33 Kinne: Die klassische Archäologie, 42–50; Bończuk-Dawidziuk: Die Sammlungen, 217–222. 34 Rhode war seit 1809 Lehrer an der Breslauer Kriegsschule. Vgl. Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter, 245f. 35 Büsching [ Johann Gustav Gottlieb]: Ueber die Kunstschätze in den evangelischen Kirchen Breslau’s. In: Schlesische Provinzialblätter 53 (1811) 330–340, 416–419. 36 Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 62. 37 Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Versuch einer Einleitung in die Geschichte der Altdeutschen Bauart. Vorlesungen, gehalten im Sommer 1820 und zur Grundlage anderer Vorträge wieder bestimmt. Breslau 1821. 38 Ders.: Ueber die achteckige Gestalt der alten Kirchen mit besonderer Berücksichtigung von Breslau. Breslau 1817. Vgl. Störtkuhl, Beate: Architekturgeschichte. In: Bahlcke, Joachim (Hg.): ­Historische Schlesienforschung. Themen, Methoden und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2005 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 11), 681–718, hier 684. 39 Büsching: Reise durch einige Münster und Kirchen des noerdlichen Deutschlands im Spaetjahr 1817. Leipzig 1819. Berücksichtigt wurden die Städte Brandenburg, Rathenow, Havelberg, ­Wilsnack, Stendal, Tangermünde, Magdeburg, Egeln, Quedlinburg, Blankenburg; Wernigerode, Halberstadt, Goslar, Nordhausen, Sangerhausen, Eisleben, Freiberg, Naumburg, Weißenfels, Merseburg, Halle, Berlin, Frankfurt/Oder. Vgl. Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783– 1829, 143f. 40 ������������������������������������������������������������������������������������������� Fiorillo, Johan Dominik: Geschichte der zeichnenden Künste in Deutschland und den vereinigten Niederlanden, Bd. 1–4. Hannover 1815–1820. Büsching lagen die ersten drei Bände vor, die Bezugnahme hierauf findet sich bei Büsching: Reise, IIIf.

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durch den Kronprinzen Friedrich Wilhelm besucht worden war, bemühte,41 wandte sich im Juni 1819 an Büsching in Breslau mit der Bitte um eine kunsthistorische Beschreibung der Ordensburg.42 Zu diesem Zweck reiste  Büsching 1820 nach Preußen und nutzte die Fahrt für weitere kunsthistorisch motivierte Besuche von Orten, die auf dem Weg lagen. Hierzu zählten unter anderem Posen, Gnesen, Kulmsee, Kulm, Rheden, Graudenz, Marienwerder, Mewe und Stuhm, von deren jeweiligen Sakralbauten und Burgen er Beschreibungen anfertigte, die sein Freund von der Hagen nach seinem Tod veröffentlichte.43 1823 erschien in Berlin seine Schrift über die Marienburg, die erste ausführliche bauhistorische Analyse, der sieben Grundrisszeichnungen von Carl August von Gersdorff beigegeben waren.44 Im Februar 1823 übersandte Büsching ein Exemplar an Johann Wolfgang von Goethe, dem er seine Schrift bereits im Juni 1822 angekündigt hatte.45 Eine weitere Arbeit auf diesem Feld entstand als Preisschrift, die von der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zur Beschreibung der Kunstdenkmäler der Stadt Görlitz ausgeschrieben worden war.46 Büschings kunsthistorische Interessen berühren sich eng mit einem Arbeitsgebiet, das als altertumskundlich und archäologisch umschrieben werden kann. Der zentrale Ansatz hierfür war seine stetig ausgebaute Sammlung von Altertümern, die Büsching in Schlesien vorgefunden hatte oder die sachlich mit dem Oderland in Beziehung standen. Seit etwa 1820 suchte er gezielt Kontakte zu Sammlungen und Museen außerhalb Schlesiens, um durch Duplikate und Gipsabgüsse die Breslauer Sammlung zu ergänzen. Auf diese Weise gelang ihm der Aufbau wissenschaftlicher Tauschbeziehungen nach Bonn, Dresden, Königsberg und Kopenhagen.47 1823/24 wandte sich Büsching mit 41 Schmid, Bernhard: Oberpräsident von Schön und die Marienburg. Halle/Saale 1940 (Schriften der Königsberger Gelehrten Gesellschaft, Geisteswissenschaftliche Klasse 15/16,4), 33f. 42 Knapp, Heinrich: Das Schloss Marienburg in Preussen. Quellen und Materialien zur Baugeschichte nach 1456. Lüneburg 1990, 67; Herrmann, Christofer: Die Marienburg und die Anfänge der Romantik in Preußen. In: Kuzborska, Alina/Jachimowicz, Aneta (Hg.): Anfang. Literatur- und kulturwissenschaftliche Implikationen des Anfangs. Würzburg 2018, 311–347, hier 330f. 43 ������������������������������������������������������������������������������������������������� Kunstalthertümer in Schlesien, Preuss. Polen und Preussen. Aus J. G. Büschings Nachlass, mitgeteilt durch Hrn. Professor von der Hagen. In: Museum. Blätter für bildende Kunst 3 (1835) 33–38, 41–43, 54, 60–62, 83–85, 89–93, 99f., 106–109, 117f. Kurze Berichte����������������� , die die�������� Marienburg und Elbing betrafen, hatte er bereits 1821 und 1822 im Morgenblatt für gebildete Stände veröffentlicht. Vgl. Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 179–181. 44 Büsching [ Johann Gustav Gottlieb]: Das Schlos der deutschen Ritter zu Marienburg. Berlin 1823. Vgl. Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 141f. 45 �������������������������������������������������������������������������������������������� Hecker, Max: Aus der Frühzeit der Germanistik. Die Briefe Johann Gustav Büschings und Friedrich Heinrich von der Hagens an Goethe. In: Jahrbuch Goethe-Gesellschaft 15 (1929) 100–179, hier 154–160 (Nr. 24f.). 46 Büsching: Die Alterthümer der Stadt Görlitz. In: Neues Lausitzisches Magazin 3 (1824) 1–26, 163–187, 381–393, 4 (1825) 161–180. Vgl. Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783– 1829, 144f. 47 Kinne: Die klassische Archäologie, 45–50

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Abb. 2: Theodor von Schön, seit 1816 Oberpräsident der Provinz Westpreußen, wandte sich im Sommer 1819 an Johann Gustav Gottlieb Büsching mit der Bitte um eine kunsthistorische Beschreibung der Marienburg, um deren Restaurierung er sich bemühte. Die erbetene Beschreibung Das Schlos der deutschen Ritter zu Marienburg als Ergebnis von Büschings Reise nach Preußen im Jahr 1820 erschien 1823. Seine zwei Jahre zuvor veröffentlichte architekturgeschichtliche Studie zu mittelalterlichen Zentralbauten, die auf seiner in Danzig geschätzten Expertise beruhte, hatte ­Büsching dem Oberpräsidenten gewidmet. Bildnachweis: Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Sign.: Archit.912.

dem Ziel, eine Kollektion von Gipsabgüssen aufzubauen, an das Berliner Unterrichtsund das Finanzministerium, wo seinen Wünschen auch teilweise entsprochen wurde.48 Dabei ging es ihm gezielt um die Sammlung von Abgüssen römischer Skulpturen. Bis zu seinem Tod konnte er dieser Kollektion siebzig neue Antikenabgüsse zufügen. Dank

48 Büsching: Antiken-Sammlung der Universität zu Breslau. In: Schlesische Provinzialblätter 80 (1824) 622–628. Vgl. Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 67–71; Kinne: Die klassische Archäologie, 62–71; Bończuk-Dawidziuk: Die Sammlungen, 212–222.

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dieses Engagements kann Büsching für Breslau als wichtiger Impulsgeber für die Klassische Archäologie und die antike Kunstgeschichte gelten.49 Mit Blick auf die älteste schlesische Geschichte überschritt Büsching den herkömmlichen, an Kunstgeschichte und Klassischer Archäologie geschulten Blick auf die vorgefundene materielle Überlieferung, die ihm einen Zugang auch zur vorchristlichen, „heidnischen“ Epoche bot, für die schriftliche Quellen fehlen. Dabei mochten ihm Fehldeutungen unterlaufen wie bei der Interpretation eines im oberschlesischen Himmelwitz gefundenen Götzenbildes, das er fälschlich als Bildnis des germanischen Tyr oder Thor deutete.50 Neu jedenfalls waren das Postulat einer genuin germanischen beziehungsweise slawischen Altertumskunde sowie die methodische Warnung vor einer interpretatio Romana dieser Funde. Die in Schlesien gefundenen Überreste (Gefäße, Werkzeuge) publizierte Büsching als „heidnische Alterthümer“.51 Er systematisierte und verallgemeinerte diese Befunde in einer Skizze für seine Vorlesungen, wobei er die Spezifik und Gliederung „Germanien[s] in der Altzeit“ umriss und einen Überblick über die verschiedenen Überlieferungen gab.52 Auf der Grundlage seines Frageinteresses, der systematischen Erfassung der ältesten, nicht schriftlich dokumentierten Geschichte sowie seiner Methode, die Funde ihrer Lage und Umstände umfassend zu dokumentieren, entwickelte Büsching eine neue wissenschaftliche Arbeitsweise. Er gilt, da er die aus seinen Sammlungen gewonnenen Erkenntnisse zu verallgemeinern und weiterzuführen verstand, als „Begründer der Vorgeschichtsforschung als Wissenschaft“.53 Dabei stand er im wissenschaftlichen Austausch mit dem Kopenhagener Altertumsforscher Christian Jürgensen Thomsen, der zu jener Zeit (1823/25) das sogenannte Dreiperiodensystem der Urgeschichte, die chronologische Gliederung in Stein-, Bronze- und Eisenzeit, entwickelte.54 Zugleich beschritt Bü49 Kinne: Die klassische Archäologie, 23–72; Burdukiewicz, Jan Michał/Demidziuk, Krzysztof/ Bończuk-Dawidziuk, Urszula: Profesor Büsching na Uniwersytecie Wrocławskim – początki archeologii akademickiej w Europie. In: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczonych. Schlesische Gelehrtenrepublik. Slezská vědecká obec, Bd. 7. Dresden/Wrocław 2016, 180–206. 50 Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Das Bild des Gottes Tyr, gefunden in Oberschlesien und ­verglichen mit zwei anderen Bildern desselben Gottes, entdeckt am Rhein und in Meklenburg. Breslau 1819. Vgl. Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 116f. 51 Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Die heidnischen Alterthümer Schlesiens, H. 1–4. Leipzig 1820–1824. Vgl. Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 117–119. 52 Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Abriß der deutschen Alterthums-Kunde. Zur Grundlage von Vorlesungen bestimmt; mit einer Charte des alten Germaniens. Weimar 1824. Vgl. Hałub: ­Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 119f. 53 Gummel, Hans: Forschungsgeschichte in Deutschland. Berlin 1938 (Die Urgeschichtsforschung und ihre historische Entwicklung in den Kulturstaaten der Erde 1), 109–195, 405–407 (Zitat 121). Vgl. Filip, Jan (Hg.): Enzyklopädisches Handbuch zur Ur- und Frühgeschichte Europas, Bd. 1. Stuttgart u. a. 1966, 188: „Durch diese Arbeit erhob er die Vorgeschichtsforschung zum Rang einer Wissenschaft.“ 54 Büsching: Abriß, 11. Er selbst akzeptierte dieses Schema nur zögernd und äußerte die Hoffnung, sicherere Kriterien für die Chronologie der Funde zu finden als „die Folge von Stein, Kupfer und

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sching einen neuen Weg der ethnischen Deutung der archäologischen Funde, da er sich als erster darum bemühte, sie systematisch „einzelnen Stämme[n]“, zuzuordnen. Dabei ging es ihm vorrangig darum, anhand des ihm vorliegenden schlesischen Materials „die Hauptstämme, Deutsche und Slaven, in den Alterthümern von einander zu sondern“.55 Dieser Deutungsansatz, entwickelt aus dem zeitgenössischen Bedürfnis einer „vaterländischen“ Altertumskunde, ist erst später – in der Auseinandersetzung mit Gustaf Kossinna und dessen Zuspitzung der politischen Implikationen dieses Paradigmas – wegen seiner methodischen Schwächen infrage gestellt worden.56 Ein noch schärferes Profil entwickelte Büsching im Bereich der sich herausbildenden universitären Geschichtswissenschaft und der schlesischen Landesgeschichtsforschung.57 Seine eigene berufliche Karriere sah er nach dem Abschluss seiner Arbeit als preußischer Säkularisationskommissar im Sommer 1812 nicht im Bereich der Verwaltung, sondern in der Wissenschaft. Von seinen anfänglichen mediävistisch-germanistischen Interessen (die ihn mit von der Hagen verbanden, dessen germanistischen Lehrstuhl er 1824 übernahm, ohne dass seine tatsächliche Lehrtätigkeit dem inhaltlich entsprochen hätte) wich er schon bald ab und erwarb sich eine sehr spezifische fachliche Qualifikation. Anknüpfungspunkt dafür war seine berufliche Anbindung an das Archiv seit Juni 1812. Zum Wintersemester 1815/16 wurde Büsching zum Privatdozenten und ein Jahr später zum außerordentlichen Professor für mittelalterliche Kunstgeschichte und Diplomatik ernannt. Im August 1822 erfolgte die Bestallung zum ordentlichen Professor.58

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Eisen bei Anfertigung der Geräthe und Waffen.“ Vgl. ferner Seger, Hans: Die Anfänge des Dreiperioden-Systems. In: Schumacher-Festschrift. Zum 70. Geburtstag Karl Schumachers am 14. Oktober 1930. Mainz 1930, 3–7; Gummel: Forschungsgeschichte, 164f.; Jacob-Friesen, ­Gernot: Dreiperiodensystem. In: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, Bd. 6. Berlin/ New York 21986, 171–174; Schnapp Alain: Die Entdeckung der Vergangenheit. Ursprünge und Abenteuer der Archäologie. Stuttgart 2009, 313, 321–325; Eggert, Manfred K. H.: Prähistorische Archäologie. Konzepte und Methoden. Tübingen/Basel 42012, 31; Stabrey, Undine: Archäologische Untersuchungen. Über Temporalität und Dinge. Bielefeld 2017, 67–84. Büsching, Abriß, 11. Vgl. Gummel: Forschungsgeschichte, 175–180. Eine kritische Historisierung dieses Deutungsansatzes bieten Steuer, Heiko: Das „völkisch“ ­Germanische in der deutschen Ur- und Frühgeschichtsforschung. Zeitgeist und Kontinuitäten. In: ders./Beck, Heinrich/Geuenich Dieter (Hg.): Zur Geschichte der Gleichung „germanischdeutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen. Berlin 2004 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der germanischen Altertumskunde 34), 357–502, hier 378; Brather, Sebastian: Ethnische Interpretationen in der frühgeschichtlichen Archäologie. Geschichte, Grundlagen und Alternativen. Berlin u. a. 2004 (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen ­Altertumskunde 42), 12–27. Zur Positionierung Büschings in diesem Zusammenhang vgl. Bahlcke, Joachim: Die Geschichtswissenschaft an der Universität Breslau 1811 bis 1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte. In: Jahrbuch für schlesische Kultur und Geschichte 53/54 (2012/13) 569–588, hier 572f. Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 61f.; Kinne: Die klassische Archäologie, 27–32.

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Im Rahmen des hierfür erforderlichen Habilitationsverfahrens veröffentlichte Büsching zwei urkundenwissenschaftliche Schriften, die Beachtung verdienen. Seine Habilitationsschrift widmete sich einem Aspekt der Privaturkundenlehre, der bislang keine wissenschaftliche Aufmerksamkeit gefunden hatte, nämlich den Beglaubigungszeichen auf Notarsurkunden. Auf diesem Gebiet ist Büsching durchaus als Pionier zu bezeichnen, wenn man bedenkt, dass der Helmstedter Jurist Johann Wilhelm von Göbel erst 1723 erstmals auf die Notarszeichen überhaupt aufmerksam gemacht hatte59 und diese dann 1896 durch Friedrich Leist systematisch in die Urkundenforschung eingebracht wurden.60 Büsching trug einige Beobachtungen zum Formular schlesischer Notarsinstrumente vor und fügte seinen Ausführungen auf sieben Tafeln die Abbildung von 100 Notarssigneten sowie die Wiedergabe der entsprechenden Notarsunterschriften bei.61 Seine lateinische Abhandlung zur Übernahme in das Ordinariat an der Philosphischen Fakultät war thematisch verwandt. Sie betraf die Siegel an mittelalterlichen schlesischen Urkunden. Auf deren Quellenwert hatte Büsching schon 1813 hingewiesen und den Vertrieb von Siegelabgüssen vorgeschlagen,62 von denen er eine Lieferung selbst publizierte.63 Die akademische Schrift bot 28 Siegelbeschreibungen schlesischer Herzöge und geistlicher Personen. Die Wahl der Themen war mit Blick auf die beiden Aspekte der Denomination seiner Professur, die Kunstgeschichte und die historischen Hilfswissenschaften, erfolgt.64 Zugleich veröffentlichte eine erweiterte Auswahl von 32 Siegelnachzeichnungen.65 Diese sphragistischen Interessen standen im Zusammenhang mit Büschings Tätigkeit als Archivar, in deren Rahmen er sich um die Publizierung der in seiner Obhut befindlichen Urkundenbestände bemühte. Schon 1812 hatte er eine kleine Edition von Urkunden 59 Göbel, Johann Wilhelm von: Dissertatio academica De Notariis. Helmstadii 1723; Baring, Daniel Eberhard: Clavis diplomatica. Hanoverae 1737. Das Werk enthält als Abschnitt VIII: Notariorum veterum quaedam signa curiosa, una cum Alphabeto singuli instrumenti & abbreviationibus; hier bietet der Autor Nachzeichnungen von acht Notarszeichen und Notarsunterschriften. In die überarbeitete zweite Auflage (Clavis dioplomatica. Hanoverae 1754) fügte er, vor der ­Abbildung von 18 Notarszeichen, die Schrift von Göbel ein (197–228). 60 Leist, Friedrich: Die Notariats-Signete. Ein Beitrag zur Geschichte des Notariates sowie zur ­Lehre von den Privaturkunden. Leipzig u. a. 1896. 61 Büsching, Johann Gustav Gottlieb: De signis seu signetis notariorum veterum in silesiacis tabulis, praemissa brevi comparatione tabularum silesiacarum cum germanicis. Vratislaviae 1820. 62 Ders.: Ankündigung einer Siegelsammlung der alten Schlesischen Herzoge, Bischöfe, Aebte, Klöster und einzelnen Personen in Abgüssen. In: Schlesische Provinzialblätter 58 (1813) 329– 331. 63 Ders.: Der alten schlesischen Herzoge, Städte, Aebte u.s.w. Siegel in Abgüssen und Abdrücken, Lfg. 1. Breslau 1813. 64 Ders.: Descriptiones Authenticae Nonnullorum Sigillorum Medii Aevi, In Tabulis Silesiacis Repertae. Vratislaviae 1824; die thematische Begründung lautete: „quippe quae ad duo mea munera in hac alma Universitatis spectet, artem et rem diplomaticam.“ Ebd., IIIf. 65 Ders.: Von Schlesischen Siegeln. Breslau 1824, mit dem Hinweis auf seine älteren, nicht realisierten Bemühungen (4).

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aus dem Augustinerstift Sagan publiziert.66 1821 ließ er einen Band mit dem Abdruck von 86 Urkunden folgen, die das Kloster Leubus betrafen.67 Aus seiner ­archivalischen Erschließung der Urkunden heraus veröffentlichte Büsching zudem eine Reihe unzusammenhängender Beobachtungen, die er aus den Urkunden gewonnen hatte.68 Wenn dies auch eine Gelegenheitsveröffentlichung blieb, so muss doch festgehalten werden, dass Büsching sehr nachdrücklich auf den Wert der Urkunden für die historische Erkenntnis hingewiesen hat. Seinem Lehrauftrag entsprechend hielt Büsching vom Wintersemester 1815/16 bis 1825 durchgängig Vorlesungen aus dem Bereich der Diplomatik.69 Mit diesem für die sich entwickelnde methodenkritische Geschichtswissenschaft zentralen Angebot stand er in Breslau hinsichtlich seines Verständnisses des Geschichtsstudiums zu dieser Zeit noch allein da. Büschings Kollegen Friedrich von Raumer und Ludwig Wachler vertraten in ihren großen Darstellungen noch die ältere, literarisch geprägte Praxis des Historikers. Das hilfswissenschaftliche Angebot in der universitären Lehre wurde nach Büschings Tod erst mit dem Beginn der Tätigkeit von Colmar Grünhagen 1866 fortgeführt.70 Seine diplomatischen und kunstgeschichtlichen Vorlesungen ergänzte Büsching schon bald um ein Kolleg „Geschichte des deutschen Ritterwesens“, das er zwischen 1818 und 1828 siebenmal anbot71 und später in zwei Bänden publizierte.72 Es fiele gewiss leicht, diese Themenwahl mit dem zeitgenössischen Mittelalterinteresse der Romantik in Verbindung zu bringen. Büsching selbst konzedierte zwar „eine große“, nicht von ihm „zu läugnende Vorliebe für das Mittelalter“, setzte es sich aber explizit zum Ziel, eine positive Färbung der Darstellung zu vermeiden und „eine bedeutende und merkwürdige Zeit ganz unverkümmert, mit ihrem Licht, mit ihrem Schatten [...] so hinzustellen, wie sie einst war“.73 In seiner Darstellung stützte er sich vor allem auf die deutsche Bearbeitung der Mémoires sur l’ancienne chevalerie von Jean-Baptiste de La Curne de SaintePalaye durch den Staatsrechtler Johann Ludwig Klüber74 sowie auf „einzelne Werke“ 66 Ders.: Urkunden der Piasten in Schlesien. 1: Aus dem Augustiner-Stift zu Sagan. Breslau 1812; das 16 Seiten umfassende Werk ist bibliographisch nicht nachzuweisen. Vgl. Hałub: Johann ­Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 96f. 67 Büsching: Die Urkunden des Klosters Leubus, Lfg. 1. Breslau 1821; die Konzeption des Projekts hatte er zuvor schon skizziert. Vgl. ders.: Ueber den Abdruck der ältesten Leubusser Urkunden. In: Schlesische Provinzialblätter 73 (1821) 110–114. 68 Ders.: Anmerkungen zur Schlesischen Geschichte aus Urkunden. In: Schlesische Provinzialblätter 76 (1822) 56–62. 69 Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 62. 70 Ebd., 66f. 71 Ebd. 72 Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Ritterzeit und Ritterwesen. Vorlesungen, Bd. 1–2. Leipzig 1823. 73 Ebd., Bd. 1, X. 74 Das Ritterwesen des Mittelalters nach seiner politischen und militärischen Verfassung. Aus dem Franz. des Herrn de La Curne de Sainte-Palaye. Mit Anmerkungen, Zusätzen und Vorreden von Johann Ludwig Klüber, Bd. 1–3. Nürnberg 1786–1791. Vgl. Büsching: Ritterzeit, Bd. 1, IX.

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des thüringischen Historikers Friedrich Majer, den Büsching als seinen „verstorbene[n] Freund“ bezeichnete.75 Büsching steht hier am Beginn der deutschen Rezeption des literarischen und historischen Ritterbildes, das er wegen beschönigender Glättung76 und mangelnder historischer Differenzierung kritisierte.77 Seine Darstellung war nach kulturgeschichtlichen Kriterien78 angelegt und folgte einer nicht nach nationalgeschichtlichen Gesichtspunkten beschränkten Auswahl der Quellentexte.79 Neben dem dominanten Interesse für die Urkundenforschung widmete sich Büsching auch den erzählenden Quellen. Schon 1811 beschrieb er ausführlich eine illustrierte deutschsprachige Fassung der Hedwigsvita in einer Handschrift aus der Provenienz des Breslauer Franziskanerklosters.80 Während Büschings diplomatische Interessen aber das Mittelalter betrafen, richtete er sich bei seinen Projekten zur Edition erzählender Quellen zur schlesischen Geschichte auf die Frühe Neuzeit, genauer auf das frü75 Büsching: Ritterzeit, Bd. 1, XII. Büsching bezog sich hier vermutlich auf Majer, Friedrich: Zur Kulturgeschichte der Völker. Historische Untersuchungen, Bd. 1. Leipzig 1798, ein Werk, das sich ausführlich der Geschichte des Turnierwesens in Deutschland widmete; ebenso auf ders.: Geschichte der Ordalien insbesondere der gerichtlichen Zweikämpfe in Deutschland. Ein Bruchstück aus der Geschichte und den Alterthümern der deutschen Gerichtsverfassung. Jena 1795 [ND Leipzig 1970]. 76 Büsching: Ritterzeit, Bd. 1, IXf.: „Wer überhaupt mit Antheil und Lieb einen Gegenstand ergreift, ist leicht bewogen, die schönere Seite allein hervorzustellen.“ 77 Ebd., XIII: „Aber er [St. Palaye] scheint mir darin ein Versehn gemacht zu haben, daß diese ­Beweise aus allen Jahrhunderten der langen Ritterzeit unter einander gemischt sind. Schwer ist es, immer genau die einzelnen Zeiten zu sondern [...]. So viel ich vermochte, habe ich diesen Fehler zu vermeiden gesucht.“ 78 Der erste Abschnitt „Jugendleben“ behandelt die Themenkreise „Das Kind“, „Der Knabe“, „Der Jüngling“, während der zweite Abschnitt „Ritterleben“ folgende Abschnitte umfasst: „Ritterschlag und Ritterwürde“, „Festlichkeiten“, „Waffen und Kleidung“, „Turniere und Lanzenrennen“, „Bewillkommnung und Empfang der Ritter, Ritterzüge, fahrende Ritter“, „Die Frauen der Ritterzeit: Liebe, Ehe und häusliches Leben“, „Gelübde der Ritter“, „Zweikämpfe und ­Ernstkämpfe der Ritter“, „Vorzüge und Auszeichnung der Ritterwürde“ sowie „Strafen der Ritter, Tod und Leichenbegräbnis“. 79 Fleckenstein, Josef: Die deutsche Ritterforschung im 19. Jahrhundert. In: Elze, Reinhard/Schiera, Pierangelo (Hg.): Italia e Germania. Immagini, modelli, miti fra due popoli nell’Ottocento: il Medioevo / Das Mittelalter. Ansichten, Stereotypen und Mythen zweier Völker im neunzehnten Jahrhundert: Deutschland und Italien. Bologna/Berlin 1988 (Annali dell’Istituto storico italogermanico in Trento. Contributi 1 / Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient. Beiträge 1), 43–63, hier 47f. 80 Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Beschreibung einer noch unbekannten Deutschen ­Handschrift des Lebens der heiligen Hedwig. Breslau 1811 (wieder abgedruckt in ders.: Bruchstücke, 459–490). Vgl. Seppelt, Franz Xaver: Mittelalterliche deutsche Hedwigslegenden. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 48 (1914) 1–18, hier 3; Ehlert, Trude: Die ­Heilige Hedwig in der deutschen Literatur des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit. In: Księga Jadwiżańska. Wrocław 1995 (Acta Universitatis Wratislaviensis 1720), 151–175, hier 154, 159–164. Die Vita, überliefert in der Handschrift cod. IV F 192 der Universitätsbibliothek Breslau, wurde veröffentlicht von Ehlert, Trude/Mrozowicz, Wojciech (Hg.): Legenda o św. ­Jadwidze / Legende der hl. Hedwig. Wrocław 2000.

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he 17. Jahrhundert. Dies wird man mit den Vermarktungsinteressen Büschings erklären dürfen, da der editorische Aufwand bei frühneuzeitlichen deutschsprachigen Texten erheblich geringer war als bei mittelalterlichen Chroniken. Ebenfalls bereits 1811 hatte er einen auf 1611 datierten Lobspruch auf die Stadt Breslau des weiter nicht bekannten Breslauer Meistersingers Elias Freudenberg veröffentlicht.81 Von 1813 an publizierte er in fünf Bänden die Jahrbücher der Stadt Breslau des Diakons an der Magdalenenkirche Nikolaus Pol, eine für die Breslauer Stadtgeschichte des 16. und frühen 17. Jahrhunderts zentrale Quelle.82 Ein weiteres Editionsvorhaben waren die Tagebuchaufzeichnungen des Hans von Schweinichen aus dem ausgehenden 16. Jahrhundert, deren alltagsgeschichtlichen Wert Büsching mit einem verkaufsfördernden Titel akzentuierte.83 Das letzte Editionsvorhaben, das er anregte, dann aber durch Johann Gottlieb Kunisch, der ihn schon früher unterstützt hatte, bearbeiten ließ, war Peter Eschenloers Geschichte der Stadt Breslau.84 81 Büsching, Johann Gustav Gottlieb: Ein Lobspruch der weitberühmten Kaiserlich und Königlichen Hauptstadt Breslau in Schlesien. In: Schlesische Provinzialblätter 54 (1811) 3–21, 97– 107 (mit erweiterter Einleitung wieder abgedruckt in ders.: Bruchstücke, 423–458); Kytzler, Bernhard: Laudes Silesiae VI: Der Lobspruch auf Breslau des Elias Freudenberg [1994]. In: ders.: Laudes Silesiae. Späthumanistische Lobestexte auf Schlesien und seine Städte. Würzburg 2016, 69–84. 82 Pol, Nikolaus: Jahrbücher der Stadt Breslau, Bd. 1–3. Hg. v. Johann Gustav Büsching, Bd. 4. Hg. v. dems. und Johann Gottlieb Kunisch, Bd. 5. Hg. v. Johann Gottlieb Kunisch. Breslau 1813– 1824. Vgl. Palm, Hermann: Quellen und Werth von Nikolaus Pols Jahrbüchern der Stadt Breslau bis zum 14. Jahrhundert. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 6 (1864) 297–334. Zur Edition heißt es dort: „Der Druck des ganzes Werks ist ziemlich sorgfältig, hier und da nur hat Büschings Abschreiber nicht genau gelesen, namentlich lateinische Notizen [...], so daß wir mit der Ausgabe im ganzen wol zufrieden sein können.“ Vgl. ferner Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 103f.; Garber, Klaus: Das alte Breslau. Kulturgeschichte einer geistigen Metropole. Köln/Weimar/Wien 2014, 410. 83 Büsching, [ Johann Gustav Gottlieb]: Lieben, Lust und Leben der Deutschen des sechzehnten Jahrhunderts, in den Begebenheiten des Schlesischen Ritters von Schweinichen. Von ihm selbst aufgesetzt, Bd. 1–3. Breslau 1820–1823. Vgl. die Neuausgabe von Oesterley, Hermann (Hg.): Denkwürdigkeiten von Hans Schweinichen. Breslau 1878, in der der Herausgeber anmerkt: „Derselbe [Druck] ist durchaus unzuverlässig, da er von Lesefehlern und von Lücken wimmelt, die nicht allein seinen Vorlagen zur Last fallen, sondern in erheblicher Anzahl von dem Herausgeber selbst, theils unabsichtlich, theils aber mit bewußter Absicht herbeigeführt worden sind“ (XI). Vgl. Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 104–106. 84 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Peter Eschenloer’s, Stadtschreibers zu Breslau, Geschichten der Stadt Breslau oder Denckwürdigkeiten seiner Zeit vom Jahre 1440 bis 1479. Zum erstenmal aus der Handschrift herausgegeben von Dr. J. G. Kunisch, Bd. 1–2. Breslau 1827–1828. Schon einige Jahre zuvor hatte Kunisch das Editionsvorhaben beschrieben. Vgl. ders.: Peter Eschenloer und seine Denkwürdigkeiten der Stadt Breslau. In: Schlesische Provinzialblätter 73 (1821) 197–206, wobei Büsching (ebd., 206– 208) bemerkte, dass die Verzögerung der Publikation auf die nicht zureichende Zahl der Vereinsmitglieder zurückzuführen sei. Zur Edition vgl. Roth, Gunhild (Hg.): Peter Eschenloer, ­Geschichte der Stadt Breslau, Teilbd. 1. Münster u. a. 2003 (Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte 29,1), 86f., 97–102.

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II. Die Breslauer Historiographie zur Zeit Büschings: Herkunft und Wirken der Akteure Die Personen und Personenkreise, die sich in den ersten beiden Dezennien des 19. Jahrhunderts (also in jener Phase, in der die akademische Karriere Büschings ihren Anfang nahm) in Breslau und Umgebung geschichtswissenschaftlich betätigten, können nach dem Beginn ihres Wirkens in Schlesien in drei Gruppen unterteilt werden. Es sind zum einen die Personen, deren Wirksamkeit schon vor 1810 eingesetzt hatte und die auch zur Zeit Büschings noch aktiv waren. Die zweite Gruppe bilden Wissenschaftler, die um 1810, also etwa zeitgleich mit Büsching nach Breslau kamen; in einer dritten Gruppe schließlich sind jene Gelehrten zusammengefasst, die erst um 1815 ins Oderland kamen. Diejenigen Personen, die schon im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts tätig waren und in der Zeit Büschings weiterhin wirkten, standen zum Teil noch in unmittelbarer zeitlicher Beziehung zu Samuel Benjamin Klose, der als Rektor des Heilig-Geist-Gymnasiums drei Jahrzehnte lang literarisch und historiographisch tätig gewesen war und am Beginn der aufklärerisch-quellenkritischen Geschichtsschreibung über Breslau und Schlesien stand.85 Es sind Persönlichkeiten, die in den Jahren 1751 bis 1784 geboren waren, also 1811 ein Lebensalter zwischen 27 und 60 Jahren erreicht hatten – ein Befund, der im Blick auf die Geburtsjahrgänge unspezifisch ist. Die Mehrzahl von ihnen stammte aus Schlesien, aber nur zwei, Christian Friedrich Paritius und Michael Morgenbesser, waren gebürtige Breslauer. Mehrere dieser Personen waren nach Beendigung des Studiums nach Schlesien gekommen und hatten sich im Oderland so eingelebt, dass sie sich kulturell und historiographisch betätigten. Aus dem westlich benachbarten sächsisch-thüringischen Raum stammten Johann Kaspar Friedrich Manso und Peter Friedrich Kanngießer. Manso war 1759 in ZellaMehlis geboren worden und nach dem Studium in Jena und einer ersten Lehrerstelle in Gotha 1790 nach Breslau gekommen, wo er noch im gleichen Jahr Prorektor, 1793 dann Rektor des Maria-Magdalenen-Gymnasiums wurde, was er bis zu seinem Tod 1826 blieb.86 Er entfaltete eine reichhaltige Publikationstätigkeit zu Themen der antiken Geschichte – etwa zu den Ostgoten87 –, schrieb aber auch eine Darstellung der jüngsten preußischen Geschichte seit dem Siebenjährigen Krieg,88 ohne dass er sich der schlesischen Geschichte im engeren Sinn gewidmet hätte. Peter Friedrich Kanngießer 85 Harc, Lucyna: Samuel Benjamin Klose (1730–1798). Studium historiograficzno-źródłoznawcze. Wrocław 2002 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2389; Historia 157); Garber: Das alte Breslau, 361–366. 86 Lux, Konrad: Johann Kaspar Friedrich Manso. Der schlesische Schulmann, Dichter und Historiker. Leipzig 1908 (Breslauer Beiträge zur Literaturgeschichte 14, N.F. 4), 9–16; Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter, 220f. 87 Manso, Johann Kaspar Friedrich: Geschichte des Ost-Gothischen Reiches in Italien. Breslau 1824. Vgl. Lux: Manso, 234–243. 88 Manso, Johann Kaspar Friedrich: Geschichte des preussischen Staates vom Frieden zu Huberts-

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kam 1774 in Glindenberg bei Wolmirstedt zur Welt, gelangte nach dem Studium in Halle 1799 als Lehrer zunächst nach Bunzlau und unterrichtete seit 1805 klassische Literatur am Maria-Magdalenen-Gymnasium, bevor er nach seiner Breslauer Habilitation 1817 als Professor für Geschichte nach Greifswald ging.89 Auch ihn bewegte die schlesische Geschichte kaum: Er veröffentlichte 1815 einen großen Grundriss der Altertumswissenschaft,90 bevor er sich in Greifswald der pommerschen Landesgeschichte zuwandte.91 Jerzy Samuel (Georg Samuel) Bandtkie, 1768 in Lublin geboren, kam nach dem Studium in Halle und Jena 1798 nach Breslau, wo er bis 1811 als Lehrer am ElisabethGymnasium und seit 1804 als Rektor der Heilig-Geist-Schule wirkte. Auch wenn er bereits 1811, zu Beginn des Wirkens Büschings, als Direktor der Jagiellonenbibliothek nach Krakau berufen wurde, kann er mit Blick auf sein historiographisches Wirken in Breslau nicht übergangen werden.92 Sein Werk Historisch-kritische Analecten von 1802 bot eine – wenngleich nicht systematisch angelegte – frühe wissenschaftliche Thematisierung der Geschichte Osteuropas in einem breiten, von Brandenburg bis Russland reichenden Verständnis.93 Noch weiter von Schlesien entfernt lag der Geburtsort von Johann Jacob Heinrich Ebers, der 1781 in Flensburg zur Welt gekommen war. Nach dem Medizinstudium in Frankfurt an der Oder kam er 1806 nach Breslau, wo er fast ein halbes Jahrhundert die Irrenabteilung des städtischen Allerheiligen-Krankenhauses leitete. Er war eine wichtige Persönlichkeit für die Entfaltung des kulturellen und künstlerischen Lebens in Bres-

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burg bis zur zweiten Pariser Abkunft, Bd. 1–3. Frankfurt a. M. 1819–1820. Vgl. Lux: Manso, 214–234. Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter, 197. Kanngiesser, Peter Friedrich: Grundriss der Alterthumswissenschaft. Halle 1815. Ders.: Geschichte von Pommern bis auf das Jahr 1129, Bd. 1: Umfaßt die heidnische Zeit. Greifswald 1824. Zu Kanngiesser vgl. Szultka, Zygmunt: Profesor Peter Friedrich Kanngiesser – ­zapomniany badacz słowiańszczyzny i kaszubszczyzny. In: Acta Cassubiana 6 (2004) 51–61; Czolkoß, Michael: Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft an der Universität Greifswald 1765–1863. In: Hegewisch, Niels/Spieß, Karl-Heinz/Stamm-Kuhlmann, Thomas (Hg.): ­Geschichtswissenschaft in Greifswald. Festschrift zum 150jährigen Bestehen des Historischen Instituts der Universität Greifswald. Stuttgart 2015 (Beiträge zur Geschichte der Universität Greifswald 11), 9–52, hier 16, 38. Ausführliche biobibliographische Nachweise bietet Budzyk, Kazimierz (Hg.): Bibliografia literatury polskiej „Nowy Korbut“, Bd. 4: Oświecenie: Hasła ogólne, rzeczowe i osobowe A – H. Warszawa 1966, 215–220; Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter, 136. Bandtke, George Samuel: Historisch-kritische Analecten zur Erläuterung der Geschichte des ­Ostens von Europa. Breslau 1802. Vgl. Barycz, Henryk: J. S. Bandtkie a Śląsk. Z dziejów ­pierwszych zainteresowań się nauki polskiej Śląskiem. Katowice 1936 (Polski Śląsk. Odczyty i ­rozprawy 21); ders.: Jerzy Samuel Bandtkie, jego osobowość i rola w rozwoju kultury narodowej. Katowice 1948 (Biblioteka Zarania Śląskiego 12); Kamusella, Tomasz: Silesia and Central European nationalisms. The emergence of national and ethnic groups in Silesia, 1848–1918. West Lafayette, Ind. 2007, 64.

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lau.94 In historiographischer Hinsicht ragt seine quellenbasierte sozialgeschichtliche Studie zum Armenwesen der Stadt Breslau seit dem 16. Jahrhundert hervor.95 Von den gebürtigen Schlesiern war der 1751 in Glogau geborene Karl Konrad Streit der älteste. Nach dem Studium in Frankfurt an der Oder gewann er seit 1773 durch seine journalistisch-literarische Aktivität eine für das Kulturleben Breslaus außerordentliche Bedeutung, in erster Linie durch seine Herausgeberschaft der Schlesischen Provinzialblätter von 1785 bis zu seinem Tod 1826, als Büsching diese Funktion von ihm übernahm.96 Um wenige Jahre jünger als Streit war der 1756 in Glatz geborene Eligius Alois Jung. Er war der einzige der vor der Universitätsgründung von 1811 historiographisch profilierten Personen, der als professioneller Historiker anzusprechen ist. Als Professor für Geschichte an der Leopoldina (seit 1791) wurde er an die neue Universität noch übernommen, doch schon im Folgejahr pensioniert.97 Johann Gottlob Worbs, 1760 im oberlausitzischen Friedeberg am Queis geboren, war nach dem Studium in Halle seit 1787 Pfarrer in Priebus und später Superintendent von Sagan geworden und setzte außerhalb Breslaus Maßstäbe für die frühe wissenschaftliche Geschichtsforschung in der Niederlausitz und in Niederschlesien,98 wobei er besonderes Augenmerk auf die Publikation von Quellen legte.99 Wegen seiner hierbei gesammelten Erfahrungen wurde er, wie schon erwähnt, 1812 um einen Archivordnungsplan für das neue Breslauer Archiv gebeten – was ihn auf eine dortige Anstellung hoffen ließ, doch wurde statt seiner dann Büsching berücksichtigt.

94 Zu Ebers vgl. Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter, 155; Holtz, Kunstverein, 6 Anm. 20, 14f. 95 Ebers, Johann Jacob Heinrich: Das Armenwesen der Stadt Breslau nach seiner früheren und ­gegenwärtigen Verfassung dargestellt nebst einem Versuch über den Zustand der Sittlichkeit der Stadt, in alter und neuer Zeit. Breslau 1828. 96 Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter, 73–77; Garber: Das alte Breslau, 389–391. 97 Publizistisch trat er lediglich mit einer einzigen Schrift hervor. Vgl. Jung, Eligius Alois: Kurze Geschichte der Teutschen, oder Handbuch der teutschen Reichsgeschichte. Breslau 1806. Zu ihm vgl. Conrads, Norbert: Alleinstellung oder Parität? Die Konfessionen in der preußischen Reformuniversität. In: Becker, Thomas (Hg.): Die Gründung der drei Friedrich-Wilhelms-­ Universitäten. Universitäre Bildungsreform in Preußen. Berlin u. a. 2013 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 108), 105–123, hier 117; Herzig, Arno: Geschichtsforschung in der Metropole Schlesiens. Das Historische Seminar der Universität Breslau im 19.  Jahrhundert. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und ­Geschichtsforschung, 73–83, hier 76. 98 Dolański, Dariusz: Johann Gottlob Worbs, ein Historiker Schlesiens und der Lausitz. In: Lětopis. Časopis za rěč, stawizny a kulturu Łužiskich Serbow / Zeitschrift für sorbische Sprache, ­Geschichte und Kultur 46/1 (1999) 34–39. 99 Neues Archiv für die Geschichte Schlesiens und der Lausiz, Bd. 1. Glogau 1804. Das zweibändige Werk widmet sich etwa je zur Hälfte des Umfangs Schlesien und der Niederlausitz; beide Teile enthalten umfangreiche Urkundenpublikationen. Vgl. Schlesische Dokumente (81–198), Niederlausitzische Dokumente (307–378). Zur Einordnung von Worbs’ Quellenarbeit vgl. Kraus: Der Beitrag der Dilettanten, 204–207.

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Gebürtiger Breslauer war Christian Friedrich Paritius, geboren 1775, der bis 1806 als Bau-Kondukteur beschäftigt war, sich dann aber als Privatier literarischen und historischen Forschungen widmete, in erster Linie der Sammlung und Verzeichnung, etwa der Grabinschriften der Breslauer Kirchen.100 Michael Morgenbesser, 1782 in Breslau geboren, war nach kurzer Tätigkeit in Glogau seit 1811 Rektor der Breslauer Bürgerschule zum Heiligen Geist.101 Er veröffentlichte eine Geschichte der St. Bernhardin-Bibliothek102 und 1829 zudem eine populäre einbändige Geschichte Schlesiens,103 von der er auch eine verkürzte Schulfassung anfertigte.104 Schließlich ist als jüngster Vertreter in dieser Gruppe der 1784 in Grünberg geborene Karl Adolf Menzel zu nennen, der als Lehrer zuerst in Liegnitz und seit 1809 am Breslauer Elisabeth-Gymnasium unterrichtete, dessen Prorektor er später wurde.105 Er war zeitlebens publizistisch höchst aktiv. Schon in den Jahren 1805 bis 1807, also mit kaum über zwanzig Jahren, hatte er eine topographische Chronik von Breslau106 und kurz darauf eine dreibändige Geschichte Schlesiens107 veröffentlicht. Es folgte seit 1815 die fortwährende Arbeit an einer vielbändigen deutschen Geschichte „von den ältesten Zeiten“.108 Eine zweite Gruppe von Personen, die historiographisch aktiv waren, trat zeitlich gemeinsam mit Büsching in den Jahren 1810/11 in Schlesien auf. Es sind Personen, die bis zu zehn Jahre älter oder bis zu sechs Jahre jünger als Büsching waren. Die ersten Historiker, die 1811 an die neue Universität berufen wurden, verliehen der schlesischen Geschichtsforschung kaum Impulse. Der bereits erwähnte Eligius Jung wurde schon nach einem Jahr pensioniert. Gabriel Gottfried Bredow wiederum, der zuvor in Helmstedt und Frankfurt an der Oder eine Geschichtsprofessur innegehabt hatte, war in Breslau als Regierungsrat für die Aufsicht über die gelehrten Schulen des Regierungsbe100 Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter, 235; Garber: Das alte Breslau, 357–360. 101 Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter, 227. 102 Morgenbesser, Michael: Geschichte des Hospitals und der Schule zum heiligen Geiste so wie auch der Bibliothek zu St. Bernhardin zu Breslau. Breslau 1814. Vgl. Garber, Klaus: Bücherhochburg des Ostens – Die alte Breslauer Bibliothekslandschaft, ihre Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und ihre Rekonstruktion im polnischen Wrocław. In: ders. (Hg.): Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit, Bd. 1. Berlin 2005 (Frühe Neuzeit 111), 539–653, hier 570– 574; ders.: Das Alte Breslau, 173, 519 Anm. 61. 103 Morgenbesser, Michael: Geschichte Schlesiens. Ein Handbuch, Breslau 21833 [11829]. Die Darstellung erschien später noch zweimal in Neubearbeitung. Vgl. Schubert, Heinrich (Hg.): Michael Morgenbessers Geschichte von Schlesien. Breslau 31892 [41908]. 104 Morgenbesser, Michael: Geschichte Schlesiens. Ein Leitfaden für Schüler. Breslau 31839 [11836]. 105 Markgraf: Die Entwicklung, 18f., 21f.; Schwarzer, Otfried: Karl Adolf Menzel. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 18. und 19. Jahrhunderts. Breslau 1926 (Schlesische Lebensbilder 2), 173–183; Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter, 224. 106 Menzel, Karl Adolf: Topographische Chronik von Breslau, Bd. 1–2. Breslau 1805–1807. Vgl. Garber: Das alte Breslau, 221. 107 Menzel, Karl Adolf: Geschichte Schlesiens, Bd. 1–3. Breslau 1808–1809. 108 Ders.: Die Geschichten der Deutschen, Bd. 1–8. Breslau 1815–1823; ders.: Neuere Geschichte der Deutschen seit der Reformation, Bd. 1–12. Breslau 21854–1855 [11826–1848].

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zirks Breslau zuständig; er starb nur wenig später.109 In Breslau publizierte er PlutarchÜbersetzungen110 sowie eine Monographie über Karl den Großen aus Anlaß von dessen 1000. Todesjahr.111 Friedrich von Raumer erhielt nach Jahren der Berliner Verwaltungstätigkeit im Umfeld von Karl August von Hardenberg und einer Heidelberger Promotion 1811 in Breslau eine Professur für Staatswissenschaften und Geschichte, folgte aber schon 1819 einem Ruf an die Berliner Universität.112 Auch er widmete sich in seiner Breslauer Zeit nicht der schlesischen Geschichte, sondern einer Darstellung der Stauferzeit, die 1823/25 in sechs Bänden erschien.113 Von den beiden fast gleich alten Schlesiern: Joseph Ignaz Ritter, geboren 1787, und Johann Gottlieb Kunisch, geboren 1789, ist hier vor allem Kunisch zu nennen.114 Aus Brieg gebürtig, studierte er in Frankfurt an der Oder, wo er ein Schüler Bredows wurde und nach beider Wechsel nach Breslau in engem Kontakt zu seinem Lehrer blieb. An Bredows Millenniumsschrift für Karl den Großen beteiligte er sich mit der ersten Übersetzung von Einhards Karls-Vita ins Deutsche;115 später gab er die nachgelassenen

109 Die erste biographische Würdigung verfasste einer seiner Schüler. Vgl. Kunisch, Johann ­Gottlieb: Gabriel Gottfried Bredow. Eine biographische Skizze. In: Bredow, Gabriel Gottfried: Nachgelassene Schriften. Mit dem Bildniss und dem Leben des Verfassers. Hg. v. J[ohann] G[ottlieb] Kunisch. Breslau 11816 [21823 u. d. T.: Schriften von G. G. Bredow. Ein Nachlaß. Mit dem Bildniß und dem Leben des Verfassers], VII–XX. Zu Bredows Breslauer Jahren vgl. ebd., XIV–XVI; Kaufmann, Georg/Ziekursch, Johannes: Geschichte. In: Kaufmann (Hg.): Festschrift, Bd. 2, 359–368, hier 359; Gerber, Die Schlesischen Provinzialblätter, 147; Ahrens, Sabine: Die Lehrkräfte der Universität Helmstedt (1576–1810). Helmstedt 2004 (Veröffentlichungen der Kreismuseen Helmstedt 7), 32f. 110 ����������������������������������������������������������������������������������������� Plutarch’s Themistokles und Kamillus, Alexander und Julius Cäsar, übersetzt mit Anmerkungen von G[abriel] G[ottlieb] Bredow. Breslau/Leipzig 1814. 111 Ders.: Karl der Grosse wie Eginhart ihn beschrieben, die Legende ihn dargestellt, Neuere ihn beurtheilt haben. Bei der Feier seines tausendjährigen Gedächtnisses in Erinnerung gebracht. Altona 1814. 112 �������������������������������������������������������������������������������������� Kaufmann/Ziekursch: Geschichte, 360; Herzfeld, Hans: Friedrich von Raumer. In: Mitteldeutsche Lebensbilder, Bd. 3: Lebensbilder des 18. und 19. Jahrhunderts. Magdeburg 1928, 318–361, hier 330–333; Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter, 243. 113 Raumer, Friedrich von: Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit, Bd. 1–6. Leipzig 51878 [11823]. Vgl. hierzu auch Raumers Bemerkungen über die Archivarbeiten in Rom: ders.: Lebenserinnerungen und Briefwechsel, Bd. 1–2. Leipzig 1861, hier Bd. 1, 251–255. Zur Wirkungsgeschichte vgl. Haussherr, Reiner (Hg.): Die Zeit der Staufer. Geschichte – Kunst – Kultur, Bd. 1: Katalog. Stuttgart 1977, 714f. Von der umfangreichen Darstellung erschien noch 1968 eine einbändige gestraffte Fassung. Vgl. Milatz, Alfred (Bearb.): Geschichte der Hohenstaufen und ihrer Zeit. Düsseldorf 1968 [ND Kronberg/Ts. 1977]. 114 Zu ihm vgl. Nowack, Karl Gabriel: Schlesisches Schriftsteller-Lexikon oder bio-bibliographisches Verzeichnis der im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts lebenden schlesischen Schriftsteller, Bd. 2. Breslau 1838, 90–92; Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter, 212. 115 Leben und Thaten Kaiser Karls beschrieben durch Eginhart. Aus dem Lateinischen übersetzt von J. G. Kunisch. In: Bredow: Karl der Grosse, 28–96.

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Schriften Bredows heraus.116 Seit 1812 war Kunisch Lehrer am Friedrichs-Gymnasium in Breslau; er beteiligte sich an Büschings Edition der Jahrbücher von Nikolaus Pol und gab danach Peter Eschenloers Geschichte der Stadt Breslau heraus. Joseph Ignaz Ritter wiederum wurde nach dem Studium in Breslau, der gleichfalls dort empfangenen Priesterweihe (1811) und seinem theologischem Doktorat 1821 Professor in Bonn. 1830 kehrte er an die Oder zurück; er gehört in seiner historiographischen Tätigkeit aber nicht mehr dem hier betrachteten Zeitraum an.117 In einer dritten Gruppe sind die Personen zusammengefasst, die erst nach 1815 nach Breslau kamen. Ihre Angehörigen zeichnen sich dadurch aus, dass sie einen weiteren historiographischen Professionalisierungsschub verkörpern, dass unter ihnen der Anteil der gebürtigen Schlesier noch weiter zurückgeht und dass für sie die Institutionen der Geschichtsforschung, also vor allem für Universität und Archiv, als Fundierung individueller Forschung stärker in den Vordergrund treten. Der bei weitem älteste Historiker dieser Gruppe war der 1767 in Gotha geborene Ludwig Wachler. Er wirkte nach Studien in Jena und Göttingen zunächst als Professor für Geschichte in Rinteln und Marburg, bevor er – bereits als namhafter Wissenschaftler – als Nachfolger Bredows 1815 nach Breslau kam.118 Wachler übernahm neben seiner Professur bis 1822 (dem Jahr von Stenzels Amtsantritt) die Leitung des Archivs119 und war 1830/31 zudem Rektor der Universität. Zur Zeit seines Wechsels an die Oder erschien gerade sein monumentaler, aus fünf Bänden bestehender Überblick über die Geschichte der Historiographie seit etwa 1300.120 In Breslau folgte unter anderem ein für den akademischen Unterricht konzipiertes Handbuch, das historische Methode und Grundlagenwissen zugleich vermitteln wollte.121 Im gleichen Jahr wie Wachler kam der aus dem mecklenburgischen Ludwigslust gebürtige klassische Philologe Franz Passow nach Breslau. Er ist hier nicht wegen seines wissenschaftlichen Profils zu nennen, sondern als Nachfolger Büschings in der Funktion des Leiters des Museums für Kunst und Altertümer.122 In direkter Beziehung zu 116 Bredow: Nachgelassene Schriften. 117 Weitlauff, Manfred: Art. Ritter, Joseph Ignaz. In: Neue Deutsche Biographie 21 (2003) 665f. 118 Wachler, Max: Ludwig Wachler. In: Schnack, Ingeborg (Hg.): Lebensbilder aus Kurhessen und Waldeck 1830–1930, Bd. 4. Marburg a. d. Lahn 1950, 404–415; Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter, 273; Wolfes, Matthias: Art. Wachler, Johann Friedrich Ludwig. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 21 (2003) Sp. 1513–1519; Löffler, Robert: ­Pädagogik, Politik, Wissenschaft. Der Historiker Ludwig Wachler (1767–1838) in seiner Zeit. Frankfurt a. M. u. a. 2011, 53–73. 119 Krusch: Geschichte, 48–52, 98–100, 347. 120 ���������������������������������������������������������������������������������������� Wachler, Ludwig: Geschichte der historischen Forschung und Kunst seit der Wiederherstellung der litterärischen Cultur in Europa, Bd. 1–5. Göttingen 1812–1820. Vgl. Löffler: Pädagogik, 181–189. 121 �������������������������������������������������������������������������������������� Wachler, Ludwig: Lehrbuch der Geschichte zum Gebrauche bei Vorlesungen auf höheren Unterrichtsanstalten. Breslau 61838 [11816]. Vgl. Löffler: Pädagogik, 176–181. 122 Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter, 235f.; Kinne: Die klassische Archäologie, 106– 130; Bończuk-Dawidziuk: Geschichtspflege, 322.

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Büsching stand ferner Johann Karl Friedrich Jarick, der seit 1816 als dessen Mitarbeiter bei der Urkundenverzeichnung tätig war. Er verteidigte 1820 eine rechtsgeschichtliche Dissertation,123 starb aber schon zwei Jahre später, im Alter von nur 32 Jahren.124 Ernst Theodor Gaupp aus Klein Gaffron bei Raudten wurde nach juristischen Studien in Breslau, Berlin und Göttingen an der Breslauer Alma Mater erst Privatdozent, 1829 dann ordentlicher Professor.125 In zahlreichen Veröffentlichungen widmete er sich der mittelalterlichen Rechtsgeschichte, wobei er – vorwiegend in den 1820er Jahren – auch landesgeschichtliche, spezifisch schlesische Aspekte behandelte.126 Die Anstöße Büschings zur Erforschung der ältesten materiellen Überlieferung Schlesiens griff der aus Oldenburg stammende Friedrich Karl Hermann Kruse auf, der seit 1816 Lehrer am Maria-Magdalenen-Gymnasium in Breslau war. Schon 1821 wechselte Kruse jedoch auf eine Geschichtsprofessur in Halle, von wo er 1828 nach Dorpat berufen wurde.127 1819 veröffentlichte er in Büschings Wöchentlichen Nachrichten für Freunde der Geschichte, Kunst und Gelahrtheit im Mittelalter eine umfangreiche Dokumentation vorchristlicher Begräbnisstätten in Schlesien,128 wobei er sich ausdrücklich auf Büschings Initiativen zur Dokumentation der materiellen Überlieferung bezog.129 Seine Arbeit widmete Kruse niemand anderem als Gustav Adolf Harald Stenzel, der damals noch Privatdozent in Berlin war. Selbst aus Zerbst gebürtig, kam Stenzel 1820 zunächst als Extraordinarius und zweiter Archivar neben Büsching nach Breslau. Seine 123 Jarick, Johann Karl Friedrich: De Judiciis Dei sive de ordaliis medii aevi commentatio juris ­teutonici historica. Vratislaviae 1820. 124 Krusch: Geschichte, 64–71, 78, 81, 94f., 102–111; Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter, 193f.; Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 52; Żerelik: Das Königliche ­Akademische Provinzialarchiv, 383. 125 Wattenbach, Wilhelm: Bericht über die Vereins-Etatszeit vom Oktober 1856 bis Oktober 1860. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 3 (1860) 383–391 hier 385; Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter, 166. 126 Gaupp, Ernst Theodor: Das schlesische Landrecht oder eigentlich Landrecht des Fürstenthums Breslau von 1356, an sich und in seinem Verhältnis zum Sachsenspiegel dargestellt. Beigefügt sind 1. einige Nachträge zu der Schrift über das alte Magdeburgische und Hallische Recht, 2. ein Verzeichnis von 24 Handschriften mit deutschen Rechtsquellen des Mittelalters. Leipzig 1828 [ND Aalen 1966]; ders.: Das alte magdeburgische und hallische Recht. Breslau 1826; ders.: Die Stiftungsurkunde des Königs Wladislaus von Böhmen und Ungarn, vom 20. Juli 1505, für die in Breslau zu gründende Universität, aus dem Original mitgetheilt, und mit Einleitung und Anmerckungen versehen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 1 (1856) 229–244. 127 Gummel: Forschungsgeschichte, 435f.; Lenz, Wilhelm (Hg.): Deutschbaltisches biographisches Lexikon 1710–1960. Köln u. a. 1970, 420f. 128 Kruse, Friedrich Karl Hermann: Budorgis oder etwas über das alte Schlesien vor Einführung der Christlichen Religion besonders zu den Zeiten der Römer nach gefundenen Alterthümern und den Angaben der Alten. In: Büschings wöchentliche Nachrichten für Freunde der Geschichte, Kunst und Gelahrtheit des Mittelalters 4 (1819) 227–398; die Schrift erschien auch selbständig (Leipzig 1819). Vgl. Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 121. 129 Gummel: Forschungsgeschichte, 110–115.

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Tätigkeit an der Universität, im Archiv – wo er mit seinem neun Jahre älteren Kollegen bald in Konflikt geriet130 – und im Dienst der Organisation einer geschichtlich interessierten Öffentlichkeit leitet zu einer neuen Etappe der schlesischen Geschichtsforschung über.

III. Zusammenschau: Netzwerk- und Gruppenbildung im Kontext der Genese der schlesischen Landesgeschichtsforschung Diese Historiker, die im Zeitraum von 1810 bis etwa 1830 in Schlesien tätig waren, sollen nun als Gruppe und in ihren Beziehungen untereinander und nach außen konturiert werden. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die jungen, noch im Aufbau befindlichen Institutionen der Geschichtsforschung – sprich: die Universität selbst, die Universitätsbibliothek sowie das Landesarchiv – die schlesische Landesgeschichte dieser Jahre noch kaum prägen konnten. Als Historiker an der Universität lehrten im Jahr ihrer Gründung 1811 zunächst Eligius Alois Jung und Gabriel Gottfried Bredow, zu denen im selben Jahr noch Friedrich von Raumer stieß. 1815 kam Ludwig Wachler für den verstorbenen Bredow nach Breslau, während Büsching zur gleichen Zeit seine Lehrätigkeit an der Universität aufnahm. Im Frühjahr beziehungsweise im Herbst 1820 begannen Gustav Adolf Harald Stenzel und der Rechtshistoriker Ernst Theodor Gaupp ihre langjährige – bis 1854 (Stenzel) beziehungsweise sogar bis 1859 (Gaupp) dauernde – Laufbahn in Breslau. Von den drei Genannten beschäftigten sich Büsching und Stenzel intensiv mit Fragen der schlesischen Geschichte, Gaupp tat dies zumindest teilweise. Während Büsching (bis 1825), Wachler (seit 1815) und Stenzel (seit 1822) eng an das Provinzialarchiv ­angebunden waren, war die Universitätsbibliothek bis 1812 Büschings wichtigster beruflicher Bezugspunkt gewesen; von 1824 bis 1838 wurde diese dann von Wachler geleitet. Eine größere Bedeutung für die frühe Landesgeschichtsforschung als die genannten drei Institutionen hatten freilich die Dilettanten, die „begeisterten Liebhaber“ der Geschichte – jene „Juristen, Pfarrer, Ärzte und Archivare“, „die meist unzulänglich geschult waren“ und von Andreas Kraus als die wahren Träger der aufklärerischen Geschichtsforschung beschrieben worden sind.131 Diesem Historikertyp war vor dem Hintergrund seiner Ausbildung, aber ebenso in seinem Engagement und seiner disziplinären Sprunghaftigkeit auch Büsching in mancher Hinsicht noch verbunden. Einen wichtigen Anteil stellten in dieser Gruppe die (von Kraus nicht eigens angesprochenen) Lehrer. Diese geschichtsschreibenden Pädagogen waren zwar im ganzen 19. Jahrhundert für die ortsund landesgeschichtliche Forschung von erheblicher Bedeutung – wofür sie im Übrigen nur wenig Aufmerksamkeit gefunden haben –, doch erscheint ihre Rolle im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts angesichts der geringen Bedeutung der Universitätshisto130 Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 53. 131 Kraus: Der Beitrag, 192, 225 (Zitat).

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riker besonders auffällig. Für Schlesien sind hier, was das Breslauer Maria-MagdalenenGymnasium betrifft, dessen langjähriger Rektor Johann Kaspar Friedrich Manso sowie Peter Friedrich Kanngießer und Friedrich Kruse zu nennen. Am Elisabeth-Gymnasium, das im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts von Samuel Benjamin Klose geleitet worden war, unterrichteten Jerzy Samuel Bandtkie und Karl Adolf Menzel, während wiederum Johann Gottlieb Kunisch über 35 Jahre am Friedrichs-Gymnasium tätig war. Als historiographisch engagierter Pfarrer indes ist lediglich Johann Gottlob Worbs in Priebus zu nennen; Johann Jacob Heinrich Ebers wirkte hauptberuflich als Arzt am Allerheiligen-Hospital in Breslau. Angesichts der erst 1811 gegründeten Universität verfügte keiner der hier erfassten Historiker über einen Breslauer Bildungshintergrund. Einige später in der schlesischen Metropole tätige Wissenschaftler hatten in Frankfurt an der Oder studiert, so Karl Konrad Streit (1768/72) und Johann Gottlieb Kunisch (1809/11), während Johann Jacob Heinrich Ebers nach einem medizinischen Studium in Berlin in Frankfurt an der Oder lediglich promoviert worden war (1806). Ganz überwiegend kamen die Absolventen von mitteldeutschen Universitäten. An erster Stelle steht die Universität ­Halle, wo Jerzy Samuel Bandtkie (1787/89), Friedrich von Raumer (1798/1800), Gabriel Gottfried Bredow (1794), Peter Friedrich Kanngießer (1795/99), Michael Morgenbesser (1801/04), Karl Adolf Menzel (1802/04) und auch Büsching (vor 1806) studiert hatten. In Jena hatten Johann Kaspar Friedrich Manso, Ludwig Wachler (1784/86) und Jerzy Samuel Bandtkie (1789/90) ihre Studien betrieben, in Göttingen Ludwig Wachler (1786/88) und Friderich von Raumer (1800/01), in Leipzig schließlich Friedrich Karl Hermann Kruse (1810/13) und Gustav Adolf Harald Stenzel (1810/15). Ein zentrales Mittel der Netzwerk- und Gruppenbildung in der sich herausbildenden schlesischen Geschichtswissenschaft waren die Kulturzeitschriften und die gelehrten Gesellschaften. An erster Stelle sind die Schlesischen Provinzialblätter zu nennen, die seit 1785 in Breslau erschienen und bis 1812 von Karl Konrad Streit und von Friedrich Albert Zimmermann herausgegeben wurden. Von 1812 an war Streit alleinverantwortlich, bevor er 1824 Büsching als Mitherausgeber hinzunahm, der nach Streits Tod 1826 wiederum bis 1829 für die Zeitschrift allein verantwortlich zeichnete.132 Schon vor seinem Engagement bei den Provinzialblättern hatte Büsching zwei Zeitschriftenprojekte angestoßen, die beide freilich nur kurzlebig waren. Angesichts des Fehlens eines eigentlich geschichtswissenschaftlichen Periodikums hatte er Anfang 1816 die Wöchentlichen Nachrichten für Freunde der Geschichte, Kunst und Gelahrtheit im Mittelalter initiiert, die in den ersten zwei Jahren wöchentlich, dann monatlich erschienen, bis Büsching 1819 das Vorhaben einstellte.133

132 Zur äußeren Geschichte der Zeitschrift, ihren Beiträgern und ihren Inhalten vgl. Gerber: Die Schlesischen Provinzialblätter. 133 Jessen: Büsching, 299f.; Bönisch-Brednich: Volkskundliche Forschung, 36; Hałub: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829, 75–77.

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Die 1803 gegründete Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie in Schlesien wurde 1809 neu organisiert und in Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur umbenannt,134 wobei 1809/12 zunächst sieben eigenständige Sektionen eingerichtet wurden.135 Die „Sektion für Kunst und Alterthum“ wurde anfangs von Johann Gottlieb Rhode, einem Lehrer an der Breslauer Kriegsschule, geleitet. 1819 übernahm Büsching die Sektionsleitung dann selbst und organisierte in dieser Funktion die jährlichen Kunstausstellungen.136 Die „Historisch-Geographische Sektion“ wurde zunächst von Johann Gottfried Scheibel geleitet, der seit 1811 als außerordentlicher Professor an der evangelischen Theologischen Fakultät lehrte. 1819/20 übernahm vorübergehend Friedrich Karl Hermann Kruse die Sektion, bevor sie seit 1821 als „Historische Sektion“ von Karl Adolf Menzel geleitet wurde.137 Für den Austausch unter den Mitgliedern wurde seit 1819 die Correspondenz der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur herausgegeben, die von Büsching redigiert wurde.138 Die Provinzialblätter und die Gesellschaft boten, auch wenn beide nicht ausschließlich historisch ausgerichtet waren, Raum für Mitteilung und Austausch unter den historisch Interessierten. Eine zusätzliche (wenngleich hinsichtlich ihrer Reichweite begrenztere) Kultur des wissenschaftlichen Austausches ermöglichte die Breslauer „Philomathie“. Als Zusammenschluss Breslauer Professoren gegründet, bestand sie von 1814 bis 1822 und lud wöchentlich zu öffentlichen wissenschaftlichen Vorträgen ein. Von den Historikern betätigten sich hier Büsching, Peter Friedrich Kanngießer, Friedrich von Raumer und Ludwig Wachler.139 Die veröffentlichten Vorträge waren immer wieder auch geschichtswissenschaftlich orientiert, berührten jedoch keinerlei schlesische Thematik.140 134 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Gerber: Die Schlesische Gesellschaft; Zach, Franziska: Die „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur“ im 19. Jahrhundert. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung, 121–141. 135 Im Einzelnen die „Naturwissenschaftliche Sektion“, die „Entomologische Sektion“, die „­Ökonomische Sektion“, die „Medizinische Sektion“, die „Pädagogische Sektion“, die „Sektion für Kunst und Alterthum“ sowie schließlich die „Historische Sektion“. Später wurden noch zahlreiche weitere Sektionen eingerichtet. Vgl. Gerber: Die Schlesische Gesellschaft, VIf. 136 Ebd., 59; Zach: Die Schlesische Gesellschaft, 135. 137 Gerber: Die Schlesische Gesellschaft, 63; Zach: Die Schlesische Gesellschaft, 136f. 138 Zach: Die Schlesische Gesellschaft, 129. 139 Löffler: Pädagogik, 61–67. 140 Ludwig Wachler gab drei Bände der im Rahmen der Gesellschaft gehaltenen Vorträge heraus. Vgl. ders. (Hg.): Philomathie von Freunden der Wissenschaft und Kunst, Bd. 1–3. Frankfurt a. M. 1818–1822. Als Beiträge aus der Geschichtswissenschaft sind zu nennen Passow, Franz: Über Tacitus Germania (Bd. 1, 19–61); Wachler, Ludwig: Über Johann von Müller (Bd. 1, 62–119); ders.: Luther Sprecher für die Rechte des Volkes (Bd. 1, 147–169); Schneider, Karl Ernst Christoph: Über Julius Caesars Charakter. Aus seinen Schriften (Bd. 1, 171–200); ­Passow, Franz: Über die romantische Bearbeitung hellenischer Sagen (Bd. 2, 103–130); ­Schneider, Karl Ernst Christoph: Beytrag zur Schilderung des Cicero aus seinen Briefen (Bd. 2, 131–181); Wachler, Ludwig: Über J. J. Rousseau (Bd. 3, 1–84); Passow, Franz: Geschichte der Demagogie in Griechenland (Bd. 3, 267–308).

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Die kleine Gemeinschaft schlesischer Historiker wird durch diese fachlichen Infrastrukturen auch einen engen persönlichen Austausch gepflegt haben. Indizien dafür sind die in dem kurzen behandelten Zeitraum zweimal dokumentierten Verschwägerungen: So heiratete der Altphilologe Franz Passow1816 Ludwig Wachlers Tochter Christine, während Gustav Adolf Harald Stenzel sich 1821 mit Gabriel Gottfried Bredows Tochter Marie vermählte. Die schlesischen Historiker des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts entfalteten eine Fülle von fachlichen Beziehungen zu Personen und Institutionen außerhalb des Oderlandes. Dabei wird man Büsching eine besonders exponierte, ja führende Stellung zuschreiben dürfen. Er wird ausweislich seiner wissenschaftlichen Reisen – 1809 durch Schlesien, 1817 durch Mitteldeutschland, 1820 nach Preußen –, seiner in diesem Zuge geknüpften Kontakte und seiner reichen wissenschaftlichen Publikationstätigkeit als eine ausgesprochen kommunikative Persönlichkeit anzusprechen sein. Diese Beurteilung wird durch seine ausgreifenden, gezielt die gesamte Provinz Schlesien einbeziehenden Bemühungen um Mitglieder im Verein zum Zweck der Finanzierung seiner Editionsprojekte bestätigt. Aus seinen frühen Bemühungen um die mittelalterliche deutsche Literatur erwuchs ein Kontakt mit Goethe in Weimar, der durch einen von 1807 bis 1824 zwischen den beiden kontinuierlich geführten Briefwechsel dokumentiert ist.141 In seinen ersten Breslauer Jahren waren Büschings wichtigste Beziehungen nach Berlin gerichtet. Das betraf zunächst die Rückbindung an die Berliner Kultusverwaltung zur Organisation der Sicherung der Kulturgüter der säkularisierten Klöster. Daneben pflegte er aber auch weiterhin die Beziehung zu seinem Freund und Kollegen von der Hagen, den er dazu bewegen konnte, den germanistischen Lehrstuhl in Breslau zu übernehmen. Seine Berliner Kontakte nutzte Büsching seit 1820, um aus der Königlichen Antikensammlung Abgüsse von Skulpturen für das Breslauer Museum zu erhalten. Mit entsprechenden Bitten wandte sich Büsching an das Bonner Antiquitäten-Museum und an Karl August Böttiger in Dresden wegen der dortigen Sammlung von Abgüssen. Mit dem Göttinger Kunsthistoriker Johann Dominik Fiorillo stand er im brieflichen Austausch; bei seiner eigenen Arbeit bezog er sich direkt auf ihn. Sein 1818 Konturen annehmender Verein brachte Büsching in unmittelbaren Kontakt zur wichtigsten vergleichbaren Initiative auf nationaler Ebene, der 1819 in Frankfurt am Main gegründeten Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, der Trägerin des Editionsunternehmens Monumenta Germaniae Historica. Er wurde auswärtiges Mitglied der Gesellschaft142 und vermochte es, das Anliegen des Schlesischen Vereins gleich im ersten Band der Zeitschrift der Gesellschaft bekannt machen zu lassen.143 141 Hecker: Aus der Frühzeit. 142 Aus Breslau wurden Büsching und Friedrich von Raumer im Juni 1819 zu auswärtigen Mitgliedern gewählt. Vgl. Bresslau, Harry: Geschichte der Monumenta Germaniae Historica. ­Hannover 1921 [ND Hannover 1976], 45f. 143 Büchler, Lambert: Anzeige des, von dem Professor Büsching in Breslau gestifteten, Schlesischen Vereins zur Unterstützung der Herausgabe einer Sammlung altdeutscher Denkmale der Ge-

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Zur gleichen Zeit war Büschings Ansehen als Kunsthistoriker im Berliner Umfeld so profiliert, dass der Oberpräsident der Provinz Westpreußen, Theodor von Schön, ihn um Unterstützung bei seinen Bemühungen um die Marienburg bat. Dass Büsching zudem nach Kopenhagen Kontakte knüpfte, ist zum einen seinen Interessen an Volkssagen und -märchen zuzuschreiben. In dieser Hinsicht trat er in enge Verbindung zu dem Bibliothekar und Volksliedersammler Rasmus Nyerup, dem er 1817 den dritten Band der Wöchentlichen Nachrichten für Freunde der Geschichte, Kunst und Gelahrtheit im Mittelalter widmete. Büsching wurde korrespondierendes Mitglied der Skandinavischen Schrifttumsgesellschaft (Det skandinaviske Litteraturselskab), die von Nyerup mitbegründet worden war und der er seine Tyr-Schrift widmete. Zum andern stand er 1823/25 bezüglich seiner archäologischen Forschungen im wissenschaftlichen Austausch mit Christian Jürgensen Thomsen, dem Begründer des sogenannten Drei-Perioden-Systems in der europäischen Urgeschichte. Das zweite und dritte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, die Zeit des Wirkens von Johann Gustav Büsching in Breslau, war für die schlesische landesgeschichtliche Forschung eine Zeit, in der verschiedene methodische Anregungen gegeben und Forschungsrichtungen angedeutet wurden. Dies betraf im Einzelnen die Kunstgeschichte, die Volkskunde, die Archäologie, die mittelalterliche Geschichte, die historischen Hilfswissenschaften sowie die Editionspraxis. Diese Anregungen wurden im überwiegenden Maß durch Büsching vermittelt, wurden nach seinem frühen Tod aber oft nicht weiterverfolgt. Stattdessen entwickelten die schlesischen Landeshistoriker, sei es nun an der Universität, am Provinzialarchiv oder in den Reihen des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens, nach 1829 vielfach neue Ansätze.

schichte und Kunst. In: Archiv der Gesellschaft für Ältere Deutsche Geschichtskunde 1 (1829) 161–168.

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Neue Forschungsmethode, neue Organisationsstrukturen: Zur wissenschaftlichen und wissenschaftsorganisatorischen Tätigkeit des Historikers Gustav Adolf Harald Stenzel (1792–1854) an der Universität Breslau Die wissenschaftshistorische Bedeutung von Gustav Adolf Harald Stenzel für das Fach Geschichte an der Universität Breslau lässt sich an der auf ihn zurückgehenden Etablierung des Historischen Seminars in seiner frühen Form, an der Einführung der historisch-kritischen Methode in Lehre und Forschung und der darauf fußenden Begründung der modernen Landesgeschichte Schlesiens festmachen. Zudem war er mit der Gründung des Vereins für Geschichte Schlesiens und der Ordnung des schlesischen Provinzialarchivs auch in wissenschaftsorganisatorischer Hinsicht wegweisend tätig.

I. Lebensabriss Gustav Adolf Harald Stenzel wurde am 21. März 1792 in Zerbst im Anhaltischen als Sohn eines Lehrers geboren. In Zerbst besuchte er auch die Schule und erwarb 1810 das Zeugnis der Reife. Zu Ostern 1810 schrieb er sich an der Universität Leipzig in der Theologischen und in der Philosophischen Fakultät ein. Den Schwerpunkt seines Studiums legte er zunächst auf die Philologie, schon bald jedoch auf die Geschichte. Die wissenschaftliche Ausbildung unterbrach er allerdings, um ab April 1813 als Freiwilliger im Bataillon Anhalt in der Nordarmee an den Befreiungskriegen teilzunehmen; nach schwerer Verwundung konnte er sein Studium erst im Sommer 1814 wieder aufnehmen.1 Im Folgejahr wurde er promoviert, vermutlich auf Grundlage seiner gekrönten Bearbeitung der Preisfrage der Jablonowskischen Gesellschaft Ueber den Einfluß der deutschen auf die polnische Kultur von der Einführung des Christentums bis zum Tode des Wladislaus Jagiello.2 Im Jahr danach habilitierte sich Stenzel in Leipzig mit der Schrift Dissertatio de ducum potissimum post tempora Caroli Magni origine, in der er sich mit dem Wiederaufleben des Stammesherzogtums in spät- und nachkarolingischer Zeit befasste.3 1 Rachfahl, Felix: Gustav Adolf Harald Stenzel. In: Andreae, Friedrich u.a. (Hg.): Schlesier des 19. Jahrhunderts. Sigmaringen 21985 [Breslau 11922] (Schlesische Lebensbilder 1), 298–305, hier 299. 2 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Gustav Adolf Harald Stenzel. In: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 11 (1898) 1–31, hier 5. 3 Ebd. 6f.; Markgraf, H[ermann]: Gustav Adolf Harald Stenzel’s Wirksamkeit und Bedeutung für die schlesische Geschichtsschreibung. Vortrag zur Erinnerung an seinen hundertjährigen Geburtstag. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 26 (1892) 395–417, hier 397; bei Rachfahl: Stenzel [1922], 299, ist dies die Promotionsschrift.

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Abb. 1: Mit der Hochzeit mit Maria Bredow 1821 zog Gustav Adolf Harald Stenzel in das eingeschossige Haus auf der Breslauer Sandinsel, hier auf einer Radierung von Maximilian von Großmann dargestellt. Im Wohntrakt des rechts davon gelegenen ehemaligen Augustiner-Chorherrenstifts befanden sich damals die Universitätsbibliothek und das Provinzialarchiv. Nach dem Oderhochwasser vom Sommer 1829 und der Überschwemmung der Insel – das Wohnhaus wurde danach abgerissen – wohnte die Familie Stenzel in der Matthiasstraße 8, später dann im Eckhaus Basteigasse/ Augustaplatz, also stets in der Nähe von Stenzels Arbeitsplätzen. Mit dem Umzug des Provinzialarchivs in das Ständehaus in der Graupenstraße 11b bezog die Familie die dortige Dienstwohnung für den Archivdirektor. Bildnachweis: [Andreae, Friedrich (Hg.)]: Aus dem Leben der Universität Breslau. Breslau 1936, Abb. 14.

Als Privatdozent las Stenzel in Leipzig ab Ostern 1816, ging dann nach Berlin, wo er ab Ostern 1817 Vorlesungen hielt, sich seinen Forschungen widmete und zudem Privatunterricht erteilte.4 Hier erschien 1820 seine im Oktober des Vorjahres fertiggestellte Arbeit Versuch einer Geschichte der Kriegsverfassung Deutschlands vorzüglich im Mittelalter. In Berlin in wirtschaftlich misslichen Verhältnissen lebend, erreichte ihn am 11. April 1820 der Ruf in das Amt eines Außerordentlichen Professors für Geschichte an der Universität Breslau,5 den er – wenn auch in der Hoffnung, die schlesische Haupt4 Rachfahl: Stenzel [1898], 7. 5 Herzig, Arno: Geschichtsforschung in der Metropole Schlesiens. Das Historische Seminar der Universität Breslau im 19. Jahrhundert. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 73– 83, hier 78.

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stadt bald wieder verlassen zu können – annahm. Versuche, nach Berlin oder Rostock zu wechseln, scheiterten jedoch,6 wohingegen Stenzel einen um 1840 ergangenen Ruf nach Heidelberg als Nachfolger Friedrich Christoph Schlossers ablehnte.7 Ab Mai 1820 lehrte Stenzel in Breslau und wurde per Königlicher Kabinettsordre vom 25. März 1827 zum Ordentlichen Professor ernannt.8 In Breslau ist er dann doch noch heimisch geworden, die Erforschung der Geschichte Schlesiens wurde Stenzels Berufung. 1821 heiratete er Marie Bredow, eine Tochter des ebenfalls in Breslau tätigen Historikers Gabriel Gottfried Bredow. In Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen wurde Stenzel in verschiedene wissenschaftliche Akademien als Korrespondierendes Mitglied gewählt: 1832 in die Bayerische, 1845 in die Preußische, 1853 in die Göttinger Akademie; im gleichen Jahr wurde er zudem Auswärtiges Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Wie viele andere „politische Professoren“ war er 1848/49 Abgeordneter der Frankfurter Nationalversammlung (für den schlesischen Wahlkreis Neumarkt) und gehörte zudem der Deputation an, die König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen im Frühjahr 1849 vergeblich die Kaiserkrone anbot. Von 1850 bis 1852 schließlich war er Mitglied der Zweiten Kammer des Preußischen Landtags. Zwei Jahre später, am 2. Januar 1854, ist Stenzel im 62. Lebensjahr in Breslau gestorben.

II. Vorbilder, Freunde und Förderer, Schüler Als Student hörte Stenzel in Leipzig bei den Philologen Gottfried Hermann9 und Christian Daniel Beck10 sowie bei den Historikern Ernst Karl Wieland11 und Hans Karl Dippoldt;12 Dippoldt schließlich war es, der ihn dazu ermunterte, schwerpunktmäßig das Fach Geschichte zu studieren und parallel dazu weiter seinen philologischen Interessen nachzugehen.13 Einen eigentlichen, ihn prägenden akademischen Lehrer hatte Stenzel allerdings nicht, wohl aber Vorbilder. Diese benannte er auch in der Widmung seines Werkes Geschichte Deutschlands unter den Fränkischen Kaisern an Heinrich Ritter:14 „Wenn Euch bei diesem Werke einzelne Spuren an die besonnene und umfassende 16 Rachfahl: Stenzel [1898], 9. 17 Stenzel, Karl Gustav Wilhelm: Gustav Adolf Harald Stenzels Leben. Gotha 1897, 316; Rachfahl: Stenzel [1922], 230. 18 Stenzel: Stenzel, 97. 19 Gottfried Hermann (1772–1848), Klassischer Philologe. 10 Christian Daniel Beck (1757–1832), Philologe. 11 Ernst Karl Wieland (1755–1828), Philosoph und Historiker. 12 Hans Karl Dippoldt (1783–1811), Historiker und Geograph. 13 Anonym [wohl Stenzel selbst, Anm. d. Verf.]: Stenzel, Gustav Adolf Harald. In: Nowack, Karl Gottlieb: Schlesisches Schriftsteller-Lexikon oder bio-bibliographisches Verzeichnis der im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts lebenden schlesischen Schriftsteller, Heft 1. Breslau 1836, 139– 146, hier 141. 14 Heinrich Ritter (1791–1869), Philosoph und Theologe.

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Forschung eines [Helfrich Bernhard] Wenck, an die scharfsinnigen Entwicklungen eines [Karl Friedrich] Eichhorn, an [Friedrich Christoph] Schlosser’s treuen, redlichen, schlichten Sinn, an [Arnold] Heeren’s Klarheit, an [ Johannes von] Müller’s warme Vaterlandsliebe erinnern – dann habt Ihr des Schülers Meister erkannt.“15 Dem folgend, schrieb Hermann Markgraf Stenzels Geschichtsauffassung und dessen Werk „die gediegene Gelehrsamkeit Helfrich Bernhard Wencks, de[n] Scharfsinn Karl Friedrich Eichhorns und vor allem die redlich ungeschminkte Wahrheitsliebe Friedrich Christoph Schlossers“ zu; „so läßt sich der Einfluß Schlossers in seiner Geschichtsauffassung, der Eichhorns in seiner Geschichtsforschung wohl erkennen.“16 Felix Rachfahl erkannte bei Stenzel in der streng kritischen Methode den Einfluss Gottfried Hermanns, im romantischen Element und im nationalen Einschlag der Stenzelschen Geschichtsschreibung den Einfluss Johannes von Müllers sowie im Realismus der Darstellung ebenfalls den Einfluss Karl Friedrich Eichhorns.17 Als sein Vorbild bezeichnete Stenzel zudem den Theologen Karl Immanuel Nitzsch,18 den er bereits um 1810, also zu Beginn seines Studiums, kennengelernt hatte: „Wie weit auch unsere wissenschaftlichen Bestrebungen in Kirche und Staat auseinander gingen, sie begegnen sich nun einander doch nach so langer Zeit wieder auf einem Wege“19 – dies lässt sich wohl als Hinweis auf ihre gemeinsame politisch-liberale Überzeugung verstehen. Studiert hatte Stenzel bei diesen Wissenschaftlern nicht, es ist jedoch offensichtlich, dass er durch die Lektüre ihrer Werke beeinflusst wurde. Hinweise auf Stenzels Freunde und Förderer sowie Kollegen, aber auch auf Personen, derer er gedenken wollte, geben die Widmungen seiner Werke. Zu „den ältesten der Freunde“20 gehörte Heinrich Ritter, der ein Jahr ältere, ebenfalls in Zerbst geborene Landsmann, mit dem er zusammen Griechisch gelernt hatte.21 Wie Stenzel hatte Ritter als Freiwilliger in den Befreiungskriegen gedient; seit 1824 lehrte er als Professor für Philosophie an der Berliner Universität. Zu den Förderern Stenzels – ­genauer: zu den Geldgebern für den Druck seiner Bücher – zählten zudem der Breslauer Fürstbischof Melchior Kardinal von Diepenbrock sowie der preußische Regierungsrat ­Gustav Adolf Tzschoppe.22 15 Stenzel, Gustav Adolf Harald: Geschichte Deutschlands unter den Fränkischen Kaisern, Bd. 1. Leipzig 1827, VI. Helfrich Bernhard Wenck (1739–1803), Pädagoge, Bibliothekar und Historiker; Karl Friedrich Eichhorn (1781–1854), Rechtshistoriker; Friedrich Christoph Schlosser (1776–1861), Historiker; Arnold Heeren (1760–1842), Historiker; Johannes von Müller (1752–1809), Geschichtsschreiber, Publizist und Staatsmann. 16 Markgraf: Stenzel’s Wirksamkeit, 396. 17 Rachfahl: Stenzel [1922], 299. 18 Karl Immanuel Nitzsch (1787–1868), Theologe. 19 ������������������������������������������������������������������������������������������� Stenzel, Gustav Adolf Harald (Hg.): Urkunden zur Geschichte des Bisthums Breslau im Mittelalter. Breslau 1845, V. 20 Ders.: Fränkische Kaiser, III, V (hier Zitat). 21 [Anonym]: Stenzel, 140. 22 Gustav Adolf von Tzschoppe (1794–1842), Verwaltungsjurist.

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Der Breslauer Bischof förderte die Herausgabe des Gründungsbuchs des Klosters Heinrichau, das Stenzel dem Andenken des im Jahr vor dem Erscheinen des Buches verstorbenen „freigebigen Beförderer dieses Werkes“23 widmete. Zur Urkundensammlung zur Geschichte des Ursprungs der Städte [...] in Schlesien und der Ober-Lausitz, die 1832 in Hamburg erschien, trug Tzschoppe nicht nur einige Oberlausitzer Urkunden bei, sondern besorgte auch die Gelder für die mit 658 Seiten recht umfangreiche Edition. Stenzel, der die wissenschaftliche Hauptleistung erbracht hatte, war so dankbar, dass er Tzschoppe an erster Stelle als Mitautor nannte. Beide Herausgeber widmeten ihr Werk König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, der sich mit der Verleihung jeweils einer Medaille revanchierte. Zudem erhielt Stenzel den Titel eines Geheimen Archivrats und einen Orden,24 während Tzschoppe in Anerkennung seiner Mitarbeit 1833 zum Direktor des Geheimen Staatsarchivs und Leiter der preußischen Archivverwaltung berufen wurde. Andere Publikationen widmete Stenzel solchen Kollegen, mit denen er von der Thematik der jeweiligen Arbeit her verbunden war. Die Breslauer Universitätsschrift des Jahres 1824 über die Markgrafen in Deutschland etwa widmete er dem Staatswissenschaftler und Historiker Karl Heinrich Ludwig Pölitz,25 den ersten Band seiner Geschichte Schlesiens dedizierte er dem „Andenken an Samuel Benjamin Klose, Rektor und Bibliothekar der Schule zu St. Bernhardin in der Neustadt Breslau, den um die Geschichte Schlesiens verdientesten Mann in dankbarer Erinnerung“.26 Mit der Widmung seiner ersten Buchveröffentlichung dankte er schließlich auch seinem Vater Balthasar Stenzel.27 Darüber hinaus hielt Stenzel als Briefschreiber Kontakt zu seinen Berufskollegen, korrespondierte etwa mit Leopold von Ranke, Georg Heinrich Pertz und Johann Friedrich Böhmer. Mehrere Personen werden als Schüler von Stenzel genannt, so der Philologe Theodor Jacobi,28 der Nationalökonom Karl Gustav Kries,29 der Historiker Theodor Paur,30 der

23 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Stenzel, Gustav Adolf Harald (Hg.): Liber fundationis claustri Sanctae Mariae Virginis in Heinrichow. Oder: Gründungsbuch des Klosters Heinrichau. Breslau 1854, III. 24 Rachfahl: Stenzel [1898], 17. 25 ����������������������������������������������������������������������������������������� Stenzel, Gustav Adolf Harald: De marchionum in Germania potissimum qui saeculo nono extitere, origine et officio publico Dissertatio. Wratislaviae 1824, vor 1. Karl Heinrich Ludwig Pölitz (1772–1838), Historiker und Staatswissenschaftler. 26 Stenzel, Gustav Adolf Harald: Geschichte Schlesiens, Th. 1: Von den ältesten Zeiten bis zum Jahre 1355. Breslau 1853, III. Samuel Benjamin Klose (1730–1798), Geschichtsforscher. 27 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Stenzel, Gustav Adolf Harald: Versuch einer Geschichte der Kriegsverfassung Deutschlands vorzüglich im Mittelalter. Berlin 1820, I–VI. Balthasar Stenzel (1750–1838), Lehrer. 28 Stenzel: Stenzel, 236; Rachfahl: Stenzel [1922], 303; ders.: Stenzel [1898], 6. Theodor Jacobi (1816–1848), Philologe. 29 Stenzel: Stenzel, 236; Rachfahl: Stenzel [1922], 303; ders.: Stenzel [1898], 6. Karl Gustav Kries (1815–1858), Nationalökonom. 30 Stenzel: Stenzel, 295 Anm. 1. Theodor Paur (1815–1892), Historiker, Philologe und Parlamentsabgeordneter.

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Schulmann Robert Sascke,31 der Gymnasiallehrer Julius Schmidt in Schweidnitz,32 der Gräfliche Bibliothekar Wilhelm Burghardt in Bad Warmbrunn,33 der Wirtschaftswissenschaftler Bruno Hildebrand,34 die Historiker August Mosbach35 und Heinrich Wuttke36 sowie der spätere preußische Hofbeamte Rudolf Graf von Stillfried-Alcántara.37 Als akademischer Lehrer bildete Stenzel keine eigene Schule aus; die genannten Namen zeigen jedoch zumindest einen Teil seiner personalen Beziehungen, seiner wissenschaftlichen Netzwerke, dem allerdings das Netzwerk seines politischen Tätigkeitsbereichs noch hinzuzufügen wäre.

III. Stenzels Berufung nach Breslau, sein Wirken an der Universität Über die Hintergründe zur Berufung Stenzels nach Breslau enthält die Fach- und Memoirenliteratur so gut wie keine Angaben. Der preußischen Unterrichtsverwaltung mögen die – wenigen – Veröffentlichungen, die darin erkennbare Anwendung der kritischen Methode und der Patriotismus Stenzels ausgereicht haben. Konfessionelle Beschränkungen galten an der 1811 ganz bewusst als bikonfessionelle Bildungsanstalt eingerichteten Universität Breslau nicht.38 Die Annahme Eduard Reimanns, Stenzels 1820 in Dessau erschienene Abhandlung Handbuch der Anhaltischen Geschichte habe ihn der Unterrichtsverwaltung möglicherweise empfohlen,39 ist offensichtlich falsch, erschien 31 Markgraf: Stenzel’s Wirksamkeit, 409. Robert Sascke, Lehrer. 32 Markgraf: Stenzel’s Wirksamkeit, 309f.; ders.: Der Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens in den ersten 50 Jahren seines Bestehens. Breslau 1896, 17. Julius Schmidt († 1892), Lehrer. 33 Markgraf: Der Verein, 17. Wilhelm Burghardt, Bibliothekar. 34 Rachfahl: Stenzel [1922], 303; ders.: Stenzel [1898], 6. Friedrich Bruno Hildebrand (1812– 1878), Wirtschaftswissenschaftler und Politiker. 35 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Jaworski, Paweł: Der „Literarisch-Slawische Verein“ in Breslau (1836–1886) als historische Gesellschaft. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 183–198, hier 188. August Mosbach (1817–1884), Historiker und Publizist. 36 ���������������������������������������������������������������������������������������� Gehrke, Roland: Heinrich Wuttke (1818–1876). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 12. Würzburg 2017, 197–211, hier 198. Johann Karl Heinrich Wuttke (1818– 1876), Historiker. 37 Rudolf Graf von Stillfried-Alcántara (1804–1882), Historiker, Heraldiker und ab 1840 Inhaber mehrerer hoher Funktionen am Berliner Hof. Vgl. den Beitrag von Franziska Zach in diesem Band. 38 Kaufmann, Georg/Ziekursch, Johannes: Geschichte. In: Kaufmann, Georg (Hg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau 1811–1911. Breslau 1911, 359–368, hier 359; Harasimowicz, Jan: Universitas litterarum Wratislaviensis. Powstanie – ustrój – etapy rozwoju/Universitas litterarum Wratislaviensis. Foundation ���������������������������������������������� – organisation – stages of development. In: ders. (Hg.): Księga Pamiątkowa Jubileusz 200-lecia utworzenia Państwowego Uniwersytetu we Wrocławiu/Commemorativ Book for the 200th Anniversary of the Establishment of the State University in Wrocław. Bd. 2: Universitas litterarum Wratislaviensis 1811–1945. Wrocław 2013, 82–121, hier 86f. 39 Reimann, E[duard]: Stenzel, Gustav Adolf Harald. In: Allgemeine Deutsche Biographie 36 (1893) 53–57, hier 54.

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Abb. 2: Brustbild von Gustav Adolf Harald Stenzel als Abgeordneter des Wahlkreises 22: Provinz Schlesien (Neumarkt) der in der Frankfurter Paulskirche tagenden Deutschen Nationalversammlung. Die Lithographie von Fritz Hickmann geht auf eine Daguerreotypie von Hermann Biow zurück. Sie erschien zuerst in der Abgeordnetenporträtsammlung Männer des deutschen Volks besonders nach Biow’s Lichtbildern auf Stein gezeichnet von Schertle und Hickmann, oder Deutsche National-Gallerie. Frankfurt a. M. 1848/49. Dieses Brustbild ziert auch als Frontispiz, nun in Form einer Photogravüre von Meisenbach, Riffarth & Co. Berlin, Stenzels Lebensbild aus der Feder seines ältesten Sohnes Karl Gustav Wilhelm. Bildnachweis: Stenzel, Karl Gustav Wilhelm: Gustav Adolf Harald Stenzels Leben. Gotha 1897, Frontispiz.

das Buch doch erst im Dezember 1820. Stenzels Vorwort stammte aus dem Vormonat, und auf dem Titelblatt bezeichnete sich der Verfasser bereits als „außerordentlicher Professor der Geschichte an der Universität zu Breslau“. Stenzel hatte in seiner Anfangszeit in Breslau freilich einen schweren Stand gegenüber seinen älteren Fachkollegen, insbesondere gegenüber dem Polyhistor und Literaturhistoriker Ludwig Wachler. Dies lag zum einen daran, dass sich das Fach Geschichte noch nicht als solches herausgebildet hatte, vielmehr etwa mit Geographie, Statistik, Ökonomie und weiteren Disziplinen gemeinsam unterrichtet wurde, zum anderen an der eben von Stenzel in seinen Lehrveranstaltungen in Breslau eingeführten neuen Methode. Mit der Zeit setzte sich Stenzel jedoch durch, zeitweise besuchten zwei Drittel der Breslauer Studenten seine Vorlesungen.40 Stenzel war offenbar tatsächlich, wie von späteren Breslauer Historikern überliefert, ein „spröder und eckiger Charakter“,41 was häufiger zu Konflikten mit seinen Fachkollegen und mit dem Ministerium führte. So wurde er im Winter 1828/29 von der Teilnahme an den Fakultätssitzungen entbunden, im Juli 1830 dann regelrecht ausgeschlossen. Erst ab September 1837 hatte er auf Anordnung des Ministeriums wieder an den Sitzungen teilzunehmen. In der Zwischenzeit, von 1832 bis 1835, war Stenzel 40 Herzig: Geschichtsforschung, 80. 41 Kaufmann/Ziekursch: Geschichte, 361.

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allerdings Vorsitzender der wissenschaftlichen Prüfungskommission, wobei es ihm um eine Hebung des höheren Unterrichts in Schlesien und eine Besserung des Geschichtsunterrichts ging. Zudem pochte er in dieser Funktion darauf, dass nur die Gymnasien die Zugangserlaubnis zur Universität erteilen dürften.42 In den Studienjahren 1838/39 und 1846/47 bekleidete er das Amt des Dekans der Philosophischen Fakultät.43

IV. Zur Begründung des Historischen Seminars an der Universität Breslau Vor allem in wissenschaftsorganisatorischer Hinsicht war Stenzel an der Universität Breslau schöpferisch und prägend tätig. Im Auftrag des preußischen Kultusministers Karl vom Stein zum Altenstein erarbeitete er zusammen mit Wachler im Mai 1820 „einen vollständigen Kursus der Geschichte, Statistik und Geographie auf 2 Jahre“, also „eine genaue Verteilung aller in Betracht kommenden Vorlesungen“,44 eine Art Lehrplan, der auch „Elaboratoria“, das heißt kritische Übungen, vorsah. Arno Herzig sieht darin die erste Einrichtung eines Historischen Seminars,45 freilich in seiner frühen Form. Stenzel bewies einen langen Atem, indem er seine Bemühungen um die Schaffung eines Historischen Seminars im engeren Sinn ab 1824 fortsetzte und damit 1843 dann endlich Erfolg hatte. Zu diesem Jahr wurde an der Universität Breslau durch Reskript vom 15. April 1843 ein Historisches Seminar eingerichtet und – dies war das Entscheidende – institutionell mit einem Etat von 200 Talern jährlich ausgestattet. Das Geld sollte vor allem für Prämien dienen, auszuzahlen an diejenigen Seminarmitglieder, die die besten Arbeiten geschrieben hatten.46 Stenzel selbst sprach sich jedoch für Büchergeschenke aus, da den Studenten Fachbücher fehlten und auch eine Seminarbibliothek noch nicht existierte. Darüber kam es mit dem Ministerium zum Streit, weshalb Stenzel 1845 die Leitung des Seminars niederlegte, bevor er von 1847 bis 1852 erneut als Seminarleiter fungierte. Der jährliche Geldbetrag wurde später zur Gründung einer für die Studenten zugänglichen Seminarbibliothek und die laufende Erwerbung von Fachliteratur verwandt. Regelrechte Statuten für das Historische Seminar der Universität Breslau wurden zwar erst nach Stenzels Tod, 1863 und 1874, erlassen, doch hat er, den Bedürfnissen der von ihm vertretenen neuen kritischen Methode entsprechend, sein Fach in wissenschaftsorganisatorischer Hinsicht zweifellos maßgeblich geprägt.47 42 Rachfahl: Stenzel [1898], 26. 43 �������������������������������������������������������������������������������������������� Nadbyl, Bernhard: Chronik und Statistik der Königlichen Universität zu Breslau. Bei Gelegenheit ihrer fünfzigjährigen Jubelfeier am 3. August 1861 im Auftrage des akademischen Senats verfaßt. Breslau 1861, 13. 44 Kaufmann/Ziekursch: Geschichte, 361. 45 Herzig: Geschichtsforschung, 78. 46 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., 79f.; Andreae, Friedrich: Zur Geschichte des Breslauer Historischen Seminars. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 70 (1936) 320–328, hier 324f. 47 Herzig: Geschichtsforschung, 80f.; Andreae: Zur Geschichte, 325f.

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V. Die historische-kritische Methode Von seiner Ausbildung und Lektüre her war Stenzel mit der von der Theologie entwickelten historisch-kritischen Methode vertraut. Dabei ging es im Fach Geschichte darum, diese auf der Grundlage von Quellen und nicht von unüberprüfbaren Überlieferungen, Sagen oder Historien nach barocker Art darzustellen. Die Quellen waren dazu nach einem bestimmten Methodenapparat kritisch zu prüfen, zu interpretieren und schließlich in einem größeren Zusammenhang auszuwerten. Seinen Ansatz beschrieb Stenzel in einem Brief an Leopold Ranke vom 17. April 1836 wie folgt: „Erstens müssen die besten Handschriften zugrunde gelegt werden, zweitens muß für die älteren Zeiten möglichst nachgewiesen werden, woraus ein Schriftsteller seine Nachrichten entlehnte, drittens muß mit Hilfe anderer Quellen und Urkunden, soweit man es vermag, über seine einzelnen Angaben nähere Auskunft zu geben und die Beurteilung der Glaubwürdigkeit erreicht werde.“ Und kontrastierend zum alten Verfahren fügte er hinzu: „Freilich ist es leichter, alles abschreiben und drucken zu lassen.“48 Die neue kritische Methode gilt für Stenzels darstellende Werke wie für die von ihm herausgegebenen Urkundenbücher. Gerade in diesen Editionen veröffentlichte er Quellen und bot zudem eine analysierende Auswertung, etwa in der Urkundensammlung zur Geschichte des Ursprungs der Städte [...] in Schlesien und der Ober-Lausitz, in der der Text von insgesamt 209 Urkunden (auf 369 Seiten) von einer nochmals 265 Seiten umfassenden Analyse flankiert war. Auf „einem gründlichen, methodisch geordneten Studium der Quellen“,49 so Felix Rachfahl, beruhte auch Stenzels zweibändige, 1827/28 in Leipzig erschienene Geschichte Deutschlands unter den fränkischen Kaisern. Mit Stenzel habe, wie Wilhelm Giesebrecht 1858 urteilte, „ein streng kritisches Studium unserer mittelalterlichen Geschichte eigentlich erst begonnen“.50 Und Stenzels Biograph Rachfahl setzte ihn, was das methodische Selbstverständnis betrifft, gar mit Niebuhr (für das Altertum) und mit Ranke (für die Neuzeit) gleich.51 Bei alledem war Stenzel stets mehr Geschichtsforscher als Geschichtsschreiber, fehlte ihm doch der literarische Stil, die Gefälligkeit der Darstellung.52

48 Zit. nach Varrentrapp, C[arl]: Briefe an Ranke von älteren und gleichaltrigen deutschen und französischen Historikern. In: Historische Zeitschrift 105 (1910) 105–131, hier 120f. (die folgenden Zitate ebd., 121). 49 Rachfahl: Stenzel [1898], 12. 50 Giesebrecht, Wilhelm: Geschichte der deutschen Kaiserzeit, Bd. 2. Braunschweig 1858, 582. Zit. nach Aubin, Hermann: Gustav Adolf Harald Stenzel und die geistige Erfassung der deutschen Ostsiedlung. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 6 (1961) 48–66, hier 59. 51 Rachfahl: Stenzel [1898], 12. Immerhin schrieb ihm noch Aubin: Stenzel, 60, eine grundlegende „Bedeutung für die Entwicklung der kritischen Geschichtsforschung in Deutschland“ zu. 52 Markgraf: Stenzel’s Wirksamkeit, 414; Rachfahl: Stenzel [1898], 14, 31; Kaufmann/Ziekursch: Geschichte, 361.

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Dass sich freilich auch ein Meister in der Beurteilung einer Quellenpublikation irren konnte, wurde Stenzel ausgerechnet von einem seiner eigenen Doktoranden, dem zu jener Zeit gerade einmal zwanzigjährigen Heinrich Wuttke, aufgezeigt.53 Es ging dabei um das 1830 in Brieg erschienene Werk Denkwürdigkeiten aus dem Leben der Herzogin Dorothea Sibylla von Liegnitz und Brieg, geborene Markgräfin von Brandenburg und ihrer Leib- und Hebeamme Margaretha Fuß. Wörtlich aus des Rothgerbers Valentin Gierths Haus- und Tagebuche mit einem Vorworte, erläuternden Anmerkungen und Beilagen mitgetheilt vom Syndikus Koch. Wuttke, der wusste, dass Stenzel diese Abhandlung benutzt hatte – darin wurde zum Beispiel in scheinbar glaubwürdiger Manier berichtet, dass erstmals 1611 ein mit Wachskerzen bestückter Weihnachtsbaum im Brieger Schloss aufgestellt worden sei –, veröffentlichte 1838 eine Schrift,54 in der er quellenkritisch nachwies, dass die Denkwürdigkeiten unzweifelhaft eine Fälschung, ein Phantasieprodukt waren. 1839, ein Jahr darauf, führte Wuttke bereits den Doktortitel, Stenzel war sein Doktorvater. Wuttkes Schrift wurde eigentlich erst durch Besprechungen und Widerlegungsversuche in der Schlesischen Zeitung bekannt. Der getroffene und gekränkte Stenzel reiste persönlich nach Brieg, um das Haus- und Tagebuch einzusehen, doch Syndikus Koch war nicht auffindbar, auch ein Ankaufversuch Stenzels scheiterte – eben weil das Tagebuch gar nicht existierte. Ergebnis der Affäre war ein tiefes Zerwürfnis zwischen Stenzel und seinem vormaligen Doktoranden Wuttke. Dieser verließ Breslau daraufhin Hals über Kopf, um – nach einem kurzen Berliner Intermezzo – seine akademische Laufbahn an der Universität Leipzig fortzusetzen.55

VI. Stenzel als Begründer und Organisator der wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte Schlesiens Aufbauend auf seiner kritischen Methode und seiner Tätigkeit als Archivar des schlesischen Provinzialarchivs wurde Stenzel auch zum Begründer der wissenschaftlichen Erforschung der Geschichte Schlesiens – die Zuwendung zur Geschichte des Oderlandes kann als das „Hauptwerk seines Lebens“56 bezeichnet werden. Es muss an dieser Stelle genügen, die Titel seiner wichtigsten, grundlegenden Veröffentlichungen zu nennen, auch wenn sie zum Teil durch moderne Editionen wie das Schlesische Urkundenbuch ersetzt sind. 53 ����������������������������������������������������������������������������������������� Zu dem Vorfall vgl. Grieger, Rudolf: Die „Denkwürdigkeiten aus dem Leben der Herzogin Dorothea Sibylla von Liegnitz und Brieg geborene Markgräfin von Brandenburg“ – Geschichte einer Fälschung. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte N.F. 71 (1992) 69–104; Gehrke: Wuttke, 198. 54 Wuttke, Heinrich: Über das Haus- und Tagebuch Valentin Gierth’s und die Herzogin Dorothea Sibylla von Liegnitz und Brieg, geborene Markgräfin von Brandenburg. Brieg 1838. 55 Todte, Mario: Studien zum Geschichtswerk von Heinrich Wuttke (1818–1876). München 2010, 22f. 56 Markgraf: Stenzel’s Wirksamkeit, 399.

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Abb. 3: Seinen Gründer und ersten Vorsitzenden Gustav Adolf Harald Stenzel ehrte der Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens in seiner Schrift zum fünfzigjährigen Vereinsbestehen mit einem Porträt an herausgehobener Stelle. Dieses wie auch die vier weiteren Porträts der Stenzel nachfolgenden Vereinsvorsitzenden sind Radierungen des schlesischen Grafikers Heinrich Wolff. Stenzel erscheint hier älter als auf dem Abgeordnetenporträt, doch könnte die Darstellung ebenfalls auf ein Lichtbild von Hermann Biow zurückgehen. Bildnachweis: Markgraf, Hermann: Der Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens in den ersten 50 Jahren seines Bestehens. Mit den Bildern der fünf Präsiden in Radierungen von H. Wolff. Breslau 1896, Frontispiz.

In der schon genannten Urkundensammlung zur Geschichte des Ursprungs der Städte [...] in Schlesien und der Ober-Lausitz erkannte Stenzel als erster den gesamten räumlichen Umfang, die Einheit, die Gesamtheit der deutschen Ostsiedlung.57 Stenzels Einleitung charakterisierte Rachfahl als eine „Social-, Wirtschafts-, Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte Schlesiens sowohl zur polnischen Zeit, als auch in der Epoche der deutschen Kolonisation“.58 Eine weitere Quellenedition mit analysierender Einleitung sind die 1845 präsentierten Urkunden zur Geschichte des Bisthums Breslau im Mittelalter. 1854, also bereits kurz nach seinem Tod, kam das von Stenzel edierte und mit einem Urkundenanhang versehene Gründungsbuch des Klosters Heinrichau heraus. In den von ihm zwischen 1835 und 1851 herausgegebenen fünf Bänden der Scriptores rerum Silesiacarum veröffentlichte er schließlich auch neuzeitliche Quellen; auch in mehreren Aufsätzen äußerte er sich zu Themen der Neuzeit. Darüber hinaus versuchte sich Stenzel an einer Geschichte Schlesien, vollendete jedoch nur den ersten Band (von den ältesten Zeiten bis 1355), der 1853 im Druck erschien. Seine Pläne für die Erforschung der Geschichte Schlesiens gingen weit über das 57 Aubin: Stenzel, 56, 63. 58 Rachfahl: Stenzel [1898], 18. Die polnische Forschung kritisiert heute die seiner politischen ­Gegenwart stark verhaftete Sichtweise Stenzels. Vgl. Cetwiński, Marek: Gustaw Adolf Harald Stenzel i jego wizja ustroju Polski piastowskiej. In: Studia z Dziejów Państwa Polskiego 9 (2006) 9–19.

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hinaus, was er leisten und wofür er die Übernahme der Druckkosten einwerben konnte. Bereits angekündigt hatte er so etwas wie die späteren Lehns- und Besitzurkunden Schlesiens und seiner einzelnen Fürstenthümer im Mittelalter – sie erschienen 1881 bis 1883 in Leipzig – und die Regesten zur Schlesischen Geschichte bis zum Jahr 1355, die seit 1868 erschienen.59 Stenzels Pläne wurden Stück für Stück in den folgenden rund 140 Jahren verwirklicht. Jedenfalls legte er mit seinen Quelleneditionen das „Fundament für die neuere schlesische Geschichtsschreibung“.60 In der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur engagierte sich Stenzel als Sekretär der historischen Sektion in den Jahren 1834/35 und erneut von 1837 bis 1845. Dabei versuchte er, die Sektion stärker auf die schlesische Landesgeschichte auszurichten, erhöhte die Zahl der Sitzungen und verstärkte die Publikationstätigkeit. „Stenzels wichtigstes Projekt, die Edierung der ‚Scriptores rerum Silesiacarum‘, ließ sich jedoch auf Dauer nicht mit der auf Kostendeckung angewiesenen Schlesischen Gesellschaft durchführen.“61 Aus diesem Grund, eben um Geld für seine Publikationsvorhaben zu erhalten, rief Stenzel zur Gründung des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens auf.62 Im Unterschied zu Johann Gustav Gottlieb Büsching hatte er damit Erfolg. Allerdings war Stenzel kein „Vereinsmensch“63 – es wurden anfangs ein paar vereinzelte Vorträge gehalten, doch dann aus den Mitgliedsbeiträgen hauptsächlich Stenzels Quelleneditionen finanziert, und diese auch noch in lateinischer Sprache, was sogleich zum Austritt mehrerer Mitglieder führte. Aufgeblüht ist der Geschichtsverein erst unter Stenzels Nachfolger als Präses, Richard Roepell, mit der Herausgabe der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens im Jahr 1855, also im Jahr nach Stenzels Tod. Immerhin, mit der Vereinsgründung hatte Stenzel auch außerhalb der ,offiziellen‘ – sprich: universitären – Geschichtsforschung wissenschaftsorganisatorisch gewirkt.

59 Markgraf: Stenzel’s Wirksamkeit, 404f.; Reimann: Stenzel, 57. 60 Kaufmann/Ziekursch: Geschichte, 361. 61 Gerber, Michael Rüdiger: Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur (1803–1945). Sigmaringen 1988 (Beihefte zum Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 9), 64; vgl. Zach, Franziska: Die „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur“ im 19. Jahrhundert. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 121–141, hier 137f. 62 ������������������������������������������������������������������������������������������� Zur Gründungsgeschichte des Vereins vgl. Markgraf: Der Verein, 12–20; Schellakowsky, Johannes: „Soll aber Schlesien noch länger zurückbleiben?“ Zur Gründungsgeschichte und weiteren Entwicklung des Vereins für Geschichte Schlesien bis 1945. In: ders./Schmilewski, Ulrich (Hg.): 150 Jahre Verein für Geschichte Schlesiens. Würzburg 1996 (Einzelschriften des Vereins für Geschichte Schlesiens 2), 9–58, hier 9–34; Kersken, Norbert: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung: Der „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 87–120, hier 87–89. 63 Markgraf: Stenzel’s Wirksamkeit, 412.

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VII. Stenzel als Archivar Ab Januar 1822 war Stenzel auch Archivar am Königlichen Provinzialarchiv, einer von der Universität nunmehr unabhängigen Einrichtung – zunächst an der Seite Ludwig Wachlers, ab 1825 dann bis zu seinem Tod als alleiniger Leiter. In dieser Funktion hatte er freien Zugang zu allen Archivalien, so dass sich ihm hier Chancen für seine Quelleneditionen boten.64 Seine berufliche Tätigkeit bestand vorrangig in der Ordnung, Sichtung und Verzeichnung des Bestands. So bearbeitete Stenzel über 2.000 Urkunden archivalisch. Zudem erweiterte er den Gesamtbestand des Archivs durch Übernahmen von weiteren archivalischen Sammlungen auf das Dreißigfache. Dazu gehörte auch die Gewinnung neuer Räume; das Archiv hatte ab 1847 auf Betreiben seines Leiters seinen Sitz im Ständehaus in der Graupenstraße 11b. Stenzel führte eine Archivordnung ein und erarbeitete ein Ordnungssystem.65 Dieses sah folgende Einteilung vor:66 1. Hauptabteilung: 75 Kloster- und Stiftsarchive (ca. 30.000 Urkunden) mit zehn Unterabteilungen; 2. Hauptabteilung, Landesarchiv (bis 1831 auf den zwanzigfachen Umfang angewachsen): Kaiserliches Oberamt und Kammer, Bistum, einzelne Fürstentümer und Herrschaften, Sammlung Superintendent Worbs, Verzeichnisse von 105 Archiven schlesischer Städte. Diese Hauptabteilung wurde untergliedert in: a. Ober-Abteilung für das ganze Land, mehrere Fürstentümer und Standesherrschaften; b. Ober-Abteilung einzelne Fürstentümer, Herrschaften, Grafschaft Glatz und Ortschaften; c. Ober-Abteilung Personen und Familien. Auch im Rahmen des schlesischen Archivwesens leistete Stenzel damit Grundlegendes, betrachtete daneben die Erforschung der schlesischen Geschichte freilich als seine alleinige Domäne. Auf seine weitere Tätigkeit als Archivar braucht hier nicht näher eingegangen zu werden, hat ihr doch der Archivar Bruno Krusch eine umfassende und erschöpfende Monographie gewidmet.67

64 Stenzel: Stenzel, 224. 65 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Żerelik, Rościsław: Das „Königliche Akademische Provinzialarchiv“ zu Breslau. Geschichtspflege im Spiegel der Organisation des schlesischen Archivwesens im 19. Jahrhundert. In: Bahlcke/ Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien, 381– 392, hier 385–387. 66 Stenzel: Stenzel, 231f. 67 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Krusch, Bruno: Geschichte des Staatsarchivs zu Breslau. Leipzig 1908 (Mitteilungen der K. Preußischen Archivverwaltung 11).

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Zwischen Breslauer Universität und Berliner Politik. Richard Roepell (1808–1893) als Historiker, liberaler Politiker und „Polenfreund“ I. Einleitung Beschäftigt man sich näher mit der Person Richard Roepells,1 so stößt man einerseits auf den Breslauer Historiker, der insbesondere von seinen polnischen Fachkollegen für seine Geschichte Polens2 fast euphorisch verehrt wurde, andererseits auf den weniger bekannten Politiker Roepell, der seit den Tagen des Vormärz über viele Jahrzehnte als Abgeordneter verschiedener Parlamente politisch tätig war. Auffällig ist, dass seine konkrete politische Tätigkeit, die lange Jahre für ihn im Vordergrund stand, bei den polnischen Zeitgenossen wenig Beachtung fand und auch später kaum gewürdigt wurde. Nach seinem Tod bald vergessen, erlebt Roepell erst in unseren Tagen eine gewisse Renaissance.3 Da seine Rezeption in Polen bereits ausführlich in einer früheren Studie behandelt wurde,4 ist es das Ziel dieses Beitrags, sein parteipolitisches und publizisti-

1 Gerlich, Hubert: Organische Arbeit und nationale Einheit. Polen und Deutschland (1830–1880) aus der Sicht Richard Roepells. Münster 2004 (Arbeiten zur Geschichte Osteuropas 13). 2 Das Werk und seine Fortsetzung erschienen in der von Arnold Hermann Ludwig Heeren (1760– 1842) und Friedrich August Ukert (1780–1851) herausgegebenen Schriftenreihe „Geschichte der europäischen Staaten“ im Verlag von Friedrich und Andreas Perthes. Vgl. Roepell, Richard: Geschichte Polens, Bd. 1 (850–1300). Hamburg 1840; Caro, Jakob: Geschichte Polens, Bd. 2 (1300– 1386), Bd. 3 (1386–1430), Bd. 4 (1430–1455), Bd. 5/1 (1455–1480), Bd. 5/2 (1481–1506). Gotha 1863–1888. 3 Wichtige Aufschlüsse zu Leben und Denken Roepells bieten die biographischen Skizzen von Felix Priebatsch (1867–1926). Priebatsch hatte noch Einblick in die Tagebücher Roepells von 1849, in dessen in den 1860er Jahren verfasste Erinnerungen sowie in die in der Breslauer Stadtbibliothek erhaltene Korrespondenz Roepells. Während die Erinnerungen und die Tagebücher als verloren gelten müssen, sind zumindest ein Teil der Briefe an Roepell sowie ein Teil seiner wissenschaftlichen Notizen erhalten. Sie befinden sich heute in der Handschriftenabteilung der Universitätsbibliothek Breslau. Vgl. Biblioteka Uniwersytecka we Wrocławiu, Oddział rękopisów, Sign. Akc. 1949/1114, 1115, 1123, 1628. Die Briefe Roepells an seinen Freund Maximilian (Max) Duncker (1811–1886) befinden sich in dessen Nachlass im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA, NL Duncker, Max, Nr. 103. Für die folgende Skizze vgl. Priebatsch, Felix: Aus den Lebenserinnerungen Richard Röpells. In: Historische Zeitschrift 128 (1923) 446–451; ders.: Richard Roepell. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 19. Jahrhunderts. Breslau 1922 [Sigmaringen 21985] (Schlesische Lebensbilder 1), 164–167. 4 Barelkowski, Matthias: Die Teilungen Polen-Litauens interpretieren. Richard Roepell und Jakob Caro – zwei deutsche „Polenhistoriker“ zwischen Wissenschaft und Politik. In: Bömelburg, Hans-

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sches Wirken in Breslau und Berlin als Teil eines (national-)liberalen Netzwerks von Akademikern und Honoratioren näher zu betrachten und zu analysieren. Richard Roepell wurde am 4. November 1808 in Danzig als zweiter Sohn eines Juristen geboren, der auf eine lange patrizische Familientradition in der Hansestadt zurückblicken konnte. Nach dem Abitur studierte er kurze Zeit in Berlin bei Leopold Ranke (1795–1886), vor allem aber bei Heinrich Leo (1799–1878) in Halle an der Saale. Gleichwohl scheint Roepell nicht vollkommen von seiner Eignung zum Historiker überzeugt gewesen zu sein und wurde vermutlich auch von materiellen Sorgen geplagt, denn während der Ableistung seiner Wehrpflicht trug er sich mit dem Gedanken, „ganz Soldat zu werden“. Dem Kurator der Universität Halle, Gottlieb Delbrück (1777–1842), ist es wohl zu verdanken, dass Roepell wieder an die Universität zurück fand, suchte er den jungen Akademiker doch eigens in der Kaserne auf, um ihn von dessen eigenen Fähigkeiten zu überzeugen und ihm finanzielle Unterstützung in Form eines Stipendiums zuzusagen. Von Herbst 1832 bis Herbst 1833 vollendete Roepell „unter Leitung Rankes seine Universitätsstudien in Berlin“.5 1834 wurde er promoviert; noch im selben Jahr habilitierte er sich in Halle,6 um dort ab Ostern 1835 als unbesoldeter Privatdozent zu wirken. Noch als junger Privatdozent heiratete er die ebenfalls aus Danzig stammende, in Warschau aufgewachsene Henriette Magdalena Geysmer (1820–1857), was zumindest von einem gewissen Mut zum Risiko zeugt, denn eine materielle Absicherung war durch die Stellung als Privatdozent noch nicht vorhanden. Aus der Ehe sind mindestens drei Kinder hervorgegangen. Roepells Frau sowie das letztgeborene Kind, eine Tochter, starben bereits kurz nach deren Geburt 1857. Der erste, ebenfalls Richard genannte Sohn fiel 1871 in Frankreich im Deutsch-Französischen Krieg. Der zweite Sohn, Max Gerhard Roepell (1841–1903), wurde später königlichpreußischer Eisenbahnpräsident.



Jürgen/Gestrich, Andreas/Schnabel-Schüle, Helga (Hg.): Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen. Osnabrück 2013, 105–154. 5 Diese Angaben finden sich in einem von Roepell nach seiner Berufung nach Breslau am 1. Januar 1842 selbst verfassten Lebenslauf im Universitätsalbum. Vgl. Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. F 25, 41. Vgl. ferner Priebatsch: Richard Roepell, 164f. Zur Person von Heinrich Leo vgl. Maltzahn, Christoph Frh. von: Heinrich Leo (1799–1878). Ein politisches Gelehrtenleben zwischen romantischem Konservatismus und Realpolitik. Göttingen 1979 (Schriftenreihe der ­Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 17). 6 Als Dissertation gilt Roepells Beitrag für ein Preisausschreiben: Die Grafen von Habsburg. Eine Abhandlung über Genealogie und Besitzungen dieses Geschlechts bis zur Thronbesteigung Rudolfs i. J. 1273. Halle 1832. Seine Habilitationsschrift trug den Titel: De Alberto Waldsteinio, Fridlandiae duce proditore. Commentatio quam [...] ad obtinendam docendi facultatem die ­XXVII. Octobr. MDCCCXXXIV defendet Richardus Roepell, Gedanensis philosophiae doctor. Halle 1834.

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Abb. 1: Richard Roepell (1808– 1893) – Historiker, nationalliberaler Politiker, „Polenfreund“, „Katholikenfeind“? Der Breslauer Gelehrte lässt sich historiographiegeschichtlich nicht eindeutig kategorisieren. Bildnachweis: Markgraf, Hermann: Der Verein für Geschichte und ­Alterthum Schlesiens in den ersten 50 Jahren seines Bestehens. Breslau 1896.

II. Roepell als „Polenspezialist“ Nach verschiedenen Überlieferungen war es nicht nur sein Lehrer Heinrich Leo, der Roepell zur Übernahme des „polnischen Teils“ im Rahmen des von Heeren und Ukert herausgegebenen Reihe „Geschichte der europäischen Staaten“ anregte, sondern auch seine Frau, die ihm mit ihren Polnischkenntnissen sprachlich zur Seite stehen konnte. Mitentscheidend dürfte aber auch die fehlende Besoldung als Privatdozent gewesen sein, die ihn nach anderen Einkommensquellen suchen ließ. Hinzu kam, dass die Herausgeber der „Staatengeschichte“ schon des längeren nach einem Autor für die Geschichte Polens gesucht hatten. Die Versuche Gustav Adolf Harald Stenzels (1792–1854), den deutschstämmigen, in Krakau lehrenden Jerzy Samuel Bandtkie (1768–1835) für ein solches Projekt zu gewinnen, waren etliche Jahre zuvor gescheitert.7 Ausgestattet mit einem großzügigen Vorschuss des Verlegers Friedrich Perthes (1772–1843), der die „Staatengeschichte“ maßgeblich konzipiert hatte,8 begann Roe7 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Stenzel selbst hatte im Rahmen der „Staatengeschichte“ die Bände zur Geschichte Preußens verfasst und war eng mit dem Verlag von Perthes verbunden. Zu diesem wenig bekannten Aspekt vgl. Stenzel, Karl Gustav Wilhelm: Gustav Adolf Harald Stenzels Leben. Gotha 1887, 211–214. Über politische oder fachliche Diskussionen zwischen Stenzel und Roepell sagen die Quellen nichts aus. 8 Zur bedeutenden Rolle der Verleger bei der Entwicklung der deutschen Geschichtswissenschaft ist bislang wenig geforscht worden. Hintergründe von Friedrich Perthes’ Rolle bei der Entstehung der

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pell 1836 mit den Archivrecherchen zum ersten Teil seines Geschichtswerks über Polen, der die Jahrhunderte bis 1300 umfassen sollte. Da es damals praktisch keine Quellenpublikationen für die entsprechende Zeit gab, nahm Roepell Verbindung zu polnischen Adeligen auf, die für ihre Sammlung von „Altertümern“ bekannt waren. Zu nennen sind hier namentlich Edward Raczyński (1786–1845) und Tytus Działyński (1796–1861), die den jungen deutschen Gelehrten auch bereitwillig unterstützten und weitere Kontakte zu Polen vermittelten. Bereits 1840 konnte das mehr als 700 Seiten umfassende Werk erscheinen. Es brachte dem Autor, praktisch über Nacht, den Ruf des führenden deutschen Polenspezialisten ein. Als Motto diente Roepell ein Zitat aus dem Johannesevangelium: „Die Wahrheit allein macht frei“, das er jedoch nicht als solches kennzeichnete.9 Bereits in der Vorrede konstatierte er den seiner Meinung nach bisher weitgehend kritiklosen Umgang mit der Hauptquelle für die mittelalterliche Geschichte Polens, der Chronik von Jan Długosz (1415–1480), wobei er durchaus Kenntnisse der bisherigen polnischsprachigen Historiographie verriet, wenn er schrieb: „[...] und erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts begann Gottfried Lengnich, Syndicus in Danzig, von dem damaligen Standpunkte der Wissenschaft aus jene Ueberlieferungen einer eindringenden Kritik zu unterwerfen. Was Lengnich begonnen, setzte gegen Ende des Jahrhunderts Adam Naruszewicz in größerm Maßstabe fort. In seiner Geschichte des polnischen Volkes liegt eine ausgebreitete Gelehrsamkeit, wie ein fleißiges Studium von Urkunden offen zu Tage: eine reine Sprache und eine einfach würdige Form erheben dies Werk weit über alle Leistungen seiner Vorgänger empor; aber auch Naruszewicz’s Kritik war weder scharf noch umfassend, und auch er hat die Tradition des Długosz in ihrer ganzen Fülle, nur in ihren Einzelheiten berichtigt, in seine Geschichte aufgenommen, welche dann ihrerseits wiederum die Hauptgrundlage der das Mittelalter betreffenden Partien in den nach andern Beziehungen schätzenswerthen Geschichten Polens von [ Jerzy Samuel] Bandtkie und [ Joachim] Lelewel geblieben ist.“10 Roepell ging nun seinerseits zunächst von den geographischen Begebenheiten des Landes aus, verfasste aber neben der engeren politischen Geschichte auch eigene Kapitel zur kulturellen Entwicklung Polens und lieferte so schon der Form nach ein völlig neu geartetes Werk. Deutlich kommen jedoch bereits zu diesem Zeitpunkt Roepells aktuell-politische Überzeugungen zum Ausdruck, denn schon in der Einleitung konstatierte er hinsichtlich der politischen Rolle und Bedeutung von Polen und Deutschen im Mittelalter: „Alsobald öffneten die Waffen der Deutschen der Geschichte auch

„Staatengeschichte“ finden sich bei Moldenhauer, Dirk: Geschichte als Ware. Der Verleger Friedrich Christoph Perthes (1772–1843) als Wegbereiter der modernen Geschichtsschreibung. Köln/Weimar/Wien 2008 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe 22), 370–417. 19 Roepell verwendete dieses Bibelzitat ( Joh 8,32) auch später immer wieder, sozusagen als Forschungsziel, ohne die hinsichtlich des Begriffs Wahrheit schwierige Verknüpfung von Theologie und Historiographie zu reflektieren. 10 Roepell: Geschichte Polens, Vorrede, V–VI.

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den fernern slawischen Osten, und zogen die Stämme, welche, zwischen der mittlern Oder und Weichsel sitzend, bisher jeder geschichtlichen Bewegung fremd geblieben waren, in diese hinein. Bis gegen die Oder vorgedrungen, stoßen sie hier auf die Polen. Auch diese, bereits zu einem größern, kräftigern Staatsganzen vereinigt, unterliegen zunächst dem Einfluß des deutsch-christlichen Abendlandes und empfangen von ihm das ­Christenthum in der Form der römischen Kirche. Dann aber erheben sie sich in eigner Kraft, und gründen ein echt nationales mächtiges Reich, welches Jahrhunderte lang die abendländische Christenheit und ihre Bildung gegen den Andrang asiatischer Barbarenhorden ruhmvoll vertheidigt hat.“11 In Polen rief das am Ideal der philologisch-kritischen Methode von Barthold Georg Niebuhr (1776–1831) und Ranke sich orientierende Buch zunächst Verwunderung hervor, da es, von einem Deutschen geschrieben, ein völlig neuartiges Verständnis der Piastenzeit entwickelte und das bisherige Geschichtsverständnis sehr kritisch hinterfragte. Die Verwunderung der polnischen Rezensenten wich aber mehr und mehr der Anerkennung für die „objektiven Urteile“ des Autors, der durch seinen Blick von außen auch außerpolnische Kriterien dieser Epoche berücksichtigte. Diese Anerkennung der Polen steigerte sich mit den Jahren bis hin zu offener Verehrung für den Autor.12 Insbesondere eine in der Vorrede platzierte Bemerkung – „Es wird uns Deutschen nicht leicht, den nationalen Geist der Slawen unbefangen aufzufassen und zu würdigen; aber mit dem reinen Negiren, absoluten Verurtheilen desselben, wie man solches in unsern Tagen gar häufig findet, kommt man sicher der Sache nicht auf den Grund“13 – machte Roepell, wie noch zu zeigen sein wird, in den Augen vieler polnischer Historiker und Intellektueller zum Fürsprecher ihrer Sache.

III. Roepell als Breslauer Professor Geschickt nutzte der Hallenser Privatdozent diesen neu erworbenen Ruf, um sich durch die Auszeichnung als Polenspezialist eine außerordentliche Professur zu erkämpfen. In einem Brief an den preußischen Kultusminister vom 21. April 1841 schrieb er: „Ew. Ex. Rufe, an den Universitäten zu Berlin oder Breslau eine Professur der Geschichte mit der besonderen Verpflichtung zu Vorlesungen über slawische Geschichte, Rechtsund Alterthümer zu übernehmen, würde ich selbst auf das bereitwilligste entsprechen, und glaube durch den ersten Band meiner Geschichte Polens eben so sehr neben meiner allgemein-wissenschaftlichen Beschäftigung eine genauere Kenntnis des Slawischen bekundet, als das persönliche Vertrauen der Polen in Betreff meiner nationalen Unbefangenheit mir erworben zu haben.“ Abschließend wies er den Minister unmittelbar auf seine finanzielle Lage hin und bat ihn, er wolle sein „bereits früher eingereichtes 11 Ebd., 47. 12 Vgl. etwa die anonyme Rezension in Tygodnik Literacki 12/13 (1841) 99f., 107f. 13 Roepell: Geschichte Polens, Vorrede, VII–VIII.

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Abb. 2: Förmliche „Bestallung“ des Historikers Richard Roepell zum ordentlichen Professor der Geschichte an der Universität Breslau, 21. Februar 1855. Roepell hatte den Lehrstuhl bis zu seinem Tod 1893 inne, trieb derweil allerdings vor ­allem seine politische Karriere als liberaler Parlamentarier voran und vernachlässigte seine universitären Pflichten entsprechend. Bildnachweis: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 3, Bl. 298.

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Gesuch um Beförderung zum außerordentlichen Professor geneigtenst um so mehr berücksichtigen, als ich, wie ich die Ehre hatte Ew. Ex. mündlich ausstellen zu dürfen, bereits seit einer Reihe von Jahren Privatdozent bin, und meine Ew. Excellenz gleichfalls nicht vorenthaltenen Privatverhältnisse mir eine baldige Entscheidung dringend wünschenswert machen“.14 Tatsächlich wurde Roepell noch 1841 als außerordentlicher Professor nach Breslau berufen, wo er in gewisser Weise die Nachfolge von Ludwig Wachler (1767–1838) antrat, der sich ebenfalls mit polnischer Geschichte beschäftigt hatte, während fast zeitgleich auch ein Lehrstuhl für Slawistik an der Breslauer Universität eingerichtet wurde.15 Eine ordentliche Professur und damit eine Gehaltsverbesserung erlangte Roepell jedoch erst 1855, als Nachfolger von Stenzel, wiewohl er zwischenzeitlich beim Kultusministerium darum ersucht hatte. Die lange Wartezeit hing vor allem mit dem von oben verordneten, in der Praxis komplizierten Proporz zwischen Katholiken und Protestanten an der Breslauer Alma mater zusammen, dessen Verletzung immer wieder zu Konflikten bei neuen Berufungen führte.16 Allerdings finden sich keine Belege dafür, dass sich Roepell nach 1841 um einen Ruf an eine andere Universität bemüht hätte.

IV. Roepell und die polnische Frage Hatte Roepell mit seinem Buch zunächst seine berufliche Zukunft als Universitätsprofessor begründet, konzentrierte er sich in den folgenden Jahren immer weniger auf die Arbeit am geplanten zweiten Band zur Geschichte Polens. Er verlagerte seinen Tätigkeitsschwerpunkt vielmehr auf die Politik, wobei ihm sein frisch erworbener Ruhm als Polenspezialist den Weg ebnete. Deutlich wird dies anhand der Beziehung zu Georg Gottfried Gervinus (1805–1871), der Roepell 1847 als „Berichterstatter für slavische Fragen“ für die von ihm herausgegebene Deutsche Zeitung gewinnen wollte. Roepell antwortete Gervinus daraufhin in einem langen Brief, in dem er auch seine Einstellung zur „polnischen Frage“ offen darlegte. Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Roe14 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Roepell an Preußisches Kultusministerium, 21. April 1841: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Handschriftenabteilung, Sammlung Darmstaedter, Sign. 2 f 1840, Bl. 5–7. 15 Laubert, Manfred: Zur Vorgeschichte der Breslauer Professur für Slavistik. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 67 (1933) 270–272. Laubert verwies auf die Kabinettsordre König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen vom 15. Januar 1841. 16 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Aufschlussreich dazu ist der Brief Roepells an das Preußische Kultusministerium vom 8. November 1849, in dem er, obwohl kein Katholik und damit derzeit „nicht an der Reihe“, um Beförderung zum Ordinarius bat, da er sonst für lange Zeit von einer Beförderung ausgeschlossen sei: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz zu Berlin, Handschriftenabteilung, Sammlung Darmstaedter, Sign. 2 f 1840, Bl. 8. Nach Priebatsch: Aus den Lebenserinnerungen, 447, musste sich Ranke 1855 persönlich für seinen alten Schüler einsetzen, da man im Ministerium monierte, dieser habe zu wenig publiziert. Ursprünglich für die Nachfolge Stenzels vorgesehen war Heinrich von Sybel. Eine Polenspezialisierung spielte bei der Entscheidung keine Rolle.

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pell das polnische Territorium definierte. Das Großherzogtum Posen gehörte für ihn demnach keineswegs mehr zu den polnischen Gebieten, die nach seinen Vorstellungen in Zukunft wieder einen polnischen Staat bilden sollten. Roepell führte dazu aus: „Wir müssen gerecht sein, u. eingedenk des Spruches: was du willst, dass dir die Leute thun, thue auch ihnen! So sehr mir aber auch dieser Grundsatz im allgemeinen feststeht, so sehr sehe ich auch, dass bei seiner Durchführung im Einzelnen Collisionen mit unserm eignen National Recht u. Nationalen Interessen nicht ausbleiben können. Ich erinnere in dieser Beziehung nur an Posen, Böhmen, zum Theil auch an Galizien. Posen können wir unter keiner Bedingung aufgegeben: wir müssen streben, dieses Land völlig zu germanisiren, oder wir opfern fast die Hälfte der Einwohner auf, die bereits dort Deutsche sind. Ich fühle die ganze Härte, die in diesem Satz für die bedauernswerthen Polen des Grsshzth. liegt, aber mir scheint die Frage gleich dem Fall, wenn in einem Schiffbruche zwei Menschen sich an ein Brett klammern, das nur einen zu tragen vermag. Das Recht der Selbsterhaltung ist es, kraft dessen der Stärkere den Schwachen in die Tiefe hinab stürzt.“17 Tatsächlich schwebte Roepell ein eigener polnischer Staat jenseits der bestehenden preußischen Ostgrenze vor, der als eine Art Schutzschild gegen das von ihm als Feind betrachtete Russland fungieren und sich möglichst an Deutschland anlehnen sollte, auch wenn er an eine derartige Möglichkeit in naher Zukunft nicht glaubte: „Über die poln. Frage werden wir wohl darin einverstanden sein, dass wir sie aus antiruss. Gesichtspunkt zu betrachten haben. Ich glaube zwar nicht, dass die Polen sich an Deutschland anlehnen würden, sobald Russland die Tendenz aufgäbe, sie zu vernichten; aber ich glaube ebenso wenig, dass Russland diese Tendenz sobald aufgeben wird, u. noch weniger, dass ein freies Polen uns sonderliche Gefahren bereiten kann. Auch ist ein freies Polen für die Gegenwart u. die nähere Zukunft ein so wenig erreichbares Ziel, dass von einem directen Hinarbeiten auf dasselbe wohl schwerlich die Rede sein kann. Welche Umwälzung des europ. Staatensystems müsste nicht vorausgehen: und doch kann man nicht leugnen, dass sie möglich ist u. nicht unwahrscheinlich.“18 Die Ziele sah Roepell, der hier in seiner Argumentation bevormundend wirkt, vor allem in der entsprechenden „Erziehung“ der Polen. Allerdings war er hinsichtlich des Erreichens dieses Zieles skeptisch: „Die Aufgabe würde hier also sein, darauf hinzuarbeiten, dass die Polen selbst fähig würden, ein nationales, freies Staatsleben zu erhalten, sobald der günstige Moment der allgem. polit. Entwicklung es ihnen so zu sagen vor die Füße wirft, dass sie es nur aufzuheben u. zu bewahren haben. Ich gestehe Ihnen offen, u. Sie werden in mir keinen Polengegner a priori vermuthen, dass es einem Nicht-Polen, der die Polen doch einigermaßen kennt, sehr schwer wird die Hoffnung festzuhalten auf jene Fähigkeit der Nation, ein national-selbst. polit. Leben zu erhalten u. zu entwickeln.“19 17 ������������������������������������������������������������������������������������ Zit. nach Dammann, Oswald: Richard Roepell und die Deutsche Zeitung. Mit einem ungedruckten Brief Roepells an G. G. Gervinus. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 98 (1950) 307–316, hier 310f. Der Brief datiert vom 10./11. April 1847. 18 Ebd., 311. 19 Ebd.

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Roepell schrieb dann tatsächlich für die Deutsche Zeitung, wobei es jedoch bei einem einzigen größeren Leitartikel wiederum zur polnischen Frage blieb.20 In diesem ­Beitrag setzte er sich anfangs ausführlich mit dem 1846 in Paris anonym erschienenen Lettre d’un gentilhomme polonais sur les massacres de Gallicie adressée au Prince de Metternich auseinander und warnte vor der darin propagierten Annäherung der Polen an Russland. Dabei bleibt offen, ob der Breslauer Professor zu diesem Zeitpunkt bereits wusste, dass der Verfasser des Briefes Aleksander Wielopolski (1803–1877) war, den Roepell kurz zuvor in Breslau persönlich kennengelernt hatte.21 Roepell sah als den einzigen gangbaren Weg für die Polen nicht die Annäherung an Russland, sondern die „organische Arbeit“ als eine Art Sühne für den seiner Meinung nach auch selbst verschuldeten Untergang der alten Adelsrepublik: „Denn nicht allein durch die Gewaltthaten der Fremden, sondern auch durch eigne und große Schuld haben sie ihre Freiheit verloren und sind in die Lage gerathen, in der sie sich befinden. Diese Schuld will gesühnt sein, und diese Sühne liegt einzig und allein auf dem Wege einer sittlichen-geistigen Wiedergeburt.“ Für Roepell lag dieser Weg der „organische[n] Arbeit“ zudem im außenpolitischen Interesse Deutschlands, das damit letztlich auch sein Gewissen entlasten könnte: „Uns Deutschen selbst aber, uns geziemt es nicht nur, sondern es ist auch, wie wir meinen, unser eigenes Interesse, den Polen auf diesem Weg nicht nur nicht entgegenzutreten, sondern sie, wo und wie wir nur irgend können, zu fördern. Bedrängen auch wir, stattdessen dieses unglückliche Volk, schneiden auch wir ihm von allen Seiten die Mittel und Wege zu seiner sittlich nationalen Widergeburt ab, so treiben wir es auch an unserem Theile zur Verzweiflung und jagen es endlich vollends in die Arme Rußlands, das nicht verfehlen wird, der polnischen Kraft sich gegen uns zu bedienen. Gewiß, wir können die Kernlande der Polen nicht befreien. Aber, sollte es auch zum letzten Todeskrampf der Nation kommen, halten wir wenigstens uns von aller und jeder Mitschuld frei.“22 Roepells Brief an Gervinus und sein Artikel in der Deutschen Zeitung wurden hier deshalb so ausführlich zitiert, weil sie die ambivalente Haltung des vermeintlichen Polenfreundes aufzeigen und zudem zu den bisher wenig beachteten Quellen zur politischen Tätigkeit Roepells gehören. Lothar Maier wies darauf hin, dass Roepell hier of20 Roepell, Richard: Die polnische Frage. In: Deutsche Zeitung, Nr. 111 vom 19. Oktober 1847, 881f., Nr. 112 vom 20. Oktober 1847, 889f. 21 Der Brief war eine Antwort auf die Bauernunruhen in Galizien, bei denen zahlreiche adelige Grundbesitzer ermordet worden waren; er erschien auf Französisch 1846 in Brüssel. Im selben Jahr wurde er zusammen mit anderen Briefen auch in Hamburg auf Deutsch unter dem Titel „Briefe eines polnischen Edelmannes an einen deutschen Publicisten über die jüngsten Ereignisse in Polen und die hauptsächlich bisher nur vom deutschen Standpunkte betrachte polnische Frage“ veröffentlicht. Neben dem Brief an Außenminister Metternich enthält diese Ausgabe zudem auf mehr als 200 Seiten Briefe eines anderen polnischen Edelmanns. Als deren Verfasser gilt Antoni Zygmunt Helcel, den Roepell ebenfalls persönlich kannte. Vgl. Kozub-Ciembroniewicz, Wieslaw: Myśł polityczna Antoniego Zygmunta Helcla. Kraków 1977. 22 Roepell: Die polnische Frage, 890.

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fensichtlich eigene Erfahrungen ausblendete, die er durch die wissenschaftliche Zusammenarbeit mit Edward Raczyński und Tytus Działyński in Großpolen gewonnen haben musste. Denn dort war die „organische Arbeit“ längst in vollem Gange – nur richtete sie sich eben gegen die Germanisierungsbemühungen, die Roepell wiederum nachdrücklich einforderte und rechtfertigte.23 Trotz seiner politischen Ambitionen wurde Roepell 1848 nicht Abgeordneter in Frankfurt am Main,24 obwohl er dies vermutlich angestrebt hatte. Stattdessen trat dort sein älterer Kollege Stenzel als Experte für Polen hervor und wurde offizieller Berichterstatter für die Posenfrage, wobei er sich in der entsprechenden Wahl ausgerechnet gegen Gervinus durchsetzte.25 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Stenzel in der Abschlussdiskussion vor der Abstimmung über die Vorlage ganz ähnlich argumentierte wie zuvor Roepell in der Deutschen Zeitung und in seinen Briefen an Gervinus. Bei Stenzel klang dies so: „Es sind vorzugsweise drei Punkte, die wir ins Auge zu fassen haben: Der erste ist die Anerkennung und Aufnahme von einer halben Million Deutschen in den Deutschen Bund, der zweite die Feststellung und Sicherung der Reichsgrenze im Osten und der dritte die Gründung eines Kerns zur freien Entwicklung – zum ersten Mal seit den unglücklichen Ereignissen – einer polnischen Nationalität.“26 Für die Polen wurde also Mitleid geäußert, ihre nationalen Bestrebungen sollten zudem unterstützt werden – dies aber nur östlich von Posen, da die Reichsgrenze gegen Russland gesichert werden müsse und die dort lebenden Deutschen nicht außerhalb des Deutschen Bundes verbleiben sollten.

V. Roepell als Förderer polnischer Wissenschaftler Obwohl Roepell auch nach 1848 nicht an der angekündigten Weiterführung der Geschichte Polens arbeitete, gab er diese Aufgabe erst im Februar 1861, also über zwanzig Jahre nach Erscheinen des ersten Bandes, auf Druck des Verlags endgültig an den wesentlich jüngeren, zu jener Zeit in Jena tätigen Jakob Caro (1836–1904) ab. Über die Gründe dieser Entscheidung ist viel spekuliert worden. Adolf Warschauer (1855– 1930), der Schüler sowohl Roepells als auch Caros war, sah die Ursachen vor allem

23 Maier, Lothar: Richard Roepell als Mitarbeiter der „Deutschen Zeitung“. Ansichten eines Osteuropahistorikers über die polnische Frage im Vormärz. In: Leidinger, Paul/Metzler, Dieter (Hg.): Geschichte und Geschichtsbewußtsein. Festschrift Karl-Ernst Jeismann zum 65. Geburtstag. Münster 1990, 392–441, hier 400. 24 Roepell wäre offenbar gern Abgeordneter in Frankfurt am Main geworden, er sei den in Breslau starken Demokraten jedoch zu reaktionär gewesen. Vgl. Duncker, Max: Politischer Briefwechsel aus seinem Nachlaß. Hg. v. Johannes Schultze. Stuttgart/Berlin 1923, 4. 25 Stenzel: Gustav Adolf Harald Stenzels Leben, 385. 26 ������������������������������������������������������������������������������������������ Wigand, Franz (Hg.): Stenographischer Bericht über die Verhandlungen der Deutschen Constituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt am Main, Bd. 2: 1848. Frankfurt a. M. 1848, 1220.

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in der Umorientierung Roepells vom Mittelalter hin zur Neueren Geschichte.27 Caro selbst sah die Gründe für Roepells Verzicht einerseits darin, dass deutsche Gelehrte, die sich mit slawischer Geschichte beschäftigten, häufig isoliert seien, was Roepell offensichtlich habe vermeiden wollen. Andererseits habe sich der durch seine Geburtsstadt Danzig geprägte Gelehrte stets verstärkt für diejenigen Epochen der polnischen Geschichte interessiert, die in einem engen Zusammenhang mit der deutschen Geschichte gestanden hätten, mithin also nicht für die Blütezeit der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Tatsächlich beschäftigte Roepell sich auch in seinen Vorlesungen nur wenig mit polnischer Geschichte im engeren Sinn, vielmehr behandelte er mit großer Beredsamkeit Aspekte der gesamteuropäischen Geschichte.28 Dank seines rhetorischen Talents fehlte es wohl auch nicht an Zuhörern; eine Gesamtzahl seiner Hörer lässt sich allerdings nicht ermitteln. Neben etlichen polnischen Schülern bildete Roepell über die Jahre eine ganze Reihe jüdischer Studenten aus, für die er sich politisch und über sein liberales Netzwerk im Bedarfsfall engagierte. Zu erwähnen sind hier namentlich Moritz Jutrosinski (1825–1909) und der bereits genannte Adolf Warschauer. Während er Warschauer über Maximilian (Max) Duncker (1811–1886), seinen Freund aus Studententagen, zu einer Anstellung im preußischen Archivdienst verhalf – in dem Warschauer später zu einem der führenden deutschen Regionalhistoriker und Archivare für die östlichen preußischen Provinzen aufstieg –, setzte er sich für Jutrosinski auch in seiner Funktion als Abgeordneter ein. Jutrosinski hatte über viele Jahre vergeblich versucht, als Lehrer an der Posener Realschule eingestellt zu werden. Der Fall wurde zum Politikum und eigens im Preußischen Abgeordnetenhaus verhandelt, wo Roepell in der Sitzung vom 18. August 1862 als Referent in dieser Sache das Wort ergriff. Er berief sich dabei auf die Emanzipationsgesetze und auf die preußische Verfassung von 1850 mit ihren Artikeln IV und XII und stellte fest: „Da scheint es denn doch in der That nach so vielen Jahren hohe Zeit zu sein, daß diese Divergenz, dieser Kontrast zwischen dem Gesetz und dem Recht auf der einen Seite und der thatsächlichen Praxis auf der andern Seite endlich einmal ein Ende nimmt.“ Zudem bekannte er sich deutlich zu seiner Verantwortung als Hochschullehrer: „Der Dr. Jutrosinski, um dessen Anstellung es sich hier handelt, gehört nämlich einem Kreise junger jüdischer Männer an, die auf der Universität, an der ich zu lehren die Ehre habe, gerade in der Zeit studirten, als sich den Juden von Neuem die Aussicht auf volle Gleichberechtigung im Staate eröffnete. Meine Herren, im Vertrauen auf diese Aussicht wandten sich diese jungen Leute, ihrer wissenschaftlichen Neigung folgend, philosophischen und historischen Studien zu. Sollte ich nun, dem sie sich als Führer und Leiter in diesen Studien anschlossen, sollte ich ihnen abra-

27 �������������������������������������������������������������������������������������������� Warschauer, Adolf: Erinnerungen an Richard Roepell. In: Zeitschrift der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen 9 (1894) 159–174, hier 169. 28 Caro, Jakob: Richard Roepell. In: Chronik der Königlichen Universität zu Breslau für das Jahr vom 1. April 1893 bis zum 31. März 1894. Breslau 1894, 99–119, hier 116.

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then von diesem Entschlusse?“ 29 Jutrosinski erhält schließlich, nicht zuletzt dank der parlamentarischen Unterstützung Roepells, doch noch die gewünschte Anstellung als Lehrer in Posen.

VI. Roepell als nationalliberaler Parlamentarier Mit diesem chronologischen Vorgriff ist auch schon angedeutet, dass sich Roepell nach 1848 zunehmend politischen Aufgaben zuwandte. Folgende Mandate konnten ermittelt werden: 1850 war er Abgeordneter des Erfurter Parlaments, wo er der „Bahnhofspartei“ angehörte, von 1862 bis 1863 und wieder von 1868 bis 1876 war er Abgeordneter des Preußischen Abgeordnetenhauses, 1867 Abgeordneter der Nationalliberalen zum Reichstag des Norddeutschen Bundes (Konstituierender Reichstag); von 1877 bis zu seinem Tod schließlich gehörte Roepell als Vertreter der Universität Breslau dem Preußischen Herrenhaus an (1882 und 1883 beurlaubt). Hinzu kamen zum Teil gleichzeitige Mandate in Schlesien: Von 1859 bis 1885 war er Stadtverordneter in Breslau, von 1861 bis 1876 Abgeordneter des Schlesischen Provinziallandtags (mit fünfjähriger Unterbrechung).30 Parteipolitisch engagierte sich Roepell zunächst in der liberalen Bewegung, mit deren zunehmender Ausdifferenzierung dann ab 1867 in der neuentstandenen Nationalliberalen Partei beziehungsweise deren Fraktion im Abgeordnetenhaus. Die staatliche Einheit scheint für Roepell auch nach 1848 an erster Stelle gestanden zu haben, jedoch nicht um den Preis einer zu starken Monarchie. Deutlich wird dies etwa in einem Brief an Max Duncker, den er kurz vor Zusammentritt des Erfurter Unionsparlaments vor Konzessionen in der Verfassungsfrage warnte: „Deutschland kann nur vorwärts kommen, wenn Preußen fertig ist, und Preußen ist nun und nimmermehr fertig, wenn Ihr durch Konzessionen Euch und das Land für Jahre ruiniert. Daher 29 Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch allerhöchste Verordnung vom 6. Mai 1862 einberufenen beiden Häuser des Landtages, Bd. 3: Haus der Abgeordneten. Berlin 1862, Sitzung vom 18. August 1862, 1279f. Vgl. Jutrosinski, Moritz. In: Richarz, Monika (Hg.): Jüdisches Leben in Deutschland, Bd. 1: Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte, 1780–1871. Stuttgart 1976, 417–419. Antoni Knot erwähnt „Maurycy Jutrosiński“ in der Liste der polnischen Schüler Roepells, verschweigt aber seine jüdische Herkunft. Vgl. Knot, Antoni: Ryszard Roepell. In: Przegląd Zachodni 9/1 (1953) 108–168, hier 128. 30 Die Angaben zu Roepells Abgeordnetentätigkeit sind in den einschlägigen Nachschlagewerken teilweise widersprüchlich. So war er wohl 1862/63 Abgeordneter für den Wahlkreis WartenbergNamslau-Oels, von 1868 (durch Nachwahl) bis 1876 dann jedoch für den Wahlkreis LiegnitzGoldberg-Haynau. Sein älterer Bruder Carl (1807–1887), der als Rechtsanwalt in seiner Geburtsstadt Danzig tätig war, saß von 1862 bis 1866 ebenfalls als liberaler Abgeordneter im Abgeordnetenhaus. Dies führt in der Fachliteratur häufig zu Verwechslungen, da in den zeitgenössischen Quellen meistens nur von „Roepell“ die Rede ist. Am zuverlässigsten sind wahrscheinlich die Angaben in Kortkampf, Fr[iedrich] (Hg.): Parlamentarisches Handbuch für den Deutschen Reichstag und den Preußischen Landtag. Ausgabe für die XII. Legislatur-Periode des Preußischen Landtags, Theil 1: Gesetzgebung und Staatsverwaltung. Berlin 1874, 99.

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kein Handel. [...] Die deutschen Verhältnisse liegen doch so, dass nichts herauskommen kann, wenn Preußen nicht ganz entschieden vorangeht [...]. Die deutsche Einheit ist darum noch nicht verloren, wenn auch aus Erfurt nichts wird.“31 Als politisch-liberales Großprojekt der Jahre nach 1850 dürfen die Preußischen Jahrbücher gelten, die – als intellektuelle Plattform für das gebildete Bürgertum zur Verbreitung liberaler Ideen – im Januar 1858 zum ersten Mal erschienen. Roepell war an deren Begründung, Ausrichtung und finanzieller Absicherung als Vermittler zwischen den beteiligten Akteuren maßgeblich engagiert und gehörte darüber hinaus viele Jahre dem Beirat der Zeitschrift an. Zusammen mit seinem Duzfreund Theodor Mommsen (1817–1903) setzte er sich nachdrücklich für die Anonymisierung der Beiträge ein, um so das politische Anliegen in den Vordergrund zu rücken. Nach Sebastian Haas gehörte Roepell dabei zu der Gruppe, die eine Stärkung des Parlamentarismus einer zu großen Rücksichtnahme auf die Befindlichkeiten des Königshauses vorzog: „Beiratsmitglied Richard Roepell und Theodor Mommsen hielten dagegen: die P[reußischen] J[ahrbücher] müssten ‚wühlen‘ und dürften kein Journal für den Prinzen von Preußen sein. Hier zeigte sich bereits früh die Trennlinie des Liberalismus in Preußen, die zwischen den Staats- und Königstreuen auf der einen Seite und den Idealisten mit parlamentarischen Tendenzen auf der anderen Seite verlief.“32 Tatsächlich scheint Roepell jedoch in den folgenden Jahren verstärkt auf die Linie Otto von Bismarcks (1815–1898) und dessen gewaltsamer Durchsetzung der deutschen Einheit unter preußischer Führung und ohne Beteiligung des Parlaments eingeschwenkt zu sein. Interessanterweise wurde er dabei von Wilhelm Dilthey (1833– 1911), seinem späteren langjährigen Kollegen an der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau, offensichtlich nicht ganz ernst genommen. In einem Brief an Hermann Baumgarten (1825–1893) berichtete Dilthey: „Gestern feierten wir Bismarcks Ministerium mit einer langen Weinsitzung bis tief in die Nacht: Häusser, Haym, Prof. Röpell aus Breslau (ein wunderlicher Heiliger, der von der Breslauer Historie und Politik einen gleich schlechten Begriff giebt), Julian Schmidt und Weber – es wurden unterschiedliche heftige Tisch- und Nachtischreden über Nord- und Süddeutschland gehalten und ein combinierter Angriff auf die versammelten Vertreter der konstitutionellen Monatsund Tagespresse versucht.“33 In den Preußischen Jahrbüchern finden sich in den folgenden Jahren praktisch keine Beiträge von Roepell, so dass sich wenig über seine konkreten politischen Vorstellungen 31 Roepell an Duncker, 14. Januar 1850. Abgedruckt bei Duncker: Politischer Briefwechsel, 19f. 32 Haas, Sebastian: Die Preußischen Jahrbücher zwischen Neuer Ära und Reichsgründung (1858– 1871). Programm und Inhalt, Autoren und Wirkung einer Zeitschrift im deutschen ­Liberalismus. Berlin 2017 (Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen ­Geschichte 47), 79. Der Verzicht auf die Namensnennung der Autoren wurde nur bis Januar 1862 durchgehalten. Erster Herausgeber (bis 1865) wurde Rudolf Haym. 33 Dilthey an Baumgarten, 24. September 1862. Abgedruckt bei Dilthey, Wilhelm: Briefwechsel. Hg. v. Gudrun Kühne-Bertram und Hans-Ulrich Lessing, Bd. 1: 1852–1882. Göttingen 2011, 257.

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Matthias Barelkowski Abb. 3: Titelseite des ersten Jahrgangs der Zeitschrift Preußische Jahrbücher von 1858. Richard Roepell war Mitbegründer der liberalen Zeitschrift und langjähriges Beiratsmitglied, lieferte jedoch selbst kaum ­Beiträge für das Organ. Bildnachweis: Projektbereich Schlesische Geschichte am Historischen Institut der ­Universität Stuttgart.

sagen lässt. Im Abgeordnetenhaus, in dem er 1862/63 den liberalen Fraktionen „Linkes Zentrum“ und „Rechte Grabow“ angehörte,34 äußerte er sich nur einmal ausführlicher – und zwar abermals als Polenspezialist mit stark antirussischer Tendenz. Aus Anlass der Diskussion um die „Konvention Alvensleben“ legte er erneut seine Vorstellungen zur „Polnischen Frage“ dar. Ein weiteres Mal setzte sich der Breslauer Gelehrte zunächst mit den Vorstellungen Wielopolskis auseinander, die er für recht gefährlich hielt: „Meine Herren, wenn das nun die Lage der Dinge in Polen ist, sollen wir nun diese russenfreundlichen Pläne Wielopolski’s unterstützen durch eine Intervention? Sollen wir unser Gut und Blut hergeben, um die Russische Herrschaft in Polen nur noch fester zu machen, die Macht Rußlands zu verdoppeln, mit der Rußland auf uns drückt? Meine Herren! Das wäre meines Erachtens eine sehr falsche Politik.“35 Im Anschluss unterstrich er jedoch erneut, dass ein eigenständiger polnischer Staat keine derzeit deutschen Gebiete umfassen 34 ��������������������������������������������������������������������������������������� Die Angaben nach Haunfelder, Bernd: Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus 1849–1867. Düsseldorf 1994 (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 5), 1372. 35 Rede des Abgeordneten Roepell. In: Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch allerhöchste Verordnung vom 22. Dezember 1862 einberufenen beiden Häuser des Landtages, Bd. 1: Haus der Abgeordneten. Berlin 1863, 17. Sitzung am Donnerstag, den 26. Februar 1863, 336–338, hier 337.

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dürfe: „Wir wollen und wir werden Stücke Polenlandes, daß ist uns der große Gang der Historie in einem Jahrhunderte langen Kampf beider Nationen mit einander – denn unser Besitz ist das Resultat eines solchen Kampfes – wir werden, was wir in einem solchen Jahrhunderte langen Kampfe gewonnen haben, nicht wieder herausgeben.“36 Erst nach diesem Bekenntnis verwies er auf die Vorteile eines eigenständigen polnischen Staates, zu dessen Führung er die Polen nun durchaus in der Lage sah, um abschließend prophetisch festzustellen: „Ob ein unabhängiges Polen wirklich gefährlicher für Preußen ist, als ein starkes Rußland, nun meine Herren, das ist im Augenblick wirklich sehr schwer zu entscheiden, das hängt [...] von den Constellationen ab, unter welchen ein solches unabhängiges Polen ins Leben eintritt, hängt ab von einer Masse concreter Verhältnisse, die im Voraus jetzt kein menschlicher Blick erkennen kann.“37 Liest man die gesamte Rede, so fällt die starke Kontinuität zu Roepells Vorstellungen von 1847 auf. Erneut wurde vor imperialen Ambitionen des Zarenreichs gewarnt, erneut wurde ein neubegründeter polnischer Staat als Schutzschild gegen Russland ins Spiel gebracht, der aber wohlgemerkt nicht die deutschen Ostprovinzen umfassen solle. Hier klingen, wie schon 1847, deutlich „Antemurale“-Vorstellungen gegen die „asiatische Barbarei“ an, die auch von anderen Zeitgenossen vertreten wurden und die Roepell bereits deutlich in seiner Geschichte Polens artikuliert hatte.38 Obwohl Roepell hier also recht klar definierte, wo er einen künftigen polnischen Staat verortete, wird er bis heute in einen Gegensatz zu seinen Zeitgenossen gebracht, der so keineswegs bestand. Besonders deutlich wird dies in der Dissertation von Hubert Gerlich, einem Schüler Lothar Maiers, der ebenfalls auf die Rede von 1863 eingeht, die Aussage Roepells zu den deutschen Ostprovinzen jedoch schlicht unterschlägt. Vielmehr zitiert er ausgerechnet Roepells Freund und Wegfährten Gustav Freytag (1816–1895) sowie den fortschrittlich-liberal gesinnten Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883), die sich in Briefen an Freunde klar für einen Verbleib Posens und Westpreußens bei Preußen einsetzten, um dann zu schlussfolgern: „Eine andere Meinung als sein politischer Weggefährte Freytag, hatte, wie bereits durch Zitate belegt wurde, Roepell in dieser Frage vertreten.“39 Gerlich verbiegt hier offensichtlich die Quelle, um eine in jeder Hinsicht polenfreundliche Hal36 Ebd., 338. 37 Ebd. 38 Roepell: Geschichte Polens, 46f. Auch Ludwik Mierosławski rief nach seiner Befreiung aus dem Moabiter Zellengefängnis in Berlin im März 1848 in einer spontanen Rede seine Befreier zur Zusammenarbeit auf: „Eure Freiheit ist unsere Freiheit, und unsere Freiheit ist die Eure! [...] Nur freie Menschen, nur freie Völker können sich achten. O nehmt uns auf, ihr Völker des Westens in Euren Bund, dessen Kreis sich von Stunde zu Stunde mit Riesenschritten erweitert! [...] Freie Völker nur sollen sitzen am heiligen Bundes-Nachtmahl vor dem blutigen Morgen der offenen Feldschlacht gegen die Barbarenhorden im Osten.“ Dokument Nr. 4: Freilassung polnischer politischer Gefangener mit Ansprache Mierosławskis an das Berliner Volk über das Bündnis von Deutschen und Polen. Abgedruckt bei Booms, Hans/Wojciechowski, Marian (Hg.): Deutsche und Polen in der Revolution 1848–1849. Dokumente aus deutschen und polnischen Archiven. Boppard am Rhein 1991, 173f. 39 Gerlich: Organische Arbeit, 158.

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tung Roepells konstatieren zu können, denn dieser vertrat in Bezug auf Posen und Westpreußen keineswegs eine andere Haltung als Freytag und Schulze-Delitzsch. Gerlichs Einschätzung verwundert um so mehr, als es schließlich sein Lehrer Lothar Maier war, der in seiner oben zitierten Analyse der Haltung Roepells zu einem künftigen polnischen Staat in der Vormärzzeit auf die dort präsentierten Widersprüche hingewiesen hatte – eben jene Widersprüche, die auch in Roepells Rede von 1863 wieder zutage traten. Vier Jahre später war Roepell Abgeordneter der gerade erst gebildeten Nationalliberalen im Konstituierenden Reichstag des Norddeutschen Bundes. Sein Abstimmungsverhalten gibt dabei auch Auskunft über seine politischen Überzeugungen. Der Breslauer Professor stimmte der Verfassung zwar insgesamt zu, war aber gegen die Einführung von Grundrechten („Freiheit des religiösen Bekenntnisses, Preß-, Vereins- und Versammlungsrecht etc.“).40 Wie viele wohlhabende liberale Bildungsbürger war er offensichtlich von einem tiefen Misstrauen gegen eine zu weitgehende Volkssouveränität geprägt. Das undemokratische Dreiklassenwahlrecht in Preußen scheint ihn deshalb – wie die meisten Nationalliberalen – ebenfalls nicht gestört zu haben. Dies ­korrespondiert auch mit den Angaben Felix Priebatschs zu Roepells politischer Einstellung: „Aber er festigte sich immer mehr in der Anschauung, daß die bisherigen Gewalten im Staatsleben, Krone und Adel und hohes Beamtentum, ihre Alleinherrschaft zwar mit weiteren Schichten zu teilen hätten, daß aber die oberen Kreise der Gelehrten, der liberalen Berufe, der erwerbstätigen Fabrikanten und Kaufleute, die zunächst Berufenen sein müßten. Er wurde so zum gemäßigten Liberalen.“41 Mit Beginn des sogenannten Kulturkampfes hatte Roepell noch einmal einen großen Auftritt im Preußischen Abgeordnetenhaus. In einer Rede am 30. Januar 1873 sprach er sich klar für eine Trennung von Staat und (katholischer) Kirche aus, die er durch die Wiederherstellung des Jesuitenordens und die Politik des Papstes bedroht sah. „Ultramontanisten“ waren für ihn daher Staatsfeinde, die es international abzuwehren gelte: „Meine Herren, ich schließe mit diesem Gedanken: Wir stehen nicht vor einer Frage, die eine rein preußische, auch nicht mal vor einer, die eine rein deutsche Frage wäre, sondern wir stehen vor der großen historischen Frage, ob noch einmal der Ultramontanismus und sein Rom den Siegeszug vollenden sollen, den sie begonnen haben, ob noch einmal die Welt unterworfen werden soll ihren Prinzipien und ihren Lehren! Meine Herren, ich glaube, dass dies eine Frage ist, die inhaltsreicher, zukunftsreicher, schwerer ist, wie alle Fragen, die unser Jahrhundert sonst beschäftigt haben, und weil ich dies glaube, stimme ich auch für die Gesetze, die uns vorgelegt worden sind; 40 Generalregister zu den stenographischen Berichten über die Verhandlungen und den amtlichen Drucksachen des konstituirenden Reichstages, des Reichstages des Norddeutschen Bundes, des Deutschen Zollparlaments und des Deutschen Reichstages vom Jahre 1867 bis einschließlich der am 24. Mai 1895 geschlossenen III. Session 1894/95. Berlin 1896, Anlage B, 190. 41 Priebatsch: Aus den Lebenserinnerungen, 449f. Zu Nationalliberalismus und Wahlrecht vgl. Rössel, Jörg: Soziale Mobilisierung und Demokratie. Die preußischen Wahlrechtskonflikte 1900–1918. Wiesbaden 2000, 151.

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denn ich halte sie für eine Schutzwehr gegen eine neue Überfluthung der Welt durch den Ultramontanismus.“42 Inwieweit diese Rede Roepells etwa von den Abgeordneten der Polenpartei auch als antipolnisch wahrgenommen wurde, bleibt offen. In jedem Fall zeigte Roepell auch in dieser Frage Kontinuität, hatte er sich doch bereits 1855 als Vorsitzender des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens entschieden gegen konfessionelle Parteilichkeit und überzogene Kirchentreue seitens katholischer Historiker gewandt. Obwohl er damit die Spaltung des Vereins riskierte, hielt er doch vehement am Diktum der Neutralität der Wissenschaft fest.43

VII. Roepell und der Streit um Treitschkes Deutsche Geschichte Dass der nationalliberale Professor aus Breslau sich trotz dieser antikatholischen Rhetorik und der kleindeutschen Einheitseuphorie vieler seiner Parteigenossen nach 1870 dennoch nicht der damit in Preußen häufig verbundenen Abwertung der süddeutschen Liberalen anschließen wollte, machte er rund zehn Jahre später im Zuge des polarisierenden Historikerstreits um Heinrich von Treitschkes (1834–1896) Deutsche Geschichte eindrucksvoll deutlich.44 Dieser heute fast vergessene Streit war nach Andreas Biefang auch ein Streit um die ‚richtige‘ liberale Sicht auf die eigene Geschichte, „insbesondere die Gewichtung des jeweiligen Beitrags, den Preußen, die süddeutschen Staaten und die liberale Nationalbewegung zur Gründung des Deutschen Reiches geleistet hatten“.45 Er fand kurz nach der Spaltung der Nationalliberalen (1878/79) statt, bei der es im Kern um die Frage ging, ob eine weitere Unterstützung Bismarcks und der Regierung trotz deren Sozial- und Schutzzollpolitik angezeigt sei oder eher ein Bekenntnis zu bisherigen liberalen Werten wie Unternehmergeist und Eigenverantwortung. „Beinahe durchgängig war die Parteinahme für oder gegen Treitschke verbunden mit einer politischen Option für oder gegen den Rechtsschwenk des Nationalliberalismus.“46 42 Rede des Abgeordneten Roepell. In: Stenographische Berichte über die Verhandlungen der durch allerhöchste Verordnung vom 1. November 1872 einberufenen beiden Häuser des Landtages, Bd. 2: Haus der Abgeordneten. Berlin 1873, 857–861, hier 861. 43 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Bahlcke, Joachim: „Circel gebildeter, gelehrter Männer“. Zur Entwicklung, Struktur und inhaltlichen Ausrichtung aufgeklärter Sozietäten in Schlesien während des 18. Jahrhunderts. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 45–71, hier 51f. 44 Treitschkes Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert umfasste insgesamt fünf Bände, die zwischen 1879 und 1894 bei Hirzel in Leipzig erschienen. Der Historikerstreit darüber drehte sich um die Bände 1 (Bis zum Pariser Frieden. Leipzig 1879) und 2 (Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. Leipzig 1882). 45 Biefang, Andreas: Der Streit um Treitschkes „Deutsche Geschichte“ 1882/83. Zur Spaltung des Nationalliberalismus und der Etablierung eines national-konservativen Geschichtsbildes. In: Historische Zeitschrift 262 (1996) 391–422, hier 391. 46 Ebd., 392. Zur historischen Einordnung des Liberalismus in Deutschland vgl. Sheehan, James J.:

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Der Streit wurde äußerst polemisch geführt. Die Treitschke-Fraktion nutzte dafür vor allem die Preußischen Jahrbücher, deren alleiniger Herausgeber zwischen 1879 und 1883 der aus Dresden gebürtige Historiker selbst war. Einen Abschluss des Streits stellte die Verleihung des Verdun-Preises 1884 an Treitschke für die ersten beiden Bände seiner Gesamtdarstellung der deutschen Geschichte dar. Der damals wohl wichtigste deutsche Historikerpreis wurde alle fünf Jahre verliehen. Er war vom preußischen König 1843 zum tausendjährigen Jubiläum des Vertrags von Verdun gestiftet worden und mit 1.000 Talern in Gold hoch dotiert.47 Die Preisvergabe erfolgte auf Empfehlung einer neunköpfigen Kommission, zu der 1882 neben Heinrich von Sybel (1817–1895) und Max Duncker eben auch Richard Roepell gehörte. Bei der entscheidenden Kommissionssitzung am 16. Oktober 1883 war der Breslauer jedoch verhindert, wahrscheinlich weil er am Tag zuvor mit einer Rede zum zweiten Mal das Rektorat der Universität übernommen hatte. Bemerkenswert ist nun, dass Roepell seine Rede ausgerechnet dem badischen Liberalen Karl von Rotteck (1775–1840) widmete und dessen Leistungen hervorhob: „Es war ein ungleicher Kampf, den er Zeit seines Lebens geführt, der Kampf der Idee und des Rechts gegen die Macht. Und dennoch, schliesslich haben die Ideen, ich will nicht sagen, die Macht besiegt, aber für sich gewonnen. [...] Wo besteht heute noch in unserem Vaterlande die absolute, unbeschränkte Monarchie. Während Rottecks Leben war es hochverpönt, von deutscher Einheit und Freiheit zu reden, oder gar nach ihr zu streben, heute haben wir ein deutsches Parlament und unsern glorreichen Kaiser! [...] Nicht Preussens Zucht und Macht allein, sondern auch der Süddeutschen langer Kampf für die Idee verfassungsmässiger Freiheit und nationaler Einheit, hat uns an die Ziele gebracht, an welchen wir heute stehen.“48 Dies kann als klare Stellungnahme gegen Treitschke gewertet werden, hatte sich dieser doch in seinem Werk und der sich anschließenden Diskussion ausgesprochen abfällig über die süddeutschen Liberalen und die „Kleinstaaterei“ geäußert. Der Bericht der Preiskommission hingegen fiel deutlich zugunsten des Berliner Hofhistorikers aus, dessen Polemik sogar verteidigt wurde: „Will man von Einseitigkeit reden, so ist zu sagen, daß die bisher landläufige Ansicht eine einseitige Verherrlichung der liberalen Opposition und eine einseitige Verdammung der deutschen Regierungen war, während Treitschke neben dem Lobe auch die Mängel der einen Seite und neben dem Tadel auch die positiven Verdienste der anderen nachdrücklich hervorhebt. Nur wo es sich um die Wirkungen der Kleinstaaterei handelt, hört bei ihm eine derartig abwäDer deutsche Liberalismus. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg 1770–1914. München 1983. 47 Zum Verdun-Preis vgl. Weigand, Katharina: Geschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und nationaler Vereinnahmung, in: Weigand, Katharina/Zedler, Jörg/Schuller, Florian (Hg.):  Die Prinzregentenzeit. Abenddämmerung der bayerischen Monarchie? Regensburg 2013, 105–127. 48 Roepell, Richard: Karl Wenceslaus v. Rotteck. Rede zum Antritt des Rectorats der Universität Breslau am 15. October 1883. Breslau 1883, 32.

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gende Kritik durchgängig auf, und keinem wackern Partikularisten ist es zu verdenken, wenn er über das Buch um so heftiger ergrimmt, je mehr er den fesselnden Reiz der Lektüre empfindet.“49 Einstimmig wurde Treitschkes Werk dem Preußischen Kultusministerium und dem Kaiser als „preiswürdig“ empfohlen. Obwohl der Bericht erst am 26. Oktober aufgesetzt wurde, fehlt auf ihm die Unterschrift Roepells, der – trotz persönlicher Abwesenheit bei der Sitzung – noch hätte unterschreiben können. Es darf also angenommen werden, dass Roepell mit seiner Rektoratsrede und seiner Enthaltung bei der Preisvergabe bewusst gegen die Kommissionsentscheidung protestieren wollte und die süddeutschen Liberalen ostentativ gegen Treitschke in Schutz nahm. Diese politische Beständigkeit schien dann auch Gustav Freytag zu würdigen, der in seinen Erinnerungen über den Freund notiert, Roepell sei „einer von den wohlgefügten Männern, bei denen man mit Sicherheit darauf rechnen kann, auch nach jahrelanger Trennung in großen Fragen die gleiche Auffassung zu finden“.50 Priebatsch kam 1923 zu einem ähnlichen Urteil, wenn er zu den politischen Ansichten Roepells resümierend feststellte: „Ablehnung jeden Absolutismus und jeder Beamtenwillkür, Herstellung der deutschen Einheit und verfassungsmäßiger Einrichtungen ohne jähen Bruch mit der Vergangenheit, Verschiebung des Schwergewichts im Staat auf die obere Bürgerschaft, allmähliche Entwicklung des Verantwortungsgefühls bei den unteren Ständen.“51 Kurz vor Roepells Tod kam es 1891 noch zur Einrichtung der „Roepell-Stiftung“ zur Förderung junger Wissenschaftler, für die dem greisen Gelehrten in einem Festakt zu seinem fünfzigjährigen Professorenjubiläum ein Gründungskapital von 4.400 Mark überreicht wurde. Zu den Spendern zählten neben Jakob Caro unter anderem die schon erwähnten Schüler Moritz Jutrosinski und Adolf Warschauer.52

VIII. Roepell in der postumen Rezeption Unmittelbar nach Roepells Tod am 4. November 1893, seinem 85. Geburtstag, erschienen mehrere Nachrufe, die sein Leben und Werk würdigten. So betonte etwa Jakob Caro noch einmal die Neuartigkeit des Roepellschen Erstlingswerks im deutschen Kontext und kritisierte dabei mit bemerkenswerter Offenheit die ältere preußischdeutsche Geschichtsschreibung zu Polen: „Gegenüber den Gehässigkeiten eines Johannes Voigt, um nur das nächstliegendste Beispiel anzuführen, der in abstossendem 49 Bericht der Kommission zur Verleihung des zum Andenken an den Vertrag von Verdun gestifteten Preises für das beste Werk im Bereiche der deutschen Geschichte aus den Jahren von 1878– 1882 einschließlich, Berlin 26. Oktober 1883: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA Rep. 76, Vc Sekt. 1 Tit. XI Teil VIII Nr. 1, Bd. 2, Bl. 288–295, hier Bl. 294r. 50 Freytag, Gustav: Erinnerungen aus meinem Leben. Leipzig 1887, 173. 51 Priebatsch: Aus den Lebenserinnerungen, 450. 52 Gedruckte Erklärung des „Comités zur Herstellung einer Roepell-Stiftung“ vom 12. Mai 1891: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, VI. HA, Nachlass Althoff, Nr. 904, Bl. 115.

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Racenhochmuth in jedem Polen die Verkörperung aller niederen Leidenschaften und Eigenschaften sieht und es wie ein Naturgesetz betrachtet, dass Recht und Vernunft niemals auf der slawischen Seite sein könne, ergab sich hier eine Darstellung, welche den Unterschied der Nationalitäten nicht mehr hervorkehrte, als für die Feststellung der Thatsachen notwendig war.“53 Caro betonte außerdem die entscheidende Rolle Roepells bei der Wiederbelebung und Neuorganisation des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens nach Stenzels Tod, der dann das Muster für manchen anderen lokalen Geschichtsverein geworden sei. Er erwähnte aber auch kritisch, dass die späten Werke Roepells zur polnischen Geschichte in keinem Fall an dessen Erstlingswerk heranreichten. Alle deutschen Nachrufe unterstrichen zudem Roepells Wirken als Politiker.54 Der euphorischste polnische Nachruf dürfte von Ludwik Finkel (1858–1930) stammen, der noch einmal ein bezeichnendes Licht auf die polnische Einstellung zu Roepell wirft. Gleich am Anfang wurde der Verstorbene als „Sohn eines anderen Volkes“ gewürdigt, „der uns so nah war, wie ein naher Freund, wie ein guter und hilfsbereiter Nachbar, wie ein aufrechter und edler Mensch, ehrenhaft und objektiv“. Mit seinem frühen Werk habe sich Roepell „das Recht auf unsere Mitbürgerschaft ­verdient“. Unvergessen sei schließlich dessen Auftritt auf dem ersten polnischen Historikertag 1880 in Krakau, wo er mit „allgemeinen Ovationen“ gefeiert worden sei, als er der Versammlung zugerufen habe: „Nur die Wahrheit allein führt zur Freiheit“ und „die Wissenschaft spaltet nicht, sondern verbindet die Völker.“55 Die Würdigung seiner politischen Tätigkeit wurde hingegen einmal mehr an künftige deutsche Biographen verwiesen. Dass hier auf polnischer Seite manches ausgeblendet wurde, hat – wegen der damit verbundenen Beurteilung seiner eigenen Person leicht verbittert – kein anderer als Jakob Caro in einem Brief an Aleksander Kraushar (1841–1931) festgestellt, dem er 1895 auf dessen Anfrage wegen eines Nachrufs auf Roepell schrieb: „Wenn ich an Ihrer Stelle schriebe, würde ich die polnischen Patrioten, denen Roepell als der advocatus Dei und Caro als der advocatus diaboli des polnischen Volkes gilt, doch fragen, warum Roepell in den 25 Jahren seiner parlamentarischen Wirksamkeit nicht ein einziges Mal zu Gunsten der Polen auch nur eine Silbe gesprochen, dagegen ganz flott immer für alle RestrictionsGesetze gegen die Polen gestimmt hat.“56

53 Caro: Richard Roepell, 106. Caros Argumentation ist umso bemerkenswerter, als Johannes Voigt (1786–1863) als Ikone der preußischen Geschichtsforschung galt und Caro ansonsten auch gern, wie seine Lobeshymne auf Treitschke zeigt, propreußisch argumentierte. Vgl. Caro, Jakob: Treitschke, Kleine Schriften. In: ders.: Vorträge und Essays. Gotha 1906, 191–202. 54 Besonders hervorzuheben sind die Nachrufe von Caro: Richard Roepell; Warschauer: Erinnerungen an Richard Roepell; Reimann, Eduard: Richard Roepell. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 28 (1894) 461–471. 55 Finkel, Ludwik: Ryszard Roepell. In: Kwartalnik Historyczny 8 (1894) 193–199, hier 193, 198. 56 Caro an Kraushar, 29. April 1895. Abgedruckt bei Kraushar, Alexander: Jakób Caro historyk dziejów Polski. Przyczynek do charakterystyki. In: Sprawozdania z posiedzeń Towarzystwa Naukowego Warszawskiego, Wydział I i II 9/1 (1918) 1–17, hier 11.

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Für Roepell schien die – von Caro richtig konstatierte – ambivalente Doppelrolle als in Polen gefeierter Historiker und nationalliberaler preußischer Politiker in Deutschland durchaus nichts Ungewöhnliches darzustellen. In seiner schon zitierten Rede zum Antritt seines zweiten Rektorats an der Breslauer Universität 1883 fragte Roepell in der Einleitung rhetorisch: „Und liegen Geschichte, Recht und Politik ihrer ganzen Natur nach nicht höchst nahe? Berühren und ergänzen sie sich nicht gegenseitig an zahlreichen Punkten?“ Seine Antwort lautete: „Ist doch die Hauptaufgabe des Historikers das öffentliche, d. i. das politische Leben der Vergangenheit darzustellen; wie sollte ihm dies jemals gelingen ohne Sinn und Verständnis von Recht und Politik, welche die wesentlichsten Einschlagsfäden in dem Gewebe jedes öffentlichen Lebens sind.“57 Auf die Verbreitung seiner politischen Ansichten auch in Polen, etwa zur „polnischen Frage“ und zur Rolle des Katholizismus, scheint der zweimalige Rektor jedenfalls Zeit seines Lebens keinen besonderen Wert gelegt zu haben. Welch außerordentlichen Ruf Roepell bei den polnischen Historikern genoss, wurde noch einmal wenige Jahre nach seinem Tod deutlich, als Oswald M. Balzer (1858– 1933) ihn als Kronzeugen gegen Theodor Mommsen ins Feld führte. Mommsen hatte im Zuge der Diskussion um eine immer noch am Horizont stehende „großdeutsche Lösung“ in einem in der Presse veröffentlichten Brief an die Deutschen in Österreich mit Blick auf die tschechische Nationalbewegung festgestellt: „Und nun sind die ­Apostel der Barbarisierung am Werke, die deutsche Arbeit eines halben Jahrtausends in dem Abgrunde ihrer Unkultur zu begraben.“ Der Brief gipfelte in der Forderung: „Seid einig! Das ist das erste Wort. Und das zweite Wort ist: seid hart! Vernunft nimmt der Schädel der Tschechen nicht an, aber für Schläge ist auch er zugänglich.“58 Balzer antwortete daraufhin Mommsen in einem offenen Brief, der auf Deutsch, Tschechisch und Polnisch in großer Auflage verbreitet wurde: „Es gab bis jetzt keinen Historiker, der den Muth gehabt hätte eine solche Behauptung aufzustellen, geschweige denn dazu gelangt wäre, dieselbe zu beweisen. Wir müssen annehmen, dass Sie die Worte, die so leicht aus Ihrer Feder geflossen sind, gut bedacht haben; wir müssen erwarten, dass Sie ­wenigstens einen Versuch anstellen werden, um sie mit Belegen zu unterstützen. Sie werden wohl dem Rathe Roepells folgen, eines der Trefflichsten unter Ihren Landsleuten, der in dem Pantheon der deutschen Historiographie in wissenschaftlicher Hinsicht eine würdige Stelle neben Ihnen einnimmt. Der Mann hat gesagt: ‚Es wird uns Deutschen nicht leicht, den nationalen Geist der Slaven unbefangen aufzufassen und zu würdigen, aber mit dem reinen Negiren, absoluthen Verurtheilen desselben, wie man solches in unseren 57 Roepell: Karl Wenceslaus v. Rotteck, 1f. 58 Mommens Brief „An die Deutschen in Österreich“ wurde zuerst gedruckt in der Tageszeitung Neue Freie Presse vom 31. Oktober 1897. Zum Hintergrund vgl. Bahlcke, Joachim: Von Palacký bis Pekař. Preußen als Thema der tschechischen Geschichtswissenschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert [2006]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2016 (Forschungen zu Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3), 300–327, hier 321–325.

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Tagen gar häufig findet, kommt man sicher der Sache nicht auf den Grund.‘ Wir sehen den Beweisen entgegen.“59 Nun standen Roepell und Mommsen wissenschaftlich sicherlich nicht auf einer Höhe, hatte Roepell seinen – im Wesentlichen auf Polen beschränkten – wissenschaftlichen Ruhm doch lediglich einem einzigen Buch zu verdanken. Gleichwohl waren beide Akademiker seit den Breslauer Jahren Mommsens eng befreundet, standen sich parteipolitisch nahe und hatten etwa bei der Gründung der Preußische[n] Jahrbücher eng zusammengearbeitet. Insofern war der Vergleich von Balzer nicht ohne Ironie. Gleichwohl deutet dieser Fall aber erneut auf die Ambivalenzen in den Auffassungen und Beziehungen dieser Persönlichkeiten hin, wenn man bedenkt, dass etwa Mommsen, Roepell und Treitschke sich zwar parteipolitisch – als Nationalliberale – und auch persönlich zumindest zeitweise nahestanden, im Berliner Antisemitismusstreit oder in der Behandlung der „Polenfrage“ aber gleichwohl konträre Positionen vertraten. So könnte man mit der gebotenen Vorsicht Mommsen als politisch antislawisch beziehungsweise antipolnisch,60 nicht aber als antisemitisch charakterisieren, Treitschke wiederum als antisemitisch, überzogen kleindeutsch und antipolnisch, während Roepell sich – wie gezeigt – sowohl für Polen als auch für Juden einsetzte und überdies die süddeutschen liberalen Verfassungsbestrebungen zu verteidigen wusste, auch wenn er von der Überlegenheit der „preußisch-deutschen Kultur“ stets überzeugt war und sich klar antikatholisch und antirussisch äußerte.

IX. Schlussbemerkung In jedem Fall gilt es, Ambivalenzen nicht aus den Augen zu verlieren und mit Etikettierungen wie „Polenfreund“ vorsichtig zu sein, trat Roepell doch für einen neuen polnischen Staat vor allem aus der Überzeugung heraus ein, „dass ein russischer Krieg kommen würde“ und Preußen wegen dessen vermutlich langer Dauer nur schlecht dafür gerüstet sei. Überspitzt könnte man auch formulieren, dass der Außenpolitiker Roepell Staatsgründungen vor allem aus einer Perspektive des Nutzens beziehungsweise Schadens für Preußen-Deutschland sah, mithin also vorrangig utilitaristisch dachte. Damit

59 ������������������������������������������������������������������������������������������� Balzer, Oswald: Offenes Schreiben an Dr. Theodor Mommsen, Professor an der Universität Berlin, aus Anlass des in der „Neuen Freien Presse“ vom 31. Oktober 1897 Nr. 11923 veröffentlichten Aufrufes „An die Deutschen in Österreich“. [Lemberg um 1897]. Balzer zitierte aus der Vorrede Roepells zu dessen Geschichte Polens, die in der polnischen Ausgabe fehlte. 60 Als Wissenschaftler unterstützte Mommsen hingegen 1875 die Gründung der Zeitschrift Archiv für slawische Philologie und verschaffte dem neuen Periodikum sogar eine dauerhafte finanzielle Unterstützung durch das Preußische Kultusministerium, war also auf diesem Gebiet keineswegs „antislawisch“ eingestellt. Vgl. Ergetowski, Ryszard: Tajny raport profesora Jacoba Caro. In: ders.: Silesiaca. Biblioteki – studenci – uczeni. Wrocław 2005 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2625), 186–189.

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korrespondiert auch seine ursprüngliche Ablehnung der Einigung Italiens, „weil ein nicht österreichisches Italien ein Herd französischen Einflusses sein würde“.61 Da Roepells Nachlass und auch seine Tagebücher als verloren angesehen werden müssen und die angekündigte Biographie von Felix Priebatsch wegen dessen frühen Todes nicht zustande gekommen ist, werden auf dem Bild des Breslauer Professors und liberalen Parlamentariers wahrscheinlich viele weiße Flecken bestehen bleiben. Als Beitrag zur Forschung über den Liberalismus, das deutsche Polenbild und die Universitätsgeschichte lohnen sich weitere Untersuchungen dennoch.

61 ������������������������������������������������������������������������������������������ Die beiden letzten Zitate nach Priebatsch: Aus den Lebenserinnerungen, 450. Zu diesem Themenbereich vgl. im breiteren Kontext Gramley, Hedda: Propheten des deutschen Nationalismus. Theologen, Historiker und Nationalökonomen 1848–1880. Frankfurt a. M. 2001; SchornSchütte, Luise: Polnische Frage und deutsche Geschichtsschreibung. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 35 (1986) 72–107; Krieger, Karsten (Bearb.): Der „Berliner Antisemitismusstreit“ 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, Tl. 1–2. München 2003. Als Detailstudien sind aufschlussreich Hertz-Eichenrode, Dieter: Heinrich von Treitschke und das deutsch-polnische Verhältnis. Einige Bemerkungen, ausgehend von dem Aufsatz „Das deutsche Ordensland Preußen“ (1862). In: Jahrbuch für Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 41 (1993) 45–89; Sutter, Berthold: Theodors Mommsens Brief „An die Deutschen in Österreich“ (1897). In: Ostdeutsche Wissenschaft 10 (1963) 152–225 (Wortlaut des Briefes: 159f.).

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Aus Norddeutschland nach Schlesien. Die Rechtshistoriker ­Theodor Mommsen (1817–1903) und Otto Friedrich von Gierke (1841–1921) und ihre ­Netzwerke an der Universität Breslau I. Einführung Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen zwei in ihrer Zeit und bis heute bedeutende Wissenschaftler, Theodor Mommsen (1817–1903) und Otto Friedrich Gierke (1841–1921), seit 1911 von Gierke. Beide stammten aus dem Norden Deutschlands, Mommsen aus dem Herzogtum Schleswig, Gierke aus Hinterpommern. Beide waren also keine Schlesier, verbrachten aber zeitlich versetzt eine Episode ihrer akademischen Laufbahn an der Universität Breslau, der ältere Mommsen knapp vier Jahre, der jüngere Gierke fast 14 Jahre. Jeder für sich steht für eine Richtung der Rechtsgeschichte. Während Mommsen noch heute als princeps der römischen Rechtsgeschichte, des römischen Rechts und der Altertumswissenschaften gilt, liegt Gierkes Bedeutung auf dem Gebiet der juristischen Germanistik und des geltenden Zivilrechts. In seinem Werk Deutsches Privatrecht zog er die Summe deutschrechtlicher, germanistischer Forschungen. Gefragt werden soll in besonderer Weise nach den Netzwerken, die beide Gelehrten an der Universität Breslau besaßen und auch nach ihrem jeweiligen Weggang weiter pflegten.

II. Theodor Mommsen 1. Leben und Werk Theodor Mommsen wurde am 30. November 1817 in Garding bei Eiderstedt im dänischen Schleswig als Sohn eines lutherischen Pastors geboren.1 Er starb am 1. November 1903 in Berlin-Charlottenburg. Für die Rechtswissenschaften ist seine Ausgabe der Di1 Wickert, Lothar: Theodor Mommsen, Bd. 3: Wanderjahre. Leipzig u.a. 1969; Demandt, Alexander: Mommsen, Theodor. In: Neue Deutsche Biographie 18 (1997) 25–27; Rebenich, Stefan: ­Theodor Mommsen. München 2002; Von Seebüll bis nach Berlin. Gardings Ehrenbürger Theodor Mommsen. Herkunft, Leben, Leistung. St. Peter Ording 2003 (Eiderstedter Hefte 6); Sturm, Fritz: Theodor Mommsen. Gedanken zu Leben und Werk des großen deutschen Rechtshistorikers. Karlsruhe 2006; Schröder, Jan: Theodor Mommsen (1817–1903). In: Kleinheyer, Gerd/Schröder, Jan (Hg.): Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten. Heidelberg 52008 [11976], 298–303; Ernst, Wolfgang: non quia ius, sed quia Romanum – Mommsen und die Rechtswissenschaft seiner Zeit. In: Fargnoli, Iole/Rebenich, Stefan (Hg.): Theodor Mommsen und die Bedeutung des Römischen Rechts. Berlin 2013 (Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen N.F. 69), 15–34.

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gesten als Hauptteil des Corpus Juris Civilis,2 die er in den Jahren 1868 bis 1870 herausgab, noch heute unentbehrlich und maßgeblich.3 Mit dieser juristisch-philologischen Arbeit schenkte Mommsen der Rechtswissenschaft und der heutigen Romanistik erstmals eine sichere Quellengrundlage. Sein Römisches Staatsrecht in drei Bänden4 und sein Römisches Strafrecht5 gelten als Glanzleistungen der Forschung. Beide Werke erarbeitete Mommsen mangels spezifischer rechtlicher Quellen nahezu ohne Vorarbeiten aus den Quellen zur römischen Geschichte.6 Die in der Breslauer Zeit erschienene Römische Geschichte in drei Bänden7 brachte ihm 1902 zudem den Nobelpreis für Literatur ein.8 Mommsen studierte Rechtswissenschaften von 1838 bis 1843 an der Universität Kiel und wurde über ein Thema aus dem römischen Recht, speziell über Gerichtsschreiber und Gerichtsdiener, bei dem nicht weiter bekannten Kieler Professor Georg Christian Burchardi (1795–1882) promoviert.9 Ein dänisches Stipendium ermöglichte ihm eine ausgedehnte Studienreise nach Frankreich und anschließend nach Italien, wo er sich nach einem intensiven Studienaufenthalt bei dem Fachmann für Inschriften Bartolomeo Borghesi (1781–1860) den antiken römischen Inschriften des Königreichs Neapel widmete.10 Deren Edition erschien 1852. Ohne sich habilitiert zu haben, erhielt er 1848 eine Professur an der Juristischen Fakultät der Universität Leipzig. Mommsen, der schon während der 1848er Revolution dänische Ansprüche auf Schleswig-Holstein 12 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Mommsen, Theodor/Krüger, Paul (Hg.): Corpus Juris Civilis, Bd. 1: Institutiones, Digesta. Berlin 1870. Das Corpus Juris Civilis ist eine Sammlung des antiken römischen Rechts, die der oströmische Kaiser Justinian in den Jahren 529–534 erstellen ließ und die die abendländische Rechtsentwicklung maßgeblich beeinflusst hat. 13 Schröder: Mommsen, 301. 14 Mommsen, Theodor: Römisches Staatsrecht, Bd. 1–3. Leipzig 1871–1888; Nippel, Wilfried: Geschichte und System in Mommsens „Staatsrecht“. In: Kaenel, Hans-Markus von (Hg.): Geldgeschichte vs. Numismatik. Theodor Mommsen und die antike Münze. Kolloquium aus Anlaß des 100. Todesjahres von Theodor Mommsen, 1817–1903. Berlin 2004, 215–228. 15 Mommsen, Theodor: Römisches Strafrecht. Leipzig 1899; Ebert, Udo: „Strafrecht ohne Strafprozess ist ein Messergriff ohne Klinge“. Theodor Mommsen und das „Römische Strafrecht“. In: Wiesehöfer, Josef (Hg.): Theodor Mommsen. Gelehrter, Politiker und Literat. Stuttgart 2005, 51–82; Liebs, Detlef: Mommsens Umgang mit den Quellen des römischen Strafrechts. In: Nippel, Wilfried/Seidensticker, Bernd (Hg.): Theodor Mommsens langer Schatten. Das römische Staatsrecht als bleibende Herausforderung für die Forschung. Hildesheim 2005, 199–214. 16 Schröder: Mommsen, 300. 17 Erschienen in Leipzig 1854 bis 1856; Jähne, Armin: Theodor Mommsen. Seine „Römische Geschichte“: In: Sitzungsberichte der Leibniz-Sozietät 59/3 (2003) 89–108; Bringmann, Klaus: Theodor Mommsen als Geschichtsschreiber der römischen Republik. In: Kaenel (Hg.): Geldgeschichte vs. Numismatik, 157–171; Meier, Christian: Mommsens Römische Geschichte. In: Berichte und Abhandlungen der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 11 (2006) 433–452. 18 Schlange-Schöningen, Heinrich: Ein „goldener Lorbeerkranz“ für die „Römische Geschichte“. Theodor Mommsens Nobelpreis für Literatur. In: Wiesehöfer (Hg.): Theodor Mommsen, 207– 228. 19 Mommsen, Theodor: Ad legem de scribis et viatoribus et De auctoritate. Kiliae 1843. 10 Ders.: Inscriptiones regni neapolitani latinae. Leipzig 1852.

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Abb. 1: Theodor Mommsen (1817–1903). Bildnachweis: Privatarchiv des Verfassers.

als Zeitungsredakteur zurückgewiesen hatte, wurde allerdings 1851 zusammen mit seinen Freunden Moriz Haupt (1808–1874) und Otto Jahn (1813–1869) aus politischen Gründen wegen ihrer Beteiligung am sächsischen „Maiaufstand“ von 1849 entlassen. 1852 gelang Mommsen ein Wechsel nach Zürich. Von dort berief ihn das Preußische Kultusministerium 1854 an die Universität Breslau. Bereits 1853 war er korrespondierendes Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften geworden. Der Grund für die Berufung nach Breslau war sein wachsender wissenschaftlicher Ruhm. Allein bis zum Anfang der 1850er Jahre hatte Mommsen bereits vier umfangreiche Arbeiten zum römischen Verfassungsrecht, zum Münzwesen, zur Chronologie und zum Wirtschaftsrecht veröffentlicht.11 Das bereits erwähnte Werk über die lateinischen Inschriften des Königreichs Neapel hatte bahnbrechend gewirkt und der Forschung neue Wege gewiesen. In diesen Schriften zeigt sich Mommsens Bestreben, die römische Antike in ihrer Gesamtheit zu verstehen und über die juristischen Fachgrenzen hinaus zu wirken. Seine Römische Geschichte erschien in Leipzig und Berlin von 1854 bis 1856, also in der Breslauer Zeit. Vor allem dieses Werk verschaffte Mommsen eine gewisse Berühmtheit über die Fachgrenzen hinaus. So notierte der Diplomat und Geschichtsschreiber Theodor (von) Bernhardi (1802–1885) etwa anlässlich eines Besuchs in Breslau über ein Mittagessen im Professorenkreis: „Mommsen, der gefeierte Verfasser der 11 Ders.: Die römischen Tribus in administrativer Beziehung. Altona 1844; ders.: Über den Chronographen vom J. 354. Leipzig 1850; ders.: Über das römische Münzwesen. Leipzig 1850; ders.: Über das Edict Diocletians de pretiis rerum venalium vom Jahre 301. Leipzig 1851.

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römischen Geschichte, Schleswig-Holsteiner, geistreicher Mann.“12 Ebenfalls in der Breslauer Zeit (1857) wurde Mommsens mit rund 140 Druckseiten großangelegter Aufsatz über Die Stadtrechte der latinischen Gemeinden Salpensa und Malaca in der Provinz Baetica publiziert.13 Nur knapp vier Jahre sollte Mommsen an der Universität Breslau bleiben. Zum Zeitpunkt seines Weggangs nach Berlin umfasste seine Publikationsliste 262 Titel. Durch Vermittlung Alexander von Humboldts (1769–1859) erhielt er zum 1. Januar 1858 eine Stelle an der Preußischen Akademie der Wissenschaften, um in deren Auftrag eine großangelegte Quellenedition, das Corpus antiker lateinischer Inschriften, herauszugeben.14 1861 wurde Mommsen außerdem zum Professor für Alte Geschichte an der Berliner Universität ernannt. Sein Berliner Akademieprojekt über die antiken lateinischen Inschriften hatte Mommsen bereits in Breslau geplant und vorbereitet. Es beruhte auf dem Autopsieprinzip, das heißt, der zuständige Bandherausgeber war gehalten, jede in den Band aufgenommene Inschrift anhand des Originals zu überprüfen. Mommsen selbst hatte mit seiner Ausgabe der Inschriften des Königreichs Neapel bewiesen, dass ein derartiges Projekt realisierbar war. Für das Corpus inscriptionum latinarum erarbeitete er fünf Bände persönlich. Für die übrigen elf Bände bestimmte er die Herausgeber, mit denen er eng kooperierte. Auch für die Monumenta Germaniae Historica edierte er für die Reihe der spätantiken Autoren („Auctores Antiquissimi“) mehrere Werke15 sowie in der Reihe „Gesta Pontificum Romanorum“ den ersten Teil des Liber pontificalis.16 In seiner Berliner Zeit arbeitete Mommsen an einer Konzeption für das in Rom geplante Deutsche Archäologische Institut. Die von ihm 1871 erstellte Satzung machte aus dem vormals preußischen ein deutsches Institut. Ebenfalls in die Berliner Zeit fällt seine Mitarbeit an der Römisch-Germanischen Kommission, die sich der Erforschung des provinzialrömischen Lebens widmete. Seit 1890 kam die Limes-Forschung hinzu.

12 Zit. nach [Andreae, Friedrich (Hg.)]: Aus dem Leben der Universität Breslau. Der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zum 125. Gedenktag ihrer Gründung gewidmet vom Universitätsbund Breslau. Breslau 1936, 269. 13 ��������������������������������������������������������������������������������������� Mommsen, Theodor: Abhandlungen der Philologisch-Historischen Klasse der Königlich-Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften. Leipzig 1857, 364–507. 14 Das Corpus inscriptionum latinarum erscheint seit 1862 in mittlerweile 17 Bänden mit insgesamt rund siebzig Teilbänden; Rebenich, Stefan: Die Erfindung der „Großforschung“. Theodor ­Mommsen als Wissenschaftsorganisator. In: Kaenel (Hg.): Geldgeschichte vs. ­Numismatik, 5–20; Kahlert, Torsten: Theodor Mommsen, informelle Netzwerke und die Entstehung des „Corpus Inscriptionum Latinarum“ um 1850. In: Ottner-Diesenberger, Christine (Hg.): Geschichtsforschung in Deutschland und Österreich im 19. Jahrhundert. Ideen, Akteure, Institutionen. Stuttgart 2014 (Pallas Athene 48), 180–197. 15 Mommsen, Theodor (Hg.): Monumenta Germaniae Historica. Auctores Antiquissimi, Bd. 5/1: Jordanis romana et getica; Bd. 9/1: Chronica minora; Bd. 11/2: Chronica minora; Bd. 12: Cassiodori senatori variae; Bd. 13/3: Chronica minora. Berlin 1882–1898. 16 Ders. (Hg.): Monumenta Germaniae Historica. Gesta pontificum Romanorum, Bd. 1: Liber pontificalis. Berlin 1898.

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2. Persönliche Kontakte Mommsens in der Breslauer Gelehrtenwelt Neben den großen wissenschaftlichen Projekten mit anderen Gelehrten verfügte ­Mommsen über vielfältige persönliche Kontakte, die sowohl privater als auch wissenschaftlicher Natur waren.17 Einen engen brieflichen Kontakt pflegte er mit seinem ehemaligen Leipziger Kollegen Otto Jahn (1813–1869), einem Philologen und Musikwissenschaftler, der seit 1855 in Bonn eine Professur bekleidete. In Breslau hatte Mommsen regelmäßigen Kontakt mit den Eheleuten Wattenbach.18 Der Historiker und Archivar Wilhelm Wattenbach (1819–1897) war 1855, also etwa zeitgleich mit Mommsen, nach Breslau gekommen.19 Der gebürtige Holsteiner wurde später Professor für Geschichte in Heidelberg und Berlin sowie kommissarischer Leiter der Monumenta Germaniae Historica. Sein heute noch bekanntes Hauptwerk ist die Darstellung Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter bis zur Mitte des XIII Jahrhunderts von 1858. In Breslau arbeitete Wattenbach als Provinzialarchivdirektor. Mommsen schrieb in einem seiner Briefe über den gesellschaftlichen Umgang mit den Eheleuten Wattenbach: „Alle Dienstage sind wir Abends zusammen und oft recht heiter.“20 Aus Bonn war außerdem der Philologe Jacob Bernays (1824–1881) nach Breslau gelangt. Er hatte 1853 ein Lehramt am jüdisch-theologischen Seminar in der schlesischen Hauptstadt übernommen und konnte zugleich weiterhin als Privatdozent an der Philosophischen Fakultät tätig sein.21 Mommsen pflegte mit Bernays eine enge Zusammenarbeit und stand ihm auch persönlich als Freund nahe.22 So äußerte er sich in einem Brief an Ferdinand Hitzig (1811–1881) in Zürich vom 28. September 1856: „Mein Verhältnis mit dem Orient beruht jetzt auf Bernays, den ich übrigens wirklich als Menschen und Gelehrten [...] sehr respektiere.“23 Bernays las beispielsweise die Werke Mommsens Korrektur. Er selbst schrieb im November 1854: „Umgang hab ich noch immer keinen außer mit Mommsen.“24 Der edierte Briefverkehr lässt auf einen intensiven fachlichen und lebhaften persönlichen Kontakt schließen.25 In einem Schreiben an Carl Theodor Welcker (1790–1869) berichtete Mommsen am 3. März 1856: „Inzwischen sehen wir [Mommsen und Bernays, d. Verf.] uns oft und ich bin dankbar in dieser Steppe ihn zu 17 Koredczuk, Józef: Kontakty naukowe Theodora Mommsena z wrocławskim środowiskiem uniwersyteckim. In: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska Republika Uczonych – Schlesische Gelehrtenrepublik – Slezská vědecká obec, Bd. 2. Wrocław 2006, 210–227. 18 Wickert: Theodor Mommsen, Bd. 3, 310, 319, 330. 19 Ebd., 342. 20 Zit. nach ebd., 319 (Brief vom 18. Dezember 1855); vgl. ferner ebd., 330 (Brief von Anfang 1856). 21 Ebd., 322; Kurig, Hans (Hg.): Jacob Bernays: Geschichte der klassischen Philologie. Vorlesungsnachschrift von Robert Münzel. Hildesheim 2008; Bollack, Jean: Ein Mensch zwischen zwei Welten: Der Philologe Jacob Bernays. Göttingen 2009. 22 Wickert: Theodor Mommsen, Bd. 3, 311, 322f., 329. 23 Zit. nach ebd., 331. 24 Zit. nach ebd., 325. 25 Ebd., 325f.

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haben.“26 Ebenso äußerte er sich gegenüber Wilhelm Henzen (1816–1887) am 16. November 1856: „Ich wollte doch, ich wäre hier fort; mit Ausnahme von Bernays bin ich eigentlich völlig ohne wissenschaftlichen Umgang.“27 Mommsen, der ebenso scharfzüngig die Verhältnisse in Breslau wie auch die dortigen Kollegen beschrieb, ließ im Übrigen an der örtlichen Universität kein gutes Haar. Gegenüber Hitzig klagte er am 7. November 1854: „Die akademischen Dinge sind nicht schön. Kein Zug hier, weder unter den Studenten noch unter den Dozenten; jenes sind lauter Schlesier, viele arm, die meisten stinken, alle faul. [...] Hier ist zum Beispiel in meine diesjährige Vorlesung, Obligationenrecht, [...] auch nicht ein einziger gekommen. [...] Du siehst, es sieht hier schlimm aus. Unter den Dozenten finde ich nur Mediokritäten, es ist wie wenn man auf den Wochenmarkt kommt, wenn schon alles Wertgut verkauft ist.“28 Etwa zeitgleich heißt es in einem Brief an Jahn vom 18. Oktober 1854: Die „Dozenten leben wie die Meute im Stall, auf sich beschränkt und doch im ewigen Hader; so weit ich bis jetzt sehe, fehlt es gänzlich an Kapazitäten; Zopftum, Schlaffheit, schlesischer Partikularismus sind die Räder der Uhr hier zu Lande.“29 Am 17. Dezember 1855 schrieb er: „Ich freue mich auf Berlin [auf den weihnachtlichen Besuch bei den Schwiegereltern, d. Verf.]; hier ist’s ledern und einem, der guten Umgang gewohnt ist und nun überall auf Piepmeier und Kleinmichel trifft, eine kleine Abwechslung wohl zu gönnen.“30 Besonders negativ äußerte sich Mommsen über Breslau in einem Brief an Karl Benedikt Hase (1780–1864) vom 2. März 1856: „Freilich ragt in unsere Breslauische Erde das Slaventum schon stark herein und der polnische äußere und innere Schmutz, das Geschlecht der Crapylinski und Waschlapskis, ist hier stark vertreten; der rechte Zug und der frische jugendliche Eifer fehlt unter unserer Studenten- und Professorenwelt mehr, als dies auf irgendeiner anderen mir bekannten deutschen Universität der Fall ist.“31 Ganz unbehaglich kann sich Mommsen in Breslau aber auch nicht gefühlt haben, denn er schrieb rückblickend am 20. August 1858 aus Berlin: „Wie oft sehnen wir uns nach Breslau zurück.“32 Und am 15. Oktober 1859 berichtete er: „Heute abend reisen wir nach Breslau. Ich möchte meine Frau, ehe ich fortgehe [gemeint ist eine geplante, aber nicht angetretene Reise nach Italien, d. Verf.], noch einmal in diesen treuen und lieben Kreis zurückbringen.“33 Dem Historiker Richard Roepell (1808–1893) in Breslau verriet Mommsen am 5. Juli 1858: „Ihr fehlt mir auch, das glaub mir.“34 Und am 26 27 28 29 30 31 32 33 34

Zit. nach ebd., 331. Zit. nach ebd. Zit. nach ebd., 314. Ders. (Hg.): Theodor Mommsen – Otto Jahn. Briefwechsel 1842–1868. Frankfurt am Main 1962, 182. Zit. nach ders.: Theodor Mommsen, Bd. 3, 320. Zit. nach ebd., 552. Zit. nach ebd., 614. Zit. nach ebd., 614. Zit. nach [Andreae (Hg.)]: Aus dem Leben der Universität Breslau, 273.

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10. Februar 1860 teilte er ihm mit: „Von Deiner Tätigkeit und Deinem Erfolg mit den Vorlesungen höre ich mit Freude, und mit Neid lese ich, wie ihr dort zusammensteht zu gemeinsamem Reden und Handeln.“35 Von den Fakultätskollegen scheint Mommsen nur Eduard Huschke (1801–1886) geschätzt zu haben, der ebenfalls auf dem Gebiet des antiken römischen Rechts arbeitete und zur oskischen Sprache – wie Mommsen selbst – Oskische Studien veröffentlicht hatte.36 In der ihm eigenen sprachlichen Schärfe bemerkte Mommsen über Huschke, es seien „immer gute Sachen unter seinen Phantasmen“.37 Und an Jahn berichtete er am 1. Dezember 1854: „Mit Huschke stehe ich gut, aber fern. Er ist unverheiratet und sieht niemand bei sich; dazu überladen mit unsäglicher Arbeit. Auch vermeide ich es, unser jetziges gutes Verhältnis durch allzu enge Berührung zu gefährden, vielleicht zu sprengen; denn sein Sinn für Gott und König wie sein Nichtsinn für das Einfache und Durchsichtige würden dann doch uns politisch wie wissenschaftlich sogleich verheddern.“38 Die Differenzen lagen also wohl nicht nur im fachlichen, sondern auch im politisch-weltanschaulichen Bereich. Huschke war Präsident des Konsistoriums der Altlutheraner und kirchenpolitisch aktiv,39 wofür Mommsen, wiewohl Sohn eines lutherischen Pastors, keinerlei Verständnis aufbringen konnte. Ebenfalls in privatem und fachlichem Kontakt stand Mommsen in Breslau mit dem Altphilologen Friedrich Haase (1808–1867),40 der im akademischen Jahr 1858/59 das Amt des Rektors der schlesischen Alma mater bekleiden sollte. Mommsen nannte ihn allerdings einen „Philister“,41 obwohl gerade Haase wegen „burschenschaftlicher Umtriebe“ in den Jahren 1837/38 in Festungshaft gesessen hatte. In einem anderen Brief dagegen bezeichnete er ihn als „genauer Freund“.42 Verbindend wirkten hier die gemeinsame politisch-liberale Gesinnung und die Vorbehalte gegen den Katholizismus. Im Haus des Nationalökonomen Karl Julius Bergius (1807–1871) verkehrte ­Mommsen mit seiner Frau nur zu Gesellschaften.43 Den Orientalisten und katholischen Theologen Franz Movers (1806–1856), der der Katholisch-Theologischen Fakultät angehörte, scheint Mommsen fachlich geschätzt zu haben: „Movers sehe ich nicht viel, aber wenn ich ihn sehe gern.“44 Freundschaftliche Beziehungen bestanden ferner zum Direktor des Magdalenengymnasiums, dem Altphilologen Karl Gottlob Schönborn 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44

Zit. nach ebd.; Wickert: Theodor Mommsen, Bd. 3, 614. Wickert: Theodor Mommsen, Bd. 3, 344. Zit. nach ebd. Zit. nach ebd.; ders. (Hg.): Theodor Mommsen – Otto Jahn. Briefwechsel, 191. Ders.: Theodor Mommsen, Bd. 3, 344; Maser, Peter: Georg Philipp Eduard Huschke an Hans Ernst Kottwitz. Eine Untersuchung zum Verhalten der altlutherischen Opposition in Breslau zur Erweckungsbewegung. In: Kirche im Osten 25 (1982) 11–63. Wickert: Theodor Mommsen, Bd. 3, 331. Ders. (Hg.): Theodor Mommsen – Otto Jahn. Briefwechsel, 191 (Brief vom 1. Dezember 1854). Zit. nach ders.: Theodor Mommsen, Bd. 3, 347. Ebd., 352. Zit. nach ebd., 350 (Brief vom 1. Dezember 1855).

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(1803–1869), und zu dessen Frau. Bei dem Ehepaar verbrachte Mommsen mit anderen gesellige Abende – auch wenn es dort stets nur Hering zu essen und nichts zu trinken gab.45 Da Mommsen aber Schönborn seine Römische Chronologie widmete, dürfte auch hier ein fachlicher Austausch stattgefunden haben. Zum gesellschaftlichen Umgang in Breslau gehörten schließlich der Philosoph Christlieb Julius Braniß (1792–1873), der Sanskritist Adolf Friedrich Stenzler (1807– 1887)46 und der aus Hildesheim gebürtige Geologe, Mineraloge und Paläontologe Carl Ferdinand Römer (1818–1891). Mommsens Biograph Lothar Wickert schreibt über das Breslauer Universitätsleben: „Die geselligen Beziehungen überschreiten die Fakultätsgrenzen, auch abgesehen davon, daß Mommsen in der Philosophischen Fakultät schon damals beinahe mehr zu Hause war als in seiner eigenen.“47 Wie vorstehend bereits angedeutet, scheint Mommsen eine besonders enge Beziehung zu dem Historiker Richard Roepell aufgebaut zu haben.48 Hier verbanden sich persönliche Sympathie und gemeinsame politische Gesinnung. So gingen Mommsen und Roepell bald zum „Du“ über.49 Beide hatten an der Gründung der Zeitschrift Preußische Jahrbücher im Jahr 1857 mitgewirkt.50 An der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur scheint sich Mommsen dagegen nicht beteiligt zu haben.51 Mit den anderen Universitätskollegen war der Kontakt dagegen spärlich und von Ablehnung geprägt. Als Mommsen nach Breslau kam, wirkten als Philologen an der Universität Karl Ernst Christoph Schneider (1786–1856) und Julius Ambrosch (1804–1856). Schneider schätzte Mommsens Römische Geschichte offenbar nicht und ließ den Autor das auch spüren.52 Ambrosch war zugleich Kustos im Museum und galt als einer der ersten Erforscher griechischer Vasen.53 Ambrosch muss dezidiert katholisch 45 46 47 48

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Ebd., 350. Rebenich: Theodor Mommsen, 100. Wickert: Theodor Mommsen, Bd. 3, 352. Ebd., 344f., 614; Gerlich, Hubert: Richard Roepell (1808–1893). Deutsche und polnische Geschichte vom Standpunkt der „organischen Idee“ betrachtet. In: Ruchniewicz, Krzysztof/­Zybura, Marek (Hg.): „Mein Polen...“. Deutsche Polenfreunde in Porträts. Dresden 2005, 199–215; Widawska, Barbara: Richard Roepell (1808–1893) und Jacob Caro (1836–1904) als deutsch-polnische Kulturvermittler. Zu ihrem Briefwechsel mit polnischen Gelehrten. In: Brandt, Marion (Hg.): Solidarität mit Polen. Zur Geschichte und Gegenwart der deutschen Polenfreundschaft. Frankfurt am Main 2013 (Colloquia Baltica 25), 125–146. Wickert: Theodor Mommsen, Bd. 3, 345 (Brief vom 9. August 1856); [Andreae (Hg.)]: Aus dem Leben der Universität Breslau, 272f. (Briefe vom 5. Juli 1858 und 10. Februar 1860). Zwei Briefe Mommsens zu den Preußischen Jahrbüchern an Roepell sind abgedruckt in: [Andreae (Hg.)]: Aus dem Leben der Universität Breslau, 272f. Zach, Franziska: Die „Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur“ im 19. Jahrhundert. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 121–141; Wickert: Theodor Mommsen, Bd. 3, 352. Wickert: Theodor Mommsen, Bd. 3, 346. Ebd., 347.

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gewesen sein. Hier zeigte sich bei Mommsen wieder die Ablehnung gegen alles Kirchliche. Am 1. Dezember 1854 bemerkte er gegenüber Otto Jahn: Ambrosch „geht auf im Katholizismus; wenn ich ihn recht taxiere, so ist seine Lebensaufgabe, den edlen Pius IX. nicht bloß als Nachfolger Petri, sondern auch als den von Sextus Papirius und Numa Pompilius darzustellen; Er dusselt ganz greulich über römisches Priesterwesen.“54 3. Hochschulpolitik und akademische Lehre An der Hochschulpolitik wirkte Mommsen zu seinem Missvergnügen nur mit mäßigem Erfolg mit. Er war allerdings an der Berufung der Philologen Johannes Vahlen (1830–1911) und August Roßbach (1823–1898) nach Breslau im Jahr 1856 beteiligt, obwohl diese Berufungen nicht in seiner, der Juristischen, sondern in der Philosophischen Fakultät stattfanden, der Mommsen nicht angehörte.55 Nachdem sich einige Hochschullehrer, darunter auch Otto Jahn, für die Katholiken Vahlen und Heinrich Brunn (1822–1894) ausgesprochen hatten, erhielt Jahn von Mommsen eine deutliche Antwort: „das geht schlechterdings nicht an. Wir wollen eben keinen Katholiken, heiße er wie er wolle. Das wird euch wohl einseitig und ungerecht vorkommen; aber hier ist Krieg, wenn auch zugedeckter, und da ist Einseitigkeit und Ungerechtigkeit eben notwendig. Wir sind jetzt glücklich so weit, daß wir de iure einen Professor der katholischen und einen der protestantischen Geschichte haben; grade weil die Katholiken mit der Philologie dasselbe beabsichtigen, wollen wir jetzt zwei Protestanten. Es kommt auch etwa materiell darauf an: Die Prüfungen der Gymnasiallehrer hängen an diesen Professuren und bei dem sehr tiefen Stand der katholischen Gymnasien ist es wünschenswert einen durch Charakter und Alter und Protestantismus sichern Mann an dieser Stelle zu haben.“56 Möglicherweise berief man den Bonner Katholiken Vahlen durch die Einflussnahme Mommsens nur zum Extraordinarius, während der Tübinger Protestant Roßbach zum ordentlichen Professor für Alte Geschichte und Sprachen ernannt wurde. In der Fakultät erfuhr Mommsens Tätigkeit eine positive Resonanz. In einem zeitgenössischen Bericht heißt es: „In der juristischen Fakultät haben wir an Herrn Mommsen eine höchst schätzenswerte Kraft gewonnen. Sehr anerkennenswert ist namentlich die liebenswürdige und uneigennützige Weise, mit welcher er die jungen Rechtsbeflissenen persönlich an sich heranzuziehen und dadurch zu einer etwas ernsteren und geistvolleren Beschäftigung mit ihrer Wissenschaft anzuregen sucht. Die Art und Weise, wie das juristische Studium hier bisher von der Masse betrieben ward, war gerade so geistlos und handwerksmäßig, wie es auf der Mehrzahl der deutschen Universitäten zu sein 54 Zit. nach ebd.; ders. (Hg.): Theodor Mommsen – Otto Jahn. Briefwechsel, 191. 55 Ders.: Theodor Mommsen, Bd. 3, 347–349; ders. (Hg.): Theodor Mommsen – Otto Jahn. Briefwechsel, 211f. 56 Zit. nach ders.: Theodor Mommsen, Bd. 3, 348; ders. (Hg.): Theodor Mommsen – Otto Jahn. Briefwechsel, 211f.

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pflegt; auch hier erbte es sich gleichsam als ein Axiom von Geschlecht zu Geschlecht fort, daß der angehende Jurist von sechs Semestern fünf seinem Vergnügen widmen dürfe, worauf dann ein sechsmonatliches Repetitorium ohne Vorkenntnisse und ohne eigentliche wissenschaftliche Bildung vollständig genügend sei, einen richtigen Juristen – oder doch wenigstens einen richtigen Auskultator57 – aus ihm zu machen. Diesem Schlendrian tritt Herr Mommsen mit großer Energie und, wie es scheint, nicht ohne Glück entgegen; mögen seine Erfolge von Dauer sein.“58 Dieser Bericht wirft ein Schlaglicht auf die Gründe für die Berufung Mommsens nach Breslau. Er wird ergänzt durch einen Brief Mommsens vom 8. Oktober 1854, in dem dieser beiläufig die an seine Tätigkeit gerichteten Erwartungen beschrieb: „Meine Stellung hier kann ich noch nicht übersehen; aber sie wird schwierig sein. Ein gemeiner Einpauker, [Ludwig Anton] Gitzler [1811–1888], hat infolge seines Katholizismus und vor allem dem schlesischen Naturell adäquaten Methode sich hier bei den Studenten festgesetzt; ihn zu sprengen scheint einer der Zwecke meiner Anstellung und daß der nicht erreicht werden kann, wirst Du begreifen.“59 Das Ministerium berief mit Mommsen vermutlich gezielt einen dezidiert der Forschung zugewandten Juristen, um das Niveau der Juristischen Fakultät in Breslau zu heben. Zu Mommsens fünfzigjährigem Doktorjubiläum im November 1893 sollte die Fakultät dem Jubilar mit einer Grußadresse gratulieren. In ihr wurde Mommsen als „Fürst unter Deutschlands Gelehrten“ gefeiert, „als der Einzige, der das ungeheure Ganze voll beherrscht, [...] als der große Künstler, dem sich die unscheinbarsten Trümmer zum herrlichsten Gebäude fügten“.60 Die Studentenschaft scheint von dem neuen Professor dagegen kaum Notiz genommen zu haben. In Mommsens erstem Breslauer Semester kam niemand in seine Vorlesungen, im zweiten Semester waren es dann immerhin zwölf Studenten.61 ­Mommsen las im Wintersemester 1854/55 vierstündig das Obligationenrecht, ab 1855 im Sommersemester zehnstündig die Institutionen und Geschichte des römischen Privatrechts und im Wintersemester ebenfalls zehnstündig über die Pandekten.62 Hinzu kamen „Praktische Übungen auf dem Gebiet des Civilrechts“ und „Exegetisch-praktische Übungen“ aus dem Römischen Recht. Im Sommer 1857 und im Winter 1857/58 hielt Mommsen keine Vorlesungen mehr. Lediglich im Wintersemester 1855/56 bot er ergänzend zu seinen juristischen Veranstaltungen eine nichtöffentliche Vorlesung über „Die Geschichte Roms unter den julischen Kaisern“ in der Philosophischen Fakultät an. Das geschah auf „Veranlassung des Ministers“, die Philosophische Fakultät hatte ihre Erlaubnis dazu „mit Vergnügen“ erteilt.63 57 Die Auskultation ist der erste (unbezahlte) Teil des dreijährigen juristischen Vorbereitungsdienstes, der im Referendariat fortgesetzt wurde. 58 Zit. nach [Andreae (Hg.)]: Aus dem Leben der Universität Breslau, 268f. 59 Zit. nach Wickert: Theodor Mommsen, Bd. 3, 553 Anm. 8. 60 Zit. nach [Andreae (Hg.)]: Aus dem Leben der Universität Breslau, 274. 61 Rebenich: Theodor Mommsen, 100. 62 Wickert: Theodor Mommsen, Bd. 3, 315f. 63 Zit. nach ebd., 316.

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Mommsen war zu seinem Leidwesen als ordentlicher Professor der Rechte ­zugleich Mitglied des Spruchkollegiums.64 Er erhielt also einen Anteil an den im Wege der Aktenversendung an die Juristische Fakultät gelangten Gerichtsakten zur Bearbeitung und wirkte an der Urteilsfindung mit. Im Rahmen der akademischen Selbstverwaltung gehörte er im Winter 1856/57 sowie im Sommer 1857 überdies zu den „Erwählten Senatoren“.65 4. Politisches Engagement Politisch betätigte sich Mommsen in Breslau nicht. Erst in seiner Berliner Zeit nahm er in den Jahren 1863 bis 1866 als Mitglied der Fortschrittspartei einen Sitz im preußischen Abgeordnetenhaus ein, nochmals dann von 1873 bis 1879. Von der Fortschrittspartei wechselte Mommsen später zur Nationalliberalen Partei und schließlich zu der von dieser abgespaltenen Liberalen Vereinigung, für die Mommsen 1881 in den Reichstag gewählt wurde. Ihm gehörte er bis 1884 an. Politische Gedanken entwickelte Mommsen in Breslau allerdings im ersten Band der Preußischen Jahrbücher von 1858 in einer Rezension des Buches L’Histoire du Consulat et de l’Empire von Adolphe Thiers (1797–1877).66 Unter dem Deckmantel dieser Buchbesprechung trat Mommsen für ein repräsentatives Regierungssystem sowie für rechtsstaatliche und konstitutionelle Prinzipien ein. Und auch im Jahr 1856, als er die philosophische Ehrendoktorwürde der Universität Greifswald erhielt, formulierte er in seinem Dankesbrief nicht ohne deutliche Anspielung auf die Zeit nach 1849: „Die Wissenschaft ist nichts als das gewaltige Verlangen nach Wahrheit und Recht, und in schlimmen Tagen deren Freistatt.“67 Zugleich war Mommsen Anhänger der Idee, Deutschland unter preußischer Führung zu vereinigen. Mit Gleichgesinnten gründete er in Breslau die Historisch-Philosophische Gesellschaft.68 Der in diesem Kreis entstandene Band Abhandlungen erschien 1858 und wurde dem späteren preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm (1831– 1888), dem nachmaligen Kaiser Friedrich III., gewidmet, der 1856/57 in Breslau gelebt hatte. Mommsen trug zu dem Band eine Arbeit über die vorzeitige Abberufung Cäsars aus Gallien durch den Senat bei.69 Mommsen wies darin nach, dass die vorzeitige Been-

64 Ebd.; zum Phänomen der Aktenversendung vgl. Oestmann, Peter: Aktenversendung. In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1. Berlin 22008 [11976], 128–132; ders.: Wege zur Rechtsgeschichte. Gerichtsbarkeit und Verfahren. Köln/Weimar/Wien 2015, 189–193. 65 Wickert: Theodor Mommsen, Bd. 3, 316. 66 Mommsen, Theodor: Thiers und die Kaiserzeit. In: Preußische Jahrbücher 1 (1858) 225–244. 67 Zit. nach Wickert: Theodor Mommsen, Bd. 3, 369; ders. (Hg.): Theodor Mommsen – Otto Jahn. Briefwechsel, 214. 68 Rebenich: Theodor Mommsen, 100. 69 �������������������������������������������������������������������������������������� Mommsen, Theodor: Die Rechtsfrage zwischen Caesar und dem Senat. Breslau 1858 (Abhandlungen der Historisch-Philosophischen Gesellschaft in Breslau 1).

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digung der Statthalterschaft unrechtmäßig war und Cäsar daher berechtigterweise den Rubicon überschritten hatte. Auch die in der Breslauer Zeit publizierte Römische Geschichte kann einerseits als historische Darstellung, andererseits als beispielhaft für Mommsens Gegenwart gelesen werden. Mommsen deutete die römische Geschichte als Prozess der „nationalen Einigung“ Italiens und einer allmählichen Demokratisierung der „res publica“.70 Die Römer waren seiner Auffassung nach – wie man bei Alexander Demandt lesen kann – „ein freies Volk, das zu gehorchen verstand, in klarer Absagung von allem mystischen Priesterschwindel, in unbedingter Gleichheit vor dem Gesetz und unter sich, in scharfer Ausprägung der eigenen Nationalität“.71 Die römischen Ämter und Gesellschaftsschichten versah Mommsen bewusst mit Bezeichnungen aus der Gegenwart. So betitelte er die Senatoren als „Junker“, die equites als „Kapitalisten“. Mit diesem gezielten Gegenwartsbezug stellte er die römische Antike in eine Parallelität zur eigenen Zeit – und seinen Landsleuten als Vorbild vor Augen.

III. Otto Friedrich von Gierke 1. Leben und Werk Otto Friedrich Gierke (1911 in den erblichen Adelsstand erhoben und seitdem von Gierke) wurde am 11. Januar 1841 in Stettin geboren; er starb am 10. Oktober 1921 in Berlin-Charlottenburg.72 Er war also rund zwanzig Jahre jünger als Mommsen. Anders als dieser verbrachte Gierke nicht nur dreieinhalb, sondern rund 14 Jahre in Breslau. Gierke stammte aus einer Juristenfamilie. Sein Vater war Jurist, für einige Jahre preußischer Landwirtschaftsminister und zuletzt Präsident des Appellationsgerichts in Bromberg. Einer seiner Vettern war der Bonner Rechtslehrer Ernst Zitelmann (1852– 1923); ein Schwager, Edgar Loening (1843–1919), war Professor für Staats- und Kirchenrecht in Halle, ein anderer, Richard Loening (1846–1913), Professor für Straf- und Strafprozessrecht in Jena. Seine Cousine heiratete den Pandektisten und späteren Berliner Fakultätkollegen Heinrich Dernburg (1829–1907). Bereits im Deutschen Krieg von 1866 hatte Gierke als Leutnant die Schlacht von Königgrätz mitgemacht; am Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 nahm er eben70 Zit. nach Heuß, Alfred: Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert. Kiel 1956, 75. 71 Demandt: Mommsen, 25. 72 Stutz, Ulrich: [Nachruf auf Otto Friedrich von Gierke]. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 43 (1922) VIII–XLV; Bader, Karl Siegfried: Gierke, Otto von. In: Neue Deutsche Biographie 6 (1964) 374–375; Ehrlich, Stanisław: Otto von Gierke mniej znany. In: Czasopismo prawno-historyczne 29 (1977) 189–206; Schröder, Jan: Otto von Gierke (1841–1921). In: Kleinheyer/Schröder (Hg.): Deutsche und Europäische Juristen, 152–158; Dilcher, Gerhard: Gierke, Otto von (1841–1921). In: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2. Berlin 22012 [11971], 375–379.

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Abb. 2: Otto Friedrich von Gierke (1841– 1921). Bildnachweis: Privatarchiv des Verfassers.

falls teil. Für besondere Tapferkeit erhielt er 1871 das Eiserne Kreuz. Gierke zeichnete sich durch eine dezidiert preußisch-deutsche Gesinnung aus, die – wie bei vielen seiner Zeitgenossen – im Alter von einer eher liberalen zu einer konservativen Prägung überging.73 Gierke studierte die Rechte in Berlin und Heidelberg und wurde mit einer Arbeit über die Verpflichtungen aus dem Lehnsverhältnis 1860 in Berlin bei Carl Gustav Homeyer (1795–1874) promoviert.74 Das Thema ging auf Georg Beseler (1809–1888) zurück, der bald zum maßgeblichen Förderer Gierkes werden sollte. Das Lehnrecht, das Privatfürstenrecht und das Fideikommissrecht blieben für Gierkes ganzes Gelehrtenleben (auch als Gutachter) das zentrale Arbeitsgebiet.75 Beseler, der als Entdecker des Genossenschaftsgedankens in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Lebenswelt gilt,76 gab sodann auch die Anregung für die Habilitationsschrift über die Geschichte der Genossenschaft und des Genossenschaftsrechts. Die Arbeit wurde von Beseler und Homeyer gemeinsam betreut. 1867 erhielt Gierke die venia legendi für germanistischjuristische Lehrgebiete und für Staatsrecht. Zu Gierkes Hauptwerken zählen das dreibändige Werk Deutsches Privatrecht,77 erschienen zwischen 1895 bis 1917, sowie das in vier Bänden zwischen 1868 und 1881 – 73 Stutz: [Nachruf ], XXX. 74 Gierke, Otto: De debitis feudalibus. Berolini 1860. 75 Stutz: [Nachruf ], XII. 76 ���������������������������������������������������������������������������������������� Kern, Bernd-Rüdiger: Georg Beseler. Leben und Werk. Berlin 1982 (Schriften zur Rechtsgeschichte 26). 77 Gierke, Otto: Deutsches Privatrecht, Bd. 1: Allgemeiner Teil und Personenrecht; Bd. 2: Sachenrecht; Bd. 3: Schuldrecht. Leipzig 1895–1917.

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also vornehmlich in der Breslauer Zeit – vorgelegte Werk Das deutsche Genossenschaftsrecht.78 Gierkes Forschungen zur Genossenschaft auf dem Gebiet des römischen Rechts, der mittelalterlichen Kanonistik sowie der germanistischen Rechtstradition befruchteten das Gesellschaftsrecht, aber auch moderne sozialgeschichtliche Forschungen etwa zu den Kommunen, Zünften und Gilden maßgeblich.79 Für die Gegenwart bedeutsam ist sein Einsatz für das Persönlichkeitsrecht und dessen Schutz sowie seine Konzeption des Arbeitsvertrags. Gierke dachte den Arbeitsvertrag nicht als reines schuldrechtliches Rechtsverhältnis, sondern als Eingliederung in einen personenrechtlichen und sozialen Verband.80 In eigentümlicher Weise verband er liberale und soziale, gleichermaßen vorausblickende wie rückwärtsgewandte Anschauungen. Franz Wieacker nannte Gierke daher einen „Denker [...] von Gestern und Morgen“, dem aber das „Heute“ gefehlt habe.81 2. Gierke an der Universität Breslau Gierke hatte noch während des Deutsch-Französischen Krieges einen Ruf nach Zürich erhalten, diesen aber abgelehnt, weil ihn die Berliner Universität aufgrund tatkräftiger Fürsprache seines Lehrers Beseler am 9. März 1871 zum außerordentlichen Professor ernannte.82 Für die Nachfolge von Carl Gustav Homeyer (1795–1874) in Berlin stand der Einunddreißigjährige nach Heinrich Brunner (1840–1915)83 und Richard Schröder (1838–1917)84 an dritter Stelle, kam aber, da Brunner den Ruf annahm, nicht zum Zuge. 1871 wurde er jedoch als Nachfolger von Otto Stobbe (1831–1887)85 als or78 Ders.: Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. 1: Rechtsgeschichte der deutschen Genossenschaft; Bd. 2: Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs; Bd. 3: Die Staats- und Korporationslehre des Altertums und des Mittelalters und ihre Aufnahme in Deutschland; Bd. 4: Die Staats- und Korporationslehre der Neuzeit. Berlin 1868–1913 [ND Graz 1954]. 79 Bickle, Peter: Otto Gierke als Referenz? Rechtswissenschaft und Geschichtswissenschaft auf der Suche nach dem Alten Europa. In: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 17 (1995) 245–267; Heydenreuter, Reinhard: Otto von Gierkes Genossenschaftsrecht und die Rechtsgeschichte. In: Entwicklung und Realisierung des Genossenschaftsgedankens vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Dargestellt an ausgewählten Beispielen.  München 2000 (Schriftenreihe zur Genossenschaftsgeschichte 2), 153–169; Janssen, Albert: Die bleibende Bedeutung des Genossenschaftsrechts Otto von Gierkes für die Rechtswissenschaft. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für ­Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 122 (2005) 352–366. 80 Schröder: Gierke, 156. 81 Wieacker, Franz: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. Göttingen 21967 [11952], 456. 82 Stutz: [Nachruf ], XV. 83 Liebrecht, Johannes: Heinrich Brunner (1840–1915). In: Grundmann, Stefan (Hg.): Festschrift 200 Jahre Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin. Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Berlin 2010, 305–326. 84 Webler, Meike: Leben und Werk des Heidelberger Rechtslehrers Richard Carl Heinrich Schroeder (1838–1917). Ein Rechtshistoriker an der Schwelle vom 19. zum 20. Jahrhundert. Berlin 2005 (Schriften zur Rechtsgeschichte 124). 85 Scholze, Bettina: Otto Stobbe (1831–1887). Ein Leben für die Rechtsgermanistik. Berlin 2002 (Schriften zur Rechtsgeschichte 90).

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dentlicher Professor nach Breslau berufen. Auch dort hatte sich die Juristische Fakultät nicht für Gierke ausgesprochen, da dieser sich mehr als Kultur- und Rechtshistoriker denn als Dogmatiker des geltenden Rechts gezeigt hätte, wie die Fakultät in einem Bericht an den preußischen Kultusminister bemängelte.86 Die Bestallung zum ordentlichen Professor an der Juristischen Fakultät in Breslau durch König Wilhelm von Preußen (1797–1888) erfolgte dennoch am 12. Dezember 1871.87 1884 verließ Gierke Breslau und ging nach Heidelberg; dort erhielt er schließlich – erneut auf Betreiben seines Lehrers Beseler – einen Ruf an die Universität Berlin. Gierke verstand es durchaus, die Kollegen in Schlesien von seinen Fähigkeiten zu überzeugen. Im akademischen Jahr 1882/83 bekleidete er das Amt des Rektors der Breslauer Universität. Ulrich Stutz (1868–1938) bezeichnete Gierkes Jahre in Breslau in einem persönlich gehaltenen Nachruf in der Berliner Juristischen Gesellschaft als einen „der schönsten und fruchtbarsten Abschnitte seines reich gesegneten Lebens“.88 Inwieweit die Studenten von Gierke und seinem juristischen Vortrag mitgerissen wurden, lässt sich kaum sagen. Stutz schrieb rückblickend, Gierke habe „vor allem durch seine Gelehrsamkeit, weniger durch ein ausgesprochenes Lehrtalent“ gewirkt.89 Er muss aber später geradezu wie eine germanische Gottheit gewirkt haben. So berichtete wieder Stutz: „Begann er in schwerem Ringen mit sich selbst mit ungelenken Gebärden zu reden, so mutete er fast an wie der Donnergott.“90 Und Adolf von Harnack (1851–1930) erinnerte bei der Trauerfeier für Gierke daran, wie dieser „auf einem Kongreß in Rom unter den Romanen erschien und diese der überraschten und bewundernden Empfindung Ausdruck gaben, sie hätten nun erst einen Germanen gesehen“.91 Gierke las in Breslau neben dem Handelsrecht und dem Liegenschaftsrecht auch Kirchenrecht, gab diese Vorlesung aber 1878 im Sommersemester an Siegfried Brie (1838– 1931) ab und hielt dafür die Vorlesung über das Allgemeine und deutsche Staatsrecht.92 In Breslau beschäftigte er sich vor allem mit der mittelalterlichen Kanonistik und deren umfangreichen Beitrag zur Körperschaftslehre. Hier entstanden der zweite Teil des Werks Das deutsche Genossenschaftsrecht, der die Geschichte des deutschen Körperschaftsbegriffs behandelte, sowie der dritte Band mit der romanistischen und kanonistischen Korporationslehre.93 Nach dem Vorbild Beselers bot Gierke auch Übungen über mittelalterliche deutsche Rechtsquellen an, vor allem über den Sachsenspiegel, eine Veran-

86 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA, Rep. 76, Sek. 4, Tit. IV, Nr. 34, Bd. 2, unpaginiert. 87 Ebd. 88 Stutz: [Nachruf ], XVI. 89 Ebd., XXVIII. 90 Ebd., XXVII. 91 Harnack, Adolf von: Otto von Gierke. In: ders. (Hg.): Erforschtes und Erlebtes. Giessen 1923, 346–351, hier 347. 92 Stutz: [Nachruf ], XVII. 93 Ebd., XXf.

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staltung, an der stets rund dreißig Studenten teilnahmen.94 Ein Schüler Gierkes in Breslau war Heinrich Rosin (1855–1927), der sich vor Gierkes Berufung nach Berlin in Breslau habilitierte und alsbald einen Ruf nach Freiburg im Breisgau erhielt.95 1879, also noch in Breslau, begann Gierke eine Schriftenreihe zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte herauszugeben, „Gierkes Untersuchungen“, die bis zu seinem Tod rund 130 Arbeiten (vor allem Dissertationen) umfasste. Sie wurde bis zum Jahr 2007 fortgesetzt. An der Fakultät in Breslau arbeitete Gierke eng mit Hermann Schulze (1824–1888) zusammen, dessen Arbeitsgebiet das Privatfürstenrecht war,96 sowie mit Carl Ludwig von Bar (1836–1913), der sich vor allem mit Kriminalrecht und Kriminalprozessrecht beschäftigte. Engen Kontakt unterhielt er außerdem zu dem Philosophen und Theologen Wilhelm Dilthey (1833–1911), der etwa zeitgleich mit ihm, in den Jahren 1871 bis 1883, in Breslau lehrte.97 Beide Gelehrten rezipierten die Arbeiten des jeweils anderen fruchtbringend.98 Gierke sei – so Dilthey – „bewegt von einem großen wissenschaftlichen Impulse“, in „dem Gefühle des höheren Prinzips“ hätte er seine „Stärke“.99 Nach dem Weggang Gierkes schrieb Graf Paul Yorck von Wartenburg (1835–1897) an ­Dilthey: „Was soll nun eigentlich aus Breslau werden? Dove, Gierke, und nun auch vielleicht der einzige lebendige Theologe Lemme fort! Es ist unverantwortlich, dumm und kurzsichtig. Welch ernstes Unglück sind politische Ressortminister.“100 Dilthey entgegnete: „In Bezug auf Breslau ist ja die Regierung ohne Schuld. Gierke war nicht zu halten.“101 Die Wertschätzung der Breslauer Kollegen zeigte sich in der Entsendung Gierkes als einzigem Vertreter des Kirchenrechts in die außerordentliche Generalsynode nach Berlin 1875 und vor allem in seiner Wahl zum Rector magnificus für das akademische Jahr 1882/83. Gierke war mehrfach Kandidat der Juristischen Fakultät für das Amt des Rektors gewesen, hatte jedoch 1877 und 1880 nur jeweils eine Stimme erhalten. Bei seiner Wahl 1882 entfiel auf ihn dagegen die überwältigende Mehrheit der Stimmen 194 Ebd., XVII. 195 Ebd.; Tampert, Martina: Heinrich Rosin und die Anfänge des Sozialversicherungsrechts. Freiburg im Breisgau 1977. 196 Schroeder, Klaus-Peter: Hermann von Schulze-Gaevernitz (1824–1888). Preußischer Kronsyndikus und Heidelberger Staatsrechtslehrer. In: Gornig, Gilbert H./Kramer, Urs/Volkmann, Uwe (Hg.): Staat, Wirtschaft, Gemeinde. Festschrift für Werner Frotscher zum 70. Geburtstag. Berlin 2007, 111–127; Ott, Sina: Der Heidelberger Staatsrechtslehrer und preußische Kronsyndikus Hermann von Schulze-Gaevernitz (1824–1888). Leben und Werk. Hamburg 2008. 197 Stutz: [Nachruf ], XVI. 198 Thielen, Joachim: Wilhelm Dilthey und die Entwicklung des geschichtlichen Denkens in Deutschland im ausgehenden 19. Jahrhundert. Würzburg 1999 (Trierer Studien zur Kulturphilosophie 3), 137, 228. 199 Schulenburg, Sigrid von der (Hg.): Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg 1877–1897. Halle/Saale 1923 [ND Hildesheim/Zürich/New York 1995], 74. 100 Ebd., 46. Gemeint sind neben Gierke der Historiker Alfred Dove (1844–1916) sowie der Theologe Ludwig Lemme (1847–1927). 101 Ebd., 47.

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(32 von  39).102 Zu seinem Nachfolger als Rektor für das akademische Jahr 1883/84 wählte man dann Mommsens Freund Richard Roepell.103 In der Breslauer Zeitung vom 17. Oktober 1882 erschien über die Amtseinführung des neuen Rector magnificus ein umfangreicher Bericht.104 Die Rektoratsrede hatte Gierke unter das Thema „Naturrecht und deutsches Recht“ gestellt.105 Seine Ausgangsfrage lautete: „Was ist das Recht?“ Gierke sah dessen Fundament in der von der Historischen Rechtsschule aufgedeckten Wahrheit des geschichtlichen Wesens allen Rechts.106 Er betonte, das Recht sei ein wesentlicher Bestandteil des mit dem Menschen selbst gegebenen Gemeinlebens. Vor allem thematisierte er das Problem des Gegensatzes zwischen dem positiven Recht und der Rechtsidee.107 Ein Widerspruch zwischen geltendem ­Rechts und Rechtsidee sei – so Gierke – möglich und häufig. Um aber Recht zu werden, müsse gleichwohl jedes noch so begründete Postulat sich erst seinen Körper im Gesetz oder Gewohnheit erringen. Bis dahin bleibe auch das ungerechte Recht „Recht“. Gierke wandte sich damit einerseits gegen den reinen Positivismus, der die Rechtsidee eliminierte und Macht und Nutzen an deren Stelle setzte. Andererseits tadelte er die naturrechtliche Auffassung, der das wirkliche Recht nur als „verpfuschtes Stümperwerk“ erschien, während das wahre Recht unmittelbar aus der Vernunft zu entnehmen sei und als in Ewigkeit unwandelbares Menschheitsrecht darüber schwebe. Gierke verstand das Recht also als Ordnung zwischenmenschlicher Beziehungen, die, soweit als möglich, dem Postulat der Gerechtigkeit zu entsprechen hatte. Auch nachdem Gierke Breslau verlassen hatte, erinnerte sich die Universität ehrenvoll an ihn. So verlieh ihm die Theologische Fakultät in Breslau 1911 aufgrund seiner kanonistischen Forschungen die Ehrendoktorwürde. Gierke sah sich in der Tradition der Historischen Schule, betonte aber anders als Friedrich Carl von Savigny (1779–1861) stärker „die nationalen und volksmäßigen Elemente der Rechtsentstehung“.108 Schulbildend wirkte Gierke nicht, und so wollte er wohl auch nicht wirken.109 Stutz berichtete, dass Gierke seine „Jünger“ durch seine Kathedervorträge und Übungen „in den Sattel zu setzen [suchte], um sie hinfort reiten zu lassen, wie sie es eben konnten“.110 Gierkes akademische Schüler waren – neben dem schon erwähnten Heinrich Rosin – vor allem Hugo Sinzheimer (1875–1945), der das

102 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA, Rep. 76, Sek. 4, Tit. III, Nr. 2, Bd. 4, Bl. 193, 203, 212, 218f. 103 Ebd., Bl. 223. 104 Ebd., I. HA, Rep. 76, Sek. 4, Tit. IV, Nr. 34, Bd. 2, Bl. 221f. 105 Die Rede wurde ein Jahr später publiziert. Vgl. Gierke, Otto: Naturrecht und deutsches Recht. Frankfurt am Main 1883. 106 Ebd., 7. 107 Ebd., 10–12. 108 Schröder: Gierke, 152. 109 Stutz: [Nachruf ], XVII. 110 Ebd.

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Arbeitsrecht als wissenschaftliche Disziplin begründete,111 und Hugo Preuß (1860– 1925), der Mitverfasser der Weimarer Reichsverfassung.112 Auch die Dissertation und die Habilitation von Max Weber (1864–1920) wurden von Gierke mitbetreut.113 3. Politisches Engagement In Gierkes großem Werk über die Genossenschaft lassen sich deutlich politische ­Grundentscheidungen erkennen. Als Gegenentwurf zum „Staat des Mittelalters“ betonte Gierke den genossenschaftlichen Charakter mittelalterlicher Gemeinschaften und ihrer Herrschaftsstrukturen.114 Seit 1872 war Gierke Mitglied des Vereins für Socialpolitik und dessen Vicepräsident.115 Er gehörte zudem zu den Mitbegründern des Evangelisch-Sozialen Kongresses, der sich 1890 in Berlin konstituierte.116 Ebenfalls in die Berliner Zeit fallen seine berühmten Anmerkungen zum Ersten Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuchs, in das er möglichst viele germanische und deswegen in seiner Vorstellung soziale Gedanken zu integrieren versuchte.117 Da sich der Gesetzgeber nur zum Teil auf seine Vorschläge eingelassen hatte, unternahm es Gierke mit seinem Werk Deutsches Privatrecht die Normen des Bürgerlichen Gesetzbuchs von 1900 (BGB) wenigstens nachträglich mit deutschrechtlicher Ausrichtung zu erläutern und die individuelle Ausrichtung des BGB durch eine soziale Komponente zu ergänzen.118 Die Geschichte war für Gierke stets nur das Material für das richtige Verständnis des geltenden Rechts. Mit den Worten von Ulrich Stutz war Gierke „Historiker vornehm111 Kilian, Winfried: Soziale Selbstbestimmung und Tarifvertrag. Eine Untersuchung über das Verhältnis Hugo Sinzheimers zu Otto v. Gierke. Frankfurt am Main 1965; Jobs, Friedhelm: Otto von Gierke und das moderne Arbeitsrecht. Frankfurt am Main 1968; Lobinger, Thomas: Otto von Gierke, Hugo Sinzheimer und der Tarifvertrag im deutschen Arbeitsrecht. In: Baldus, Christian (Hg.): Heidelberger Thesen zu Recht und Gerechtigkeit. Tübingen 2013 (Heidelberger rechtswissenschaftliche Abhandlungen 8), 179–206. 112 Malowitz, Karsten: Zwischen Kaiserreich und Republik. Hugo Preuß und Otto v. Gierke. In: Lehnert, Detlef (Hg.): Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft. Symposion zum 75. Todestag von Hugo Preuß am 9. Oktober 2000. Baden-Baden 2003, 123–150; Voßkuhle, Andreas: Hugo Preuß als Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus. In: Der Staat. Zeitschrift für Staatslehre und Verfassungsgeschichte, deutsches und europäisches öffentliches Recht 50 (2011) 251–267. 113 Dilcher: Gierke, 379. 114 Ebd., 377. 115 Stutz: [Nachruf ], XXIV. 116 Kretschmar, Gottfried: Der Evangelisch-Soziale Kongreß. Der deutsche Protestantismus und die soziale Frage. Stuttgart 1972. 117 Haack, Thomas: Otto von Gierkes Kritik am ersten Entwurf des Bürgerlichen Gesetzbuches. Frankfurt am Main 1997; Pfennig, Christian-Matthias: Die Kritik Otto von Gierkes am ersten Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuches. Göttingen 1997; Schwab, Dieter: Das BGB und seine Kritiker. In: Zeitschrift für neuere Rechtsgeschichte 22 (2000) 325–357. 118 Vgl. Anm. 75.

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lich kraft Erudition“.119 In seinem Werk trat der Historiker jedoch nahezu vollständig hinter den Juristen zurück. Die Rechtsgeschichte als „Versenkung in das Geschehene um seiner selbst willen, reiner Drang nach Erkenntnis dessen, was war“, war seine Sache nicht unbedingt.120

IV. Zusammenfassung In den Persönlichkeiten von Mommsen und Gierke lassen sich zwei ganz unterschiedliche wissenschaftliche Konzepte, gleichzeitig aber auch Gemeinsamkeiten erkennen. Beide zogen die Geschichte, jeder auf seine spezifische Weise, als lebendigen Stoff für ihre Gegenwart heran und münzten sie in politisch-gesellschaftliche Wünsche und Ziele um. Einfluss übte Gierke besonders auf die Auslegung des Bürgerlichen Gesetzbuches aus. Er verstand die historischen Rechtsquellen als Ausdruck des zeitlosen Rechts. Dagegen wählte Mommsen den umgekehrten Weg und ging vom geltenden Recht in die lateinischen Rechtsquellen der Antike zurück, um die Geschichte des Altertums durchaus mit einem Gegenwartsbezug, aber vor allem um ihrer selbst willen zu beleuchten. Während für Mommsen das Recht seine Grundlage im antiken römischen Recht hatte, galt Gierkes Augenmerk hauptsächlich dem mittelalterlichen deutschen Recht sowie (wenn auch in geringerem Maße) dem kanonischen Recht. Beide Biographien sind differenziert zu betrachten. Für Mommsen war Cäsar der größte Sterbliche, er begrüßte den Übergang von der Republik zum Prinzipat, hob aber auch immer wieder den freien Bürger und dessen Verantwortung für das Gemeinwesen hervor. Insofern sah er den Menschen vor allem als Individuum. Gierke verstand den Menschen als soziales Wesen. Er betonte die Einbindung des Einzelnen in die Gemeinschaft. Insofern entsteht nach Gierkes Auffassung das Recht unabhängig vom Staat und autonom in kleineren und größeren Gemeinschaften.

119 Stutz: [Nachruf ], XI. 120 Ebd., XXXI.

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Borussische Geschichtsforschung zu Schlesien: Colmar Grünhagen (1828–1911) – Werdegang, Schuleinflüsse und Wirkungskreise I. Einleitung Wenn Gustav Adolf Harald Stenzel (1792–1854) gern als „Vater der schlesischen Geschichtsschreibung“ oder gar „Muratori Schlesiens“ des frühen 19. Jahrhunderts bezeichnet worden ist, wird man ihm Colmar Grünhagen als einen seiner würdigen Nachfolger an die Seite stellen müssen. Bei allen Bewertungen der Bedeutung des Historikers und Archivars Grünhagen ist das Urteil doch eindeutig, in ihm einen eminenten Akteur und Autor der Regionalgeschichte Schlesiens im späten 19. Jahrhundert zu ‚sehen‘. Ein „‚Altmeister‘ der schlesischen Geschichtsforschung“ sei er gewesen, Heinrich Wendt (1866–1946) spricht von „seine[r] jahrzehntelang unbestrittene[n] Führerstellung in der schlesischen Geschichtsforschung“.1 Zum einen war das sicherlich seiner ­Aufgabe geschuldet: „Ist doch der Archivar von Schlesien der amtlich berufene Pfleger der Landesgeschichte.“2 Zum anderen hatte er diese Wertschätzung ganz persönlichen Eigenschaften und individuellen Leistungen zu verdanken: „Grünhagens ungewöhnliche Beherrschung der schlesischen Geschichte hat sich außer in jenen großen Werken noch an zahllosen Stellen der wissenschaftlichen Literatur in Zeitschriften geltend gemacht.“3 Norbert Conrads verglich den Geschichtswissenschaftler mit dem ­zeitgenössischen Schriftsteller Gustav Freytag (1816–1895): „Freytag wie Grünhagen waren zu ­ihrer Zeit auf ihrem jeweiligen Gebiet führende Autoritäten, der eine im literarischen Deutschland, der andere für die schlesische Provinzialgeschichte.“4 Grünhagens Reputation als profilierteste Persönlichkeit der historischen Schlesienforschung für das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts teilten selbst kritische Stimmen über ihn: Er sei „einer der

1 Wendt, Heinrich: Colmar Grünhagen. In: Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 17. bis 19. Jahrhunderts. Breslau 1928 [Sigmaringen ²1985] (Schlesische Lebensbilder 3), 362–371, hier 363 Abb. 30. 2 Markgraf, Hermann: Die Entwickelung der schlesischen Geschichtschreibung [1888]. In: ders.: Kleine Schriften zur Geschichte Schlesiens und Breslaus. Breslau 1915 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv und der Stadtbibliothek zu Breslau 12), 1–29, hier 10f. 3 Meinardus, Otto: Zu Colmar Grünhagens Gedächtnis. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 46 (1912) 1–65, hier 34. 4 �������������������������������������������������������������������������������������������� Conrads, Norbert: Bilder aus der schlesischen Vergangenheit. Der Briefwechsel Colmar Grünhagens mit Gustav Freytag. In: Berichte und Forschungen. Jahrbuch des Bundesinstituts für ostdeutsche Kultur und Geschichte 4 (1996) 7–38, hier 8.

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bedeutendsten Historiker Schlesiens im Zweiten Kaiserreich“5 gewesen. Grünhagen hatte eine maßgebliche Autorität in der schlesischen Territorialgeschichte errungen. „Das ist von Belang, da es sich immerhin um den fruchtbarsten, wenn nicht gar den bis heute einflußreichsten der schlesischen Landeshistoriker des 19. Jahrhundert handelt.“6 Freytag selbst empfahl Heinrich von Treitschke (1834–1896) am 22. Januar 1882 den Archivdirektor Colmar Grünhagen in Breslau als besten Kenner und Darsteller schlesischer Geschichte und letzten Gewährsmann für alle Fragen: „So bliebe als ultima ratio immer nur Grünhagen.“7 Die Stationen seines Lebenswegs, akademische Ausbildungen und berufliche Einwirkungen sowie die verschiedenen Foren, Netzwerke und Podien, in und auf denen er sich bewegte, sind auszumessen. Indem seine wissenschaftlichen Ergebnisse, publizistischen Erzeugnisse und öffentliche Wirksamkeit quantifiziert, qualifiziert und interpretiert werden, ist zu versuchen, diesen herausragenden Geschichtswissenschaftler Schlesiens des 19. Jahrhunderts in seiner Einzigartigkeit zu charakterisieren.

II. Werdegang Am 2. April 1828 wurde Richard Colmar Grünhagen in der mittelschlesischen Kleinstadt Trebnitz geboren als Sohn von August Grünhagen (1794–1885), des Verwalters einer Apotheke und unbesoldeten Amtmannes im rechtsodrigen Kreis Oels.8 Sein aus Quedlinburg am Harz stammender protestantischer Vater hatte dort 1826 die Witwe 5 ���������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim: Religion, Politik und Späthumanismus. Zum Wandel der schlesisch-böhmischen Beziehungen im konfessionellen Zeitalter. In: Garber, Klaus (Hg.): Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit, Bd. 1–2. Tübingen 2005 (Frühe Neuzeit 111), Bd. 1, 69–92, hier 74; Deventer, Jörg: Konfrontation statt Frieden. Die Rekatholisierungspolitik der Habsburger in Schlesien im 17. Jahrhundert. Ebd., 265–283, hier 278; Baumgart, Peter: Colmar Grünhagen (1828–1911). Ein nationalliberaler Historiker Schlesiens im Zweiten Kaiserreich [1998]. In: ders.: Brandenburg-Preußen unter dem Ancien Régime. Ausgewählte Abhandlungen. Hg. v. Frank-Lothar Kroll. Berlin 2009 (Historische Forschungen 92), 533–553, hier 538. 6 Conrads: Bilder aus der schlesischen Vergangenheit, 10. 7 Gustav Freytag und Heinrich von Treitschke im Briefwechsel. Leipzig 1900, 185, Nr. 51 (Brief vom 22. Januar 1882). 8 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Ziekursch, Johannes: Nekrolog. In: 89. Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. 1911. Breslau 1912, 4–8; ders.: Grünhagen, Colmar. In: Bettelheim, Anton (Hg.): Biographisches Jahrbuch und deutscher Nekrolog 16 (1911/14) 92–95 und Sp. 27*; Schwarzer, Otfried: Colmar Grünhagen. In: Deutsche Geschichtsblätter 13 (1912) 73–79; Ermisch, Hubert: Colmar Grünhagen. In: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 32 (1911) 404f.; Degener, Herrmann A. L. (Hg.): Wer ist’s? 5 (1911) 500; vgl. ebd. 6 (1912) 1858; Kürschners deutscher Literatur-Kalender 33 (1911) Sp. 573; vgl. ebd. 34 (1912) Sp. 56*; Die Woche. Moderne Illustrierte Zeitschrift. Nr. 32 vom 18. August 1911, 1363; Wiedemann, Franz: Zu Grünhagens 100. Geburtstage. In: Schlesische Geschichtsblätter 19 (1928) 25–28; Selle, Götz von: Ostdeutsche Biographien. 365 Lebensläufe in Kurzdarstellungen. Würzburg 1955, Nr. 87: Kolmar [!] Grünhagen; Webersinn, Gerhard: Zu Colmar Grünhagens Gedächtnis. In: Schlesien 6

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Abb. 1: Das Porträt von „Dr. phil. Colmar Grünhagen, königl. Staatsarchivar und außerordentlicher Professor an der Universität zu Breslau“, das 1869 in dem Werk Schlesier-Album. Siebzehn Biographien mit Portraits im Druck erschien, war zuvor in der weit verbreiteten Kulturzeitschrift Schlesische Provinzialblätter. ‚Rübezahl‘ veröffentlicht worden. Bildnachweis: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-­ Dahlem, I. HA Rep. 178, Nr. 1459.

des Apothekeninhabers Theresia, geborene Karwig geheiratet, und mit dieser katholischen Schlesierin eine gemischt-konfessionelle Familie gegründet, aus der ein Sohn hervorging. Colmar erhielt zunächst in seiner Geburtsstadt Trebnitz Privatunterricht beim evangelischen Dekan Ernst Mücke, bevor er von 1841 bis 1847 die Gymnasien zu St. Maria Magdalena und Elisabeth in der Provinzhauptstadt Breslau besuchte. Vom Militärdienst einer Halsschwellung wegen befreit, studierte Grünhagen anschließend Klassische Philologie, Geschichte und Geographie je drei Semester an den Universitäten Jena und Berlin und zwei Semester in Breslau. Am 21. Dezember 1850 wurde er in Halle an der Saale mit einer Dissertation Vitae Urbani II, pontifiics ­Romani particula prima zum Doktor der Philosophie promoviert.9 Im März 1851 legte er das Oberlehrerexamen ( facultas docendi) in Breslau ab. Nach einem Probejahr trat er in das Pädagogische Seminar des Breslauer Friedrichs-Gymnasiums ein. Seit Ostern 1853 war er vorläufig als Hilfslehrer angestellt, im November als ordentlicher Lehrer am Friedrichs-Gymnasium tätig. Grünhagen verdiente über zusätzliche Stunden an einer Mädchenschule dazu, indem der untauglich Gemusterte, aber doch behende Turner Sportunterricht gab. Den Ruf an eine Lehranstalt andernorts wehrte das Presbyterium durch Gewährung eines Zuschusses von 100 Talern ab. Auf der festen, aber bescheiden dotierten Oberlehrerstelle im höheren Schulamt heiratete er 1854 die Pastorentochter Johanna Riedel aus Riegersdorf bei Strehlen, aus (1961) 179–181; Leesch, Wolfgang: Die deutschen Archivare 1500–1945, Bd. 2: Biographisches Lexikon. München u. a. 1992, 203f. 9 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Vitae Urbani Secundi, particula prima: dissertatio inauguralis quam consensu et auctoritate amplissimi philosophorum ordinis in Academia Fridericana cum Vitebergensi Consociata ad summos in philosophia honores rite capessendos die XXI. M. Decembris A. MDCCXLVII, hora XI, una cum thesibus publice defendet: auctor Colmarus Gruenhagen, Silesius: adversariorum partes susceperunt: Otto Hase, stud. iur., Ludovicus Schmidt, stud. phil. Halis Saxonuum, Typis Ploetzianis.

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der dreißigjährigen Ehe ging eine Tochter hervor.10 Der Stelleninhaber qualifizierte sich aus einer sicheren Position im Schulwesen heraus auf einen neuen Arbeitsplatz, um sich weiteren Aufgaben zu stellen. Nach seiner Habilitation 1855 lehrte der Privatdozent Geschichte an der Universität Breslau.11 In der anstehenden Besetzung für die Nachfolge des Provinzialarchivars Wilhelm Wattenbach (1817–1897) konnte sich Grünhagen entscheidend in Stellung bringen. Als Schüler Stenzels und als Protegé Wattenbachs hatte sich Grünhagen einen Namen gemacht durch eine Reihe ortsgeschichtlicher Quellenstudien, die ihm als Hebel für die Einstellung dienten. Mit der Übernahme von Tätigkeiten im Rahmen des Geschichtsvereins führte Wattenbach seinen Eleven behutsam an das neue Gebiet heran und bahnte durch diese Aktivität dessen aussichtsreiche Kandidatur an. Am 17. November 1860 schrieb Grünhagens Breslauer Nestor Wattenbach an den „lieben Herrn Doktor“ über eine Vergütung: „Ich freue mich Ihnen mitteilen zu können, daß in der gestrigen Vorstandssitzung des hist[orischen] Vereins der Beschluß gefaßt ist, Ihnen als eine Remuneration für die vielen auf die Bearbeitung des dritten Bandes des Cod[ex] Dipl[omaticus] verwandten Mühen die Summe von 50 Th. anzuweisen.“12 Nach Wattenbachs Wegberufung nach Heidelberg 1862 konnte der scheidende Ordinarius Grünhagens Anstellung gegen geringe Widerstände durchsetzen.13 ­Hermann Luchs (1826–1887), Grünhagens einziger Rivale, gehörte einer benachbarten Disziplin an. Der gelernte Kunsthistoriker war im Herbst 1859 in den engen, an „ein Gefängnis erinnernden Archivräume[n] im alten Ständehause“14 als Archivsekretär auf Hermann Neuling (1820–1913) gefolgt. Grünhagens lokaler Mitbewerber war ­Begründer des Altertumsmuseums, Lehrer an der Höheren Töchterschule am Ritterplatz und langjähriges Mitglied des Geschichtsvereins, zu dessen Vorstandsmitgliedern er gehörte. Deshalb war Luchs als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter beim Oberpräsidenten vorgeschlagen worden. Auf dessen respektable Leistungen durch die Herausgabe der im zweiten Band der Vereinszeitschrift edierten Rechnungsbücher der Dominikaner von St. Adalbert wurde hingewiesen, so dass er seit Frühjahr 1860 am Provinzialarchiv beschäftigt war, jedoch nicht dauerhaft.15 Mit Annahme des Heidelberger Rufes 1861 stand die Wiederbesetzung seines aufgegebenen Postens an, von Wattenbach wurde im Dezember ein Gutachten nach geeigneten Kandidaten erfragt. Er beurteilte das Potenzial zur Verwaltung des Amtes bei Luchs und Grünhagen gleichwertig, und auch im Vergleich der paläographischen 10 Todesanzeige für die am 10. Juni 1884 verstorbene Gattin Johanna Grünhagen, geborene Riedel, an den Direktor der Königlichen Staatsarchive Dr. Heinrich v. Sybel, 27. Dezember 1884. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 178, Nr. 1459, A.V.4. 11 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Leesch: Die deutschen Archivare, Bd. 2, 204: „Geographie, und später für geschichtliche Hilfswissenschaften“. 12 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 42, Nr. 7. 13 Ebd., 19 Anm. 2. 14 Ebd., 3. 15 Ebd., 20.

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Qualitäten kam er zu dem gleichlautenden Schluss, beide hätten „noch nicht die genügende Sicherheit“. Die Konkurrenten waren keine Kapazitäten in der Paläographie, wie es auch Grünhagens Förderer Wattenbach klar war. Doch er schätzte Luchs dafür, im kunsthistorischen Fach bei den führenden Berühmtheiten seiner Disziplin bekannt zu sein, während Grünhagen „eigentlich geschichtliche Studien und die Erforschung der Verfassungsgeschichte zu seinem Lebensberuf gemacht“ und „schon zu größerer Sicherheit gelangt“ sei.16 Trotz aller schulischen Lehrverpflichtungen habe Grünhagen 1860 mit der Edition der Rechnungen des alten Stadtbuches im Henricus Pauper, eine durch Index und Register erschlossene Textausgabe, Anerkennung gefunden.17 Damit sei ihm die Gelegenheit gegeben, sich die noch mangelnden archivalischen Fähigkeiten endgültig anzueignen. Mit dem unterlegenen Luchs sollte der reüssierende Grünhagen später gedeihlich in anderen Zusammenhängen zusammenarbeiten. Aus dem Schuldienst schied Grünhagen aus, als er am 11. März 1862 Leiter des schlesischen Provinzialarchivs (seit 1867 Staatsarchiv) wurde. Der Nachfolger Wattenbachs leitete beinahe vier Jahrzehnte das Breslauer Staatsarchiv, bis er als Direktor am 1. April 1901 in den Ruhestand ging. Grünhagen trat damit auch in die Schriftleitung der Zeitschrift des Vereins für die Geschichte und Alterthum Schlesiens ein, die er seit 1864 allein redigierte und für die er bis zur Niederlegung seines Amtes 1905 Verantwortung trug; der Vorsitz des Vereins wurde ihm 1871 angetragen.18 Grünhagens weitergehendes Ansinnen auf eine eigene Universitätsprofessur ­hatte im meinungsführenden Breslauer Ordinarius Richard Roepell (1808–1893) einen Widersacher.19 Am 16. Januar 1866 bedankte sich sein Unterstützer auch in dieser Sache, Wattenbach, aus Heidelberg für die Sendung des Vereins mit Brief an den „lieben Herrn Archivar“ mit Kritik: „Roepells fortdauernde Feindseligkeit bedauere ich, wenn ich auch ihm darin nicht Unrecht geben kann, daß es bedenklich ist, Studenten frühzeitig zu specieller Beschäftigung mit Provinzialgeschichte zu bringen, ehe eine allgemeinere Grundlage gewonnen ist. Wegen einer Professur, die ich allerdings für wohlverdient halte, kann ich schwer einen Rath geben, da ich diese Verhältnisse in Preußen gar nicht kenne; der gewöhnliche und passendste Weg durch Vorschlag der Facultät ist wohl eben Roepells wegen hier nicht zu erwarten.“20 Am 4. November 1866 wandte Wattenbach 16 Ebd. 17 Grünhagen, Colmar (Hg.): Henricus pauper. Rechnungen der Stadt Breslau von 1299–1358. Breslau 1860. 18 ���������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland: Die Bedeutung von Vereinen, Gesellschaften, Museen, Bibliotheken und Archiven für die Konstituierung der historischen Wissenschaften in Schlesien. Zur Einführung. In: dies. (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 11–23. 19 Gerlich, Hubert: Organische Arbeit und nationale Einheit. Polen und Deutschland 1830–1880 aus der Sicht Richard Roepells. Münster 2004 (Arbeiten zur Geschichte Osteuropas 13), 80. Vgl. ferner den Beitrag von Matthias Barelkowski in diesem Band. 20 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 42f., hier 43, Nr. 8.

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sich „Freundschaftlichst“ an Grünhagen und benachrichtigte ihn über sein Schreiben an den Geheimen Regierungs- und Vortragenden Rat im Kultusministerium, den Dezernenten für Universitäten Justus Olshausen (1800–1882): „Ihre akademische Leidensgeschichte habe ich mit großer Teilnahme gelesen und davon die Veranlassung genommen, einen Brief an Olshausen zu schreiben, der vielleicht von Nutzen sein kann. Ich weiß nicht, ob es nicht zu viel Zartgefühl ist, dass Sie sich durchaus nicht bewerben wollen, hier wenigstens geschieht das fortwährend. Doch ändern freilich die angeführten Archiv-Verhältnisse die Sache. Übrigens muß ich bemerken, daß ich mich über Roepell nicht beklagen kann; die Facultät hat mich ohne mein Zuthun vorgeschlagen, und ich lehnte ab, weil der Minister kein Gehalt geben zu können behauptete. In diesem Fall zog ich meine freie Muße zu literarischer Thätigkeit vor.“21 In Bezug auf den damaligen Doyen der Breslauer Geschichtswissenschaft und Grünhagens vermeintlichen Gegenspieler, Roepell, gab es weniger einen personellen denn einen strukturellen Konflikt, insofern dieser Nachfolger des praeceptor Silesiae Stenzel seit 1854 dessen Lehrstuhl bekleidete.22 Stenzel, der als Berliner Privatdozent an die Breslauer Leopoldina gekommen war, war dort zunächst zum Extraordinarius für Geschichte und Leiter des 1811 begründeten Provinzialarchivs aufgerückt.23 Von diesem war die Archivleitung seit der Bestellung Wattenbachs zum Provinzialarchivar 1855 getrennt worden.24 Am 18. Dezember 1866 wurde Grünhagen eine außerordentliche Professur an der Universität Breslau verliehen, freilich ohne das erwartete Fachgebiet Diplomatik und Archivkunde, eine mäßige Besoldung erhielt er erst ab 1872. Auch diese Bestallung ging auf einen Vorschlag Wattenbachs vom 4. November 1866 zurück. Der aus Schlesien stammende preußische Kultusminister Heinrich von Mühler (1813–1874) schrieb am 12. November 1866 dem Oberpräsidenten Freiherrn Johann Eduard von Schleinitz (1798–1869), Grünhagen sei seit Jahren als Privatdozent tätig und habe an der Breslauer Hochschule gewirkt, ohne dass sein Tun gewürdigt worden sei, weshalb dieser beabsichtige, auf seine Lehre zu verzichten. Mühler bedauerte dies, da Grünhagen „nicht allein durch eine Reihe wissenschaftlicher Werke eine tüchtige Arbeitskraft sei und großen Eifer für die vaterländische Geschichte an den Tag gelegt habe, sondern auch mit Erfolg 21 Ebd., 43f., hier 44, Nr. 9. 22 �������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. die Beiträge von Norbert Kersken (zu Johann Gustav Gottlieb Büsching) und Ulrich Schmilewski (zu Stenzel) in diesem Band. 23 Stenzel, Karl Gustav Wilhelm: Gustav Adolf Harald Stenzel Leben. Gotha 1897, 79. Vgl. ferner den Beitrag von Joachim Bahlcke in diesem Band. 24 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim: Das Historische Seminar der Universität Breslau 1811 bis 1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte [2012/13]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2016 (Forschungen zu Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3), 217–238, hier 227, 229f.; Herzig, Arno: Geschichtsforschung in der Metropole Breslau. Das Historische Seminar der Universität Breslau im 19. Jahrhundert. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung, 73–83, hier 78f.

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bemüht gewesen sei, junge Leute zum Studium der schlesischen Geschichte anzuleiten und ihnen Anweisungen zum Lesen und Gebrauche von Urkunden zu geben, wozu es sonst in Breslau an Gelegenheit fehle“.25 Schleinitz stellte den Nutzen und die Notwendigkeit eines engen Verhältnisses zwischen Hochschule und Provinzialarchiv heraus, dessen Vorsteher Grünhagen als Privatdozent ohnehin bereits an der Breslauer Universität lehre.26 Um die Beziehungen zwischen Archiv und Universität zu verstetigen, neige er dazu, als Beleg für diese Anerkennung eine außerordentliche Professur an der Philosophischen Fakultät anzutragen, ohne bereits jetzt eine Besoldung zu gewähren.27 Der Gönner Wattenbach redete seinen Günstling Grünhagen am 4. März 1868 dann als „lieber Herr College“ an, nicht ohne ihm aber pedantisch im Lehrer-SchülerVerhältnis über Mängel nach etlichen Korrekturen in seiner Schrift ganz gehörig die Leviten zu lesen (über den Abdruck eines Quellenstücks, „welches ungefähr so viel Fehler wie Worte enthält; [...] Wie kann man so etwas drucken lassen!“), grüßte jedoch trotz aller sachlichen Unbestechlichkeit im unerbittlichen Urteil zum Abschluss mit persönlichen Überzeugungen: „Herzlichst“.28 Mit der Bestallung des Archivars und Privatdozenten Colmar Grünhagen29 zum außerordentlichen Professor für Historische Hilfswissenschaften und „Provinzialgeschichte“ verschaffte sich die Landesgeschichte und regionale Forschung in Schlesien fünfzig Jahre nach Gründung der Universität Breslau eine Verstetigung ihrer Stellung.30 Der gut vernetzte Grünhagen bedankte sich ehrerbietig, indem er Preußens Kultusminister Heinrich von Mühler 1867 zu einem von ihm selbst gehaltenen Vortrag („Breslau nach der Preußischen Besitzergreifung“) an die Berliner Singakademie bat, der vom Wissenschaftlichen Verein zu Berlin gedruckt wurde.31 Dass Grünhagen seine in fachlicher Hinsicht außergewöhnliche Stellung an der Breslauer Hochschule bekannt war, wird aus seinen häufigen Bitten um Erhöhung der Vergütung deutlich. Eine Anfrage von 1870 unterstützte der schlesische Oberpräsident Eberhard von Stolberg-Wernigerode (1810–1872), zugleich Universitätskurator, dem Kultusminister gegenüber mit 25 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 21f. Anm. 2. 26 Universitätskurator und Oberpräsident Johann Eduard von Schleinitz an Kultusminister Mühler betr. die Beförderung des Provinzialarchivars Dr. Grünhagen zum außerordentlichen Professor, Breslau 15. November 1866: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV Nr. 36 Bd. 6, Bl. 229. Vgl. ferner den Beitrag von Roland ­Gehrke in diesem Band. 27 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 22 Anm. 1. 28 Ebd., 44f., hier 45, Nr. 10. 29 Wendt: Colmar Grünhagen, 362–371; Krusch, Bruno: Die Direktion Grünhagens. In: ders.: Geschichte des Staatsarchivs zu Breslau. Leipzig 1908 (Mitteilungen der königlich preußischen Archivverwaltung 11), 316–340. 30 Kaufmann, [Georg]/Ziekursch, [ Johannes]: Geschichte. In: Kaufmann, Georg (Hg.): Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Tl. 2: Geschichte der Fächer, Institute und Ämter der Universität Breslau 1811–1911. Breslau 1911, 359–368, hier 367. 31 Grünhagen, Colmar: Breslau nach der Preußischen Besitzergreifung. Ein Vortrag, gehalten im Wissenschaftlichen Verein zu Berlin den 16. Februar 1867. Berlin 1867.

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dem Hinweis, das Gebiet „Preußische Landesgeschichte“, das „durch alle Mittel gefördert“ werden müsse, werde einzig nur von Grünhagen am Seminar vertreten, weshalb man ihm in der Bezahlung nachkommen müsse.32 Bei aller Anerkennung der Leistungen des außerordentlichen Professors Grünhagen sähe er sich mangels verfügbarer Mittel jedoch außerstande, demselben eine Besoldung als Professor beilegen zu können. Wohlgewogen im Hintergrund hatte Grünhagen auch einen schützenden Befürworter im Preußischen Kultusministerium. Nach Ausbruch des Deutsch-Französischen Krieges erließ zwar der Direktor der Staatsarchive Max Duncker (1811–1886) am 23. Juli 1870 einen Ablehnungsbescheid zu Grünhagens Urlaubsgesuch mit der mahnenden Aufforderung, in solchen Zeiten auf seinem Posten zu bleiben. Doch hartnäckig auf die eigene Gesundheit pochend, nicht auf die nationale Sache bedacht, brachte dieser sein Anliegen abermals in Berlin vor, und auf nochmalige Nachfragen hin wurde dem Petenten entsprochen. Am 28. Juli 1870 erteilte Duncker eine Ausnahmegenehmigung für eine Kurzreise zur Erholung Grünhagens nach Schmiedeberg im Erzgebirge.33 Der habilitierte Jurist Georg Korn (1837–1870), seit 1862 Mitarbeiter Grünhagens, mit dem er die Editionen der Bischofsregesten, Gewerberechte und das Urkundenbuch gemeinsam herausgebracht hatte,34 hatte ihn bei vorigen Abwesenheiten bereits vertreten. Der Landwehrleutnant hatte sich zuvor in den Schlachtensiegen von Skalitz und Königgrätz bewährt, zog im Königin Elisabeth Garde-Grenadier-Regiment Nr. 3 gegen Frankreich ins Feld und fiel am 18. August 1870 bei Amanweiler vor Metz. Nachdem Grünhagen gesund aus den Ferien zurückgekehrt war, musste ein neuer Archivsekretär angestellt werden. Ergeben widmete Grünhagen 1872 seine profunde mediävistische Untersuchung zu den Hussitenkriegen Schlesiens „Herrn Geheim Regierungs-Rath Dr. Duncker, Direktor der königlichen Staatsarchive, in aufrichtiger und dankbarer Verehrung“.35 Vom obersten Archivar Preußens bekam Grünhagen nach dem Tod Adolph Friedrich Johann Riedels (1809–1872) Ende 1872 eine Stelle am Geheimen Staatsarchiv in Berlin in Aussicht gestellt, mit der ganz vagen Option auf eine zusätzliche Dozentenstellung an der Berliner Universität, da Wattenbach inzwischen dort lehren sollte. Beim Stellvertreter des Kultusministers hatte Grünhagen zuvor vertraulich vorgefühlt, um zum ordentlichen Professor in Breslau ernannt zu werden. Auch die Einrichtung einer Ersatzprofessur wurde erwogen zur Vertretung des im Reichstag gebundenen Roepell.36 Doch die 32 Vgl. den Beitrag von Roland Gehrke in diesem Band. 33 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 178, Nr. 1459, C.VI.3.; C.VI.1. 34 ������������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar/Korn, Georg (Hg.): Regesta episcopatus Vratislaviensis. Urkunden des Bistums Breslau in Auszügen, Bd. 1: Bis zum Jahre 1302. Breslau 1864; ders. (Hg.): Schlesische Urkunden zur Geschichte des Gewerberechts insbesondere des Innungswesens aus der Zeit vor 1400. Breslau 1867; ders. (Hg.): Breslauer Urkundenbuch, Bd. 1. Breslau 1870. 35 Grünhagen, Colmar: Hussitenkämpfe der Schlesier 1420–1435. Breslau 1872, [IV]. 36 Baumgart: Colmar Grünhagen, 544; vgl. ferner den Beitrag von Matthias Barelkowski in diesem Band; Gerlich: Organische Arbeit, 80.

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erhoffte Professur für preußische Geschichte und geschichtliche Grundwissenschaften, den anderen vier ordentlichen Lehrstühlen gleichgestellt, wurde nicht ihm angetragen. Die Zusagen für das Fortkommen in der Reichshauptstadt blieben locker und die Bewerbung um den Breslauer Lehrstuhl verpasste er nach der gefallenen Vorentscheidung der Ordinarien über die Besetzung der Vakanz.37 Der vorgezogene Konkurrent Alfred Dove (1844–1916) wurde 1874 in Breslau zum außerordentlichen Professor berufen; er avancierte 1879 zum Ordinarius und folgte 1884 einem Ruf nach Bonn.38 Am 30. April 1873 teilte Wattenbach Grünhagen „in alter Freundschaft“ mit, dass dieser Breslau nicht verlassen solle, und riet davon ab, „gefährliche neue Experimente zu machen“. „Seit längerer Zeit hatte ich mit Freuden wahrgenommen, eine wie erfolgreiche und auch als solche anerkannte Wirksamkeit Sie in Ihrer Stellung als Archivar entfalteten, und wie Ihnen auch aus der Ferne bereitwillige Achtung entgegen kam. Nichts konnte unerwarteter kommen, als daß sie diesen sicheren Boden Ihrer wissenschaftlichen Stellung verlassen wollen, um ganz unsichere neue Bahnen zu versuchen. Eine Versetzung an das Berliner Staatsarchiv wäre für Schlesien zu bedauern, aber übrigens wohl angemessen, und es scheint ja auch, daß Sie mit der Zeit nicht ausbleiben wird. Aber zu einem Verlassen der archivalischen Thätigkeit kann ich Ihnen durchaus nicht rathen – und weshalb eigentlich? Weil Ihre Collegen an der Universität theilweise Ihnen akademischen Hochmut bezeugen? Das scheint mir denn doch für einen solchen Schritt kein hinreichendes Motiv zu sein. M. Duncker ist Ihnen, wie sie ja selbst wissen, persönlich wohlgesinnt, und erklärt sich sehr bereit, Sie mit archivalischen Ehren zu zieren, was er allerdings längst hätte thun können.“ 39 Wattenbach hob gleichwohl vorwurfsvoll den belehrenden Zeigefinger und klärte seinen Favoriten akribisch auf, wo eine Grafschaft der Anjou in der Provence liege: „Aber haben Sie denn kein Nachschlagewerk, wo man dergleichen findet?“40 Ohne Scheu berichtete Grünhagen in einem Brief auch an den ihm seit längerem bekannten Gustav Freytag von den Zurückweisungen bei beruflichen Entwicklungs37 �������������������������������������������������������������������������������������������� Zur kaiserzeitlichen Berufungspraxis allgemein vgl. Baumgarten, Marita: Professoren und Universitäten im 19. Jahrhundert. Zur Sozialgeschichte deutscher Geistes- und Naturwissenschaftler. Göttingen 1997 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 121); Brocke, Bernhard vom: Berufungspolitik und Berufungspraxis im Deutschen Kaiserreich. In: Hesse, Christian/Schwinges, Rainer Christoph (Hg.): Professorinnen und Professoren gewinnen. Zur Geschichte des Berufungswesens an den Universitäten Mitteleuropas. Basel 2012 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 12), 55–103; ders.: Hochschul- und Wissenschaftspolitik in Preußen und im Deutschen Kaiserreich 1882–1907. Das „System Althoff “. In: Baumgart, Peter (Hg.): Bildungspolitik in Preußen zur Zeit des Kaiserreichs. Stuttgart 1980 (Preußen in der Geschichte 1), 9–118; Lischke, Ralph-Jürgen: Friedrich Althoff und sein Beitrag zur Entwicklung des Berliner Wissenschaftssystems an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Berlin 1990 (Berliner Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 11). 38 ������������������������������������������������������������������������������������������� Loewe, Victor (Hg.): Alfred Dove und Schlesien. Zwei Briefe an Colmar Grünhagen. In: Schlesische Geschichtsblätter 2/3 (1923) 21–23: Brief vom 30. März 1887 und Brief vom 24. Dezember 1900. Vgl. den Beitrag von Roland Gehrke in diesem Band. 39 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 45f., hier 45, Nr. 11. 40 Ebd., 45f., hier 46, Nr. 11.

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Abb. 2: Acta des Directoriums der Staats-Archive betr. die Personalangelegenheiten des Dr. Grünhagen, Vorsatzblatt-Doppelbogen eigenhändig unterschrieben, 13. Januar 1874. Bildnachweis: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 178, Nr. 1459.

schritten und seinem Erlebnis des Übergangenwerdens bei Beförderungen. Die Beziehung zu Freytag war geprägt von verbundener Distanziertheit und voll gegenseitigen Respekts. Beginnend 1869 mit reservierten Gunstbezeugungen, „Hochgeehrtester Herr“, „In aufrichtiger Verehrung Ihr ergebener“, „Hochgeehrtester Herr Doktor mit vorzüglicher großer Hochachtung ergebenst“ und „Geehrtester Herr Hofrath“, drückte die vornehme Anrede ein soziales Gefälle aus.41 Den Wendepunkt („Geehrtester Herr und Freund“) stellte ein Brief vom 7. Februar 1874 dar, in dem sich Grünhagen dem berühmten Vertrauten offenbarte: „Mir hat das Jahr 1873 auf nicht eben schmerzlose Weise zur Evidenz demonstrirt, daß meine Hingebung an die schles[ische] Geschichte mich meine Carriere auf dem archivalischen wie auf dem akademischen Gebiete ­kostet. Wenn Sie nicht für Schlesien geradezu unersetzlich wären, schrieb mir der Direktor der Staatsarchive nach Riedels Tode, ließe ich Sie nicht in Breslau, und wenn es sich um ein hiesiges Ordinariat handelt, sagen die Herren von hier, resp[ektive] denken es: 41 Conrads: Bilder aus der schlesischen Vergangenheit, 10–17, Nr. 1–8.

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Breslau ist ohnehin eine zu provinziale Univers[ität]. D[er] G[rünhagen] macht sie uns wo möglich noch provinzialer, u[nd] die Unterrichtsbehörde läßt sich von Gelehrten, die sie konsultiert, sagen, es wäre ein Verlust für die Wissenschaft, wenn die ­tüchtigsten Kräfte sich alle nur nach der Univers[ität] drängten, die Archive bräuchten Sie auch. So giebt man nicht zu, daß ich das Archiv aufgebe und mit dem Archiv läßt sich, wie man sagt, ein Ordinariat nicht verbinden./ Und so sitze ich denn fort u[nd] fort hier, von Zeit zu Zeit mit Orden u[nd] Titeln beschenkt, aber mit einem Gehalt von 1000 Th[a]l[ern] u[nd] Wohnung – so daß ich Ihnen die 500 Th[a]l[er] die ich von der Univers[ität] habe, Ihnen nicht einmal vor die Füße werfen kann, wenn man mir einen jungen Ordinar[ius] nach dem Andern auf die Nase setzt. Und hier ist es ein kleiner Kreis, der treu an der heimischen Gesch[ichte] festhält. Weiter hinaus gilt diese doch immer wie eine seltsame Spezialität, mit der der Höhergebildete sich nicht abgebe.“42 Ausgebremst und weggelobt, so fasste er empört seinen Eindruck zusammen, haderte mit den verpassten Chancen wie der Nachfolge im Berliner Archiv und lamentierte über seine Breslauer Zwitterstellung. „Und nun lassen Sie sich im Geist noch einmal herzlich die Hand schütteln zum Danke. Mit besten Gruße, dem sich meine Frau gleich dankbar anschließt, in alter Freundschaft“, verabschiedete er sich vom eingeweihten Bekannten. Am 25. Januar 1875 antwortete der Historiker Johann Gustav Droysen (1808–1884) ebenso verbindlich auf eine klagende Anfrage Grünhagens dem „verehrten Herrn Collegen“: „Mit Ihnen habe ich Dunkers [!] Abgang vom Archiv bedauert; aber er hatte Recht, sich so zu entschließen. Aber Sie thun Unrecht, zu bedauern, daß Sie sich der Geschichte Schlesiens so hingegeben haben. Nicht bloß um der reichen Ergebnisse willen, die Sie da gewonnen haben. Ich glaube, Sie haben sich keinesweges den Weg zu derjenigen archivalischen Stelle versperrt, die Ihnen erwünschter wäre als die in Breslau. Für den Augenblick freilich ist ein Provisorium eingetreten, das, so gut es gehen will, das preußische Archivwesen einstweilen überhalten muß.“43 In der Hoffnung auf Trost und Verständnis beim entfernten gefeierten Briefpartner bemühte Grünhagen sich vergebens zeitlebens um ein volles Ordinariat. Auch beim Weggang Doves 1883/84 scheiterte das Bestreben, diese ordentliche Professur zu erhalten, hätte es für den Familienvater doch die Versagung des bisherigen Archivgehaltes bedeutet.44 Grünhagen räsonnierte vergeblich über die nicht vorgesehene Lösung: „Wenn es sich würde machen lassen, daß er auch nach seinem definitiven Abgange als Ordinarius zur Universität noch eine Art Oberleitung über das Archiv behielte, um dieses genau in den alten Bahnen weiter zu führen, und wenn man dann dem für die Leitung bestimmten Archivar an seiner Stelle die Übungen in der Handschriftenlehre übertrüge, ‚so würde ich‘, wie seine Worte lauten, ‚bei dem historischen Seminar die Rekrutenausbildung für den Archivdienst ernstlich ins Auge fassen, und in dem Zusammenwirken von Universität, Archiv und Geschichtsverein könnte wirklich recht 42 Ebd., 18–20, hier 19, Nr. 10. 43 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 51f., hier 52, Nr. 16. 44 Ebd., 23.

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Erfreuliches geschaffen werden.‘“45 Die geforderte Niederlegung der Archivleitung hätte die Aufgabe seiner nachhaltigen Beschäftigung mit schlesischer Geschichte nach sich gezogen. Eine Kumulation von Archivdirektion und Lehrkanzel war seitens des Ministeriums nicht zu finanzieren und sollte vermieden werden. Den Aufstieg Grünhagens steckten in seinem Lebenslauf zahlreiche Titel, Auszeichnungen und Ehrenzeichen ab. Zwar erlangte er, mit dürftigem Salär, lediglich ein Extraordinariat für Schlesische Geschichte mit Ausweitung auf Preußische Geschichte und einen Lehrauftrag für Historische Hilfswissenschaften. Am 10. November 1873 erhielt er nach der Zerschlagung eines Angebots an das Geheime Staatsarchiv als Kompensation den Titel Königlicher Archivrat, am 8. Dezember 1885 den Charakter eines Geheimen Archivrats, am 1. April 1896 die Benennung Königlicher Archivvorsteher, am 27. Dezember 1899 die Amtsbezeichnung Königlicher Archivdirektor. Sein Pensionierungsgesuch mit Bitte um Entlassung aus dem Amt und Gewährung eines entsprechenden Ruhegehalts reichte er nach Erkrankung an einem Augenleiden und erfolglosen Operationen der Sehschwäche am 26. November 1900 ein.46 Seinen 80. Geburtstag beging er im Frühling 1908 in Gardone am Gardasee in der Fürsorge seiner zweiten Gemahlin Elisabeth, die der Witwer nach dem Tod der ersten Gattin 1885 geehelicht hatte. Sie war eine Schwester der Malerin Marie Spieler (1845–1913), einer Schülerin Eduard von Gebhardts (1818–1925). Ein Bildnis von der Hand seiner Schwägerin hing im Königlichen Staatsarchiv, das der Verein zum fünfzigjährigen ­Doktorjubiläum Grünhagens dem Jubilar gestiftet hatte und vor dessen Porträt sein Nachfolger am 6. Dezember 1911 die Gedächtnisrede auf den Vorgänger hielt.47 Das Gemälde ist seit der Zerstörung des Gebäudes im Zweiten Weltkrieg verschollen. Colmar Grünhagen verschied am 27. Juli 1911 in Breslau und wurde in Zittau feuerbestattet. Grünhagens hochdekorierten Cursus honorum schmückten stattliche Verdienstorden des preußischen Königs. 1872 wurde ihm der Rote Adlerorden IV. Klasse verliehen, 1890 der Königliche Kronenorden III. Klasse, 1899 der rote Adlerorden III. Klasse mit Schleife und 1901 zur Demissionierung schließlich der Königliche Kronenorden II.  Klasse. Hatte der Archivrat einst 1873 bei freier Dienstwohnung 800 Taler plus zusätzlichen 590 Talern jährlich aus der außerordentlichen Professur an der Universität erhalten, bezog er abschließend seit 1899 als Archivdirektor 6.800 Mark und bei der Entpflichtung aus dem Dienst zuletzt 5.469 Mark Ruhegehalt.48 Zum Nachfolger Grünhagens auf der Universitätsprofessur wurde 1912 Johannes Ziekursch (1876– 1945) ernannt, der dann ab 1917 ein personelles Ordinariat innehatte.49 45 Ebd. 46 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 178, Nr. 1459, A.V.4. 47 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 36. 48 Archiwum uniwersytetu wrocławskiego, Sign. S. 220 (Personalbogen); Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Oberpräsidium Breslau, Sign. 272, Bl. 52f. 49 Faber, Karl-Georg: Johannes Ziekursch. In: Wehler, Hans-Ulrich (Hg.): Deutsche Historiker, Bd. 3. Göttingen 1972, 109–123.

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III. Schuleinflüsse Grünhagens historisches Œuvre und seine Archivpraxis sind mehreren wissenschaftlichen Richtungen zuzuordnen und wissen sich verschiedenen gelehrten Traditionen verpflichtet. Auf den unterschiedlichen Stufen seines Berufswegs richtete er sich nach dem jeweiligen Anforderungsprofil aus. Daraus erwuchs ein ebenso vielgestaltiges wie beeindruckendes Schriftenkorpus. Sein Bildungsgang führte den jungen Studenten an verschiedene mitteldeutsche und ostdeutsche Hochschulen: Jena, Berlin, Breslau und Halle bildeten seine akademischen Referenzen. Seinem Jugendfreund, dem späteren Pastor Johann Theophil Mücke und Sohn seines Hauslehrers und örtlichen Geistlichen widmete Grünhagen als ‚Anstifter‘ seine Hallenser Dissertation, die der Überlieferung der Lebensgeschichte des Kluniazenserpapstes und Kreuzzugspredigers Urban II. und damit einem universalgeschichtlichen, kirchenhistorischen Thema aus dem Hochmittelalter galt.50 Eine ähnliche Qualifikationsarbeit reichte Grünhagen beim Habilitationsgesuch zur Eröffnung des Verfahrens ein (Adalbert Erzbischof von Hamburg und die Idee eines nordischen Patriarchats51), die ebenso eine allgemeingeschichtliche Herangehensweise des Mediävisten verrät. Seinem Jenenser Geschichtsprofessor eignete er den vorgelegten Band zu: „Herrn Adolf Schaumann, königl[ichem] Oberbibliothekar in Hannover widmet dies Buch als Zeichen größter Hochachtung der Verfasser“. Dieser ehemalige akademische Lehrer, Adolf Schaumann (1809–1882), mittlerweile hannoverscher Advokat und Hofhistoriograph des welfischen Hauses, schrieb in einem Brief vom 26. November 1854: „Hier kann ich nur noch meine Freude darüber aussprechen, daß ich ersehe, wie Sie dieses Werkchen dazu benutzen wollen, sich den Übergang zu der akademischen Carriere damit anzubahnen. Möge Ihnen dieses ganz nach Wunsch gelingen, und möge die neue Laufbahn ganz Ihren Hoffnungen und Wünschen entsprechen.“52 Schaumanns dynastische Tendenz gab thematisch ein Leitmotiv vor, dem Grünhagen im Fortgang der Karriere allmählich mit seiner Preußenhistoriographie folgen würde. In Jena hatte Grünhagen beim Kirchenhistoriker Karl Hase (1800–1890) gehört und bei Hermann Weißenborn (1813–1886) Lateinische Poesie und Grammatik belegt. Die drei Semester in Berlin hatte er bei Leopold Ranke (1795–1886) Geschichte, bei Karl Lachmann (1793–1851) Deutsche Sprachwissenschaft und bei August Böckh (1785–1867) Klassische Altertumskunde studiert. Die Breslauer Habilitationsschrift von 1855 unter dem Titel Otfried und Heliand, eine historische Parallele verglich das althochdeutsche Evangelienbuch mit dem altsächsischen Bibelepos und zeigte unter dem Einfluss des Berliner Germanisten Lachmann eine disziplinübergreifende frühmittelal50 VIRI OPTIMO/ IOANNI THEOPHILO MUECKE/ VERBI DIVINI MINISTRO/ AUCTOR. 51 Leipzig 1854, Widmung: [VI]. Rezension von Georg Waitz in: Göttinger Gelehrte Anzeigen (1855) 841–843. 52 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 38f., hier 39, Nr. 2.

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terliche Expertise auch im Nachbarfach. Am 12. Mai 1855 verteidigte er dieses Gesellenstück in der Aula Leopoldina. Ab dem Winter las Grünhagen Geschichte des Kaisertums in Deutschland und über die Grundzüge einer historischen Geographie, also geschichtliche Landeskunde.53 Die ausgesuchten Lehrgebiete entsprachen seinen bisher behandelten Forschungsfeldern. Übungen zur Orientierung und Interpretation der deutschen Quellenkunde des Mittelalters, Grundzüge der mittelalterlichen Diplomatik, Paläographie und Chronologie, Historische Propädeutik folgten in den nächsten Jahren. Grünhagen begann als Mediävist und Ranke-Schüler mit breitem historischem Interesse an früh- und hochmittelalterlicher Kirchen- und älterer Missionsgeschichte. Darin wurde er von einigen gefördert: vom späteren Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica, nicht zuletzt von seinem Breslauer Mentor Wattenbach, aber auch von Georg Waitz (1813–1886),54 Ernst Dümmler (1830–1902)55 und Gelehrten wie ­Rudolf Köpke (1813–1870), Monumentist und Herausgeber der Jahrbücher des deutschen Reiches.56 Bei Siegfried Hirsch (1816–1860),57 einem deutschen Historiker jüdischer Herkunft, lernte er in Berlin aber auch die neueste preußische Geschichte kennen. Vom allgemeingeschichtlichen Zugriff sollte er sich jedoch bald abwenden. Gustav Adolf Harald Stenzel hatte eine neuere schlesische Geschichtsforschung begründet, welcher der 1862 nach Heidelberg gehende Wilhelm Wattenbach durch sachgerechte Quellenveröffentlichungen und methodisch-kritische Untersuchungen weitere Grundlagen verschaffte.58 Bis zur Habilitation hatte sich Grünhagen kaum historisch mit Schlesien befasst. Beeinflusst von Wattenbach, der seit 1855 Provinzialarchivar war,59 „entschloß er sich, nach Wattenbachs zu erwartendem Ausscheiden dessen Archivamt als Vorstufe für eine Professur zu benutzen“.60 Zum Nachweis seiner archivarischen Befähigung richtete Grünhagen im Geschichtsverein seine Arbeitsgebiete mit eigenen Studien auf die historische Erforschung Schlesiens aus. In jüngeren Jahren griff er bereits wirtschafts- und sozialgeschichtliche Themen wie „Hungersnot und Theuerungspolitik im Mittelalter“ auf und übernahm 1858 für die Schlesische Gesellschaft für vaterländi-

53 Ebd., 17. 54 ������������������������������������������������������������������������������������������ Muhlack, Ulrich: Die Stellung von Georg Waitz in der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts. In: Jiroušek, Bohumil/Blüml, Josef/Blümlová, Dagmar (Hg.): Jaroslav Goll a jeho žáci. České Budějovice 2005, 165–181. 55 Ranft, Andreas: Mediävistik in Halle um 1900. Die Historiker Ernst Dümmler und Theodor Lindner. In: Freitag, Werner (Hg.): Halle und die deutsche Geschichtswissenschaft um 1900. Halle/Saale 2001 (Studien zur Landesgeschichte 5), 158–172. 56 Krahnke, Holger: Die Mitglieder der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 1751–2001. Göttingen 2001 (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, PhilologischHistorische Klasse 3/246), 137. 57 Lexikon deutsch-jüdischer Autoren, Bd. 12. München 2005, 40f. 58 ��������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar: Wattenbach in Breslau 1855–1862. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 32 (1898) 345–358. 59 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 20. 60 Wendt: Grünhagen, 364.

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sche Kultur sogar Referate „Über den deutschen Kornhandel im Mittelalter“.61 Grünhagen war im Februar 1859 in den Verein aufgenommen worden und hatte engeren Anschluss an Wattenbach, die „Seele des schlesischen Geschichtsvereins“,62 und damit an das Provinzialarchiv gefunden. Mit allein vier Vorträgen 1859 und einem weiteren 1861 versuchte ihn Wattenbach als Nachfolger aufzubauen und schob ihn in die vorderste Reihe. Bald wurde Grünhagen zu einschlägigen Schriften anlässlich von Jubiläen zur Rechts- und Verfassungsgeschichte herangezogen. Mit der Anrede „Rector magnifice! Hochlöblicher Senat!“ grüßte der 1861 bereits vom Geschichtsverein als Laudator Ausgewählte in seinem Festbeitrag die universitäre Hörerschaft zur Feier.63 Mit vier Vorträgen war Grünhagen dann 1862 präsent. Genügende landesgeschichtliche Kenntnisse und die Fähigkeit, mittelalterliche Dokumente zu lesen, gewann er rasch hinzu. Flankiert wurde diese Auseinandersetzung von Vorlesungen über die Breslauer Stadtgeschichte im Winter 1859/60 und im Sommer 1861. Als Musterstücke für die Bewerbung sind das älteste Rechnungsbuch der Stadt64 1860 und die Grünhagen übertragene Festgabe des Vereins von 1861 für die Universität Breslau unter den Piasten als Deutsches Gemeinwesen zu verstehen, die strategisch seinem persönlichen Vorwärtskommen für eine wissenschaftliche Laufbahn dienten. Grünhagen untersuchte, mit Böckh gesprochen, die Staatshaushaltung der Breslauer und zeichnete damit frei nach Freytag neue Bilder aus dem Leben des schlesischen Volkes. Um mit überzeugenden Arbeitsproben seine Ambitionen zu untermauern, wählte er lokalgeschichtliche Wratislavensia, indem er die Stadt als Machtträger in Absetzung von der polnischen Dynastie entdeckte. Mit der Versiertheit seiner philologischen Ausbildung, die er in Jena und Berlin erworben hatte, legte er unverdrossen Dokumentenbände vor. Erfolgreich reüssierte er zu Wattenbachs Nachfolger als Archivar, der ihn trotz geringer Archiverfahrung empfohlen hatte. Sein universitäres Fachgebiet erstreckte sich auf preußische und schlesische Geschichte sowie historisch-diplomatische Übungen. Mit taktischem Geschick suchte sich Grünhagen auf längerfristige Ziele auszurichten. Sein ursprüngliches Interessensfeld der allgemeinen Geschichte trat damit mehr denn je zurück. „Seine Geschichtsschreibung hatte vor allem zwei große Vorwürfe. Zuvörderst: wie wurde Schlesien im Mittelalter ein deutsches Land, und wie wahrte es – das ist erst in dem Werk Hussitenkämpfe geschildert – sein Deutschtum gegen den Ansturm der Slawenwelt? Sodann: wie führte der große Preußenkönig durch Eroberung und Behauptung Schlesiens das Land der Entwicklung zu, die seiner geographischen Lage, seinen nationalen und religiösen, kulturellen und wirtschaftlichen Verhältnissen am besten entsprach?“65 Recht fortschrittlich zeigte sich 1865 eine um das lokale Milieu 61 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 18. 62 Ebd., 19; Schwarzer: Colmar Grünhagen, 78: „dessen Seele er [Grünhagen] nach dem Weggange Wattenbachs war“. 63 Grünhagen, Colmar: Breslau unter den Piasten als Deutsches Gemeinwesen. Breslau 1861. 64 Ders. (Hg.): Henricus pauper. 65 Wendt: Colmar Grünhagen, 366; Webersinn: Grünhagens Gedächtnis, 180f.: „Wie wurde Schlesien ein rein deutsches Land, wie wahrte es sein Deutschtum gegen den Ansturm der Sla-

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werbende selbständige Denkschrift Grünhagens Über Städtechroniken und deren zweckmäßige Förderung durch die Communalbehörden mit besonderer Rücksicht auf Schlesien, die dem schlesischen Städtetag gewidmet war und vorwärtsweisend Ansätze der aufkommenden Volkswirtschaftslehre und der Staatswissenschaften aufgriff.66 Die Befassung mit der älteren Geschichte Breslaus begann hier – sie sollte auch in der letzten Etappe seiner Vita revidiert werden und in eine Artikelserie zwischen 1901 und 1905 über vormoderne Stadtgeschichte münden, mit der er nach seiner Pensionierung diese Materie wieder aufgriff:67 „Breslau und die Landesfürsten“.68 Ein letztes Aufflackern bildete 1907 der kontroverse Beitrag zu Bolko I. von Schweidnitz, einem der Protagonisten im protonationalen Gegensatz zu Böhmen, dem er sich bereits 1876 gewidmet hatte.69 Die Gegenüberstellung eines germanisch-slawischen Disputs kennzeichnete auch die Lobschrift, mit der der Verein das junge Mitglied in die Pflicht nahm und die kommunale Behauptung der Breslauer gegen die piastischen Herrscher diskutierte, deren spätere genealogische Verflechtung mit den Hohenzollern Grünhagen früh herausstellte.70 Grünhagen versuchte geschichtspolitisch unter Umgehung Österreichs mit der Erbvereinbarung eine preußische Affinität Schlesiens weit zurückzuprojizieren und gleichsam deutsche Wurzeln freizulegen. Solche Klammern über ein Gelehrtenleben hinweg schließen sich auch im anderen großen Themenfeld, der vormodernen Einbindung der Provinz Schlesien in das friderizianische Preußen, das sein vordringliches Erkenntnisinteresse fand. Nach seinen Fehlschlägen und Misserfolgen 1873 und 1884 trat Grünhagen mit Mediaevalia nicht mehr monographisch hervor, sondern verlegte sich zunehmend auf Prussica. Selbst mittelalterliche Texteditionen veranstaltete er nur noch in Kooperation oder trat als Herausgeber mit dem Bearbeiter in Erscheinung. Zu den Pflichten, die er von Wattenbach übernommen hatte, gehörte die Herausgeberschaft von Reihen wie dem Codex diplomaticus Silesia und den Scriptores rerum Silesiacarum. Die Editionstätigkeit endete in den 1880er Jahren zusammen mit Hermann Markgraf (1838–1906) und den Lehns- und Besitzurkunden Schlesiens und seiner Fürstentümer71 und zuletzt mit den gemeinsam mit Konrad Wutke (1861–1951) publizierten Regesten zur schlesiven? Hierbei zeigte er auch den anderen deutschen Stämmen, was das Grenzland Schlesien für den Schutz des Deutschtums bedeutete.“ 66 �������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar: Über Städtechroniken und deren zweckmäßige Förderung durch die Communalbehörden mit besonderer Rücksicht auf Schlesien. Breslau 1865. 67 Ders.: Die alten schlesischen Landesfürsten und ihre Bedeutung. Breslau 1886. 68 Ders.: Breslau und die Landesfürsten I–IV. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 36 (1901) 1–28, 225–270, 38 (1904) 1–70, 39 (1905) 1–51. 69 Ders.: Aus Bolkos I. Zeit. Kampfbereitschaft gegen Böhmen 1295, Bezwingung Breslaus 1296. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1907) 311–335; ders.: Bolko I. In: Allgemeine Deutsche Biographie 3 (1876) 105f. 70 Ders.: Die Erbverbrüderung zwischen Hohenzollern und Piasten vom Jahre 1537. In: Zeitschrift für Preußische Geschichte und Landeskunde 5 (1868) 337–366. 71 Ders./Markgraf, Hermann (Hg.): Lehns- und Besitzurkunden Schlesiens und seiner einzelnen Fürstenthümer im Mittelalter, Bd. 1–2. Leipzig 1881–1883.

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schen Geschichte.72 Grünhagen gab zwölf Bücher schlesischer Geschichte in Form von Quellenausgaben heraus, die allenthalben durch ebenso viele Bände der Darstellung begleitet wurden. Von den Urkundenwerken veröffentliche er mit Wattenbach unverkürzt das Registrum Wenceslai,73 Urkunden zur Geschichte Oberschlesiens, mit dem bereits erwähnten, in Lothringen gefallenen Archivsekretär Korn gab er die Urkunden des Bistums Breslau im Auszug heraus (Regesta episcopatus Vratislaviensis) und veröffentlichte die auf primären Quellen beruhenden Nachrichten und Urkunden der Stadt Brieg als Auswahleditionen.74 Er erwies sich als Fortsetzer dieser Unternehmen kritikfähig, insofern er fachspezifische Bemerkungen von Wilhelm Häusler (†1879)75 und Verbesserungen von Hermann Grotefend (1845–1931) an Urkunden der Stadt Brieg in Auszügen76 offenherzig aufnahm und Richtigstellungen zu seinen eigenen Studien abdruckte. Grotefend, seit 1870 Archivaspirant am Königlichen Staatsarchiv in Breslau, war selbst von Grünhagen in die praktische Archivarbeit eingeführt worden; von 1872 bis 1874 war er als Archivsekretär angestellt. Die methodischen Einwände trafen den ehemaligen Vorgesetzten. Grünhagen nahm die Regeln historisch-kritischen Editionen alter Quellentexte ernst, wie er es bei Lachmann und Weißenborn erlernt und eingeübt hatte. Die Beanstandungen von Seiten der Urkundenlehre und Quellenkunde gegen seine Regestenwerke blieben nicht ohne Wirkung, wie die reflektierten Besprechungen des späteren Franziskanerpaters Lambertus (Wilhelm) Schulte (1843–1919), als Schulmann ein Beiträger seiner Festschrift, zeigen.77 72 Grünhagen, Colmar (Hg.): Regesten zur schlesischen Geschichte, Bd. 1: Bis zum Jahre 1250; Bd. 2: Bis zum Jahre 1280; Bd. 3: Bis zum Jahre 1300; Bd. 4: 1301/15; Bd. 5: 1316/26; Bd. 6: 1327/33 [ab Bd. 4 mit Konrad Wutke]. Breslau 1868–1903. 73 Wattenbach, Wilhelm/Grünhagen, Colmar (Hg.): Registrum St. Wenceslai. Breslau 1865. 74 Grünhagen, Colmar (Hg.): Urkunden der Stadt Brieg. Breslau 1870. 75 Häusler, Wilhelm: Bemerkungen, Ergänzungen und Berichtigungen zu neueren Schriften auf dem Gebiete der schlesischen Geschichte nach urkundlichen Beilagen. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 6 (1864) 357–379. 76 Grotefend, Hermann: Die Paternität über das Vincenzstift zu Breslau. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 10 (1870) 402–410; Ulrich, Theodor: Grotefend, Ernst Heinrich Hermann. In: Neue Deutsche Biographie 7 (1966) 165f.: „Maßgeblichen Einfluß hatte Kolmar [!] Grünhagen auf seine archivarische Schulung.“ Vgl. ferner Röpcke, Andreas: Hermann Grotefend als Archivleiter. In: Oldenhage, Klaus/Schreyer, Hermann/Werner, Wolfram (Hg.): Archiv und Geschichte. Festschrift für Friedrich P. Kahlenberg. Düsseldorf 2000 (Schriften des Bundesarchivs 57), 95–114. 77 Schulte, Wilhelm: Das Todesdatum des Bischofs Cyprian von Breslau und das Ordinationsjahr seines Nachfolgers, des Bischofs Lorenz. Zum ersten Bande der schlesischen Regesten. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1907) 384–391; ders.: Die villa Martini und die Unechtheit der Stiftungsurkunde für Leubus aus dem Jahre 1175. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 39 (1905) 279–292; ders.: Die angebliche Stiftungsurkunde für das St. Vincenzkloster auf dem Elbing. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 37 (1903) 286–309; ders.: Die Nachrichten der Cisterzienser über Kloster Leubus. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 33 (1899) 209–226;

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Sein mediävistisches Meisterstück gelang Grünhagen mit den Geschichtsquellen der Hussitenkriege (Breslau 1871) und Die Hussitenkämpfe der Schlesier 1420–1435 (Breslau 1872). Diese publizistische Koppelung von Quellenedition und Untersuchung hatte er vorher bereits gewählt, und sie sollte sich durch sein weiteres wissenschaftliches Werk ziehen. Nur zu mittelalterlichen Gegenstandsbereichen äußerte er sich in längerer eigenständiger Form nicht mehr. Analog zum Wechsel seines Studiensujets orientierte sich sein Lehrangebot ähnlich um. In den 1860er Jahren kamen schlesische und preußische Geschichte hinzu sowie die Geschichte der Stadt Breslau, 1872/73 die kriegerische Erwerbung Schlesiens durch den preußischen König Friedrich II. Aus seiner Amtszeit als Archivleiter erwuchsen allerdings Gesamtdarstellungen und Überblickswerke, mit denen Grünhagen eine nationale Sichtbarkeit erreichte. Am Vorbild von Wattenbachs historiographischem Wegweiser Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter entlang führte Grünhagen grundlegend in die Quellenkunde des mittelalterlichen Schlesiens ein.78 Er verfasste ein Handbuch in zwei Teilen für Lehrer der höheren Lehranstalten als Hilfsmittel zum Unterricht, das in groben Zügen auf eine leicht lesbare Großerzählung der Geschichte Schlesiens für ein gebildetes Publikum abzielte.79 „Mit Recht betont das Buch, daß die Geschichte Schlesiens eigentlich die Geschichte seiner Germanisation sei, und mit Recht sucht es die Bedeutung des Landes für das Deutschtum im Osten festzustellen und zur Anerkennung zu bringen.“80 Nicht ohne Sendungsbewusstsein beschwor der loyale Untertan in der Einleitung: „Die schlesische Geschichte hat einen besonderen Anspruch auf einen Platz innerhalb deutscher Provinzialgeschichten; denn Schlesien hat um den Preis des Deutschtums lange und schwer gerungen und verdient daher besser bei den Landsleuten außerhalb seiner Grenzen bekannt zu werden.“ Gerade durch einen „journalistischen Zug seines Wesens“,81 eine „verbesserungsbedürftige, immerhin flüssigere und leichter lesbare Darstellung“ gegenüber Stenzel,82 an den Grünhagen mit dem Jahr 1350 anknüpfte, wird sein eingängiger narrativer Stil gegeißelt; man moniert ferner die Defizite gegenüber

78 79 80 81 82

ders.: Die Anfänge der deutschen Kolonisation in Schlesien. In: Silesiaca. Festschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens zum 70. Geburtstag seines Präses Colmar Grünhagen. Breslau 1898, 35–82; ders.: Bemerkungen, Ergänzungen und Berichtigungen zu neueren Schriften auf dem Gebiete der schlesischen Geschichte. 1. Bemerkungen zu den schlesischen Regesten (Cod. dipl. Siles. VII.). 2. Über die angeblichen schlesischen Ortsnamen in Cividale. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 25 (1891) 350–354; ders./Markgraf, Hermann (Hg.): Liber fundationis episcopatus Vratislaviensis. Breslau 1889. Grünhagen, Colmar: Wegweiser durch die schlesischen Geschichtsquellen bis zum Jahre 1550. Breslau 1876 [21889]. Ders.: Geschichte Schlesiens, Bd. 1: Bis zum Eintritt der habsburgischen Herrschaft 1527, Bd. 2: Bis zur Vereinigung mit Preußen 1527–1740. Gotha 1884–1886. Markgraf: Die Entwickelung, 23. Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 31. Ebd., 29f.

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Stenzels quellenfundierter diskursiver Darlegung.83 Die beiden Handbuchbände zur Geschichte Schlesiens haben zeitliche Fluchtpunkte mit den Dynastiewechseln 1526 zu Habsburg und 1740 zu Preußen. Sie entstanden in der Mitte seiner ­Schaffensphase und zeigen eher den Geschichtsschreiber als den Quellenforscher. Martialisch rief Grünhagen in seiner Geschichte Schlesiens von 1884 über die Niederlage bei Liegnitz unter Vergessen der polnischen Piasten heldische Mythen auf und postulierte: „Wir haben vollen Grund, ihrer mit demselben Gefühle zu gedenken, das wir den Streitern der Thermopylen zollen. Die Schlacht bei Wahlstatt war die Bluttaufe der jungen deutschen Pflanzung hier im Osten, ein erstes ruhmvolles Blatt ihrer Geschichte.“84 Die grundlegende Beschäftigung mit den Anfängen der preußischen Herrschaft in Schlesien wurde in Grünhagens zweiter Lebenshälfte die beherrschende Problematik seines akademischen Schaffens. Der frühneuzeitliche Integrationsprozess bildete für ihn stets einen veritablen Forschungsgegenstand, das unbestellte Feld beackerte er in Aufsatzform seit 1861. Am Beginn standen 1864 zwei Buchveröffentlichungen zu König Friedrich II.85 Bereits Grünhagens zweibändige Geschichte des Ersten Schlesischen Krieges zu den Jahren 1740 bis 1742 fußte auf archivalischen Studien in Berlin, Hannover, Dresden, Brünn, Wien und London;86 nach Ziekursch handelt es sich hierbei um die „beste Monographie aus Grünhagens Feder“.87 Grünhagen malte auf seinen historischen Wanderungen durch die Provinz Schlesien Bilder von der preußischen Vergangenheit aus und trachtete sozusagen nach Ranke und Droysen die Genesis des preußischen Staates und die Geschichte der schlesischen Politik herauszupräparieren. Das friderizianische Schlesien gab ein mustergültiges Beispiel für diese Machtstaatwerdung ab. Damit hob eine Heroisierung Friedrichs II. mit borussophiler Parteinahme an, die mit Grünhagens Quellenforschungen im Österreichischen Kriegsministerialarchiv, dem Anhaltischen Archiv in Zerbst 1880, Beständen in Magdeburg 1881, in Prag und Dresden 1882 fortgeführt wurde, wo er unermüdlich Materialien konsultierte. Eine zweiteilige Studie dieser frühen preußischen Ära Schlesiens sollte 1892 den krönenden Abschluss mit zeitgemäßem Einbezug der aufstrebenden Zugänge von Nationalökonomie und Sozialwissenschaften finden. Sie sollte zugleich das Ansehen von Grünhagens stupendem Wissen zur Episode unter Friedrich II. begründen. Gegenüber Freytag bekundete der schlesische Hohenzollern-Spezialist im Frühjahr 1890, mit dieser reifen Leistung den Gipfel seiner Arbeitserträge erreicht zu haben: „Möchten Sie sich durch das beifolgende Buch, das eigentliche Werk meines Lebens, 83 Ziekursch: Colmar Grünhagen, 95: „Dazu kam, daß G[rünhagen] manchmal durch allzu starke Beschränkung auf sein Arbeitsgebiet die Fühlung mit den Ergebnissen der allgemeinen deutschen Geschichtsforschung verlor.“ 84 Grünhagen: Geschichte Schlesiens, Bd. 2, 71. 85 Ders.: Friedrich der Große und die Breslauer in den Jahren 1740 und 1741. Breslau 1864; ders.: Aus dem Sagenkreise Friedrich des Großen. Breslau 1864. 86 Ders.: Geschichte des Ersten Schlesischen Krieges, Bd. 1–2. Gotha 1881. 87 Ziekursch: Nekrolog, 7. Vgl. demgegenüber das Urteil von Baumgart: Colmar Grünhagen, 550: „durch die militärgeschichtliche Forschung alsbald überholt.“

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Andreas Rüther Abb. 3: Antragsbewilligung zu einer einmonatigen Reise zu Studienzwecken zur Geschichte des Ersten Schlesischen Krieges ins Reichsarchiv nach London und Beauftragung der Vertretung durch Ober-Präsidium Provinz Schlesien, gezeichnet Adolf von Arnim-Boitzenburg, 5. April 1876. Bildnachweis: Geheimes Staatsarchiv ­Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 178, Nr. 1459, A.V.67.

nicht ungern wieder einmal an die alte Heimath und einen Ihrer dortigen Verehrer mahnen lassen, der es an treuer und dankbarer Verehrung für Sie mit Jedem aufnimmt.“88 Die auch dem Nachfolger Otto Meinardus (1854–1918) zufolge „reifste und abgeklärteste Arbeit“89 gilt als sein vollendetes Werk mit innovativen Bezügen. Zugleich edierte er gemeinsam mit Franz Wachter (1853–1923) schlesische Staatsschriften aus der Regierungszeit König Friedrichs II.90 Nicht ohne das Archiv des Königlichen Generalstabs, die Geheime Staatskanzlei zu Berlin, die Stadtbibliothek Hamburg und Sammlungen in England 1893 aufgesucht zu haben, wurde die umfassende Untersuchung durch einen Materialienband gestützt. Dieser zeigt die tiefschürfende Auseinandersetzung mit dem Stoff.91 Die argumentative Zielstellung mündete in einer losen Aufsatzreihe zu den Nachfolgern Friedrichs II.92 88 Conrads: Bilder aus der schlesischen Vergangenheit, 37f., hier 37, Nr. 23. 89 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 32. Vgl. ferner Baumgart: Colmar Grünhagen, 552. 90 ����������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar/Wachter, Franz (Hg.): Akten des Kriegsgerichts von 1758 wegen der Kapitulation von Breslau am 24. November 1757. Breslau 1895. 91 Grünhagen, Colmar: Schlesien unter Friedrich dem Großen, Bd. 1: 1740–1756, Bd. 2: 1756– 1786. Breslau 1890–1892. 92 Ders.: Zerboni und Held in ihren Konflikten mit der Staatsgewalt 1796–1802. Berlin 1897.

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Schlesiens Fridericus Rex-Experte enthielt sich weitgehend der Zeitgeschichte und überschritt kaum seine Zuständigkeit für das Ancien régime, indem er sich tiefer in das 19. Jahrhundert und damit in die politische Gegenwart hinein bewegte. Dem Napoleonischen Zeitalter widmete sich Grünhagen nicht erschöpfend, war die Aufklärung des friderizianischen Zeitgeists doch sein Lebenszweck. Damit bettete er die zeitweise bestehende Größe Schlesiens durch das Preußentum in die europäische Machtgeschichte ein, um sie für diese Periode von der Peripherie in das Zentrum Europas hineinzuschieben. Es sei „seiner rastlosen Feder als Verdienst anzurechnen“, „wenn nun die Blicke der deutschen Landsleute im Reich sich lebhafter und wärmer auf die reiche Provinz im Osten und ihre Kämpfe ums Deutschtum richten“.93 Ein Alleinstellungsmerkmal bildete die Vielfalt der Vereinnahmungen, der sich die Region Schlesien über Jahrhunderte hinweg ausgesetzt sah. Während seines Studiums und der ersten Berufsjahre hatte Grünhagen die gewaltigen politischen Umwälzungen der Epoche von 1848 bis 1871 erlebt, die Märzrevolution und die zweite Reichsgründung. Er war Mitglied der pflichtschlagenden Studentenverbindung „Arminia auf dem Burgkeller“ in Jena, aus der heraus sich auch andere später große Namen an den parlamentarischen Vorgängen der Jahre 1848/49 beteiligten, beispielsweise Otto Abel (1824–1854), der Historiker und Mitarbeiter der Monumenta Germaniae Historica, oder Hermann von Schulze-Gävernitz (1824–1888), der spätere Staatsrechtler in Breslau und Heidelberg.94 Mit der roten Mütze der altliberalen Jenenser Verbindung auf dem Kopf reiste Grünhagen 1848 mit einem Bundesbruder nach Frankfurt am Main, wo die demokratisch gewählte deutsche Nationalversammlung zusammentrat. Dort traf der Burschenschafter den Pädagogen und Pionier der Turnerbewegung Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852); in Begleitung Jahns lernte er weitere Abgeordnete des Paulskirchenparlaments kennen. Bereits früh als Berliner Student hatte Grünhagen brieflich Kontakt zu Gustav Freytag geknüpft. Damit bot sich ihm die Möglichkeit anonymer Veröffentlichungen unter den Initialen in der nationalliberalen Zeitschrift Die Grenzboten, die als Sprachrohr des Bürgertums galt. Zwei mit „C. G.“ gekennzeichnete Artikel fanden 1850 in Nr. 6 das Gefallen des Herausgebers Freytag: „Die Königsbotschaft in der zweiten Kammer“ und eine Schilderung der Berliner Volksstimmung wandten sich gegen die Demokraten.95 Als eilfertiger Dienstleister trug der Staatsarchivar Grünhagen dem Erfolgsautoren Freytag bei dessen familiengeschichtlichen Recherchen zum oberschlesischen Kreuzburg später beflissen seine Hilfe an.96 Während der Schriftsteller der oberschlesischen Herkunft seines Geschlechts geradezu obsessiv nachspürte, mied Grünhagen ostentativ lokale Identifikationen mit seinem alten Zuhause. Am 19. Oktober 1886 teilte er dem 93 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 20. 94 Ebd., 9; Grünhagen, Colmar: Zur Erinnerung an den alten Jahn. In: Schlesische Zeitung Nr. 501, 1894. Vgl. den Beitrag von Steffen Schlinker in diesem Band. 95 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 10. 96 Conrads: Bilder aus der schlesischen Vergangenheit, 7–38, hier 10–17, Nr. 1–8.

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befreundeten Freytag recht freimütig mit: „Ich habe dieses Jahr das Honorar meiner schles[ischen] Gesch[ichte] mit Frau u[nd] Tochter auf einer Reise erst nach dem belgischen Seebade Blankenberghe u[nd] dann nach London todtgeschlagen. Es war [eine] sehr schöne; ich liebe die Engländer (daheim notabene) u[nd] das englische Leben u[nd] möchte gern öfter dahin, wenn ich Geld dazu hätte. Nächsten ­Donnerstag werde ich auch in der hist[orischen] Sektion über Silesiaca aus London (den 30jähr[igen] Krieg betr[effend]) vortragen. [...] Hoffentlich finden auch Sie, daß ich mein protestantisches Bekenntniß nicht verleugnet habe bei dem Bestreben, zu verhüten, daß meine katholischen Landsleute allzu großes Ärgerniß nähmen an einer Darstellung, die sich vorzugsweise mit religiösen Dingen befassen muß.“97 Dem Kind einer konfessionellen Mischehe war religiöse Polemik fremd, was das sympathische Raisonnement über seine mangelnde Schärfe gegenüber ultramontanen Altgläubigen erläutert. Großzügig ökumenisch umarmend, hatte er bereits 1864 dem „Beförderer schlesischer Geschichtschreibung, Herr[n] Fürstbischof Dr. Heinrich ­Förster F. B. G.“ die Bistumsquellen zugeeignet.98 Wegen des Lavierens zwischen den Konfessionen erwartete Grünhagen Vorwürfe seiner lutherischen Kirche. Ebenso leutselig zeigte er sich, als er trotz seines explizit deutschen Handbuchs aber keine chauvinistische Sicht auf das britische Empire hatte, sondern seine touristischen Wünsche und launige Anglophilie erörtete. Oft brach er zu Forschungsreisen für Quellenrecherchen auf. Im März und April 1881 ging er auf eine längere Studienfahrt nach Italien über Bologna und Padua bis Rom. Freytags mitunter wehmütiger Würdigung seiner familiären Herkunftsstätten folgte Grünhagen keineswegs mit Blick auf seine eigene Vaterstadt Trebnitz. Diese geschäftige Gewerbesiedlung war zu seinen Lebzeiten vorbelastet von der Frühindustrialisierung durch einige Textilfabriken und moderne Maschinen, die alle idyllischen Eindrücke eines Ackerbürgerstädtchen mit Zisterzienserinnenkloster und Hedwigs Heiligengrab verdrängten. Protestantisch nüchtern enthob Grünhagen sich jeden Lokalstolzes auf die Landespatronin, die er womöglich von der nationalpolnischen klerikalen Seite vereinnahmt glaubte, in einem Artikel über Hedwig von Andechs-Meranien für die Allgemeine Deutsche Biographie.99 97 Ebd., 31–33, Nr. 19. 98 Grünhagen/Korn (Hg.): Regesta episcopatus Vratislaviensis, 7. 99 ����������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar: Art. Hedwig, die Heilige, Herzogin von Schlesien. In: Allgemeine Deutsche Biographie 11 (1880) 229f.: „Wenn wir erwägen, daß die zahlreichen Kirchen und frommen Stiftungen, welche sich auf die Herzogin H[edwig] zurückführen lassen, für jene Zeit als wirklich culturfördernd angesehen werden müssen, und daß ferner die von H[edwig] hergerufenen Ordensleute zugleich auch besonders deutsche Cultur verbreiteten, wenn wir ferner in Betracht ziehen, wie mächtig in jener Zeit ein vom Throne aus gegebenes Beispiel selbstverleugnender Nächstenliebe und Frömmigkeit auf die Gemüther des Volkes wirken mußte, so werden wir die allgemeine Verehrung, die H[edwig] sich erwarb, als gerechtfertigt anerkennen müssen, wenn gleich manche Züge ascetischer Frömmigkeit, welche die Legende von ihr überliefert, in ihrer Uebertreibung uns wenig anmuthend erscheinen. Wir werden dabei außer dem Unterschiede der

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Nach Beendigung des Kulturkampfes 1878 nahm trotz der Annäherung zwischen preußischem Staat und römisch-katholischer Kirche ein Drittel des Handbucheintrags verhaltene Skepsis ein; die Herzogin wurde allenfalls durch ihre kulturelle Leistung gerechtfertigt.100 Diese distanzierte Haltung lässt keine Identifizierung mit der schlesischen Patronin oder gar Heimatstolz auf Grünhagens Herkunftsort zu, sondern war diktiert von konfessionsverschiedenen und rezeptionsgeschichtlichen Bedenken. Akkurat analysierte der Historiker die hagiographischen Quellen gegen andere Überlieferungen und betrachtete die Heiligenverehrung und weltfremde Erbaulichkeit kritisch, lobte die Nützlichkeit als Kulturträger und ließ lediglich Architektur und Kunstwerke gelten. Grünhagens Auffassung über Jan Hus geriet noch polemischer, war doch reichsweit die Einschätzung dieser Person und ihrer Bewegung durchaus ambivalent. Noch 1868 etwa gehörte der antipapistische Vorläufer und evangelische Schirmherr in Böhmen auf dem Reformationsdenkmal im rheinhessischen Worms zu den flankierenden Personen unterhalb Martin Luthers. Auf dem Hauptpostament wurde in Reliefs neben anderen Reformatoren Jan Hus dargestellt. Der sächsischer Bildhauer Gustav Adolph Kietz (1824–1908) schuf die Statuen von Hus, Melanchthon und Philipp dem Großmütigen sowie die Stadtfigur Augsburg.101 Dagegen fand sich eine Generation später im Berliner Dom 1905 der tschechische Theologe und reformatorische Prediger nicht mehr vertreten. Auf den Gesimsen der Halbsäulen im Kirchenraum standen an der Altarseite nur die Sandsteinstatuen Calvins, Luthers, Melanchthons und Zwinglis, auf der gegenüberliegenden Seite aber die von vier Herrschern und Förderern der Reformation.102 Im einem lebhaften Briefwechsel mit dem tschechischen Historiker und Politiker František Palacký (1798–1876) Anfang der 1870er Jahre behauptete Grünhagen:

Zeiten auch das noch in Erinnerung behalten müssen, daß wir doch nicht sicher sind, ob die Legende, wenn gleich schon etwa um den Ausgang des 13. Jahrhunderts entstanden, immer mit ganz getreuem Pinsel malt. Wenigstens stimmt das Bild, welches uns die Legende von der ­Fürstin entwirft, die ihren durch die ärgsten Kasteiungen zum Skelette abgemagerten Körper mit dem gröbsten härenen Gewande bedeckt und die ihr von ihrem Beichtvater aufgedrungenen Schuhe aus Demuth nur unter dem Arme trägt, nicht überein, weder mit der erwähnten ursprünglichen Statue ihres Grabmals, welche eine Gestalt in reicher Fülle mit kostbarer Gewandung und in vollem herzoglichen Schmuck zeigt, noch mit dem Siegel, welches die Herzogin zu verschiedenen Zeiten und noch ein Jahr vor ihrem Tode zur Anwendung gebracht hat, und welches die üppige Tracht einer Modedame jener Zeit zur Anschauung bringt, ein eng anschließendes Gewand mit Aermeln, die an den Knöcheln plötzlich sich so erweitern, daß sie fast bis auf den Boden herabfallen.“ 100 Grunewald, Ekkehard/Gussone, Nikolaus (Hg.): Das Bild der heiligen Hedwig in Mittelalter und Neuzeit. München 1996. 101 Theiselmann, Christiane: Das Wormser Lutherdenkmal Ernst Rietschels (1856–1868) im Rahmen der Lutherrezeption des 19. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 1992. 102 Schröder, Jochen: Die Baugestalt und das Raumprogramm des Berliner Doms als Spiegel der Ansprüche und Funktionen des Bauherrn Kaiser Wilhelms II. Marburg 2002; Buske, Thomas: Der Berliner Dom als ikonographisches Gesamtkunstwerk. Schwerin 2000; Staudinger, Burkhard (Hg.): Der Berliner Dom. Das Gotteshaus am Lustgarten. Berlin 2006; Demps, Laurenz: Der Berliner Dom. Berlin 1999 (Berliner Ansichten 10).

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„Nicht böhmisches Kronland, sondern eigenes Erbland der Krone Habsburg ist Schlesien erst durch den Zusammenschluß seiner Stände und durch die kraftvolle Behauptung ihrer privilegierten Stellung geworden und geblieben bis zur Besitzergreifung des Landes durch Friedrich den Großen“.103 Anerkennung von deutscher, aber auch von tschechischer Seite wurde ihm dafür nicht unwidersprochen zuteil.104 In der höflich geführten Debatte voller akademischer Hochachtung dem Kontrahenten gegenüber, vergifteten die nationalistischen Feindbilder und ein drastisches völkisches Lagerdenken dennoch den Meinungsstreit und überlagerten die dem theologisch Gebildeten doch eigentlich bekannten evangelischen Gemeinsamkeiten zwischen Hussiten und Lutheranern. Diese religiöse, soziale und ethnische Auseinandersetzung missverstand Grünhagen trotz seines langwierigen Schriftverkehrs mit Palacký als agonales Prinzip zwischen Nationen und nicht Konfessionen, sozusagen als „Fünfzehn Jahre deutsche Kämpfe“ ganz im Sinne Treitschkes, dessen reaktionäre Ansichten und apodiktisches Pathos er damit partiell teilte. Nostalgische Verklärungen, wie auch originelle Neuaufbrüche kennzeichnen sein spätes Alterswerk: Grünhagen widmete sich durchaus zuletzt heimatkundlichen Fragen wie sein Werk Schlesische Erinnerungen an Gustav Freytag und die elegischen Reminiszenzen an Goethe in Schlesien zeigen. Der letzte Besuch König Friedrichs II. von Preußen in Breslau 1785 wurde retrospektiv 1903 in seiner Zeitschrift aufgegriffen.105 Mit Beiträgen zur Volkslied-Überlieferung kehrte Grünhagen im hohen Alter zu den germanistischen Forschungen seiner Studienjahre zurück.106 Gleichwohl wurden neue umwelt- und klimageschichtliche Fragen aufgeworfen mit dem zukunftsgewandten Beitrag über die Überschwemmungen aus dem gleichen Jahr.107 Mit dem Breslauer Geographen Joseph Partsch (1851–1925) pflegte er einen regen Gedankenaustausch.108 Am Ende seiner publizistischen Tätigkeit unterstützte Grünhagen Forschungen zur Münzgeschichte, zur Geschichte der Oder-Schifffahrt und des Bergbaus; mit Veröffentlichungen zum Leinengewerbe in Schlesien fasste er überdies aktuell heftig diskutierte Fachgebiete ins 103 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 29; Baumgart: Colmar Grünhagen, 546f. 104 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 29 Anm. 1, 46–51, Nr. 13–15; Grünhagen, Colmar: Fr. Palacky. Ein deutscher Historiker wider Willen. In: Preußische Jahrbücher 28 (1872) 239–247. 105 ������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar: Schlesische Erinnerungen an Gustav Freytag. Kreuzburg 1910 (Veröffentlichungen der Gustav-Freytag-Gesellschaft 2). 106 Ders.: Robin Adair in den deutschen Liederbüchern. In: Die Grenzboten 65 (1906) 670–672. 107 Ders.: Die Überschwemmung von 1785. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 38 (1904) 464–386. 108 Leibniz-Institut für Länderkunde Leipzig, Archiv für Geographie, Kasten 55/182–188: Briefe von Prof. Colmar Grünhagen, Breslau, an J. Partsch, 1887–1900 (Findbuch Joseph Partsch); Brogiato, Heinz Peter: Leben und Werk von Joseph Partsch (1851–1925) – ein Überblick. In: ders. (Hg.): Joseph Partsch – wissenschaftliche Leistungen und Nachwirkungen in der deutschen und polnischen Geographie. Beiträge und Dokumentationen anlässlich des Gedenkkolloquiums zum 150. Geburtstag von Joseph Partsch (1851–1925) am 7. und 8. Februar 2001 im Institut für Länderkunde Leipzig. Leipzig 2002 (Beiträge zur regionalen Geographie 58), 11–28; Klementowski, Jan: Quellen zu Joseph Partsch im Breslauer Universitätsarchiv. Ebd., 154–169.

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Auge.109 Mit einzelnen führenden Vertretern dieser kultur- und wirtschaftsgeschichtlichen Methode befand er sich seit längerem im Gespräch. So hatte sich Grünhagen am 23. April 1883 mit einer Postkarte bei seinem Kollegen Karl Lamprecht (1856–1915) in Bonn für den Empfang der versandten Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde über das Verzeichnis der Rheinischen Weistümer bedankt.110 Grünhagens Veröffentlichungen ziehen einen weiten Bogen von einer universalen Betrachtungsweise mit überkonfessionellem Blickwinkel am Beginn über die Verengung auf die politik- und herrschaftsgeschichtliche Orientierung auf das vormoderne Schlesien und das friderizianische Preußen. Als Generalbaß klingt die Schlüsselfrage des Deutschwerdens Schlesiens und insbesondere Breslaus fortlaufend an, mit der er die politischen Ereignisse dieser historischen Landschaft in ein preußisches ­Deutungsmuster einrahmte.

IV. Wirkungskreise Aus dem ihm eigenen didaktischen Impetus heraus suchte Grünhagen die Ausrichtung auf eine größere Öffentlichkeit. Bereits früh hatte er Querverbindungen zu anderen Forschern und Archivaren lokaler und überregionaler Art geknüpft. Er war verflochten in regionale Einrichtungen wie Museen und Geschichtsvereine, nationale Akademien und gelehrte Gesellschaften. Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Kultur war 1803 ins Leben getreten. In den Berichten der historischen Sektion bewies Grünhagen seit 1852 seine historiographiegeschichtlichen Interessen und generellen philologischen Neigungen bei Vorträgen „Über die Bedeutung des Klosters Corvey für die Geschichte des neunten Jahrhunderts“ und „Über den Sagenkreis von dem Thannhäuser in dem Wartburgkriege“. In exponierter Stellung hielt er selbst mehrere Sonntagsvorträge im Verein. In den Abhandlungen der Gesellschaft erschienen seit 1861 Beiträge. Neben dem 1846 gegründeten Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens bestand seit 1894 die Schlesische Gesellschaft für Volkskunde; 1899 wurde das Museum für Kunstgewerbe und Altertümer etabliert.111 Auch der Provinzialkommission zur Erhaltung 109 Friedensburg, Ferdinand: Schlesiens Münzgeschichte im Mittelalter, Th. 1: Urkundenbuch und Münztafeln; Th. 2: Münzgeschichte und Münzbeschreibung. Breslau 1887–1888; ders.: Schlesiens neuere Münzgeschichte. Breslau 1898; ders.: Ergänzungsband. Breslau 1904; Wutke, Konrad: Die schlesische Oderschiffahrt in vorpreußischer Zeit. Urkunden und Aktenstücke. Breslau 1896; ders.: Schlesiens Bergbau und Hüttenwesen. Urkunden (1136–1528). Breslau 1900; ders.: Urkunden und Akten (1529–1740). Breslau 1901. 110 Universitäts- und Landesbibliothek Bonn, Bestand 1, 2: Korr. 26 Signatur S 2713: eigenhändige Postkarte vom 23. April 1883. 111 ������������������������������������������������������������������������������������������ Kersken, Norbert: Breslau als Zentrum landesgeschichtlicher Forschung: Der „Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens“ in Breslau. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung, 87–120; Bahlcke/Gehrke: Die Bedeutung von Vereinen, Gesellschaften, Museen, Bibliotheken und Archiven. Ebd. 11–26; Meyer, Dietrich:

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Andreas Rüther Abb. 4: Empfehlung des Oberpräsidenten Otto Theodor von Seydewitz auf die Anfrage des Direktors der Staatsarchive Dr. Heinrich von Sybel für die Ernennung zum Geheimen Archivrat, 27. Oktober 1885. Bildnachweis: Geheimes Staatsarchiv ­Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 178, Nr. 1459, A.V.1648.

der Denkmäler Schlesiens gehörte er an. Die im Schuldienst weiter gepflegten Verbindungen zur alten Alma Mater ließen ihn noch im Jenaer Umfeld einige Aufsätze zur thüringisch-hessischen Geschichte als Vorarbeiten einer angestrebten längeren Studie über König Adolf von Nassau und zur mittelrheinischen Reichsgeschichte publizieren, aus der aber kein weiteres Forschungsgebiet aufwuchs.112 Die Position des Staatsarchivars trug Grünhagen Einladungen ins Nachbarland ein, und umgekehrt wurde österreichischen, tschechischen und polnischen Kollegen die Vereinszeitschrift geöffnet; sie steuerten rund ein Achtel der Beiträge bei.113 Grünhagen Der „Verein für Evangelische Geschichte Schlesiens“ und das Konsistorium in Breslau. Ein Beitrag zur Geschichtspflege und Erinnerungskultur der evangelischen Kirche der Provinz Schlesien. Ebd., 143–182; Żerelik, Rościsław: Das „Königliche Akademische Provinzialarchiv“ zu Breslau. Geschichtspflege im Spiegel der Organisation des schlesischen Archivwesens im 19. Jahrhundert. Ebd., 381–392. 112 Grünhagen, Colmar: Über die Sage von der Flucht der Landgräfin Margaretha und dem Biß in die Wange. In: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte und Altertumskunde 3 (1857/59) 99–114; ders.: Ergänzungen zum Chronicon Sampetrinum für den Zeitraum von 1270 bis 1350. Ebd., 85–98; ders.: Der Landgraf ohne Land. Ebd., 4 (1860/61) 159–166, 251. 113 Markgraf, Hermann: Der Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens. Breslau 1896, 30, 33, 36–49 (Abschnitt: Das zweite Vierteljahrhundert des Vereins unter der Leitung Colmar

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trug seinerseits Mitteilungen und Forschungsergebnisse aus böhmischen, mährischen, polnischen und englischen Archiven, Bibliotheken und Museen und seiner wissenschaftlichen Ausflüge in die Oberlausitz bei. Unter seiner langen Ägide hielt Grünhagen selbst zwischen 1859 und 1905 die meisten Vorträge, weit vor seinem Vorstandskollegen Markgraf, der seit 1864 sprach. Er lud einige auswärtige Gastvortragende ein, darunter aber nur einen einzigen Doktoranden. Dennoch wusste er viele Studenten zur schlesischen Geschichtsforschung anzuregen, darunter Max Perlbach (1848–1921). Perlbach hatte seine Gymnasialbildung von 1860 bis 1868 am Königlichen Friedrichs-Gymnasium in der Matthiasstraße erhalten. Als Schüler hatte er Grünhagen als Lehrer kennengelernt, bevor dieser die Leitung des Breslauer Archivs und die Zeitschrift des Geschichtsvereins übernahm, in der Perlbach bereits kurz nach dem Abitur seine ersten wissenschaftlichen Beiträge veröffentlichte.114 Die behandelte Themenstellung legt nahe, dass Perlbach von Grünhagen an dieses Thema herangeführt worden war. Der Kontakt zu Grünhagen riss damit aber keineswegs ab; für Juni 1880 ist ausdrücklich eine Begegnung der beiden in Breslau verbürgt.115 Perlbach lobte seinen Fürsprecher gefällig: „Aber es fehlte uns in Königsberg ein organisatorisches Talent, wie es der schlesische Verein in dem Provinzialarchivar Colmar Grünhagen besaß.“116 Mit der Einstellung im Archivdienst wurde Grünhagen umgekehrt auch nach auswärts eingeladen und um Artikel gebeten. Er war ein gefragter Referent in Wien, wo man ihn mit seiner mittelalterlichen Expertise für die Luxemburger Zeit der habsburgischen Erbländer schätzte. In Zeiten der preußisch-österreichischen Spannungen des Deutschen Krieges erweckte er das Interesse der Geschichtswissenschaft Österreichs am gemeinsamen Erbe.117 Grünhagens); Seger, Hans: Fünfundsiebzig Jahre Schlesischer Altertumsverein. In: Jahrbuch des Schlesischen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer. Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift. N.F. 10 (1933) 1–11, hier 5. 114 ����������������������������������������������������������������������������������������� Perlbach, Max: Reinerz und die Burg Landfried (Hummelsburg) bis zum Jahre 1471. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1868) 270–293; ders.: Die Herren von Kauffung auf dem Hummelschlosse. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 10 (1870) 34–86. 115 ��������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Bericht über eine für das Pommerellische Urkundenbuch übernommene Reise nach Polen. In: Zeitschrift des westpreußischen Geschichtsvereins 1 (1880) 70–89, hier 83; MentzelReuters, Arno: Max Perlbach als Geschichtsforscher. In: Preußenland 45 (2007) 39–53 (dort auch vollständiges Schriftenverzeichnis Perlbachs mit 106 Titeln). 116 ������������������������������������������������������������������������������������������ Perlbach, Max: Die Erschließung der Geschichtsquellen des preußischen Ordensstaates. Rückblicke und Ausblicke. In: Zeitschrift des westpreußischen Geschichtsvereins 47 (1904) 17–23, hier 18f. 117 Grünhagen, Colmar: König Johann von Böhmen und Bischof Nanker von Breslau: Ein Beitrag zur Geschichte des Kampfes mit dem Slaventhum im deutschen Osten. In: Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse 47,1 (1864) 4–102; ders.: Die Correspondenz der Stadt Breslau mit Karl IV. in den Jahren 1347–1355. In: Archiv für österreichische Geschichte 34 (1865) 345–370; ders.: König Wenzel und der Pfaffenkrieg

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Seinen einzigen fremdsprachigen Aufsatz („Les colonies vallonnes en Silésie, particulièrement à Breslau“) veröffentlichte er in den Mémoires couronnés et mémoires des ­savants étrangers der Académie Belgique zu Brüssel im Band 33 (1865/67). Damit wurde der jüngst zum Professor erhobene Staatsarchivar mit einem Beitrag zur hochmittelalterlichen Siedlungsgeschichte und zum agrargeschichtlichen Wandel auch international sichtbar. In der Zeitschrift für preußische Geschichte und Landeskunde publizierte Grünhagen zwischen 1868 und 1878 acht Beiträge; weitere fünf Aufsätze, meistenteils Fridericiana, erschienen in den Preußischen Jahrbüchern, einer kulturpolitischen Monatsschrift nationalliberaler Prägung, deren Bände 19 (1867) bis 43 (1879) sein alter Jenaischer Bundesbruder, der Publizist und liberale Politiker Wilhelm Wehrenpfennig (1829– 1900), neben Treitschke in Berlin redigierte. Mit dem amtlich bestallten Titel „Archivrat“ gewappnet, veröffentlichte Grünhagen zwischen 1875 und 1880 drei Beiträge im Archiv für sächsische Geschichte und im Neuen Archiv für sächsische Geschichte und Altertumskunde über König Friedrich II. in Dresden im Januar 1742, also zu einem für Sachsen prononciert heiklen Thema. Außerdem war er Ehrenmitglied des Königlich-Sächsischen Altertumsvereins und Korrespondierendes Mitglied der Gesellschaft für Thüringische Altertumskunde. Von den ausländischen Gelehrtengesellschaften hatte ihn die Kaiserlich und Königliche Mährische Gesellschaft zu Brünn 1866 zu ihrem Ehrenmitglied gewählt, die Königliche Böhmische Gesellschaft in Prag zum korrespondierenden Mitglied.118 Grünhagen beteiligte sich auch an der Professionalisierung und Differenzierung des wissenschaftlichen Faches Geschichte durch Beiträge in einschlägigen Publikationsorganen. Bei Heinrich von Sybel (1817–1895), dem Begründer und Herausgeber der H ­ istorischen Zeitschrift, konnte er 1876 einen Aufsatz im führenden Fachjournal Deutschlands platzieren. Im Zentralorgan des deutschen und internationalen Archivwesens, der Archivalischen Zeitschrift, die seit 1876 vom Königlich Bayerischen Allgemeinen Reichsarchiv München herausgegeben wurde, berichtete er im dritten Band zudem prominent über seine Archivreise nach London. Für die Allgemeine Deutsche Biographie, die von der Historischen Kommission bei der Königlichen Akademie der Wissenschaften in München redigiert wurde, verfasste er insgesamt 71 Beiträge über bedeutende schlesische Bischöfe, Fürsten, Gelehrte und Staatsmänner. Seine regionale und epochale Kompetenz, hauptsächlich zum schlesischen Mittelalter, wurde geschätzt, zudem galt er als ausgewiesener Kenner der böhmischen Geschichte und Fachmann für Polen. Vor dem nationalstaatlich geprägten zu Breslau. In: Archiv für Kunde österreichischer Geschichtsquellen 37 (1867) 231–270; ders.: Karl IV in seinem Verhältnis zur Breslauer Domgeistlichkeit. In: Archiv für Kunde österreichischer Geschichtsquellen 39 (1868) 223–246. 118 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Palm, Hermann: Rübezahl, der Schlesischen Provinzialblätter 73ter, der neuen Folge 8ter Jahrgang. Hg. v. Theodor Oelsner, H. 1, Januar 1869 (Schlesier-Album. Siebzehn Biographien mit Portraits. Breslau 1869), [III].

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Bezugsrahmen holte er nach Einigungskriegen und Gründerzeit eine politisch akzentuierte Landesgeschichte Schlesiens in seine deutschprotestantische Perspektive hinein. Das von Viktor Loewe (1871–1933) zusammengestellte Schriftenverzeichnis im Anhang an die abgedruckte Gedenkrede von Otto Meinardus vom 6. Dezember 1911 führt 89 Bücher, Monographien und Aufsätze außerhalb der Zeitschrift des Vereins, allein 95 Aufsätze und 20 Nekrologe in der Vereinszeitschrift sowie 18 Artikel und Vorträge in der Schlesischen Zeitung auf.119 In der Vereinszeitschrift sind unter Grünhagens Beiträgen zwei Drittel mediävistischen Inhalts und ein Drittel frühneuzeitlich bestimmt, vor allem die vorpreußische Zeit betreffend. Nach einer Wende um 1884 publizierte er beinahe ausschließlich über das friderizianische Zeitalter Schlesiens und kaum noch Mediävistisches. In seiner Hauspostille veröffentlichte der Schriftleiter Grünhagen zwei eigene Aufsätze oder Miszellen jährlich; am Anfang schrieb der Mediävist, im letzten Lebensjahrzehnt der Monarchist. Jeder zwölfte Aufsatz immerhin galt sozialund wirtschaftshistorischen Inhalten, so dass Vorwürfe einer Reserve gegenüber neuen Fragestellungen nicht zutreffen. Unter den von ihm verfassten Nachrufen sind vier Kollegen gewidmet, dem Archivsekretär Korn, dem Germanisten und Mediävisten Heinrich Rückert (1823–1875), dem Deutschen Philologen Karl Weinhold (1823–1901) sowie dem Osteuropahistoriker Jakob Caro (1835–1904).120 Mit Antritt im Archiv lancierte Grünhagen in den Schlesischen Provinzialblättern vier Artikel, durchweg Prussica, keine Mediaevalia außer dem letzten Stück von 1903, in dem er die Genealogie der schlesischen Heiligen Hedwig mit dem Haus Hohenzollern in Verbindung brachte.121 Als 1862 der königstreue Preuße mit einem Artikel über die Belagerung Briegs die Losreißung des Landes vom habsburgischen Reich und die Verknüpfung mit dem Hohenzollernstaat thematisierte, gab es noch gar kein solches „deutsches Kaiserhaus“.122 Grünhagen argumentierte mit der Wichtigkeit der schlesischen Provinz für Preußen und begründete deren Unentbehrlichkeit für die deutsche Nationalgeschichte. Als Fallbeispiel für eine borussophil ausgerichtete landesgeschichtliche Darlegung kann sein exponiert national-konfessioneller Standpunkt gelten. Wegen seiner langen Amtsdauer, seiner literarischen Ergiebigkeit und seines editorischen Fleißes bestimmte Grünhagen wie kein zweiter neben ihm die Geschicke des Geschichtsvereins. Grünhagen war seit 1858 Mitglied, seit 1864 Schriftleiter der Zeitschrift, von 1871 bis 1905 Präses und dann Ehrenpräsident des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens, den er „straff zentralisiert [...] geradezu als Monopol in der Hand“ hatte.123 Zum fünfundzwanzigjährigen Vereinsjubiläum am 11. Januar 1883 119 Webersinn: Grünhagens Gedächtnis, 180; Meinardus: Grünhagen, 54–65. 120 Vgl. den Beitrag von Barbara Kalinowska-Wójcik in diesem Band. 121 Grünhagen, Colmar: Die Abstammung unseres Kaiserhauses von der heiligen Hedwig. In: Schlesische Zeitung Nr. 97, 1903. 122 Ders.: Die Belagerung von Brieg im Jahre 1741. Tagebuch eines Zeitgenossen. In: Zeitschrift des Vereins für die Geschichte und Alterthum Schlesiens 4 (1862) 23–38. 123 Dersch, Wilhelm: Vierzig Jahre schlesische Geschichtsforschung. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 65 (1931) 1–53, hier 3; Maetschke, Ernst: Die Zeitschrift des Vereins für

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wurden in der Alten Börse am Blücherplatz dichterische Darbietungen aus der Feder des musisch begabten Präsidenten und geselligen Festredners Grünhagen geboten, ein Herold trug schwungvoll einen Prolog vor, der satirische Schwank „Urnenweisheit“ und das Festspiel „Zu den drei Rosen“ wurden in dekorativen Kulissen mit historischen Kostümen aufgeführt.124 Einem neutralen Paritäts- und Proporzdenken verhaftet, versuchte Grünhagen von der Spitze aus keine Parteiströmungen oder kirchlichen Einseitigkeiten, aber auch wenig neuartige Wege zuzulassen. Er hatte die beachtliche Begabung, Mitglieder und ­Gäste zur Tafelrunde zu versammeln, Akzeptanz errang er im Verband über einen inneren Zirkel: „Hochgeehrter Gönner und Freund“, klagte er Gustav Freytag am 26. Januar 1887, in den „einst so festgeschlossenen Kreis der schlesischen Geschichtsfreunde hat das unerbittliche Verhängnis traurige Lücken gerissen. [...] So wird es einsamer, wenn ich gleich dem Himmel nicht genug dafür danken kann, daß er mir im Hause ein neues Glück hat erblühen lassen nach langen trüben Jahren jetzt an der Schwelle des Alters.“125 Zunehmend begehrten die jüngeren Kollegen gegen die deutliche Dominanz auf, trotz seiner nachdrücklichen Förderung von freier Zugänglichkeit der Archive für Besucher und der vielseitigen Anregung der Benutzer als Reihenherausgeber zur Bearbeitung von Studien in den Beständen. Insbesondere die fachwissenschaftlichen Neuerungen der mit Karl Lamprecht und Gustav Schmoller (1838–1917) verbundenen Themen konnten sich im Verein nur schwer durchsetzen. In vielen Gremien vertreten, war Grünhagen zudem Ehrenmitglied der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur, seit 1868 Vorstandsmitglied des Vereins für das Museum Schlesischer Altertümer, 1876 zweiter Vorsitzender und 1878 bis 1884 deren Vorsitzender. Bei den Verhandlungen über die Einrichtung des 1888 erbauten Provinzialmuseums wandte er sich gegen eine vollständige Verschmelzung der Sammlungen mit denen des Museums der bildenden Künste; ein Mietvertrag bei der Provinzverwaltung ermöglichte die selbstständige Verwaltung unter dem bisherigen Leiter Hermann Luchs.126 Luchs, sein einstiger Wettbewerber im Besetzungsverfahren, wurde von Grünhagen in der Sache vehement unterstützt, zur Zeitschrift des Museums Schlesiens Vorzeit in Bild und Schrift trug Grünhagen interdisziplinär archäologische und kunsthistorische Fingerübungen bei, 1887 widmete er Luchs einen freundlichen Nachruf. Als Archivar hatte Grünhagen Anfragen der Staatsregierung zu beantworten und Sonderaufträge auszuführen. Er ordnete sein Archiv nach Akten und Urkunden und

Geschichte Schlesiens 1855–1905. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1907) 1–16; Menzel, Josef Joachim: Die Anfänge der kritischen Geschichtsforschung in Schlesien zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Festschrift Ludwig Petry, Tl. 2. Wiesbaden 1969 (Geschichtliche Landeskunde 5), 245–267, hier 259. 124 Seger: Fünfundsiebzig Jahre, 6. 125 Conrads: Bilder aus der schlesischen Vergangenheit, 34f., Nr. 20. 126 Seger, Hans: Fünfundsiebzig Jahre, 5f.

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ermöglichte die Nutzung für weite Besucherkreise durch eine Reihe von Hilfsmitteln mit der Anlegung eines Glossars mit Realindizes und Annalen-Zetteln.127 Erst seinem Nachfolger im Amt, Meinardus, war es vorbehalten, dieses grundsätzliche Pertinenzsystem abzulösen und mit Ablieferung der Behörden nach Sachprinzip von Personalien und Ortsakten die Einführung des Provenienzsystems durchzusetzen. Aus seiner behaglichen Dienstwohnung im 1876 nach eigenen Plänen gebauten Staatsarchiv an der Neuen Taschenstraße 17, Ecke Gartenstraße im II. Stadtbezirk Breslaus, wechselte er nie wie andere preußische Archivare die Standorte zwischen verschiedenen Provinzen und schlug alle Offerten nach außerhalb aus. Noch unter Grünhagens Direktorium erwiesen sich die Räumlichkeiten allmählich als zu beengt und dysfunktional. Unmittelbar wurden als erste Initiative seines Amtsnachfolgers Meinardus im Jahr 1906 die lange brachliegenden Bauvorhaben am geplanten Archivgebäude aufgenommen; das Staatsarchiv wurde in einen großzügigen Neubau an der Tiergartenstraße 13 im XVI. Breslauer Bezirk verlegt. Nach Abriss des alten Archivs entstand 1908 auf dem Grundstück das spätere Hotel „Monopol“. Die gesamte neue Einrichtung wurde auf die Höhe der zeitgenössischen Archivtechnik gehoben, die Zurückhaltung bei der Erfassung nichtstaatlicher Archive aufgegeben.128 Auch gegen die Inventarisierung der in der Provinz Schlesien verstreuten Archivalien, die der Wissenschaft zu erschließen und in ihrem Bestand zu sichern waren, hatte Grünhagen sich gesträubt. Alle Vorschläge aus archivwissenschaftlichen Kreisen, die Bestände nichtstaatlicher Institutionen zu archivieren und Inventare zu drucken, wurden nicht länger zurückhaltend aufgenommen. Was bleibt, ist der großartige Ertrag einer gelehrten Existenz, die in ihrer bloßen Schaffenskraft aus der Masse herausragt und in weiten Teilen ganz aus den vollen Beständen seiner Sammlungen geschöpft ist.129 An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stand Grünhagen für die Pionierleistung der Erschließung und Verbreitung historischen Materials und konsequent aus den Archiven erarbeiteten Wissens. Ohne seine Forschungsliteratur inhaltlich vorzustellen, ist doch auf sämtliche Register hinzuweisen, die er ziehen konnte. Er war Anreger als Herausgeber, blieb gleichwohl auf den regionalen Rahmen schlesischen Schrifttums und preußischer Foren beschränkt: Die von ihm re-

127 Ziekursch: Colmar Grünhagen, 95. 128 Krusch: Geschichte des Staatsarchivs zu Breslau, 333f.; Meinardus, Otto/Martiny, Rudolf (Hg.): Das neue Dienstgebäude des Staatsarchivs zu Breslau und die Gliederung seiner Bestände. Leipzig 1909 (Mitteilungen der königlich preußischen Archivverwaltung 12). 129 ���������������������������������������������������������������������������������������� Über die „von Colmar Grünhagen maßgeblich begründete borussische Geschichtsinterpretation der schlesischen Geschichte“, die sich auch Markgraf zu eigen machte, vgl. Weber, Matthias: „Ausbeutung der Vergangenheit“. Zur historiographischen Bearbeitung der Stellung Schlesiens zwischen dem Heiligen Römischen Reich und den Königreichen Polen und Böhmen. In: Willoweit, Dietmar/Lemberg, Hans (Hg.): Reiche und Territorien in Ostmitteleuropa. Historische Beziehungen und politische Herrschaftslegitimation. München 2006 (Völker, Staaten und Kulturen in Ostmitteleuropa 2), 13–33, hier 20.

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digierten Titel erschienen vor allem in Breslauer Hausverlagen für ein provinziales Publikum. Artikel veröffentlichte er zunächst in den Feuilletons der Breslauer Tagespresse, zuletzt erweiterte sich sein Fokus auf historische periodische Blätter im In- und Ausland. Unter den neunzig Titeln außerhalb der Zeitschrift des Vereins finden sich ein Sechstel wirtschafts- und sozialgeschichtliche Themen, nur jeder fünfzehnte Beitrag betraf im engeren Sinn kirchengeschichtliche Metiers. Bis zur Ernennung zum Extraordinarius 1867 war nahezu die Hälfte hiervon epochal im Mittelalter angesiedelt, bis 1873 nach dem Scheitern der Berufung und der Bestallung als Archivrat noch ein Drittel; danach behandelte Grünhagen – von den Auftragsarbeiten für die mehrbändigen Reihenwerke abgesehen – nur noch frühmoderne preußische Probleme. Die Diversifizierung von Grünhagens Publikationsorten endete expansiv im weiten Rahmen preußischer Provinzen mit der Zeitschrift der Historischen Gesellschaft für die Provinz Posen und den Historischen Monatsblättern für die Provinz Posen, auch in den Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte brachte er drei verfassungsgeschichtliche Aufsätze zur Neuesten Geschichte unter. Grünhagen unterstützte kollegial mit einigen Beiträgen zu Im neuen Reich, die Wochenschrift für das Leben des deutschen Volkes in Staat, Wissenschaft und Kunst, die Alfred Dove verantwortete, dem er 1874 in der Konkurrenz um die Breslauer Professur unterlegen war. In der populären Zeitschrift des Riesengebirgs-Vereins Wanderer im Riesengebirge schrieb der ungediente Grünhagen für eine breitere Leserschaft zu militärgeschichtlichen Sujets. In den Silesiaca, der Festschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens zum 70. Geburtstag seines Präses Colmar Grünhagen von 1898, fand sich unter den acht renommierten Beiträgern kein einziger Universitätskollege, vertreten waren jedoch die hochkarätige Politik und das Breslauer Bildungsbürgertum, der Oberbürgermeister, Stadtbibliothekare, Rats- und Domarchivare, Gymnasialdirektoren und Realschullehrer, die dem Jubilar die Ehre erwiesen. Bezeichnend für seinen publizistischen Wirkungskreis war sein Podium: Der Geschichtsverein war die Domäne Grünhagens, ein Honoratiorenclub für Beziehungspflege und funktionale Freundschaften, aber kein akademisches Kolloquium zur strikten Kritik an Kollegen oder am Nachwuchs. Auch einer Schulbildung zum Gewinn eines durchsetzungsfähigen Schülerkreises konnte sich der Hochschullehrer ebenso wenig nachhaltig widmen. Bis 1911, in insgesamt 110 Semestern, hielt Grünhagen Vorlesungen, in den letzten Jahren gehörte Willy Cohn (1888–1941) zu seinen Hörern.130 Seiner gesellschaftlichen Position entsprechend, zog es Grünhagen über Jahre hinweg in die Sommerfrische zu Landaufenthalten. Die zunächst vierwöchigen Jahresurlaube im August führten ihn in den 1870er Jahren zu Höhenluftkurorten nach Schmie130 ���������������������������������������������������������������������������������������� Conrads. Norbert (Hg.): „Kein Recht, nirgends.“ Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums 1933–1941. Köln/Weimar/Wien 2006 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 13/1–2); Cohn, Willy: Verwehte Spuren. Erinnerungen an das Breslauer Judentum vor seinem Untergang. Hg. v. Norbert Conrads. Köln/Weimar/Wien 1995 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 3).

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Abb. 5: Vorschlag des Vizepräsidenten des Staatsministeriums Johannes von Miquel an Seine ­Majestät den Kaiser und König zur Begnadigung mit dem Königlichen Kronen-Orden II. Klasse, 6. Dezember 1900 bis 2. März 1901. Bildnachweis: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 89, Nr. 3786, Bl. 40r.

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deberg im Erzgebirge, Zuckmantel in den Sudeten, Warmbrunn im Hirschberger Tal, Landeck in Tirol, Reichenhall im Berchtesgadener und Gastein im Salzburger Land. In den 1880er Jahren erholte er sich in sechswöchigen Ferien zur Kräftigung der angeschlagenen Gesundheit im Ostseeheilbad Zinnowitz auf Usedom und im Nordseebad Westerland auf Sylt. Auf Brunnenkur im böhmischen Karlsbad begegnete der Apothekersohn am 22. August 1893 dem nicht mehr praktizierenden Pharmazeuten Theodor Fontane (1819–1898) und huldigte diesem beeindruckt: „Gestern besuchte mich ‚Professor Dr. Grünhagen, Geheimer Archivrath aus Breslau‘ (so stand auf seiner Visitenkarte)“, berichtete Preußens Großschriftsteller seiner Tochter Martha, „und schoß mir einige Lobkugeln in den Leib. Ich nahm es einen Augenblick ernsthaft, auch war es gewiß ein sehr gebildeter und wohlwollender Herr, als er aber weg war, empfand ich doch deutlich, daß es alles Blech und Oedheit gewesen war und daß er den Besuch nur gemacht hatte, um eine langweilige Nachmittagshalbestunde passabel unterzubringen.“131 Grünhagen verkehrte mit der gebildeten Hautevolee im bourgeoisen Ambiente. Am 16. August 1895 schlug Fontane ihm vor, „mit unsren Kaffe-Ausflügen bis Eintritt besseren Wetters zu warten“,132 und lud ihn tags darauf zum Kaffee in den Karlsbader Park Schönbrunn ein. Man tauschte Neuerscheinungen und Sonderdrucke aus und las diese gegenseitig. Nach dem Erhalt eines Werkes schrieb Fontane am 10. Oktober 1895 an Grünhagen,133 den „hochgeehrten Herrn Geheimrath“, und bekannte: „Ich freue mich auf ‚Thaubadel‘134 und mehr noch auf den ‚schlesischen Adel vor 100 Jahren im Lichte der öffentlichen Meinung‘. Hoffentlich kommt er bei dieser Beleuchtung gut fort, denn wie ich eine Vorliebe für die Schlesier überhaupt habe, so speziell für den schlesischen Adel. Er ist gewiß, nach bestimmten Seiten hin, sehr anfechtbar, aber gerade diese Anfechtbarkeiten machen ihn interessant und mir auch sympathisch. Es sind keine Thugendmeier, was mir immer wohltut.“135 Schmeichelnd gestand Fontane eine Schwäche für Grünhagens Landsleute ein und versuchte mit Lobhudelei anscheinend näheren Umgang mit dem recht aufdringlichen Verehrer zu vermeiden. 1893 und 1896 kamen jedenfalls angefragte Treffen in Karlsbad nicht zustande.136 Vom 27. bis zum 31. März 1894 fuhr Grünhagen für die Teilnahme am zweiten deutschen Historikertag in Leipzig auf Dienstreise zum ersten und einzigen Kongress, den 131 Dieterle, Regina (Hg.): Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Familienbriefnetz. Berlin 2002 (Schriften der Fontane-Gesellschaft 4), 444, Nr. 267; Fontane, Theoder: Werke, Schriften und Briefe. Hg. v. Walter Keitel und Helmuth Nürnberger, Bd. 4. Darmstadt 1976, 282; Seiler, Bernd W.: Theodor Fontane oder Die neue Bescheidenheit. In: Braungart, Wolfgang (Hg.): Verehrung, Kult, Distanz. Vom Umgang mit dem Dichter im 19. Jahrhundert. Tübingen 2004, 259–278, hier 274. 132 Berbig, Roland: Fontane Chronik. Berlin 2010, 3439. 133 Ebd., 3499; Fontane: Werke, Schriften und Briefe, Bd. 4, 487f. 134 ������������������������������������������������������������������������������������ Ernst Balthasar Siegmund von Taubadel (1724–1802), preußischer Generalmajor und Kommandant. 135 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 53, Nr. 17. 136 Berbig: Fontane Chronik, 3509.

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er jemals besuchte. Zur Ausbildung und Etablierung eines gemeinsamen Faches Landesgeschichte war die Leipziger Versammlung des neu gegründeten Historikerverbands Deutschlands am 29. März 1894 wegweisend, da Karl Lamprecht die „Konferenzen von Vertretern landesgeschichtlicher Publikationsinstitute“ ins Leben rief, die von nun an regelmäßig mit den von ihnen maßgeblich mitgestalteten Tagen abgehalten wurden.137 Bei der Beratung über den „Stand und die Bedeutung landesgeschichtlicher Studien, insbesondere über die Arbeitsgebiete der landesgeschichtlichen Publikationsinstitute“, die von Aloys Schulte (1857–1941), der von 1896 bis 1903 in Breslau lehrte, initiiert worden war, kam es zu einem Treffen verschiedener regionalhistorischer Forschungs- und Publikationsinstitutionen. Kommission und Historische Vereine sollten sich gegenseitig informieren und zusammentreten. Von Grazer und Freiburger Universitätslehrern sowie Karlsruher und Kölner Archivaren vorangetrieben, engagierte sich Grünhagen nicht an der organisatorischen Ausgestaltung.138 Doch mit einem Aufsatz wirkte er an der neu gegründeten Zeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte mit, indem er 1894 im zweiten Band zu neuartigen gesellschaftlichen und ökonomischen Themen veröffentlichte.139 Der Präsident der altehrwürdigen Monumenta Germaniae Historica Ernst Dümmler (1830–1902) bat am 20. Januar 1898 Grünhagen, seinen Vorgänger als Vorsitzenden, ihren gemeinsamen Freund Wilhelm Wattenbach und Grünhagens Amtsvorgänger, 137 Festgabe zur zweiten Versammlung Deutscher Historiker [in Leipzig] 1894. Dresden 1894 (Neues Archiv für sächsische Geschichte 15/1–2). Die Eröffnungsrede hielt Gustav Schmoller. Vgl. ders.: Der deutsche Beamtenstaat vom 16. bis 18. Jahrhundert. Rede gehalten auf dem deutschen Historikertag zu Leipzig am 29.3.1894. In: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 18 (1894) 695–714; Bericht über die 2. Versammlung Deutscher Historiker in Leipzig 29. März bis 1. April 1894. Leipzig 1894, 19–28, hier 27f. 138 �������������������������������������������������������������������������������������������� Middell, Matthias: Weltgeschichtsschreibung im Zeitalter der Verfachlichung und Professionalisierung. Das Leipziger Institut für Kultur- und Universalgeschichte 1890–1990, Bd. 1: Das Institut unter der Leitung Karl Lamprechts. Leipzig 2005; Mann, Ines/Schumann, Rolf: Karl Lamprecht: Einsichten in ein Historikerleben. Leipzig 2006; Flöter, Jonas/Diesener, Gerald (Hg.): Karl Lamprecht (1856–1915). Durchbruch in der Geschichtswissenschaft. Leipzig 2015; Schorn-Schütte, Luise/Ogrin, Mircea (Hg.): „Über das eigentliche Arbeitsgebiet der Geschichte“. Der Briefwechsel zwischen Karl Lamprecht und Ernst Bernheim sowie zwischen Karl Lamprecht und Henri Pirenne. Bearb. v. Maria Elisabeth Grüter, Charlotte Beißbingert und Geneviève Warland. Köln/Weimar/Wien 2017 (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 46); Schorn-Schütte, Luise: Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik. Göttingen 1984, 238–240; dies.: Territorialgeschichte, Provinzialgeschichte  – Landesgeschichte, Regionalgeschichte. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Landesgeschichtsschreibung. In: dies.: Perspectum. Ausgewählte Aufsätze Zur Frühen Neuzeit und Historiographiegeschichte anlässlich ihres 65. Geburtstages. München 2014 (Beihefte der Historischen Zeitschrift N.F. 61), 111–143, hier 126f.; Baumgarten: Professoren und Universitäten, 16f.; Berg, Matthias u. a.: Die versammelte Zunft. Historikerverband und Historikertage in Deutschland 1893–2000. Göttingen 2018, 47–52, hier 50f.; Brocke, Bernhard vom: Art. Lamprecht, Karl: In: Neue Deutsche Biographie 13 (1982) 467–472. 139 Grünhagen, Colmar: Über den angeblichen grundherrlichen Charakter des hausindustriellen Leinengewerbes in Schlesien und die Webernöte. In: Zeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 2 (1894) 241–261.

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Abb. 6: Traueranzeige für den am 27. Juli 1911 verstorbenen Dr. Colmar Grünhagen von seiner ­Witwe Elisabeth Grünhagen, geborene Spieler. Bildnachweis: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 178, Nr. 1459.

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durch einen Nekrolog in Schlesien zu ehren: „Unter diesen Umständen wird mir wohl die Frage gestattet sein, ob man denn nicht in Breslau, einer der fruchtbarsten Stätten seines Wirkens, ihm einen besonderen Nachruf aus dem schlesischen Geschichtswinkel widmen will? Es handelt sich doch dabei nicht bloß um seine vielen schles[ischen] Publikationen, die auch anderen zugänglich sind, sondern um sein persönliches Eingreifen in Ihren Verein und den dadurch herbeigeführten Aufschwung. Ferner um seine Leistungen in der Archivverwaltung, die außer Ihnen Niemand würdigen kann, um seine ganze soziale Stellung. Überaus dankenswert wäre es ferner, wenn diesem Aufsatze, wie ich ihn mir denke, ein genaues Verzeichnis seiner so sehr zersplitterten Silesiaca angehängt würde. Dafür zu sorgen, sei es daß Sie selbst zur Feder greifen, sei es, daß Sie irgendeinen Jünger beauftragen, werden Sie gewiß mit mir als Ihre Pflicht betrachten. Denn Wattenbach war es, der mit richtiger Einsicht Sie einst zu seinem Nachfolger wünschte und gegen manchen Widerspruch durchsetzte.“140 In großer Dankbarkeit erfüllte Grünhagen den Wunsch von allerhöchster Stelle mit einem Wattenbach rühmenden Nachruf. Den Band der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur zur prunkvollen Feier ihres fünfundsiebzigjährigen Bestehens, vom Verein für Geschichte und Alterthum am 17. Dezember 1887 dargebracht, verantwortete Grünhagen. Zwischen 1861 und 1909 steuerte er Vorträge literaturwissenschaftlichen Inhalts zu den Abhandlungen der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur (später Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur) bei, ferner politische Gedichte aus dem schlesischen Krieg oder Reiseberichte Goethes in Schlesien. Auf der Festsitzung des 25.  Amtsjubiläums erklang 1888 seine lyrische Ader; mit dem Willkommensgedicht „Freytagsfest“ machte er sich 1875 einen Namen zur Feier Gustav Freytags und wirkte auch darüber hinaus als Gelegenheitsdichter und Schreiber von Theaterstücken. Die dramatischen Gedichte und Lustspiele in mehreren Aufzügen von 1887 und 1890 unter dem Pseudonym „C. Richard“ waren kreative belletristische Zwischenspiele. Mit einer Gedenkfeier 1896 aus Anlass des fünfzigjährigen Bestehens und der fünfundzwanzigjährigen Leitung als Präses sowie 1900 zum Doktorjubiläum ehrte der Verein seinerseits die Koryphäe der schlesischen Geschichtsforschung.

V. Schlussbetrachtung Grünhagens Bild changiert. Von seinem Hintergrund her kleindeutsch denkend und staatsgläubig gesinnt, vertrat er patriotische Ideen, die von der traditionellen Überlegenheit Deutschlands gegenüber seinen slawischen Nachbarvölkern ausgingen.141 Er 140 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 53f., hier 54, Nr. 17; Grünhagen: Wattenbach in Breslau, 345–358. 141 ������������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim: Von Palacký bis Pekař. Preußen als Thema der tschechischen Geschichtswissenschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert [2006]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz, 299– 327, hier 301–303.

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sprach vom „lebendigen deutschen Nationalgefühl“ als „Reaktion gegen das fremde Volkstum“.142 Doch verfolgte der konservative Royalist keine wilhelminisch-imperialen Ansprüche, sondern verschaffte sich mit seiner Thematik „wie ist Schlesien deutsch geworden und deutsch geblieben“143 Anerkennung innerhalb wie außerhalb des Kaiserreichs. Damit geriet er unversehens „zum Verkünder der historisch-politischen Weltanschauung, die im Zeitalter Bismarcks der deutschen Geschichtsschreibung aufgeprägt wurde“.144 Dabei war er gar nicht so sehr im engeren Sinn protestantisch-antikatholisch, wie die Rezension zu Alfred Ritter von Arneth (1819–1897)145 vermuten lassen könnte. Vor allem in der obrigkeitlichen Rekatholisierung, der Bekehrung der Stadtbevölkerung in den Erbfürstentümern des Oderlandes mittels militärischer Einquartierung, sah Grünhagen „das schwärzeste Blatt der schlesischen Geschichte“ und „den schlimmsten Flecken, der auf der Herrschaft der Habsburger liegt“.146 Mit einem halben Jahrhundert amtlicher und wissenschaftlicher Leistungen wäre es einfach, Grünhagen lediglich als Panegyriker Breslaus und Apologeten des preußischen Staates abzustempeln. Immens produktiv und vielseitig schöpferisch tätig, spielte er seine Problematik klug aus und trieb die Variationen zum ewigen Thema Friedrich II. und Schlesien intensiv voran. Geschichtspolitisch versuchte er zuletzt, diese Verbindung Preußens und Schlesiens genealogisch von einer Erbverbrüderung der Piasten mit den Brandenburger Hohenzollern abzuleiten und argumentativ lange Fäden zu weben. Kurz vor dem Lebensende brachte Grünhagen in einem Dankesschreiben für die Geburtstagsglückwünsche seine ganz und gar Schlesiens Geschichte geweihte Forscherexistenz auf die griffige Formel, „daß mein warmes Interesse für den Verein erst mit meinem Leben erlöschen wird“.147 Die breiten Fußstapfen, welche die beiden prägenden Archivvorgänger Stenzel und Wattenbach hinterlassen hatten, vertiefte und füllte Grünhagen nicht nur aus – er fand und legte vielmehr viele eigene Pfade an und trat diese unübersehbar aus.

142 Ziekursch: Nekrolog, 4. 143 Grünhagen, Colmar: Vorwort. In: ders.: Geschichte Schlesiens, Bd. 2, IX. 144 Ziekursch: Nekrolog, 7. 145 ������������������������������������������������������������������������������������������� Grünhagen, Colmar: Der Anfang der schlesischen Kriege in der Darstellung eines österreichischen Historikers. In: Preußische Jahrbücher 11 (1863) 413–418. 146 Ders.: Geschichte Schlesiens, Bd. 2, 229. 147 Meinardus: Grünhagens Gedächtnis, 36.

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III. Geschichtsforschung in Schlesien zwischen Universität und außeruniversitären Institutionen

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Die Besetzung leitender Positionen in schlesischen Museen mit Universitätsprofessoren im 19. und frühen 20. Jahrhundert I. Einleitung Für ein Museum sind neben Aufbewahrung, Erhaltung und Vermittlung auch Lehrtätigkeit und Forschung wesentliche Ziele. Die letztgenannten Aspekte des Aufgabenspektrums eines Museums übten stets Anziehungskraft auf universitär ausgebildete Wissenschaftler aus – nicht anders im Schlesien des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, wo angesehene Akademiker in Museen nicht nur leitende Posten besetzten, sondern auch als Kustoden und Restauratoren wirkten. Da es sich hierbei um ein allgemeines Phänomen handelt und die Einbeziehung aller in schlesischen Museen angestellten Direktoren und Leiter mit Hochschulabschluss den Rahmen dieses Beitrags sprengen würde, sollen im Folgenden lediglich ordentliche und außerordentliche Professoren sowie Gelehrte, denen die Breslauer Alma Mater in Anerkennung ihrer Leistungen den Titel eines Ehrenprofessors verliehen hatte, berücksichtigt werden. Es deutet alles darauf hin, dass eine Besetzung leitender Positionen in schlesischen Museen mit Professoren nur in Breslau erfolgte. Zwar war es auch in der Provinz durchaus üblich, Personen mit Universitätsabschluss und nicht selten sogar Promovierte an die Spitze von Museen zu berufen, nicht jedoch Hochschullehrer. Die schlesische Hauptstadt mit ihrer dynamischen Universität, ihren wissenschaftlichen Gesellschaften und kulturellen Einrichtungen wie Archiven, Bibliotheken und Museen1 bildete das geistige Zentrum des Landes – hier wirkten die intellektuellen Eliten, die ein Netzwerk sich gegenseitig durchdringender Forschungs- und Kultureinrichtungen schufen.2 In diesem Netzwerk spielten Professoren, die Leitungspositionen in Museen übernahmen, während sie an der Hochschule gleichzeitig ihrer Lehr- und Forschungstätigkeit nachgingen, eine wichtige Rolle.

II. Die Gemäldegalerie Magdaleneum Der erste Professor, der Kunstsammlungen in Breslau verwaltete, war Johann Caspar Friedrich Manso (1760–1826), seit 1793 Rektor des Gymnasiums St. Maria-Magdale1 Garber, Klaus: Das alte Breslau. Kulturgeschichte einer geistigen Metropole. Köln/Weimar/Wien 2014. 2 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Zur Rolle von Individuen im Netzwerk sozialer Beziehungen vgl. Elias, Norbert: Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie. Frankfurt a. M. 1990.

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na in Breslau. 1812 wurde er zum Professor an der Universität Breslau ernannt. Manso war ein aus Thüringen stammender und an der Universität in Jena ausgebildeter klassischer Philologe, Dichter und Übersetzer. Im Jahr 1817 ließ er die Gemäldegalerie Magdaleneum abbauen, die dort zuvor gezeigten Bilder restaurieren, die Fenster in den Räumen auswechseln (wobei einfache Fenster durch dichtere Doppelfenster ersetzt wurden) und ein Jahr später die Ausstellung neu einrichten. Während der Restaurierung entdeckte man neue Malersignaturen. Einige Bilder erhielten daher neue Zuschreibungen, die Manso in das seit 1818 vorbereitete (in handschriftlichen Fassungen von 1837 und 1843 erhaltene) Inventar mit aufnahm. Am Katalog arbeitete Manso mit dem Pädagogen Daniel Vogel (1742–1820), der am Magdalenen-Gymnasium Polnisch unterrichtete, sowie mit dem Maler und Bildkonservator Johann Franz Friedrich Felder (1775 – nach 1843) zusammen.3 Im Jahr 1819 veröffentlichte Manso zudem eine Beschreibung zur Bildergalerie im Magdaleneum, in der er anmerkte, dass die „Entdeckung“ zahlreicher Bilder aus dieser Sammlung ausschließlich seinem Interesse an dieser Galerie zu verdanken sei.4 Manso, dessen literaturgeschichtliche Vorträge sich sowohl unter Gymnasiasten als auch unter Universitätsstudenten hoher Beliebtheit erfreuten, pflegte enge Kontakte zu anderen Professoren an der Breslauer Universität. Zu seinem Freundeskreis gehörten unter anderem der Historiker Gustav Adolf Harald Stenzel (1792–1854) sowie der klassische Philologe Franz Passow (1786–1833), die beide im Rahmen der Breslauer Turnbewegung auch politisch engagiert waren. Mit Stenzel begab sich Manso 1823 auf eine Reise nach Triest.5 Passow seinerseits widmete dem „Lehrer und Gelehrten Manso“ eine akademische Rede, die er anlässlich des Geburtstags König Friedrich Wilhelms III. von Preußen am 3. August 1826 hielt.6

III. Die Universität Breslau Stenzel leitete seit 1821 das Königliche Provinzarchiv in Breslau. Dort angestellt war Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829), der sich bereits um die Gründung des Archivs sowie um die Einrichtung der Universitätsbibliothek und des Universitäts3 Houszka, Ewa: Prehistoria wrocławskich muzeów/Vorgeschichte der Breslauer Museen. In: Łukaszewicz, Piotr (Hg.): Muzea sztuki w dawnym Wrocławiu/Kunstmuseen im alten Breslau. Wrocław 1998, 11–24, hier 19, 22; Łukaszewicz (Hg.): Muzea sztuki, 228 (zu Manso). 4 Manso, Johann Caspar Friedrich: Ueber die Gemählde-Sammlung zu Maria Magdalena. Breslau 1819, 15–18. 5 Grünhagen, Colmar: Art. Manso, Johann Kaspar Friedrich. In: Allgemeine Deutsche Biographie 20 (1884) 246–248. 6 Die genannte Rede Franz Passows (unter dem Titel „Narratio de J. C. F. Mansone“) enthielt eine Lithographie mit Mansos Bildnis, versehen mit einem aus dem Testament des Verstorbenen stammenden Epigramm: „Adscriptus terrae cavi gravis esse cuiquam:/ Sis, quem mox condes, sis mihi, terra, levis!“ Zit. nach Leipziger Literatur-Zeitung, Nr. 224 vom 14. September 1826, 1792.

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museums Verdienste erworben hatte.7 Büsching spielte zudem eine Schlüsselrolle bei der Gründung des Königlichen Museums für Kunst und Altertümer,8 das er bis zu seinem Tod leitete. Er erweiterte die Sammlung um einen Bestand von Gipsabgüssen, die er während des universitären Unterrichts vor seinen Studenten zu Demonstrationszwecken einsetzte. Damit brach Büsching mit der bis dahin vorherrschenden Lehrmethode, seine Kurse ausschließlich auf literarische Quellen aufzubauen; er gilt insofern zu Recht als der erste Professor für klassische Archäologie an der Universität Breslau.9 Neuere Forschungen haben zudem ergeben, dass er auch einer der ersten Gelehrten war, die ihr Augenmerk auf prähistorische Objekte richteten. Mit seinen langfristig angelegten Forschungen auf diesem Gebiet wurde Büsching europaweit zum Vorreiter der archäologischen Ausbildung an den Universitäten.10 Er betonte immer wieder den Wert prähistorischer Objekte als Quellenmaterial für die Erforschung der Vor- und Frühgeschichte Schlesiens und rief die Einwohner Breslaus und der Umgebung dazu auf, im Boden gefundene Artefakte den musealen Sammlungen zur Verfügung zu stellen. Dabei achtete er darauf, dass die übergebenen Objekte mit Angaben zum Fundort versehen waren  – dies war bis dahin meistens unterblieben, entwickelte sich dann aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem bis heute gültigen Standard beim Umgang mit archäologischen Museumsobjekten. Büsching pflegte entsprechend enge Kontakte mit anderen Professoren, die mit Museumssammlungen zu tun hatten. So stand er beispielsweise in regem Briefverkehr mit den Direktoren großer Museen in Bonn und Kopenhagen, mit denen er Ausstellungsstücke tauschte. Wilhelm Dorow (1790–1846), Direktor des Museums Rheinisch-Westfälischer Altertümer in Bonn, schenkte seinem Breslauer Kollegen, der ihn Anfang der 1820er Jahre am Rhein besuchte, einige in Neuwied entdeckte Objekte aus römischer Zeit. Professor Christian Jürgensen Thomsen (1788–1865) aus Kopenhagen, Begründer des sogenannten Dreiperiodensystems, das zur Grundlage der Entwicklung der Archäologie als wissenschaftlicher Disziplin geworden ist, erhielt von Büsching Äxte aus der Jungsteinzeit und andere prähistorische Artefakte für die Sammlungen seines Museums. Im Gegenzug bekam Büsching Urnen, Schalen, einige Götzenbilder, einen großen Goldring sowie zahlreiche Abgüsse und Duplikate. Thomsen fügte die Präsente in seine erste Sammlung von Vergleichsmaterial ein, das ihm dazu diente, seine 17 Hałub, Marek: Johann Gustav Gottlieb Büsching 1783–1829. Ein Beitrag zur Begründung der schlesischen Kulturgeschichte. Wrocław 1997, 39–70. 18 Das Königliche Museum für Kunst und Altertümer wurde 1862 neu strukturiert; es heißt seither Archäologisches Museum an der Universität Breslau. 19 Kinne, Johanna: Classical Archeology. In: Harasimowicz, Jan (Hg.): Commemorative Book for the 200th Anniversary of the Establishment of the State University in Wrocław, Bd. 2: Universitas litterarum Wratislaviensis 1811–1945. Wrocław 2013, 270–291, hier 271. 10 Burdukiewicz, Jan/Demidziuk, Krzysztof/Bończuk-Dawidziuk, Urszula: Profesor Büsching na Uniwersytecie Wrocławskim – początki archeologii akademickiej w Europie. In: Hałub, Marek/ Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska Republika Uczonych – Schlesische Gelehrtenrepublik – Slezská vědecká obec, Bd. 7. Wrocław 2016, 180–207, hier 182.

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theoretischen Annahmen zu belegen. Büsching teilte Thomsens Anschauungen allerdings nicht und erstellte ein eigenes System zur Rohstoffklassifizierung, in dem er der zeitlichen Dimension keine Bedeutung zuwies. Dadurch und mehr noch durch den gleichzeitigen Erfolg von Thomsens relativer Chronologie rückten Büschings Leistungen in den Hintergrund.11 Dies ändert gleichwohl nichts an der Tatsache, dass ­Büsching an den wichtigsten wissenschaftlichen Debatten in Europa teilnahm. Unter seinen Kollegen an der Breslauer Universität ernteten die innovativen Forschungs- und Lehrkonzepte12 Büschings, der auch mit Schriftstellern wie Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832) in Verbindung stand, indes keinen Applaus. Büschings „Vorliebe für Einzelobjekte“13 verlangsamte oft die Gruppenarbeit und hatte bald zu Folge, dass Umfang und Tempo der Arbeiten von seinem Vorgesetzten, dem Direktor der Zentralbibliothek Johann Gottlob Theaenus Schneider (1750– 1822), streng überwacht wurden. Dabei kam es vor, dass Büsching den entsprechenden Anweisungen nicht Folge leistete und so Konflikte provozierte.14 Auch mit seinem anderen Vorgesetzten, dem bereits erwähnten Stenzel, der 1821 die Leitung des Provinzialarchivs übernommen hatte, geriet Büsching gelegentlich in Kompetenzstreitigkeiten. 1825 kündigte er seinen Posten als Archivar, da sich zwischen ihm und Stenzel über die Jahre ein erhebliches Misstrauen aufgebaut hatte und sich bei Büsching zudem die ersten Symptome einer schweren Leberkrankheit zeigten, der er schließlich auch erlag.15 Im Gegensatz zu dem konfliktreichen Verhältnis zu seinen Vorgesetzten knüpfte Büsching zu Studenten enge und gute Beziehungen. Die von ihm gehaltenen Vorlesungen erfreuten sich wachsender Beliebtheit und lockten üblicherweise zwanzig oder mehr Zuhörer an,16 ein zu jener Zeit beachtliches Auditorium. Lediglich für Diplomatie und Volkskultur interessierten die Studenten sich insgesamt weniger, aber auch in diesem Bereich gab es Ausnahmen. Im Sommersemester 1817 konnte Büsching in seiner Diplomatie-Vorlesung voller Stolz 33 Zuhörer vorweisen17 – in einem Fach, für das es an vielen anderen Universitäten oft keine einzige Anmeldung gab. 11 Ebd., 197f. 12 Bończuk-Dawidziuk, Urszula: Wkład Johanna Gustava Gottlieba Büschinga (1783–1829) w tworzenie bazy materialnej i koncepcji naukowo-dydaktycznej Uniwersytetu Wrocławskiego. In: Harasimowicz, Jan (Hg.): Księga Pamiątkowa Jubileuszu 200-lecia utworzenia Państwowego Uniwersytetu we Wrocławiu, Bd. 4: Uniwersytet Wrocławski w kulturze europejskiej XIX i XX wieku. Wrocław 2015, 57–67. 13 Krusch, Bruno: Geschichte des Staatsarchivs zu Breslau. Leipzig 1908 (Mitteilungen der K. Preußischen Archivverwaltung 11), 55. 14 Galik, Elżbieta: Działalność Akademickiego Królewskiego Archiwum Prowincjonalnego we Wrocławiu w strukturach Uniwersytetu Wrocławskiego 1811–1822. In: Harasimowicz (Hg.): Księga Pamiątkowa, Bd. 4, 69–79, hier 71. 15 Hałub: Büsching, 53. 16 Ebd., 62. 17 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin-Dahlem, I. HA Rep. 76, Va Sekt. 4 Tit. IV, Nr 1 Bd. 4, Bl. 201r: Büsching an den preußischen Staats- und Innenminister, Breslau 19. September 1817.

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Abb. 1: Franz Passow (1786–1833), Fotografie aus der Sammlung des Breslauer Universitätsarchivs. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S/169/125.

Abb. 2: Julius Athanasius Ambrosch (1804– 1856), Fotografie aus der Sammlung des ­Breslauer Universitätsarchivs. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S/169/102.

Obwohl sich Büschings Unterricht eines hohen studentischen Interesses erfreute, bildete er keinen eigentlichen Nachfolger für seine Forschungen zur prähistorischen Kunst aus. Sein Nachfolger als Leiter des Museums für Kunst und Altertümer, der einflussreiche und allgemein geachtete Professor für klassische Philologie Franz Passow (1786–1833), betätigte sich seinerseits als eifriger Sammler von Kopien der Werke klassischer Kunst. Passow war Lexikograph, Herausgeber der politisch engagierten Zeitschrift Archiv deutscher Nationalbildung und Anhänger der Turnidee Friedrich Ludwig Jahns (1778–1852), die als Ausdruck patriotischer Bestrebungen der deutschen Jugend galt. 1818 veröffentlichte er dazu die Schrift Turnziel, Turnfreunde und Turnfeinde; ein Jahr später, während der sogenannten Breslauer Turnfehde, war Passow ein entschiedener Fürsprecher der Turnbewegung. In seiner Funktion als Museumsleiter erweiterte Passow die Sammlung von Kopien antiker Skulpturen und ließ diese erstmals katalogisieren.18 Nach dem Vorbild seines Vorgängers bezog er die Bestände seines Museums zudem im Unterricht mit ein – etwa im Sommersemester 1829/30 im Rahmen einer Vorlesung zu den wichtigsten in Breslau aufbewahrten Werken antiker Kunst.19 Einer der engsten Freunde Passows an der Universität, Karl Ernst Christoph Schneider 18 Verzeichniss der antiken und modernen Bildwerke in Gyps auf dem akademischen Museum für Alterthum und Kunst in Breslau. Breslau 1832. 19 Kinne: Classical Archeology, 275.

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(1786–1856), war ebenfalls klassischer Philologe; mit ihm zusammen gab er mehrere Publikationen heraus.20 Nach Passows Tod übernahmen in den folgenden sechs Jahren zwei weitere Professoren die Leitung des Museums: Friedrich Wilhelm Ritschl (1806–1876), ein junger Professor für klassische Philologie, sowie der Literaturwissenschaftler und Germanist August Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798–1874). Ritschl kümmerte sich um die Münzsammlungen und die Abgüsse antiker Skulpturen, die er durch Neuanschaffungen ergänzte.21 Unter Einsatz der Museumsbestände lehrte er zudem klassische Philologie. Weniger Verdienste um das Museum erwarb sich dessen zweiter Leiter Hoffmann von Fallersleben, der sich wissenschaftlich vornehmlich mit literaturhistorischen Arbeiten sowie mit der Geschichte schlesischer Altertümer beschäftigte. Stärker noch engagierte sich der Verfasser des „Liedes der Deutschen“ (und damit der späteren deutschen Nationalhymne) allerdings im politischen Bereich: Nachdem er die akademische Gemeinde mit seinem 1841 veröffentlichten und von der Regierung als „unanständig“ eingestuften Werk Unpolitische Lieder schockiert hatte, in denen er das Fortbestehen der absoluten Monarchie und den allgemeinen Zustand des ­preußischen Staates scharf kritisierte, wurde er 1842 von seinem Ordinariat suspendiert.22 Von Polizeikräften überwacht, musste Hoffmann von Fallersleben seinen Aufenthaltsort anschließend mehrmals wechseln, wurde letztlich 1849 rehabilitiert (allerdings ohne seinen Lehrstuhl zurückzuerhalten) und ließ sich im Rheinland nieder. Von 1839 bis 1856 stand Julius Athanasius Ambrosch (1804–1856), Professor für klassische Philologie und Archäologie, der sich auf die Kultur des antiken Rom spezialisiert hatte, an der Spitze des Universitätsmuseums. Dort erweiterte er abermals die Sammlungen von Gipsabgüssen, ließ mehrere Abteilungen umorganisieren und Inventare aufstellen, wobei er Büschings Leistungen in diesem Bereich ausdrücklich würdigte. Er inventarisierte die Münzsammlung und ließ sie in einem speziell zu diesem Zweck angefertigten Schrank aufbewahren. In der Sommerzeit (während der die Museumsräume nicht beheizt wurden) setzte er ein Programm archäologischer Übungen um, die mit philologischen Vorträgen verbunden waren. Ambrosch ermöglichte seinen Studenten ein selbständiges Arbeiten, indem er ihnen Fachliteratur in der uneingeschränkt für sie zugänglichen Museumsbibliothek zur Verfügung stellte.23 Nach Ambroschs Tod am 19. März 1856 wurden für einen Übergangszeitraum von drei Monaten zunächst der klassische Philologe Wilhelm Wagner (1814–1857), der sich zu diesem Zeitpunkt vor allem mit Platons Dialogen beschäftigte,24 sowie sein Fachkol20 Vgl. exemplarisch Passow, Franz/Schneider, Carl: Museum Criticum Vratislaviensae, Tl. 1. Vratislaviae 1820. 21 Łukaszewicz (Hg.): Muzea Sztuki, 233 (zu Ritschl). 22 Kunicki, Wojciech: German philology. In: Harasimowicz (Hg.): Commemorative Book, Bd. 2, 332–345, hier 335. 23 Kinne: Classical Archeology, 277, 279. 24 Cohn, Leopold:  Art. Wagner, Friedrich Wilhelm. In: Allgemeine Deutsche Biographie 40 (1896) 495–496.

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lege Heinrich Friedrich Hasse (1808–1867) mit der Museumsleitung betraut. ­Richard Foerster widmete Hasse später ein wohlwollendes Biogramm in der Allgemeine[n] Deutsche[n] Biographie, wo er ihn als „ausgezeichneten Philologen“ bezeichnete.25 Am 23. August 1856 wurde der aus Tübingen berufene Professor für klassische Philologie und Altertümer, Georg August Wilhelm Roßbach (1823–1898), zum neuen Leiter des Königlichen Museums für Kunst und Altertümer bestellt. Er hatte diese Position bis zu seinem Tod 1898 inne. Roßbach organisierte die Einrichtung grundsätzlich neu und ließ sie in ein Archäologisches Universitätsmuseum umwandeln. 1861 veröffentlichte er einen Katalog der Gipsabguss-Sammlung und ließ diesem 1877 eine zweite, erweiterte Ausgabe folgen. Zudem spielte Roßbach eine wichtige Rolle im kulturellen Leben Breslaus – als Mitbegründer des 1862 gegründeten Vereins für Geschichte der bildenden Künste26 sowie als Vorstandsmitglied des Vereins zur Errichtung und Erhaltung eines Museums für schlesische Altertümer.27 Abb. 3: Georg August Wilhelm Roßbach (1823–1898), Fotografie aus der Sammlung des Breslauer Universitätsarchivs. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S/168/46-09.

25 Foerster, Richard: Art. Haase, Friedrich Gottlob Heinrich Christian. In: Allgemeine Deutsche Biographie 10 (1879) 262–265. 26 Łukaszewicz (Hg.): Muzea sztuki, 233 (zu Roßbach). 27 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akten der Stadt Breslau, Sign. 31801: Acten des Magistrats zu Breslau betreffend die Errichtung eines schlesischen Museums in Breslau, Bd. 1: 1856– 1869, Bl. 97: Statuten des Vereins zur Errichtung und Erhaltung eines Museums für schlesische Alterthümer, Breslau 1858.

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In dem hier untersuchten Zeitraum war der bereits erwähnte Professor im Fach Klassische Altertumswissenschaft,28 Richard Foerster (1843–1922), von 1899 bis zu seiner Pensionierung am 1. April 1920 der letzte Direktor des Museums.29 Foerster war ein Forscher von überregionalem Rang und hatte großen Einfluss auf das Breslauer Kulturleben. In Görlitz geboren, hatte er in der Odermetropole bei Haase und Roßbach studiert. Bereits während seiner Studienzeit war er dem Verein für Geschichte der bildenden Künste beigetreten, der 1876 als Sektion der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur einverleibt wurde. Foerster war ein intimer Kenner der Antike und lehrte Archäologie wie auch klassische Philologie, was ihm in seinen Forschungen einen interdisziplinären Zugriff ermöglichte. In seine Amtszeit als Rektor fiel der Beginn der langjährigen Restaurierung des Hauptgebäudes der Breslauer Universität. An der Universität gesammelt wurden von Beginn an auch naturwissenschaftliche Objekte, die, ähnlich wie archäologische Artefakte oder Kunstwerke und deren Kopien, den Dozenten im Unterricht als didaktische Hilfsmittel dienten. Bereits 1812, also ein Jahr nach der Neugründung der Universität Breslau, schuf der Professor für Geologie und Erdkunde Carl von Raumer (1783–1856) das Mineralogische Kabinett.30 Seine Sammlung wurde um Schaustücke erweitert, die aus der Privatsammlung von Henrik Steffens (1773–1845) stammten,31 einem mit Raumer verschwägerten Professor für Philosophie und Naturwissenschaften, der neben seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auch durch seine Rolle bei der Anwerbung von Studenten für den Befreiungskrieg von 1813 bekannt wurde. Neben Mineralien wurden im Mineralogischen Kabinett auch petrografische und paläontologische Objekte gesammelt.32 Im Jahr 1814 schenkte Johann Ludwig Christian Carl Gravenhorst (1777–1857) der Universität seine Privatsammlung und schuf auf ihrer Basis in den Räumen des ehemaligen Auditorium Maximum im Hauptgebäude der Universität (heute Oswald-Bal28 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Personalakten wissenschaftlicher Mitarbeiter, Sign. S 220, 131 (Richard Foerster), 4. 29 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Groß, Jonathan: Richard Foerster (1843–1922). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 11. Insingen 2012, 399–415; Unte, Wolfhart: Richard Foerster (1843–1922). Sein wissenschaftliches Werk in der klassischen Altertumswissenschaft, Kunstgeschichte und Kulturgeschichte Schlesiens. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 25 (1984) 249–272. 30 Stryjewski, Antoni: Muzeum Mineralogiczne Uniwersytetu Wrocławskiego im. Prof. Kazimierza Maślankiewicza na tle 200 lat akademickich zbiorów mineralogicznych we Wrocławiu. In: Muzealnictwo 52 (2011) 140–151, hier 141; Mularczyk, Magdalena: Botanical Garden and natural history museums. In: Harasimowicz (Hg.): Commemorative Book, Bd. 2, 514–518; Völkel, Hans: Mineralogen und Geologen in Breslau. Geschichte der Geowissenschaften an der Universität Breslau von 1811 bis 1945. Haltern 2002, 40–94. 31 Die Sammlung von Steffens wird heute zum Teil im mineralogischen Kazimierz-MaślankiewiczMuseum der Universität Breslau aufbewahrt. 32 Grodzicki, Andrzej/Pacholska, Antonina: Muzeum Geologiczne Instytutu Nauk ­Geologicznych Uniwersytetu Wrocławskiego. In: Przegląd Uniwersytecki 8 (2000) 17–21, hier 17; Völkel: Mineralogen und Geologen, 132–137.

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zer-Saal) das Zoologische Museum Breslau. Gravenhorst erwarb sich große Verdienste bei der Gründung und Vermehrung der Sammlung. Er ordnete die Exponate systematisch in Glasvitrinen an, ermöglichte der Öffentlichkeit 1820 den freien Zutritt zum Museum und erarbeitete einen Führer durch die Sammlungen.33 Der nächste Direktor des Museums, Adolph Eduard Grube (1812–1880), vermehrte die Bestände durch Objekte von seinen Exkursionen nach Italien und Kroatien, die er mit seinem polnischen Schüler Benedykt Dybowski (1833–1930) unternommen hatte. Grubes Nachfolger, Professor Anton Friedrich Schneider (1831–1890), nutzte die verfügbaren finanziellen Mittel zum Ankauf einer modernen Laborausrüstung. Der Tiefseeforscher Carl Chun (1852–1912), Direktor des Zoologischen Museums seit 1890, konnte die Sammlungen überdies um eine größere Zahl von wirbellosen Meerestieren ergänzen, die er aus der berühmten Valdivia-Expedition 1898/99 mitgebracht hatte.34 In der Amtszeit seines Nachfolgers, des Spezialisten für Wale und achtarmige Korallen Professor Willy Kükenthal (1861–1922), entstand ein neues Museumsgebäude, wo modern ausgestattete Räume ideale Voraussetzungen für ansprechende wissenschaftliche Ausstellungen, zum Beispiel über die Tierwelt Schlesiens, boten.35 Im Jahr 1821 richtete man auf Anregung von Ludolf Christian Treviranus (1779– 1864), dem Direktor des Breslauer Botanischen Gartens, zudem ein Herbarium (Herbarium Horti Botanici Universitatis Wratislaviensis) ein. Dass die Interessen von Treviranus über die Naturwissenschaften hinausreichten, zeigt sich an dessen Plädoyer für den Einsatz von Holzschnitten zur bildlichen Darstellung von Pflanzen.36 Bedauerlicherweise verließ Treviranus infolge eines Konflikts mit dem Senat bereits 1830 die Universität Breslau und folgte einem Ruf nach Bonn. Sein Nachfolger, Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck (1776–1858), war ein Naturwissenschaftler von Weltrang. Während seiner Arbeit an der Universität schuf er eine Sammlung von nicht weniger als 80.000 Herbarbögen. Sie ist allerdings nicht erhalten, da sie aufgeteilt und verkauft wurde, nachdem Nees von Esenbeck 1852 wegen seiner politischen Aktivität im sozialistischen Spektrum und zudem wegen „inakzeptabler Moral“ – 1839 hatte er seine dritte Ehefrau verlassen und war mit seiner Köchin zusammengezogen – ohne Anspruch auf Altersgeld entlassen worden war.37 Was für eine unkonventionelle Figur Nees von Esenbeck im Breslauer Professorenkreis gewesen war, bezeugt eine ihm ge33 Gravenhorst, Johann Ludwig Christian Carl: Das zoologische Museum der Universität Breslau. Breslau 1832. 34 ������������������������������������������������������������������������������������������ Chun, Carl: Aus den Tiefen des Weltmeeres. Schilderungen von der Deutschen Tiefsee-Expedition. Jena 1900. 35 Wiktor, Jadwiga: Muzeum Przyrodnicze Uniwersytetu Wrocławskiego. Historia i ludzie. 1814– 1994. Wrocław 1997, 9–16. 36 Treviranus, Ludwig Christian: Die Anwendung des Holzschnittes zur bildlichen Darstellung von Pflanzen, nach Entstehung, Blüthe, Verfall und Restauration. Leipzig 1855 [ND Utrecht 1949, Classics in natural history 1]. 37 Mularczyk, Magdalena: Biological sciences. In: Harasimowicz (Hg.): Commemorative Book, Bd. 2, 428–447, hier 431.

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Abb. 4: Christian Gottfried Daniel Nees von Esenbeck (1776–1858), Fotografie aus der ­Sammlung des Breslauer Universitätsarchivs. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S/169/124.

Abb. 5: Heinrich Robert Göppert (1800– 1884), Fotografie aus der Sammlung des ­Breslauer Universitätsarchivs. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S-G-I/16-2.

widmete Schrift. In dem prunkvoll dekorierten Druck aus den 1830er Jahren hieß es unter anderem, Professor Nees von Esenbeck, „dessen früherer Lebenswandel vielleicht nicht sehr exemplarisch gewesen“ sei, erhalte eine Doktorwürde honoris causa der (nicht existierenden) Universität „zu Dülken“.38 Auf Initiative des nächsten Direktors des Botanischen Gartens Heinrich Robert Göppert (1800–1884), der 1854 das Herbar in ein Botanisches Museum mit Sitz im Auditorium Chemicum überführte, wurde die Sammlung der Herbarbögen um Samen, Früchte, Wurzeln und Stämme erweitert. 1872 eröffnete Göppert noch einen zusätzlichen Sammlungsschwerpunkt (Museum des Botanischen Gartens). Die Sammlungen beider Häuser, die zusammen rund 25.000 Exponate umfassten, wurden 1888 in ein neues Gebäude verlegt und 1906 unter dem gemeinsamen Namen „Botanisches Museum“ zusammengeführt. Seit 1904 grenzten die botanischen Sammlungen an das in ein neues Gebäude verlegte Zoologische Museum, das speziell für naturwissenschaftliche Forschungs- und Lehrzwecke errichtet worden war.39 38 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akten der Stadt Breslau, Sign. 15207. 39 Wiktor, Jadwiga: Muzeum Przyrodnicze Uniwersytetu Wrocławskiego. Historia i ludzie 1814– 1994. Wrocław 1997, 33f.; Mularczyk, Botanical Garden, 509, 519, 523; Wanat, Marek/Pokryszko, Beata M.: Museum of Natural History, University of Wrocław – 200 years of history in two countries. In: Genus 25 (2014) 567–582.

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Unter den genannten Forschern im Bereich der Naturwissenschaften war Göppert ohne Frage die vielseitigste Persönlichkeit. Beruflich untersuchte er vor allem die Herkunft von Stein- und Braunkohle sowie von Bernstein; sein persönliches Forschungsinteresse galt aber auch der Anatomie, Physiologie und Pathologie von Pflanzen, hauptsächlich Bäumen. 1856 erstellte er ein geologisches Profil des Waldenburger Steinkohlereviers, das heute im Botanischen Garten in Breslau aufbewahrt wird. Er wirkte aktiv in verschiedenen Bereichen des sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Lebens, unter anderem im Rahmen der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. Ferner setzte er sich für die Verbesserung der hygienischen Lebensbedingungen in der Stadt sowie für die Zugänglichkeit der Altstädtischen Promenade, des Scheitniger Parks und des städtischen Zoologischen Gartens ein. Er unterstützte aktiv die Initiative zum Bau des Schlesischen Museums für bildende Künste, nahm an archäologischen Ausgrabungen teil und förderte die Entwicklung von Handwerk, Industrie und Bergbau in Schlesien. Auf der Basis des Königlichen Anatomischen Instituts in Breslau wurde an der Universität das Anatomisch-Pathologische Museum eröffnet, zu dessen erstem Direktor 1813 der Professor für physiologische und pathologische Anatomie Adolph Wilhelm Otto (1786–1845) bestellt wurde. Die damals gut 1.200 Präparate zählende Sammlung bestand aus diversen Objekten und erinnerte, da es zum Beispiel missgebildete Extremitäten enthielt,40 eher an ein Kuriositätenkabinett als an eine Museumseinrichtung. Erst Otto verlieh der Sammlung einen wissenschaftlichen Charakter. In den folgenden Jahren wurden neue Präparate hergestellt, 1841 umfasste die Sammlung bereits mehr als 13.000 anatomische Präparate (Skelette, Spiritus- und Trockenpräparate).41 Fortgeführt wurde Ottos Werk von dessen Nachfolger Hans Carl Leopold Barkow (1798–1873). Er erweiterte die Zahl der Präparate (auch um eigens hergestellte Exponate) und schuf eine Sammlung angiologischer Präparate, in denen die Blutgefäße sekundär mit Blei gefüllt wurden.42 Auch Barkow beteiligte sich am kulturellen Leben Breslaus, unter anderem in den 1840er Jahren als Vorstandsmitglied der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. 1873 übernahm dann Professor Carl Hasse (1841–1921), ein unter Fachleuten geschätzter Forscher und Hochschullehrer, die Leitung des Museums. Er war einer der Vorreiter der vergleichenden Anato-

40 Kowalińska, Maria: Scientific instruments and teaching tools. In: Harasimowicz (Hg.): Commemorative Book, Bd. 2, 492–505, hier 495; Otto, Adolph Wilhelm: Seltene Beobachtungen zur Anatomie, Physiologie und Pathologie gehörig. Breslau 1816, 7; Hasse, Karl: Anatomie. In: Festschrift zur Feier des hundertjährigen Bestehens der Universität Breslau, Bd. 2. Breslau 1911, 267– 271; Kozuschek, Waldemar: Die Medizinische Fakultät der Universität Breslau der Jahre 1811 bis 1945. In: ders. (Hg.): Geschichte der Medizinischen und Pharmazeutischen Fakultäten der Universität Breslau sowie der Medizinischen Akademie Wrocław in den Jahren 1702–2002. Wrocław 2002, 45–155, hier 51–54. 41 Otto, Adolph Wilhelm: Monstrorum sexgentrorum descripto anatomica, Bd. 1–2. Breslau 1841. 42 Barkow, Hans Carl Leopold: Die Angiologische Sammlung im Anatomischen Museum der Königlichen Universität zu Breslau. Breslau 1869.

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mie, für dessen Forschung die Vielfalt der Breslauer Sammlung, die sowohl Menschenals auch Tierpräparate umfasste, von Vorteil war. Hasse strukturierte und inventarisierte die Sammlung vor ihrem Umzug in ihr neues Refugium, dem um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Scheitnig errichteten Klinikkomplex. Wegen des mittlerweile großen Umfangs der Sammlung nahm er die Tierpräparate heraus und vermachte sie dem Institut für Zoologie.43 Bereits in der Satzung der Universität Breslau aus dem Jahr 1816 finden sich darüber hinaus Information zu den Sammlungen der Sternwarte, des Chemie-, Physik- und Mathematik-Labors sowie zu einer Sammlung von Agrarmaschinen.44 Derartige Bestände von wissenschaftlichen Instrumenten wurden an einzelnen Instituten seit dem Ende des 19. Jahrhunderts systematisch zusammengetragen und beschrieben, doch hatten sie bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs keinen Status als selbständige Museumseinrichtungen und wurden nach 1945 aufgelöst. Unter diesen Sammlungen ist vor allem die (bis heute erhaltene) umfangreiche Sammlung an dermatologischen ­Wachsmoulagen zu nennen;45 bemerkenswert sind ebenso die Sammlungen von Glasdiapositiven, die im geisteswissenschaftlichen Unterricht eingesetzt wurden (hauptsächlich in der Klassischen Philologie, später auch in Kunstgeschichte und Archäologie), sowie die anthropologisch-ethnografische Sammlung im Institut für Anthropologie an der Medizinischen Fakultät. Kustos dieser Objekte war der Medizinprofessor Georg Thilenius (1868–1937), der von 1900 bis 1904 die Sammlung um ethnografische Schaustücke erweiterte, die er von einer Reise nach Tunesien und von weiteren Forschungsreisen in den Südpazifik mitgebracht hatte.46 Nachdem Thilenius nach Hamburg umgezogen war, wo er zum ersten Direktor des neuen Museums für Völkerkunde avancierte, wurde in Breslau ein Extraordinariat für Anthropologie und Ethnologie geschaffen, dessen Inhaber, der bereits damals für seine kontroversen Anschauungen bekannte Hermann Klaatsch (1863–1916), sich auf die Sammlung anthropologischer Objekte konzentrierte und diese um rund 200 Skelette und 80 Schädel australischer Eingeborener ­erweiterte.47

43 Kowalińska: Scientific instruments, 496. 44 Statuten für die Universität zu Breslau. Berlin 1816, 37f. 45 Mit dem Sammeln von Moulagen begann Albert Neisser (1855–1916), der erste ordentliche Professor für Hautkrankheiten in Deutschland. In der 1930er Jahren umfasste die Sammlung mehr als 2.600 Objekte, von denen bis heute in den Sammlungen des Lehrstuhls und der Klinik für Dermatologie, Venerologie und Allergologie der Medizinischen Fakultät in Breslau 320 erhalten geblieben sind. Vgl. Białynicki-Birula, Rafał/Baran, Eugeniusz/Szymczak, Tatiana: Mulaże dermatologiczne. Atlas kolekcji wrocławskiej. Wrocław 2006. 46 In der Personalakte von Thilenius wird unter den an der Universität Breslau ausgeübten Funktionen an erster Stelle genannt „Custos am anatomischen Institut“, an zweiter Stelle „Leiter des anthropologischen Instituts“. Vgl. Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Personalakten wissenschaftlicher Mitarbeiter, Sign. S 220, 513 (Georg Thilenius), 1–3. 47 Bergman, Paweł: Antropologia we Wrocławiu w latach 1811–1945. In: Harasimowicz (Hg.): Księga Pamiątkowa, Bd. 4, 733–741, hier 737f.

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IV. Das Museum der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur Zahlreiche Professoren, die an Universitätsmuseen leitende Positionen besetzten, waren Mitglieder in Breslauer Wissenschafts- und Kulturvereinen. Eine solche Vereinigung war die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur,48 die sich 1810 auch ein eigenes Museum zulegte. Mitglieder der Gesellschaft sammelten seit 1813 Exponate, die fünf Jahre später erstmals in einer Sonderausstellung präsentiert wurden. Man zeigte nicht nur Kunstwerke, wissenschaftliche Instrumente und Modelle, sondern auch „Naturmerkwürdigkeiten“.49 Entsprechend wurden die folgenden Vereinsziele formuliert: „Es soll eine Sammlung von vaterländischen Fabrikaten aller Art gesammelt, geordnet und jedem zur Anschauung und Benutzung vorgelegt werden, jedes Mitglied soll ersucht werden für dergleichen Beyträge zu sorgen.“50 Mit den Vorbereitungen zur alljährlichen Ausstellung im Gebäude der Börse am Blücherplatz beschäftigte sich die eigens dafür gegründete „Kommission zur Veranstaltung einer öffentlichen Ausstellung vaterländischer Kunst und Industrie-Erzeugnisse“, in der Büsching als Leiter des Königlichen Museums für Kunst und Altertümer in den Jahren 1818 bis 1829 als Sekretär fungierte.51 Er war freilich nicht der einzige Akademiker, der an der Organisation der Ausstellungen aktiv beteiligt war. Mitglieder der Kommission waren auch der bereits genannte Henrik Steffens, der Professor für Kameralwissenschaften Friedrich Benedict Weber (1774–1848),52 der evangelische Theologe David Schulz (1779–1854), der Literaturhistoriker und Lehrer an der 1791 gegründeten Königlichen Kunst- und Gewerbeschule zu Breslau August Kahlert (1807–1864), der Maler Carl Daniel David Friedrich Bach (1756–1829) sowie der Bildhauer Joseph Mattersberger (1754–1825). Auf die künstlerischen Präferenzen dieses Personenkreises weist ein Brief aus dem Jahr 1833 hin, den die Gesellschaft mit der Bitte, eine Ausstellung der im Eigentum des Schlesischen Kunst-Vereins befindlichen Bilder im Lokal der Gesellschaft zu ermöglichen, an den Schlesischen Kunst-Verein gerichtet hatte. Darin wurden neun Gemälde zeitgenössischer Künstler genannt, unter denen Landschaftsdarstellungen dominier48 Gerber, Michael Rüdiger: Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur (1803–1945). Sigmaringen 1988; Zach, Franziska: Die „schlesische Gesellschaft für vaterländiche Cultur“ im 19. Jahrhundert. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 121–141, hier 135–140. 49 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S 362: Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. Praesidial=Conferenz Protocolle von 1813 bis 1818, 73. 50 Ebd., 74. 51 Kahlert, August: Die Kunstausstellungen Breslau’s seit fünf und zwanzig Jahren. Ein Rückblick am Dürerfeste 1843. Breslau 1843; Łukaszewicz, Piotr: Muzeum Śląskiego Towarzystwa Kultury Ojczystej/Museum der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur. In: ders. (Hg.): Muzea sztuki, 38–42, hier 39. 52 Weber war seit 1811 Inhaber des Lehrstuhls für Kameralwissenschaften. Vgl. Ptak, Marian J.: Legal and economic sciences. In: Harasimowicz (Hg.): Commemorative Book, Bd. 2, 170–207, hier 194.

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ten – im Einzelnen Der […] Hirt von Johann Heinrich Troll (1756–1824), Kloster bei Subiaco von Heinrich Siegert, Schweizerlandschaft von Adolph Kunkler (1792–1866) und Landschaft von Johann Christian Clausen Dahl (1788–1857). Unter den übrigen genannten Bildern befanden sich zwei Porträts, Bildnis des Exner von Adalbert Longin Höcker (1761–1841) und Kaiser Friedrich Barbarossa von Heinrich Mücke (1806– 1891), ferner die beiden Genrebilder Die Tischlerwerkstatt von August Hüppe und Tyroler mit seinem Mädchen von Joseph Petzl (1803–1871), schließlich ein mythologisches Thema, Schlafender Amor von Johann Heinrich Christoph König dem Älteren (1777–1867).53 Die Sektion für Kunst und Altertum des Vereins wurde 1847 zwar aufgelöst, man sammelte aber entsprechende Objekte im Rahmen der anderen Sektionen, etwa der archäologischen, weiter, bevor die Gesellschaft ihre Kollektionen den anderen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in Breslau entstehenden Museen zur Verfügung stellte. An der Spitze der Gesellschaft standen mehrere Akademiker, unter anderem der Professor für Physiologie ­Rudolf Heidenhain (1834–1897), der den Verein von 1884 bis 1897 leitete, sowie der Professor für Hygiene Carl Flügge (1847–1923), Präsident im Jahr 1898. Darunter befanden sich ferner so verdiente Forscherpersönlichkeiten wie der bereits erwähnte Direktor des Botanischen Gartens Heinrich Robert Göppert, Präsident der Gesellschaft von 1847 bis zu seinem Tod 1884. Göppert hatte 1840 pflanzliche Zellen in der Steinkohle entdeckt und damit der seit Jahren andauernden Forschungskontroverse um den Ursprung der Kohle ein Ende gesetzt. Ein Wissenschaftler von Weltrang war zudem Johann von Mikulicz-Radecki (1850–1905), der 1899 an die Spitze des Vereins trat. Als Professor für Medizin war Mikulicz-Radecki zugleich der Erfinder neuer Operationstechniken in der Chirurgie und neuer medizinischer Geräte – zum Beispiel des Skoliometers, mit dem man Seitenabweichungen der Wirbelsäule misst, oder des zur Untersuchung der Speiseröhre und des Magens eingesetzten Ösophagoskops – und Befürworter der damals noch in den Anfängen steckenden Bereiche Antiseptik und Aseptik. Der letzte Präsident des Vereins, der an dieser Stelle zu erwähnen ist, war der Leiter des Archäologischen Museums an der Universität Breslau Richard Foerster, der diese Funktion von 1900 bis 1922 ausübte. Für Foersters beachtlichen Einfluss in Breslauer Kulturkreisen spricht die Tatsache, dass in dem Jahr, in dem er das Präsidentenamt übernahm, zahlreiche seiner Freunde und Kollegen dem Verein beitraten – unter ihnen der Althistoriker Conrad Cichorius (1863–1932)54 sowie der klassische Philologe Carl Friedrich Wilhelm Müller (1830–1903); schon ein Jahr spä53 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akten der Stadt Breslau, Sign. 31794: Acta die Schlesischen Künste und den Breslauer Künstler-Verein betreffend, 1829–1874, Bl. 72: Gemäldeverzeichnis vom 27. Juli 1833. 54 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim: Das Historische Seminar der Universität Breslau 1811 bis 1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte [2013]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2016 (Forschungen zur Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3), 217– 238, hier 229, 234.

Die Besetzung leitender Positionen in schlesischen Museen mit Universitätsprofessoren 271 Abb. 6: Johann von Mikulicz-Radecki (1850–1905), Fotografie aus der Sammlung des Breslauer Universitätsarchivs. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S/168/37-05.

ter wurde auf Mikulicz-Radeckis Anregung hin innerhalb des Vereins eine Sektion für Philologie und Archäologie eingerichtet.

V. Das Museum Schlesischer Altertümer Als Büsching in den 1820er Jahren erstmals museale Exponate in der universitären Lehre einsetzte, war dies noch ein Novum, doch wurde diese Unterrichtsmethode in der Folge von anderen Breslauer Professoren übernommen – nicht nur am Königlichen Museum für Kunst und Altertümer, wo Kunstwerke und Lehrhilfen aufbewahrt wurden, sondern auch in anderen Universitätsmuseen, wo Forschungsinstrumente den Kern profilierter Sammlungen bildeten. Gelegentlich wurden Lehrveranstaltungen in anderen Breslauer Museen von Hochschullehrern angeboten, worunter sich nicht nur Breslauer Professoren, sondern auch Vertreter anderer Universitäten befanden. Die archäologische Sammlung des Museums Schlesischer Altertümer wusste zum Beispiel der berühmte Naturwissenschaftler Carl Vogt (1817–1895) sehr zu schätzen, ein Befürworter der Darwinschen Evolutionstheorie, der 1869 in Breslau als Gastprofessor weilte.55 Während seiner Vorlesungen am Museum Schlesischer Altertümer zeigte er seinen Zuhörern „einige unter den zahlreichen schönen und seltenen Stücken, welche 55 ������������������������������������������������������������������������������������������� Baltzer, Joh[ann] Bapt[ist]: Ueber die Anfänge der Organismen und die Urgeschichte des Menschen. Fünf Vorträge zur Widerlegung der von Prof. Dr. Carl Vogt zu Breslau gehaltenen Vorlesungen „Ueber die Entstehung des Menschen“. Paderborn 1869.

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das Museum besitzt“.56 Zugleich machte er sein Publikum auf spezifische Probleme dieser Einrichtung aufmerksam, deren Sammlungen damals im „Eiskeller“ aufbewahrt wurden, wo Forschungsarbeit unmöglich war. Die Notwendigkeit, solche Studien durchzuführen, begründete Vogt mit der Einmaligkeit des Quellenmaterials, das zum großen Teil mit Anmerkungen zum Fundort versehen war: „Sie [die Sammlung] ist an und für sich höchst bemerkenswerth durch den Reichthum seltener und ­wohlerhaltener Stücke, welche sie aus der Stein- und Bronze Periode enthält, durch die genauren Notizen über die einzelnen Funde – sie scheint mir aber noch besonders von unschätzbarem Werthe für die Provinz Schlesien, die ganz eigenthümliche und von den meisten anderen Ländern abweichende Resultate in Beziehung auf die Urgeschichte darbietet.“57 Da die Sammlung allerdings nicht katalogisiert sei und folglich nicht ausgestellt werden könne, müsse sie, so Vogt, als „fast gänzlich werthlos“ bezeichnet werden; bessere Raumverhältnisse dagegen würden ihr „ganz gewiß zu weiteren Studien und Nachforschungen Veranlassung geben“. Vogt schlug deshalb vor, die Informationen zur Lage des Fundortes gezielt zu nutzen und nach diesem Raster die Ausstellung zu strukturieren: „Ich stelle mir vor, daß eine solche Aufstellung, in ähnlicher Weise ausgeführt, wie in dem geologischen Museum, außerordentlich fruchtbringend für die weitere Erforschung der Provinz sein würde.“ Es sei wünschenswert, die Sammlung endlich der Öffentlichkeit zugänglich zu machen anstatt sie weiterhin in dunklen und kalten Kellerräumen zu lagern.58 Der Besuch Vogts in Breslau, dessen hohe Wertschätzung der Sammlung und zugleich dessen sachliche Kritik an den Raumverhältnissen und der eingeschränkten Zugänglichkeit dürften den Verein des Museums für Schlesische Altertümer dazu angeregt haben, sich mit dem Antrag auf Zuweisung einer neuen Lokalität an die Stadtverwaltung zu wenden. Ein solches Schreiben wurde bereits zwei Monate später verfasst und im Namen des Vereins des Museums für Schlesische Altertümer unter anderem von Professor Göppert unterzeichnet.59 Göppert, der den Botanischen Garten und das Botanische Museum verwaltete, beteiligte sich darüber hinaus aktiv im Verein, dem zahlreiche Kenner und Verehrer der schlesischen Urgeschichte angehörten. Seit 1858 war er Mitglied des Vereinsvorstands60 und in den Jahren 1875/76 auch dessen Vorsitzen56 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akten der Stadt Breslau, Sign. 31797: Acten des Magistrats zu Breslau betreffend den Verein zu Errichtung eines Museums für schlesische Alterthümer. Schlesischer Altertums-Verein, Bd. 1: 1859–1926, Bl. 55: Brief von Carl Vogt an Hermann Luchs vom 11. Februar 1869 mit einer Danksagung für die Erlaubnis, die Sammlungen im Unterricht einzusetzen. 57 Ebd. 58 Ebd. 59 Ebd., Bl. 51–54: Brief vom Verein des Museums für schlesische Alterthümer an den Magistrat der Stadt Breslau, Breslau 14. April 1869. 60 Ebd., Sign. 31801: Acten des Magistrats zu Breslau betreffend die Errichtung eines schlesischen Museums in Breslau, Bd. 1: 1856–1869, Bl. 97: Statuten des Vereins zur Errichtung und Erhaltung eines Museums für schlesische Alterthümer, Breslau 1858.

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der.61 Zu seinem Nachfolger auf dieser Position wurde der schlesische Landeshistoriker und Diplomarchivar Colmar Grünhagen (1828–1911)62 berufen, der seit 1866 zudem eine außerordentliche Professur für Geschichte an der Universität Breslau innehatte. Als Leiter des Breslauer Staatsarchivs (1862–1905) und Mitglied im Verein des Museums für schlesische Altertümer (seit 1868) hatte er den Posten des Präses der Gesellschaft bis 1884 inne. In dieser Funktion nahm er an den Verhandlungen im Zusammenhang mit dem Umzug des Museums Schlesischer Altertümer in das neue Museumsgebäude teil, das 1880 in Breslau errichtet wurde. Mitverantwortlich für die Ausstellung im neuen Gebäude war (zusammen mit Dr. Hermann Luchs, dem ersten Verwalter und Kustos des Museums) der Professor für Kunstgeschichte Alwin Schultz (1838–1909).63 Schultz hatte Archäologie und Germanistik studiert, war 1864 promoviert worden und hatte sich 1866 als erster Kandidat an der Universität Breslau im Fach Kunstgeschichte habilitiert;64 1872 wurde er zum außerordentlichen Professor dieser Disziplin berufen. Er war Mitglied im Vorstand des Vereins des Museums für Schlesische Altertümer (1875–1882) und 1876 einer derjenigen Kommissare, die für Anschaffungen für das Schlesische Museum für bildende ­Künste zuständig waren. Für die Ausstellung im neuen Gebäude des Museums für Schlesische Altertümer arrangierte er die bürgerliche Abteilung, die im großen Pfeilersaal eingerichtet wurde. Dort wurden typisch bürgerliche Exponate und Haushaltsgegenstände präsentiert, die auf traditionelle Art nach Gattungen angeordnet waren (Kleidung, Schmuck, Keramik, Glas, Metallerzeugnisse, Schlösser, Musikinstrumente, Gerichtsobjekte, Maße). Ein Teil der Objekte aus dem 16. bis 17. Jahrhundert wurde später ausgelagert und im sogenannten Renaissance-Zimmer neu angeordnet.65 1882 ging Schultz nach Prag, wo er bis 1903 als ordentlicher Professor an der Universität lehrte.66 Im Jahr 1884 wurde der Mediziner Wilhelm Grempler (1826–1907), der sich auch auf dem Gebiet der Archäologie betätigte und 1889 seinen Arztberuf zugunsten der Forschung und diverser Forschungsreisen durch Europa, Asien und Afrika aufgegeben 61 Łukaszewicz (Hg.): Muzea sztuki, 219 (zu Göppert). 62 ����������������������������������������������������������������������������������������� Unter dem auf Anweisung des Rektors Richard Roepell vom 17. März 1884 ausgefüllten Fragebogen schrieb Grünhagen am 2. Juli 1888 dazu: „Nachträglich berichte ich noch, daß ich durch Allerhöchstes Patent vom 8 Dec 1885 den Charakter als Geheimer Archivrath erhalten habe.“ Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Personalakten wissenschaftlicher Mitarbeiter, Sign. S 220, 174 (Colmar Grünhagen), 2. 63 Luchs, Hermann: Zur Geschichte des Museums schlesischer Altertümer in Breslau in dem ersten Vierteljahrhundert seines Bestehens (1858–1883). In: ders./Salzmann, M[ax]: Die Martinikirche in Breslau und das von Rechenbergsche Altarwerk in Klitschdorf (Kr. Bunzlau). Festschrift zu dem 25jährigen Jubiläum des Museums schlesischer Altertümer. Breslau 1883, 19f. 64 Störtkuhl, Beate: Die Kunstgeschichte an der Breslauer Universität und ihre Dozenten bis 1945. In: Hałub/Mańko-Matysiak (Hg.): Śląska Republika Uczonych, Bd. 7, 635–672, hier 637. 65 Łukaszewicz, Piotr: Muzeum Starożytności Śląskich/Museum Schlesischer Altertümer. In: ders. (Hg.): Muzea sztuki, 51–64, hier 60–62; Kalesse, Eugen: Führer durch die Sammlungen des Museums schlesischer Altertümer in Breslau. Breslau 1883. 66 Łukaszewicz (Hg.): Muzea sztuki, 235 (zu Schultz).

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Abb. 7: Teilnehmer der 76. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, die 1904 in Breslau stattfand, während einer Exkursion nach Jordansmühl (Fotografie aus der Sammlung des Breslauer Stadtmuseums). Bildnachweis: Muzeum Miejskie Wrocławia, Oddział Muzeum Archeologiczne, nr. inw. 11238.

hatte, zum Präses des Vereins des Museums für Schlesische Altertümer ernannt. Er war einer der maßgeblichen Begründer der prähistorischen Abteilung dieses Hauses und anschließend des Schlesischen Museums für Kunstgewerbe und Altertümer. Grempler verstärkte die interdisziplinäre Forschung im Museum, wie die 76. Versammlung der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte im September 1904 in Breslau und die dabei organisierte Besichtigung des jungsteinzeitlichen Gräberfeldes in ­Jordansmühl belegen. Die in Breslau gesammelten archäologischen Artefakte verdankten ihre Bekanntheit Gremplers wissenschaftlicher Kompetenz. Unter anderem war er der ­Autor mehrerer Veröffentlichungen zum sogenannten Fund von Sackrau (1886/87), der dem Museum von Heinrich von Korn (1829–1907) übergeben und von Grempler anschließend wissenschaftlich untersucht worden war. In Anerkennung dieser Verdienste wurde ihm 1899 von der Universität Breslau die Ehrendoktorwürde verliehen.67 Der letzte Verwalter des Museums Schlesischer Altertümer (1892–1898) war Hans Seger (1846–1943), Archäologe und Kunsthistoriker, der sich 1907 an der Universität Breslau im Bereich der schlesischen Urgeschichte habilitiert hatte und dort auch zum Ehrenprofessor ernannt worden war. Seit 1890 arbeitete er im Museum Schlesischer 67 Ders.: Muzeum Starożytności Śląskich, 62; ders. (Hg.): Muzea sztuki, 219f. (zu Grempler).

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Altertümer, zunächst als Assistent, seit 1892 dann als Kustos und Leiter. Als 1899 das Schlesische Museum für Kunstgewerbe und Altertümer entstand, in dessen Sammlungen die Exponate aus den bis dahin von Seger geleiteten Einrichtungen übernommen wurden, bestellte man ihn in Anerkennung seiner Verdienste zum stellvertretenden Direktor und zum Leiter sowohl der Abteilung für Vorgeschichte und Kulturgeschichte als auch des Münzkabinetts.68 Abb. 8: Hans Seger (1846–1943), Fotografie aus der Sammlung des Breslauer Universitätsarchivs. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S/170/38-03.

Während Segers Amtszeit als Museumsleiter fungierte ein anderer Professor, Johann Karl Emil Roehl (1848–1915), als Kustos der Siegelsammlung.69 Von Roehl, der in den Jahren 1895 bis 1915 Direktor der Kaiserin-Viktoria-Augusta-Schule für Mädchen (genannt „Viktoria-Schule“) war, stammen zwei Veröffentlichungen, die auf den Beständen eben dieser Sammlung fußten: zu den Siegeln und Staatswappen Breslaus70 sowie zu den Trachten schlesischer Fürstinnen im Mittelalter.71 Obwohl sich Seger hauptsächlich für schlesische Archäologie interessierte, setzte er als Museumsleiter die 68 Demidziuk, Krzysztof: Hans Seger i Martin Jahn – twórcy śląskiej szkoły archeologicznej. In: Harasimowicz (Hg.): Księga Pamiątkowa, Bd. 4, 441–452, hier 443f.; Łukaszewicz (Hg.): Muzea sztuki, 236 (zu Seger). 69 Seger, Hans: Geschichte des ehemaligen Museums schlesischer Altertümer. In: Schlesiens Vorzeit im Bild und Schrift N.F. 1 (1900) 1–24, hier 24. Vgl. auch die einzelnen Ausgaben vom Jahresbericht über die Viktoria-Schule zu Breslau aus den Jahren 1895 bis 1915. 70 Roehl, Emil: Siegel und Wappen der Stadt Breslau. Breslau 1900. 71 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Die Tracht der schlesischen Fürstinnen des 13. und 14. Jahrhunderts auf Grund ihrer Siegel. Breslau 1895.

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auf das Handwerk ausgerichtete Anschaffungspolitik seiner Vorgänger fort. Die Sammlung wurde systematisch um Textilien, Stickereien, Keramik, Glas und Werke der Goldschmiedekunst erweitert – wobei die Anzahl der Exponate so schnell wuchs, dass in den letzten Jahren des Bestehens dieser Einrichtung außerhalb des Hauptgebäudes zusätzliche Räume angemietet werden mussten.72

VI. Das Schlesische Museum für Kunstgewerbe und Altertümer Erster Direktor des 1899 gegründeten Museums war Dr. Karl Masner (1858–1936), der seit 1885 Kustos des Österreichischen Museums für Kunst und Gewerbe in Wien gewesen war. Zum stellvertretenden Direktor wurde Seger bestellt, der bereits 1897 anhand von Analysen der in ähnlichen Einrichtungen in Hamburg und Berlin gemachten Erfahrungen das Programm des neuen Hauses zusammengestellt hatte.73 Das ­Konzept Segers, die Sammlung im Bereich des historischen Kunsthandwerks stärker international auszurichten, wurde von Masner mit der Modifizierung übernommen, den Schwerpunkt mehr auf zeitgenössische Produkte zu legen. In seinem Museum förderte er das alte und zeitgenössische Kunstgewerbe von internationaler Bedeutung und ließ Ausstellungen lokaler Erzeugnisse erarbeiten.74 Er popularisierte das Wissen über schlesisches Kunsthandwerk in zahlreichen Veröffentlichungen und wurde in Anerkennung seiner vielfältigen Verdienste zum Ehrensenator der Universität Breslau ernannt.75 Seit 1901 war zusätzlich auch der Kunsthistoriker Erwin Hintze (1876–1931), der für seine Leistungen bei der Veranstaltung der Jahrhundertausstellung in Breslau im Jahr 1913 zum Professor ernannt wurde, für das Museum tätig.76

VII. Das Schlesische Museum der bildenden Künste Der bereits mehrfach erwähnte Professor Göppert spielte auch eine bedeutende Rolle bei der Entstehung des Schlesischen Provinzial-Museums der bildenden Künste in Breslau, dessen Leiter er von 1869 bis 1871 war.77 Die Leitung des neuen Museums übernahm 1878 dann der Berliner Maler Albert Berg (1825–1884). Unterstützt wurde er durch ein aus wissenschaftlichen Autoritäten bestehendes Gremium, das bereits 1876 berufen worden war, um neue Ankäufe zu koordinieren. Die Mitgliedern dieses Rates – 72 Łukaszewicz: Muzeum Starożytności Śląskich, 62–64. 73 Seger, Hans: Die Einrichtung kunstgewerblicher Museen. Breslau 1897. 74 ������������������������������������������������������������������������������������������� Łukaszewicz, Piotr: Śląskie Muzeum Przemysłu Artystycznego i Starożytności/Schlesisches Museum für Kunstgewerbe und Altertümer. In: ders. (Hg.): Muzea sztuki, 97–122, hier 99. 75 Ders. (Hg.): Muzea sztuki, 228 (zu Masner). 76 Ebd., 221 (zu Hintze). 77 Ebd., 219 (zu Göppert).

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unter ihnen befanden sich der Geschichtsprofessor Jacob Caro (1836–1904) sowie der Kunsthistoriker Alwin Schultz – ließen bei ihren Entscheidungen das Kunstgewerbe allerdings völlig außer Acht;78 sie konzentrierten sich zur Gänze auf den Ausbau der Sammlungen von Bildern und Skulpturen. Die Begründer des neuen Breslauer Museums sahen ihre Ziele hauptsächlich in den Bereichen Bildung und Ästhetik, womit das Profil der Sammlung rasch über die Geschichte der Region hinausreichte. Es sollte dem Anspruch gerecht werden, in Breslau eine Sammlung zeitgenössischer Kunst zu begründen. Diesem Ziel entsprach auch die Anschaffungspolitik: Die Bilder wurden direkt bei den Künstlern bestellt, zudem kaufte man Kopien von Meisterwerken europäischer Kunst an und stellte sie zu Lehrzwecken aus. Bedeutende Leistungen im Bereich der Lehre konnte Alwin Schultz vorweisen, der Foto- und Lichtdruckreproduktionen von Kunstwerken bestellte und diese im sogenannten Studiensaal, der die Funktion eines Leseraums in der Museumsbibliothek erfüllte, aufbewahrte. Die neue ikonographische Sammlung erreichte einen Umfang von nicht weniger als 10.000 Exponaten.79 Hierzu dürfte ursprünglich auch die bis heute erhalten gebliebene Sammlung von Glas-Diapositiven der Universität Breslau gehört haben, die in der Bibliothek im Institut für Kunstgeschichte aufbewahrt wird. Die Museumsbibliothek war dagegen gut ausgestattet, was im Wesentlichen dem bereits erwähnten Professor Caro zu verdanken war, der 1876 zahlreiche Werke zur Geschichte der bildenden Künste und des Kunsthandwerks angeschafft hatte.80 Den ­ersten Katalog der Museumsbibliothek erstellte der Professor für Kunstgeschichte Robert Becker (1854–1932), der die Museumsleitung gleich zweimal interimistisch innehatte, als das Amt des Direktors nach Bergs Tod 1884 und dann noch einmal 1918 nach der Pensionierung von dessen Nachfolger, dem Berliner Kunsthistoriker Julius Janitsch (1846–1921), vakant war. Wie negativ sich das Fehlen einer anerkannten Autorität auf die Entwicklung eines Museums auswirken kann, zeigt die Tätigkeit des Museumsdirektors Janitsch seit 1885. Er folgte dem Prinzip des Mittelwegs, indem er das Profil in Richtung offizieller Kunst (zum Beispiel des akademischen Realismus) verschob, damit aber in Kauf nahm, dass die Ausstellungen angesichts der begrenzten finanziellen Mittel des Museums einen provinziellen Anstrich erhielten. Dass eine solche Strategie im Museumswesen bereits damals als anachronistisch wahrgenommen wurde, bestätigen zeitgenössische Presseberichte, die das Prinzip der Vermeidung von Extremen bei Kunstwerkausstellungen sowie eine fehlende historische und ästhetische Struktur in den Ausstellungsräumen kritisierten.81 78 Schultz, Alwin: Das Schlesische Museum der bildenden Künste. In: Breslauer Zeitung, Nr. 311 vom 7. Juli 1880, 2–3, hier 2. 79 ������������������������������������������������������������������������������������������ Ebd., 3; Łukaszewicz, Piotr: Śląskie Muzeum Sztuk Pięknych/Schlesisches Museum der bildenden Künste. In: ders. (Hg.): Muzea sztuki, 73–94, hier 76f. 80 Łukaszewicz: Śląskie Muzeum Sztuk Pięknych, 77. 81 Muther, Richard: Das Museum. In: Die Eule. Schlesische Wochenschrift für Kunst und Leben 1/1 (1900) 3–10; Łukaszewicz: Śląskie Muzeum Sztuk Pięknych, 80f.

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VIII. Das Diözesanmuseum Der Gründung des Erzbischöflichen Diözesanmuseums im Jahr 1898 war eine vom damaligen Bischof Kardinal Georg Kopp (1837–1914) angeordnete Bestandsaufnahme der Kirchenausstattung innerhalb der Grenzen der Breslauer Diözese vorausgegangen. Zum ersten Direktor der neuen Einrichtung wurde der Historiker Dr. Joseph Jungnitz (1844–1918) ernannt, der sich mit schlesischer Kirchengeschichte beschäftigte und zugleich ein ausgewiesener Kunstexperte war.82 Jungnitz gilt als derjenige, der das neue Museum organisatorisch auf vorbildliche Art und Weise aufbaute, indem er es auch für die wissenschaftliche Forschung öffnete. Er persönlich traf die Auswahl der aus den einzelnen schlesischen Pfarreien zur Verfügung zu stellenden Objekte. Die von ihm konzipierte erste Ausstellung wurde 1903 feierlich eröffnet. Zu diesem Anlass publizierte er einen kleinen Museumsführer zu den verschiedenen Sammlungen.83 Jungnitz, der in zahlreichen wissenschaftlichen Vereinen und Gesellschaften engagiert war und weit über die kirchenhistorischen Kreise Schlesiens hinaus Anerkennung fand, erhielt 1911 die Ehrendoktorwürde der Universität Breslau.84

IX. Zusammenfassung An der Spitze des Breslauer Universitätsmuseums stand vor dem Ersten Weltkrieg stets ein Professor für klassische Philologie. Diese Praxis wurde durchgehalten, obwohl man schon nach Büschings Tod 1829 an der Universität Breslau eigentlich einen Archäologen hatte anstellen wollen, der dessen Werk fortsetzen würde. Als Kandidaten wurden der damals bereits prominente Archäologe Eduard Gerhard (1795–1867) sowie der Experte auf dem Feld antiker Keramik Theodor Panofek (1800–1858) genannt – das Amt erhielt stattdessen aber der klassische Philologe Passow. Auch 1858 wollte die Museumsleitung aus wissenschaftlichen und didaktischen Gründen einen anerkannten Archäologen auf dem Posten des Museumsleiters haben, das Preußische Kultusministerium indes lehnte eine solche Besetzung aus finanziellen Gründen ab.85 1898, nach Roßbachs Tod, brachte die Universität mit Carl Robert (1850–1922) erneut einen Archäologen als Nachfolger ins Spiel. Während der Gespräche im Kultusministerium äußerte Robert jedoch zu hohe finanzielle Erwartungen, so dass man sich letztlich zur Einstellung Richard Foersters entschloss, der von seiner akademischen Ausbildung her zwar klassischer Philologe war, in seine Arbeit jedoch auch Methoden und Erkenntnisse der Archäologie und der Kunstgeschichte mit einfließen ließ.86 82 Pater, Józef: Muzeum Archidiecezjalne we Wrocławiu/Erzbischöfliches Diözesanmuseum. In: Łukaszewicz (Hg.): Muzea sztuki, 125–138, hier 126. 83 Ebd., 128. 84 Łukaszewicz (Hg.): Muzea sztuki, 223 (zu Jungnitz). 85 Kinne: Classical Archeology, 273, 279. 86 Ebd., 283.

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Hochschullehrer hatten leitende Positionen auch an anderen Universitätsmuseen inne – und an der Spitze der naturwissenschaftlichen Museen sogar ein faktisches Monopol, da hier die Inhaber von Leitungsfunktionen stets aus der Professorenschaft rekrutiert wurden. Dem Universitätsmuseum stand stets derjenige Lehrstuhlinhaber oder Institutsleiter vor, dessen Fach beziehungsweise Forschungsschwerpunkt entsprechend einschlägig war, was umgekehrt Einfluss auf die Zugänglichkeit der Sammlung und ihren Einsatz im Rahmen der akademischen Lehre hatte. Die Professoren auf den leitenden Positionen an den Breslauer Museen waren zudem oft Mitglieder in wissenschaftlich-kulturellen und politischen Gesellschaften und Vereinen. Sie bildeten damit ein Netzwerk, das interne Kontakte sowie den Austausch von Wissen und Erfahrungen erleichterte und auch beim Aufbau gesellschaftlicher Kontakte dienlich war. Als Glieder dieses Netzwerks hatten sie jenseits ihrer eigentlichen Dienstgeschäfte die Möglichkeit, zusätzlich individuellen Neigungen und Interessen nachzugehen. Als Beispiel sei hier Göppert genannt, der viele Jahre lang Direktor des Botanischen Gartens und des Botanischen Museums war, an der Spitze der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur stand und die Gründung des Schlesischen Museums für bildende Künste maßgeblich unterstützte. Professoren, die sich überdies politisch engagierten, gehörten meist dem gemäßigten Lager an. Als Beispiel sei hier der liberal-konservativ gesinnte Ambrosch zu nennen, der 1848 als Vertreter des Wahlbezirks Ohlau in die Frankfurter Nationalversammlung gewählt wurde. Zum Lager der radikalen Demokraten zählte lediglich der Botaniker Nees von Esenbeck.87 Was die landsmannschaftliche Herkunft angeht, waren gebürtige Schlesier unter den vorstehend genannten Geisteswissenschaftlern häufiger vertreten als unter den Hochschullehrern, die naturwissenschaftliche Museen leiteten. Zu den in Schlesien geborenen Direktoren Breslauer Museen gehörten Seger (Neurode), Göppert (Sprottau), Wagner (Schlawa, Kreis Glogau) sowie der in Görlitz, also in der 1815 zu Schlesien gekommenen Oberlausitz, geborene Foerster. Aus der Metropole Berlin wiederum stammten mit Büsching, Ambrosch und Klaatsch gleich drei Gelehrte, die an die Spitze schlesischer Museen traten. Vier Professoren – Büsching, Passow, Ambrosch, Roßbach – versahen die Leitung des Königlichen Museums für Kunst und Altertümer beziehungsweise später des Archäologischen Museums an der Universität Breslau bis zu ihrem Tod, während Haase und Foerster erst nach dem Ende ihrer Dienstzeit starben. Ebenfalls bis zu ihrem Lebensende wirkten Göppert, Gravenhorst, Otto, Barkow, Grube und Anton Friedrich Schneider als Leiter der naturwissenschaftlichen Sammlungen der Universität. Lediglich eine Etappe in ihrer wissenschaftlichen Karriere stellte Breslau indes für Ritschl, Hoffman von Fallersleben, Raumer, Treviranus, Chun, Kükenthal, Thilenius und Klaatsch dar. Die genannten Museumsleiter entwickelten das Profil ihrer Sammlungen ganz dem Zeitgeist entsprechend. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das deutsche 87 Pater, Mieczysław: Historia Uniwersytetu Wrocławskiego do roku 1918. Wrocław 1997, 237.

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Nationalbewusstsein ebenso hervorgehoben wie die regionale Identität.88 Als Beispiel kann hierfür die von Büsching konzipierte und 1815 eröffnete Gemäldegalerie an der Universität dienen. Die höchste Wertschätzung unter den gezeigten Bildern genossen zum einen die mittelalterliche Tafelmalerei aus der „altdeutschen Schule“, zum anderen die Werke des schlesischen Barockmeisters Michael Leopold Willmann (1630–1706). In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts indes ist eine Professionalisierung und Profilierung der genannten Sammlungen zu erkennen. Diese Tendenz zeigt sich vor allem in den neu eröffneten Museen, die ihre Sammlungen stärker auf spezifische Genres hin begrenzten – auf archäologische Artefakte (Archäologisches Museum an der Universität Breslau), auf Kunstgewerbe (Schlesisches Museum für Kunstgewerbe und Altertümer) oder auf Kunst (Schlesisches Museum der bildenden Künste). Die hier festzustellende Verwissenschaftlichung ermöglichte es den Breslauer Museen, am internationalen Kultur- und Forschungsdiskurs ebenbürtig teilzunehmen.

88 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Diese Tendenz lässt sich über Schlesien und auch über Deutschland hinaus feststellen. Vgl. Pomian, Krzysztof: Muzea i narody w Europie Środkowej przed pierwszą wojną światową. Warszawa 2016.

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Hof- und Dynastiegeschichtsschreibung in Schlesien: Rudolf Graf Stillfried-Alcántara (1804–1882) I. Einführung Im Mittelpunkt historiographischer Studien zum 19. Jahrhundert steht in aller Regel die universitäre, und das heißt zugleich die bürgerliche Geschichtswissenschaft.1 Rudolf Graf Stillfried-Alcántara stellt in diesem Zusammenhang bereits durch seine Herkunft und seinen Werdegang eine Besonderheit dar, unabhängig davon, dass auch er zahlreiche Verbindungen zur Universität Breslau selbst sowie zu einzelnen in der Odermetropole wirkenden Professoren besaß. Stillfrieds im weiteren Sinn historische Werke sind vor allem in das Genre der Hof- und Dynastiegeschichtsschreibung einzuordnen. Aufgrund seiner genealogischen Arbeiten zu den Hohenzollern wurde er von Alexander von Humboldt scherzhaft als „Columbus von Hohenzollern“ bezeichnet.2 Rudolf Maria Bernhard von Stillfried-Rattonitz wurde als viertes Kind des schlesischen Gutsbesitzers Karl Maria Ignaz Freiherr von Stillfried-Rattonitz und dessen Frau Theresia, einer geborenen von Rottenberg-Endersdorf, am 14. August 1804 im schlesischen Hirschberg geboren und katholisch getauft. Später übte er vielfältige Tätigkeiten im Rahmen der Herrschaftsrepräsentation der Hohenzollern, der dynastischen Erinnerung und des monarchischen Zeremoniells aus. 1834 wurde Stillfried zum königlichen Kammerherrn ernannt, so dass er den Kronprinzen Friedrich Wilhelm fortan auf zahlreichen Reisen begleitete. In dieser Zeit wurde er mit der Herausgabe repräsentativer Werke zur Geschichte des preußischen Königshauses beauftragt. Die Thronbesteigung des Kronprinzen als Friedrich Wilhelm IV. im Herbst 1840 begleitete Stillfried als höfischer Zeremonienmeister; 1853 wurde er zum ständigen Oberzeremonienmeister ernannt. Seit 1855 führte er zudem den Vorsitz des Heroldsamts in Berlin, einer Behörde, die für sämtliche Adelsangelegenheiten sowie für Rang- und Wappenfragen zuständig war. Ein Jahr später wurde Stillfried zum leitenden Direktor des neu eingerichteten Kö1 Blanke, Horst Walter: Historiker als Beruf. Die Herausbildung des Karrieremusters „Geschichtswissenschaftler“ an den deutschen Universitäten von der Aufklärung bis zum klassischen Historismus. In: Jeismann, Karl Ernst (Hg.): Bildung, Staat, Gesellschaft im 19. Jahrhundert. Mobilisierung und Disziplinierung. Stuttgart 1989 (Nassauer Gespräche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft 2), 243–260; ders./Rüsen, Jörn (Hg.): Von der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen Denkens. Paderborn u.a. 1984 (Historisch-politische Diskurse 1); Schleier, Hans: Geschichte der Geschichtswissenschaft. Grundlinien der bürgerlichen deutschen Geschichtsschreibung und Geschichtstheorien vor 1945. Potsdam 21988 [11983]. 2 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Zit. nach Feldhahn, Ulrich: Der „Columbus von Hohenzollern“: Rudolf Graf von Stillfried-Alcántara (1804–1882). In: Hohenzollerische Heimat 57 (2007) 37–38, hier 37.

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niglichen Hausarchivs ernannt, das 1848 schrittweise aus dem Geheimen Staats- und Kabinettsarchiv ausgesondert worden war. Alle diese Ämter bekleidete er zur vollen Zufriedenheit des preußischen Königshauses. Dies lassen die zahlreichen Ehrungen erkennen, beispielsweise die Verleihung des Grafendiploms im Jahr 1861, dies wird aber auch daran deutlich, dass Stillfried seine Ämter unter Wilhelm I. weiterführte und wiederholte Gesuche um Entlassung in den 1860er Jahren kurzerhand abgelehnt wurden.3 Um die historiographischen Werke von Stillfried forschungsgeschichtlich zu verorten, soll im Folgenden zunächst ein kurzer Forschungs- und Quellenüberblick gegeben werden. Ihm folgen einige generelle Bemerkungen zur Entwicklung der Hof- und Dynastiegeschichte. Im Anschluss werden der Werdegang Stillfrieds und dessen personelle sowie institutionelle Kontakte näher vorgestellt.

II. Forschungs- und Quellenüberblick Die jüngere kulturwissenschaftlich geprägte Forschung hat sich zwar vermehrt mit Fragen des monarchischen Zeremoniells, der dynastischen Erinnerungskultur und architektonischen Herrschaftsrepräsentation beschäftigt, die verantwortlichen Personen im Hintergrund, die Zeremonienmeister und höfischen Beamten stehen darin jedoch kaum im Fokus. Eine systematische Auseinandersetzung mit dem Wirken Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras steht noch aus. Die Forschung würdigte bisher vor allem sein Handeln in Bezug auf den Wiederaufbau der Burg Hohenzollern in Hechingen.4 Dass der Auftrag, die Leitung dieses Projekts zu übernehmen, Stillfried selbst viel bedeutete, zeigt die Auflistung des Wiederaufbaus der Stammburg der Hohenzollern an erster Stelle in der Übersicht seiner königlichen Aufträge in einem von ihm verfassten familiengeschichtlichen Werk.5 Das Kapitel, das er seiner eigenen Person in dieser Studie widmete, ist vor allem für die einzelnen Stationen seines Werdegangs und sein ­Selbstverständnis aufschlussreich. Die insgesamt 31 überlieferten Tagebücher Stillfrieds bilden ein weiteres wichtiges Quellenkonvolut.6 Der erste Band enthält retrospektive Erläuterungen seiner Jugendund Studienzeit; die folgenden Bände umfassen zumeist tägliche Einträge zu den Jahren 1849 bis 1882 (das Tagebuch des Jahres 1857 ist nicht überliefert). Das Führen der Tagebücher diente Stillfried nicht nur zur Selbstreflexion, er maß den Diarien vielmehr 3 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Gehrke, Roland: Rudolf von Stillfried-Alcántara (1804–1882). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 11. Insingen 2012, 333–347. 4 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Bothe, Rolf: Burg Hohenzollern. Von der mittelalterlichen Burg zum nationaldynastischen Denkmal im 19. Jahrhundert. Berlin 1979. 5 Stillfried, Rudolf: Geschichtliche Nachrichten vom Geschlechte Stillfried von Rattonitz, Bd. 1: Geschichte. Berlin 1870, 404. 6 Eine historisch-kritische Edition der Tagebücher wird gegenwärtig an der Universität Stuttgart unter der Leitung von Joachim Bahlcke und Roland Gehrke vorbereitet.

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Abb. 1: Adolph Menzels Studie von Rudolf Graf Stillfried-Alcántara zum Gemälde „Krönung Wilhelms I. in Königsberg“ aus dem Jahr 1863 (Bleistiftzeichnung, aquarelliert). Bildnachweis: SZ Menzel Kat. 996 © Kupferstichkabinett. Staatliche Museen zu Berlin.

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einen historischen Quellenwert zu und informierte die Öffentlichkeit über deren ­Existenz und Inhalte: „Stillfried’s seltene Briefsammlung, seine Reisemappen und Tagebücher weisen durch einen Zeitraum von vierzig Jahren eine lange Reihe der interessantesten Namen auf, mit deren Trägern er in engeren, theilweise sehr intimen Beziehungen gestanden hat.“7 Dass der Autor am Ende nur einmal, 1870, kurze Ausschnitte der in den Tagebüchern in Abschrift überlieferten Korrespondenz mit Fürst Karl Anton von Hohenzollern-Sigmaringen und König Friedrich Wilhelm IV. veröffentlichte, ist gleichwohl nachzuvollziehen. Seine Publikation begründete Stillfried damit, dass die Mitteilungen „ein bedeutendes historisches Interesse beanspruchen“ dürften.8 Darüber hinaus wies er seine Leserschaft darauf hin, dass die Sammlungen und Tagebücher „überraschendste Lichtblicke auf seine vielverschlungenen Lebenspfade“ werfen könnten.9 Die Vollendung der historischen Studien zu seiner Familiengeschichte und zur Geschichte der Hohenzollern war für Stillfried eine Lebensaufgabe. Mit ihnen verfolgte er das Ziel, einen eigenen Platz in der Geschichte einzunehmen. Die Analyse von Stillfrieds Tagebüchern und der im Druck erschienenen Werke vermag Aufschluss zu geben über Stillfrieds Geschichtsverständnis und seine Stellung zur Historikerzunft insgesamt sowie zu einzelnen ihrer Vertreter. Die Akten aus verschiedenen Registraturen im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin sowie der ebenfalls dort verwahrte Teilnachlass stellen ein Korrektiv für diese subjektiv geprägten Quellengattungen dar.10

III. Bemerkungen zur Hof- und Dynastiegeschichte Der Hof war nicht nur während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, sondern unverändert auch im 19. Jahrhundert ein Produktionsort von Geschichtsschreibung und historischer Repräsentation. Die Geschichtsschreibung war allerdings nach 1800 den allgemein bekannten Professionalisierungsprozessen ausgesetzt, die sich auf verschiedenen Ebenen vollzogen. Das zeigt beispielsweise die in Berlin im Jahr 1810 erfolgte Ernennung Barthold Georg Niebuhrs zum Hofhistoriographen.11 Die Aufgabe des Hof17 18 19 10

Stillfried: Geschichtliche Nachrichten, Bd. 1, 413. Ebd. Ebd. Die vorliegende Studie stellt eine Vorarbeit dar für ein laufendes Dissertationsprojekt, das den Arbeitstitel „Zwischen dynastischer Traditionsstiftung, Adelsinteressen und historischer Wissenschaft. Geschichtsverständnis und Geschichtsschreibung bei Rudolf Graf Stillfried-Alcántara (1804–1882)“ trägt. 11 Hansen, Reimer: Die wissenschaftsgeschichtlichen Zusammenhänge der Entstehung und der Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft. In: Hansen, Reimer/Ribbe, Wolfgang (Hg.): Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persönlichkeiten und Institutionen. Berlin/New York 1992 (Veröffentlichungen der historischen Kommission zu Berlin 82), 3–44, hier 15f.

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historiographen hatte in der Frühen Neuzeit darin bestanden, „den Ruhm eines Fürsten oder einer Dynastie [...] ins beste Licht zu setzen, [...] um ihre Macht zu legitimieren und in der [...] Öffentlichkeit für ihre Politik zu werben“.12 Zumeist gehörten Hofhistoriker dem Stab fürstlicher Berater an und übten das Amt nur neben anderen Tätigkeiten aus. Eine Häufung unterschiedlicher Ämter war bei diesem Personenkreis nichts Ungewöhnliches.13 Weil sie Zugang zu den zu jener Zeit (mehrheitlich) noch nicht öffentlichen Archiven besaßen, hatten sie eine besondere Vertrauensposition inne. Dieser Aspekt ist für das 19. Jahrhundert unverändert von Bedeutung, da die einzelnen Archive erst langsam einer breiteren Besucherschaft zugänglich gemacht wurden.14 Für Hofhistoriker gibt es kein idealtypisches Laufbahnmuster, zumal Hofgeschichtsschreibung nicht unbedingt an den Hof als Produktionsort gebunden war. Wie genau das Verhältnis des Hofhistorikers zum Hof gestaltet sein musste, ist in der Forschung ein viel diskutiertes Thema.15 Die für einen frühneuzeitlichen Hofhistoriographen genannten Kriterien treffen in ihrer Gesamtheit auf Rudolf Graf Stillfried-Alcántara zu, obgleich er nie die offizielle Bezeichnung eines Hofhistorikers trug. Kaiser Wilhelm I. lehnte in einem eigenhändigen Brief am 8. April 1871 Stillfrieds abermalige Bitte, das Amt des Zeremonienmeisters niederlegen zu dürfen, mit der folgenden Begründung ab: „Ihre Stellung ist kein bloßer Ceremoniendienst, sondern er verlangt geschichtliche Studien m[einer] Vergangenheit und Gegenwart in Übereinstimmung zu bringen, ohne nach vielen Seiten zu verletzen. Zu einer solchen Aufgabe ist nicht ein jeder zu berufen, namentlich nicht ohne Vorbereitung. Da Sie nun Ihre Stellung mit Vorliebe bekleiden, die angedeuteten Studien Ihre Specialität seit langer Zeit bilden; so ist es Ihnen gelungen, unter 2 Regierungen mit Umschiffung mancher Schwierigkeiten sich meines Bruders und meiner Zufriedenheit zu vergewissern, wofür mein Dank Ihnen sooft und heute wiederum ausgesprochen wird.“16 Die Loyalität zum Herrscherhaus hatte für Stillfried oberste Priorität – er verstand sich als „Hofmann“, der seine Aufgaben stets pflichtgetreu erfüllt habe.17 Die amtlichen Historiographen in Preußen führten im 19. Jahrhundert die Titel „Historiograph der brandenburgischen Geschichte“, so etwa Johann David Erdmann 12 Walther, Gerrit: Art. Hofhistoriker. In: Enzyklopädie der Neuzeit 5 (2007) Sp. 485–486. 13 Ebd.; Barclay, Andrew: Amateurs and professionals: British courtier-historians at the late Stuart court. In: Völkel, Markus/Strohmeyer, Arno (Hg.): Historiographie an europäischen Höfen (16.–18. Jahrhundert). Studien zum Hof als Produktionsort von Geschichtsschreibung und historischer Repräsentation. Berlin 2009 (Zeitschrift für Historische Forschung. Beiheft 43), 295–309. 14 Lütteken, Anett: Aufklärung und Historismus. In: Lepper, Marcel/Raulff, Ulrich (Hg.): Handbuch Archiv: Geschichte, Aufgaben, Perspektiven. Stuttgart 2016, 45–56, hier 49–53. 15 Völkel, Markus: Clio bei Hofe. Einleitende Überlegungen zum Hof als Produktionsstätte von Geschichtsschreibung. In: Völkel/Strohmeyer (Hg.): Historiographie an europäischen Höfen, 9–35, hier 22f. 16 Eine Abschrift dieses Briefes teilte Stillfried in seinem Tagebucheintrag vom 31. Dezember 1871 mit. Vgl. Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 23 (1871), Bl. 105b–106a. 17 Stillfried: Geschichtliche Nachrichten, Bd. 1, 410.

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Preuß, oder „Historiograph für den preußischen Staat“ wie Leopold (von) Ranke. Bei der Durchsicht der Titel der Werke dieser Historiker fällt auf, dass sie sich nicht schwerpunktmäßig mit der Hohenzollerndynastie oder der preußisch-brandenburgischen Geschichte beschäftigten; häufig konzentrierten sie sich sogar auf gänzlich andere Forschungsfelder. Aufs Ganze betrachtet war die Position des Staatshistoriographen offenbar für den Wissenschaftler selbst von größerem Nutzen als für die Wissenschaft beziehungsweise für die praktische Politik.18 Stillfrieds historiographische Werke hingegen beziehen sich zu einem Großteil auf die eigentliche Geschichte der Hohenzollerndynastie. Sie müssen daher im Kontext der preußischen Politik und der Selbstwahrnehmung des Herrscherhauses analysiert werden. In gewisser Weise verkörperte der gebürtige Schlesier in mehrfacher Hinsicht noch immer den Hofhistoriographen der Frühen Neuzeit, der „in landesherrlichem Auftrag, mit landesherrlicher Besoldung, mit landesherrlichen Hilfestellungen, an einem landesherrlich vorgegebenen Thema“ arbeitete.19 Wenn er auch nicht für jedes seiner Werke einen förmlichen Auftrag erhielt oder vom Hof entlohnt wurde, so erfreute er sich bei seinen geschichtswissenschaftlichen Projekten und Forschungen von Angehörigen der Hohenzollerndynastie doch breiter Unterstützung, sei es durch Fürsprache im Hintergrund oder direkt durch finanzielle Förderung.

IV. Das historiographische Werk Stillfrieds Das historiographische Gesamtwerk Stillfrieds, der zu zahlreichen Themen und Personen publizierte, lässt sich vereinfacht wie folgt systematisieren: Die frühen geschichtlichen und genealogischen Schriften beschäftigten sich noch vor allem mit Themen der schlesischen Geschichte,20 in den 1830er und 40er Jahren betätigte er sich außerdem 18 Neugebauer, Wolfgang: Die preußischen Staatshistoriographen des 19. und 20. Jahrhunderts. In: ders. (Hg.): Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Berlin 2006 (Forschungen zur Brandenburgischen und Preussischen Geschichte N.F. Beiheft 8), 17–60, hier 56. Die Bedeutung dieser Personen wuchs im 19. Jahrhundert im Zuge der Verwissenschaftlichung des Themenfeldes; die Besetzung wurde auf immer höherer Ebene eingeleitet und entschieden, aber ohne gesteigerte Indienstnahme. 19 Schmid, Alois: Von der Reichsgeschichte zur Dynastiegeschichte. Aspekte und Probleme der Hofhistoriographie Maximilians I. von Bayern. In: Hammerstein, Notker/Walther, Gerrit (Hg.): Späthumanismus. Studien über das Ende einer kulturhistorischen Epoche. Göttingen 2000, 84–112, hier 95. 20 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. exemplarisch Stillfried-Rattonitz, Rudolf von: Geschichtliche und genealogische Nachrichten von dem Geschlechte Sulkowski. In: Allgemeines Archiv für die Geschichtskunde des Preußischen Staates 5 (1831) 97–110; ders.: Einige Nachrichten von dem erloschenen Geschlechte Talkenberg und der Burg Talkenstein in Schlesien. In: Allgemeines Archiv für die Geschichtskunde des Preußischen Staates 6 (1831) 346–356; ders.: Gründliche Berichtigung der älteren Geschichte von Warmbrunn. In: Schlesische Provinzialblätter 94 (1831) 7–21; ders.: Die Burg Schweinhaus und ihre Besitzer. Eine geschichtliche Darstellung. Hirschberg 1833.

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als Herausgeber repräsentativer Werke zur Geschichte der Hohenzollern. Hier sind namentlich die Alterthümer und Kunstdenkmale des erlauchten Hauses Hohenzollern sowie die Monumenta Zollerana21 zu nennen. Zwischen 1844 und 1852 veröffentlichte Stillfried mehrere Schriften zur älteren Geschichte des Hauses Hohenzollern und zu den königlich-preußischen Orden.22 Darüber hinaus widmete er sich der Geschichte mehrerer Adelsfamilien aus Schlesien, die eigene Familiengeschichte eingeschlossen,23 sowie architekturgeschichtlichen und kunsthistorischen Themen.24 Die architekturgeschichtlichen Werke zur Geschichte der Burg Hohenzollern und zum Kloster Heilsbronn stehen in engem Zusammenhang zur Geschichte der Hohenzollerndynastie.25 Die Kunstgeschichte deutete Stillfried als integralen Bestandteil dynastischer Geschichtsschreibung.26 Er sah „Beweisstücke aus allen Gebieten der menschlichen Thätigkeit“ als Quelle an und kritisierte daher eine nach den einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen getrennte Mitteilung dieser geschichtlichen Überreste. Sein mit diesem Werk verbundener Anspruch war es daher, „dem Geschichtsfreund, dem Alterthumsfreunde und dem Kunstfreunde gleiche Theilnahme einzuflössen [zu] suchen; es [das Werk, F. Z.] soll eine Gallerie bilden, in welcher das Auge neben den Abbildungen von Urkunden auch die Abbildungen anderer geschichtlich bedeutungsvoller Alterthümer findet.“27 Stillfrieds Empfangs- und Krönungsbeschreibungen sowie seine Schriften zu ­Fragen der symbolischen Ausgestaltung des neuen Kaisertums müssen vor dem Hintergrund seiner Tätigkeit als Oberzeremonienmeister betrachtet werden. Ein ­Zeremonienmeister beschäftigte sich mit den historischen Grundlagen der Kommunikation am Hof. Aus diesem Grund besteht eine große Nähe zu den Aufgabenbereichen eines Hofhisto21 Ders. (Hg.): Monumenta Zollerana. Quellensammlung zur Geschichte der erlauchten Grafen von Zollern und Burggrafen von Nürnberg. Halle a. d. S. 1843; ders./Maercker, Traugott (Hg.): Monumenta Zollerana. Urkundenbuch zur Geschichte des Hauses Hohenzollern, Bd. 1–8. Berlin 1852–1866; Stillfried-Rattonitz, Rudolph von (Hg.): Alterthümer und Kunstdenkmale des erlauchten Hauses Hohenzollern N.F., Bd. 1–3. Berlin 1859–1867. 22 Vgl. exemplarisch ders.: Genealogische Geschichte der Burggrafen von Nürnberg. Berlin 1845; ders./Maercker, Traugott: Schwaebische Forschung. Erster Bericht über die im Allerhöchsten Auftrage seiner Majestät des Königs von Preussen in den Jahren 1845 und 1846 unternommenen Forschungen zur Aufklärung der älteren Geschichte des erlauchten Hauses Hohenzollern. Berlin 1847 (Hohenzollerische Forschungen 1). 23 Neben der bereits zitierten familiengeschichtlichen Arbeit wurden in dieser Zeit außerdem die folgenden Werke veröffentlicht: Stillfried-Rattonitz, Rudolph: Stammtafel und Beiträge zur älteren Geschichte der Grafen Schaffgotsch. Berlin 1860 (Beiträge zur Geschichte des schlesischen Adels 1); ders. (Hg.): Beiträge zur Geschichte des schlesischen Adels. Berlin 1864. 24 Ders. (Hg.): Albrecht Dürer’s Handzeichnungen im Königlichen Museum zu Berlin:  zum 400jährigen Dürer-Jubiläum. Nürnberg 1871. 25 Ders.: Beschreibung und Geschichte der Burg Hohenzollern, nebst Forschungen über den Urstamm der Grafen von Zollern. Berlin 1870; ders.: Kloster Heilsbronn. Ein Beitrag zu den Hohenzollern-Forschungen. Berlin 1877. 26 Bothe: Burg Hohenzollern, 70. 27 Stillfried-Rattonitz, Rudolf von (Hg.): Alterthümer und Kunstdenkmale des erlauchten Hauses Hohenzollern, Bd. 1. Stuttgart/Tübingen 1838.

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rikers,28 und eben als ein solcher verstand sich Stillfried. In seinem Tagebucheintrag vom 10. März 1876 bezeichnete er sich selbst als „Historiograph des K[öniglichen] Hauses“.29 Seine Tätigkeit als Zeremonienmeister interpretierte Stillfried teilweise im Sinn der Brauchtumspflege. So ließ er beispielsweise Akten über den Ritus des ursprünglichen Festes des Schwarzen Adler-Ordens aus einem Nachlass im Königlich Sächsischen Archiv in Dresden beschaffen und gestaltete auf deren Grundlage die Ordensfeierlichkeiten als erster Ordensbeamter mit dem Titel eines Ordenszeremonienmeisters nach dem Kanzler des Ordens. Anfang des Jahres 1856 wurde er zudem Mitglied der General-Ordens-Kommission. Seither begleitete er in beratender Funktion die Rekonstituierung weiterer Orden.30 Die historischen Studien Stillfrieds sowie seine Tätigkeiten am Hof sind vor ­allem im Zusammenhang dynastischer Traditionsstiftung zu sehen. Viele seiner Werke können daher am ehesten der Dynastiegeschichtsschreibung zugeordnet werden, deren „zentraler Gegenstand [...] das jeweils regierende Herrscherhaus [war], dessen möglichst altes und illustres Herkommen durch Genealogien oder Sukzessionsreihen von königlichen bzw. fürstlichen Amtsträgern bis zu ihren Ursprüngen zurückverfolgt und histor[isch] begründet wurde“.31 Diese Art der Geschichtsschreibung manifestiert sich besonders in den systematischen Quellensammlungen Stillfrieds zur Geschichte der Hohenzollern. Die Dynastiegeschichtsschreibung übernimmt dabei politische Funktionen der Legitimation von Herrschaftsansprüchen sowie der Rechtfertigung politischen Handelns. Nach diesen einleitenden Bemerkungen liegt die Annahme nahe, dass Rudolf Graf Stillfried-Alcántara am Hof der Hohenzollern einen nicht mehr zeitgemäßen Typus des Geschichtsschreibers verkörperte, der an den Professionalisierungsprozessen in der Geschichtswissenschaft seiner Zeit keinerlei Anteil nahm. Eine solche Einschätzung wird ihm jedoch nicht gerecht. Stillfried verstand sich nicht nur als Hofmann, sondern eben auch als Gelehrter. Die gesellschaftlichen Verpflichtungen am Hof, die er durch die verschiedenen Ämter auszufüllen hatte, empfand er teilweise als große Bürde, die ihn davon abhielt, seine eigentlichen, seine genuin wissenschaftlichen Forschungen weiter voranzutreiben. Sicherlich war er sich aber dessen bewusst, dass sein gesellschaftliches Ansehen vor allem durch seine Stellung am Hof konstituiert wurde. Dies hielt ihn jedoch nicht davon ab, sich wiederholt als verhinderten Gelehrten zu stilisieren. So schrieb er über sich selbst in der dritten Person: „Stillfried ist eine lange Reihe von Jahren hindurch genöthigt gewesen, mit grösster Selbstverläugnung seine Zeit geselligen Rücksichten zu opfern, während er ernste wissenschaftliche Arbeiten im Kopfe trug.“32

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Völkel: Clio bei Hofe, 25. Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 28 (1876), Bl. 27a, 10. März 1876. Stillfried: Geschichtliche Nachrichten, Bd. 1, 402f. Studt, Birgit: Art. Dynastiegeschichte. In: Enzyklopädie der Neuzeit 3 (2006) Sp. 11–12. Stillfried: Geschichtliche Nachrichten, Bd. 1, 409.

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V. Werdegang Als Voraussetzung für seine Karriere am Hof in Berlin sah Stillfried zwei Punkte für wesentlich an: seine Kontakte zum Hochadel sowie seine kunsthistorische Kompetenz. Die retrospektiven Erläuterungen seiner Jugend- und Studienzeit in einer Art Chronik im ersten Band seiner Tagebücher33 stellen in diesem Zusammenhang eine wichtige Quelle dar. Stillfried schrieb dort: „Mit dem Jahre 1830 trat eine Wendung in meinem Schicksal ein. Ich gelangte in diejenige Sphäre, die der Adel bedarf, ‚um Carrière‘ zu machen. Freilich war es dabei von wesentlichem Vortheil für mich, daß ich bereits den Ruf eines angehenden Literaten erworben hatte und meinen architectonischen Studien gewisse Kunstanschauungen verdankte, welche in dem aufkeimenden Zeitalter König Friedrich Wilhelm IV Anklang und Verwendung zu finden versprachen.“34 Die Behauptung Stillfrieds, er sei zum damaligen Zeitpunkt bereits als angehender Literat wahrgenommen worden, scheint mit Blick auf die nur kleine Zahl der bis 1830 veröffentlichten Aufsätze und Artikel übertrieben. Unter den frühen Schriften finden sich neben Miszellen zu einzelnen Schlössern in Schlesien Parabeln und Gelegenheitsdichtungen. Die Begegnung mit dem preußischen Thronfolger Friedrich Wilhelm auf Schloss Fischbach in Niederschlesien 1830 gab Stillfrieds Werdegang eine entscheidende Wendung. Hier hatten sich zwei Männer gefunden, die eine Begeisterung für das Zeichnen, die Architektur, das deutsche Mittelalter und die Literatur der Romantik teilten.35 Stillfried ergriff bei jener ersten Begegnung offenbar die Initiative und machte dem Thronfolger den Vorschlag, die bis dahin noch wenig bekannte Geschichte der Hohenzollerndynastie durch ihn erforschen zu lassen.36 Er hatte schon zuvor Ideen zu historiographischen Projekten entwickelt – dies geht unter anderem aus einem Eintrag in seiner Chronik zum Jahr 1829 hervor: Demnach erwog er nach Lektüre eines landeskundlichen Werks zu Österreichisch Schlesien, das der mährische Historiker Christian d’Elvert verfasst hatte, bereits konkrete Pläne zu einem vergleichbaren Werk für Preußisch Schlesien.37 Stillfried hatte eine seiner adeligen Herkunft entsprechende Bildung genossen. Bis ins Alter von 14 Jahren erhielt er Unterricht im Haus seiner Eltern. Von 1809 bis Herbst 1814 war der Hofmeister Franz Nikolaus Klein für die Ausbildung verantwortlich. Nachdem Klein die ältere Schwester Stillfrieds geheiratet hatte, lebte dieser seit Ende 33 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 1 (1804–1848). 34 Ebd., 99b, 1830. 35 �������������������������������������������������������������������������������������������� Barclay, David E.: Anarchie und guter Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie. Berlin 1995, 102. 36 Branig, Hans: Kronprinz Friedrich Wilhelm (IV.) und Rudolph von Stillfried in den Jahren von 1836–1838. In: Heinrich, Gerd/Vogel, Werner (Hg.): Brandenburgische Jahrhunderte. Festgabe für Johannes Schultze zum 90. Geburtstag. Berlin 1971, 189–199, hier 189. 37 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 1 (1804–1848), Bl. 90a, 1829. Welches Werk von d’Elvert hier genau gemeint war, ist nicht nachvollziehbar. Nach Stillfrieds Beschreibung handelte es sich um einen Sammelband, für den er selbst Beiträge verfasst hatte.

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Mai 1818 im Hausstand seiner Schwester und deren Familie in Breslau. Sein Schwager Klein war dort seit 1814 Oberlehrer am Matthias-Gymnasium. Der ebenfalls in Breslau lehrende Professor Johann Wiechota38 habe in ihm, so Stillfried in seinem Tagebuch, die „Liebe zur Mathematik“ geweckt.39 Klein spielte für die weitere Entwicklung Stillfrieds eine wichtige Rolle, in ihm fand er einen Ratgeber, der ihn auch später in seinen ersten Berufsplänen unterstützte und bestärkte. Als Klein im Herbst 1819 als Gymnasialdirektor nach Koblenz versetzt wurde, brachte Karl Stillfried seinen Sohn an die Ritterakademie nach Liegnitz. Dieser wäre zwar lieber mit Klein nach Koblenz gegangen, musste sich aber dem Willen des Vaters beugen. 1820 wurde er an der Ritterakademie wie bereits vor ihm sein Vater, Groß- und Urgroßvater als Pensionär aufgenommen.40 In Liegnitz erhielt Stillfried auch Zeichenunterricht bei dem Porträtmaler und Zeichenlehrer Joseph Dautieux, der zuvor an der Akademie der Bildenden Künste in Berlin tätig gewesen war.41 Das Zeichnen war für Stillfried zeitlebens eine wichtige Ausdrucksform, wovon nicht nur zahlreiche eigene Lithographien in seinen Werken zeugen, sondern auch viele kunstvolle und detaillierte Zeichnungen in seinen Tagebüchern. Wegen einer Erkrankung musste Stillfried 1821 die Ritterakademie verlassen. Nach dem Tod seiner Mutter im Mai 1822 wurde er von seinem Vater erneut zu Klein nach Koblenz geschickt. Zuvor hatte der Vater seinen Sohn wohl das erste Mal nach dessen Berufswunsch gefragt. Stillfried wäre gern Ingenieur geworden, was jedoch nicht die Zustimmung seines Vaters fand.42 In diesem Berufswunsch manifestierten sich die frühen Interessen Stillfrieds: die Mathematik und das Zeichnen. Nach der Abiturprüfung 1824 am Koblenzer Gymnasium und seiner Rückkehr in die Heimat fügte er sich dem Willen seines Vaters abermals und verzichtete auf seine Pläne, in Berlin die Bauakademie zu besuchen. Stattdessen nahm er auf Drängen des Vaters ein Studium der Rechtswissenschaften an der Universität Breslau auf. Stillfried fand nach eigenen Angaben während seiner Studienzeit bei zahlreichen Professorenfamilien eine freundliche Aufnahme. In diesem Zusammenhang nennt er in seinen Tagebüchern die Geschichtsprofessoren Johann Friedrich Ludwig Wachler, Johann Gustav Gottlieb Büsching und Gustav Adolf Harald Stenzel, die eng mit der Institutionalisierung und Ausdifferenzierung des Fachbereichs Geschichte an der Uni Breslau verbunden waren. Alle drei prägten in vielfältiger Weise die Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien zu jener Zeit. Da Stillfried wiederholt Vorlesungen dieser Hochschullehrer hörte, ihre Werke rezipierte und engen Umgang mit ihnen pflegte, dürfte sein eigenes Geschichtsverständnis von ihren Vorstellungen in hohem 38 Johann Wiechota verfasste ein mehrbändiges Mathematiklehrbuch. Vgl. ders.: Erster gründlicher Unterricht in der Rechenkunst, Bd. 1–4. Breslau 1806–1807. 39 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 1 (1804–1848), Bl. 5a. 40 Ebd., Bl. 4b. 41 Pfudel, Ernst (Hg.): Verzeichnis der Leiter, Lehrer, Beamten und Abiturienten der Königlichen Ritterakademie zu Liegnitz von 1811–1908. Liegnitz 1909, 9. 42 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 1 (1804–1848), Bl. 7a.

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Abb. 2: Eigenhändige Zeichnung des Familienwappens mit dem Wappenspruch Rudolf Graf StillfriedAlcántaras „Dulden und nicht dulden“ (kolorierte Tintenzeichnung). Bildnachweis: Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 11 (1859), Bl. 1.

Maße geprägt worden sein. Als ein Schwerpunkt der historischen Forschung an der Universität Breslau in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts kann die landesgeschichtliche Forschung angesehen werden, die sich aus der Territorial- und ­Dynastiegeschichte entwickelt hatte, die sich aber nicht zwingend auf Schlesien konzentrierte.43 Diese Schwerpunktsetzung spielte auch in den späteren historischen Werken Stillfrieds eine bedeutende Rolle. Einfluss auf seine Forschungen hatten darüber hinaus sicherlich auch die zu jener Zeit entstandenen Quellen- und Aktenpublikationen, die unter anderem von Büsching und Stenzel verantwortet wurden. Unter den drei genannten Geschichtsprofessoren ist Stenzel derjenige, zu dem Stillfried die engste, gleichzeitig aber auch konfliktreichste Beziehung hatte. Dieses ambivalente Verhältnis beschrieb Stillfried in seiner Chronik prägnant mit den folgenden Worten: „Ja, der alte Lehrer Professor Stenzel [...]. Er tadelte, wenn er nicht loben 43 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim: Das Historische Seminar der Universität Breslau 1811 bis 1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte [2012/13]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2016 (Forschungen zu Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3), 217–238, hier 234f.

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Abb. 3: „Hirschberger Häuser“ (kolorierte Tintenzeichnung). Bildnachweis: Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 1 (1804–1848), Bl. 25.

konnte. Oft entzweiten wir uns. Die Summe der Kenntnisse, die ich dabei erwarb, hat mir weiterhin viel genutzt und als er nach Jahren starb, war er meiner noch als treuer Freund eingedenk.“44 Die Auseinandersetzungen zwischen Stenzel und Stillfried bezogen sich auf unterschiedliche Auffassungen zur Handhabung von Quellenkritik;45 sie betrafen ferner das Zugangsrecht zum schlesischen Provinzialarchiv, das Stenzel Stillfried im Jahr 1852 verwehrte.46 Warum Stenzel seinem früheren Studenten den Zugang nicht gestatten wollte, ist aus den Quellen nicht ersichtlich; es ist zu vermuten, dass Stenzel in Stillfried einen Konkurrenten sah und daher versuchte, seine Machtposition als Archivar in dieser Situation auszuspielen. Zu den Familienarchiven des Adels, die er während seiner langjährigen Forschungstätigkeit immer wieder aufsuchte, scheint Stillfried ansonsten problemlos Zugang erhalten zu haben. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass ihm jemals der Zugang zu einer solchen Privatsammlung verwehrt geblieben wäre. Für Stillfrieds historische Studien war ein Auftrag, den er 1825 von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, zu jener Zeit Kustos der Breslauer Universitätsbibliothek,47 erhielt, besonders bedeutsam. Hoffmann von Fallersleben war mit den damals im ­Entstehen begriffenen Zitations- und Editionsgrundsätzen der germanistischen Philologie vertraut und hatte an deren Formulierung und Umsetzung selbst großen An44 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 1 (1804–1848), Bl. 118b–119a. 45 Bahlcke, Joachim: Adelige Geschichtspflege. Familienbewusstsein und Wissenschaftsförderung in Schlesien vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege, 407–442, hier 426. 46 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 5 (1852), Bl. 70b, 15. Juni 1852. 47 �������������������������������������������������������������������������������������������� Zu den Aufgaben von Hoffmann von Fallersleben in der Bibliothek vgl. Hałub, Marek: Im schlesischen Mikrokosmos. August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Eine kulturgeschichtliche Studie. Wrocław 2005 (Acta Universitatis Wratislaviensis 2741), 41–61.

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teil.48 Er beauftragte Stillfried damit, in der Bibliothek Graf Christoph Wenzel von Nostitz-Rienecks, die von einem seiner Vorfahren Ende des 17. Jahrhunderts angelegt worden war,49 nach dem Manuskript der „Tochter Salomonis“ zu suchen. Tatsächlich gelang es Stillfried, den gewünschten Text zu finden.50 Diese ersten Recherchen in den Bibliotheken und Gutsarchiven der zumeist aus dem Oderland gebürtigen Adeligen, die ihm oftmals persönlich bekannt waren, waren für Stillfrieds frühe historische Werke prägend. „Die benachbarten Gutsarchive, namentlich das Schaffgotsche zu Hermsdorf unterm Kynast, boten Gelegenheit genug, mich zum Archivar auszubilden. Was ich an Ortschroniken zusammenschrieb, erwarb mir den Beifall Vieler.“51 Es wird deutlich, dass Stillfried sich schon früh als Archivar verstand und sich durchaus selbstbewusst in den Kreisen anderer Archivare und Historiker bewegte, wenngleich sich diese Berufsfelder erst langsam zu differenzieren und zu entwickeln begannen.52 Im Zusammenhang mit Stillfrieds Streben nach Gelehrsamkeit und seinen Recherchen in Bibliotheken und Archiven spielte sein Vater eine wichtige Rolle. Durch ihn erhielt er Zugang zur Bibliothek der Schaffgotsch wie auch zu deren reichem Archiv. Karl Freiherr von Stillfried-Rattonitz war 1812 von seinem Jugendfreund Leopold Gotthard Graf Schaffgotsch mit der Neuordnung der Majoratsbibliothek in Hermsdorf beauftragt worden. In den folgenden Jahren gelang es ihm, die Bibliothek völlig neu zu sortieren und die Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Nutzung der Sammlung damit überhaupt erst zu schaffen.53 Wann immer Rudolf Stillfried neben seinen rechtswissenschaftlichen Studien und der Bewirtschaftung seiner Güter Zeit fand, widmete er sich der Lektüre sowie seinen archivalischen und historischen Studien. Die ersten historischen Beiträge verfasste er Ende der 1820er Jahre. „In emsigstem Fleiß beschloß ich das Jahr 1829. Davon gaben meine ersten Druckschriften und die Beiträge, die ich zu Ledebur’s Archiv, den schlesischen Prov[inzial] Bl[ättern], Aufsess[’] Anzeiger etc. lieferte, Zeugniß.“54 Bei diesen Arbeiten handelte es sich vor allem um Texte, in denen er sich mit der Geschichte schle48 Holzapfel, Otto: Hoffmann von Fallersleben und seine schlesischen Volkslieder (1842). Versuch einer Annäherung. In: Hałub, Marek/Mańko-Matysiak, Anna (Hg.): Śląska republika uczonych – Schlesische Gelehrtenrepublik – Slezská vědecká obec, Bd. 1. Wrocław 2004, 461–478, hier 465. 49 Kubeš, Jiří: Christoph Wenzel Graf von Nostitz (1648–1712). In: Bahlcke (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 11, 185–193, hier 188. �� Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 1 (1804–1848), Bl. 13b. 51 Ebd., Bl. 118b; Bahlcke: Adelige Geschichtspflege, 425. 52 ������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. exemplarisch Torstendahl, Rolf: Historical Professionalism. A Changing Product of Communities within the Discipline. In: Storia della Storiografia 56 (2009) 3–26; Lepper/Raulff (Hg.): Handbuch Archiv, 51f. 53 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim: Die „Fürsorge der Väter für ihr Geschlecht und den Glanz ihres Hauses“. Archiv, Bibliothek und Erinnerungskultur der Schaffgotsch in Schlesien vom Spätmittelalter bis zum 20. Jahrhundert. In: Keller, Katrin/Maťa, Petr/Scheutz, Martin (Hg.): Adel und Religion in der frühneuzeitlichen Habsburgermonarchie. Wien 2017 (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 68), 339–364; Stillfried: Geschichtliche Nachrichten, 362. 54 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 1 (1804–1848), Bl. 98a.

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sischer Schlösser befasst hatte.55 Zu den Herausgebern Leopold von Ledebur und Hans von und zu Aufseß entwickelte sich im Lauf der Zeit eine enge Freundschaft.56 Im November 1861 hielt Stillfried in seinem Tagebuch fest, dass die Universität ­Breslau ihm die Verleihung des Doktorgrades in Aussicht gestellt habe.57 Eine Promotion an seiner früheren Alma Mater erfolgte tatsächlich jedoch nie. Stattdessen erhielt er am 19. Januar 1864 für seine Forschungen zur Fürstengruft in der Schlosskirche zu Stettin die philosophische Ehrendoktorwürde der Universität Greifswald.58 Die von ihm erstellte Dokumentation der Vorgänge um die Bergung der Gruft seien vom preußischen König an das Berliner Kultusministerium und von diesem weiter an die Universität Greifswald gesandt worden. Daraufhin sei er, so Stillfried, in „Anerkennung des bewährten Interesse für die Geschichte der ehemaligen Landesherren und Gründer der Universität“, „honoris causa zum Doctor philosophiae promovirt“ worden.59 Die ehrenvolle Auszeichnung war für Stillfried, dem die äußere Anerkennung seiner Gelehrsamkeit wichtig war, eine tiefe Genugtuung, wie ein nicht genauer zu datierendes Gedicht in seinem Tagebuch unterstreicht: „Ich Will Gelehrt Werden/ Ob ich’s geworden?/ Ich weiß es nicht,/ Wenn auch der Doktorhut dafür spricht./ Manches gewagt und mit Gott vollbracht,/ Vieles geholt aus des Wissens Schacht/ Hab’ ich, und fragt’ nicht nach Lob und Hohn,/ Dieses Bewustsein – das sei – mein Lohn!“60 Einen im engeren Sinn akademischen Werdegang als Historiker hatte Stillfried an einer Universität niemals absolviert. Umso mehr musste er sich daher als Günstling des preußischen Thronfolgers Friedrich Wilhelm von Beginn an in seinem historischen Arbeiten immer wieder gegen Kritiker und Widerstände durchsetzen.

VI. Personelle Beziehungen Im Laufe seiner jahrzehntelangen Tätigkeit am preußischen Hof pflegte Stillfried direkte Kontakte zu Archivaren, Historikern, Kunsthistorikern, Malern und Verlegern sowie zu zahlreichen Institutionen, die sich im weitesten Sinn mit Geschichtspflege be55 Stillfried, Rudolf: Bemerkungen zu des Past. Thomas Nachrichten von dem wüsten Schlosse Falkenstein und dem Schlosse und Dorfe Fischbach in Schlesien. In: Allgemeines Archiv für die Geschichtskunde des Preußischen Staates 2 (1830) 305–311; ders.: Einige Bemerkungen zu dem neuesten Aufsatze des Herrn Professor Bandtke in den schlesischen Provinzialblättern. In: Allgemeines Archiv für die Geschichtskunde des Preußischen Staates 3 (1830) 153–159; ders.: Einige Nachrichten von dem Schlosse Neuhof zu Schmiedeberg. In: Allgemeines Archiv für die Geschichtskunde des Preußischen Staates 3 (1830) 172–178; ders.: Woher der Kutschenstein bei Fischbach seinen Namen erhalten haben könnte? In: Schlesische Provinzialblätter 91 (1830) 459–462. 56 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 1 (1804–1848), Bl. 120b. 57 Ebd., Bd. 13 (1861), Bl. 110b, 13. November 1861. 58 Ebd., Bd. 16 (1864), Bl. 12a, 19. Januar 1864. 59 Stillfried: Geschichtliche Nachrichten, Bd. 1, 407. 60 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 1 (1804–1848), Bl. 73a–b.

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schäftigten. Diese Verbindungen entstanden nicht zwingend durch seine geschichtswissenschaftlichen Interessen. Oft konnte er durch seine Nähe zum König auch indirekt Einfluss auf die Förderung historischer Projekte nehmen, indem er den Monarchen von einem bestimmten Vorhaben in Kenntnis setzte und sich dafür aussprach. Aus diesem Grund wandten sich Historiker oftmals ihrerseits an den ranghohen Würdenträger. Im Folgenden soll auf einzelne dieser Kontakte exemplarisch eingegangen werden. Stillfrieds Recherchen auf Reisen nach Württemberg und Bayern in den Jahren 1835 und 1837 begeisterten zwar den Kronprinzen, sie erregten aber gleichzeitig die Missgunst der Archivare des Geheimen Archivs in Berlin, allen voran des Direktors Georg Wilhelm von Raumer. Diesem gelang es offensichtlich zudem, den Minister des Hausministeriums, Fürst August Ludwig zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg, für seine Sichtweise zu gewinnen. In einem resümierenden Schreiben über die damaligen Vorgänge schrieb Wittgenstein an den nassauischen Geheimen Rat am 6. Februar 1838, dass er versucht habe, den König davon zu überzeugen, „daß der Herr v. Stillfried nicht der Mann“ sei, „der dieses große archivalische Vertrauen verdient“ habe; er habe dem Monarchen außerdem „die letzte von Herrn v. Stillfried erschienene Schrift mit[geteilt] und ihm zugleich anheim[gestellt], mit anderen gelehrten Männern zu sprechen, ob diese [seine] Ansicht über die Brauchbarkeit des Herrn v. Stillfried teilten“.61 Das erwähnte Buch Stillfrieds war die 1835 erschienene Abhandlung Friedrich Wilhelm III. König von Preußen, das Wappen seines Volks und die Stammburg seiner Väter. Das Buch war am Hof nicht gut aufgenommen worden, Stillfried sah sich in diesem Zusammenhang mit dem Vorwurf offensichtlicher Kritiklosigkeit konfrontiert.62 Interessant ist, dass Wittgenstein mit den „gelehrten Männern“ Historiker wie Leopold Ranke im Sinn hatte, dessen Name er in jenem Schreiben vermerkt, dann aber durchgestrichen und durch eine allgemeinere Formulierung ersetzt hatte. Ranke war 1834 zum ordentlichen Professor der Geschichte an der Berliner Universität ernannt worden und genoss beim Ministerium höheres Ansehen als ein adeliger Gutsbesitzer aus Schlesien, der sich lediglich in seiner Mußezeit mit historischen Forschungen befasste. Dieses Beispiel aus der Anfangszeit des historiographischen Wirkens Stillfrieds zeigt, dass er sich nicht nur wissenschaftlichen Diskussionen stellen musste, sondern auch gegen Widerstände auf verschiedenen politischen Ebenen anzukämpfen hatte. Ohne die enge Beziehung zum preußischen Thronfolger, dessen Vertrauen er genoss, hätte Stillfried gewiss keine vergleichbare Karriere am Hof gemacht oder eine derart große Anzahl historischer Werke erarbeiten und veröffentlichen können. Der Thronwechsel im Juni 1840 stellt damit eine wichtige Zäsur für Stillfrieds weiteren Werdegang dar. Im Vorwort seiner 1842 erschienen Schrift Stammbuch der löblichen Rittergesellschaft Unserer Lieben Frau auf dem Berge bei Alt-Brandenburg oder Denkmale des Schwa61 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, Brandenburg-Preußisches Hausarchiv, Rep. 192 Nl W. L. G. zu Wittgenstein III Nr. 3,1. 62 Branig: Kronprinz Friedrich Wilhelm (IV.), 192.

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nenordens bedankte sich Stillfried zwar bei Raumer und anderen für die „freundliche und fördersame Unterstützung“,63 doch blieb die Beziehung zum Direktor der Staatsarchive auch in den folgenden Jahren angespannt. Die heftigste Auseinandersetzung zwischen beiden ereignete sich im Zusammenhang mit der Gründung des Königlichen Hausarchivs in den Jahren 1851/52. Ziel jenes Unterfangens war es, sämtliche Archivalien, die das Haus Hohenzollern betrafen, an einer Stelle zusammenzuführen und der Herrscherfamilie die Verfügungsgewalt über die Bestände zu sichern. Hierfür war ein Eingriff in die Überlieferungen des Geheimen Staats- und Kabinettsarchiv unumgänglich, wodurch bestehende Provenienzen zwangsläufig zerstört wurden. Dieser Eingriff stieß bei den für das Kabinettsarchiv zuständigen Archivaren auf harsche Kritik. Stillfried war von König Friedrich Wilhelm IV. mit der Ausführung der Selektionen für das Hausarchiv beauftragt worden.64 Raumer und Stillfried verfolgten demnach in dieser Archivangelegenheit gänzlich unterschiedliche Zielsetzungen und gerieten wegen des überlieferten Archivmaterials in heftigen Streit. Die Tagebucheinträge Stillfrieds im Dezember des Jahres 1850 ermöglichen einen tieferen Einblick in die einzelnen Streitpunkte. Am 11. Dezember schrieb er, dass er mit Raumer „contre cœur [...] Frieden [...] schließen“ wolle, um „die Archivangelegenheit zu Ende zu bringen“. Wie das weitere Vorgehen seiner Meinung nach auszusehen habe, notierte er ebenfalls: „Ich gedenke vorläufig das Kabinetsarchiv, wie es ist, zu übernehmen und das Staatsarchiv unangetastet zu lassen. Was ich aus dem [ersten] an das letztere abgeben und aus letzterem in das erstere aufzunehmen wünsche, mag in Conferenzen zwischen Raumer und mir soweit als möglich festgestellt und durchgesprochen werden. Streitpunkte erledigt das Ministerium.“65 Ganz so einfach, wie Stillfried sich das vorstellte, war die Beilegung des Konflikts allerdings nicht. Nach weiteren Besprechungen mit Raumer vermerkte Stillfried am 17. Dezember 1850: Raumer „begreift nicht, daß ich das alte Kabinetsarchiv begehre. Er will mich mit Äquivalenten abspeisen, beruft sich auf eine mir unbekannt gebliebene Kabinetsordre, und erklärt zuletzt, daß die Sache keine Eile habe. Ich hingegen mache ihn auf seine Stellung zum Königl[ichen] Hause aufmerksam und daß er als Chef der Staatsarchive erst den Eid leisten müße – auf die Constitution – ehe ich in ihm ein Organ des Staatsministeriums erkennen könnte.“ Er habe Raumer im weiteren Verlauf des Gesprächs darauf hingewiesen, dass es ihre gemeinsame „Pflicht“ sei, „dem Hausarchiv die größtmögliche Bedeutung und Ausdehnung zu geben“.66 63 Stillfried-Rattonitz, Rudolf (Hg.): Stammbuch der löblichen Rittergesellschaft Unserer Lieben Frau auf dem Berge bei Alt-Brandenburg oder Denkmale des Schwanenordens. Berlin 1842, Vorwort. 64 ������������������������������������������������������������������������������������������ Weiser, Johanna: Geschichte der preußischen Archivverwaltung und ihrer Leiter. Von den Anfängen unter Staatskanzler von Hardenberg bis zur Auflösung im Jahre 1945. Köln/Weimar/ Wien 2000 (Veröffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz 7), 31f. 65 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 3 (1850), Bl. 120b, 11. Dezember 1850. 66 Ebd., Bd. 3 (1850), Bl. 125b, 17. Dezember 1850.

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Für Stillfried hatte demnach nicht die Erhaltung bestimmter Provenienzen Vorrang, sondern allein die bestmögliche Ausstattung des Hausarchivs, das sämtliche Quellen des Hauses Hohenzollern beherbergen und so diesem zu Ehren gereichen sollte. Der Disput mit Raumer zog sich bis 1852 hin, als dieser sein Amt als Direktor der Staatsarchive niederlegte – ein Entschluss, den er mit seiner Unzufriedenheit über die Neueinrichtung des Hausarchivs begründete.67 Raumer hatte Stillfried bereits Ende Mai des Vorjahres mitgeteilt, dass er sein Amt niederlegen wolle. Traugott Maercker forderte Stillfried nach Erhalt dieser Nachricht auf, sich als Nachfolger Raumers zu empfehlen. Dies widersprach jedoch Stillfrieds Auffassung seiner Rolle am Hof – „als ob ich nach solchen Stellungen trachtete, und diese erhalten könnte. Dazu gehört ein besoldeter Staatsdiener“,68 notierte er in seinem Tagebuch. Als Staatsdiener verstand Stillfried sich nie. Er beanspruchte für sich, seine Dienste dem Herrscherhaus aus reiner Loyalität zur Verfügung zu stellen. Dieses lebenslange Pflichtgefühl gegenüber der Hohenzollerndynastie brachte er 1870 im Vorwort seiner Beschreibung und Geschichte der Burg Hohenzollern beredt zum Ausdruck: „Ob man dies [das Werk, F. Z.] hoch nun achte, ob geringe, ich habe mit Freuden auch hierbei der alten Anhänglichkeit Rechnung tragen wollen, welche mich mit dem Gesamthause Hohenzollern und mit dem Hohenzollern’schen Stammhause auf der schwäbischen Alp seit langen Jahren verbindet, und die erst mit dem letzten Athemzuge erlöschen wird.“69 Mit dem aus Sachsen stammenden Historiker Traugott Maercker verband Stillfried eine langjährige Zusammenarbeit. Die 1840 begonnene Urkundensammlung Monumenta Zollerana war ihr erstes gemeinsames Werk. Maercker hatte in Leipzig, Jena und Breslau Philologie und Geschichte studiert und war 1835 mit einer Schrift über das Leben und die Schriften eines Dichters aus hellenistischer Zeit promoviert worden.70 Der Kontakt entstand durch die gegenseitige Zusendung ihrer Schriften. Maercker stand zunächst in persönlichen Diensten Stillfrieds; 1844 wurde er mit Genehmigung des Königs als Gehilfe Stillfrieds angenommen, 1848 erhielt er eine feste Anstellung als königlicher Hausarchivar. 1852 wurde er zum Archivrat ernannt, drei Jahre später schließlich zum Geheimen Archivrat und Mitglied des Heroldsamtes. Maercker übernahm ab 1853 vor allem Archivreisen und Recherchen, zu denen Stillfried aufgrund anderer Verpflichtungen keine Zeit hatte.71 Stillfried und Maercker verband nicht nur eine berufliche Beziehung, sie verbrachten auch privat viel Zeit miteinander. Zudem führte Stillfried seinen Schützling in die Berliner Gesellschaft ein.72 Er installierte den Fachhistoriker Maercker als seinen eigenen Vertrauten in den königlichen Archiven, 67 Weiser: Geschichte der preußischen Archivverwaltung, 31. 68 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 3 (1851), Bl. 60b, 24. Mai 1851. 69 Stillfried-Alcántara, Rudolf Graf von: Beschreibung und Geschichte der Burg Hohenzollern nebst Forschungen über den Urstamm der Grafen von Zollern. Berlin 1870. 70 Großmann, Julius: Art. Märker, Karl Friedrich Traugott. In: Allgemeine Deutsche Biographie 20 (1884) 304–305. 71 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 4 (1852), Bl. 97b, 6. Oktober 1852. 72 Ebd., Bd. 2 (1849), Bl. 35b, 7. März 1849.

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um leichter Zugang zu den ihn interessierenden Beständen zu erhalten. Da die Spannungen zu verschiedenen Archivaren anhielten und mit der Neueinrichtung des Königlichen Hausarchivs ihren Höhepunkt erreichten, ist es nicht verwunderlich, dass die Staatsarchivare den Schützling Stillfrieds zunächst argwöhnisch beäugten.73 Die Zusammenarbeit Stillfrieds mit Maercker war bis 1853 von gegenseitigem Respekt geprägt. Stillfried befürwortete auch eine bessere Besoldung seines Mitarbeiters.74 Dies bedeutet jedoch nicht, dass beide in Fragen der Arbeitsweise immer einer ­Meinung gewesen wären. Im Zusammenhang mit der gemeinsamen Archivarbeit kritisierte Stillfried beispielsweise die „Kästenmanie“ seines Kollegen,75 ein Beleg, dass Maercker die Ordnung und Registrierung der Archivalien offenbar strenger praktizierte als von seinem Auftraggeber erwartet; er verantwortete auch das Archivrepertorium.76 Darüber hinaus hatten beide unterschiedliche Vorstellungen, wie die Hohenzollernsche Goldchronik auszusehen habe: „Früh Streit mit Märcker [...]. Er will wieder etwas Neues. Ich nicht.“77 Was genau Maercker verändern wollte, lässt sich nicht genau ermitteln, es ist jedoch anzunehmen, dass in diesem Punkt keine Einigkeit erzielt werden konnte. Dies würde auch erklären, warum das Werk erst 1879, mithin 18 Jahre später, im Druck erschien und Stillfried nurmehr als alleiniger Herausgeber genannt wurde.78 Seit 1854 häufen sich in den Tagebüchern Stillfrieds Einträge über Auseinandersetzungen mit Maercker, der sich offensichtlich von seinem Berater und Gönner emanzipiert hatte und, so Stillfried, „den Gehorsam“ verweigerte.79 Stillfried empfand überdies eine gewisse Missgunst gegenüber Maercker, als dieser zum Geheimen Archivrat ernannt wurde: „Wenn man doch vor Massow auch so rücksichtsvoll für mich gewesen wäre. Mir ist doch wohl einer und der andere Voraus gekommen.“80 Stillfried stieß sich vor allem am schnellen und vergleichsweise problemlosen Aufstieg Maerckers im Staatsdienst, woran er selbst allerdings keinen geringen Anteil hatte, da er sich wiederholt für seinen Mitarbeiter eingesetzt hatte. Im Herbst des Jahres 1872 kam es zum endgültigen Bruch zwischen beiden. Stillfried warf Maercker unter anderem vor, ihm die Herausgabe wichtiger Archivalien und Dokumente zur Fertigstellung der Monumenta Zollerana zu verweigern, und wandte sich in dieser Angelegenheit an den Minister des Königlichen Hauses, Alexander Graf von Schleinitz.81 Stillfried unterstützte im Januar 1873 „[m]it Vergnügen“ die Bemühungen des Historikers und Archivars Paul Hassel, die bis dahin von Maercker bekleidete Stelle im Haus73 74 75 76 77 78 79 80

Ebd., Bl. 30b–31a, 27. Februar 1849. Ebd., Bd. 3 (1850), Bl. 8a, 13. Januar 1850, Bl. 11b, 18. Januar 1850. Ebd., Bd. 4 (1851), Bl. 56b, 16. Mai 1851. Ebd., Bd. 18 (1866), Bl. 9b, 22. Januar 1866. Ebd., Bd.4 (1851), Bl. 40b, 10. April 1851. Stillfried-Alcántara, Rudolf (Hg.): Hohenzollernsche Goldchronik. Berlin 1879. Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 9 (1856), Bl. 104a, 6. Januar 1856. Ebd., Bd. 8 (1855), Bl. 52a, 30. Juli 1855. Massow leitete seit März 1854 das Ministerium des Königlichen Hauses in Berlin. 81 Ebd., Bd. 24 (1872), Bl. 81a–b, 24. September 1872.

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archiv zu erhalten. Er sandte Schleinitz Hassels neueste Abhandlungen zu und sprach sich offen für diesen aus.82 Der in Berlin geborene Hassel war seit 1866 Privatdozent für Geschichte und stieg 1874 zum Geheimen Staatsarchivar auf,83 nachdem Maercker zu Beginn des Jahres 1873 tatsächlich aus dem Staatsdienst entlassen worden war. Stillfried hatte sich also durchgesetzt und im Mai seine „Sammlungen aus Märckers Verschluß“ zurückerhalten.84 Die anfänglich gute und produktive Zusammenarbeit mit Maercker hatte sich zunehmend verschlechtert; am Ende nutzte Stillfried seinen Einfluss, um die Pensionierung des einst von ihm protegierten Mitarbeiters durchzusetzen. Die Anforderungen, die Stillfried an Maercker gestellt hatte, hatte dieser aufgrund einer Erkrankung eventuell gar nicht mehr erfüllen können; bereits im Januar 1873 habe er, so Stillfried, gegenüber dem Hausministerium erklärt, „nicht in der Lage zu sein, die Verschleppten Arbeiten [...] zu vollenden“.85 Am 17. Mai 1874, nur ein Jahr nach seiner Pensionierung, starb Maercker in Bayreuth.86 Eine schriftlich geführte, polemische Auseinandersetzung über die Abstammung der Hohenzollern lieferte sich Stillfried 1853 mit Heinrich Haas, einem Landrichter in Erlangen. Haas hatte in seiner in jenem Jahr erschienenen Abhandlung, die sich ­bereits auf dem Titelblatt als Korrektur Stillfriedscher Überlegungen zu erkennen gab, den frühen Zollern den Burggrafentitel abgesprochen.87 Stillfried sah sich daher genötigt, eine Replik zu veröffentlichen. Sein Tagebucheintrag vom 25. August 1853 zeigt, wie sehr ihn die von Haas formulierten Thesen persönlich getroffen hatten: „Nichts bleibt langweiliger in der Welt, als die Unvernunft der Menschen ertragen zu müßen; hat dieser Haas zu Erlangen ein Buch in Druck gegeben, betitelt die Rangauer Grafen, worin er all den alten Sauerteig [...] auspackt und mit seinen ‚vermuthlich, wahrscheinlich, möglicherweise,‘ die alten Zollern, die er für Zollbeamte hält, [...] vom Burggrafenthum zu verdrängen sucht. Er möchte aus dem Stamm Hohenlohe womögl[ich] Könige von Preussen machen.“88 Dies sind nur zwei Beispiele für konfliktreiche Beziehungen Stillfrieds mit anderen Wissenschaftlern. Schon hier wird allerdings deutlich, dass solche Auseinandersetzungen aus ganz unterschiedlichen Gründen entstehen konnten – aus fachlichen Meinungsverschiedenheiten, persönlichen Verletzungen oder nicht miteinander in Einklang zu bringenden Arbeitsauffassungen heraus. Die Beziehung zu Leopold (von) Ranke hingegen scheint ungetrübt geblieben zu sein, ihn nennt Stillfried in einem 82 Ebd., Bd. 25 (1873), Bl. 12b, 26. Januar 1873. 83 Leesch, Wolfgang: Die deutschen Archivare 1500–1945, Bd. 2: Biographisches Lexikon. München u.a. 1992, 227. 84 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 25 (1873), Bl. 54b, 20. Mai 1873. 85 Ebd., Bl. 9a, 16. Januar 1873. 86 Großmann: Märker, 304f. 87 Haas, Heinrich: Der Rangau, seine Grafen und ältere Rechts-, Orts- und Landesgeschichte mit neuen Forschungen über die Abstammung der Burggrafen von Nürnberg; ein Beitrag zu des Freiherrn von Stillfried-Rattonitz Nürnberg’schen Burggrafen und hohenzoller’schen Forschungen. Erlangen 1853. 88 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 6 (1853), Bl. 71a–b, 25. August 1853.

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Tagebucheintrag vom 10. Januar 1871 „einen verehrten, greisen Gelehrten“ und sein „unerreichte[s] Vorbild“.89 Mit dem bayerischen Historiker Karl Maria von Aretin90 verband Stillfried ebenfalls eine langjährige Zusammenarbeit. Aus Anlass des Todes Aretins am 29. April 1868 ließ Stillfried seine Begegnungen mit dem von ihm hochgeschätzten Historiker Revue passieren.91 Demnach waren sich beide das erste Mal 1835 in München begegnet. Beim Wiederaufbau der Klosterkirche Heilsbronn arbeiteten sie dann später eng zusammen. 1853 verbrachten sie mehrere Monate gemeinsam in Heilsbronn – Stillfried in seiner Funktion als Baubevollmächtigter des preußischen Königs, Aretin als bayerischer Abgesandter.92 An der von Aretin betriebenen Einrichtung des Bayerischen Nationalmuseums habe er „lebhaften Antheil“ genommen, so Stillfried. Ihr letztes Gespräch führten sie am Abend vor dem plötzlichen Ableben Aretins, der eigentlich am kommenden Tag als Vertreter Bayerns an der Eröffnung des Zollparlaments hätte teilnehmen sollen:93 „Wir sprachen von seinen Wittelsbachischen Alterthümern, die er nach dem Muster der Hohenzollerischen begonnen hat und im Laufe d[es] J[ahres] zu Ende führen wollte. Ferner von den Schritten des britischen Museums in Abyssinien, wo möglicher Weise noch römische Schätze, zB Bibliotheken, verborgen sein könnten. Wir unterhielten uns vortrefflich und Aretin sagte beim Scheiden, er wolle mich während seines diesjährigen Aufenthalts fleißig besuchen!“94 Dazu kam es allerdings nicht mehr. Die genannten Gesprächsthemen machen deutlich, dass Stillfried und Aretin viele Interessen miteinander teilten. Darüber hinaus hatten beide einst Jura studiert und sich dann ganz ihren historischen Studien gewidmet, mit denen sie sich vor allem bei ihren Landesherren hohes Ansehen erwarben. Dass sein Werk Hohenzollernsche Alterthümer als Vorbild für eine weitere dynastiegeschichtliche Quellensammlung gedient hatte, machte Stillfried sichtlich stolz: Im Vorwort zum ersten Band seines Werks hatte Aretin Stillfrieds Abhandlung als „glänzende Bereicherung für die Geschichte wie für die Kunst“ bezeichnet.95

VII. Institutionelle Beziehungen Neben diesen persönlichen Kontakten spielen die Beziehungen zu diversen Institutionen der Geschichtspflege eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Vor 1840 war Stillfried 89 Ebd., Bd. 23 (1871), Bl. 7a, 10. Januar 1871. 90 Zu seiner Person vgl. Aretin, Karl Otmar Freiherr von: Art. Aretin, Karl Maria Freiherr von. In: Neue Deutsche Biographie 1 (1953) 349. 91 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 20 (1868), Bl. 54a–55a, 29. April 1868. 92 Stillfried: Geschichtliche Nachrichten, Bd. 1, 406. 93 Aretin: Aretin, 349. 94 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 20 (1868), Bl. 54b, 29. April 1868. 95 Aretin, Karl M. von (Hg.): Alterthümer und Kunstdenkmale des bayerischen Herrscher-Hauses, Bd. 1. München 1854.

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fast ausnahmslos Mitglied schlesischer Vereine, darunter der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur sowie der Oberlausitz’schen Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz. Nach dem Regierungsantritt König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen nahmen die Stillfried verliehenen Ehrenmitgliedschaften in den einzelnen deutschen Staaten erheblich zu. Am 30. April 1853 wurde er außerdem zum Ehrenmitglied der Akademie der Künste, am 22. Juli 1854 schließlich zum Ehrenmitglied der Akademie der Wissenschaften in Berlin ernannt.96 Besonders Vorträge und Sitzungen, die von der letztgenannten Gesellschaft veranstaltet wurden, fanden sein reges Interesse, wie zahlreiche Tagebucheinträge belegen. Darüber hinaus nahm Stillfried lebhaften Anteil an der Gründung des Germanischen Nationalmuseums durch seinen Freund Aufseß. Er stand dem Unternehmen jedoch von Anfang an kritisch gegenüber und machte keinen Hehl aus seiner Überzeugung, dass das Projekt an der uneinheitlichen Politik in Deutschland scheitern werde. Am 24. Februar 1854 wurde Stillfried zum Mitglied des gelehrten Ausschusses des Museums ernannt, einen Tag später notierte er in seinem Tagebuch: „Aufsess und seine Pläne. Der König soll Beiträge zahlen, damit das germanische Museum existiren und prosperiren könne. Der König wird dergleichen Beiträge aber lieber seinem eignen Museum zuwenden. Minister Raumer soll dies dem guten Hans eröffnen.“97 Stillfried hielt das Vorgehen seines Freundes nicht für zielführend, denn Aufseß habe zuerst „das Volk angerufen und sich mit den Gelehrten und Künstlern verbunden“ und nun denke er, dass „die Fürsten seine Sache in die Hand nehmen“ würden.98 Im Gegensatz zu Aufseß hatte Stillfried inzwischen reiche Erfahrungen gesammelt und gelernt, wie man mit Monarchen umzugehen hatte, um sie für ein Projekt zu begeistern. Dass Stillfried den Großteil seiner Mitgliedschaften99 in seinem Werk Geschichtliche Nachrichten vom Geschlechte Stillfried von Rattonitz selbst aufführte, lässt die Bedeutung erkennen, die er ihnen zumaß – für sein Selbstverständnis als Gelehrter und seine Anerkennung als Autor geschichtswissenschaftlicher Publikationen. Die Institutionen wiederum profitierten von seiner Nähe zum Königshaus. So ist es zu erklären, dass Stillfried von ihm unbekannten Institutionen eine Mitgliedschaft angetragen wurde, wie das Beispiel der Academia Roveretana degli Agiata deutlich macht:100 „Die Academie von Rovereto, von der ich nie gehört habe, wählt mich zugleich mit Olfers zum 196 197 198 199

Stillfried: Geschichtliche Nachrichten, Bd. 1, 418f. Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 7 (1854), Bl. 28a, 25. Februar 1854. Ebd., Bl. 35a, 10. März 1854. Neben den genannten Mitgliedschaften sind insgesamt 24 Ehrenmitgliedschaften Stillfrieds belegt, darunter finden sich die Akademie zu Rovereto sowie die Königlich Böhmische Gesellschaft der Wissenschaften zu Prag. Hinzu kommen 14 ordentliche Mitgliedschaften in weiteren Institutionen sowie die Mitgliedschaft als korrespondierendes Mitglied in sieben Gesellschaften. 100 Mücke, Marion/Schnalcke, Thomas (Hg.): Briefnetz Leopoldina. Die Korrespondenz der Deutschen Akademie der Naturforscher um 1750. Berlin u.a. 2009, 482: Die Academia Roveretana degli Agiata war 1750 als private Gesellschaft von Gelehrten und Anhängern der Aufklärung in Tirol gegründet worden.

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Ehrenmitgliede.“101 Die Verantwortlichen der Akademie sahen vermutlich in Stillfried und Ignaz von Olfers, dem damaligen Generaldirektor der Königlichen Museen zu Berlin,102 potentielle Fürsprecher am preußischen Hof, die dem Renommee der Gesellschaft zuträglich sein konnten.

VIII. Politische Haltung und Geschichtsverständnis Die Analyse der Tagebücher Stillfrieds zeigt, dass dieser ein seinem Stand und seiner Zeit entsprechend starkes Geschichts- und Traditionsbewusstsein hatte. Der in seinen Werken gefeierte Aufstieg der Hohenzollerndynastie erreichte in der Kaiserproklamation 1871 seinen Höhepunkt, wobei Stillfried vehement dafür eintrat, dass das Deutsche Kaiserreich keine bloße Fortführung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation sein dürfe.103 Seine Auffassung über den Aufstieg Preußens als historische Notwendigkeit im Kontext der deutschen Geschichte fügt sich „in das politische Programm der borussischen Historiographie“ ein.104 Geschichte hatte für Stillfried hauptsächlich zwei Funktionen: Zum einen lieferte sie Argumente zur Rechtfertigung von Strukturen in der Gegenwart, wie zum Beispiel den Rang eines bestimmten Adelsgeschlechts oder den Aufstieg einer regierenden ­Dynastie. Dies kann durchaus als apologetisches Geschichtsverständnis bezeichnet werden. Das Alter eines Geschlechts war für Stillfried ein Kriterium für dessen historische Bedeutung. Gern hätte er sich daher mit der Geschichte der Welfen näher befasst. „O, wenn mich Einer auffordern möchte, nach den Zollernschen Alterthümer die älteren und mächtigeren Welfischen zu sammeln und herauszugeben, ich nähms wohl an.“105 Zum anderen verstand Stillfried Geschichte aber auch als eine Wissenschaft, die bestimmte methodische Standards erforderte und zu einem Erkenntnisgewinn führen sollte. Methodische Standards waren für ihn vor allem die Arbeit mit Originalquellen, die Grundsätze der Quellenkritik sowie die präzise Zitation von Fachliteratur. Dies kann anhand zweier Tagebucheinträge illustriert werden. Am 23. November 1874 vermerkte Stillfried verärgert, dass ein Pfarrer, Georg Muck, nun ebenfalls ein Werk über die Geschichte des Klosters Heilsbronn herausgeben wolle, obwohl er nur Gedrucktes abgeschrieben, nicht aber – wie er selbst für seine eigene Abhandlung – bisher unbekannte Urkunden und Manuskripte ausgewertet habe.106 Der Verzicht auf die Dokumentation verwendeter Werke führte in einem weiteren Fall sogar zur Absage der Mitherausgabe. Stillfried war sich durchaus der Schwierigkeiten bewusst, die diese Ab101 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 6 (1853), Bl. 46b, 2. Juli 1853. 102 Donop, Georg von: Art. Olfers, Ignaz von. In: Allgemeine Deutsche Biographie 24 (1887) 290–291. 103 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 23 (1871), Bl. 5a–b, 5. Januar 1871. 104 Gehrke: Stillfried, 344. 105 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 5 (1852), Bl. 76a, 29. Juni 1852. 106 ������������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., Bd. 26 (1874), Bl. 87b, 23. November 1874. Muck, Georg: Geschichte von Kloster Heilsbronn. Von der Urzeit bis zur Neuzeit, Bd. 1–2. Nördlingen 1879–1880.

Hof- und Dynastiegeschichtsschreibung in Schlesien

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sage mit sich bringen würde. Seinen Entschluss kommentierte er gleichwohl nur mit der rhetorischen Frage: „Aber wozu mich noch im Alter blamiren lassen?“107 Bei der Veröffentlichung seiner Quellensammlungen sah sich Stillfried als Herausgeber stets der historisch-kritischen Methode verpflichtet: „Die Bearbeitung des Stoffes anlangend, so wurden bei dem vorliegenden Bande [...] die bisher befolgten, durch die öffentliche Kritik approbirten, Grundsätze festgehalten; – die diplomatischen Quellen in einem einen kritisch geläuterten Urtext dem fachgelehrten Publicum vorzulegen: darauf haben die Herausgeber ihr Augenmerk besonders gerichtet.“108

IX. Zusammenfassung Wenn man das historiographische Werk von Rudolf Graf Stillfried-Alcántara, der zu Recht als Hofhistoriker bezeichnet werden kann, und seine Arbeitsweise genauer betrachtet, wird deutlich, dass auch die Hof- und Dynastiegeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert nicht unbeeinflusst blieb von den Professionalisierungsprozessen, die die Geschichtswissenschaft in dieser Zeit durchlief. Die vielfältigen Kontakte Stillfrieds zu Institutionen der Geschichtspflege, seine zahlreichen persönlichen Verbindungen zu Historikern und Archivaren sowie seine Teilnahme an wissenschaftlichen Diskussionen prägten seine methodische Arbeitsweise. Inhaltlich bezog sich sein historisches Wirken vor allem auf die Geschichte der Hohenzollern, funktional hatte seine Tätigkeit meist politische Implikationen. Dennoch gelang es ihm, in der Dynastie- und Adelsgeschichtsschreibung eigene Impulse zu setzen, nicht zuletzt weil er eine besondere kunsthistorische Auffassung vertrat und mit seinem Werk Hohenzollernsche Alterthümer ein Referenzwerk für andere dynastiegeschichtliche Quellensammlungen vorlegte.

107 Tagebücher Rudolf Graf Stillfried-Alcántaras, Bd. 32 (1880), Bl. 65b–66a, 31. Juli 1880. 108 Stillfried, Rudolf von/Maercker, Traugott (Hg.): Monumenta Zollerana. Urkundenbuch zur Geschichte des Hauses Hohenzollern, Bd. 2: Urkunden der fränkischen Linie. 1235–1332. Berlin 1856.

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IV. Religiöse Gruppen und ihr Anteil an der Geschichtsforschung in Schlesien

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Schlesische Priesterhistoriker vor dem Ersten Weltkrieg. Geschichtsschreibung zwischen institutionellen Anforderungen und individueller Schwerpunktsetzung I. Einleitung Priester der Klio – so betitelte der Augsburger Historiker Wolfgang Weber seine 1984 publizierte Dissertation zu Herkunft und Karriere der deutschen Geschichtsprofessoren im 19. und 20. Jahrhundert.1 Was hier im übertragenen Sinn als Metapher für Berufshistoriker in der sich ausbildenden historischen Disziplin an staatlichen Universitäten gemeint ist, findet sich in ähnlicher Form an den zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegründeten Katholisch-Theologischen Fakultäten in Bonn, Münster und Breslau, wo zum Theologiestudium auch die Kirchengeschichte gehörte, die – wie alle anderen theologischen Fächer – von einem Priester gelehrt wurde. Die Kirchengeschichte aber errang, wie es der Biograph der Breslauer Katholisch-Theologischen Fakultät Erich Kleineidam ausdrückte, die „Hegemonie in der theologischen Wissenschaft“.2 Kleineidam vertrat die These, dass die Kirchengeschichte in der Zeit von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg eine Sogwirkung auf die klügsten Köpfe unter den katholischen Geistlichen ausgeübt habe. „Sie war die moderne Wissenschaft, die auch von den anderen Fakultäten als echte Wissenschaft angesehen wurde, zumal sie am leichtesten Erfolge in der objektiven Sachforschung aufweisen konnte.“3 Einer der bekanntesten katholischen Kirchenhistoriker des 19. Jahrhunderts, der Jesuit und Luther-Forscher Hartmann Grisar SJ, äußerte denn auch in einer autobiographischen Skizze: „Gerade die Kirchengeschichte schien mir unter den übrigen theologischen Fächern einen besonders erziehlichen Beruf zu besitzen.“4 Welche Voraussetzungen musste ein Priester außer dem durch die Weihe erlangten character indelebilis mitbringen, um als Kirchenhistoriker erfolgreich zu sein? Inwieweit spielten daneben Netzwerke und Beziehungen inner- und außerhalb des Klerus eine Rolle? Auf welche Weise pflegten Priester in historischer Universitätstheologie und in offizieller innerkirchlicher Traditionspflege Kontakte untereinander, aber auch inner1 Weber, Wolfgang: Priester der Klio. Historisch-sozialwissenschaftliche Studien zur Herkunft und Karriere deutscher Historiker und zur Geschichte der Geschichtswissenschaft 1800–1970. Frankfurt am Main 1984. 2 Kleineidam, Erich: Die Katholisch-Theologische Fakultät der Universität Breslau 1811–1945. Köln 1961, 90. 3 Ebd. 4 Grisar, Hartmann: Selbstbiographie. In: Stange, Erich (Hg.): Die Religionswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Leipzig 1927, 1–20, hier 7.

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halb des „katholischen Milieus“ und nicht zuletzt zu protestantischen Profanhistorikern und zu Geschichtsvereinen? Diesen Fragen soll im Folgenden zunächst am Beispiel eines der Ordinarien für Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Breslau, Max Sdralek, nachgegangen werden. Zwar gab es im Untersuchungszeitraum noch sechs andere Lehrstuhlinhaber für Kirchengeschichte, aber Sdralek selbst war gebürtiger Schlesier, was unter den katholischen Theologieprofessoren, die aus allen Teilen Deutschlands nach Breslau berufen wurden, nicht selbstverständlich war. Insofern fügt er sich sowohl von der Herkunft als auch vom Tätigkeitsfeld her in den Untersuchungsbereich dieses Beitrags ein, während der aus Habelschwerdt in der Grafschaft Glatz stammende Augustin Nürnberger, der neben ihm das Fach als außerordentlicher Professor vertrat, als „klein, unscheinbar“5 beschrieben wird. Zudem galt Sdralek zu Lebzeiten, wie es Hermann Hoffmann formulierte, als „Stern und Glanz der Fakultät“6 und ist nicht zuletzt als Begründer der Breslauer kirchenhistorischen Schule in die Annalen der Geschichtswissenschaft eingegangen. Damit prägte er eine ganze Generation von Schülern, unter denen nur so bedeutende Vertreter wie Joseph Wittig und Franz Xaver Seppelt oder die später in der Kirchenhierarchie aufgestiegenen Geistlichen Ferdinand Piontek und Josef Negwer stellvertretend genannt seien. Und er schaffte es in zwei Auflagen des bedeutenden katholischen Lexikon[s] für Theologie und Kirche: in die erste Auflage aus den 1930er Jahren und auch in die zweite aus den 1960er Jahren, die bereits Auskunft über sein Nachleben gibt.7 Geschichtsforschung durch katholische Geistliche erfolgte im hier interessierenden Zeitalter nur zu einem Teil im universitären Kontext. Das lag zum einen daran, dass es an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Breslau eben nur einen Lehrstuhl für Kirchengeschichte gab, in dessen Rahmen die ganze chronologische Bandbreite von den Kirchenvätern bis beinahe in die Gegenwart abzudecken war, zum anderen aber auch an der im Rahmen der Priesterausbildung nicht vorgesehenen Diözesankirchengeschichte. Als Verfasser einer Breslauer Bistumsgeschichte war Pfarrer Johann Heyne singulär. Eigentlich war er ein gescheiterter Seelsorger, der sich gewissermaßen in die Quellenarbeit geflüchtet hatte; das „eigentliche Feld seiner wissenschaftlichen Tätigkeit blieben die historischen Studien, die ihm manchen gelehrten Freund zuführten“.8 Dennoch blieb er ein mürrischer Einzelgänger, dem zudem die Fähigkeit abging, seinen Stoff lese5 Hoffmann, Hermann: Im Dienste des Friedens. Lebenserinnerungen eines katholischen Europäers. Stuttgart/Aalen 1970, 33. Zu Nürnberger vgl. Kleineidam: Fakultät, 144f. 6 Hoffmann: Im Dienste des Friedens, 33. 7 Seppelt, F[ranz] X[aver]: Sdralek, Max. In: Lexikon für Theologie und Kirche 9 (1937) Sp. 389; Gottschalk, J[oseph]: Sdralek, Max. In: Lexikon für Theologie und Kirche 9 (21964) Sp. 554f.; Olszar, Henryk: Ksiądz Maksymilian Sdralek (1855–1913) – życie i działalność. In: Wiadomości Archidiecezjalne 62/5 (1994) 263–269; Wyglenda, Ewa: Art. Sdralek Maksymilian. In: Lysko, Alojzy (Hg.): Słownik biograficzny ziemi pszczyńskiej. Pszczyna [1995], 260–261. 8 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Jungnitz, Joseph: Johannes Heyne. In: Meer, August (Hg.): Charakterbilder aus dem Clerus Schlesiens [2]. Breslau 1898, 149–198. Zit. nach Gatz, Erwin: Wie Priester leben und arbeiten. Regensburg 2011, 301.

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freundlich darzustellen. Alfred Sabisch fasste das pointiert in dem Satz zusammen: „Ein Meister der Kirchengeschichtsschreibung war Johann Heyne nicht, zu den Klassikern der schlesischen Kirchenhistoriker [...] kann er ohne Zweifel gerechnet werden.“9 Der regionale Fokus auf die Geschichte der Kirche erhielt für den Klerus erst am Ende des 19. Jahrhunderts in Breslau seine institutionelle Verankerung. Mit der Errichtung eines Diözesanarchivs wurde nun auch ein qualifizierter Leiter benötigt, der damals selbstverständlich Priester sein musste. Mit dem Namen Joseph Jungnitz, den Erich Kleineidam als den „größte[n] schlesische[n] Kirchenhistoriker“10 bezeichnete, verbindet sich eine außeruniversitäre, aber gleichwohl in der Tradition professioneller Geschichtsforschung stehende Kärrnerarbeit auf diesem Sektor, die auch in die mit Diözesanbibliothek und -museum ebenfalls von Jungnitz verantworteten Bereiche der Handschriftenkunde und Kunstgeschichte hineinragte.11 Wollte man lediglich die Berufskirchenhistoriker repräsentativ vorstellen, wäre das Thema damit bereits vollständig abgedeckt. Dabei fand geschichtliche Forschung durch Priester im Laufe des 19. Jahrhunderts mit wachsender Tendenz in der Provinz statt. Als erster Mann am Ort war es in aller Regel der Pfarrer, der die notwendige Bildung, durch den Zölibat bedingt aber auch die Zeit besaß, die Vergangenheit seiner Pfarrei hinreichend zu untersuchen und seine Ergebnisse zunehmend nicht nur handschriftlich festzuhalten, sondern auch einer breiteren interessierten Öffentlichkeit im Druck zugänglich zu machen. Davon zeugen die zahlreichen in der ordentlichen oder außerordentlichen Seelsorge wirkenden Geistlichen, die gewissermaßen als Nebenbeschäftigung historische Abhandlungen schrieben. Dies fiel ihnen umso leichter, als sie auf ihren Quellen gleichsam saßen, also nur auf dem Dachboden ihres Pfarrhauses zu stöbern beginnen mussten, um ad fontes zu gehen. Dieses Phänomen ist keinesfalls einzigartig für Schlesien. So beschrieb erst kürzlich Harm Klueting für Westfalen den „Historiker in Soutane oder Ordenshabit“,12 und es erscheint schon bezeichnend, dass ein Rezensent die „Frage des Beitrags geistlicher Historiker gleich welcher Konfession nach ihrem Anteil an der niedersächsischen Landesgeschichtsschreibung“ als Desiderat aufzeigte.13 19 Sabisch, Alfred: Johann Heyne. Zur 100. Wiederkehr seines Todes am 28. Oktober 1871. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 29 (1971) 238–247, hier 246f. 10 Kleineidam: Fakultät, 161. 11 Hirschfeld, Michael: Diözesanarchiv, Diözesanbibliothek und Diözesanmuseum in Breslau. Zum Beitrag der katholischen Kirche zur Geschichtsbewahrung und Kulturpflege in Schlesien vor dem Ersten Weltkrieg. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 393–405. 12 Klueting, Harm: Historiker in Soutane oder Ordenshabit. Der Beitrag katholischer Kleriker zur westfälischen Historiographie. In: Freitag, Werner/Reininghaus, Wilfried (Hg.): Westfälische Geschichtsbaumeister. Landesgeschichtsforschung und Landesgeschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert. Münster 2015 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen N.F. 21), 191–211. 13 ���������������������������������������������������������������������������������������� Hoffmann, Christian: Rezension zu Freitag/Reininghaus (Hg.): Westfälische Geschichtsbaumeister. In: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 89 (2017) 225–229, hier 228.

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Insofern erschien es opportun, Priesterhistorikern auch und gerade außerhalb der akademischen Zunft nachzuspüren, also gewissermaßen Außenseiter (oder um einen zeitgenössisch gern verwendeten Ausdruck zu bemühen: Dilettanten) mit in den Blick zu nehmen. Wird der Dilettant heutzutage mit dem bemühten, aber erfolglosen Stümper gleichgesetzt, bezeichnete er im 19. Jahrhundert den mit Professionalität agierenden ­Liebhaber, der seine Liebhaberei jedoch nicht im Hauptberuf betrieb. Woraus entsprang die Motivation der Priester-Dilettanten für eine historiographische Tätigkeit? Welche Qualifikation brachten sie für diese selbst gesetzte Aufgabe mit? Waren sie, die Vollblutseelsorger, gewissermaßen auch in ihrer historischen Freizeitbetätigung Universalgelehrte oder kaprizierten sie sich auf einen bestimmten Sektor der ­Geschichte? Im Band über den Diözesanklerus innerhalb seiner als Standardwerk zu betrachtenden Geschichte des kirchlichen Lebens14 untersucht Erwin Gatz zwar auch Nebenberufe von Geistlichen. Dabei geht es jedoch beispielsweise um Priester als Politiker oder um Priester als Journalisten, nicht jedoch um Priester als Historiker – obwohl der Herausgeber selbst Priesterhistoriker war. Dieses Phänomen unterzog erst der Würzburger Kirchenhistoriker Dominik Burkard einer eigenständigen Untersuchung, passenderweise akzentuiert auf „Priester als Landeshistoriker“. Er erklärt, dass es äußerst kompliziert sei, „möglichst flächendeckend, jedenfalls aber in der Breite – landeshistorisch arbeitende Priester [zu] erheben“.15 Wenn eine systematische Durchsicht der biographischen Reihen Schlesische Lebensbilder und Characterbilder aus dem Klerus Schlesiens/Schlesische Priesterbilder sowie des Jahrbuchs Archiv für schlesische Kirchengeschichte vielleicht nicht alle landes- und regionalgeschichtlich arbeitenden Priester zutage fördert, so doch die bedeutendsten von ihnen – womit zugleich zumindest in Umrissen die von Burkard als Problem aufgeworfene Frage beantwortet ist, welche Priester denn eigentlich den Anspruch hatten, als Landeshistoriker bezeichnet zu werden. Die zahlreich anzutreffenden Gelegenheitshistoriker im Seelsorgeklerus, die beispielsweise eine einzige Pfarrei- oder Vereinsgeschichte vorgelegt haben, sind in aller Regel nicht in die kollektive Erinnerung eingegangen. Wenn aber ein einzelner Priester, etwa der 1801 in Baitzen (Kreis Frankenstein) geborene Franz Xaver Görlich, allein acht Monographien verfassen konnte (und überdies von der Forschung rezipiert worden ist16), oder aber ein anderer eine vollständige Geschichte aller Pfarreien seiner engeren Heimat in mehreren Folgen vorlegte wie der Pfarrer von Ullersdorf/Biele in der Grafschaft Glatz, Joseph Kögler,17 dann dürfte er 14 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Gatz, Erwin (Hg.): Geschichte des kirchlichen Lebens, Bd. 4: Der Diözesanklerus. Freiburg/Basel/Wien 1995. 15 Burkard, Dominik: Priester als Landeshistoriker – Vermessung eines Forschungsfeldes. In: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 104 (2009) 187–224, hier 190. 16 Rothe, Alfred: Franz Xaver Görlich (1801–1881). In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 25 (1967) 306–311. 17 Pohl, Dieter: Joseph Kögler (1765–1817). In: Hirschfeld, Michael/Gröger, Johannes/Marschall, Werner (Hg.): Schlesische Kirche in Lebensbildern, Bd. 7. Münster 2006, 154–158.

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dem Kriterium des Priesterhistorikers genügen. Es mag hier eine Grauzone geben, aber im Prinzip lässt sich das Profil des geistlichen Geschichtsforschers durchaus treffsicher bestimmen. Dieser sollte über Jahre oder gar Jahrzehnte hinweg seinem Sujet durch kontinuierliches Publizieren, womöglich ebenso durch Mitgliedschaft in historischen Vereinen, verbunden gewesen sein. Die hier zu treffende Auswahl fiel auf zwei Oberschlesier: Augustin Weltzel, den sein Biograf Alfons Nowack als den „Altmeister der Geschichte Oberschlesiens“18 kennzeichnete, und Johannes Chrząszcz, der schon zu Lebzeiten als der „unermüdliche Erforscher der Heimatgeschichte“19 apostrophiert wurde. Beide hat zudem Wolfgang Kessler in seinem Beitrag über Orts- und Heimatgeschichte für das von Joachim Bahlcke 2005 herausgegebene Handbuch Historische Schlesienforschung als deren „herausragende Vertreter“ in einem Atemzug genannt und sie damit gewissermaßen als Repräsentanten ihrer Zunft geadelt.20

II. Max Sdralek „Alle Blicke richteten sich auf seine ungewöhnlich lebhaften Augen, wenn er zu reden anfing. Er bedurfte nur einiger Worte und schon waren die Hörer in den fernen Zeiten und Räumen, von denen er sprach.“21 So charakterisierte Joseph Wittig den nicht nur ihn selbst, sondern auch viele andere Theologiestudenten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Breslau begeisternden Kirchengeschichtsprofessor Max Sdralek. Wittig, der später weithin bekannte, aus der katholischen Kirche ausgeschlossene Theologe, versuchte als erster, Sdraleks Leben zu skizzieren.22 Was faszinierte ihn, den 18 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Nowack, Alfons: Augustin Weltzel. In: Andreae, Friedrich u.a. (Hg.): Schlesier des 19. Jahrhunderts. Breslau 11922 [Sigmaringen 21985] (Schlesische Lebensbilder 1), 176–178, hier 176; ders.: Augustin Weltzel (1817–1897). In: ders. (Hg.): Lebensbilder schlesischer Priester, [Tl. 1]. Breslau [1928], 205–214. Von polnischer Seite vgl. Pixa, Józef: Śląski Tacyt ksiądz Augustyn Bogislaw Weltzel (1817–1897). In: Zeszyty edukacji kulturalnej. Konwersatorium Im. Josepha von Eichendorffa 27 (2000) 127–133; Kincel, Ryszard (Hg.): Listy Augustyna Weltzla do Vincenca Praska 1875–1897. Racibórz 1999. 19 [Nowack, Alfons]: Dr. Johannes Chrząszcz (1857–1928). In: ders. (Hg.): Lebensbilder schlesischer Priester, Tl. 2. Breslau 1939, 145–153, hier 145. Von polnischer Seite vgl. Ogrodziński, Wincenty: Art. Chrząszcz Jan. In: Polski Słownik Biograficzny 3 (1937) 476; Górecki, Piotr: Ksiądz Johannes Chrząszcz (1857–1928) – duszpasterz, człowiek nauki i pióra, badacz śląskich dziejów. In: Bibliotheca Nostra. Śląski kwartalnik naukowy 39/1 (2015) 64–73. 20 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Kessler, Wolfgang: Orts- und Heimatgeschichte. In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2005 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 11), 431–447, hier 431. 21 Wittig, Joseph: Max Sdralek. Nekrolog. In: Chronik der Universität Breslau XXVIII. Breslau 1914, 176–196, hier 176. 22 Ders.: Max Sdralek. In: Andreae u.a. (Hg.): Schlesier des 19. Jahrhunderts, 130–133.

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Meisterschüler, an seinem Lehrmeister? Es waren wohl nicht in erster Linie dessen würdiges Auftreten und dessen Eleganz, die ihn zu einer äußerlich beeindruckenden Gestalt machten, sondern – neben dessen oben bereits geschilderter Eloquenz – wohl eher die Tatsache, dass „seine Wissenschaft, Kritik und Darstellungskunst als auf der Höhe der Zeit stehend“ galt.23 Ganz ähnlich wie Wittig äußerte sich ein anderer prominenter Schüler Sdraleks, der spätere Generalvikar Josef Negwer, der die große Begeisterung der ­Theologiestudenten für den Kirchenhistoriker damit erklärte, dass dieser in seine Vorlesungen „gern kritische Bemerkungen über die Zeitverhältnisse einfließen“ ließ.24 Dies mag auch das kritische Urteil des später als enfant terrible ohne Amt und Karriere im Vatikan wirkenden Kirchenhistorikers Paul Maria Baumgarten beeinflusst haben, der einige ­Semester in Breslau studierte und Sdralek als dessen Bundesbruder in der CV-Verbindung „Winfridia“ näher kam. Es soll zwischen beiden „eine enge Freundschaft, die sich mit den Jahren durch gemeinsame kirchenhistorische Interessen noch festigte“,25 bestanden haben. Sdralek blickte zudem über den Tellerrand seiner Konfession heraus, wie sich der schlesische Theologe Hermann Hoffmann erinnerte. Zumindest erregte es unter katholischen Theologiestudenten um 1900 Aufsehen, dass „unser katholischer Kirchenhistoriker Professor Sdralek im Kolleg einmal das eben erschienene Werk seines evangelischen Kollegen Nikolaus [Karl] Müller über die Geschichte der kirchlichen Aufklärung lobte. Wir Studenten waren also nach unserer Meinung treuere Katholiken als unser Professor.“26 Um diese Bewertungen verstehen zu können, muss man tiefer in Sdraleks Leben und Wirken eintauchen. Sdralek wurde 1855 in Woschczytz im Kreis Pless geboren – zu jener Zeit ein oberschlesisches Dorf mit rund 500 Einwohnern, in dem der „wasserpolnische Dialekt“ gesprochen wurde. Diesem Dialekt fühlte sich auch sein Vater Lukas Sdralek verbunden, der im Ort als Lehrer und Organist wirkte, während die Mutter aus einer als deutsch bezeichneten Familie stammte. Den Weg aus der tiefen Provinz in die Weltläufigkeit vermittelte ihm zunächst der Besuch höherer Schulen in Gleiwitz und schließlich in Breslau, wo er das katholische Matthiasgymnasium mit dem Abitur verließ. Während des anschließenden Theologiestudiums wurde der damalige Lehrstuhlin23 Ebd., 130. 24 Negwer, Josef: Erinnerungen an Franz Xaver Seppelt. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 23 (1965) 175–189, hier 176. Zu den weiteren prominenten Schülern Sdraleks gehörte der spätere Breslauer Kapitelsvikar Bischof Ferdinand Piontek, der 1907 bei ihm promoviert worden war. Vgl. Hartelt, Konrad: Ferdinand Piontek (1878–1963). Leben und Wirken eines schlesischen Priesters und Bischofs. Köln/Weimar/Wien 2008 (Forschungen und Quellen zur Kirchenund Kulturgeschichte Ostdeutschlands 39). 25 Betz, Isa-Maria: Paul Maria Baumgarten – Deutscher Kirchenhistoriker und römischer Priester. Eine Annäherung an Leben und Werk. Hamburg 2013 (Studien zur Kirchengeschichte 14), 29. Baumgarten war ein äußerst agiler römischer Priester mit großem publizistischem und teilweise diplomatischem Wirkungsfeld. 26 Hoffmann: Im Dienste des Friedens, 243.

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Abb. 1: Von 1896 bis 1913 war der Oberschlesier Max Sdralek (1855–1913) Professor für Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Breslau. 1906/07 bekleidete er zugleich das Amt des Rector magnificus an der Hochschule. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S-168/11/06.

haber für Kirchengeschichte Hugo Laemmer auf ihn aufmerksam. Dass Sdraleks Horizont sich noch stärker erweitern konnte, verdankte er letztlich dem Kulturkampf. Weil die Breslauer Fakultät vorübergehend geschlossen wurde, wechselte er nach Freiburg im Breisgau und wurde dort Schüler des bekannten, zu den scharfen Kritikern des durch den Kulturkampf beförderten Ultramontanismus gehörenden Franz Xaver Kraus.27 Dieser betreute auch die Dissertation, die Sdralek 1880 verteidigte (Hinkmar von Reims kanonistisches Gutachten über die Ehescheidungsangelegenheit Lothars II.).28 An der Breslauer Fakultät war zu dieser Zeit, von 1863 bis 1888, das Promotionsrecht ausgesetzt. In St. Peter im Schwarzwald zum Priester seiner Heimatdiözese Breslau geweiht, gehörte Sdralek zu den wenigen wissenschaftlich qualifizierten Geistlichen, die nicht einmal kurzzeitig eine Kaplanstelle bekleideten und somit keinerlei Erfahrungen auf dem Feld der Seelsorge vorweisen konnten. Denn in Breslau war es Praxis, dass auch die für den höheren Schuldienst oder die Universitätslaufbahn vorgesehenen Geistlichen Erfahrungen in der Pfarrseelsorge aufweisen mussten. Sdralek hingegen schloss an die 27 Ders.: Franz Xaver Kraus und Breslau. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 17 (1959) 273–288. Dort wird Sdralek allerdings nicht erwähnt. 28 Samulski, Robert: Theologische Promotionen schlesischer Priester an der Universität Freiburg im Breisgau. In: Stasiewski, Bernhard (Hg.): Beiträge zur schlesischen Kirchengeschichte. Köln/ Wien 1969 (Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands 6), 416–441, hier 431, 440.

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Priesterweihe sofort die Habilitation bei Hugo Laemmer in Breslau an, der von ihm sagte, er, Sdralek, sei „der beste seiner Schüler“ gewesen.29 Mit erst 29 Jahren erhielt Sdralek 1884 die Professur für Kirchengeschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Akademie in Münster.30 Sdralek machte kein Geheimnis daraus, dass er sich dort nicht wohlfühlte. Als er 1889 an die neugegründete Katholische Universität Washington D.C. abgeworben werden sollte, schrieb er dem mit ihm aus römischer Zeit befreundeten, an der Kurie antichambrierenden Priester Baumgarten (der ihn offensichtlich in Vorschlag gebracht hatte), er könne einem entsprechenden Ruf in die USA nicht Folge leisten.31 Als Begründung gab Sdralek zum einen an, dass er in Washington ein wesentlich schlechteres Gehalt zu erwarten habe, zum anderen aber auch, nicht der englischen Sprache mächtig zu sein. Zwei Monate später hörte sich seine Antwort schon etwas anders an: „Wüsste ich“, schrieb er an Baumgarten, „dass die Staatsregierung beschlossen hat, mich hier unter den Westfalen zu belassen, so würde ich es sogleich vorziehen, unter die Amerikaner zu gehen.“32 Das war kein Kompliment für Münster, wohl aber eines für seine schlesische Heimat, denn er hatte vom preußischen Kultusminister eine „wiederholte schriftliche Zusage“, dass er nach Breslau versetzt werde – was er auch den Oberpräsidenten der preußischen Provinz Westfalen direkt wissen ließ. In einer Epoche, in der viele Universitätshistoriker Breslau als Durchgangsuniversität beziehungsweise als Karrieresprungbrett betrachteten,33 strebte der Oberschlesier Sdralek – antizyklisch – in die schlesische Universitätsstadt zurück. Mit der Beziehung zu Franz Xaver Kraus, an dessen Realenzyklopädie der christlichen Altertümer Sdralek 1883/86 mitwirkte,34 hatte dieser sich quasi automatisch als Gegner der im Klerus und in weiten Teilen der kirchlich gesinnten Bevölkerung verbreiteten ultramontanen Haltung positioniert – also als Widerpart einer gerade im Zuge des Kulturkampfs sozusagen zur Modebewegung im deutschen Katholizismus gewordenen besonderen Papsttreue und Unterordnung unter die Autorität des päpstlichen Lehramts. Wenn Wittig die Querelen um Sdraleks Berufung von Münster (Nachfolger dort war Anton Pieper) nach Breslau 1896 etwas flapsig dadurch andeutet, dass „in Bres­lau alle 29 Kleineidam: Fakultät, 91. 30 Vgl. das Biogramm bei Hegel, Eduard: Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät ­Münster 1773–1964, Bd. 1–2. Münster 1966–1971, hier Bd. 1, 88f.; Hausberger, Karl: Sdralek, Max. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 9 (1995) Sp. 1264–1267. 31 Sdralek an Paul Maria Baumgarten, 12. Februar 1889. Zit. nach ebd., Bd. 2, 534. 32 Sdralek an Baumgarten, 1. April 1889. Zit. nach ebd., 535. 33 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Bahlcke, Joachim: Das Historische Seminar der Universität Breslau 1811 bis 1945. Fachentwicklung – Personalstand – Forschungsschwerpunkte [2012/13]. In: ders.: Erinnerungskonkurrenz. Geschichtsschreibung in den böhmischen Ländern vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Frankfurt am Main 2016 (Forschungen zu Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 3), 217–238. 34 ������������������������������������������������������������������������������������������ Kraus erwähnte Sdralek in seinen Tagebüchern allerdings lediglich im Rahmen der Kondolenzbriefe anlässlich des Todes seiner Schwester 1889. Vgl. Kraus, Franz Xaver: Tagebücher. Hg. v. Hubert Schiel. Köln 1957, 543.

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Abb. 2: Bei seinem Amtsantritt an der Universität Breslau musste Professor Dr. Max Sdralek – wie in solchen Fällen üblich – einen Personalfragebogen ausfüllen. Bildnachweis: Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Sign. S-220.

Welt Kirchengeschichte lesen“ wollte, wird bereits erkennbar, dass Sdralek sich durch seine Bewerbung viele Feinde innerhalb seiner Zunft gemacht hatte und er nun dem Verdikt ausgesetzt war, letztlich von Staates Gnaden transferiert worden zu sein. Sdralek war bei seinen Breslauer Studenten beliebt und brachte mehrere ihrerseits in der Wissenschaft erfolgreiche Schüler hervor. Zudem verkörperte er durch die 1900 erfolgte Berufung in das Domkapitel auf das sogenannte Professorenkanonikat, das stets einem Mitglied der Katholisch-Theologischen Fakultät vorbehalten war, die enge Verbindung von Theologischer Fakultät und Bistum. Ein umfangreiches wissenschaftliches Œuvre konnte er in Breslau dennoch nicht vorweisen. Während er in Münster – vielleicht animiert durch das ihn dort in die Studierstube treibende häufige Regenwetter – so produktiv gewesen war, dass Hegel in seinem Standardwerk zur Geschichte der Katholisch-Theologischen Fakultät bemerkte, Sdralek habe „das Ansehen des kirchengeschichtlichen Lehrstuhls in Münster mächtig gehoben“,35 so urteilte Wittig über die Breslauer Zeit seines Doktorvaters lakonisch: „Kein Buch kam mehr aus seiner Feder“.36 35 Hegel: Fakultät, Bd. 1, 341. 36 Wittig: Sdralek, 130.

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In der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens sucht man vergeblich nach Aufsätzen des katholischen Kirchenhistorikers, zumal originär schlesische Themen gar nicht in seinem Fokus lagen. Der Akzent lag in dieser Zeit offenkundig auf der Pflege von Kontakten, was ihm durch sein den Menschen zugewandtes ­Naturell leicht fiel. So war die Mitgliedschaft im Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens für ihn ganz offensichtlich selbstverständlich.37 Zum einen legte er das Augenmerk auf seinen großen Schülerkreis – von dem Wittig nicht ohne Stolz bemerkte: „Wir Sdralekschüler hielten immer etwas zusammen“38 –, zum anderen engagierte er sich aber auch innerhalb des Professorenkollegiums von Fakultät und Universität. War er schon in Münster zum Rektor der damaligen Akademie gewählt worden, so bekleidete er diese Würde auch in Breslau (1906/07), abgesehen davon, dass er Dekan seiner Fakultät war. Für seinen ausgleichenden Charakter spricht ferner, dass sein Kollege an der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Karl Müller, über Sdralek schrieb, dieser sei „mit vielem, was in seiner Umgebung und weiterhin zur Zeit in der römischen Kirche geschah, unzufrieden und [...] staatsfreundlich“39 gewesen. Kein Wunder also, dass Sdralek von der preußischen Regierung zeitweise offenbar als Kandidat für den angesichts des deutsch-polnischen Nationalitätenkonflikts schwer zu besetzenden Erzbischofsstuhl von Gnesen-Posen gehandelt wurde.40 Da Sdraleks wissenschaftlicher Radius von Freiburg über Münster nach Breslau reichte, war er in seinem Fach gut vernetzt. Gemeinsam mit seinen Kirchengeschichtskollegen Alois Knöpfler in München und Heinrich Schrörs in Bonn rief er 1891 die erste Reihe für kirchenhistorische Arbeiten in Deutschland ins Leben, die „Kirchengeschichtlichen Studien“. In ihr erschienen bis 1903 sechs Bände. Für seine Breslauer Schüler schuf er die Reihe „Kirchengeschichtliche Abhandlungen“ mit zehn Bänden (1902–1912). Sdralek, den Wittig als „Schlesier nach Leib und Seele“ apostrophierte,41 erlitt mit 54 Jahren einen Schlaganfall, der ihn sprichwörtlich aus der akademischen Bahn riss, und starb 1913 in Bad Landeck.

III. Joseph Jungnitz Joseph Jungnitz, der zweite hier als Historiker zu betrachtende Geistliche, war gut zehn Jahre älter als Sdralek und überlebte diesen um fünf Jahre. Zwischen beiden gab es – vom Wohnsitz auf der Breslauer Dominsel und der Mitgliedschaft im dortigen 37 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Mitglieder-Verzeichnis. Abgeschlossen Anfang Februar 1905. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 39 (1905) 335–364, hier 342. 38 Wittig, Joseph: Roman mit Gott. Tagebuchblätter der Anfechtung. Stuttgart 1950, 115. 39 Zit. nach Jedin, Hubert: Kirchenhistoriker aus Schlesien in der Ferne. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 11 (1953) 243–259, hier 251. 40 Neubach, Helmut: Schlesische Kandidaten für den erzbischöflichen Stuhl von Gnesen-Posen. In: Stasiewski (Hg.): Beiträge zur schlesischen Kirchengeschichte, 452–473, hier 473. 41 Wittig: Sdralek [1922], 131.

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Domkapitel, in das Jungnitz allerdings auch erst 1911, zwei Jahre vor Sdraleks Tod, als Ehrendomherr berufen wurde, abgesehen – kaum direkte Berührungspunkte. Zwar nahm Jungnitz einen Lehrauftrag an der Universität wahr – er bot Übungen in der historischen Hilfswissenschaft der Diplomatik an –, aber diese Lehrveranstaltung fand im Lesesaal des Diözesanarchivs und überdies im Rahmen des Geschichts-, nicht des Theologiestudiums statt. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Jungnitz kein gutes Verhältnis zum Inhaber des Lehrstuhls für Kirchengeschichte gepflegt hätte, denn er wurde, wie Zeitgenossen übereinstimmend anmerkten, „überall [...] geschätzt und verehrt“.42 1844 in Nieder Mois im Kreis Neumarkt geboren, einem in den 1880er Jahren gut 400 Einwohner zählenden Ort, der mit dem benachbarten Kirchdorf Ober Mois ein ehemaliges Leubuser Stiftsgut war, stammte er aus einer dort seit Generationen lebenden Handwerkerfamilie.43 Als begabter Volksschüler wurde er vom Ober Moiser Pfarrer auf den Besuch der höheren Schule vorbereitet. 1857 kam er auf das katholische Matthiasgymnasium in Breslau, das er sechs Jahre später mit dem Abitur verließ, um wie viele seiner Mitschüler das Theologiestudium zu beginnen. Im Breslauer Theologenkonvikt begegnete er dem Präfekten Karl Otto, der durch Veröffentlichungen zur schlesischen Kirchengeschichte hervorgetreten war. Möglicherweise erhielt der Priesteramtskandidat, der sein Studium mithilfe eines von einem Vorfahren, der Priester und Astronomieprofessor in Breslau gewesen war, gestifteten Stipendiums finanziell bestreiten konnte, dadurch erste Anregungen für seine späteren geschichtlichen Forschungen. Als Kaplan in Guhrau blieb Jungnitz jedoch zunächst 16 Jahre lang primär der Seelsorge verpflichtet. Er trat zwar in dieser Phase bereits regelmäßig publizistisch hervor, allerdings weniger auf dem Feld der Landesgeschichte als vielmehr mit religiös-historischen Gebrauchsschriften – 1880 etwa mit dem Bändchen Kleine Kirchengeschichte für die katholische Schule, das zu seinen Lebzeiten zehn Auflagen erfuhr, oder ein Jahr später mit dem Werk Legende der Heiligen für Schule und Haus.44 Erst nach der Rückkehr nach Breslau, die 1883 wohl in erster Linie aus gesundheitlichen Gründen erfolgte, fand er als Hausgeistlicher im Fürstbischöflichen Waisenhaus Zeit und Gelegenheit zur Forschung. Sie mündete 1885 in eine erste größere Monographie, eine Geschichte seines Heimatdorfes. Zwei Jahre später erschien ein erster wissenschaftlicher Aufsatz, dem in den nächsten Jahrzehnten acht weitere folgten, die freilich nur einen Teil seiner 162 Titel umfassenden Bibliographie beschreiben. Daraus stechen Abhandlungen über einzelne Breslauer Bischöfe wie Sebastian von Rostock, über die 42 �������������������������������������������������������������������������������������������������� Bretschneider, Paul: Joseph Jungnitz als Lehrer. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 52 (1918) 189–193, hier 193. 43 Jungnitz, Bernhard: Joseph Jungnitz (1844–1918). In: Hirschfeld/Gröger/Marschall (Hg.): Schlesische Kirche in Lebensbildern, Bd. 7, 122–128; Wolf-Dahm, Barbara: Jungnitz, Joseph. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 3 (1992) Sp. 877–880. 44 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Verzeichnis der Schriften von Joseph Jungnitz. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 52 (1918) 198–208.

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Michael Hirschfeld Abb. 3: Widmungsbild für Professor Dr. Joseph Jungnitz (1844–1918) in Band 52 der Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens aus dem Jahr 1918. Bildnachweis: Dr. Bernhard Jungnitz, Holzwickede.

Breslauer Germaniker und die dortigen Weihbischöfe hervor. 1891 erlangte Jungnitz mit 47 Jahren noch den akademischen Grad des Doktors der Theologie, und zwar „unter Anerkennung seiner bisherigen Schriften“,45 was einer heutigen kumulativen Promotion entspricht. Vor allem aber knüpfte er Kontakte zu den Leitern von Provinzialarchiv und Stadtarchiv, Colmar Grünhagen und Hermann Markgraf. Angesichts seines Naturells wundert es nicht, dass sich über rein berufliche Kontakte auch freundschaftliche Bande entwickelten, ja dass Jungnitz in der Phase des noch im Abklingen befindlichen Kulturkampfs um 1900 nicht bloß für eine Mitgliedschaft im Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens gewonnen werden konnte, sondern auch als Repräsentant der Kirchengeschichte und der katholischen Kirche durch zahlreiche Vorträge zu reüssieren vermochte. Diese Führungsposition innerhalb des Geschichtsvereins, die sich in seiner Wahl zum stellvertretenden Vorsitzenden äußerte, wird aus gleich drei Nachrufen deutlich, die Jungnitz in der Vereinszeitschrift gewidmet wurden. Heinrich Wendt und Ernst Maetschke verwiesen in diesem Kontext darauf, dass in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg die konfessionelle Ausrichtung offenbar längst keinen Anlass zum wissenschaftlichen Streit mehr gegeben habe.46 Die Konfliktlinien in der Landesgeschichte 45 König, Arthur: Joseph Jungnitz. Ein Lebensbild. In: Schlesisches Pastoralblatt 39 (1918) 37– 41, hier 40; zugleich in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 52 (1918) 172–188, hier 178. 46 Wendt, Heinrich/Maetschke, Ernst: Joseph Jungnitz als Vereins- und Vorstandsmitglied. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 52 (1918) 194–198.

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seien vielmehr zwischen einer „konservativen“ Richtung eines Primats der Politikgeschichte und einer „modernen“ Ausrichtung auf wirtschafts- und sozialhistorische Fragestellungen hin verlaufen. Jungnitz habe das Geschick gehabt, die Gunst beider Richtungen zu besitzen und im Verein vermitteln zu können, weshalb er als „Friedensstifter“ bezeichnet wurde. Dass die irenische Gesinnung und konziliante Grundhaltung von Jungnitz auch eine Schattenseite hatte, klang in den Nachrufen nur am Rande an, wenn beispielsweise sein Schüler Paul Bretschneider auf die mangelnde Fähigkeit hinwies, Kritik an den wissenschaftlichen Arbeiten anderer zu üben: „Der vornehme Mensch überwog den Kritiker in ihm.“47 Schon 1884, neben anderen Aufgaben, von Fürstbischof Robert Herzog zum ­Kustos der Dombibliothek ernannt, hatte Jungnitz seinen weiteren Aufstieg zum Leiter aller drei bischöflichen Kultureinrichtungen – neben der Bibliothek auch des Archivs und des Museums – dem besonderen Vertrauen von Kardinal Georg von Kopp zu verdanken. Dieser wählte Jungnitz zu seinem Beichtvater und verlieh ihm 1895 nicht nur den Titel Geistlicher Rat, sondern übertrug ihm auch die Leitung des neu erbauten Diözesanarchivs. Das hatte zur Folge, dass Jungnitz zugleich regelmäßig auf der Sommerresidenz der Fürstbischöfe, Schloss Johannesberg bei Jauernig, zu Gast war.48 Dass er sowohl kirchlicher- als auch staatlicherseits geschätzt wurde, belegen deutlich die ihm in seinem letzten Lebensjahrzehnt zuteil gewordenen Auszeichnungen. Zum einen verlieh ihm die Katholisch-Theologische Fakultät in Breslau 1908 den Titel eines Honorarprofessors,49 zum anderen ernannte ihn die örtliche Philosophische Fakultät – sicherlich nicht zuletzt aufgrund seiner guten Beziehungen zu den dortigen Historikern – drei Jahre darauf zum Ehrendoktor. Hervorstechendes Merkmal ist auch seine Förderung des kirchengeschichtlichen Nachwuchses. So führte Jungnitz beispielsweise den späteren Papsthistoriker Franz Xaver Seppelt in die Urkundenlehre ein.50 Dabei spielte wohl auch eine Rolle, dass Seppelt auf der Dominsel aufgewachsen und dem Diözesanarchivar von Kindheit an bekannt war. Es war Jungnitz’ Funktion als Archivdirektor, die ihn – so Paul Bretschneider – „naturgemäß der Mittelpunkt eines großen und recht bunten Kreises von Schülern“ werden ließ.51 Diese allgemeine Bemerkung macht den weiten Radius von Jungnitz deutlich, der sich eben nicht allein auf den kirchlichen Binnenbereich beschränkte. Beim Blick über den Tellerrand des katholischen Milieus hinaus galt seine besondere Aufmerksamkeit dem Breslauer Geschichtsverein, für dessen Mitgliedschaft er zahlreiche junge Historiker, gerade auch aus dem katholischen Bereich, gewinnen 47 Bretschneider: Jungnitz als Lehrer, 193. 48 Hartelt, Konrad: Josef Negwer (1882–1964). Der letzte deutsche Generalvikar des Erzbistums Breslau. Münster 2012 (Arbeiten zur schlesischen Kirchengeschichte 22), 44. 49 Kleineidam: Fakultät, 161. 50 Negwer, Josef: Erinnerungen an Franz Xaver Seppelt. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 23 (1965) 175–189, hier 177. 51 Bretschneider: Jungnitz als Lehrer, 192.

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konnte. Er war zudem in der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur sowie im Verein für Geschichte der bildenden Künste – der ihn zu seinem Goldenen Priesterjubiläum 1917 zum Ehrenmitglied ernannte52 – aktiv.

IV. Augustin Weltzel Als erstes von den zwei vorgenannten Beispielen für schlesische Priesterhistoriker, die dieses Metier nicht hauptberuflich ausüben konnten, sei hier Augustin Weltzel erwähnt, von dem Joseph Jungnitz in einem Nachruf 1898 schrieb, dass „dessen Name in der Historiographie Oberschlesiens stets an hervorragender Stelle genannt werden wird“.53 Dass dieses Lob aus dem Mund des Breslauer Diözesanarchivdirektors und Confraters keine bloße Floskel und Verneigung angesichts des Todes darstellte, belegt die Tatsache, dass die „Bewegung für die Autonomie Schlesiens“ (RAS) in Polen unter Jerzy Gorzelik seit 2007 einen nach Weltzel benannten Preis verleiht. Außerdem nahm der „Deutsche Freundschaftskreis“ (DFK) in Tworkau, wo dieser schlesische Priesterhistoriker vierzig Jahre als Pfarrer amtierte, dessen 200. Geburtstag zum Anlass, seines Wirkens mit zahlreichen Aktionen zu gedenken, die auch über Tworkau hinaus Aufmerksamkeit fanden. So brachte man zum Beispiel ein zweisprachiges Faltblatt über ihn heraus und stellte sein Grabdenkmal wieder her.54 Das Gut in dem 15 Kilometer südlich von Ratibor in Oberschlesien gelegenen Dorf, das 1861 gut 1.600 Einwohner zählte, war 1841 in den Besitz der Grafen SaurmaJeltsch übergegangen, die in Weltzels niederschlesischem Geburtsort Jeltsch im Kreis Ohlau, rund 25 Kilometer südöstlich von Breslau, residierten. Als Augustin Weltzel dort 1817 das Licht der Welt erblickte, zählte Jeltsch 664 Einwohner, von denen 166 Katholiken waren. Zudem wurde in Weltzels katholischer Familie „Wasserpolnisch“ gesprochen. Als begabter Junge fand er durch seinen Heimatpfarrer den Weg auf das Breslauer Matthiasgymnasium und nach dem Abitur 1836 an die Katholisch-Theologische Fakultät der Breslauer Universität. Ungewöhnlich erscheint, dass Weltzel im Hunderte Kilometer von seiner schlesischen Heimat entfernten Stettin – dorthin war er nach der 1842 in Breslau empfangenen Priesterweihe als Kaplan versetzt worden – unverzüglich historischen Forschungen nachging und es als zugereister Katholik in dieser stark protestantisch geprägten Stadt sogar zum Vorstandsmitglied der Gesellschaft für Pommersche Geschichte brachte. Aber erst die Präsentation des Grafen Saurma auf dessen Patronatspfarrei Tworkau 1857 brachte den nunmehr vierzigjährigen Geistlichen zur intensiven Beschäftigung mit der Geschichte und Kultur Schlesiens. Bereits 1859, nur vier Jahre nach dessen Gründung, trat er eigenen Angaben zufolge dem Verein für Ge52 Bericht von der Feier des Goldenen Priesterjubiläums. Hier zit. nach Jungnitz: Jungnitz, 127. 53 Jungnitz, [ Joseph]: Nachruf Dr. Augustin Weltzel. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 32 (1898) 386–388, hier 386. 54 Großer Schlesier, großes Fest. In: Schlesisches Wochenblatt vom 26. April 2017.

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schichte und Alterthum Schlesiens bei; noch im selben Jahr schloss er sich der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur an.55 1862 wurde Weltzel zum Ehrenmitglied der Historisch-statistischen Sektion der Mährisch-Schlesischen Gesellschaft zur Beförderung des Ackerbaues, der Natur- und Landeskunde in Brünn bestellt, seit 1871 gehörte er dem Museumsverein schlesischer Altertümer an. Fast im Fünf-Jahres-Rhythmus legte er nach 1860 oberschlesische Stadtgeschichten vor, an denen er „mit seltener Ausdauer“56 arbeitete: 1861 zu Ratibor, 1866 zu Cosel, 1870 zu Neustadt O.S. Dies erscheint umso erstaunlicher, als er von 1863 bis 1866 auch noch ein Mandat im Preußischen Abgeordnetenhaus bekleidete.57 Allerdings nutzte er „im Winter [...] diejenigen Tage, an welchen Sessionen nicht stattfanden, um im Geheimen Staatsarchiv und in der Königlichen Bibliothek [in Berlin] weiteres Material für die Stadtgeschichte [von Neustadt O.S.] zu sammeln“. Nach einem weiteren Jahrzehnt folgten 1882 Monographien zu Guttentag und 1884 zu Sohrau, gefolgt von kleineren

Abb. 4: Zu den Veröffentlichungen Augustin Weltzels zählen nicht nur Monographien zur Stadtgeschichte Oberschlesiens, sondern auch Kollektivbiographien bekannter oberschlesischer Adelsgeschlechter, so etwa der durch den Dichter Joseph von Eichendorff überregional bekannten Familie von Eichendorff. Bildnachweis: Martin-Opitz-Bibliothek Herne, Sign. Fk400. 55 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Über das Jahr des jeweiligen Vereinseintritts vgl. die Selbstauskunft bei Weltzel, Augustin: Geschichte des Ratiborer Archipresbyterats. Breslau 21896 [Breslau 11885], 529. 56 Jungnitz: Weltzel, 387. 57 Haunfelder, Bernd: Biographisches Handbuch für das Preußische Abgeordnetenhaus 1849– 1867. Düsseldorf 1994 (Handbücher zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien 5), 277. Zum Folgenden vgl. Weltzel, Augustin: Geschichte der Stadt Neustadt in Oberschlesien. Neustadt 1870, VIIIf.

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Bänden über einzelne Pfarreien und Klöster.58 Außerdem erforschte und publizierte er die Geschichte wichtiger oberschlesischer Adelsgeschlechter, so etwa der Saurma, Eichendorff, Gaschin, Praschma und (ungedruckt als Manuskript vorliegend) Oppersdorff.59 Noch ein Jahr, bevor Augustin Wetzel 1897 mit 80 Jahren in Tworkau starb, schrieb er im Vorwort zu einem seiner Bücher, er freue sich, „an seinem Lebensabende den Freunden heimischer Geschichte vorliegendes Werk noch darbieten zu können“.60 So umfangreich Weltzels Bücher ausfielen, so quellengesättigt waren sie auch. Der Tworkauer Pfarrer stand auf der Höhe seiner Zeit, die sich in der Geschichtswissenschaft der Edition von Quellen in besonderer Weise verpflichtet fühlte – das gewaltige Projekt der Monumenta Germaniae Historica ist in diesem Zusammenhang als Flaggschiff zu nennen. Konkret drückte sich dies etwa in Weltzels Vorwort für die 1885 erschienene Geschichte des Ratiborer Archipresbyterats aus, in dem er schrieb, dass „eine sachgemäße, zuverlässige und umfassende Darstellung der Universalgeschichte nur auf Grundlage emsiger Forschungen auf den einzelnen Gebieten aufgebaut werden kann“.61 Obwohl er diesem allgemeinen Trend auf lokaler Ebene also nacheiferte, legte Weltzel keinen Wert auf eine straffe, übersichtliche, ja für ein breites Publikum lesbare Darstellung seines Stoffes, so dass, wie Nowack eindrücklich formuliert, „ihre Lektüre nicht immer behaglichen Genuss gewährt“,62 sondern eher – so Jungnitz – „Sammlungen einer Unsumme von Details“63 darstellte. So eigenständig die Forschungen einerseits auch waren, so erfreuten sie sich andererseits doch durchaus des Wohlwollens des Fürstbischofs, der Weltzel 1868 zum Geistlichen Rat ernannte. 1896 bezeichnete Weltzel den der Geschichtsforschung eng verbundenen Breslauer Kardinal Kopp angesichts von dessen Übernahme der Druckkosten für eines seiner Bücher als „hohe[n] Gönner und Förderer vaterländischer Geschichtsschreibung“.64 Dass sich Weltzel nicht nur für den heimischen Kirchturm oder für die Region interessierte und ein Gelehrtenstubendasein in seinem Pfarrhaus fristete, belegt die Liste seiner bereits genannten Vereinsmitgliedschaften. Mitglied zu sein bedeutete für ihn, mit anderen Vereinsangehörigen Austausch über wissenschaftliche Fragen zu 58 ������������������������������������������������������������������������������������������� Gregor, Joseph: Augustin Weltzel und seine oberschlesischen Geschichtswerke. In: Oberschlesische Heimat 4 (1908) 1–25. 59 ������������������������������������������������������������������������������������������ Zum Hintergrund vgl. Bahlcke, Joachim: Die Haus- und Familiengeschichte der Grafen Schaffgotsch. Genese, Konzeption und Scheitern eines historiographischen Großunternehmens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Voigt, Emil: Freiherr – Reichsgraf – Semperfrei. Zur Titelund Ranggeschichte des schlesischen Adelsgeschlechts Schaffgotsch. Hg. v. Joachim Bahlcke und Ulrich Schmilewski. Würzburg 2017 (Wissenschaftliche Schriften des Vereins für Geschichte Schlesiens 9), 9*–62*, hier 31*–33*. 60 Weltzel: Geschichte des Ratiborer Archipresbyterats, XI. 61 Ebd., V. 62 Nowack: Weltzel, 177. 63 Jungnitz: Weltzel, 387. 64 Weltzel: Geschichte des Ratiborer Archipresbyterats, XI.

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pflegen. „Das Pfarrhaus in Tworkau galt als eine Art Auskunftsbüro in oberschlesischhistorischen Angelegenheiten, wo jeder Fragesteller freundliche Belehrung erhielt.“65 August Potthast, Bibliothekar des Reichstags in Berlin, soll den bekanntesten Beinamen Weltzels geprägt haben, den eines „oberschlesischen Tacitus“. Weltzel beteiligte sich aber genauso an der Gestaltung der Publikationsorgane der einzelnen Vereine; besonders deutlich wird dies an seinen Veröffentlichungen der Jahre 1862 bis 1874 in der Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens. Hermann Markgraf dedizierte ihm anlässlich seines goldenen Priesterjubiläums 1892 denn auch nicht von ungefähr eine Veröffentlichung des Breslauer Geschichtsvereins. 1889 verlieh ihm die Katholisch-Theologische Fakultät der dortigen Universität die Ehrendoktorwürde, 1892 erhielt Weltzel zudem den Preußischen Kronenorden dritter Klasse.

V. Johannes Chrząszcz Wie der Name von Augustin Weltzel bis heute mit Tworkau verbunden ist, so besteht eine enge Verbindung von Johannes Chrząszcz mit Peiskretscham,66 wo ihm zwar zeitlich versetzt, aber von der Dauer her eine ähnlich lange Wirksamkeit beschert war. Chrząszcz hatte sein Pfarramt 1890 in der etwa 4.000 Mitglieder zählenden Pfarrei St.  Nikolaus angetreten. 1928, inzwischen von Fürstbischof Adolf Kardinal Bertram mit dem Ehrentitel Geistlicher Rat ausgezeichnet, verzichtete er auf die Pfarrstelle. Und es gibt eine zweite, viel direktere Verbindung zwischen Weltzel und Chrząszcz. Weil der Tworkauer Pfarrer seinen Confrater aus Peiskretscham offensichtlich schätzte, vermachte er ihm seine stattliche Bibliothek. Für Chrząszcz soll diese Erbschaft, so Joachim Giela, die Verpflichtung bedeutet haben, das Werk Weltzels fortzusetzen.67 Dass Chrząszcz über dieses vielfältige Engagement in seiner wachsenden Pfarrei – 1912 waren dort bereits mehr als 5.000 Katholiken zu betreuen – hinaus eine überregionale Wirksamkeit als Historiker entfalten sollte, lässt sich aus den ersten Stationen seines Lebens nicht unbedingt ablesen. Zwar hatte der 1857 in Polnisch Müllmen/Kreis Neustadt O.S. geborene Chrząszcz nach eigenen Angaben unter seinen Vorfahren beziehungsweise in der Verwandtschaft schon Geistliche und andere Akademiker aufzuweisen. Überdies stammte er aus einer recht wohlhabenden Familie: Der Vater war Bauerngutsbesitzer. Aber zunächst deutete in seinem Lebensweg alles auf die übliche Bildungsbiographie eines begabten Landjungen hin, der es zum Landpfarrer bringen sollte. Offensichtlich war es der zuständige Pfarrer im drei Kilometer entfernten Deutsch Müllmen, der die Eltern veranlasste, ihren Sohn auf das Gymnasium in Leob65 Nowack: Weltzel, 177. 66 Hirschfeld, Michael: Johannes Chrząszcz (1857–1928). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 12. Würzburg 2017, 213–222. 67 Giela, Joachim: Biographisch-bibliographische Studien zu dem oberschlesischen Pfarrer und Historiker Johannes Chrząszcz. In: Oberschlesisches Jahrbuch 16/17 (2000/01) 91–128, hier 110.

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schütz zu schicken. Später wechselte dieser auf das Matthiasgymnasium in Breslau, wo er im zugehörigen Konvikt wohnen konnte. Dieser auf das Abitur und den anschließenden Eintritt in das Theologenkonvikt mit dem Ziel des Priestertums hinführende Weg wurde durch den Kulturkampf in Preußen in Frage gestellt. Chrząszcz musste die Reifeprüfung statt in Breslau in Oppeln ablegen. Auch das folgende Studium an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität in Breslau war vom Kulturkampf überschattet. Für die praktische Ausbildung musste Chrząszcz Preußen im Wintersemester 1880/81 verlassen. Er ging nach Prag und erhielt im dortigen St.-Veits-Dom am 15. Juli 1881 auch die Priesterweihe. Nach einer Hauslehrertätigkeit, die er zur Vorbereitung auf das 1882 abgelegte Staatsexamen für das höhere Lehramt in den Fächern Religion und Hebräisch nutzte, erhielt er angesichts des Abflauens des Kulturkampfs eine staatliche Anstellung am Gleiwitzer Gymnasium. Parallel zu seiner Schultätigkeit verfasste er 1888 an der KatholischTheologischen Fakultät der Universität Breslau eine Dissertation aus dem Bereich der neutestamentlichen Exegese; von historiographischen Neigungen war zu diesem Zeitpunkt noch nicht viel zu spüren. Dass Chrząszcz 1889 in den Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens eintrat, kann als Ausweis eines eher passiven Geschichtsinteresses im Sinn einer bildungsbürgerlichen Mode gelten.68 Dies zeigte sich auch durch Eintritt in den damals führenden, überkonfessionell ausgerichteten wissenschaftlichen Verein der Stadt, die 1866 gegründete Gleiwitzer Philomathie. Auch seine Vorreiterrolle bei der Gründung eines Museums für Oberschlesien, das im Februar 1906 als erste Einrichtung dieser Art im oberschlesischen Industrierevier eröffnet werden konnte,69 belegt diese weit über das katholische Milieu hinausgehende Öffentlichkeitswirksamkeit des geistlichen Studienrats. Die Übernahme der Pfarrei Peiskretscham markiert insofern den Beginn eines Bruchs, einer Entwicklung weg von der bürgerlich-gesellschaftlichen Breitenwirkung und hin zur landeshistorischen Forschung. Chrząszcz näherte sich seinem Arbeitsfeld mittels kleinerer hagiographischer Abhandlungen über regional bekannte Heilige an, die er zunächst im Schlesische[n] Pastoralblatt publizierte und später als Monographien zusammenfasste. Eine dieser ersten eigenständigen Publikationen enthält eine Widmung für Weltzel.70 Einerseits tat sich Chrząszcz seither als Wissenschaftsorganisator hervor, zumal er, gemeinsam mit dem geistlichen Religionslehrer am Gymnasium in Neustadt O.S. Alfons Nowack und dem Oppelner Oberlehrer Dr. Oskar Wilpert, in seinem Pfarrhaus die Rahmenbedingungen für den 1904 in Oppeln gegründeten Oberschlesischen Ge68 Hirschfeld: Chrząszcz, 216. Zur Philomathie vgl. Hanisch, Max: Der wissenschaftliche Verein „Philomathie“ in Gleiwitz. In: Gleiwitzer Jahrbuch (1927) 245–253. 69 Bończuk-Dawidziuk, Urszula: Geschichtspflege im Breslauer Universitätsmuseum und in anderen Museen Schlesiens vor dem Ersten Weltkrieg. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung, 297–322, hier 318f. 70 Giela: Chrząszcz, 110.

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Abb. 5: Der Pfarrer von Peiskretscham, Dr. Johannes Chrząszcz (1857–1928), gehörte zu den produktivsten Kirchenhistorikern in Oberschlesien. Das Porträt stammt von dem polnischen Künstler Łukasz Mrzygłód (1927). Bildnachweis: Muzeum w Gliwicach, nr. inw. MG1/SZ/3759.

schichtsverein absteckte. Wenn Nowack, mittlerweile zum Archiv-, Bibliotheks- und Museumsdirektor in Breslau avanciert, seinen Mitbruder Chrząszcz als jemanden bezeichnete, der „stets Anregung und Sonnenschein in die Vereinsversammlungen brachte“,71 wird deutlich, dass dieser mehr als nur der Initiator war. Zunächst stellvertretender Vorsitzender, trat er 1913 selbst an die Spitze des Vereins. Andererseits fand Chrząszcz – neben der seelsorglichen Arbeit in einer mittelgroßen Pfarrei – Zeit und Muße für seine geschichtswissenschaftlichen Publikationen. Zwar handelt es sich bei der überwiegenden Mehrzahl um Zeitungsartikel oder Aufsätze in wissenschaftlichen Periodika. Allein in der Zeitschrift des Breslauer Geschichtsvereins veröffentliche Chrząszcz zwischen 1897 und 1912 zehn Aufsätze beziehungsweise Miszellen. In dem als Publikationsorgan des Oberschlesischen Geschichtsvereins 1905 gegründeten Jahrbuch Oberschlesische Heimat, dessen Herausgeberschaft Chrząszcz 1914 übernommen hatte, beziehungsweise in dessen Nachfolgeperiodikum, dem seit 1924 herausgegebenen Oberschlesische[n] Jahrbuch für Heimatgeschichte und Volkskunde, waren es insgesamt 46 größere und kleinere Beiträge.72 Aus der Feder dieses oberschlesischen Historiographen liegen jedoch ebenso zwölf Monographien vor, von denen eine, die Geschichte der Stadt Krappitz, erst posthum erschien. Nicht allein der Kirchengeschichte, sondern auch und vor allem dem Genre der Stadt- beziehungsweise Ortschroniken gehörte das besondere Augenmerk des Geistlichen, ganz in der Traditionslinie, die Augustin Weltzel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vorgegeben hatte. Neben Krappitz sind unter anderem Peiskretscham (1900), Tost, Neustadt O.S. 71 [Nowack]: Chrząszcz, 145. 72 Eine ausführliche Bibliographie findet sich bei Giela: Chrząszcz, 116–128.

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Michael Hirschfeld Abb. 6: In der Kontinuitätslinie seines großen Vorbilds Augustin Weltzel, der 1870 eine Geschichte von Neustadt O.S. publiziert hatte, veröffentlichte Johannes Chrząszcz 1912 seine Neustädter Stadtgeschichte. Bildnachweis: Martin-Opitz-Bibliothek Herne, Sign. Fi1843.

und Zülz als Orte zu nennen, deren Historie Chrząszcz akribisch aufarbeitete. Eine auf drei Bände angelegte Stadtgeschichte von Gleiwitz indes blieb unvollendet. Die Auswahl der behandelten Städte lässt keine Systematik erkennen, wohl aber eine Hinwendung vornehmlich zu Orten, die mit seiner eigenen Biographie verbunden waren. Methodisch gesehen, orientierte sich Chrząszcz an den professionellen Historikern seiner Zeit, die ihr Material aus ungedruckten Quellenbeständen schöpften. Er investierte viel Zeit in den Besuch kirchlicher und staatlicher Archive, in das Aufspüren von Dokumenten sowie in die Transkription und Erstellung von Regesten von Urkunden und Akten, wobei ihm seine Kenntnis der polnischen, aber auch der tschechischen Sprache zugute kam. Im Zentrum stand für Chrząszcz in der Tradition Weltzels die Arbeit ad fontes, während er in seinen Publikationen dazu neigte, die Funde primär aneinanderzureihen, statt sie intensiv auszuwerten, zu gliedern und zu einem eigenständigen Text zu verarbeiten. Insofern liegt die nachhaltige Bedeutung seiner Forschungen vielfach eher auf dem Gebiet der Quellenedition als auf dem der eigentlichen Historiographie. Chrząszcz folgte mit seiner ausgedehnten Publikationstätigkeit nicht vorrangig einem Drang zu wissenschaftlicher Forschung. Vielmehr ging es ihm um die Verankerung eines historischen Bewusstseins in breiten Bevölkerungsschichten, also gewissermaßen um eine Popularisierung des Geschichtswissens. Nachfolgende Generationen sollten mehr über Land und Leute in Oberschlesien erfahren als er selbst in seiner Ausbildung

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als Gymnasiast und Theologiestudent. So beklagte er in seinen Lebenserinnerungen den zu geringen Stellenwert, den die Landesgeschichte an den von ihm besuchten Gymnasien und an der Katholisch-Theologischen Fakultät in Breslau gespielt habe. Eine didaktische Intention besaßen 15 zum Teil umfängliche Artikel, die er seit 1895 im Schlesische[n] Pastoralblatt publizierte. Zum einen sollte der schlesische Klerus als Adressat dieser Zeitschrift auf wichtige historische Ereignisse und Zusammenhänge aufmerksam gemacht werden, etwa auf die 900-Jahrfeier des Bistums Breslau im Jahr 1900. Zum anderen verfolgte Chrząszcz mit seinen Beiträgen in dem allenfalls als populärwissenschaftlich zu bezeichnenden Periodikum die Absicht, seine geistlichen Mitbrüder für den Umgang mit historischen Zeugnissen in ihren Pfarreien zu sensibilisieren und deren Sammelleidenschaft zu beflügeln, wenn er beispielsweise Tipps für die Betreuung von Pfarrbibliotheken gab. „Die Quellen der oberschlesischen Geschichte“ lautete denn auch der Titel eines erst kurz vor seinem Tod erschienenen Aufsatzes in der Zeitschrift Der Oberschlesier, in dem er breiten Leserschichten den Stellenwert von Kirchenbüchern, Stadtchroniken, Gerichtsakten, urgeschichtlichen Zeugnissen und von Zeitschriften für die Geschichte der Region aufzeigte. Vor allem aber forderte er angesichts der 1919 erfolgten Errichtung einer eigenständigen Provinz Oberschlesien „entschieden die Schaffung eines Archivs für Oberschlesien“ in Oppeln nach dem Vorbild des Staatsarchivs in Breslau. Mit der 1908 erschienenen Kirchengeschichte Schlesiens für Schule und Haus stellte sich Chrząszcz in die Tradition der Kompendien, die, wie es Jungnitz angeregt hatte, primär zur schulischen Bildung gedacht waren. Johannes Chrząszcz, der 1928 in Peiskretscham im 71. Lebensjahr verstarb, hat – obgleich im Grunde Autodidakt auf diesem Feld – seine Rolle als „herausragende[r] Vertreter“ der landesgeschichtlichen Forschung verteidigt und seinen „Platz in der Geschichte der schlesischen Historiographie gefunden“.73

VI. Zusammenfassung Ein schlesischer Priesterhistoriker zu sein, bedurfte keiner über das Theologiestudium hinausgehenden Vorbildung – ein Grundinteresse an wissenschaftlichen Fragestellungen sowie der Wille zu intensivem Quellenstudium reichten im Grunde dafür aus. Priesterhistoriker zu sein bedeutete zudem nicht automatisch, gleichzeitig auch Landeshistoriker zu sein. Die theologische Disziplin der Kirchengeschichte jedenfalls achtete im 19. Jahrhundert den sich anhand der Gründung zahlreicher landesgeschichtlicher Vereine und Zeitschriften abzeichnenden Trend zu diesem regionalen Forschungsfeld äußerst gering. So verwundert es auch nicht, dass Max Sdralek zwar in seinem Herzen Schlesier, genauer gesagt Oberschlesier, war, dass seine Forschungsfelder aber gewissermaßen auf höhere Sphären hin abzielten. Später sollte es seinem Lieblingsschüler und Wunschnachfolger Joseph Wittig obliegen, autobiographische und regionale Erlebnisse 73 Kessler: Orts- und Heimatgeschichte, 431.

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in die Fachdisziplin und damit in die Theologie im Sinn einer narrativen Theologie einzubringen und diese damit gewissermaßen zu erden. In die Lücke eines katholischen Parts in der protestantisch dominierten, weil von den borussischen Allgemeinhistorikern im Verein mit den ebenso eingestellten preußischen Staatsarchivaren konstruierten landesgeschichtlichen Gemeinschaft konnte nicht zuletzt deshalb Joseph Jungnitz hineinschlüpfen, der die im Rahmen der Professionalisierung der diözesanen Traditionspflege geschaffene und gleichsam das neue kulturelle Gedächtnis der katholischen Kirche Schlesiens widerspiegelnde Stelle auf der Breslauer Dominsel einnahm. Sowohl strenge Arbeitsdisziplin als auch die durch den Zölibat ermöglichten Freiräume in der privaten Lebensgestaltung dürften ursächlich dafür sein, dass in der Seelsorge stehende Geistliche wie Augustin Weltzel und Johannes Chrząszcz die Muße für ein umfangreiches historisches Schaffen fanden, das man mit heutigen Worten – gerade auch im Vergleich zum Œuvre des ,professionellen‘ Kirchenhistorikers Sdralek – als publikationsintensiv bezeichnen kann. Dennoch blieben beide in der aufblühenden Landschaft des landeshistorischen Vereinswesens randständig, besonders was Führungspositionen anbetraf. Sieht man vom singulären Fall des Grenzgängers Jungnitz ab, der offenbar mühelos konfessionelle Engführungen der Epoche auf dem Feld der Wissenschaft überwand, blieben die übrigen geistlichen Historiker doch in der geschlossenen Welt ihrer katholischen Konfession. Das Arbeitsfeld der Pfarrerhistoriker hingegen wurde ganz eindeutig von der Stadt-, Orts- und Pfarreigeschichte sowie von personen- und familiengeschichtlichen Forschungen bestimmt. Es basierte auf einem intensiven Quellenstudium in den Archiven. Eine Systematik in den gewählten Themen ist nicht erkennbar, wohl aber eine persönliche Nähe, handelte es sich doch zumeist um Städte oder Pfarreien, zu denen die Forscher einen persönlichen Bezug aufwiesen. Augustin ­Weltzel und Johannes Chrząszcz können als Meister dieses Genres bezeichnet werden, sie waren gleichwohl nicht die einzigen, die sich auf diesem Terrain bewegten. Franz Xaver Görlich beispielsweise vertiefte sich derart in die Geschichte jeder seiner Seelsorgestellen, dass er über sie beziehungsweise ihr Umfeld jeweils ein Buch hinterließ. Selbst im niederschlesischen Strehlen beschränkte er sich nicht auf eine Broschüre über die katholische ­Diasporapfarrei, sondern nutzte die ihm zur Verfügung stehende freie Zeit zu ausgedehnten Archivreisen, um 1853 eine 585 Seiten umfassende Stadtgeschichte vorzulegen.74 Dieses Beispiel belegt ebenso wie die Stadtgeschichten von Weltzel und Chrząszcz, dass ein gewisser Freiraum für eine intensive Forschung vorhanden sein musste, um entsprechende Bücher zu schreiben. Weltzel gelang dies, obgleich er ­bereits als Diasporaseelsorger in Pommern lokal- und regionalhistorisch aktiv gewesen war, letztlich erst auf seiner ruhigen Dorfpfarrei in Oberschlesien. Ein ähnliches Phänomen ist bei Chrząszcz zu beobachten, der erst als Pfarrer zum vertieften Forschen und Schreiben kam, und ebenso bei Jungnitz – trotz oder gerade wegen seiner dreifachen Funktion als Verwalter aller drei bischöflichen Kultureinrichtungen auf der Breslauer 74 Görlich, Franz Xaver: Geschichte der Stadt Strehlen. Strehlen 1853.

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Dominsel. Für alle drei lässt sich zusammenfassend feststellen, dass ihre wissenschaftliche Produktivität mit steigendem Lebensalter wenn nicht zunahm, so doch zumindest anhielt, während der die akademische Kirchengeschichtsforschung repräsentierende Sdralek von seinem 40. Lebensjahr an bei Lichte besehen nichts mehr publizierte. Auffällig sind schließlich auch die Herkunft aller vier exemplarisch untersuchten Priesterhistoriker aus schlesischen Dörfern und eher bescheidenen Verhältnissen sowie ihre für katholische Geistliche typische Aufstiegsbiographie vom Lateinunterricht durch den Dorfpfarrer hin zum katholischen Breslauer Matthiasgymnasium und von dort nach dem Abitur in das Theologenkonvikt. Ferner ist festzuhalten, dass allen hier vorgestellten Priesterhistorikern sowohl von kirchlicher als auch von staatlicher Seite durch die Verleihung von Orden und Ehrenzeichen Anerkennung für ihr historisch-publizistisches Wirken zuteil wurde. Dies muss als Ausdruck zeitgenössischer Akzeptanz dafür gewertet werden, dass sie im besten Wortsinn „Priester der Klio“ gewesen sind. Diese Tradition – dies sei abschließend gleichsam perspektivisch angemerkt – wirkte nach dem Ersten Weltkrieg fort. Ohne dass sie hier konkret behandelt werden könnten, seien genannt: der Nachfolger von Jungnitz als Diözesanarchivdirektor in Breslau Alfons Nowack, der 1920 eine Geschichte der Stadt Groß Strehlitz vorlegte,75 sodann der Pfarrer von Neu Altmannsdorf Paul Bretschneider, der ein Standardwerk über die Aufgaben des Pfarrers als „Pfleger der wissenschaftlichen und künstlerischen Werke seines Amtsbereichs“ schrieb.76 Erwähnt seien ferner der als sorgsamer Chronist bekannt gewordene Pfarrer von Radzionkau Josef Knossalla,77 der in Wartha tätige, aus dem Kreis Neustadt O.S. stammende Redemptoristenpater Joseph Schweter78 und nicht zuletzt Hermann Hoffmann,79 auch „Jesuiten-Hoffmann“ genannt. Diesen Spitznamen erhielt er, weil er sich, von seinen großen Verdiensten in den Bereichen der Jugendbewegung und der Ökumene abgesehen, seit seiner Frühpensionierung als geistlicher Gymnasiallehrer in Breslau Ende der 1920er Jahre zu einem äußerst produktiven Kirchenhistoriker entwickelte, dessen Schwerpunkt auf dem Wirken der Gesellschaft Jesu in Schlesien lag.80 75 Pater, Jozef: Vergessen oder verschwiegen? Zur Biographie des Archivdirektors Alfons Nowack (1868–1940). In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 46 (1988) 119–133; Görg, Peter H.: Nowack, Alfons: In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon 27 (2007) Sp. 1001–1010. 76 Jedin, Hubert: Erzpriester Paul Bretschneider. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 11 (1953) 269–271; Samulski, Robert/Gröger, Johannes: Paul Bretschneider (1880–1950). In: Gröger, Johannes u.a. (Hg.): Schlesische Priesterbilder. Sigmaringen 1992, 42–44. 77 Celary, Ireneusz: Krieg und Nachkriegszeit in den Tagebüchern von Josef Knossalla (1878–1951), Pfarrer von Radzionkau. Münster 2015 (Arbeiten zur schlesischen Kirchengeschichte 24). 78 Laslowski, Ernst: P. Dr. Josef Schweter C.Ss.R., ein schlesischer Caritashistoriker. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 12 (1954) 278–282. 79 �������������������������������������������������������������������������������������� Abmeier, Hans-Ludwig: Hermann Hoffmann (1878–1972). In: Bahlcke, Joachim (Hg.): Schlesische Lebensbilder, Bd. 9. Insingen 2007, 341–349. 80 �������������������������������������������������������������������������������������������� Vgl. die Bibliographie von Abmeier. In: Hoffmann: Im Dienste des Friedens, 367–384. Der Hinweis Abmeiers, dass Hoffmann nicht erst 1927 seine Forschungen begonnen habe, ist zwar korrekt. Zuvor sind allerdings nur wenige kirchenhistorische Publikationen zu verzeichnen.

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Jüdische Geschichtsforscher im Schlesien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Jacob Caro (1835–1904), Markus Brann (1849– 1920) und Ezechiel Zivier (1868–1925) 1. Einleitung Breslau erlebte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine dynamische Entwicklung. Allein zwischen 1861 und 1910 stieg die Bevölkerungszahl von rund 120.000 auf mehr als 500.000 Einwohner an. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung lag zwischen der Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Ersten Weltkrieg zwischen 4 und 8 Prozent. Anders als im übrigen preußischen Osten, wo eine starke Abwanderung Richtung Westen stattfand und die jüdischen Gemeinden schrumpften, besaß Breslau eine hohe Anziehungskraft und entwickelte sich zu einem Zentrum deutsch-jüdischen Lebens.1 Großen Anteil daran hatten die wissenschaftlichen und kulturellen Möglichkeiten, welche die schlesische Hauptstadt bot. Neben der Universität sind dabei vor allem das bedeutende jüdisch-theologische Seminar, das Staatsarchiv und mehrere, das gesellschaftliche Leben der Stadt bereichernde Kultur- und Geschichtsvereine zu nennen. Der größte Teil der jüdischen Einwohner hatte im östlichen Preußen seine Wurzeln, mithin im deutsch-polnisch-jüdischen Kontaktbereich und Grenzgebiet. „So stammten 1880 30% aller Breslauer Juden aus Schlesien (davon 20% aus Oberschlesien) und knapp 20% aus der Provinz Posen, der Löwenanteil, über 40%, kam aus Breslau selbst und nur gut 5% stammten aus Rußland und Österreich-Ungarn.“2 Eine Analyse von wissenschaftlichen und beruflichen Netzwerken der in Breslau beheimateten Geschichtsforschung bliebe daher unvollständig, unterzöge man nicht auch den jüdischen Anteil daran im Hinblick auf die deutschpolnisch-jüdische Verflechtungsgeschichte einer eingehenden Untersuchung. Dies soll im Folgenden am Beispiel von Jacob Caro, Markus Brann und Ezechiel ­Zivier geschehen. Alle drei Historiker stammten aus dem Gebiet der 1795 ausgelöschten polnisch-litauischen Adelsrepublik, waren mit der Wissenschaft in Breslau verbunden, verfolgten aber dennoch ganz unterschiedliche berufliche Werdegänge. Analysiert werden sollen nicht nur die Netzwerke, die diese Karrieren ermöglichten, sondern auch die jeweiligen wissenschaftlichen Leistungen der genannten Historiker, ihr Verhältnis zum Judentum und dessen Institutionen sowie ihr Blick auf Polen, soweit dies auf Basis der überlieferten Quellen möglich ist. Wie bei allen biographischen Darstellungen 1 ����������������������������������������������������������������������������������������� Die Zahlenangaben nach Rahden, Till van: Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860–1925. Göttingen 2000 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 139), 32. 2 Ebd., 32 Anm. 63.

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muss dies notwendigerweise bruchstückhaft bleiben. Dies gilt besonders im Fall Caros, von dessen persönlicher Korrespondenz nur wenige Überreste erhalten geblieben sind.3 Dennoch lohnt der vergleichende Blick, leisteten doch alle drei Gelehrten mit ihren Publikationen wesentliche Beiträge zur deutsch-polnisch-jüdischen Historiographie, die bis heute Bestand haben.

2. Jacob Caro – der jüdische Geschichtsschreiber Polens Jacob Caro4 kam am 2. Februar 18365 in Gnesen als Sohn von Joseph Heimann Caro zur Welt. Sein Vater stammte aus einer bekannten Rabbiner-Familie, die seit Generationen in zentralpolnischen Territorien – etwa auf dem Gebiet der kurzlebigen preußischen Provinz Südpreußen – beheimatet war. Nach seinen Talmud-Studien wurde er 1840 orthodoxer Rabbiner im großpolnischen Pinne. Zur gleichen Zeit unterhielt seine Frau 3 ����������������������������������������������������������������������������������������� Zur Problematik und Entwicklung wissenschaftlicher Biographien vgl. Runge, Anita: Wissenschaftliche Biographik. In: Klein, Christian (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Stuttgart/Weimar 2009, 113–121. 4 Der Vorname wird uneinheitlich, mal mit „c“, mal mit „k“, geschrieben. Jacob Caros Leben und Werk sind bisher nicht umfassend biographisch gewürdigt worden. Da ein Nachlass fehlt und viele Akten in Folge von Kriegen und Grenzverschiebungen als verloren gelten müssen, dürfte dies ohnehin ein schwieriges Unterfangen sein. Die bisher umfangreichste und auf erstmals ausgewerteten Quellen basierende biographische Skizze stammt von Barelkowski, Matthias: Die Teilungen Polen-Litauens interpretieren. Richard Roepell und Jakob Caro – zwei deutsche „Polenhistoriker“ zwischen Wissenschaft und Politik. In: Bömelburg, Hans-Jürgen/Gestrich, Andreas/SchnabelSchüle, Helga (Hg.): Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen. Osnabrück 2013, 105–154. Darüber hinaus gibt es ältere Erinnerungsbeiträge und Briefeditionen: Kochanowski, Jan Karol: Jakób Caro. Wspomnienie. In: Przegląd Historyczny 1 (1905) 107–115; [Rachfahl, Felix]: Biographische Skizze. In: Caro, Jakob: Vorträge und Essays. Gotha 1906, 1–31; Kochanowski, Jan Karol: Caro Jakub. In: Polski Słownik Biograficzny 3 (1937) 204–205; Ergetowski, Ryszard: Związki J. Caro z polskimi uczonymi w latach 1862–1902. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 42 (1987) 17–40; Rhode, Gotthold: Jüdische Historiker als Geschichtsschreiber Ostmitteleuropas: Jacob Caro, Adolf Warschauer, Ezechiel Zivier. ������������������������������������������������������������������������������������ In: ders. (Hg.): Juden in Ostmitteleuropa. Von der Emanzipation bis zum Ersten Weltkrieg. Marburg/Lahn 1989 (Historische und landeskundliche Ostmitteleuropa-Studien 3), 99– 113; Ergetowski, Ryszard: Naukowa i dydaktyczna działalność Jacoba Caro. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 57 (2002) 345–356; ders.: Listy Jacoba Caro do uczonych polskich (1862– 1902) – Briefe von Jacob Caro an polnische Gelehrten (1862–1902). Warszawa 2005. 5 Zu Caros Geburtsdatum vgl. Barelkowski: Teilungen, 128 Anm. 56. In dem von Caro selbst verfassten Lebenslauf ist der 2. Februar 1836 als Geburtsdatum vermerkt. Vgl. Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Akta Uniwersytetu Wrocławskiego 1811–1945, Akta osobowe pracowników naukowych, S 220, Jacob Caro, Bl. 117; Album der Philosophischen Fakultät zu Breslau, F 25, 183. Rachfahl gibt an, es handle sich nach Aussage des Vorstands der Synagogengemeinde zu Gnesen um einen Umrechnungsfehler, so dass das Jahr 1835 zutreffend sei, vgl. [Rachfahl]: Biographische Skizze, 1; vgl. ferner Kaufmann, Georg: Jakob Caro [Nekrolog]. In: Chronik der Königlichen Universität zu Breslau für das Jahr vom 1. April 1903 bis 31. März 1904. Breslau 1904, 133–143, hier 133.

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ein Geschäft in Gnesen, dessen Einnahmen es ihrem Ehemann ermöglichten, vertiefte Forschungsarbeit zu betreiben. Joseph Heimann Caro veröffentlichte zahlreiche Studien in hebräischer Sprache. Seit 1860 war er Rabbiner im damals zu Russland gehörenden Włocławek. In seiner Eingabe aus Anlass des angestrebten Habilitationsverfahrens an der Universität in Jena schrieb der Sohn, Jacob Caro, später, dass er „zu Hause seines ‚dem Wissenschaftlichen obliegenden Vaters die Richtung‘ zu wissenschaftlichem Streben empfangen habe“.6 Abb. 1: Als einziger der hier betrachteten jüdischen Gelehrten schlug Jacob Caro eine klassische Universitätskarriere ein, die ihn, als Experten für polnische Geschichte, bis auf eine ordentliche Professur an der Universität Breslau führte. Bildnachweis: Archiwum ­Uniwersytetu Wrocławskiego, Akta Uniwersytetu ­Wrocławskiego 1811–1945, PhotographienAlbum der Curatoren, Professoren, Docenten und Beamten der Königlichen Universität in Breslau, Sign. S 168/319.

Jacob Caro besuchte zuerst die Stadtschule in Pinne, später das Gymnasium in Ostrowo und Posen. Wegen der schwierigen materiellen Lage der Eltern musste er nebenher zusätzlich Geld verdienen. Trotz vieler Widrigkeiten gelang es ihm jedoch, das Lehrerseminar in Bromberg zu besuchen und dort im Oktober 1856 das Lehrerexamen abzulegen. Anderthalb Jahre lang studierte er dann in Berlin. Ab 1857 setzte er sein Studium für drei Jahre in Leipzig fort. Bereits in Berlin, wo er sich für Philosophie, Psychologie, Archäologie und Geschichte eingeschrieben hatte, entdeckte er seine Vor6 Zit. nach [Rachfahl]: Biographische Skizze, 1.

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liebe für die Geschichtsschreibung. In fortgeschrittenem Alter stellte Jacob Caro fest: „Die Vorlesungen des Professors [Leopold] Ranke entschieden für meine Wahl spezieller Studien. Ich wandte daher mein Augenmerk besonders auf diejenigen Disziplinen, welche als Teile des gesamten historischen Gebietes angesehen werden können – Verfassungs-, Rechts- und Literaturgeschichte.“7 Auf den jungen Studenten des Historischen Seminars wurde in Leipzig Heinrich Wuttke aufmerksam, der als ordentlicher Professor den Lehrstuhl für Historische Hilfswissenschaften innehatte. Dank seiner Polnischkenntnisse wurde Caro zur Mitarbeit an dem von Wuttke herausgegebenen Städtebuch des Landes Posen8 berufen. Auch war es Wuttkes Verdienst, dass Caro sich für polnische Themen zu interessieren begann. Das Ergebnis war Caros Doktorarbeit Die Wahl König Sigismundus III. von Polen und die Parteikämpfe der Häuser Zborowski und Zamoyski, die er 1860 erfolgreich verteidigte. Inwieweit Caro indes die stark slawophoben politischen Ansichten seines Lehrers teilte beziehungsweise ablehnte, bleibt eine offene Frage. Wuttke hatte sich explizit gegen eine Wiederherstellung Polens als Staat ausgesprochen und stand auch der polnischen Geschichtsschreibung insgesamt kritisch gegenüber.9 Der Wunsch von Joseph Heimann Caro war es jedoch, dass seine Söhne die familiäre Tradition fortsetzen, ein Talmudstudium aufnehmen und Rabbiner werden sollten. Dieser Wunsch ging allerdings nur im Fall von Jacobs jüngerem Bruder, Jecheskiel, in Erfüllung. Jecheskiel Caro, geboren 1844, studierte von 1861 bis 1866 am jüdischtheologischen Seminar in Breslau10 und wirkte später als Rabbiner in Lodz, Dirschau, Erfurt, Pilsen und schließlich ab 1890 in Lemberg, wo er zum Oberrabbiner aufstieg.11 Er war somit auf dem Gebiet aller drei Teilungsmächte Polen-Litauens beruflich aktiv. Sowohl im deutschen jüdischen Milieu, wo er sich 1879 in den berüchtigten „Berliner Antisemitismusstreit“12 einmischte, als auch später in Lemberg spielte er eine gewichtige Rolle. In Lemberg versuchte er sich zudem als Historiker und verfasste eine Geschichte der örtlichen Judengemeinde.13 Ob ihn sein Bruder Jacob dabei unterstützte, ist ungewiss. Der Lebensweg der beiden Brüder unterschied sich trotz der gemeinsamen Hochschätzung der Geschichtsschreibung erheblich, denn anders als Jecheskiel verzichtete Jacob Caro auf jegliche religiöse Betätigung; andererseits konvertierte er aber auch 17 Zit. nach ebd., 2f. 18 Wuttke, Heinrich: Städtebuch des Landes Posen. Codex diplomaticus. Allgemeine Geschichte der Städte im Lande Posen. Geschichtliche Nachrichten von 149 einzelnen Städten. Leipzig 1864. 19 Ders.: Polen und Deutsche. Leipzig 1846, 6. 10 Zu dieser Institution vgl. im vorliegenden Beitrag das Kapitel zu Markus Brann. 11 ���������������������������������������������������������������������������������������� Blumesberger, Susanne/Doppelhofer, Michael/Mauthe, Gabriele (Hg.): Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft: 18. bis 20. Jahrhundert, Bd. 1. München 2002, 194. 12 Caro, Jecheskiel: Worte der Wahrheit und des Friedens. Predigt, gehalten am 15. November 1879. Erfurt 1879. 13 Vgl. exemplarisch ders.: Geschichte der Juden in Lemberg, von den ältesten Zeiten bis zur Teilung Polens im Jahre 1792, aus Chroniken und Archivalischen Quellen bearbeitet. Krakau 1894.

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nicht zu einer der christlichen Konfessionen, was ihm in seiner wissenschaftlichen Karriere erhebliche Schwierigkeiten eintragen sollte. Im Jahr 1861 erschien Caros Doktorarbeit – unter leicht verändertem Titel – im renommierten, nicht nur in Historikerkreisen geschätzten Verlag Perthes in Gotha.14 Die Wahl des Verlags erwies sich als wichtige Weichenstellung für Caros beruflichen Werdegang. Positive Rezensionen seiner Doktorarbeit und die Unterstützung seitens der Professoren Wuttke und Wilhelm Wachsmuth (Wuttkes akademischem Lehrer) ermutigten den Verlag, den damals noch unbekannten Caro mit der Abfassung weiterer Bände der Geschichte Polens zu beauftragen, die als Teil der von Arnold H. L. Heeren und Friedrich A. Ukert begründeten und herausgegebenen Reihe „Geschichte der europäischen Staaten“ erschien. Der von Richard Roepell verfasste erste Band zur polnischen Geschichte, der 1840 im Druck erschienen war, hatte trotz aller Versprechungen des Autors keine Fortsetzung erfahren. Da der Verlag nach zwei Jahrzehnten des Wartens nicht mehr davon ausging, dass Roepell seine Zusage einhalten würde, schlug die Verlagsleitung Anfang 1861 Caro vor, weitere Folgebände zu dem genannten Werk in Angriff zu nehmen, und zwar für den Zeitraum von 1300 bis zur unmittelbaren Gegenwart, also einschließlich der Zeit der Teilungen Polens.15 Ein Grund für Roepells endgültigen Verzicht auf eine Fortsetzung der Geschichte Polens ist vermutlich in dessen starkem politischen Engagement – vor allem als Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses – zu suchen, das ihm für Wissenschaft und Forschung keine Zeit ließ. Caro selbst vermutete, dass sein älterer Kollege sich nicht allein auf polnische und slawische Themen festlegen wollte, da von einer solchen Schwerpunktsetzung nur wenig Anerkennung zu erwarten sei. Wahrscheinlich ist aber auch, dass der Verlag nach über zwanzig Jahren Stillstand endlich den zweiten Band erscheinen lassen wollte.16 Der Vorschuss, den Caro für das Buchprojekt vom Verlag erhalten hatte, ermöglichte es ihm, Forschungsreisen nach Dresden, Berlin, Breslau, Kurnik und Krakau zu unternehmen. Es war zugleich eine erste Gelegenheit, mit polnischen Wissenschaftlern und Experten, die sich intensiv mit der polnischen Kultur und Geschichte beschäftigt hatten, in Kontakt zu treten. Eine der wichtigsten Persönlichkeiten, die Caro damals kennenlernte, war Graf Jan Działyński, der Eigentümer der berühmten Bibliothek in Kórnik, in der Caro später wiederholt arbeitete. In Krakau lernte er überdies Antoni Zygmunt Helcel persönlich kennen, in Breslau neben August Mosbach auch den Autor des Pilotbandes des polnischen Geschichtswerks, Richard Roepell.17 Bereits im Herbst 14 Caro, Jacob: Das Interregnum Polens im Jahre 1587 und die Parteikämpfe der Häuser Zborowski und Zamojski. Gotha 1861. Zur Geschichte des Verlags Friedrich Perthes und der Reihe „Geschichte der europäischen Staaten“ vgl. Moldenhauer, Dirk: Geschichte als Ware. Der Verleger Friedrich Christoph Perthes (1772–1843) als Wegbereiter der modernen Geschichtsschreibung. Köln/Weimar/Wien 2008, 370–417. 15 [Rachfahl]: Biographische Skizze, 5. 16 �������������������������������������������������������������������������������������������� Barelkowski: Teilungen, 108. Zu Richard Roepell vgl. auch den Beitrag von Matthias Barelkowski in diesem Band. 17 [Rachfahl]: Biographische Skizze, 6.

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1863 konnte Caro dann den ersten Band der Geschichte Polens vorlegen; bis 1888 folgten weitere vier Bände, die den Zeitraum bis 1506 abdeckten.18 Parallel zu seiner Arbeit an der Geschichte Polens schrieb Caro an seiner Habilitationsschrift zu Aspekten der Literaturgeschichte des 15. Jahrhunderts. Die Arbeit, die ebenfalls 1863 im Druck erschien,19 erhielt seitens der Professoren Wuttke und Hermann ausgesprochen positive Bewertungen. Allerdings stellte sich heraus, dass das Habilitationsverfahren an der Universität Leipzig aufgrund von Caros jüdischer Abstammung nach der geltenden Rechtslage nicht durchgeführt werden konnte. Ähnlich stellte sich die Situation in Gießen dar. Eine neue Chance ergab sich wenig später in Lemberg, wo gerade ein Lehrstuhl für Geschichte frei geworden war und wo Caro zudem Freunde hatte, die ihn unterstützen konnten. Letztlich entschied er sich aber für Jena, wo sich allerdings nur wenig später ebenfalls Probleme ergaben, trotz der Unterstützung durch zwei Professoren vor Ort, den Historiker Wilhelm Adolf Schmidt und den Nationalökonomen Bruno Hildebrand. Beide waren seit dem Revolutionsjahr 1848 eng miteinander befreundet und rechneten sich politisch zu den Liberalen.20 Der Kern des Problems bestand darin, dass es einem Juden nicht möglich war, einen Eid abzulegen, der für außerordentliche Professoren jedoch vorgeschrieben war;21 eine Ausnahme war nur dann möglich, wenn man die einstimmige Befürwortung der vier Nutritoren der Universität Jena, das heißt der Höfe von Weimar, Coburg, Meiningen und Altenburg, vorlegen konnte. Im November 1862 reichte Caro ein Gesuch um die Erlangung der venia docendi bei der Philosophischen Fakultät in Jena ein, über das positiv entschieden wurde. Die noch ausstehende Zustimmung der vier Höfe hielt man offenbar für eine reine Formalität. Der Hof in Altenburg weigerte sich allerdings überraschend, die erbetene Zustimmung zu geben, und berief sich auf ein Reskript älteren Datums, das Juden ausdrücklich vom Lehrkörper ausschloss. Darüber hinaus vertrat man die Ansicht, es sei „rein unmöglich“, dass „ein Jude die Geschichte der Christlichen Jugend vortrage, ohne die größte Gefahr herbeizuführen“.22 Die Verhandlungen über den Fall Caro zogen sich länger als ein Jahr hin. Dank der Unterstützung durch die Fakultät und den Senat der Universität Jena wurde Caro schließlich zur Habilitation zugelassen, freilich nur unter der Bedingung, dass er sich in der Thematik seiner Vorlesungen auf Fächer beschränken werde, die sich

18 Caro, Jacob: Geschichte Polens, Bd. 2 (1300–1386), Bd. 3 (1386–1430), Bd. 4 (1430–1455), Bd. 5/1 (1455–1480), Bd. 5/2 (1481–1506). Gotha 1863–1888 (Geschichte der Europäischen Staaten). 19 Ders.: Johannes Longinus. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des 15. Jahrhunderts. Jena 1863. 20 Hahn, Hans-Werner: Gesichtswissenschaft im Dienst von Einheit und Freiheit. Der Jenaer Historiker Adolf Wilhelm Schmidt (1812–1887). In: Hein, Dieter/Hildebrand, Klaus/Schulz, Andreas (Hg.): Historie und Leben. Der Historiker als Wissenschaftler und Zeitgenosse. Festschrift für Lothar Gall zum 70. Geburtstag. München 2006, 411–428, hier 418. 21 [Rachfahl]: Biographische Skizze, 7. 22 Zit. nach ebd., 8.

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nicht mit dem Christentum befassten. Caro verpflichtete sich schließlich auf Anraten von Schmidt und Hildebrand dazu, in seiner Lehrtätigkeit „nur die historischen Hilfsdisciplinen, als Geographie, Diplomatik, Chronologie sowie Handelsgeschichte“ zu behandeln.23 Auf diese Art und Weise wurde Caro Mitglied des Lehrkörpers der Universität Jena, an der er auch in den nächsten Jahren die Unterstützung der genannten Professoren, insbesondere diejenige von Schmidt, genoss. Da Caro in Jena vorerst unbesoldet tätig war und allein die Arbeit an der Geschichte Polens als Einkommensquelle nicht ausreichte, suchte er in dieser Zeit nach weiteren Verdienstmöglichkeiten. 1864 nahm er vorübergehend die Stelle eines Lektors der Großfürstin Helena Pawlowna, einer geborenen Prinzessin von Württemberg, in Petersburg an. Dank dieser Anstellung machte Caro Bekanntschaften in den Kreisen des russischen, deutschen und polnischen Hochadels, was ihm wiederum Zugang zu wertvollen historischen Quellen verschaffte, die in privaten Sammlungen oder bisher unzugänglichen Archiven aufbewahrt wurden.24 Vor allem aber nutzte er diese Begegnungen, um seine Beziehungen auszuweiten. Die damals intensivierten Kontakte zu einflussreichen Kreisen sollten seinen weiteren beruflichen Werdegang entscheidend beeinflussen. Nicht nur diese Episode deutet darauf hin, dass Caros Kontakte zu Regierungskreisen eng waren. Als 1863 auf dem Gebiet des (unter russischer Herrschaft stehenden) Königreichs Polen der Januaraufstand gegen die Zarenherrschaft ausbrach, wurde Caro von der preußischen Regierung beauftragt, Sonderberichte zu verfassen. Diese Berichte, die Caro auf Grundlage von Beiträgen in polnischen Zeitungen erstellte, sollten ein Stimmungsbild unter den Polen liefern. Für ihren Bearbeiter stellten sie eine willkommene Einkommensquelle dar. Daraus ergaben sich auch Kontakte zum preußischen Ministerpräsidenten und Außenminister Otto von Bismarck, die Caro später den Weg an die Universität Breslau ebnen sollten. Zunächst hoffte Caro jedoch noch, in Jena akademisch aufzusteigen. Bereits im Wintersemester 1864/65 schlug sein Förderer Schmidt der Fakultät vor, Caro zum ordentlichen Professor zu berufen, was jedoch auf taube Ohren stieß. Auch konnte sich Caro selbst mit seiner Bitte, die Thematik seiner Vorlesungen um die Alte Geschichte Griechenlands und Roms erweitern zu dürfen, nicht durchsetzen. Er schrieb dazu in einem im November 1869 verfassten Lebenslauf: „Jedoch wurde mir daselbst – wegen meines Glaubens, in dem ich geboren bin, – nicht die volle statutenmäßige venia legendi eingeräumt, und die Beschränkung derselben auch nicht aufgehoben, als ich schon zwei Jahr später zum außerordentlichen Professor ernannt ward. Gedrückt und gepeinigt von dieser Schranke war ich schon im Begriff die akademische Laufbahn zu verlassen, als mich der preußische Kultusminister [Heinrich von Mühler] auf meinen Antrag im 23 Zit. nach ebd. 24 Hervorzuheben ist vor allem die Dogielsche Urkundensammlung, von der nur die Bände 1, 4 und 5 im Druck erschienen waren. Caro vermochte allerdings offensichtlich auch Einblick in die unveröffentlichten Bände 2 und 3 zu nehmen. Vgl. Dogiel, Maciej: Codex Diplomaticus Regni Poloniae Et Magni Ducatus Lituaniae [...], Bd. 1, 4, 5. Vilnae 1758–1764.

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Jahre 1869 zum Honorar-Professor bei der hiesigen [Breslauer] philosophischen Fakultät ernannte.“25 Allerdings war die Fakultät davon sehr überrascht, da sie selbst in keiner Weise aktiv geworden war und deshalb vom Kultusministerium dahingehend beruhigt werden musste, dass die Ernennung weder Kosten verursachen noch negativen Einfluss auf andere Stellenbesetzungen haben werde.26 Allgemein stellte das Jahr 1869 einen wichtigen Meilenstein bei den Bemühungen der Juden um volle Gleichberechtigung in Preußen dar. In jenem Jahr unterzeichnete Bismarck das „Gesetz, betreffend die Gleichberechtigung der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung“, das das Judentum mit allen anderen Konfessionen formal gleichstellte und 1871 auch Reichsgesetz wurde. Noch das 1847 in Preußen verabschiedete „Gesetz über die Verhältnisse der Juden“ hatte demgegenüber erhebliche Einschränkungen für Juden hinsichtlich deren Verwendung im Staatsdienst vorgesehen. Der preußische Verwaltungsapparat war zudem der Auffassung, dass Juden – so wie dies im Fall Caro ins Feld geführt worden war – keinen christlichen Eid ablegen könnten, wodurch sie praktisch automatisch von Staatsämtern etwa in Armee und Justiz ausgeschlossen waren.27 Mit der Übernahme des Gesetzes von 1869 in das neu gegründete Kaiserreich war also zumindest vom rechtlichen Standpunkt aus Klarheit geschaffen worden. Dennoch mussten Juden auch weiterhin erhebliche Widerstände überwinden, wenn sie ihnen bisher verwehrte Berufe ausüben wollten.28 Andreas D. Ebert bezeichnete dies als „informellen Konsens“ in der Diskriminierung von Juden, der vor allem auf Zögerlichkeit, Widerwillen und Ressentiment bei der Zulassung zu bestimmten Ämtern beruhte.29 Die Universitäten gehörten dabei zu den Institutionen, die verhältnismäßig lange die Aufnahme von Juden in den Lehrkörper behinderten.30 Zahlreiche Untersuchungen zu dieser Thematik verweisen in diesem Zusammenhang auf die Rolle der Universitätsorgane (Fakultäten, Akademische Senate) beim Ausschluss jüdischer Kandidaten, bevor die ministerielle Ebene überhaupt beteiligt wurde.31 Zudem muss unterstrichen werden, dass in den 1880er Jahren gerade die Studentenschaft als wichti-

25 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Akta Uniwersytetu Wrocławskiego 1811–1945, Akta osobowe pracowników naukowych S 220, Jacob Caro, Bl. 117. 26 ������������������������������������������������������������������������������������������� Korrespondenz zwischen der Philosophischen Fakultät der Universität Breslau und dem Preußischen Kultusministerium zu dieser Angelegenheit: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA, Rep. 76 Va Sekt. 4, Tit. IV, Nr. 36, Bd. 7, Bl. 206, 224, 245. 27 �������������������������������������������������������������������������������������������� Pulzer, Peter: Rechtliche Gleichstellung und öffentliches Leben. In: Lowenstein, Steven/Mendes-Flohr, Paul/Richarz, Monika (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3: Umstrittene Integration 1871–1918. München 2000, 151–192, hier 151–153. 28 Ebd., 153. 29 Ebert, Andreas D.: Jüdische Hochschullehrer an preußischen Universitäten (1870–1924). Eine quantitative Untersuchung mit biografischen Skizzen. Frankfurt a. M. 2008, 13. 30 Richarz, Monika: Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe. Jüdische Studenten und Akademiker in Deutschland 1678–1848. Tübingen 1974 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 28). 31 Ebert: Jüdische Hochschullehrer, 14.

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ger, wenn nicht der wichtigste Träger des Antisemitismus anzusehen ist. Es waren also praktisch alle universitären Ebenen an der Blockadehaltung beteiligt.32 Auch Jacob Caro war in seiner akademischen Karriere entsprechenden Schikanen ausgesetzt, die ihn jedoch im Unterschied zu vielen anderen Akademikern, die dem „Taufdruck“33 nachgaben, nicht zu einem Religionswechsel veranlassten. Warum er eine Konversion ausschloss, ist nicht zu ermitteln, da Äußerungen zu religiösen Fragen von ihm kaum überliefert sind.34 Bezeichnend in dieser Hinsicht ist sicher der Bericht im Frankfurter Israelitischen Familienblatt, das nach Caros Ableben seinen Lesern nicht ohne Ironie mitteilte: „Ein besonderer Bericht aus Breslau teilt uns mit, daß Caro im Leben sich nie als Jude fühlte, und man vielfach glaubte, daß er getauft sei. Erst durch das jüdische Begräbnis wurden die Breslauer daran erinnert, daß Caro Jude gewesen sei. Dabei hielt Oberrabbiner Dr. [ Jecheskiel] Caro – Lemberg eine Rede, in der er ein Leben pries, das sich aus der ‚dumpfen Rabbinerstube‘ heraus, so herrlich entfaltet habe. Komisch aus dem Munde eines Rabbiners.“35 Da auch die Honorarprofessur in Breslau36 mit keinerlei festem Einkommen verbunden war, arbeitete Caro ab 1869 ständig für das preußische Auswärtige Amt. Er verfasste wie schon zuvor Berichte über die Stimmungslage in der polnischsprachigen Presse, die sowohl in Deutschland als auch im Ausland erschien.37 Ab 1875 erhielt er keine Aufträge mehr vom Auswärtigen Amt. Da sich seine finanzielle Lage damit zuspitzte, war er gezwungen, sich nach einer neuen Beschäftigung umzusehen. Er überlegte, die Stelle eines Kustos an der Königsberger Universitätsbibliothek, den Lehrstuhl für Geschichte an der Warschauer Hochschule oder die Leitung des Staatsarchivs in Posen zu übernehmen. Am Ende aber entschied er sich, ein Gesuch an die Universität Breslau 32 Kampe, Norbert: Jüdische Professoren im Deutschen Kaiserreich. Zu einer vergessenen Enquête Bernhard Breslauers. In: Erb, Reiner/Schmid, Michael (Hg.): Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss. Berlin 1987, 185–211. 33 Nach Sieg waren 1911 noch 37,6 Prozent aller Privatdozenten jüdischer Herkunft getauft, unter den ordentlichen Professoren lag dieser Anteil sogar bei 70 Prozent. Vgl. Sieg, Ulrich: Das Judentum im Kaiserreich. In: Herzig, Arno/Rademacher, Cay (Hg.): Die Geschichte der Juden in Deutschland. Hamburg 2007, 122–137, hier 130; Brechenmacher, Thomas/Szulc, Michał: ­Neuere deutsch-jüdische Geschichte. Konzepte – Narrative – Methoden. Stuttgart 2017, 111. 34 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Wie Caro über die Geschichte der Juden in Polen dachte, lässt sich dagegen aus einem Essay ableiten, der jedoch erst aus seinem Nachlass, ohne nähere Angaben zur Entstehungszeit, veröffentlicht wurde. Der Autor schreibt darin zur Rolle des polnischen Adels: „Wenn behauptet worden ist, daß die Juden diesen Adel zugrunde gerichtet hätten, so darf man mit größerer historischer Wahrheit den Satz umkehren. Dieser Adel hat die Juden moralisch heruntergebracht.“ Caro, Jakob: Polnische Juden. In: ders.: Vorträge und Essays, 110–130, hier 129. 35 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Frankfurter Israelitisches Familienblatt vom 23. Dezember 1904, 10. Vgl. ferner Sieg: Das Judentum im Kaiserreich, 130. 36 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Caro erhielt 1869 auch das Angebot, einen Lehrstuhl an der „russifizierten“ Hochschule in Warschau zu übernehmen, lehnte dies aber ab. 37 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Die Berichte für das Auswärtige Amt, die auch ein Licht auf Caros politische Einstellungen werfen dürften, konnten bisher nicht gefunden werden.

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um Verleihung eines Extraordinariats zu richten. Der Grund, warum sich Caro 1869 für Breslau entschieden hatte, dürfte mit der räumlichen Nähe zu seinem Forschungsfeld Polen in Zusammenhang gestanden haben, verbunden mit der vergleichsweise liberalen Atmosphäre der aufstrebenden Großstadt mit wachsender jüdischer Gemeinde sowie vielfältigen wissenschaftlichen und kulturellen Einrichtungen und Betätigungsmöglichkeiten.38 Reichskanzler Bismarck selbst war es schließlich, der dem Antrag den entscheidenden Nachdruck verlieh. In einem Schreiben an das Kultusministerium forderte er die Einrichtung einer besoldeten Professur für Caro: „Eine derartige Erledigung der Angelegenheit würde mir um so erfreulicher sein, als ich im Hinblick auf die von dem Dr. Caro dem Auswärtigen Amte geleisteten Dienste ein besonderes Interesse an einer günstigen Gestaltung seiner Zukunft nahm.“39 Tatsächlich wagte man es im Ministerium nicht, dieses Begehren abzulehnen, so dass zu Ostern 1876 für Caro eine außerordentliche Professur geschaffen wurde, ohne dass die Philosophische Fakultät eine solche zusätzliche Stelle angestrebt hätte.40 Zum ordentlichen Professor in Breslau avancierte Caro im Jahr 1882, was wiederum auf Berliner Einflussnahme zurückging und ohne Initiative der Fakultät erfolgte. Diesmal war es Kronprinz Friedrich Wilhelm persönlich, der sich in einem Schreiben an das Kultusministerium nachdrücklich für Caro eingesetzt hatte: „So bestimmt mich dazu wesentlich der Wunsch, die endliche Berufung dieses Gelehrten in eine ordentliche Professur Ihrem Wohlwollen recht angelegentlich zu empfehlen. Nach Meiner Auffassung der Verhältnisse würde sein Verbleiben in Breslau zumal deshalb wünschenswert sein, weil gerade dort ein Kenner der schlesischen Geschichte vorzüglicherweise an seinem Platze sein dürfte.“41 Interessanterweise wurde Caros Forschungsfeld in dem Schreiben mit „schlesischer“, nicht mit polnischer Geschichte umschrieben. Nach seinen schlechten Erfahrungen in Jena hatte Caro unter Umgehung der akademischen Gremien ausschließlich auf die Fürsprache der Regierungs- und Staatsspitze gesetzt und damit sein Ziel tatsächlich erreicht. In Breslau arbeitete er vor allem mit Richard Roepell zusammen; zu seinem engeren Bekannten- und Freundeskreis gehörten überdies der Slawist Władysław Nehring, der Rechtswissenschaftler Otto Stobbe, der Germanist Heinrich Rückert, der Zoologe Ferdinand J. Cohn und der Schriftsteller Karl von Holtei.42 38 �������������������������������������������������������������������������������������������� Stolarska-Fronia, Małgorzata: Udział środowisk Żydów wrocławskich w artystycznym i kulturalnym życiu miasta od emancypacji do 1933 roku. Warszawa 2008, 107. 39 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA, Rep. 76 Va Sekt. 4, Tit. IV, Nr. 36, Bd. 10, Bl. 178. 40 Nach Angaben von Kaufmann: Caro, 143, hatte dieser bis 1892 „keinen Anteil an der Direktion des Historischen Seminars“. 41 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I. HA, Rep. 76 Va Sekt. 4, Tit. IV, Nr. 36, Bd. 11, Bl. 269. Die weitere Korrespondenz zwischen Finanz- und Kultusministerium nach dem Vorstoß des Kronprinzen ebd., Bl. 270f. Die Zustimmung des Finanzministers zu „einer zukünftig wegfallenden Professur“ ebd., Bd. 12, Bl. 9, Caros Bestallungsurkunde Bl. 89. 42 [Rachfahl]: Biographische Skizze, 14; Ergetowski: Listy, 26f.

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Parallel zu seiner Lehrtätigkeit arbeitete Caro an weiteren Bänden der Geschichte Polens und publizierte eine Reihe kleinerer Arbeiten zu unterschiedlichen Themen.43 Seine Beschäftigung mit der polnischen Geschichte führte dazu, dass er ein beachtliches Netzwerk an Kontakten aufbaute, und zwar nicht nur unter den fachlich interessierten Historikern in Deutschland, sondern auch vor allem mit Wissenschaftlern in den polnischen Gebieten. Ryszard Ergetowski zufolge knüpfte und unterhielt Caro Kontakte zu mehr als zwei Dutzend wichtigen Persönlichkeiten aus allen drei Teilungsgebieten. Darunter waren der bereits erwähnte Jan Działyński und dessen Bibliothekar Józef ­Rustejko, Zygmunt Celichowski, der Direktor der Bibliothek in Kurnik, mit dem auch Ezechiel Zivier zusammenarbeitete, Wojciech Kętrzyński, ab 1876 Direktor des Ossolineums in Lemberg, Oswald Balzer, ab 1887 Professor an der Universität Lemberg, Michał Bobrzyński und Karol Potkański von der Jagellonen-Universität in Krakau sowie Aleksander Przeździecki, Teodor Wierzbowski und Aleksander Kraushar, die dem Warschauer Historikermilieu angehörten. Kraushar entstammte ebenfalls einer jüdischen Familie, beschäftigte sich viel mit der Geschichte der Juden in Polen, konvertierte aber 1903 zum Katholizismus. Das Hauptthema der Korrespondenz waren Forschungsfragen, etwa der Austausch von Rechercheergebnissen aus Archiven und Bibliotheken. Für die polnischen Wissenschaftler waren vor allem historische Quellen von Interesse, zu denen ihnen der Zugang verwehrt wurde, während Caro als deutscher Historiker ohne Weiteres eine Zugangsgenehmigung erhielt.44 Sowohl Caro als auch Roepell nahmen an der ersten Vollversammlung der Polnischen Historiker 1880 in Krakau teil. Ein Jahr später wurde Caro zum Mitglied der Akademie der Gelehrsamkeit in Krakau gewählt. Jacob Caro starb am 10. Dezember 1904 in Breslau. Er hatte sich im Gegensatz zu seinem Kollegen Roepell zu keiner Zeit öffentlich oder gar parteipolitisch betätigt. Wenig ist deshalb über seine Ansichten zur „Polenfrage“ bekannt. Ein bezeichnendes Licht auf diesen Punkt wirft jedoch ein Schreiben Caros an den für alle preußischen Universitäten zuständigen Unterstaatssekretär im Kultusministerium Friedrich Althoff vom Mai 1899, in dem er die Ausbildung von mehr „Polenspezialisten“ forderte. Aufschlussreich ist besonders Caros Begründung: „Das Zurückbleiben unserer Kenntnis des Slawentums beruht in erster Linie auf dem berechtigten Gefühl einer ungeheuren, fast allseitigen, namentlich aber auch moralischen Überlegenheit, mit welcher sich dann naturgemäß eine beträchtliche Geringschätzung verbindet. [...] Aber auch in betreff der uns doch so nahestehenden Polen sind wir weit entfernt davon, genaue intimere Kenntnis zu haben. [...] Vor Ihnen, hochverehrter Herr Geheimrat, habe ich wohl kaum nötig, mich vor der Auslegung zu verwahren, als ob ich unser gegenwärtiges Verfahren in der innerpreußischen Polenfrage tadeln und einem System der Connivenzen das Wort 43 Zu nennen sind hier vor allem Caro, Jacob: Lessing und Swift. Studien über Nathan den Weisen. Jena 1869; ders.: Beata und Halszka. Eine polnisch-russische Geschichte aus dem 16. Jahrhundert. Breslau 1883. 44 Ergetowski: Listy, 30.

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reden wollte. Dergleichen mag sich Österreich gönnen, für uns wäre es partieller Selbstmord. Ich meine aber, unsere Saat wird reicher aufgehen, wenn sie mit genauer u[nd] sicherer Kenntnis des Bodens ausgestreut wird.“45 Ob Caros polnische Kollegen diesen auch mit Ehrenmitgliedschaften in ihren wissenschaftlichen Institutionen bedacht hätten, wenn sie diese Ansicht gekannt hätten, ist zumindest fraglich. Ähnlich wie bei Roepell werden jedoch sowohl in der polnischen als auch der deutschen Historiographie die problematischen politischen Ansichten der beiden Historiker eher zu Gunsten des Bildes vom „Polenfreund“ ausgeblendet.46

3. Markus Brann – ein vergessener Vertreter der „Wissenschaft des Judentums“ Der zweite hier vorzustellende Historiker, Markus Brann, wählte einen gänzlich anderen Berufs- und Karriereweg als Caro. Ähnlich wie dieser entstammte auch er aus einer Rabbinerfamilie aus Großpolen, entschloss sich zunächst aber dazu, ebenfalls Rabbiner zu werden. Erst später entdeckte er seine wissenschaftliche Berufung. Markus Mordechai Brann47 wurde am 9. Juli 1849 in Rawitsch, Provinz Posen, in die Familie des Rabbiners Salomon Brann und dessen Ehefrau Dorothea, geborene Sil45 Zit. nach Voigt, Gerd: Russland in der deutschen Geschichtsschreibung 1843–1945. Berlin 1994 (Quellen und Studien zur Geschichte Osteuropas 30), 323–326, hier 324f. (Schreiben Caros an Althoff vom 27. Mai 1899). 46 Vgl. den Beitrag von Matthias Barelkowski zu Roepell in diesem Band. 47 Auch über Markus Brann (dessen Vorname ebenfalls uneinheitlich mit „c“ oder „k“ geschrieben wird) gibt es keine erschöpfende Biographie, sondern lediglich Biogramme und Nachrufe. Vgl. Elbogen, Ismar: Marcus Brann. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums 64/10–12 (1920) 241–249; Professor Dr. Marcus Brann s. A. In: Jüdische Volkszeitung Nr. 37 vom 1. Oktober 1920, 1; Marx, Alexander: Marcus Brann. In: Publications of the American Jewish Historical Society 28 (1922) 261–265; Cohn, Willy: Markus Brann (1849–1920). In: ������� Andreae, Friedrich u. a. (Hg.): Schlesier des 16. bis 19. Jahrhunderts. Breslau 1931 [Sigmaringen 2 1985] (Schlesische Lebensbilder 4), 410–416; Markus Mordechai Brann. In: Brocke, Michael/ Carlebach, Julius (Hg.): Biographisches Handbuch der Rabbiner, Bd. 2/1: Die Rabbiner im Deutschen Reich 1871–1945. München 2009, 95–100. Derzeit läuft ein wichtiges Editionsprojekt an der Theologischen Fakultät der Universität Frankfurt am Main, dessen Ziel es ist, „die umfangreiche Korrespondenz von Markus Brann mittels eines repräsentativen Ausschnitts erstmals für die Benutzung zu erschließen“ (https://www.uni-frankfurt.de/41087479/10_editionsprojekt-brann, letzter Zugriff am 19. Juni 2019). Die Korrespondenz von Brann befindet sich in der National ­Library of Israel, Archives Department, Markus Brann Archive Arc. Ms. Var. 308. Sie umfasst mehr als 8.000 Briefe, die bereits digitalisiert wurden. Vgl. https://alexanderstreet.com/products/ twentieth-century-religious-thought-volume-iii-judaism [letzter Zugriff am 19.  Februar 2019]. Auch im Jüdischen Historischen Institut in Warschau (Żydowski Instytut Historyczny Warszawa) finden sich im Bestand Synagogen-Gemeinde Breslau nr 105 weitere Dokumente zu Brann: im Teil Rabbiner-Seminar, aber auch in den Materialien zum Vereinswesen. Ein kleiner Teil des Nachlasses befindet sich ferner in der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“, Archiv, 1,75 D Br Nachlasssplitter Marcus Brann 1849–1920, 1, Nr. 1, Id. Nr. 13268.

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berberg hinein geboren. Sein Vater hatte schon in jungen Jahren Tendenzen gezeigt, die begrenzte Welt des Judentums zu verlassen, indem er Vorlesungen an der Berliner Universität besuchte. Später wurde er nicht nur zum geistigen Führer der Juden in Schneidemühl, sondern wirkte auch als Richter am Rabbinatsgericht in Rawitsch und Religionslehrer in verschiedenen Lehranstalten.48 Besonders erwähnenswert ist zudem, dass er der erste jüdische Schulinspektor in der Provinz Posen war sowie Mitarbeiter der in Leipzig erscheinenden Zeitschrift Der Orient. Berichte Studien und Kritiken für jüdische Geschichte und Literatur. Ziel dieser liberal geprägten Zeitschrift war es, die jüdische und „orientalische“ Geschichte und Literatur mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden darzustellen.49 Markus Brann hatte also schon in seinem Elternhaus die Möglichkeit, sich mit jener Strömung vertraut zu machen, die man als „Wissenschaft des Judentums“ bezeichnete und zu deren wichtigsten Protagonisten er später gehören sollte.50 Über seinen Vater knüpfte er zudem die ersten Kontakte zu Rabbinern, Publizisten und jüdischen Wissenschaftlern.51 Markus Branns Hochachtung für den Vater drückte sich schließlich in der von ihm verfassten Geschichte des Rabbinats in Schneidemühl aus:52 Das Buch, das auf solidem Aktenstudium beruhte, war dem Vater gewidmet. Die Verkaufserlöse sollten dessen Stiftung unterstützen. Diese Abhandlung blieb übrigens Branns einzige Studie zu der Region, aus der er selbst stammte.53 Markus Brann besuchte zunächst von 1858 bis 1865 das Progymnasium in Schneidemühl. Anschließend wechselte er an das Gymnasium in Deutsch Krone, wo er 1867 48 Brann, Salomon, Dr. In: Brocke, Michael/Carlebach, Julius (Hg.): Biographisches Handbuch der Rabbiner, Bd. 1/1: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern 1781–1871. München 2004, 207–208. 49 ���������������������������������������������������������������������������������������������� Schapkow, Carsten: Die Zeitschrift „Der Orient“. Publizistik für die „jüdischen Gesamtinteressen“ im Zeitalter der Emanzipation. In: Wendehorst, Stephan (Hg.): Bausteine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig. Leipzig 2006 (Leipziger Beiträge zur Jüdischen Geschichte und Kultur 4), 506–516, hier 508–509. 50 Zum Thema „Wissenschaft des Judentums“ vgl. exemplarisch Heuberger, Rachel: Aron Freimann und die Wissenschaft des Judentums. Tübingen 2004; Krone, Kerstin von der: Wissenschaft in Öffentlichkeit. Die Wissenschaft des Judentums und ihre Zeitschriften. Berlin/Boston 2012 (Studia Judaica. Forschungen zur Wissenschaft des Judentums 65); Wiese, Christian/Homolka, Walter/Brechenmacher, Thomas (Hg.): Jüdische Existenz in der Moderne. Abraham Geiger und die Wissenschaft des Judentums. Berlin/Boston 2013 (Studia Judaica. Forschungen zur Wissenschaft des Judentums 57); Thulin, Miriam/Krone, Kerstin von der: Wissenschaft in Context. A  research Essay on the Wissenschaft des Judentums. In: Leo Baeck Institute Year Book 58 (2013) 249–280; Kilcher, Andreas/Meyer, Thomas (Hg.): Die „Wissenschaft des Judentums“. Eine Bestandsaufnahme. Paderborn 2015. 51 ��������������������������������������������������������������������������������������������� National Library of Israel, Archives Department, Markus Brann Archive Arc. ������������������ Ms. Var. 308������ , Emanuel Deutsch an Brann, Sohrau 24. März 1897. In zahlreichen Briefen berufen sich die Verfasser auf die Bekanntschaft mit dem Korrespondenten Salomon Brann. Dieser starb 1903, ein Teil seines Nachlasses befindet sich in der Korrespondenz seines Sohnes. 52 Brann, Marcus: Geschichte des Rabbinats in Schneidemühl. Breslau 1894. 53 ������������������������������������������������������������������������������������������� Makowski, Krzysztof: Siła mitu. Żydzi w Poznańskiem w dobie zaborów w piśmiennictwie historycznym. Poznań 2004, 37.

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das Abitur ablegte. Im Jahr darauf zog es ihn bereits nach Breslau an das jüdisch-theologische Seminar, die erste derartige Einrichtung in Deutschland.54 Seit 1854 wurden dort Rabbiner und Lehrer der jüdischen Religion ausgebildet. Das primäre Ziel des Seminargründers und der dort angestellten Wissenschaftler und Lehrer war die Umsetzung der Grundsätze der besonderen Disziplin „Wissenschaft des Judentums“. Es ging hauptsächlich um die Verwissenschaftlichung des Judaismus sowie, auf dieser Grundlage, um die Umwandlung der jüdischen Nation in einen bewussteren politischkonfessionell-kulturellen Organismus. Die Schaffung dieser kollektiven Identität wurde vor allem möglich durch die Historisierung sowie die Erfindung einer neuen Tradition. Ein wichtiges Mittel zur Konstruktion von Identität im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts war die Ansprache einer gemeinsamen Wurzel und deren historiographische und kulturelle Umformung zu einer jüdischen „Stammeszugehörigkeit“.55 Die Neugewinnung alter Traditionen in einem neuen, bürgerlich-humanistischen Gewand und die politische, soziale und vor allem kulturelle Aktivierung der gemeinsamen Abstammung gingen einher mit vielfältigen Versuchen, das religiös-kulturelle Erbe für sich und die kommenden Generationen zu retten und dauerhaft zu bewahren. Die Geschichte war somit zu einer einigenden und konsolidierenden Kraft für die deutschen Juden geworden. Diese Wahrnehmung hatte ihre Konsequenzen für die deutsch-jüdische Geschichtsschreibung.56 Marcus Pyka führt dazu pointiert aus: „Die in der Forschung [...] 54 ������������������������������������������������������������������������������������������ Zu den Rabbinerseminaren im Allgemeinen vgl. Carlebach, Julius (Hg.): Wissenschaft des Judentums. Anfänger der Judaistik in Europa. Darmstadt 1992. Zum Breslauer Seminar vgl. Brann, Markus: Geschichte des Jüdisch-Theologischen Seminars (Fraenckel’sche Stiftung) in Breslau. Festschrift zum fünfzigjährigen Jubiläum der Anstalt. Breslau 1904; Kisch, Guido: Das Breslauer Seminar. Jüdisch-Theologisches Seminar (Fraenkelscher Stiftung) in Breslau 1854–1938. Gedächtnisschrift. Tübingen 1963; Fuchs, Konrad: Zur Entstehung, Entwicklung und Schließung des Jüdisch-Theologischen Seminars zu Breslau (Fraenckelsche Stiftung). In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 31 (1990) 301–306; Wilke Carsten: „Den Talmud und den Kant“. Rabbinerausbildung an der Schwelle zur Moderne. Hildesheim u. a. 2003, 669–680; Brämer, Andreas: Rabbiner Zacharias Frankel. Wissenschaft des Judentums und konservative Reform im 19. Jahrhundert. Hildesheim u. a. 2000, 319–354; Rybińska, Agata: Granice integracji. Religijność Żydów wrocławskich w drugiej połowie XIX wieku (1854–1890). Wrocław 2017, 61–75. 55 Gotzmann, Andreas: Eigenheit und Einheit. Modernisierungsdiskurse des deutschen Judentums der Emanzipationszeit. Leiden u. a. 2002 (Studies in European Judaism 2), 114–184, hier 162– 184. Gotzmann gelingt es ausgezeichnet, die innere Widersprüchlichkeit deutsch-jüdischer Geschichtsschreibung herauszuarbeiten, die er in der Frage zusammenfasst: „Wie ließ sich die Darstellung einer übergreifenden Geschichte des jüdischen Volkes oder zumindest diejenige der Juden mit dem Anspruch, nun Teil des deutschen Volkes geworden zu sein, vereinbaren?“ Ebd., 176. 56 Vgl. zu diesem Thema vor allem Reinharz, Jehuda: Fatherland or Promised Land. The Dilemma of the German Jews, 1893–1914. Ann Arbor 1975; Volkov, Shulamit: Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland. In: Historische Zeitschrift 253 (1991) 603–628; Pulzer, Peter: Jews and the German State. Oxford/Cambridge 1992; Brenner, Michael: The Renaissance of Jewish Culture in Weimar Germany. Michigan/London 1996; Reinke, Andreas: Gemeinde und Verein. Formen jüdischer Vergemeinschaftung im Breslau des

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Abb. 2: Als umtriebiger Wissenschaftsorganisator und Netzwerker fand Markus Brann seine Berufung weitgehend im jüdisch-theologischen Milieu. Neben der Herausgabe mehrerer Grundlagenwerke lieferte er als Autor aber auch quellennahe Beiträge zur Geschichte der Juden in Schlesien. Bildnachweis: Privatarchiv Barbara KalinowskaWójcik.

vielzitierte ‚Erfindung‘ von Nationen ist ja nichts anders als die Schaffung nationaler Identitäten durch die Konstruktion einer Geschichte. Doch nicht nur Nationen, auch eine Reihe anderer kollektiver Identitäten wurden so propagiert. Seien es regionale, religiöse, geschlechts- oder klassenbezogene Identitäten.“57 In Wirklichkeit waren diese theoretisch klingenden kollektiven Identitäten immer auch „Kommunikationskonstrukte“, über die gemeinsame Werte und Ideen vermittelt wurden. Die Abgänger des Breslauer Seminars sollten, gleichberechtigt mit den Absolventen der 1872 gegründeten Hochschule für Wissenschaft des Judentums in Berlin, diese Mission durch die Übernahme von Rabbinerstellen in den deutschen jüdischen Gemeinden erfüllen. Einfluss auf Branns intellektuelle Entwicklung im Seminar nahmen insbesondere Heinrich Graetz, ein jüdischer Historiker, der sowohl an der Breslauer Universität als auch am jüdisch-theologischen Seminar wirkte, sowie Zacharias Frankel, ein wichtiger jüdischer Aktivist und zugleich der erste Direktor des Breslauer Seminars, der sich im Kampf um die Gleichberechtigung der Juden stark engagierte. Er formulierte unter anderem das Programm eines „historisch-positiven Judentums“ und beeinflusste durch seine Schüler die Ideenwelt der jüdischen Bevölkerung in Ostmitteleuropa.58 Brann beendete das Rabbinerseminar 1876 mit einem Diplomabschluss und erhielt nach Bestehen der entsprechenden staatlichen Prüfungen auch die Lehrbefugnis für jüdischen Religionsunterricht an den Schulen. Da nach den neuen Anforderungen an 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. In: Hettling, Manfred/Reinke, Andreas/Conrads, Norbert (Hg.): In Breslau zu Hause? Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der Neuzeit. Hamburg 2003 (Studien zur jüdischen Geschichte 9), 131–148. 57 Pyka, Markus: Jüdische Identität bei Heinrich Graetz. Göttingen 2009, 17. 58 Brämer: Rabbiner Zacharias Frankel, 319–354.

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künftige Rabbiner dieser Personenkreis eine Universitätsausbildung besitzen sollte, immatrikulierte sich ein Großteil der Seminaristen gleichzeitig an der Philosophischen Fakultät der Breslauer Alma Mater. Seminar und Universität sollten wenigstens auf diese Weise enger verzahnt werden, war doch der Versuch, die „Wissenschaft des Judentums“ an den Fakultäten der deutschen Hochschulen zu etablieren, zuvor gescheitert.59 Wie aus dem zur Dissertation gehörigen Lebenslauf resultiert, studierte Brann an der Universität Geschichte, Philosophie und orientalische Philologie, wobei zu seinen Lehrern im Fach Geschichte neben Richard Roepell und Wilhelm Junkmann auch Jacob Caro gehörte sowie in der Diplomatik Colmar Grünhagen. Zudem besuchte er Veranstaltungen von Heinrich Graetz, Christlieb Julius Braniß (Philosophie) und Franz August Schmölders (Philologie). Er entschied sich schließlich für die Seminare von Roepell und Junkmann, wo er nach seinen Worten auch die nötige Sensibilität für die Quellenarbeit des Historikers erhielt.60 Schon 1873 verteidigte Brann seine Dissertation Die Söhne des Herodes; noch im selben Jahr erschien die Arbeit im Druck.61 Brann wurde später vielfach als Schüler und Erbe von Heinrich Graetz bezeichnet. Dies ist wohl darauf zurückzuführen, dass er nach dem Tod von Graetz viel Zeit und Arbeit investierte, um dessen intellektuelles Erbe zu bewahren, indem er zahlreiche überarbeitete und ergänzte Bände der Geschichte der Juden herausgab.62 Noch 1917 veröffentlichte Brann aus Anlass des 100. Geburtstags des großen jüdischen Historikers ein Gedenkbuch, für das er von Graetz’ ehemaligen Schülern und Freunden Beiträge erbeten hatte.63 Dennoch muss an dieser Stelle unterstrichen werden, dass Brann seine Methodik und wissenschaftliche Werkstatt vor allem den Professoren des Historischen Seminars an der Universität Breslau verdankte, so dass er mitnichten ausschließlich als Graetz-Schüler zu bezeichnen ist.64 Der weitere Berufsweg von Brann scheint vor allem durch pekuniäre Überlegungen vorgegeben worden zu sein. Ismar Elbogen, sein enger Freund und langjähriger Mitarbeiter, lässt daran im Rückblick keinen Zweifel: „Für eine wissenschaftliche Laufbahn, wie sie dem jungen Gelehrten vorschwebte, fehlte damals jede Möglichkeit: er sah sich gezwungen, im Lehr- und Predigtamt sein Brot zu suchen.“65 Brann nahm noch wäh59 ����������������������������������������������������������������������������������������� Thulin, Mirjam: Kaufmanns Nachrichtendienst. Ein jüdisches Gelehrtennetzwerk im 19. Jahrhundert. Göttingen 2012 (Schriften des Simon-Dubnow-Instituts 16), 296; Krone: Wissenschaft, 172f., 180f. 60 Brann, Markus: De Herodis, qui dicitur, magni filiis patrem in imperio secutis. Dissertatio inauguralis historica [...]. Krotoschini 1873, 33 (Vita). 61 Ebd.; eine deutsche Version erschien 1873 in Breslau. 62 Brann bearbeitete und ergänzte die folgenden Bände von Graetz’ Darstellung Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart: Bd. 10 (31897), Bd. 11 (21900), Bd. 1 (21908); Bd. 2 (21902); Bd. 3 (51905–1906). 63 Brann, Marcus (Hg.): Heinrich Graetz. Abhandlungen zu seinem 100. Geburtstage (31. Oct. 1917). Wien 1917. 64 Elbogen: Marcus Brann, 242. 65 Ebd.

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rend des Studiums eine Stelle als Hilfsprediger an der Neuen Synagoge und als Religionslehrer in der Breslauer Jüdischen Gemeinde an. Rund zehn Jahre nach seiner Promotion ging er 1883 nach Berlin, wo er die Leitung des Auerbachschen Waisenhauses übernahm. Dieser Posten scheint jedoch nicht seinen Erwartungen entsprochen zu haben, denn bereits zwei Jahre später übernahm er die Rabbinerstelle in Pless, einer kleinen Ortschaft in Oberschlesien unweit der Grenze zu Russland und Österreich-Ungarn. Dort entstand seine Arbeit über Abraham Muhr, einen der wichtigsten jüdischen Aktivisten in Schlesien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der in Pless gelebt und gewirkt hatte,66 sowie die Arbeit Geschichte des Landrabbinats in Schlesien.67 Sowohl das demographische und kulturelle als auch das wirtschaftliche Potential der örtlichen jüdischen Gemeinde in den 1880er Jahren schränkten die Entfaltungsmöglichkeiten von Brann jedoch stark ein; eine Zusammenarbeit mit den Fürsten von Pless kam – anders als im Fall von Ezechiel Zivier – ebenfalls nicht zustande. Ob Brann darauf spekuliert oder gar eine finanzielle Förderung seitens des Fürstenhauses angestrebt hatte, bleibt offen. Erst im September 1891 bot der plötzliche Tod von Graetz Brann die Möglichkeit, wieder in die Wissenschaft zu wechseln und sich an seiner alten Ausbildungsstätte, dem jüdisch-theologischen Seminar in Breslau, als Nachfolger seines ehemaligen Lehrers zu bewerben. Elbogen zufolge herrschte auch kein Zweifel, dass Brann auf Grund seiner Kompetenzen der am besten geeignete Kandidat sei.68 Allerdings verband sich mit diesem Posten gewissermaßen die „Erwartung der ganzen Judenheit“, wobei gleichzeitig allen klar war: „Die Genialität eines Graetz lässt sich nicht ersetzen“.69 Diese Hypothek wog schwer; es lässt sich überdies nicht verhehlen, dass Brann letztlich bis zu seinem Tod nicht aus dem Schatten von Graetz herauszutreten vermochte. Gleichwohl trat Brann am 4. November 1891 die Stelle als Dozent an. Ab 1914 wirkte er offiziell als Professor am jüdisch-theologischen Seminar in Breslau. Diese Position hatte er bis zu seinem Tod inne. Seine Lehrveranstaltungen und Vorlesungen konzentrierten sich auf die Exegese der heiligen Schriften sowie die jüdische Geschichte und Literatur, was sich jedoch nicht vollständig mit seinen wissenschaftlichen Interessen deckte.70 Nach dem Tod des Seminarbibliothekars Benedict Zuckermann oblag Brann auch die Leitung der Bibliothek. Er kaufte neue Publikationen an, kümmerte sich aber auch um den Erhalt der alten Bestände. Trotz der umfangreichen Lehr- und Publikationstätigkeit zur Fortsetzung des Graetzschen Werkes fand er Zeit für eigene Forschungen. Besonders erwähnenswert sind in diesem Zusammenhang seine zahlreichen Arbeiten zur Geschichte der Juden in Schlesien. Auf Grund ihrer breiten Quellen66 Brann, Marcus: Abraham Muhr. Ein Lebensbild. In: Jüdischer Volks- und Haus-Kalender für das Jahr 1891, 1–65. 67 Ders.: Geschichte des Landrabbinats in Schlesien. Breslau 1887. 68 Elbogen: Marcus Brann, 242. 69 Ebd. 70 Brann: Geschichte des Jüdisch-Theologischen, XXXIII–XXXVI.

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basis und der Tatsache, dass viele dieser Quellen im Zweiten Weltkrieg zerstört worden sind, stellen sie heute selbst wichtige Quellen dar.71 Dies trifft vor allem auf das Werk Geschichte der Juden in Schlesien zu,72 das zunächst in Fortsetzungen in den jährlichen Rechenschaftsberichten des Seminars veröffentlicht wurde, sowie auf die Studie Die schlesische Judenheit vor und nach dem Edikt vom 11. März 1812.73 Branns Lehrtätigkeit veranlasste ihn zudem zum Verfassen von Lehrbüchern, die sich, populärwissenschaftlich angelegt, an eine breitere Leserschaft richteten. Zu nennen sind hier die Werke Ein kurzer Gang durch die jüdische Geschichte, dessen erste Auflage 1907 erschien,74 sowie die Geschichte der Juden und ihrer Litteratur für Schule und Haus bearbeitet.75 Die zahlreichen Auflagen, die diese beiden Werke erfuhren, zeugen von einem beachtlichen Leserinteresse. Dass Brann selbst sehr an einer Verbreitung dieser Werke und deren Einsatz an den Schulen im gesamten deutschsprachigen Raum interessiert war, belegt der Umstand, dass er mit Hilfe seines Wiener Verlegers Richard Löwit, dessen Erben sowie der Wiener Jüdischen Gemeinde eine ministerielle Anerkennung seines Lehrbuchs der Jüdischen Geschichte76 als Lehrmittel an den Mittelschulen in Österreich anstrebte.77 Der Weg dorthin war mitunter steinig und langwierig, da mehrere Gutachten und ministerielle Bescheide erforderlich waren. So wurde Brann vom Ministerium für Kultus und Unterricht in Wien im Mai 1903 informiert, dass der vierte und letzte Teil seines Lehrwerks einer „Revision“ bedürfe, entsprechend den Hinweisen in den drei abgegebenen Gutachten; erst dann könne eine „Approbation“ erfolgen.78 Brann war je71 Eine Publikationsliste Branns findet sich in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums 63/2 (1919) 81–97; Brocke/Carlebach (Hg.): Biographisches Handbuch der Rabbiner, Bd. 2/1, 96–99. 72 Brann, Marcus: Geschichte der Juden in Schlesien, Tl. 1: Von den ältesten Zeiten bis 1335. In: Jahres-Bericht des jüdisch-theologischen Seminars Fraenckel’scher Stiftung für das Jahr 1895. Breslau 1896, 1–40; Tl. 2: Von 1335–1400. In: Jahres-Bericht des jüdisch-theologischen Seminars Fraenckel’scher Stiftung für das Jahr 1896. Breslau 1897, 41–79; Tl. 3: Von 1400–1437. In: JahresBericht des jüdisch-theologischen Seminars Fraenckel’scher Stiftung für das Jahr 1900. Breslau 1901, 81–104; Tl. 4: Von 1437–1526. In: Jahres-Bericht des jüdisch-theologischen Seminars Fraenckel’scher Stiftung für das Jahr 1906. Breslau 1907, 105–150; Tl. 5: Vom Beginn der habsburgischen Herrschaft bis zum Ende des sechzehnten Jahrhunderts. In: Jahres-Bericht des jüdischtheologischen Seminars Fraenckel’scher Stiftung für das Jahr 1909. Breslau 1910, 151–201. 73 Ders.: Die schlesische Judenheit vor und nach dem Edikt vom 11. März 1812. Breslau 1913. 74 Ders.: Ein kurzer Gang durch die jüdische Geschichte. Kötzschenbroda/Leipzig 1907. 75 ����������������������������������������������������������������������������������������������� Ders.: Geschichte der Juden und ihrer Litteratur für Schule und Haus bearbeitet, Bd. 1–3. Breslau 1893–1913. 76 Ders.: Lehrbuch der jüdische Geschichte für die Oberstufe der österreichischen Mittelschulen, Bd. 1–4. Wien 1901–1908. 77 ������������������������������������������������������������������������������������������� Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“, Archiv, 1,75 D Br Nachlasssplitter Marcus Brann 1849–1920, 1, Nr. 1, Id. Nr. 13268: Gustav Kohn an Marcus Brann, Wien 7. April 1899; Brief von Brann an Direktor Simon, Breslau 4. November 1899. 78 ��������������������������������������������������������������������������������������� Ebd., Vorstand der israelitischen Kultusgemeinde Wien an Brann, Wien 19. Mai 1903 (einschließlich Abschriften der Gutachten).

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doch an einer verbesserten und an die Bedürfnisse von Lehrern und Schülern angepassten Neuauflage seines Werks interessiert, weshalb er diese selbst wiederholt um Rezensionen bat. Gemeinsam mit seinem Verleger erarbeitete er dazu eine Liste von Personen und Institutionen, die Freiexemplare erhalten sollten – was faktisch einer ­Werbeaktion gleichkam. Tatsächlich trafen dann auch zahlreiche Briefe von Pädagogen aus ganz Österreich-Ungarn mit Kommentaren und Hinweisen ein.79 Dass sich mit Lehrbüchern Geschäfte machen ließen, hatten im großen Habsburgerreich jedoch auch andere Gemeinden für sich entdeckt. Im Mai 1910 informierte Leopold Misner, der den Verlag Löwits übernommen hatte, seinen Autor darüber, dass die Israelitische Kultusgemeinde in Prag den Schulen ein Konkurrenzprodukt empfehle, dass einen auffallend ähnlichen Titel trage: Lehrbuch der jüdischen Geschichte und Literatur, verfasst von Adolf Biach, Emanuel Hecht und Meyer Kayserling.80 Neben seiner Lehr- und Forschungstätigkeit am Breslauer Seminar nahm Brann auch intensiv Anteil am gesellschaftlichen Leben der örtlichen Jüdischen Gemeinde, indem er sich an Organisationskomitees, Programmbeiräten und Vorständen jüdischer Institutionen beteiligte. Als Beispiel sei hier die Industrieschule für Israelitische Mädchen erwähnt,81 deren Revisor er war und an deren Vorstandssitzungen er praktisch bis an sein Lebensende teilnahm.82 Dieses Engagement drückte sich auch in der von Brann zum hundertjährigen Bestehen der Schule verfassten Geschichte der Bildungseinrichtung aus.83 Ab 1892 gab Brann in Zusammenarbeit mit David Kaufmann, Professor am kurz zuvor gegründeten Rabbinerseminar in Budapest, eine neue Folge der von Zacharias Frankel gegründeten Zeitschrift Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums heraus.84 Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Graetz, der 1887 die Arbeit an der Zeitschrift wegen Arbeitsüberlastung hatte einstellen wollen, seinen Nachfolger als Redakteur in Kaufmann sah,85 sich zur Person von Brann aber reserviert und skeptisch äußerte. In einem Brief an Salomon Halberstam vom 12. Februar 1890 bemerkte Graetz dazu: „Die Auferstehung der Monatsschrift unter Dr. Brann’s 79 Ebd., Löwit an Brann, Wien 6. September 1900; Brann an Drobinsky aus Friedek, Breslau 20. Mai 1911; Versandte Freiexemplare in den Jahren 1911 und 1912 (Liste). 80 Hech, Emanuel u. a.: Lehrbuch der jüdische Geschichte und Literatur. Leipzig 81909. 81 Żydowski Instytut Historyczny Warszawa, Synagogen-Gemeinde Breslau nr 105, sygn. 1024. 82 Diese Institution entstand 1801 auf Initiative der Breslauer Kriegs- und Domänenkammer. Vgl. van Rahden: Juden und andere Breslauer, 226. 83 Brann, Marcus: Geschichte der Anstalt während des ersten Jahrhunderts ihres Bestehens. In: 100. Jahresbericht über die Industrieschule für israelische Mädchen. Breslau 1901, 3–23. 84 Krone: Wissenschaft, 177f. 85 Graetz, Heinrich: Tagebuch und Briefe. Hg. v. Michael Reuven. Tübingen 1977 (Schriftenreihe Wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 34), 435: Graetz an Halberstam, 6. Januar 1888: „Es würde mich freuen, wenn Dr. Kaufmann sie [die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums, d. Verf.] fortsetzen sollte – der am fähigsten dazu ist, und dem ich die Mitredaktion längst angetragen habe.“

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Redaktion scheint mir aussichtslos zu sein. Er genießt nicht volles Ansehen bei Allen.“86 Nach dem Tod Kaufmanns 1899 gab es zu Brann offenbar keine Alternative, er gab die Monatsschrift bis zu seinem Tod allein heraus. Hinsichtlich der Ideale von der „Wissenschaft des Judentums“ wurde das Organ zur wichtigsten Zeitschrift überhaupt. Sie erhielt sowohl finanzielle als auch inhaltliche Unterstützung von den bedeutendsten Personen und Institutionen aus dem wissenschaftlich-kulturellen Milieu des deutschen Judentums. Die Skepsis von Graetz war offensichtlich verfehlt gewesen.87 Zu den wichtigen Formen des gesellschaftlichen Lebens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörten zweifellos die Vereine und Verbände. Hinsichtlich der jüdischen Gemeinschaft sprach man zum Ende des Jahrhunderts gar von einer „organisatorischen Renaissance“, die auf der Gründung zahlreicher Organisationen und Vereine beruhte, die sich speziell an Juden richteten. Dies resultierte zum einen aus dem wachsenden Antisemitismus, zum anderen aus dem fehlgeschlagenen Versuch, sich gleichberechtigt in nichtjüdische Organisationen einzubringen.88 Brann blieb auch in dieser Hinsicht nicht gleichgültig und beteiligte sich an der Arbeit zahlreicher Vereine, zumal er für diese Aufgabe als Seminarlehrer und Redakteur der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums prädestiniert schien. Fast selbstverständlich erscheint vor diesem Hintergrund seine Beteiligung an der Arbeit der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums sowie des Hebräischen Literaturvereins Mekize Nirdamin.89 Mitglied, teilweise auch im Vorstand tätig, war er zudem in mehreren Lehrervereinen: im Verband der jüdischen Lehrervereine im Deutschen Reiche, im Verein israelitischer Lehrer in Schlesien und Posen sowie im Verein freier jüdischer Volkshochschulen. In Breslau gehörte er dem Ortsverband des Vereins für jüdische Geschichte und Literatur an, im Jahr seines Todes war er dessen Erster Vorsitzender. Brann war außerdem Mitbegründer und aktives Mitglied der „Amicitia“, einer Vereinigung jüdischer Theologen sowie Delegierter der Freien Jüdischen Vereinigung beim Deutsch-Israelitischen Gemeindebund. Dies spricht für seine Verortung in der Mitte des politischen Spektrums. Als Kuratoriumsmitglied des Gesamtarchivs der 86 Ebd., 450: Graetz an Halberstam, 12. Februar 1890. 87 ������������������������������������������������������������������������������������������� Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“, Archiv, 1,75 D Br Nachlasssplitter Marcus Brann 1849–1920, 1, Nr. 1, Id. Nr. 13268: Curatorium der Zunz-Stiftung an Brann, Berlin 5. Dezember 1900. In dem Brief lobte das Kuratorium die Qualität der Zeitschrift und schlug die Finanzierung zweier weiterer Jahrgänge vor. Interessanterweise veröffentlichte Zunz selbst wegen eines Konflikts mit Frankel keine eigenen Beiträge in der Zeitschrift. 88 ������������������������������������������������������������������������������������������� Reinke: Gemeinde und Verein���������������������������������������������������������������� , 131–148. Jüdische ����������������������������������������������������� Vereine entstanden erst mit einiger Verzögerung nach den nichtjüdischen Vereinen. Vgl. Gehrke, Roland: Zwischen ‚vaterländischer‘ Geschichtsbegeisterung und wissenschaftlicher Professionalisierung: Das historische Vereinswesen im deutschsprachigen Raum vor 1914. In: Bahlcke, Joachim/Gehrke, Roland (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung in Schlesien. Von der Aufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. Köln/Weimar/Wien 2017 (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 26), 27–43, hier 31. 89 ���������������������������������������������������������������������������������������������� National Library of Israel, Archives Department, Markus Brann Archive Arc. ������������������� Ms. Var. 308������� , Abraham Berliner an Brann, Berlin, 1. März 1900.

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deutschen Juden war er zudem an einer Initiative beteiligt, an der, wie noch zu zeigen sein wird, auch Zivier maßgeblich mitwirkte.90 Die Mitgliedschaft in der Breslauer Loge B’nai B’rith war damit fast schon Ehrensache. Als international agierender Netzwerker war Brann seit 1902 korrespondierendes Mitglied der American Jewish Historical Society.91 Zu dieser intensiven gesellschaftlichen Arbeit passt auch, dass Brann neben der bereits erwähnten Festschrift für Graetz für wissenschaftliche Kollegen und langjährige Korrespondenzpartner noch weitere Werke dieser Art92 herausgab. Zu nennen sind hier David Kaufmann,93 Zacharias ­Frankel94 und Israel Lewy.95 Eine wichtige Darstellung, wiederum auf Initiative von Brann, stellte die 1903 beschlossene und 1905 begonnene Arbeit an der historisch-geographischen Enzyklopädie dar, die „unter dem Titel ‚Germania Judaica‘ ein alphabetisches Verzeichnis aller Ortschaften des deutschen Reiches, an denen von den ältesten Zeiten bis zu den Wiener Verträgen jüdische Ansiedlungen bestanden haben“, erstellen sollte – mit dem Ziel, „deren Geschichte auf Grund der Quellen wissenschaftlich darstellen zu lassen“. Der erste Band, der den Zeitraum bis 1238 umfasste, wurde in zwei alphabetisch geordnete Teilbände untergliedert, die 1917 – also mitten im Weltkrieg – in Frankfurt am Main erschienen, herausgegeben von der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums. An den ersten Arbeiten beteiligten sich neben Brann auch Aron Freimann sowie der Bibliothekar der Frankfurter Stadtbibliothek, Haim Tykocinski. Später kam noch Ismar Elbogen, nunmehr Professor und Rektor der Berliner Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums, hinzu.96 90 Ebd., Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens an Brann, Berlin 17. September 1912; Protokoll der Sitzung des Kuratoriums des Gesamtarchivs der Deutschen Juden am 5. Oktober 1913. 91 Brocke/Carlebach (Hg.): Biographisches Handbuch der Rabbiner, Bd. 2/1, 95f.; Marx: Marcus Brann, 265. 92 ������������������������������������������������������������������������������������������ Eine Ausnahme bildete die Arbeit zum 700. Todestag von Maimonides. Vgl. Brann, Marcus: Moses ben Maimon. Sein Leben, seine Werke und sein Einfluss. Zur Erinnerung an den siebenhundertsten Todestag des Maimonides. Hg. v. d. Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften des Judentums, Bd. 1–2. Leipzig 1908–1914. 93 Brann, Marcus/Rosenthal, Ferdinand (Hg.): Gedenkbuch zur Erinnerung an David Kaufmann. Breslau 1900. Brann verantwortete auch die Herausgabe der gesammelten Schriften Kaufmanns. Vgl. Kaufmann, David: Gesammelte Schriften, Bd. 1–3. Hg. v. Marcus Brann. Frankfurt a. M. 1908–1915. 94 Brann, Marcus (Hg.): Zacharias Frankel. Gedenkblätter zu seinem hundertsten Geburtstage. Breslau 1901. 95 Brann, Marcus/Elbogen, Ismar (Hg.): Festschrift zu Israel Lewy’s siebzigstem Geburtstag. Breslau 1911. 96 Germania Judaica, Bd. 1: Von den ältesten Zeiten bis 1238, Tl. 1–2. Hg. v. Marcus Brann und Aron Freimann. Frankfurt 1917. Der zweite Band erschien erst 1934, mit dem Vermerk „nach dem Tode von Markus Brann hrsg. von Ismar Elbogen, Aron Freimann und Haim Tykocinski“ (das Zitat Bd. 1/2, IX).

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Die bisher dargestellten Tätigkeitsfelder Branns waren alle mit einer ausgedehnten Korrespondenztätigkeit verbunden, die weit über die Grenzen Breslaus und Deutschlands hinausreichte und praktisch ganz Europa und die Vereinigten Staaten umfasste. Zu Branns engsten Mitstreitern und Freunden gehörte zweifellos David Kaufmann, Leiter des Rabbinerseminars in Budapest, mit dem er bereits seit den gemeinsamen Studententagen am Breslauer Seminar verbunden war. Intensiv wurden ihre Kontakte durch die gemeinsame Herausgeberschaft der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums ab 1891 – in dieser Zeit kursierten zum Teil mehrere Briefe täglich zwischen Breslau und Budapest.97 Brann war offensichtlich ein kommunikationsfreudiger Mensch, dem es entsprechend leicht fiel, Kontakte zu knüpfen, zu pflegen und auszubauen. Alexander Marx äußerte hierzu: „He [Brann] was beloved by the people with whom he came in contact and his advice was gladly listened to. He was a most pleasant companion, full of life and replete with information on any subject of a scientific or secular character, or of personal nature. He could tell numberless good stories and yearns and was the personification of ‚Gemütlichkeit‘.“98 Brann gehörte zur bereits dritten Generation der „Wissenschaft des Judentums“, konnte also auf ein schon ausgebautes Netzwerk zurückgreifen und pflegte enge Kontakte zu anderen Wissenschaftlern und Schriftstellern, was sich in einer Fülle von Briefwechseln niederschlug. Als Korrespondenzpartner zu nennen sind hier namentlich Solo Adler, Avigdor Aptowitzer, Majer Bałaban, Wilhelm Bacher, Abraham Berliner, Eduard Brinbaum, Philipp Bloch, Johannes Chrząszcz, Daniel Chwolson, Willy Cohn, Emanuel Deutsch, Ismar Elbogen, Abraham Epstein, David Feuchtwang, Aron Freimann, Nathan Gelber, Aron Heppner, Paul Rieger, Gustav Karpeles, Max Kopfstein, Israel Lewy, Louis Lewin, Martin Philippson, Max Pinkus und Ezechiel Zivier. Hinzu kamen Kontakte zu seinen eigenen Schülern. Nicht ohne Berechtigung lässt sich daher sagen, dass Brann nach dem Tod von Graetz das jüdische Breslau auf der intellektuellen Landkarte Europas repräsentierte. Am 5. November 1916 beging man das fünfundzwanzigjährige Dienstjubiläum von Brann als Dozent am Breslauer Seminar. Zur Feierstande erschienen zahlreiche Vertreter der jüdischen Welt. In einer Dankesrede, die später im Jahres-Bericht des jüdischtheologischen Seminars Fraenckel’scher Stiftung abgedruckt wurde, hieß es zu Brann: „Als Nachfolger des Mannes, der das Gedächtnis unserer jüdischen Geschichte ruhmvoll erneuert hat, haben Sie mit ungewöhnlicher Kraft und Arbeitsfreudigkeit viele Fragen der Forschung gelöst und insbesondere für die Darstellung der Geschichte der Juden unserer Heimatprovinz Schlesien Wertvolles geleistet.“99 Neben der obligatorischen Er97 Im Nachlass Kaufmanns finden sich rund 50 Briefe und 300 Postkarten aus dem Zeitraum von 1887 bis 1899, deren Empfänger oder Absender Brann war. Vgl. auch Thulin: Kaufmann, 137. Im Nachlass Branns in Israel bildet die Korrespondenz mit Kaufmann den größten Bestand. 98 Marx: Marcus Brann, 265 99 Jahres-Bericht des jüdisch-theologischen Seminars Fraenckel’scher Stiftung für das Jahr 1916. Breslau 1917, 3.

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wähnung des Übervaters Graetz ist vor allem der Hinweis auf die schlesische Regionalgeschichte als Hauptforschungsfeld des Jubilars aufschlussreich. Bestätigt wird dieser Hinweis etliche Jahre später einmal mehr durch Ismar Elbogen: „Es ist tief zu bedauern, daß er [Brann] dem Gebiet der alten jüdischen Geschichte sich ganz entfremdete, um sich fast ausschließlich der Lokal- und Gelehrtengeschichte zuzuwenden.“100 Markus Brann starb am 26. September 1920 in Breslau. In zahlreichen Traueranzeigen wurde immer wieder seine wissenschaftliche, keineswegs negativ gemeinte, „Eingleisigkeit“ hervorgehoben. Brann hatte sich fast ausschließlich mit Forschungen zur jüdischen Geschichte und Kultur beschäftigt. Die in Breslau erscheinende Jüdische Volkszeitung schrieb am 1. Oktober 1920 in einem dem Verstorbenen gewidmeten Artikel: „Sein ganzes Leben war eine Arbeit am Judentum. Das war der Grundzug seines Wesens: sein durch und durch Jude sein. Da war Judentum nichts äußerlich Gemachtes, nichts wissenschaftlich Errungenes, nichts dogmatisch Festgesetzes: da war ein Mensch der eben gar nichts andres sein konnte als Jude.“101 Dieses Zitat spiegelt das Leben und die Wirkung Branns zutreffend wider. Im Gegensatz zu Caro, der praktisch – mit Ausnahme seiner Familie – kaum Beziehungen zu seinen jüdischen Mitbürgern unterhalten hatte, bewegte sich Brann geistig nur innerhalb seiner jüdischen Umwelt.

4. Ezechiel Zivier – Archivar in privaten Diensten und vielseitiger Historiker Zwischen den beiden bisher porträtierten Historikern und ihren so unterschiedlichen Berufswegen steht der dritte Geschichtsforscher, Ezechiel Zivier, der über die Geschichte Polens und Schlesiens sowie auf dem Gebiet der schlesischen, deutschen und jüdischen Archivkunde arbeitete. Schon allein wegen dieser Themenauswahl musste er sich geistig sowohl in der jüdischen als auch in der nichtjüdischen Welt bewegen, was sich naturgemäß auch in dem von ihm unterhaltenen Netzwerk widerspiegelte. Zivier war zudem in besonderer Weise mit Oberschlesien verbunden, dem am weitesten nach Osten vorgeschobenen Teil Schlesiens, der im 19. Jahrhundert eine tiefgreifende Industrialisierung auf der Basis von Kohle und Stahl erlebte. Dies stellte auch die mit der Geschichte des Bergbaus befassten Historiker und Archivare vor wichtige Aufgaben, ging es doch im Auftrag von Bergwerksbesitzern nicht selten um den Nachweis der entsprechenden alten Besitzrechte („Bergregal“) und damit um enorme Gewinne aus der Steinkohleförderung. Ezechiel Zivier102 wurde am 22. September 1868 in die Familie eines jüdischen Lehrers der Elementarschule in Wieluń hineingeboren.103 Der Beruf des Vaters und dessen 100 Elbogen: Marcus Brann, 242. 101 Jüdische Volkszeitung Nr. 37 vom 1. Oktober 1920, 1. 102 Zu Zivier liegt, anders als zu den bisher skizzierten Fällen von Caro und Brann, eine moderne quellennahe Biographie vor. Vgl. Kalinowska-Wójcik, Barbara: Między wschodem i zachodem. Ezechiel Zivier (1868–1925). Historyk i Archiwista. Katowice 2015. 103 Archiwum Państwowe w Łodzi, Akta stanu cywilnego gminy żydowskiej w Wieluniu, sygn. 78, Jahr 1868, Bl. 14, Eintrag Nr. 27 (MF 368681).

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Weltanschauung blieben zweifellos nicht ohne Einfluss auf den von ihm eingeschlagenen Weg. Nach Abschluss der von seinem Vater geleiteten jüdischen Grundschule wurde Ezechiel Zivier nach Petrikau geschickt, wo er in den Jahren 1880 bis 1888 das staatliche Gymnasium besuchte. Zur weiteren Ausbildung begab sich der junge Abiturient dann nach Breslau; im Dezember 1888 immatrikulierte er sich an der Philosophischen Fakultät der dortigen Universität.104 Nach anfänglicher Begeisterung für die Orientalistik entschied sich Zivier schließlich für ein Studium der Slawistik unter der Betreuung von Władysław Nehring. In seinen Vorlesungen und Seminaren lehrte Nehring die Studenten, philologische Forschungen mit historisch-kritischen Untersuchungen zu verbinden. Wahrscheinlich kam es während des Studiums nie zu einem persönlichen Kontakt mit Richard Roepell, dessen zweiter Nachfolger als Autor der Geschichte Polens Zivier später werden sollte. Es steht jedoch außer Zweifel, dass Nehring seinen Schülern die von ihm bei Roepell erlernten Methoden weitervermittelte. Dies lässt sich auch an den slawistischen und historiographischen Arbeiten Nehrings ablesen, der vom „Historiker zum Slawisten“ heranwuchs, mit Wurzeln in der historisch-vergleichenden Methode Roepells.105 Die Kontakte mit Nehring erwiesen sich für Zivier in wissenschaftlicher Hinsicht als ausgesprochen fruchtbar. Seine Dissertation wurde hoch bewertet und gewann den von allen Fakultäten der Universität Breslau jährlich ausgeschriebenen Wettbewerb. Die Doktorarbeit war der Klärung gewisser sprachlicher Aspekte des Kodex von Supraśl, eines der ältesten erhalten gebliebenen Denkmäler der altkirchenslawischen Sprache, gewidmet. Die Verteidigung von Ziviers Dissertation fand am 4. Juni 1892 in der Aula Leopoldina statt.106 Parallel zum Studium an der Universität hatte Zivier das jüdisch-theologische Seminar in Breslau besucht, in dem seit Ende 1891 auch Markus Brann arbeitete.107 Es liegen allerdings keine Quellen vor, die die Absolvierung einer vollen Rabbinerausbildung Ziviers belegen, und auch dessen späterer Lebensweg zeigt deutlich, dass er das Seminar offenkundig nicht abgeschlossen hatte. Anfang der 1890er Jahre suchten die Fürsten von Pless einen historisch gebildeten Archivar, der die Aufgabe übernehmen sollte, wichtige Dokumente ihres Archivs aufzufinden und aus dem Lateinischen, Tschechischen oder Polnischen ins Deutsche zu 104 Archiwum Uniwersytetu Wrocławskiego, Akta Uniwersytetu Wrocławskiego 1811–1945, F 435, Album der mit dem Zeugnis der Reife bei der philosophischen Fakultät inscribirten Studenten incl. Ausländer ohne Reifezeugniß, Bl. 44. 105 Sochacka, Stanisława: Działalność slawistyczna Władysława Nehringa na tle epoki. Opole 1980, 26, 30. Sochacka erwähnt neben Roepell auch Gustav Adolf Harald Stenzel als Lehrer, der großen Einfluss auf die historiographischen Ansichten Nehrings hatte und damit wohl mittelbar auch auf die Ausbildung Ziviers einwirkte. 106 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Der erste Teil von Ziviers Dissertation erschien 1892 im Druck; der zweite Teil erschien, allerdings ohne die zuvor angekündigten Ergänzungen und Änderungen, sieben Jahre später in Kattowitz. Zivier erklärte die Verzögerung mit seiner großen Arbeitsbelastung. Vgl. Zivier, Ezechiel: Studien über den Codex Suprasliensis, Bd. 1–2. Breslau 1892–1899. 107 Brann: Geschichte des Jüdisch-Theologischen Seminars, 203.

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übersetzen.108 Hilfesuchend wandten sie sich deshalb an den damaligen Direktor des Staatsarchivs Breslau, Colmar Grünhagen, der die Anfrage wiederum an seinen Universitätskollegen Nehring weitergab. Dieser war, wie aus anderen Quellen bekannt ist, am materiellen und beruflichen Fortkommen seiner Studenten stark interessiert. In einem Empfehlungsschreiben, das er über Grünhagen an den Generaldirektor der Fürstlichen Güter in Pless, Gustav Weidlich, sandte, führte Nehrig aus: „Vor wenigen Wochen hat einer meiner Schüler den Doktorgrad erworben und sucht gegenwärtig nach einer Gelegenheit, die es ihm möglich macht, seine liebgewonnenen slawischen Studien fortzusetzen. Es ist Dr. Zivier, ein Jude, aber ich glaube kaum, dass dieser Umstand der Wissenschaft oder ihm irgendwie schädlich sein könnte, jedenfalls kann ich ihn, weil ich ihn näher kennen gelernt habe, unbedingt empfehlen.“109 Abb. 3: Die Laufbahn von Ezechiel Zivier ist maßgeblich verbunden mit dem fürstlichen Archiv des Geschlechts der Hochberg im oberschlesischen Pless. Zu seinen wissenschaftlichen Verdiensten gehört die Idee zur Einrichtung eines Gesamtarchivs der deutschen Juden ebenso wie die Fortsetzung der einst von Richard Roepell begonnenen und zwischenzeitlich von Jacob Caro weitergeführten Geschichte Polens im Perthes-Verlag. Bildnachweis: Privatarchiv Familie Zivier.

Dass Nehring hier die Religion als möglichen Hinderungsgrund erwähnte, bestätigt erneut, dass die rechtliche Gleichstellung der Religionen auch über zwanzig Jahre nach der Reichsgründung in der Praxis noch keineswegs selbstverständlich war. Ziviers Lehrer unterstrich darüber hinaus, dass sein Schüler sehr gewissenhaft und fleißig sei, vor allem aber über belastbare sprachliche Kenntnisse des Polnischen und Tschechischen verfüge, die er an Dokumenten der Breslauer Archive in seinen Übungen geschult 108 Zum zeithistorischen Hintergrund vgl. Bahlcke, Joachim: Adelige Geschichtspflege. Familienbewusstsein und Wissenschaftsförderung in Schlesien vom 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert. In: Bahlcke/Gehrke (Hg.): Institutionen der Geschichtspflege und Geschichtsforschung, 407–442. 109 Archiwum Państwowe w Katowicach, Oddział w Pszczynie, AKP I 58, Bl. 76.

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habe. Der Empfehlungsbrief erwies sich als erfolgreich, zumal die Generaldirektion offensichtlich keine Alternative anzubieten hatte. Fürst Hans Heinrich XI. erklärte sein Einverständnis, wobei er der Frage der Religion keinerlei Bedeutung beimaß, wohl aber den Kompetenzen des künftigen Mitarbeiters.110 Mitte August 1892 wurde ein Vertrag unterzeichnet, in dem sich Zivier verpflichtete, die im Archiv Pless aufbewahrten Urkunden zu bearbeiten und zu übersetzen. Am Anfang hielt sich der frisch berufene Archivar in Pless auf und arbeitete vor Ort; nach einer gewissen Zeit vereinbarte man jedoch, dass Zivier nur alle vier Wochen nach Pless kommen solle, um das abgearbeitete Material abzugeben, neues Material abzuholen und seine Vergütung entgegenzunehmen. Wie dem Schriftverkehr zu entnehmen ist, wurden diese Absprachen mit dem Zugang zu den Beständen der Breslauer Bibliotheken begründet.111 Das von Anfang an enge Vertrauensverhältnis zwischen dem Fürsten von Pless und dessen jüdischem Archivar vertiefte sich noch mit den Jahren. Die Motivation des ­Fürsten für die Anstellung eines hauptberuflichen Archivars und die Bereitstellung von großzügigen finanziellen Ressourcen für den Aufbau eines modernen Archivs waren nicht nur standesgemäßer Traditionspflege und aristokratischer Selbstinszenierung geschuldet, sondern auch und vor allem rechtlich-ökonomischen Eigeninteressen. Gerade in der späteren Auseinandersetzung des Fürsten mit dem preußischen Staat in Steuerfragen und um die Anerkennung von Souveränitäts- und Bergbaurechten sollten der eigenständige Zugriff auf Urkunden und Akten und das Wissen des Archivars Zivier eine wichtige Rolle spielen. Die Nähe zum Fürsten zahlte sich in finanzieller Hinsicht aus. Trotz seiner doch nur begrenzten ökonomischen Verantwortung reihte sich Zivier auf der Gehaltsliste gleich hinter dem Generaldirektor des Fürstlich-Pless’schen Konzerns ein, was für einen Historiker zu jener Zeit bemerkenswert war.112 Dies dürfte zweifellos auch Einfluss auf die späteren Entscheidungen Ziviers gehabt haben, als er mehrfach Stellenangebote ablehnte – selbst wenn die Tätigkeiten in Berlin angesiedelt waren. Nicht ohne Bedeutung für die persönliche Entwicklung des fürstlichen Archivars war auch dessen aktive Teilnahme am Leben der Breslauer jüdischen Gemeinschaft, insbesondere seine Mitgliedschaft in der „Lessing-Loge IV“ B’nai B’rith. Anfang des 20.  Jahrhunderts wurde B’nai B’rith angesichts der neuen Herausforderungen durch den populär werdenden Zionismus zu einem einflussreichen jüdischen Verein mit karitativ-philanthropischen Zwecken.113 Die Aufnahme in die Reihe der Brüder war nicht 110 Ebd., Bl. 78. 111 Ebd., Bl. 84. 112 Angaben zum Einkommen Ziviers, der im Jahr 1909 8.650 Mark erhielt, ebd., AKP VIII 278, Bl. 1–2; AKP VIII 280, Bl. 1–2. 113 Hass, Leon: Wolnomularstwo w Europie Środkowo-Wschodniej w XVIII i XIX wieku. ­Wrocław u. a. 1982, 417; Wilhelm, Cornelia: Community in Modernity – finding Jewish Solidarity within the Independent Order of B’nai B’rith. In: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 1 (2002) 297–319; Independent Order of B’nai B’rith. In: Neues Lexikon des Judentums. Gütersloh 2000, 365; B’nai B’rith. In: Tomaszewski, Jerzy/Żbikowski, Andrzej (Hg.): Żydzi w Polsce. Dzieje i kultura. Leksykon. Warszawa 2001, 42.

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einfach und erforderte die Vorstellung des neuen Kandidaten durch mindestens einen Logenbruder.114 Forschungen haben gezeigt, dass es gerade Mitglieder von B’nai B’rith waren, die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine starke und geschlossene Elite innerhalb des Judentums bildeten und damit einen wesentlichen Einfluss auf das gesellschaftliche, wissenschaftliche und kulturelle Leben ausübten.115 Als Ezechiel Zivier Anfang 1903 seine Initiative vorstellte, ein zentrales Archiv der jüdischen Gemeinden in Deutschland zu gründen, griffen seine Mitbrüder diese Idee rasch auf und gaben ihm nicht nur organisatorische Unterstützung, sondern auch den nötigen finanziellen Rückhalt. Mit seinem Vortrag „Ein allgemeines Archiv der Juden in Deutschland“, durch den Zivier erstmalig in einem deutsch-jüdischen Kontext auftauchte, konnte er bereits eine über zehnjährige Erfahrung in der Organisation eines großen Archivs und in der Bearbeitung von Archivalien vorweisen.116 Zugleich war ihm im Laufe seiner historischen Forschung bewusst geworden, wie wichtig die frühzeitige Sicherung von Archivdokumenten und deren langfristige Aufbewahrung und Konservierung ist. Es ist sogar wahrscheinlich, dass gerade diese wesentlichen Erfahrungen als Archivar und als Historiker im nichtjüdischen Umfeld ihn zu seiner Idee eines zentralen Archivs, in das jede jüdische Gemeinde Deutschlands ihren Altbestand an Akten und Dokumenten abgeben sollte, geführt hatten. Neben dem individuell-biographischen Aspekt sind zugleich die Wandlungsprozesse im deutsch-jüdischen Milieu des 19. Jahrhunderts zu beachten. Hier gilt es, die Suche der deutschen Juden nach einer neuen Identität in den Blick zu nehmen.117 Die „jüdische Renaissance“, von der bereits die Rede war, hinterließ viele wertvolle Initiativen, wovon eine der wichtigsten das Gesamtarchiv der deutschen Juden war. 114 Rossiiskii gosudarstvennyi voennyi arkhiv Moskva, Tsentr khraneniia istoriko-dokumental’nykh kollektsii – Osobyi arkhiv, Tochterloge der Großen Loge Deutschlands des jüdischen Ordens Bne Brith, Nr. 1219/1/118, Bl. 15. 115 Čapková, Kateřina: Jewish Elites in the Nineteenth and Twentieth Centuries. The B’nai B’rith Order in Central Europe. In: Judaica Bohemiae 36 (2000) 119–142, hier 119; Hoffmann, Stefan-Ludwig: Die Politik der Geselligkeit. Freimaurerlogen in der deutschen Bürgergesellschaft 1840–1918. Göttingen 2000 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 141), 197; ­Reinke: Gemeinde und Verein, 144; Seidler, Guntram B.: Die Juden in deutschen Logen. Leipzig 2016, 392–411. 116 Rossiiskii gosudarstvennyi voennyi arkhiv Moskva, Tsentr khraneniia istoriko-dokumental’nykh kollektsii – Osobyi arkhiv, Große Loge für Deutschland des unabhängigen Ordens „Bne Brith“ (U.O.B.B.) Berlin Nr. 769/1/106, Bl. 101; Zivier, Ezechiel: Ein allgemeines Archiv der Juden in Deutschland. In: Bericht der Großloge für Deutschland U.O.B.B., März 1903, 36. 117 Die israelische Historikerin Shulamit Volkov hat diesen wichtigen Aspekt bereits in den frühen 1980er Jahren betont, als die in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Spezialisten für deutsch-jüdische Geschichte in ihrer Mehrzahl immer noch von einem Assimilationsprozess ausgingen. Vgl. Volkov: Die Erfindung einer Tradition, 603–628. Vgl. dazu auch Rahden, Till van: Weder Milieu noch Konfession. Die situative Ethnizität der deutschen Juden im Kaiserreich in vergleichender Perspektive. In: Blaschke, Olaf/Kuhlemann, Frank-Michael (Hg.): Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen. Gütersloh 1996 (Religiöse Kulturen der Moderne 2), 409–434.

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Die Gespräche über die Zusammensetzung der Archivkommission, die eine Schlüsselrolle beim Aufbau der neuen Institution spielen sollte, dauerten bis Juni 1904. Nach den Vorstellungen von Martin Philippson sollten in dieser Kommission führende Vertreter des Deutsch-Israelitischen Gemeindebunds und von B’nai B’rith sitzen sowie Delegierte der größten jüdischen Gemeinden in Deutschland (Berlin, Frankfurt am Main, Breslau, Hamburg und München), darüber hinaus die beiden Archivare Ezechiel Zivier und Adolf Warschauer sowie die Historiker Felix Liebermann und Ludwig Geiger. Die Diskussion über die Zusammensetzung der Kommission bildete jedoch nur den Beginn langwieriger Verhandlungen über die Ausgestaltung der neuen Institution. Letztlich wurde bei den Fachvertretern Liebermann durch den damals bereits bekannten Liturgieforscher Ismar Elbogen ersetzt.118 Insgesamt setzte sich die Kommission aus 13 Personen zusammen, von denen acht zu B’nai B’rith gehörten, so dass der Einfluss der Loge mehr als deutlich wurde. Das Gesamtarchiv der deutschen Juden begann seine Tätigkeit Anfang Oktober 1906 in Berlin. Bereits nach einem Jahr konnte es einen beachtlichen Erfolg verzeichnen – nicht weniger als 178 Gemeinden übergaben ihm ihre Akten.119 Zur Schaffung des Archivs gehörten auch die Berufung eines Vorstands sowie eines Kuratoriums, dem die Mitglieder der Gründungskommission angehörten. Warschauer, der gemeinsam mit Zivier in diesem Gremium saß, schrieb in seinen Erinnerungen, dass die Arbeit mit häufigen Fahrten nach Berlin sowie mit einer Fülle von Treffen mit Vertretern des jüdischen Lebens in Deutschland verbunden gewesen sei. Diese Zusammenkünfte fanden unter anderem im Haus des Vorstandsmitglieds Martin Philippson statt, der einer traditionsreichen Familie mit großen Verdiensten um die jüdische Kultur entstammte.120 118 Rossiiskii gosudarstvennyi voennyi arkhiv Moskva, Tsentr khraneniia istoriko-dokumental’nykh kollektsii – Osobyi arkhiv, Große Loge des Ordens „Bne Brith“, 769-1-1217, Nr. 82–88. 119 Zum Gesamtarchiv vgl. Welker, Barbara: Das Gesamtarchiv der deutschen Juden. In: „Tuet auf die Pforten“. Die neue Synagoge 1866–1995. Berlin 1995, 227–234; Welker, Barbara/Simon, Hermann: Das Archiv der Stiftung „Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum“. In: JerschWenzel, Stefi/Rürup, Reinhard (Hg.): Quellen zur Geschichte der Juden in den Archiven der neuen Bundesländer, Bd. 6/1: Stiftung „Neue Synagoge Berlin-Centrum Judaicum“. München 2001, I–XXXI; Honigmann, Peter: Die Akten des Exils. Betrachtungen zu den mehr als hundertjährigen Bemühungen um die Inventarisierung von Quellen zur Geschichte der Juden in Deutschland. In: Der Archivar 54/1 (2001) 23–31; ders.: Das Gesamtarchiv der deutschen Juden. Zentralisierungsbemühungen in einem föderalen Staat. In: Bischoff, Frank/Honigmann, Peter: Jüdisches Archivwesen. Veröffentlichungen der Archivschule Marburg. Institut für Archivwissenschaft Nr. 45. Marburg 2007, 47–49. 120 Warschauer, Adolf: Deutsche Kulturarbeit in der Ostmark. Erinnerungen aus vier Jahrzehnten. Berlin 1926, 243. Adolf Warschauer kann ebenfalls als Beispiel für die Karriere eines jüdischen Historikers und Archivars im deutsch-polnischen Kontaktbereich gelten. Er stammte aus Kempen in der Provinz Posen, hatte bei Roepell und Caro in Breslau studiert und war auf deren Empfehlung hin – wohl als erster Jude überhaupt – Beamter im preußischen Archivdienst geworden. Er arbeitete, nicht zuletzt wegen seiner Polnischkenntnisse, gut drei Jahrzehnte im Staatsarchiv Posen und war die tragende Säule der Historischen Gesellschaft für die Provinz Po-

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Warum Zivier als eigentlicher Ideengeber des Archivs im Wesentlichen nur eine Nebenund Beraterrolle in dessen Arbeit spielte, obwohl er selbst für einen erfahrenen, mit modernen Arbeitsmethoden vertrauten Archivar an dessen Spitze plädierte, lässt sich nur vermuten.121 Letztlich dürfte die Entlohnung durch die Fürsten von Pless den Ausschlag gegeben haben, die weit über den Berliner Verdienstmöglichkeiten lag und von denen ein staatlicher Archivar wie Warschauer nur träumen konnte.122 Der Anstellung eines angemessen ausgebildeten Mitarbeiters im Plesser Archiv lagen zwei wesentliche Ursachen zugrunde. Die erste davon waren die jahrelang anhängigen Prozesse mit Fürst Guido Henckel von Donnersmarck und dem preußischen Fiskus auf Anerkennung bergbaulicher Privilegien. Dabei sollen die von Zivier aufgefundenen, übersetzten und dem Gericht vorgelegten Urkunden, mit denen das Recht der Fürsten von Pless auf Bergbauregalien belegt wurde, eine zentrale Rolle gespielt haben. Die Plesser Fürsten besaßen in Oberschlesien weitreichende Bergbaurechte, die sie noch von den schlesischen Piasten herleiteten, da diese im Moment des Verkaufs der Gebiete den neuen Besitzern auch sämtliche Schürfrechte übertragen hätten. Dieser Rechtsstand habe sich auch durch die folgenden Herrscherwechsel bis hin zur Inbesitznahme Schlesiens durch die preußischen Hohenzollern nicht geändert, so die Argumentation des Fürstenhauses. Dennoch nahmen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Gerichtsprozesse zu, in denen das Haus Hochberg seine Rechte an konkreten Gebieten nachweisen musste. Zivier übernahm mit der Anstellung die delikate Aufgabe, einschlägige Beweise in den Archivalien zu finden. Er reiste deshalb oft nach Breslau, wo er vor allem mit den Archivaren des Staatsarchivs, Colmar Grünhagen und Konrad Wutke, enge Kontakte knüpfte, die zu Beginn auch freundschaftlich waren, zumal Grünhagen Zivier einst an das Fürstenhaus empfohlen hatte. Der Plesser Archivar recherchierte überdies für andere Bergwerksbesitzer, etwa die Familie Tiele-Winckler, die Besitzer von Kattowitz.123 Sein Arbeitgeber in Pless war damit einverstanden, solange er sich nicht in einem Rechtsstreit mit den anderen Auftraggebern befand. Ziel war die Schaffung einer gemeinsamen Front gegen den preußischen Fiskus. Allerdings kühlte diese Frontbildung die Atmosphäre zwischen Zivier und den preußischen Archivaren merklich ab, kam es doch in der Folgezeit zu heftigen Diskussionen im gesamten Breslauer Historikermilieu, wie Zivier an seine Generaldirektion schrieb.124



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sen. Vgl. Schutte, Christoph: Rodgero Prümers und Adolf Warschauer. Zwei Posener Archivare als Landeshistoriker. In: Kessler, Wolfgang/Krzoska, Markus (Hg.): Zwischen Region und Nation. 125 Jahre Forschung zur Geschichte der Deutschen in Polen. Osnabrück 2013 (PolonoGermanica 7), 31–50. Zivier, Ezechiel: Eine archivalische Informationsreise. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 49 (1905) 209–254, hier 252. Ebd., 211; Zivier: Ein allgemeines Archiv der Juden in Deutschland, 37. Archiwum Państwowe w Katowicach, Oddział w Pszczynie, AKP I 58, Bl. 200. Ebd., Bl. 200–209.

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Der Plesser Archivar hatte zunächst im Juli 1896 als Ausländer eine spezielle Genehmigung zur Einsicht in Dokumente des Staatsarchivs in Breslau erhalten.125 Zivier suggerierte jedoch gleichzeitig gegenüber der Justiz, dass in den laufenden Prozessen zu den Bergbauprivilegien in Oberschlesien das Archiv in Pless und nicht das Breslauer Staatsarchiv als Hauptgutachterstelle zum Status der entsprechenden Gebiete auftreten sollte, da sich in Pless die meisten Akten zur Region befänden. Zweifellos sollte damit die Stellung des Archivs und des Archivars in Pless gestärkt und das Übersenden von Dokumenten nach Niederschlesien vermieden werden. Tatsächlich hatte Zivier mit diesem Schachzug Erfolg, denn das zuständige Gericht in Gleiwitz folgte seiner Argumentation, was jedoch gleichzeitig zu einer nachhaltigen Verstimmung bei den Breslauer Archivaren führte.126 Die nachfolgende Auseinandersetzung zwischen beiden Parteien fand sowohl auf wissenschaftlicher Ebene als auch vor den Gerichten unter Hinzuziehung zahlreicher Spezialisten statt. Eröffnet wurde die Auseinandersetzung gewissermaßen im Oktober 1896, als Zivier noch vor dem offiziellen Erscheinungstermin eines Buches von Wutke über die Entwicklung des Bergregals in Schlesien eine scharfzüngige Rezension über die Arbeit verfasste.127 Wutke hatte in seinem Buch den bisher akzeptierten Thesen von Aemil Steinbeck128 widersprochen und den Nachweis anzutreten versucht, dass der Verkauf der einzelnen Gebiete durch die piastischen Herzöge keineswegs mit der Übernahme aller Privilegien verbunden gewesen sei. In der Folge kam es zu einer spürbaren Lagerbildung unter den schlesischen Historikern, bei der die Loyalität zum jeweiligen Arbeitgeber den Ausschlag gab. Die eine Seite vertrat die Interessen des preußischen Staates in Gestalt des Oberbergamtes und der Finanzbehörden, die andere Seite die Interessen der privaten Bergwerksbesitzer. Beide Seiten nutzten sämtliche zur Verfügung stehenden Methoden, um dem Gegner das Leben schwer zu machen. Dazu gehörte es, der jeweiligen Gegenseite den Zugang zum archivalischen Material zu erschweren oder gänzlich zu untersagen. Zivier etwa erhielt mehrfach ablehnende Bescheide des Oberbergamtes und des Staatsarchivs in Breslau, wogegen er Einspruch beim preußischen Minister für Handel und Industrie einlegte. Der Plesser 125 Zivier, der im russischen Teilungsgebiet geboren worden war, hatte erst 1903 die preußische Staatsbürgerschaft erhalten. Vgl. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin, I HA, Rep. 178 (A), 19 Breslau, Auszug aus dem Benutzungs-Journale (unpag.). 126 Archiwum Państwowe w Katowicach, Oddział w Pszczynie, AKP I 58, Bl. 219–226. 127 Wutke, Konrad: Studien über die Entwicklung des Bergregals in Schlesien. Berlin 1897. Die Rezension von Zivier erschien unter dem Titel: Das Bergregal in Schlesien. In: Zukunft vom 31. Oktober 1896, Nr. 5, 227–234. Warum die Buchbesprechung noch vor dem offiziellen Erscheinungstermin von Wutkes Werk veröffentlicht wurde, lässt sich nicht feststellen. Entweder erschien das Buch bereits 1896 im Handel, oder es gab Rezensionsexemplare, die vorab verschickt wurden. Vgl. Archiwum Państwowe w Katowicach, Oddział w Pszczynie, AKP I 58, Bl. 236, 238. 128 Steinbeck, Aemil: Geschichte des schlesischen Bergbaues, seiner Verfassung, seines Betriebes, Bd. 1–2. Breslau 1857.

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Archivar zahlte jedoch mit gleicher Münze zurück, wenn er die Ausleihe von Dokumenten aus Pless nach Breslau ablehnte – mit der Begründung, der Erhaltungszustand des Materials sei zu schlecht und der Transport entsprechend zu gefährlich.129 In den Bergbauprozessen wurden auf beiden Seiten Gutachter und Spezialisten aus dem gesamten Kaiserreich und darüber hinaus aufgeboten. Hinsichtlich der Übersetzungen und damit verbundenen Unklarheiten holte man zudem Gutachten von tschechischen und polnischen Experten ein. Zivier arbeitete zum Beispiel mit dem Historiker und Archivar Hubert Ermisch zusammen, der seit 1907 Direktor der Königlich-Sächsischen Landesbibliothek in Dresden war und 1887 ein Werk zum sächsischen Bergrecht im Mittelalter publiziert hatte.130 Im Januar 1909 schaltete sich der von ­Zivier vorgeschlagene Prager Professor Adolf Zycha, ein Spezialist für das böhmische Bergrecht, in die Prozesse ein. Er nahm nun zum Bergrecht im Oderland Stellung und plante sogar die Publikation seines Gutachtens.131 Auch Ziviers ehemaliger Lehrer Władysław Nehring sowie der in Berlin lehrende Aleksander Brückner wurden als Übersetzer und Slawisten in den Rechtsstreit eingebunden.132 Ein positiver Nebeneffekt der Prozesse um die Bergrechte war, dass die Zahl wissenschaftlicher Publikationen zum Thema spürbar zunahm. Allein von Zivier erschienen zu jener Zeit mehrere einschlägige Abhandlungen: Geschichte des Bergregals in Schlesien bis zur Besitzergreifung des Landes durch Preussen (Kattowitz 1898); Akten und Urkunden zur Geschichte des schlesischen Bergwesens (Kattowitz 1900); Die Entwicklung des Bergregals in Schlesien und die Bergwerksgerechtsame des Fürstentums Pleß (Kattowitz 1908) und Entwicklung des Steinkohlenbergbaues im Fürstentum Pleß (Kattowitz 1913). Zu den finanziell aufwendigen Auseinandersetzungen mit dem preußischen Fiskus kamen die nicht weniger aufwendigen Bemühungen der Familie Hochberg, Pracht und Prestige ihres Geschlechts zu demonstrieren. Diese Bestrebungen mündeten in historisch-genealogische Arbeiten, in umfassende archivalische Recherchen und in Beiträge über die Vorfahren von Hans Heinrich XI. und Hans Heinrich XV. Hoch����� berg und deren Güter.133 129 Archiwum Państwowe w Katowicach, Oddział w Pszczynie, AKP I 103, Bl. 15; AKP I 59, Bl. 51; AKP I 58, Bl. 262f. 130 Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Nachlass Ermisch, Mscr. Dresd. App. 391, Bd. 18, Nr. 122–126; Archiwum Państwowe w Katowicach, Oddział w Pszczynie, AKP I 103, Bl. 142; Ermisch, Hubert: Das sächsische Bergrecht des Mittelalters. Leipzig 1887. 131 Archiwum Państwowe w Katowicach, Oddział w Pszczynie, AKP I 62, Bl. 464, 466, 471; Zycha, Adolf: Das böhmische Bergrecht des Mittelalters auf Grundlage des Bergrechts von Iglau. Berlin 1900. 132 Archiwum Państwowe w Katowicach, Oddział w Pszczynie, AKP X 3315, Bl. 349; AKP X 3316, Bl. 16; AKP X 3305, Bl. 123, 467. 133 Zivier, Ezechiel: Geschichte des Fürstentums Pleß, Tl. 1: Entstehung der Standherrschaft Pleß (bis 1517). Kattowitz 1906; ders.: Fürstenstein 1509–1909. Festschrift zum 400-jährigen Bestehen der Standesherrschaft Fürstenstein. Kattowitz O.-S. 1909.

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Während seiner Tätigkeit als Archivar in Pless war Zivier bemüht, sich am Leben des deutschen Archivmilieus aktiv zu beteiligen. Mit der Begründung, dass es eine einmalige Gelegenheit darstelle, Kontakte zu den Archivaren zu knüpfen, die diverse staatliche und private Einrichtungen vertraten, gelang es ihm, eine finanzielle Unterstützung der Generaldirektion für diesen Zweck einzuwerben. 1913, als durch die Stadt Breslau Archivtage veranstaltet wurden, erhielt er die Einwilligung zur Besichtigung von Fürstenstein und Bad Salzbrunn.134 Zur Würdigung der Verdienste seines Archivars ernannte der Fürst von Pless Zivier im Jahr 1920 zum fürstlichen Archivleiter und stellte auch die niederschlesischen Archive der Hochberg, also das Hausarchiv in Fürstenstein und das Archiv der Generaldirektion in Waldenburg, unter seine Leitung.135 Trotz seiner zahlreichen Aufträge übernahm Zivier 1902 zudem die Redaktion der neuen Zeitschrift Oberschlesien. Zeitschrift zur Pflege der Kenntnis und Vertretung der Interessen Oberschlesiens. Das vorrangige Ziel der Monatsschrift war es, die Geschichte, die Literatur sowie die in Oberschlesien bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse unter Anwendung wissenschaftlicher Methoden dem Vergessen zu entreißen.136 Um das Blatt fand sich rasch ein Kreis von Regionalhistorikern und Heimatkundlern zusammen, darunter Johannes Chrząszcz, Paul Knötel sowie Paul Drechsler, die sich bemühten, den Lesern ihr Wissen auf verständliche und eingängliche Art darzubieten. Zivier war zudem Mitglied zahlreicher historischer Vereine. Zu nennen sind hier vor allem der Verein für Geschichte (und Alterthum) Schlesiens,137 die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur,138 der Oberschlesische Geschichtsverein sowie der Oberschlesische Museumsverein in Gleiwitz. Damit nicht genug, beteiligte er sich 1913 überdies aktiv an den Vorbereitungen zur Einrichtung eines „Wirtschaftsarchivs der oberschlesischen Industrie“, ein Projekt, das allerdings wegen des Kriegsausbruchs im Folgejahr nicht mehr zustande kam. Unabhängig von seinem Interesse an der Landesgeschichte und speziell an der Entwicklung des Bergbaus betrieb Zivier zudem breit angelegte Forschungen zur Geschichte Polens zur Zeit der letzten Jagiellonen. Dieser Arbeitsschwerpunkt war unmittelbar mit dem Auftrag verbunden, den Zivier 1911 vom Perthes Verlag aus Gotha erhalten hatte. Es ging um die Fortsetzung der Reihe Geschichte Polens, deren bisherige Bände von Roepell und Caro verfasst worden waren; 134 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akta majątku Hochbergów w Książu II 389, Bl. 196; Zivier, Ezechiel: Oberschlesische Archive und Archivalien. Vortrag, gehalten am 4. August 1913 auf dem XIII. Deutschen Archivtage in Breslau. In: Oberschlesien. Zeitschrift zur Pflege der Kenntnis und Vertretung der Interessen Oberschlesiens 12/6 (1913) 301. 135 Archiwum Państwowe we Wrocławiu, Akta majątku Hochbergów w Książu II 391, Bl. 7. 136 [Zivier, Ezechiel:] Vom Herausgeber. In: Oberschlesien. Zeitschrift zur Pflege der Kenntnis und Vertretung der Interessen Oberschlesiens 1/1 (1902) 1–3. 137 Bericht über die Vereinstätigkeit in den Jahren 1905 und 1906. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 41 (1907) 455. 138 Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur 81 (1903), enthält den Generalbericht über die Arbeiten und Veränderungen der Gesellschaft im Jahre 1903. Breslau 1904, 71.

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beide Autoren waren jedoch nicht – wie ursprünglich geplant – bis zur Zeit der Teilungen der Adelsrepublik im späten 18. Jahrhundert gelangt. Bereits 1915 konnte Zivier einen weiteren Band vorlegen, der den Zeitraum bis zum Jahr 1572 umfasste.139 Im Frühling 1916 kam es zu einer Zusammenarbeit mit dem Breslauer Verleger Felix Priebatsch, der sich mit dem Gedanken trug, ein Buch über den polnischen Staat zu verlegen, der 1795 von der Landkarte Europas verschwunden war, dessen Wiederbegründung sich aber im Zuge des Krieges allmählich ankündigte. Ein solches Buch, das die wichtigsten Entwicklungslinien in verständlicher Weise darstellte, gab es zu jener Zeit auf dem deutschen Buchmarkt nicht. Nach Auffassung des Verlegers sollte es ein handbuchartiger Leitfaden für Soldaten werden, die an die östliche Front aufbrechen.140 Ziviers Darstellung erlebte immerhin zwei Auflagen, so dass davon ausgegangen werden kann, dass er die Erwartungen von Priebatsch und seiner Leser erfüllte. Zivier blieb auch in Pless, nachdem Oberschlesien geteilt und aus jenem Gebiet, das – einschließlich des vormaligen Kreises Pless – infolge der Genfer Konvention vom Mai 1922 an den polnischen Staat gefallen war, die Woiwodschaft Schlesien gebildet worden war. Aufgrund seiner breiten Kontakte zu polnischen Kreisen und guter Polnischkenntnisse war er zweifellos ein wichtiger Vermittler hinsichtlich aller Fragen, die zwischen den Beamten des Fürsten von Pless und der neuen polnischen Regierung anstanden.141 Hiervon zeugt etwa die Teilnahme Ziviers als Vertreter der Hochberg an den Dresdner Verhandlungen 1923, die unter anderem die Frage der Doppelbesteuerung derjenigen Personen betrafen, die Vermögen sowohl in Deutschland als auch in Polen besaßen. Eine Folge der territorialen Neuordnung war es, sich fortan mit einem neuen, dem polnischen Rechtssystem auseinanderzusetzen. Um die damit zusammenhängenden Fragen den deutschen Staatsbürgern – und hier speziell den Unternehmern, die sich unter den neuen Gegebenheiten möglichst rasch zurechtfinden mussten – zu erläutern, entschloss sich Zivier, eine Zeitschrift mit juristischer Thematik herauszugeben. Die erste Ausgabe der Zeitschrift für polnisches Recht erschien 1923 in Pless.142 Zivier konnte für das neue Organ Autoren aus dem Breslauer Osteuropa-Institut sowie zwei Juristen aus Krakau gewinnen.143 In der ersten Nummer erschienen Beiträge von Stanisław Gołąb und Fryderyk Zoll aus Krakau, von Friedrich Schöndorf aus Breslau sowie von Fritz Stier-Somlo aus

139 Zivier, Ezechiel: Neuere Geschichte Polens, Bd. 1: Die zwei letzten Jagellonen (1506–1572). Gotha 1915 (Geschichte der europäischen Staaten 39). Zwei Jahre später, mithin ein Jahr vor der Wiederbegründung des polnischen Staates, folgte im selben Verlag in der Reihe „Perthes’ kleine Völker- und Länderkunde zum Gebrauch im praktischen Leben“ noch eine populärwissenschaftliche Gesamtdarstellung. Vgl. ders.: Polen. Gotha 1917. 140 Archiwum Państwowe w Katowicach, Oddział w Pszczynie, AKP I 104, Bl. 2. 141 Ebd., AKP IV 923, Bl. 111–114, 220, 224. 142 Ebd., AKP I 57, Bl. 393; Zeitschrift für polnisches Recht. Unter Mitwirkung von deutschen und polnischen Gelehrten und ständiger Mitarbeit des Osteuropa-Instituts in Breslau. Hg. v. Ezechiel Zivier. 143 Zeitschrift für polnisches Recht 1/1–2 (1923).

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Köln. Ein Jahr später erschien eine weitere Ausgabe, unter anderem mit Beiträgen von Ernst Meyer aus Posen und Max Kollenscher aus Berlin.144 Ezechiel Zivier starb nach einer schweren Krankheit am 22. August 1925 in einem Breslauer Krankenhaus. Er wurde auf dem jüdischen Friedhof in der Lotnicza-Straße beigesetzt.145

5. Zusammenfassung Die biographische Annäherung an Jacob Caro, Markus Brann und Ezechiel Zivier konnte zeigen, dass alle drei Historiker ihrer Herkunftsregion, dem deutsch-polnischen-jüdischen Grenzgebiet, treu blieben, auch wenn sie ganz unterschiedliche berufliche Karrieren verfolgten. Caros Weg zum ordentlichen Universitätsprofessor in Breslau war durch zahlreiche antisemitisch motivierte Blockaden gekennzeichnet, deren Überwindung erst durch die persönlichen Verbindungen des Gnesener Rabbinersohns zu den höchsten Würdenträgern Preußens gelang. Caro verließ sich nach seinen schlechten Erfahrungen in Jena offensichtlich nicht auf die Universitätsgremien in Breslau, da er über diese kaum zu einer Professur gelangt wäre, sondern ausschließlich auf seine persönlichen Kontakte. Er blieb letztlich ein Sonderfall und Einzelgänger, ohne größeren Schülerkreis, aber als „Polen-Historiker“ für seine Expertise durchaus geachtet und im Breslauer Vereinswesen aktiv. Ausweislich der überlieferten Unterlagen hat er sich nie öffentlich zu seinem Judentum geäußert oder sich entsprechend engagiert, wollte sich trotz diverser „Angebote“ aber auch nicht dem „Taufdruck“ beugen. Ganz anders Markus Brann, der seine Berufung praktisch ausschließlich im jüdischtheologischen Milieu fand. Als außerordentlich fleißiger Wissenschaftsorganisator und Netzwerker machte er sich vor allem als Herausgeber grundlegender Werke im Bereich der „Wissenschaft des Judentums“ einen Namen. Ohne ihn und seine aufwendige Korrespondenztätigkeit wäre das Erscheinen der Germania Judaica und der Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums nicht denkbar gewesen. Als Autor beschäftigte er sich hingegen fast ausschließlich mit der Geschichte der Juden in Schlesien beziehungsweise mit der Abfassung von Lehrbüchern für jüdische Schulen und Seminare. Paradoxerweise blieb er trotz seiner unbestreitbaren Verdienste als Herausgeber stets im Schatten von Heinrich Graetz und David Kaufmann, obwohl deren Nachruhm wenigstens zum Teil auf den erst von Brann erarbeiteten Publikationen beziehungsweise Neuauflagen ihrer Werke beruhte. Ihn trifft somit das nicht ungewöhnliche Schicksal des verdienstvollen, aber häufig in Vergessenheit geratenen Herausgebers und Wissenschaftsorganisators. Als den vielleicht vielseitigsten Gelehrten unter den hier betrachteten Personen darf man Ezechiel Zivier bezeichnen. Unmittelbar nach dem Studium als Archivar in den 144 Zeitschrift für polnisches Recht 2/1–2 (1924). 145 [Nekrolog]. In: Anzeiger für den Kreis Pless, 74. Jg., Nr. 100 vom 26. August 1925.

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Dienst einer bedeutenden schlesischen Fürstenfamilie getreten, verstand er es, eigene wissenschaftliche Ambitionen mit den wirtschaftlichen Bestrebungen seines Arbeitgebers nach historisch begründeter juristischer Absicherung der Rechte an der Kohleförderung durch Privatbesitzer in Oberschlesien zu verbinden. So entstanden wichtige Werke zur Wirtschafts- und Rechtsgeschichte Schlesiens, aber auch Netzwerke von ­Historikern und Archivaren, die sich mit diesem Themenkreis beschäftigten. Zivier nutzte jedoch seine gute materielle Absicherung als fürstlicher Archivar auch zu Initiativen in Bereichen, die weit über die schlesische Geschichte hinausgingen. Zu seinen Verdiensten gehört die Idee zur Errichtung des Gesamtarchivs der deutschen Juden, aber auch die Fortführung der Geschichte Polens im Perthes-Verlag. Seine Themenpalette spiegelt somit am deutlichsten von allen drei betrachteten Gelehrten seine Herkunft aus dem deutsch-polnisch-jüdischen Kontaktbereich wider. An die neue politische Situation nach dem Ersten Weltkrieg mit dem wiedererstandenen polnischen Staat, auf dessen Gebiet Pless fortan lag, vermochte sich Zivier anzupassen. Er tat dies auf recht unvoreingenommene Art und Weise und versuchte, eine wissenschaftliche Zusammenarbeit über die neuen Ländergrenzen hinweg zu initialisieren. Im Rahmen einer Zusammenschau der drei Wissenschaftler fällt auf, dass nur der im Staatsdienst tätige Caro antisemitische Barrieren in seiner beruflichen Entwicklung zu überwinden hatte, allerdings nicht im preußischen Breslau, sondern im thüringischen Jena. Brann und Zivier waren, ausweislich der überlieferten Akten, in ihren nichtstaatlichen Anstellungsverhältnissen davon nicht betroffen. Weiterer Forschung bedarf die Rezeption der Schriften der drei Historiker, insbesondere in der Schlesien- und Polenforschung. Im Bereich der Überblicksdarstellungen zur Geschichte Polens waren die Bände von Caro und Zivier durchaus Pionierarbeiten – erst nach ihnen legten polnischsprachige Historiker entsprechende eigene Werke vor. Hier wäre zu prüfen, inwieweit sie die Darstellungen entsprechend der vorherrschenden Denkstile übernahmen, weiterentwickelten oder verwarfen. Gleiches gilt sicher für die Arbeiten von Zivier und Brann zur Geschichte der Juden und der Kohleindustrie in Schlesien. In jedem Fall sollte die von allen drei Gelehrten gepflegte grenzübergreifende wissenschaftliche Zusammenarbeit und Forschung heute wiederbelebt und weiterentwickelt werden, zumal die Nachlässe weit verstreut sind.

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„Wissenschaft ist das Herz des Judentums“. Wege schlesischer ­Rabbiner des 19. Jahrhunderts zur Geschichtsforschung Die rechtliche Gleichstellung der deutschen Juden, der durch die jüdische Aufklärung (Haskala) vorbereitete und geförderte Prozess der Verbürgerlichung und Akkulturation sowie die damit einhergehende essentielle Identitätskrise in der deutschen Judenheit im 19. Jahrhundert stellten nicht zuletzt auch das Rabbinat vor gewaltige Herausforderungen. Der Rabbiner als von der Gemeinde (beziehungsweise der Judenschaft) gewählte und bestellte oberste religiöse Autorität und Richter im jüdischen Religionsgesetz sah sich mit vielfältigen neuen Anforderungen konfrontiert, unter anderem auch dadurch, dass sich innerhalb des stark anwachsenden jüdischen Bildungsbürgertums immer mehr eine geschichtliche Betrachtungsweise durchzusetzen begann. Im Folgenden werden vor dem Hintergrund der Frage, wie sich die Rabbiner in der preußischen Provinz Schlesien mit diesem Phänomen auseinandergesetzt haben, einige Beobachtungen dazu vorgestellt, welche Bedeutung diese der Wissenschaft im Allgemeinen und der Geschichtsforschung und -schreibung im Besonderen beigemessen haben, welchen Personen dabei eine wichtige Rolle zugefallen und in welchem Maße es zur Bildung von „Schulen“ oder „Netzwerken“ gekommen ist.

I. Die Voraussetzungen „[I]m hiesigen Departement befindet sich für die bedeutende Anzahl der jüdischen Glaubensgenossen unter den vorhandenen 22 Rabbinern nicht ein einziger Rabbiner, welcher auch nur die für einen gewöhnlichen Elementarschullehrer ausreichende Schulbildung genossen, noch weit weniger sich höhere wissenschaftliche Kenntnisse zu erwerben bemüht hätte.“1 Diese drastische Zustandsbeschreibung und ebenso die anschließende Empfehlung, „daß diejenigen Juden, welche das Amt eines Rabbiners an einer Synagoge übernehmen wollen, eine vollständige Gymnasialbildung und den dreyjährigen Besuch einer im Preußischen oder in einem Staate des deutschen Bundes 1 Jehle, Manfred (Hg.): Die Juden und die jüdischen Gemeinden Preußens in amtlichen Enquêten des Vormärz, Bd. 1: Enquête des Ministeriums des Innern und der Polizei über die Rechtsverhältnisse der Juden in den preußischen Provinzen 1842–1843. Berlin, Provinzen Brandenburg, Preußen, Pommern, Posen, Schlesien, Sachsen, Westfalen. München 1995 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 82,1), 295. – Das Zitat im Titel findet sich bei Brann, M[arkus]: Geschichte des jüdisch-theologischen Seminars (Fraenckel’sche Stiftung) in Breslau. Festschrift zum fünfzigjährigen Jubiläum der Anstalt. Breslau [1904], Beilage Nr. I (Zacharias Frankels Organisationsplan für das zu gründende Rabbiner- und Lehrerseminar), I.

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gelegenen Universität nachzuweisen, ihre wissenschaftliche Befähigung durch das Zeugniß einer höhern Prüfungsbehörde darthun, [...] documentiren müssen“, finden sich in einem Schreiben, mit dem die Abteilung des Innern des Regierungsbezirks Oppeln am 26. Juli 1842 eine Anfrage des preußischen Innenministeriums nach den Rechtsverhältnissen der Juden beantwortete. Damit bezog die Behörde in der auch in Schlesien immer schärfer werdenden Auseinandersetzung zwischen Vertretern einer strengen Orthodoxie und der zunehmenden Zahl von Anhängern der Aufklärung und reformerischer Ideen innerhalb der jüdischen Gemeinden recht eindeutig Stellung.2 Zwar schätzten gemäßigt konservative Kreise in Oberschlesien die Situation zumindest partiell wesentlich positiver ein,3 aber auch sie erkannten die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Ausbildung für künftige Rabbiner durchaus an. In Nieder- und Mittelschlesien war man in dieser Hinsicht schon vorangegangen: 1837 war in Liegnitz mit Dr. Ascher Sammter (1807–1887) der erste studierte jüdische Geistliche angestellt worden. In Glogau wiederum hatte sich der 1827 als Lehrer an die jüdische Gemeindeschule berufene und später zum Rabbiner gewählte Heymann Arnheim (1796–1869)4 im Selbststudium beachtliche philologische Kenntnisse erworben. Von größerer Bedeutung war freilich die Berufung des progressiven Theologen und promovierten ehemaligen Wiesbadener Rabbiners Abraham Geiger (1810–1874) zum Prediger und Rabbinatsassessor in Breslau 1839, der dort sofort in eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem ultraorthodoxen Breslauer Rabbiner Salomon Tiktin (1791–1843) geriet.5 Vor dem Hintergrund des seit dem späten 18. Jahrhundert zu beobachtenden und vielfach beklagten Niedergangs der traditionellen Talmudhochschulen ( Jeschiwot) in Mitteleuropa und der Suche nach neuen Modellen der Rabbinerausbildung6 hatte Geiger, ein charismatischer Kanzelredner, bereits vor seiner Breslauer Zeit energisch die

2 Vgl. hierzu und zum Folgenden Brämer, Andreas: Ist Breslau „in vielfacher Beziehung Vorort und Muster für Schlesien“? Religiöse Entwicklungen in den jüdischen Gemeinden einer preußischen Provinz im 19. Jahrhundert. In: Brämer, Andreas/Herzig, Arno/Ruchniewicz, Krzysztof (Hg.): Jüdisches Leben zwischen Ost und West. Neue Beiträge zur jüdischen Geschichte in Schlesien. Göttingen 2014 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden 44), 217–258. 3 ����������������������������������������������������������������������������������������������� M., J. J.: Oberschlesische Zustände. In: Israelitische Annalen 3/15 (1841) 118–119: „Bei Besetzung ledig werdender Rabbinate wird auch hier überall darauf gesehen, daß der Rabbine nächst thalmudischer Gelehrsamkeit, auch einige wissenschaftliche Bildung besitze.“ 4 Brocke, Michael/Carlebach, Julius (Hg.): Biographisches Handbuch der Rabbiner, Bd. 1: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern 1781–1871. Bearb. v. Carsten Wilke; Band 2: Die Rabbiner im Deutschen Reich 1871–1945. Bearb. von Katrin Nele Jansen u.a. München 2004–2009, hier Bd. 1, 145f., Nr. 0051. 5 Vgl. zuletzt den Sammelband von Wiese, Christian/Homolka, Walter/Brechenmacher, Thomas (Hg.): Jüdische Existenz in der Moderne. Abraham Geiger und die Wissenschaft des Judentums. Berlin/Boston 2013 (Studia Judaica. Forschungen zur Wissenschaft des Judentums 57). 6 Vgl. zu diesem Themenkomplex die Untersuchung von Wilke, Carsten: „Den Talmud und den Kant“. Rabbinerausbildung an der Schwelle zur Moderne. Hildesheim u. a. 2003.

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Forderung nach „Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät“ vertreten7 und damit die seit den 1820er Jahren in Deutschland geführten Debatten um eine Wissenschaft vom Judentum vorangetrieben.8 Für diese Idee fand er schon bald Anhänger in den Reihen des Obervorsteher-Kollegiums der Breslauer jüdischen Gemeinde. Dessen langjähriger Präses, der Unternehmer und Kommerzienrat Jonas Fraenckel (1773–1846), ein Förderer dieses liberalen Reformrabbiners, hinterließ bei seinem Tod ein beachtliches Vermögen als Grundstock für wohltätige Stiftungen in Breslau, darunter auch 100.000 Taler für ein „Seminar zur Heranbildung von Rabbinern und Lehrern“.9 Ob er damit eine spezielle Umsetzung des Geigerschen Fakultätsprojekts intendierte, die letztlich zur Freiheit von den Lehren und Gesetzen des talmudischen Schrifttums geführt hätte, erscheint fraglich, denn zu diesem Zeitpunkt waren bereits die Beziehungen maßgeblicher Kräfte innerhalb des Obervorsteher-Kollegiums zu Geiger angesichts von dessen zunehmenden Radikalisierungstendenzen auf dem Gebiet des jüdischen Kultus deutlich abgekühlt. Als die von Fraenckel eingesetzten Testamentsvollstrecker und Stiftungskuratoren nach langen Überlegungen und versuchten Einflussnahmen von verschiedenen Seiten einige Jahre später endlich darangingen, tatsächlich ein „jüdisch-theologisches Seminar“ ins Leben zu rufen, wurde Geiger schon nicht mehr in die Planungen einbe7 Geiger, Abraham: Die Gründung einer jüdisch-theologischen Facultät, ein dringendes Bedürfniß unserer Zeit. In: Wissenschaftliche Zeitschrift für jüdische Theologie 2 (1836) 1–21; ders.: Über die Errichtung einer jüdisch-theologischen Facultät. Wiesbaden 1838. 8 Aus der umfangreichen Literatur zu dieser einflussreichen intellektuellen Strömung innerhalb des deutschsprachigen Judentums vgl. exemplarisch Schorsch, Ismar: From Text to Context. The Turn to History in Modern Judaism. Hanover, N.H. 1994 (The Tauber Institute for the Study of European Jewry Series 19); Brenner, Michael/Rohrbacher, Stefan (Hg.): Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust. Göttingen 2000; Wyrwa, Ulrich (Hg.): Judentum und Historismus. Zur Entstehung der jüdischen Geschichtswissenschaft in Europa. Frankfurt am Main 2003; Roemer, Nils H.: Jewish Scholarship and Culture in Nineteenth-Century Germany. Between ­History and Faith. Madison, Wisconsin 2005; Krone, Kerstin von der: Wissenschaft in Öffentlichkeit. Die Wissenschaft des Judentums und ihre Zeitschriften. Berlin/Boston 2012 (Studia Judaica. Forschungen zur Wissenschaft des Judentums 65); Soussan, Henry C.: The Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums in Its Historical Context. Tübingen 2013 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts 75); Wiese/Homolka/Brechenmacher (Hg.): Jüdische Existenz. 9 Brann: Geschichte des jüdisch-theologischen Seminars, 13; vgl. auch den Nekrolog für Fraenckels Testamentsvollstrecker Samuel Jacob Levy in: Allgemeine Zeitung des Judenthums 16/23 (1852) 271–273, hier 273: „ein Seminar zur Bildung jüdischer Lehrer und Rabbinen“. Zur Geschichte dieser Institution vgl. exemplarisch Wilke: „Den Talmud und den Kant“, 669–681; Brämer, Andreas: Die Anfangsjahre des Jüdisch-Theologischen Seminars – Zum Wandel des Rabbinerberufs im 19. Jahrhundert. In: Hettling, Manfred/Reinke, Andreas/Conrads, Norbert (Hg.): In Breslau zu Hause? Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der Neuzeit. Hamburg 2003 (Studien zur jüdischen Geschichte 9), 99–112; Wilke, Carsten L.: Modern Rabbinical Training: Intercultural Invention and Political Reconfiguration. In: Homolka, Walter/Schöttler, Heinz-Günther (Hg.): Rabbi – Pastor – Priest. Their Roles and Profiles trough the Ages. Berlin/Boston 2013 (Studia Judaica. Forschungen zur Wissenschaft des Judentums 64), 83–110.

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zogen. Man hatte sich für einen wesentlich moderateren ‚konservativen‘ Reformer, den Dresdner Oberrabbiner Dr. Zacharias Frankel (1801–1875),10 als Gründungsdirektor entschieden. Im März 1853 legte der aus einer Prager Rabbinerfamilie stammende Frankel, der selbst nach abgeschlossenem Talmudstudium noch an der Königlich Ungarischen Universität in Pest Philosophie, Philologie und Naturwissenschaften studiert hatte, einen detaillierten „Organisationsplan für das zu gründende Rabbiner- und Lehrerseminar“ vor.11 Mit eindringlichen Worten betonte er noch einmal die Notwendigkeit einer derartigen Anstalt: „Das Bedürfnis eines Rabbinerseminars drängt sich bei einem nur einfachen Blick auf den gegenwärtigen trostlosen inneren Zustand des Judentums auf. Die früheren Lehrhäuser sind geschlossen, neue haben sich nicht geöffnet. [...] Forscht man nach der Ursache der Auflösung der Lehrhäuser, so ist sie zunächst in dem Umstande wahrzunehmen, dass das wissenschaftliche Element erloschen, das Studium nicht von wissenschaftlichem Geist durchhaucht war.“12 Frankel folgerte daraus: „Als erste Bedingung der Regeneration stellt sich die Forderung heraus, dass ein wissenschaftlicher Geist in das Studium der jüdischen Theologie hineingetragen werde. Zwar soll nicht auf den ihm eigentümlichen Geist, auf die es charakterisierende scharfsinnige Richtung verzichtet werden; aber diese Richtung soll von einem systematischen Forschungsgange durchdrungen und geleitet sein. Als andere Anforderung zeigt sich das Umfangreiche des Wissens. [...] Es bedarf ferner kaum der Erwähnung, dass allgemeine gelehrte Bildung, wie sie Gymnasium und Universität bieten, mit in den Kreis des Rabbiners gehören, dass er sich dieselben angeeignet haben muss.“13 Auf dieser Basis, die gewissermaßen eine Art vermittelnde Stellung zwischen Reform und Orthodoxie einzunehmen versuchte, erstellte Frankel einen umfangreichen Kanon von „Lehrgegenständen“, die in einem sechsjährigen Studium mit anschließenden zweisemestrigen Abgangsprüfungen zu absolvieren waren. Parallel dazu sollte der Kandidat eine Universität besuchen. Neben theologischen Vorkenntnissen war als Mindestanforderung „der profanen Vorbildung [...] ursprünglich die Reife für die Gymnasial-Sekunda festgesetzt“14; seit 1887 wurde dann die Vorlage eines Reifezeugnisses eines deutschen, österreichischen oder ungarischen Gymnasiums verlangt. Am 10. August 1854 konnte die Rabbiner-Abteilung des Seminars eröffnet werden; die Lehrer-Abteilung folgte zwei Jahre später, wurde jedoch wegen geringer Nachfrage und fehlender Lehrkräfte bereits 1886/87 wieder aufgelöst. Bis zu der von den Nationalsozialisten erzwungenen Auflösung des Breslauer Seminars im November 1938 wur10 Brämer, Andreas: Rabbiner Zacharias Frankel. Wissenschaft des Judentums und konservative Reform im 19. Jahrhundert. Hildesheim u. a. 2000 (Netiva 3); Biogramm in Brocke/Carlebach (Hg.): Biographisches Handbuch der Rabbiner, Bd. 1, 324–329, Nr. 0466. 11 Brann: Geschichte des jüdisch-theologischen Seminars, Beilagen I–VII, hier Beilage Nr. I, I–XII. 12 Ebd., III. 13 Ebd., IV. 14 Ebd., 65.

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Abb. 1: Das jüdisch-theologische Seminar in Breslau ging auf eine testamentarische Verfügung des Unternehmers Jonas Fraenckel zurück. Von 1854 bis zu seiner Schließung 1938 gehörte es zu den wichtigsten jüdischen Bildungseinrichtungen in Europa. Bildnachweis: Brann, M[arkus]: Geschichte des jüdisch-theologischen Seminars (Fraenckel’sche Stiftung) in Breslau. Festschrift zum fünfzigjährigen Jubiläum der Anstalt. Breslau [1904], 74.

den hier über 700 Studenten ausgebildet, von denen 249 die Ordination als Rabbiner erhielten – zusammen mit der Tatsache, dass verschiedene der hier angestellten Lehrer eine hohe wissenschaftliche Anerkennung genossen und auch an Universitäten wirkten, ein deutliches Zeichen dafür, dass das Seminar nicht nur eine bloße Rabbinerschule, sondern auch eine ernstzunehmende Forschungsstätte war.

II. Das jüdisch-theologische Seminar als Nukleus Der Umstand, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die weitaus meisten schlesischen Rabbiner lediglich Talmudschulen absolviert hatten, die sich – ohne die Anwendung wissenschaftlicher Gesichtspunkte – ausschließlich auf das Studium des jüdischen Schrifttums konzentrierten und alle ‚Profanwissenschaften‘ ablehnten, erklärt das Phä-

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nomen, dass von Rabbinern in Schlesien bis zur Jahrhundertmitte nur recht wenige wissenschaftlich relevante Publikationen vorgelegt wurden. Abhandlungen zur Geschichte fehlten ganz – mit einer einzigen, dafür aber umso bemerkenswerteren Ausnahme: die Arbeiten von Abraham Geiger. Seit seiner Studienzeit an den Universitäten Heidelberg und Bonn beschäftigte sich der Vordenker des Reformjudentums neben seinen vielfältigen Verpflichtungen im Rabbinat in historisch-kritischem Zugriff – konkret in Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Tendenzen universal- und kulturgeschichtlicher Forschung und speziell unter dem Eindruck der Ideen Johann Gottfried Herders (1744–1803) – mit nahezu allen Bereichen jüdischer Gelehrsamkeit: mit Fragen nach der Entwicklung des Verhältnisses zwischen Judentum, Christentum und Islam etwa, der Geschichte der jüdischen Religionsphilosophie, historischer Literatur- und Sprachwissenschaft oder der mittelalterlichen Bibelexegese. Dazu verfasste er auch während seiner Zeit in Breslau (bis 1863) eine Vielzahl von Abhandlungen, darunter eines seiner Hauptwerke: Urschrift und Übersetzungen der Bibel in ihrer Abhängigkeit von der innern Entwickelung des Judenthums (Breslau 1857).15 Freilich wurde Geiger – ähnlich wie in seinem Religionsverständnis und seiner Theologie – auch mit dem von ihm geschaffenen Geschichtsbild in der mehrheitlich konservativ ausgerichteten Breslauer Gemeinde16 zum Vertreter einer Minderheit und schließlich nach der Gründung des jüdisch-theologischen Seminars, in dessen Lehrpersonal er nicht aufgenommen wurde, „zum Außenseiter im institutionellen Zentrum jüdischer Studien in seiner eigenen Gemeinde“.17 Die beiden führenden Köpfe im Seminar, Zacharias Frankel und Dr. Heinrich Graetz (1817–1891), begegneten ihm mit Ablehnung, ja teilweise in offener Feindschaft und mit bewusster Nichtbeachtung oder Geringschätzung seiner wissenschaftlichen Abhandlungen. Schließlich resignierte Geiger und verließ 1863 die schlesische Hauptstadt – nicht ohne im Jahr davor in dem gerade von ihm neu gegründeten Organ Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben die Abschlussprüfung der ersten drei Absolventen des Seminars mit ätzender Kritik zu überziehen.18 15 Eine Auswahlbibliographie der Schriften Geigers enthält der Sammelband von Wiese/­Homolka/ Brechenmacher (Hg.): Jüdische Existenz, 427–442. 16 ���������������������������������������������������������������������������������������� Die jahrzehntelangen Spannungen und Auseinandersetzungen zwischen reformwilligen und orthodoxen Kräften führten schließlich nach dem Erlass des preußischen Judengesetzes („Gesetz über die Verhältnisse der Juden“) vom 23. Juli 1847 seit 1849 zur Bildung zweier getrennter Kultuskommissionen mit jeweils eigenen Synagogen, Rabbinern und Schulen in der weiterhin einheitlichen Breslauer Synagogengemeinde. Diese Lösung wurde 1856 durch ein neues Gemeindestatut bestätigt und festgeschrieben. 1853 bekannten sich rund 60 Prozent der jüdischen Hausväter mit ihren Familien zur orthodoxen „Cultus-Commission“ (Rabbiner Gedalja Tiktin) und 40 Prozent zu deren liberalem Pendant (Rabbiner Geiger). Vgl. Brämer: Religiöse Entwicklungen, 247f. 17 Meyer, Michael A.: Abraham Geiger – Der Mensch. In: Wiese/Homolka/Brechenmacher (Hg.): Jüdische Existenz, 1–14, hier 11. 18 Die Rabbiner der Gegenwart. In: Jüdische Zeitschrift für Wissenschaft und Leben 1/3 (1862) 165–174, hier 172: „Wir leben nicht im Mittelalter, die Rabbinatsprüfung am Seminar steht, steckt im Mittelalter.“

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Immerhin konzedierte der Reformtheologe, wenn auch möglicherweise nur sarkastisch, im gleichen Artikel: „Ich will überhaupt glauben, daß das Seminar besser ist als seine Prüfung und die das Seminar verlassen, besser als das Seminar.“19 Unbestreitbar hatte mit der auf Frankels Konzept eines positiv-historischen Judentums ausgerichteten Lehranstalt eine neue Phase der Rabbinerausbildung in Deutschland eingesetzt. Ungeachtet aller Anfeindungen sowohl von Seiten der Orthodoxie als auch von Seiten des Reformjudentums, zwischen denen Frankel letztlich vergeblich eine vermittelnde Rolle einzunehmen versuchte, konnten viele ihrer Absolventen als Vertreter der „Breslauer Schule“ angesehene Stellungen als liberale oder aber auch als konservative Rabbiner in jüdischen Gemeinden Deutschlands und Österreich-Ungarns einnehmen. Von erheblicher Bedeutung dürfte dabei gewesen sein, dass die Ausbildung im Seminar sehr breit gefächert war und dass neben den einzelnen theologischen Teilgebieten auch philologischhistorische Studien einen gewichtigen Platz einnahmen. So zählte zu den erforderlichen Lehr- und Prüfungsgegenständen „materiellen Wissens“ unter anderem auch „Literärgeschichte verbunden mit Geschichte der Juden“.20 Abb. 2: „Denn das Gebot ist eine Leuchte und das Gesetz ein Licht“ (Spr 6,23) – seit 1928 das hebräische Motto des jüdisch-theologischen Seminars in Breslau, Sinnbild für eine freie Forschungsstätte auf der Basis eines positiv-historischen Judentums. Bildnachweis: Bericht des jüdisch-theologischen Seminars Fraenckel’scher Stiftung für das Jahr 1928. Breslau 1929.

Frankel selbst veröffentlichte eine Reihe rechtshistorischer und religionsgeschichtlicher Abhandlungen (teilweise in hebräischer Sprache), nicht zuletzt in der von ihm gegründeten und bis 1868 herausgegebenen Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums.21 Zum wichtigsten Anreger auf dem Gebiet der Geschichtsforschung wurde allerdings sein Freund und Weggefährte Heinrich Graetz, von 1854 bis zu seinem Tod 1891 Dozent für jüdische Geschichte und Bibelexegese am Seminar, seit 1869 auch Honorarprofessor für Geschichte an der Universität Breslau.22 Mit seiner be19 20 21 22

Ebd., 170. Brann: Geschichte des jüdisch-theologischen Seminars, Beilage Nr. I, IV. Vgl. das Veröffentlichungsverzeichnis bei Brämer: Rabbiner Zacharias Frankel, 433–448. Brenner, Michael: Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert. München 2006, 79–128; Pyka, Markus: Jüdische Identität bei Heinrich Graetz. Göttingen 2009 ( Jüdische Religion, Geschichte und Kultur 5); Irgang, Winfried: Historiografie der Forschungen zur Geschichte der Juden im mittelalterlichen Schlesien. In: Brämer/Herzig/ Ruchniewicz (Hg.): Jüdisches Leben zwischen Ost und West, 503–520, hier 508f. Graetz wurde zwar 1846 von Frankel zum Rabbiner ordiniert, hatte aber nie ein Rabbinat inne.

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Winfried Irgang Abb. 3: Heinrich Graetz (1817–1891), seit 1854 Dozent für jüdische Geschichte und Bibelexegese am jüdisch-theologischen Seminar in Breslau, Hauptvertreter der religionsgeschichtlich orientierten jüdischnationalen Universalgeschichte. Bildnachweis: Singer, Isidore (Hg.): The Jewish Encyclopedia, Bd. 6. New York/London 1901, 65.

reits vor dem Amtsantritt in Breslau begonnenen, 1876 abgeschlossenen monumentalen elfbändigen Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, einem – durchaus umstrittenen – Standardwerk der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, das mehrere Auflagen erlebte und in verschiedene Sprachen übersetzt wurde, mit seiner auf drei Bände verkürzten Volkstümliche[n] Geschichte der Juden sowie mit zahlreichen weiteren Publikationen23 wurde Graetz zum Hauptvertreter der religionsgeschichtlich orientierten jüdisch-nationalen Universalgeschichte. Er beeinflusste damit naturgemäß auch seine Schüler am Breslauer Seminar. Nicht wenige von ihnen machten sich später, neben ihrer Tätigkeit als einflussreiche Rabbiner, auch als Historiker des Judentums, als Religionshistoriker oder als Orientalisten einen Namen – auch wenn keineswegs alle dem subjektiven Ansatz dieses zweifellos bekanntesten und fruchtbarsten jüdischen Historiographen folgten, der die Nationalgeschichte des Judentums als Prozess geistiger und kultureller Selbstverwirklichung auch und gerade im Martyrium deutete. Dazu mag auch beigetragen haben, dass die meisten von Graetz’ Schülern parallel zum Besuch des jüdisch-theologischen Seminars ein Studium an der Universität Breslau absolvierten und vielfach mit dem Erwerb des Doktorgrads abschlossen.24 23 Brann, M[arkus]: Verzeichnis von H. Graetzens Schriften und Abhandlungen. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 61 (1917) 444–480. 24 Zu den bekanntesten zählen in Schlesien Prof. Dr. Jakob Guttmann (1845–1919), seit 1891 Rabbiner der Neuen Synagoge in Breslau, Philosophie- und Religionshistoriker (Brocke/Carle-

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Zu denjenigen, die den beliebten Lehrer an wissenschaftlicher Akribie überragen sollten, gehörte auch sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl für jüdische Geschichte, Bibelexegese und Pädagogik am Seminar, Dr. Markus Brann (1849–1920).25 Zwar wurde er einer breiteren Leserschaft ebenfalls vor allem durch mehrere Überblicksdarstellungen zur jüdischen Geschichte und Literatur bekannt, von bleibendem Wert aber sind in erster Linie seine vielfältigen Studien zur Geschichte der Juden in Schlesien, die auf umfassenden archivalischen Forschungen und einer sorgfältigen Auswertung der gesamten regional- und ortsgeschichtlichen Literatur fußten.26 Branns Einbindung in die landesgeschichtliche Forschung wird auch daran deutlich, dass er von 1878 bis zu seinem Tode dem Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens (seit 1905: Verein für Geschichte Schlesiens) als Mitglied angehörte. In den Reihen des Vereins war Brann während dieser Zeit der einzige schlesische Rabbiner und Dozent am jüdisch-theologischen Seminar.27 In dieser Mittlerstellung zwischen allgemeiner Landesgeschichte und spezifisch jüdischer Geschichte28 stellte Brann sicher eine Ausnahmeerscheinung dar. Doch auch

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bach [Hg.]: Biographisches Handbuch der Rabbiner, Bd. 2, 257–261, Nr. 2213), und Dr. Benjamin Rippner (1842–1898), seit 1872 Rabbiner in Glogau, Philologe und Orientalist (ebd., 503f., Nr. 2504). Außerhalb Schlesiens zu nennen sind Dr. Wilhelm Bacher (1850–1913), seit 1877 Professor der biblischen Wissenschaft an der Landesrabbinerschule in Budapest (Dotan, Aron: Wilhelm Bacher, Linguist. In: Carmilly-Weinberger, Moshe [Hg.]: The Rabbinical Seminary of Budapest, 1877–1977: A Centennial Volume. New York 1986, 255–264); Dr. Philipp Bloch (1841–1923), geboren in Oberschlesien, Rabbiner in Posen, Historiker des Judentums in Polen (Brocke/Carlebach [Hg.]: Biographisches Handbuch der Rabbiner, Bd. 2, 86–89, Nr. 2037); Dr.  Max Freudenthal (1868–1937), Rabbiner in Dessau, Danzig und seit 1907 in Nürnberg, Historiker der jüdischen Geschichte Bayerns (ebd., 200–203, Nr. 2157); Dr. Heinrich Gross (1835–1910), Rabbiner in Augsburg, Forscher zur Geschichte der Juden in Frankreich (ebd., Bd.  1, 384f., Nr. 0611); Dr. Moritz Güdemann (1835–1918), Rabbiner in Magdeburg und Wien, Kulturhistoriker (ebd., 389–391, Nr. 0622); Dr. Joseph Perles (1835–1894), Rabbiner in München, Historiker der jüdischen Volkskunde (ebd., 697–699, Nr. 1375); Dr. Moritz Rahmer (1837–1904), geboren in Oberschlesien, Rabbiner in Thorn und Magdeburg, Religionshistoriker (ebd., 727f., Nr. 1440); Prof. Dr. Adolf Schwarz (1846–1931), Rabbiner in Karlsruhe, 1893 Gründungsdirektor der Israelitisch-theologischen Lehranstalt in Wien, Philosophie- und Religionshistoriker (ebd., Bd. 2, 559–561, Nr. 2568). Bis auf Freudenthal, Gross und Guttmann waren die Genannten sämtlich auch Beiträger zu: Jubelschrift zum 70. Geburtstag des Professors Dr. Heinrich Graetz. Breslau 1887 (ND Hildesheim/New York 1973). Zu Brann vgl. den Beitrag von Barbara Kalinowska-Wójcik in diesem Band. Vgl. das von Aron Freimann zusammengestellte Verzeichnis der Schriften Branns in: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 63 (1919) 81–97. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert betrug die Zahl jüdischer Mitglieder in diesem Verein immerhin ca. 5–10 Prozent. Vgl. Rahden, Till van: Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt 1860–1925. Göttingen 2000 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 139), 134f. „Die deutsche Geschichtswissenschaft hat seitdem niemanden wieder hervorgebracht, der, in gleichem Maße mit der Liebe zum Schlesierlande erfüllt, historische und rabbinische Kenntnisse

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ganz allgemein lässt sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in den schlesischen Synagogengemeinden ein zunehmendes Interesse an historischen Aspekten feststellen, und dies keineswegs nur an Orten, an denen Rabbiner amtierten, die aus dem Breslauer Seminar hervorgegangen waren.29 So beauftragte beispielsweise die 1883 ins Leben gerufene „Commission zur Anlegung eines Archivs für die hiesige SynagogenGemeinde“ der eher konservativ eingestellten Kultusgemeinde im oberschlesischen Beuthen30 im Jahr 1889 ihren neuen Rabbiner und Religionslehrer Dr. Max Kopfstein (1856–1924)31 mit der Erarbeitung einer umfassenden Gemeindegeschichte, die zwei Jahre später bereits erschien.32 Auch für andere Synagogengemeinden verfassten Rabbiner mehr oder weniger umfangreiche historische Abrisse, so etwa Dr. Tobias Samter (1838–1900) für Waldenburg,33 Dr. Jakob Cohn (1843–1916) für Kattowitz,34 Dr. Immanuel Deutsch (1847–1913) für Sohrau35 und Dr. Moritz Peritz (1856–1930) für 29

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vereinigt [...] hätte.“ Cohn, Willy: Markus Brann. In: Andreae, Friedrich/Graber, Erich/Hippe, Max (Hg.): Schlesier des 16. bis 19. Jahrhunderts. Breslau 1931 [Sigmaringen 21985] (Schlesische Lebensbilder 4), 410–416, hier 416. Im Jahr 1905 waren von den insgesamt 22 Rabbinern in Schlesien elf am jüdisch-theologischen Seminar in Breslau ausgebildet worden, fünf am orthodoxen Rabbinerseminar in Berlin und drei an der dortigen Hochschule für die Wissenschaft des Judentums (der Oppelner Rabbiner Leo Baeck hatte sowohl hier als auch am Breslauer Seminar studiert). Vgl. Die jüdischen Gemeinden und Vereine in Deutschland. Berlin 1906 (Veröffentlichungen des Bureaus für Statistik der Juden 3). Dudek, Beata: Juden als Stadtbürger in Schlesien. Glogau und Beuthen im Vergleich 1808–1871. Hamburg 2009 (Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit 60). Beuthen O.S. hatte nach der Jahrhundertwende hinter Breslau und Kattowitz die höchste Zahl jüdischer Einwohner. Vgl. Herzig, Arno: Landjuden – Stadtjuden. Die Entwicklung in den preußischen Provinzen Westfalen und Schlesien im 18. und 19. Jahrhundert. In: Richarz, Monika/Rürup, Reinhard (Hg.): Jüdisches Leben auf dem Lande. Studien zur deutsch-jüdischen Geschichte. Tübingen 1997 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 56), 91–108, hier 102. Verschiedentlich finden sich auch die Vornamensnennungen „Marcus“ beziehungsweise „Markus K.“. Vgl. Brocke/Carlebach (Hg.): Biographisches Handbuch der Rabbiner, Bd. 2, 346f., Nr. 2309; er stammte aus Ungarn, hatte in Marburg studiert (Promotion zum Dr. phil. 1881) und war vor Übernahme des Beuthener Rabbinats in Pasewalk, Elbing und Bad Ems tätig gewesen. Vgl. Heiduk, Franz: Oberschlesisches Literaturlexikon, Tl. 3. Heidelberg 2000, 317. Kopfstein, M[ax]: Geschichte der Synagogen-Gemeinde in Beuthen O.-S. Beuthen O.-S. 1891 (Zitat im Vorwort, unpaginiert). Brocke/Carlebach (Hg.): Biographisches Handbuch der Rabbiner, Bd. 1, 775, Nr. 1555. Laut Brilling, Bernhard: Die jüdischen Gemeinden Mittelschlesiens. Entstehung und Geschichte. Stuttgart 1972 (Studia Delitzschiana 14), 201, verfasste Tobias Samter 1882 eine Geschichte der Synagogengemeinde Waldenburg, die jedoch nur im Manuskript überliefert gewesen zu sein scheint. Kohn, Jacob: Geschichte der Synagogen-Gemeinde Kattowitz O.-S. Kattowitz 1900; Brocke/ Carlebach (Hg.): Biographisches Handbuch der Rabbiner, Bd. 2, 141f., Nr. 2085. Deutsch, Immanuel: Chronik der Synagogen-Gemeinde Sohrau O.-S. Ein Beitrag zur Entwickelungsgeschichte der Kleingemeinden Oberschlesiens. Magdeburg 1900; Brocke/Carlebach (Hg.): Biographisches Handbuch der Rabbiner, Bd. 2, 151–155, Nr. 2099.

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Liegnitz;36 drei der Verfasser (Samter, Deutsch und Peritz) waren am Breslauer Seminar ausgebildet worden, Cohn an der Jeschiwa im damals ungarischen Eisenstadt. Die Wahrnehmung eines sich ausbreitenden Indifferentismus in Teilen der jüdischen Bevölkerung auf der einen und zunehmender antisemitischer Tendenzen in Deutschland auf der anderen Seite führte im ausgehenden 19. Jahrhundert in den Kreisen des deutsch-jüdischen Bildungsbürgertums zu vermehrten Anstrengungen, durch Vortragsveranstaltungen Wissen über das Judentum und insbesondere Kenntnisse der jüdischen Geschichte zu vermitteln und zu vertiefen – und zwar sowohl unter den Juden selbst als auch darüber hinaus in einer interessierten Öffentlichkeit. Innerhalb weniger Jahre wurden zahlreiche Vereine für jüdische Geschichte und Literatur gegründet, die sich seit 1893 zum Verband der Vereine für Jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland zusammenschlossen; er gab ein eigenes Mitteilungsblatt und später ein Jahrbuch heraus.37 1895 existierten in Deutschland bereits 55 Vereine, davon sechs in Schlesien (Breslau, Glogau, Hirschberg, Lublinitz, Neisse und Ratibor). Im Jahr 1910, auf dem Höhepunkt seiner Tätigkeit, umfasste der Verband nicht weniger als 221 Vereine, davon 18 in Schlesien (neben den bereits genannten noch Bernstadt, Beuthen O.S., Cosel, Groß Strehlitz, Grünberg, Kattowitz, Königshütte, Myslowitz, Nikolai, Oppeln, Pless und Tarnowitz), deren Mitgliederzahl von zwanzig (Bernstadt) bis hin zu 325 (Breslau) reichte. In den weitaus meisten von ihnen waren die jeweiligen Rabbiner oder andere jüdische Kultusbeamte im Vorstand vertreten, häufig hatten sie den Vorsitz inne.38 Die Listen der Vorträge – gehalten häufig von auswärtigen Referenten, unter ihnen eine Reihe von Rabbinern – weisen ein breites Themenspektrum auf und legen Zeugnis ab für ein gesteigertes Interesse an der Geschichte als Medium für eine Selbstvergewisserung, bei der den Rabbinern eine besondere Rolle als „Volkslehrer“39 zufallen musste. Dass sie damit zu einer Verbreitung historischen Wissens beigetragen haben, dürfte außer Frage stehen; weiterführende Forschungsergebnisse aber hat in jenen Jahren lediglich Markus Brann vorgelegt. 36 Peritz, Moritz: Aus der Geschichte der jüdischen Gemeinde zu Liegnitz. Ein Beitrag zur Hundertjahrfeier am 27. November 1912. Liegnitz 1912; Brocke/Carlebach (Hg.): Biographisches Handbuch der Rabbiner, Bd. 2, 473f., Nr. 2472. 37 ��������������������������������������������������������������������������������������������� Borut, Jacob: Vereine für jüdische Geschichte und Literatur at the End of the Nineteenth Century. In: Year Book 41 of the Leo Baeck Institute. London 1996, 89–114; Reinke, Andreas: „Eine Sammlung des jüdischen Bürgertums“. Der Unabhängige Orden B’nai B’rith in Deutschland. In: Gotzmann, Andreas/Liedtke, Rainer/Rahden, Till van (Hg.): Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz. Tübingen 2001 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-Baeck-Instituts 63), 315–340, hier 326f.; Krone: Wissenschaft in Öffentlichkeit, 95f.; Lauer, Gerhard: Jüdischer Kulturprotestantismus. Jüdische Literatur und Literaturvereine im Kaiserreich. In: Barner, Wilfried/König, Christoph (Hg.): Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871–1933. Göttingen 2001 (Marbacher Wissenschaftsgeschichte 3), 267–284. 38 Vgl. die entsprechenden Angaben in: Mitteilungen aus dem Verband der Vereine für Jüdische Geschichte und Literatur in Deutschland (1895–1914). 39 Brann: Geschichte des jüdisch-theologischen Seminars, Beilage Nr. I, I.

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III. Der Sonderfall Ascher Sammter „Vorgestern Morgen verschied plötzlich am Herzschlage im Alter von 80 Jahren der durch seine reiche literarische Thätigkeit rühmlichst bekannte Herr Dr. Ascher Sammter.“40 Mit diesen Worten beginnt in einer „Orig[inal]-Corr[espondenz]“ aus Berlin vom 1. Februar 1887 in der Zeitschrift Die jüdische Presse der kurze Nachruf auf einen Mann, der sowohl hinsichtlich seines Lebenslaufs als auch in Bezug auf seine vielseitige publizistische Tätigkeit unter den jüdischen Theologen in Schlesien zweifellos eine Sonderstellung eingenommen hat. Interessanterweise enthält bereits dieser Text einige unzutreffende Angaben zu Sammters Leben, so etwa zu seinem Geburtsort und zum Beginn seiner Tätigkeit in Liegnitz; bis heute ist kein einziges Biogramm dieses Mannes fehlerfrei.41 Ascher Sammter wurde am 1. Januar 1807 als Sohn des Rabbiners Leiser (Lazarus) Sammter in der Harzgemeinde Werna geboren.42 Der aufgeweckte und wissbegierige Junge wurde zunächst von seinem Vater unterrichtet. Nach dem Umzug der Familie in das vor den Toren Halberstadts gelegene Derenburg Anfang der 1820er Jahre erhielt er Privatunterricht durch den evangelischen Schullehrer und Kantor Brandt sowie vor allem durch den Oberprediger Martin Heinrich August Schmidt (1776–1830), einen seinerzeit bekannten rationalistischen Geistlichen und Schriftsteller.43 Nach Ansicht des Vaters flößten ihm beide „zu viel Gift der Aufklärung“ ein, was zugleich zu einer „Vernachlässigung des jüdischen Studiums“ führe.44 Da der junge Ascher gleichzeitig bereits jüdischen Kindern Unterricht erteilte und gern selbst Lehrer werden wollte, vermittelte der Vater ihm im Herbst 1822 eine Anstellung als zweiter Lehrer an der jüdischen Schule Hascharath Zwi in Halberstadt.45 Im April 1825 absolvierte Ascher Sammter bei der Bezirksregierung in Magdeburg das behördlich angeordnete Examen für jüdische Lehrer. Nach vertieften Talmudstudien gab er 1833 seine Lehrerstelle auf und legte noch im selben Jahr am Halberstädter Domgymnasium die Reifeprüfung ab, 40 Die jüdische Presse, Nr. 18/5 (1887) vom 3. Februar 1887, 51f. 41 ����������������������������������������������������������������������������������������� Biogramme in: The Jewish Encyclopedia 10 (1906) 684 (darauf fußen die meisten nachfolgenden Lexikonartikel); Unverricht, Hubert (Hg.): Liegnitzer Lebensbilder des Stadt- und Landkreises, Bd. 2. Hofheim/Taunus 2003, 150–153; Brocke/Carlebach (Hg.): Biographisches Handbuch der Rabbiner, Bd. 1, 773, Nr. 1549. 42 Über die ersten Jahrzehnte seines Lebens berichtete Sammter in seinen Erinnerungen. Vgl. ders.: Skizzen aus dem Leben eines jüdischen Cultusbeamten. In: Die jüdische Presse, Nr. 9/2 (1878) 23, Nr. 9/3 (1878) 35, Nr. 9/4 (1878) 47, Nr. 9/6 (1878) 67, Nr. 9/7 (1878) 79, Nr. 9/9 (1878) 103, Nr. 9/11 (1887) 123 (Der Beginn dieses autobiographischen Essays, vermutlich ebd., 8 [1877], war mir nicht zugänglich). Bedauerlicherweise bricht der autobiographische Text mit den 1820er Jahren ab; er wurde von Sammter später nicht mehr aufgenommen. 43 Neuer Nekrolog der Deutschen, Achter Jahrgang 1830. Ilmenau 1832, 214f. 44 Zit. nach Die jüdische Presse, Nr. 9/4 (1878) 47. 45 Reupke, Beate: Jüdisches Schulwesen zwischen Tradition und Moderne. Die Hascharath Zwi Schule in Halberstadt (1796–1942). Berlin 2017 (Europäisch-jüdische Studien. Beiträge 28), 70–73, 99.

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um anschließend in Berlin Philosophie zu studieren. Zu seinen dortigen Lehrern dürfte der Hegelianer und spätere ‚preußische Staatsphilosoph‘ Johann Eduard ­Erdmann (1805–1892) gehört haben, der 1836 nach Halle wechselte.46 Aus diesen Studienjahren könnte auch Sammters Bekanntschaft mit Leopold Zunz (1794–1886), einem der Begründer der Wissenschaft des Judentums, datieren, mit dem er viele Jahre lang in brieflichem Kontakt stand.47 Seine 118 Seiten starke Dissertation De ratione quae inter psychologiam et philosophiam ipsam obtinet reichte Sammter bei der Philosophischen Fakultät der Universität Jena ein, die ihm am 4. Oktober 1837 den Doktortitel verlieh.48 Wenige Tage zuvor hatte er in der Synagoge zu Liegnitz seine erste Predigt gehalten.49 Bis zum Toleranzedikt von 1812 hatten Juden in Liegnitz kein Wohnrecht besessen. In den folgenden Dezennien etablierte sich in der aufstrebenden Bezirkshauptstadt – vor allem durch Zuzug aus Glogau und aus der Provinz Posen – aber bald eine „israel[itische] Gemeinde“, die 1837 236 Personen umfasste. Der rührige Gemeindevorstand hatte sich um die Etablierung eines eigenen „Lehrinstituts“ bemüht und die Anstellung eines „Religionslehrers, der auch zugleich zuweilen öffentliche Vorträge in der Synagoge halten sollte“, durchgesetzt.50 Wie die Wahl auf Sammter gefallen war, lässt sich nicht mehr feststellen. Jedenfalls entwickelte dieser bemerkenswerten Einsatz: Im Frühjahr 1838 wurde die private Religions- und Elementarschule eröffnet, die man bereits ein Jahr später zu den besten jüdischen Schulen in Schlesien zählte.51 Daneben machte sich Sammter auch dadurch einen Namen, dass er als einer der ersten jüdischen Prediger in Schlesien Kanzelreden in deutscher Sprache hielt und die „Confirmation“ für Jungen und Mädchen einführte. Weitergehenden Reformbemühungen jedoch widersetzte er sich wohl. So zählte er 1846 zu denjenigen Theologen, die ihren „Beitritt“ zum Aufruf von Zacharias Frankel für eine Theologen-Versammlung als Gegengewicht gegen die vornehmlich von Abraham Geiger in Breslau angeführte Reformbewegung und die Rabbinerversammlungen 46 Ein Indiz dafür bildet die Tatsache, dass Sammter Erdmann eines seiner Bücher widmete: Sammter, Ascher: Die Unsterblichkeit unserer Person, wissenschaftlich beleuchtet. Liegnitz 1843. 47 Im Leopold-Zunz-Archiv in Jerusalem sind sieben Briefe von Sammter an Zunz aus den Jahren 1835 (aus Berlin), 1840 bis 1844 und 1865 (aus Liegnitz) erhalten. Vgl. Handschriftenabteilung der Jüdischen National- und Universitätsbibliothek Jerusalem, Sign. ARC 4° 792/G 22-547.1-7. 48 ������������������������������������������������������������������������������������������� Universitätsarchiv Jena, Bestand M 283 (Dekanatsakten 1837/38, Bd. 1), fol. 128–137: Promotionsakten; vgl. auch Intelligenzblatt der Jenaischen allgemeinen Literatur-Zeitung, Nr. 7 vom März 1838, Sp. 51: „In der philosophischen Facultät [...] wurde [...] die Doctorwürde ertheilt: [...] den 4. Oct. Hn. Ascher Sammter aus Derenburg im Herzogthume Magdeburg.“ 49 �������������������������������������������������������������������������������������������� Dies ergibt sich aus dem Schlusssatz in Sammters historischer Erzählung: Der Rabbi von Liegnitz. Berlin 1886: „Am 1. Oktober 1837 predigte in der Synagoge der jüdischen Gemeinde der Verfasser dieser Erzählung wiederum zum ersten Male als – Rabbi von Liegnitz“. 50 Allgemeine Zeitung des Judenthums 2/87 (1838) 354 (Bericht von Sammter); Peritz: Aus der Geschichte, 13f.; Wolbe, Eugen: Eine Hundertjährige (Die jüdische Gemeinde in Liegnitz). In: Allgemeine Zeitung des Judenthums 76/27 (1912) 318–320, hier 319. 51 Israelitische Annalen 1/12 (1839) 94–95; Allgemeine Zeitung des Judenthums 3/104 (1839) 686–687.

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von 1844 bis 1846 erklärten.52 Wie in zahlreichen jüdischen Gemeinden kam es auch in Liegnitz in den 1840er Jahren zu Auseinandersetzungen zwischen reformorientierten und konservativen Kräften, die in einer – vorübergehenden – Abspaltung der Reformer gipfelten.53 Sammters Haltung dazu ist unbekannt. Auffällig ist jedoch, dass er sich allem Anschein nach bereits spätestens 1851 aus allen Gemeindeämtern zurückgezogen hatte und nunmehr ganz andere Interessen verfolgte.54 Hatten Sammters bisherige Publikationen in Bezug zu seinen Funktionen55 gestanden oder philosophische Probleme56 behandelt, so änderte sich dies jetzt radikal: In den nächsten annähernd zwei Jahrzehnten, die Sammter als „Schriftsteller“57 beziehungsweise „Leihbibliothekbesitzer“58 in Liegnitz verbrachte, verfasste er fast ausnahmslos Schriften, die mit dieser Stadt in Verbindung standen. Immer mehr wandte er sich dabei der Geschichtsforschung zu. Entscheidend dafür wurde, dass ihn die Stadt 1855 damit beauftragte, die von dem Bürgermeister Gottlob Jochmann (1829–47) in die Wege geleitete Ordnung des Stadtarchivs fortzuführen.59 Damit gewann Sammter auf der einen Seite einen vorzüglichen Überblick über das zur Verfügung stehende Quellenmaterial. Auf der anderen trat er auch mit anderen Lokal- und Regionalhistorikern in Kontakt, nicht zuletzt im Rahmen seiner seit 1861 nachweisbaren Mitgliedschaft im Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens. Nach einigen kleineren Veröffentlichungen60 erschien in den Jahren 1861 bis 1864 der erste, über 600 Seiten starke Teil seiner Chronik von Liegnitz, in der er die Geschicke der Stadt bis zum Jahr 1454 behandelte. Rund ein Viertel des voluminösen Bandes nahmen Quelleneditionen und eine Übersicht über die Urkunden im Stadtarchiv ein. Zwar 52 Zeitschrift für die religiösen Interessen des Judenthums 3/9 (1846) 339–341, hier 339. 53 Allgemeine Zeitung des Judenthums 15/31 (1851) 366: „In Liegnitz, welches bereits über 100 jüdische Familien zählt, bestehen seit Kurzem zwei Gemeinden, die alte und die neue; – der Kultus jedoch ist in beiden mehr alt als neu zu nennen.“ (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch Peritz: Aus der Geschichte; Wolbe: Eine Hundertjährige. 54 Es scheint denkbar, dass Sammter sein Amt als Prediger bereits wesentlich früher aufgegeben hatte. Vgl. Allgemeine Zeitung des Judenthums 14/29 (1850) 402. Dort heißt es in einer „Privatmitth[eilung]“ vom 30. Juni „Aus Niederschlesien“ unter anderem über die Kanzel der neuen Synagoge in Liegnitz, die Pfingsten 1847 von dem Berliner Rabbiner Michael Sachs eingeweiht worden war: „Aber seitdem Herr Dr. Sachs aus Berlin am Einweihungstage und am Sabbat darauf das lautere Gotteswort von derselben [scil. der Kanzel] verkündet, dürfte sie noch keines Predigers Fuß amtlich betreten haben. Sie steht verwaist da.“ 55 Berichte in Allgemeine Zeitung des Judenthums; Gedächtnisrede für Friedrich Wilhelm III., König von Preußen, in der Synagoge zu Liegnitz. O. O. 1840. 56 Vgl. Anm. 46. 57 So die Berufsbezeichnung im Alphabetischen Namenverzeichnis des Deutschen Kunstblatts für die Jahre 1851, 1853 und 1854. 58 Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 3 (1861) 406; ebd., 6 (1865) 409. 59 ������������������������������������������������������������������������������������������������ Pasławska, Janina: Zarys dziejów archiwum i zawartość zasobu miasta Legnicy. In: Śląski Kwartalnik Historyczny Sobótka 15 (1960) 259–264, hier 260. 60 Sammter, Ascher: Das Minutoli’sche Institut der Vorbildersammlung zur Beförderung der Gewerbe und Künste zu Liegnitz, Tl. 1. Liegnitz 1851, abgedruckt auch in: Deutsches Kunstblatt

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bildeten diese den Grundstock für seine Arbeit, Sammter hatte aber darüber hinaus auch Archive und Bibliotheken in Breslau, Dresden, Prag und Warmbrunn besucht und berief sich in seiner Einleitung auf „unmittelbare Besprechungen mit den Koryphäen der schlesischen Provinzialgeschichte, der Herren Professor Dr. Röpell, und des Königl. Provinzial-Archivar Dr. Wattenbach zu Breslau“.61 Als Ausdruck von Sammters Selbstverständnis darf es wohl gewertet werden, dass er in der Titelei des auf Kosten der Stadt herausgegebenen Werkes ausdrücklich auf seine Mitgliedschaft in dem Geschichtsverein hinwies. Bereits 1868 folgte der nur wenig schmalere zweite Teilband für die Jahre von 1455 bis 1547, in dem Quellen und Verzeichnisse nahezu die Hälfte ausmachten.62 Dass Sammter danach das groß angelegte Werk63 nicht selbst vollenden konnte, mag durchaus einem Augenleiden geschuldet gewesen sein, wie dessen Fortsetzer Adalbert Hermann Kraffert (1828–1889) angab;64 es könnte aber auch noch andere Gründe gegeben haben, denn 1869 war es zu einem erneuten Umbruch in Sammters bewegtem Leben gekommen. Soweit sich bisher feststellen lässt, begegnet 1869 zum ersten Mal für ihn die Selbstbezeichnung „Rabbiner“,65 die Sammter auch in den Folgejahren stets benutzte. Es scheint, als ob er zu seinen Wurzeln zurückgekehrt wäre – die Ursache dafür ist freilich ebensowenig zu erkennen wie die Antwort auf die Frage, woraus er die Berechtigung zu dieser Bezeichnung ableitete: Es ist nicht bekannt, dass Sammter jemals ein Rabbinatsdiplom bekommen hätte, und er war auch nicht, soweit dies die Quellen aussagen, als Rabbiner in Liegnitz angestellt gewesen.66

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(1851) 57–59, 65–66, 73–74, 81–83; ders.: Sgraffito in Schlesien. In: Deutsches Kunstblatt (1853) 230; ders.: Töpferei in Frankreich. In: Deutsches Kunstblatt (1854) 162–163; ders.: Geschichte der Juden in Liegnitz (Aus einem im Manuscript vollendeten Werke: „Die Chronik von Liegnitz“ [...]). In: Jüdisches Volksblatt 6/27 (1859) 108; ders.: Die Schlacht bei Liegnitz am 15. August 1760. Zur hundertjährigen Erinnerung. Liegnitz 1860; ders.: Feuer-Ordnung vom Jahre 1340 zu Liegnitz. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 3 (1860) 223–225. Ders.: Chronik von Liegnitz, Th. 1. Liegnitz 1861–1864, Vorwort, VII. Ders.: Chronik von Liegnitz, Th. 2, Abth. 1: (Von 1455–1547). Liegnitz 1868. Neben diesen beiden Bänden erschienen bis 1868 noch weitere Abhandlungen von Sammter. Vgl. ders.: Die Katzbach-Schlacht am 26. VIII. 1813. Liegnitz 1863; ders.: Das Minutoli’sche Institut der Vorbilder-Sammlung zur Beförderung der Gewerbe und Künste zu Liegnitz, Tl. 2. Liegnitz 1866; ders.: Die Schützengilde zu Liegnitz nach ihrer historischen Entwicklung. Eine Festschrift zur 300jährigen Jubelfeier der Reorganisation der Gilde durch Herzog Heinrich XI. von Liegnitz am 13., 14., 15. und 16. Juli 1868. Liegnitz 1868. Kraffert, Adalbert Hermann: Chronik von Liegnitz, Th. 2, Abth. 2: Vom Tode Friedrichs II. bis zum Aussterben des Piastenhauses 1547 bis 1675. Liegnitz 1871, Vorwort, III. Aus dem Archive der Stadt Liegnitz. Eine Breslauer Juden-Urkunde vom Jahre 1451. Aus dem hebräischen Urtexte übersetzt und erläutert von Dr. Sammter, Rabbiner. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte und Alterthum Schlesiens 9 (1868/69) 121–128. In den in Anm. 50–52 genannten zeitgenössischen Quellen wird Sammter niemals als Liegnitzer Rabbiner bezeichnet (wohl aber in Nachrufen, späteren Abhandlungen und Lexikonartikeln); in einem Bericht der Regierung, Abteilung des Innern, des Bezirks Liegnitz vom 12. Dezember

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Winfried Irgang

Sammter verließ noch im selben Jahr Schlesien67 und wurde in Berlin ansässig, wo er sich alsbald in der gerade neugegründeten orthodoxen jüdischen (Austritts-)Gemeinde Adass Jisroel betätigte. Auch sein literarisches Schaffen änderte sich völlig. Zum einen trat er wissenschaftlich mit Übersetzungen aus dem Talmud und der Mischna sowie Erläuterungen dazu hervor,68 zum anderen wandte er sich der Belletristik zu – 1886 erschien „im Selbstverlage des Verfassers“ seine historische Erzählung Der Rabbi von Liegnitz, in der Sammter mit großer dichterischer Freiheit das Ende der Liegnitzer jüdischen Gemeinde um die Mitte des 15. Jahrhunderts darstellte.69 Ohne dass er seine Vorhaben als Talmudist hätte abschließen können, starb Ascher Sammter am 30. Januar 1887 in Berlin.

IV. Zusammenfassung In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten nur sehr wenige Rabbiner in Schlesien eine höhere Bildung genossen; die meisten verblieben in den gewohnten Bahnen rein talmudischer Gelehrsamkeit. Lediglich der Reformtheologe Abraham Geiger in Breslau ist in diesem Zeitraum mit Arbeiten zu historischen Fragestellungen hervorgetreten. Demgegenüber brachte die zweite Jahrhunderthälfte eine deutliche Aufwertung der wissenschaftlichen Methodik in der Rabbinerausbildung in Mitteleuropa – eine führende Stellung erlangte in dieser Hinsicht das 1854 gegründete jüdisch-theologische Seminar in Breslau. Das Konzept des Gründungsdirektors Zacharias Frankel, der eine Mittlerstellung zwischen Reform und Orthodoxie einzunehmen versuchte, sah eine umfassende Einbeziehung der „Profanwissenschaften“ sowie ein (paralleles) humanwissenschaftliches Studium an einer Universität vor. Neben Religion und Philosophie rückten damit Historismus und Philologie ins Zentrum rabbinischen Interesses. Hein1843 über die Kultus- und Schulverhältnisse der Juden heißt es zum „Cultus-Personal“ ausdrücklich, dass es außer dem Gemeindevorstand in Liegnitz nur einen „unbesoldeten von der Regierung als legitimirt erklärten Rabbinats-Verwalter Kaufmann Marcus Levin, gleichzeitig Vorsteher der Gemeinde“, ferner einen Schächter sowie einen Gemeindediener gebe – Sammter hingegen wurde nicht erwähnt. Vgl. Jehle, Manfred (Hg.): Die Juden und die jüdischen Gemeinden Preußens in amtlichen Enquêten des Vormärz, Bd. 3: Enquête des Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten über die Kultus-, Schul- und Rechtsverhältnisse der jüdischen Gemeinden in den preußischen Provinzen 1843–1845. Provinzen Posen, Schlesien, Sachsen, Westfalen. München 1998 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin 82,3), 989–999, hier 994. 67 Seit 1871 war er auch nicht mehr Mitglied im Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens. 68 Sammter, Ascher: Talmud babylonicum. Traktat Baba mezia, mit deutscher Übersetzung und Erklärung. Berlin 1876; ders.: Mischnaioth. Die sechs Ordnungen der Mischna. Hebräischer Text mit Punktation, deutscher Übersetzung und Erklärung, Tl. 1: Ordnung Sera’im (Aussaat). Berlin 1887, Tl. 2: Ordnung Mo’ed (Festzeiten). Bearb. v. Eduard Ezekiel Baneth. Berlin 1927. In diesem Band stammt nur der „Tractat Sabbath“ (3–50) aus Sammters Feder. 69 Vgl. Anm. 49.

„Wissenschaft ist das Herz des Judentums“

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rich Graetz und sein Nachfolger Markus Brann als Dozenten für jüdische Geschichte und Bibelexegese an diesem Seminar wurden zu Lehrern für eine Reihe von Rabbinern, die ebenfalls als Historiker des Judentums oder als Religionshistoriker hervorgetreten sind. Das allgemein gestiegene Interesse an der Geschichte wurde zudem in der Bildung zahlreicher Vereine für jüdische Geschichte und Literatur auch in Schlesien sichtbar, in denen häufig Rabbiner als Vorstandsmitglieder tätig wurden. Einen Sonderfall stellte Ascher Sammter dar, der sich als Chronist der Liegnitzer Stadtgeschichte einen Namen gemacht hat.

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Anhang

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Verzeichnis der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Prof. Dr. Joachim Bahlcke, Universität Stuttgart, Historisches Institut, Keplerstraße 17, D-70174 Stuttgart Matthias Barelkowski M.A., Birkenstraße 67a, D-10559 Berlin Dr. Urszula Bończuk-Dawidziuk, Muzeum Uniwersytetu Wrocławskiego, ­ pl. Uniwersytecki 1, PL-50-137 Wrocław Prof. Dr. Roland Gehrke, Universität Stuttgart, Historisches Institut, Keplerstraße 17, D-70174 Stuttgart Priv.-Doz. Dr. Michael Hirschfeld, Universität Vechta, Department III, Fach Geschichte, Driverstraße 22, D-49377 Vechta Dr. Dr. h.c. Winfried Irgang, Herder-Institut für historische ­Ostmitteleuropaforschung, Gisonenweg 5-7, D-35037 Marburg an der Lahn Dr. Barbara Kalinowska-Wójcik, Uniwersytet Śląski w Katowicach, Zakład Archiwistyki i Historii Śląska, Instytut Historii, Wydział Nauk Społecznych, ul. Bankowa 11, PL-40-007 Katowice Dr. Dr. h.c. Norbert Kersken, Herder-Institut für historische ­Ostmitteleuropaforschung, Gisonenweg 5-7, D-35037 Marburg an der Lahn Prof. Dr. Andreas Rüther, Universität Bielefeld, Postfach 100131, D-33501 Bielefeld Prof. Dr. Steffen Schlinker, Universität Würzburg, Juristische Fakultät, Domerschulstraße 16, D-97070 Würzburg Dr. Ulrich Schmilewski, Berliner Ring 37, D-97753 Karlstadt Franziska Zach, Universität Stuttgart, Historisches Institut, Keplerstraße 17, D-70174 Stuttgart

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Personenregister Abel, Otto 237 Adler, Solo 352 Adolf von Nassau, röm.-dt. Kg. 242 Agesilaos II., Kg. von Sparta 61 Althoff, Friedrich 17, 23, 99–102, 119– 126, 341f. Ambrosch, Julius Athanasius 56, 204f., 261f., 279 Andreae, Friedrich 62, 64 Aptowitzer, Avigdor 352 Aretin, Karl Maria von 300 Arneth, Alfred Ritter von 254 Arnheim, Heymann 368 Arnim, Bettina von 45 Arnim-Boitzenburg, Adolf von 236 Auerbach, Baruch 347 Aufseß, Hans von und zu 293f., 301 Bach, Carl Daniel David Friedrich 269 Bacher, Wilhelm 352, 375 Baeck, Leo 376 Bahlcke, Joachim 22, 95, 97, 106, 222, 282, 311 Bałaban, Majer 352 Balzer, Oswald M. 193f., 341 Bandtkie, Jerzy Samuel (Georg Samuel) 148, 155, 175f. Bar, Carl Ludwig von 212 Barelkowski, Matthias 23, 103, 126, 221, 224, 335, 342 Barkow, Hans Carl Leopold 267, 279 Baumgarten, Hermann 185 Baumgarten, Marita 95 Baumgarten, Paul Maria 312, 314 Beck, Christian Daniel 161 Becker, Robert 277 Beckhaus, Friedrich Wilhelm Conrad 39 Beloch, Karl Julius 122–125 Berg, Albert 276f. Bergius, Karl Julius 203 Berliner, Abraham 350, 352 Bernays, Jacob 201f. Bernhard von Clairvaux 108 Bernhardi, Theodor (von) 199

Bertram, Adolf Kard. 323 Beseler, Georg 208, 210f. Bezold, Friedrich von 93 Biach, Adolf 349 Biefang, Andreas 189 Binde, Friedrich Robert 10 Binde, Heinrich 8, 10–12 Biow, Hermann 165, 169 Bismarck, Otto von 113, 185, 189, 254, 337f., 340 Bloch, Philipp 352, 375 Bobertag, Bianca (Pseud. Irenäus Wasservogel) 41 Bobertag, Felix 41 Bobrzyński, Michał 341 Böckh, August 229, 231 Böhmer, Johann Friedrich 163 Böhmer, Wilhelm 55f. Böttiger, Karl August 157 Bolko I., Hzg. von Schweidnitz 232 Bończuk-Dawidziuk, Urszula 24 Borghesi, Bartolomeo 198 Brandt, Matthias Heinrich Wilhelm 378 Braniß, Christlieb Julius 204, 346 Brann, Dorothea, geb. Silberberg 342f. Brann, Markus (Marcus) 26, 331, 334, 342–354, 364f., 375, 377, 383 Brann, Salomon 342f. Bredow, Gabriel Gottfried 23, 150–152, 154f., 157, 161 Bredow, Maria (Marie) → Stenzel, Maria (Marie) Bretschneider, Paul 319, 329 Brie, Siegfried 211 Brinbaum, Eduard 352 Brückner, Aleksander 361 Brüggemann, Theodor 87 Brunn, Heinrich 205 Brunner, Heinrich 210 Büsching, Anton Friedrich 131 Büsching, Johann Gustav Gottlieb 21, 23, 65f., 95, 131–158, 170, 222, 258–262, 269, 271, 278–280, 290f. Büsching, Johann Stephan Gottfried 132

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Personenregister

Burchardi, Georg Christian 198 Burckhardt, Jakob 78 Burghardt, Wilhelm 164 Burkard, Dominik 310 Buschan, Georg 11 Caesar, Carl Julius 111 Cäsar (Gaius Iulius Caesar) 207f., 215 Calvin, Johannes 239 Caro, Fam. 332, 353 Caro, Jacob ( Jakob) 26, 78, 80, 112f., 115, 127, 182f., 191–193, 245, 277, 331– 342, 346, 353, 355, 358, 362, 364f. Caro, Jecheskiel 334, 339 Caro, Joseph Heimann 332–334 Carové, Friedrich Wilhelm 81f. Cauer, Eduard 61, 72f., 76f., 105, 109 Cauer, Paul 72, 76, 109 Celichowski, Zygmunt 341 Chrząszcz, Johannes 311, 323–328, 352, 362 Chun, Carl 265, 279 Chwolson, Daniel 352 Cichorius, Conrad 124f., 127, 270 Cohn, Ferdinand J. 340 Cohn, Jakob 376f. Cohn, Willy 248, 352 Conrads, Norbert 217 Cornelius, Carl Adolf (von) 58–60, 62f., 73, 86f., 106f., 127 Dahl, Johann Christian Clausen 270 Dahn, Felix 13, 96 Darwin, Charles 271 Dautieux, Joseph 290 Delbrück, Gottlieb 174 Delbrück, Hans 93, 121 Demandt, Alexander 208 Dernburg, Heinrich 208 Deutsch, Emanuel 343, 352, 376f. Diepenbrock, Melchior Kard. von 103, 105, 162 Dilthey, Wilhelm 30, 77, 125f., 185, 212 Diodor von Sizilien 61 Dippoldt, Hans Karl 161 Długosz, Jan 113, 176 Dorow, Wilhelm 259

Dove, Alfred 62, 64, 118f., 125–127, 212, 225, 227, 248 Dove, Heinrich Wilhelm 118 Drechsler, Paul 362 Droysen, Hans 69, 74–76 Droysen, Johann Gustav 19, 69, 75f., 93, 106, 114, 227, 235 Droysen, Zoe 76 Dümmler, Ernst 230, 251 Duncker, Maximilian (Max) 173, 183–185, 190, 224f., 227 Dybowski, Benedykt 265 Działyński, Jan 335, 341 Działyński, Tytus 176, 182 Ebers, Johann Jacob Heinrich 148, 155 Ebert, Andreas D. 338 Eichendorff, Fam. 321f. Eichendorff, Joseph von 321 Eichhorn, Karl Friedrich 162 Einhard 151 Elbogen, Ismar 346f., 351–353, 358 Elvenich, Peter Joseph 87 Elvert, Christian d’ 289 Epstein, Abraham 352 Erdmann, Johann Eduard 379 Erdmannsdörffer, Bernhard 33, 77, 114f., 117, 126f. Ergetowski, Ryszard 341 Ermisch, Hubert 361 Eschenloer, Peter 146, 152 Falk, Adalbert 114, 117 Felder, Johann Franz Friedrich 258 Fester, Richard 116, 126 Feuchtwang, David 352 Finke, Heinrich 108 Finkel, Ludwik 192 Fiorillo, Johann Dominik 138, 157 Flügge, Carl 270 Förster, Heinrich 238 Foerster, Richard 263f., 270, 278f. Fontane, Martha 250 Fontane, Theodor 250 Forst de Battaglia, Otto 85f. Fraenckel, Jonas 369, 371 Fränkel, Arthur 80

Personenregister

Frankel, Zacharias 26, 345, 349–351, 367, 370, 372f., 379, 382 Freimann, Aron 351f., 375 Freudenberg, Elias 146 Freudenthal, Max 375 Freytag, Gustav 13, 58, 118f., 187f., 191, 217f., 225f., 231, 235, 237f., 246, 253 Friedrich II., der Große, Kg. von Preußen 24, 231, 234–237, 240, 244, 254 Friedrich III., dt. Ks. 207, 340 Friedrich Wilhelm, Kfst. von Brandenburg 114 Friedrich Wilhelm III., Kg. von Preußen 163, 258, 380 Friedrich Wilhelm IV., Kg. von Preußen 25, 87f., 105, 139, 161, 179, 281, 284, 289, 294–296, 301 Fritzler, Karl 75 Garve, Christian 42 Gaschin, Fam. 322 Gatz, Erwin 310 Gaupp, Ernst Theodor 153f. Gebhardt, Eduard von 228 Gehrke, Roland 22, 223–225, 282 Geiger, Abraham 368f., 372, 379, 382 Geiger, Ludwig 358 Gelber, Nathan 352 Gelzer, Heinrich 123, 125 Gerhard, Eduard 278 Gerlich, Hubert 187f. Gersdorff, Carl August von 139 Gervinus, Georg Gottfried 179, 182 Geysmer, Henriette Magdalena → Roepell, Henriette Magdalena Gfrörer, Franz 74 Giela, Joachim 323 Gierke, Otto Friedrich (von) 24, 208–215 Giesebrecht, Wilhelm (von) 167 Gitzler, Ludwig Anton 206 Göbel, Johann Wilhelm von 143 Goethe, Johann Wolfgang von 58, 139, 157, 253, 260 Göppert, Heinrich Robert 266f., 270, 272, 276, 279 Görlich, Franz Xaver 310, 328 Goetz, Walter 116

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Gołąb, Stanisław 363 Gorzelik, Jerzy 320 Goßler, Gustav von 93, 107, 111, 122 Gothein, Eberhard 60f., 77 Gotzmann, Andreas 344 Graetz, Heinrich 113f., 345–347, 349– 353, 364, 372–374, 382f. Gravenhorst, Johann Ludwig Christian Carl 264f., 279 Grempler, Wilhelm 273f. Grimm, Jacob 137 Grisar SJ, Hartmann 307 Gross, Heinrich 375 Großmann, Maximilian von 160 Grotefend, Hermann 233 Grube, Adolph Eduard 265, 279 Grünhagen, August 218 Grünhagen, Colmar 24, 59, 67, 73, 111f., 126f., 144, 217–254, 273, 318, 346, 355, 359 Grünhagen, Elisabeth, geb. Spieler 228, 252 Grünhagen, Johanna, geb. Riedel 219f. Grünhagen, Theresia, geb. Karwig 219 Güdemann, Moritz 375 Günsburg, Karl Siegfried 45f. Günter, Heinrich 109 Gutschmid, Alfred von 110 Guttmann, Jakob 374 Haas, Heinrich 299 Haas, Sebastian 185 Haase, Friedrich 76, 203 Häusler, Wilhelm 233 Hagen, Friedrich Heinrich von der 51, 132, 136f., 139, 142, 157 Halberstam, Salomon 349f. Haller, Johannes 116 Halling, Carl 56f. Hałub, Marek 131 Hardenberg, Karl August von 151 Harnack, Adolf (von) 211 Hase, Karl Benedikt 202, 229 Hasse, Carl 267f. Hasse, Heinrich Friedrich 263f. Hassel, Paul 298f. Haupt, Moriz 199 Haym, Rudolf 185

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Personenregister

Hecht, Emanuel 349 Hedwig von Andechs-Meranien 238f., 245 Heeren, Arnold 162, 173, 175, 335 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 82 Hegel, Eduard 315 Heidenhain, Rudolf 270 Heinke, Ferdinand 69, 83f., 105 Helcel, Antoni Zygmunt 181, 335 Helena Pawlowna, Großfstn. von Russland, geb. Pzn. Friederike Charlotte Marie von Württemberg 337 Henckel von Donnersmarck, Guido 359 Henckel von Donnersmarck, Lazarus 87 Henzen, Wilhelm 202 Heppner, Aron 352 Herder, Johann Gottfried 372 Hermann, Gottfried 161f. Hertz, Martin 69, 121f. Herzig, Arno 166 Herzog, Robert 319 Heyne, Johann 308f. Hickmann, Fritz 165 Hildebrand, Bruno 57, 83, 164, 336f. Hillger, Hermann 12 Hintze, Erwin 276 Hintze, Otto 74 Hirsch, Siegfried 230 Hirschfeld, Michael 25 Hirschfeld, Otto 110 Hirzel, Fam. 189 Hitzig, Ferdinand 116, 201f. Hochberg, Fam. 347, 354f., 359, 361–363 Hochberg, Hans Heinrich XI. von, Fst. von Pless 356, 361 Hochberg, Hans Heinrich XV. von, Fst. von Pless 361 Höcker, Adalbert Longin 270 Hoffmann, Hermann 308, 312, 329 Hoffmann von Fallersleben, August Heinrich 262, 279 Holle, Ludwig 115 Holtei, Karl von 340 Holtzmann, Robert 115 Homeyer, Carl Gustav 209f. Hüffer, Georg 107f., 127 Hüppe, August 270 Humboldt, Alexander von 200, 281

Humboldt, Wilhelm von 132 Hus, Jan 239 Huschke, Eduard 203 Irgang, Winfried 26 Jacobi, Theodor 57f., 60, 67, 78f., 85, 163 Jahn, Friedrich Ludwig 237, 261 Jahn, Otto 116, 199, 201–203, 205 Janitsch, Julius 277 Jarick, Johann Karl Friedrich 134, 153 Jochmann, Gottlob 380 Johann von Luxemburg, Kg. von Böhmen 79 Jung, Eligius Alois 149f., 154 Jungnitz, Joseph 25, 278, 309, 316–320, 328f. Junkmann, Wilhelm 52, 54f., 106–109, 112, 114, 127, 346 Justinian I., röm. Ks. 198 Jutrosinski, Moritz 183f., 191 Kahlert, August 269 Kalinowska-Wójcik, Barbara 26, 112, 245, 375 Kampers, Franz 86, 108f., 127 Kanngießer, Peter Friedrich 147, 155f. Karl Anton, Fst. von Hohenzollern-Sigmaringen 284 Karl der Große, Ks. 151 Karpeles, Gustav 352 Karwig, Theresia → Grünhagen, Theresia Kaufmann, David 349–352, 364 Kaufmann, Georg 13, 34f., 54f., 116f., 127 Kayserling, Meyer 349 Kephalides, August Wilhelm 71 Kersken, Norbert 23, 95, 222 Kessler, Wolfgang 311 Kętrzyński, Wojciech 341 Keutgen, Friedrich 115 Kietz, Gustav Adolph 239 Klaatsch, Hermann 268, 279 Klein, Fam. 289f. Klein, Franz Nikolaus 289f. Kleineidam, Erich 307, 309 Klose, Samuel Benjamin 147, 155, 163 Klüber, Johann Ludwig 144

Personenregister

Klueting, Harm 309 Knies, Karl 77 Knobel, August 83f. Knöpfler, Alois 316 Knötel, Paul 362 Knossalla, Josef 329 Knot, Antoni 184 Koch, Julius 80 Kögler, Joseph 310 Köhler, Ulrich 123 König, Johann Heinrich Christoph der Ältere 270 Kohn, Gustav 348 Kollenscher, Max 364 Kopfstein, Max 352, 376 Kopp, Georg Kard. (von) 278, 319, 322 Korn, Georg 224 Korn, Heinrich von 274 Koser, Reinhold 93, 95, 121 Kossinna, Gustav 142 Kraepelin, Emil 98 Kraffert, Adalbert Hermann 381 Kraus, Andreas 154 Kraus, Franz Xaver 312, 314 Kraushar, Aleksander 192, 341 Krebs, Julius 59, 62, 64, 71f., 80 Kries, Karl Gustav 57, 79, 95, 163 Krusch, Bruno 171 Kruse, Ernst 59, 74 Kruse, Friedrich Karl Hermann 153, 155f. Kükenthal, Willy 265, 279 Kürschner, Joseph 11–13 Kugler, Bernhard 119 Kunisch, Johann Gottlieb 146, 151f., 155 Kunkler, Adolph 270 Kutzen, Joseph August 55–57, 60f., 69, 71, 73, 78f., 84, 87f., 102f., 107, 127 La Curne de Sainte-Palaye, Jean-Baptiste de 144f. Lachmann, Karl Heinrich 57, 65, 69f. Lachmann, Karl 69, 229, 233 Ladenberg, Adalbert von 103, 105 Laemmer, Hugo 313f. Lamprecht, Karl 241, 246, 251 Laubert, Manfred 61f., 179 Ledebur, Leopold von 293f.

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Leist, Friedrich 143 Lelewel, Joachim 176 Lemme, Ludwig 212 Lengnich, Gottfried 176 Lenz, Max 93f., 121, 127 Leo, Heinrich 78, 174f. Levin, Marcus 382 Lewin, Louis 352 Lewy, Israel 351f. Liebermann, Felix 358 Lindner, Theodor 61, 72, 77f. Loening, Edgar 208 Loening, Richard 208 Löschecke, Georg 111 Loewe, Viktor 245 Löwit, Richard 348f. Lucae, Friedrich 36f. Luchs, Hermann 220f., 246, 272f. Luther, Martin 239 Maercker, Traugott 297–299 Maetschke, Ernst 318 Maier, Lothar 181, 187f. Maimonides, Moses (Moses Ben Maimon) 351 Majer, Friedrich 145 Manso, Johann Kaspar Friedrich 147, 155, 257f. Marbach, Christian August Hermann 41 Markgraf, Hermann 162, 232, 243, 247, 318, 323 Marx, Alexander 352 Masner, Karl 276 Massow, Ludwig von 298 Mattersberger, Joseph 269 McClelland, Charles E. 15 Meinardus, Otto 236, 245, 247 Melanchthon, Philipp 239 Menzel, Adolph 283 Menzel, Karl Adolf 150, 155f. Metternich, Klemens Wenzel Lothar von 181 Meyer, Arnold Oskar 34, 69 Meyer, Eduard 23, 121, 123–125, 127 Meyer, Ernst 364 Meyer, Oskar Emil 69, 115 Mierosławski, Ludwik 187

392

Personenregister

Mikulicz-Radecki, Johann von 270f. Miquel, Johannes von 249 Misner, Leopold 349 Mommsen, Theodor 9, 19, 24, 96, 109f., 116, 122–124, 185, 193f., 197–208, 213, 215 Moraw, Peter 93 Morgenbesser, Michael 147, 150, 155 Mosbach, August 164, 335 Movers, Franz 203 Mrzygłód, Łukasz 325 Muck, Georg 302 Mücke, Ernst 219 Mücke, Heinrich 270 Mücke, Johann Theophil 229 Mühler, Heinrich von 55, 112, 222f., 337 Müller, Carl Friedrich Wilhelm 270 Müller, Johannes von 162 Müller, Karl (von) 312, 316 Muhr, Abraham 347 Muratori, Lodovico Antonio 217 Nadbyl, Bernhard 48f. Naruszewicz, Adam 176 Naumann, Friedrich 102 Naunyn, Bernhard 33 Nees von Esenbeck, Christian Gottfried Daniel 265f., 279 Negwer, Josef 308, 312 Nehring, Władysław 98f., 340, 354f., 361 Neisser, Albert 268 Neuling, Hermann 220 Neumann, Karl 66f., 75, 77, 110, 112, 114, 127 Neumann, Karl Johannes 125 Niebuhr, Barthold Georg 167, 177, 284 Niese, Benedikt 80, 111, 121, 127 Nirdamin, Mekize 350 Nissen, Heinrich 110 Nitzsch, Karl Immanuel 162 Noorden, Carl von 117 Nordenflycht, Ferdinand von 118 Nostitz-Rieneck, Christoph Wenzel von 293 Nowack, Alfons 311, 324f., 329 Nürnberger, Augustin 308 Nyerup, Rasmus 158

Oberländer, Adolf 40 Oelsner, Ludwig 115 Olfers, Ignaz von 301f. Olshausen, Justus 222 Oppenheim, Heinrich Bernhard 45 Oppersdorf, Fam. 322 Otto, Adolph Wilhelm 267, 279 Otto, Karl 317 Otto, Walter 61 Palacký, František 239f. Panofek, Theodor 278 Paritius, Christian Friedrich 147, 150 Partsch, Joseph 110, 240 Passow, Christine, geb. Wachler 157 Passow, Franz 152, 157, 258, 261f., 278f. Paur, Theodor 65, 71, 84f., 163 Peritz, Moritz 376f. Perlbach, Max 243 Perles, Joseph 375 Perthes, Andreas 173 Perthes, Friedrich 173, 175 Pertz, Georg Heinrich 163 Petzl, Joseph 270 Philipp I., der Großmütige, Landgf. von Hessen 239 Philippson, Martin 352, 358 Pieper, Anton 314 Pinkus, Max 352 Piontek, Ferdinand 308, 312 Pius IX., Papst 205 Platon 262 Plutarch 151 Pöhlmann, Robert 122 Pölitz, Karl Heinrich Ludwig 163 Pol, Nikolaus 146, 152 Potkański, Karol 341 Potthast, August 323 Praschma, Fam. 322 Preuß, Georg Friedrich 64, 115f., 127 Preuß, Hugo 214 Preuß, Johann David Erdmann 285f. Priebatsch, Felix 173, 188, 191, 195, 363 Przeździecki, Aleksander 341 Puttkamer, Robert Viktor von 110f. Pyka, Marcus 344

Personenregister

Rachfahl, Felix 116, 162, 167, 169 Raczyński, Edward 176, 182 Rahmer, Moritz 375 Rambach, Ernst Theodor Ludwig 41f. Ranke, Leopold (von) 19, 25, 30, 77–79, 163, 167, 174, 177, 179, 229f., 235, 286, 295, 299f. Raumer, Karl Georg von 264, 279 Raumer, Karl Otto von 101, 105 Raumer, Friedrich von 144, 151, 154–157 Raumer, Georg Wilhelm von 295–297 Reiche, Samuel Gottfried 135 Reifferscheid, August 75, 115 Reimann, Eduard 164 Rhode, Johann Gottlieb 138, 156 Riedel, Adolph Friedrich Johann 224, 226 Riedel, Johanna → Grünhagen, Johanna 219 Rieger, Paul 352 Rippner, Benjamin 375 Ritschl, Friedrich Wilhelm 262, 279 Ritter, Heinrich 161f. Ritter, Joseph Ignaz 151f. Robert, Carl 278 Roehl, Johann Karl Emil 275 Römer, Carl Ferdinand 204 Roepell, Carl 184 Roepell, Henriette Magdalena, geb. Geys- mer 174f. Roepell, Max Gerhard 174 Roepell, Richard 13, 22–24, 54, 62, 72, 78, 80, 103–106, 109, 112–117, 121, 127, 170, 173–195, 202–204, 213, 221f., 224, 273, 335, 340–342, 346, 354f., 358, 362, 381 Roepell, Richard jun. 174 Ropp, Goswin von der 93f., 121, 127 Rosin, Heinrich 212f. Roßbach, August 121f., 205, 263f., 278f. Rostock, Sebastian von 317 Rotteck, Karl von 190 Rottenberg-Endersdorf, Theresia von → Stillfried-Rattonitz, Theresia von Rückert, Heinrich 245, 340 Rühl, Franz 123 Rüther, Andreas 24, 111 Rustejko, Józef 341

393

Sabisch, Alfred 309 Sachs, Michael 380 Sallet, Friedrich von 84f. Sammter, Ascher 368, 378–383 Sammter, Leiser (Lazarus) 378 Samter, Tobias 376f. Sascke, Robert 164 Sauerampfer, Bonaventura → Waltz, Gustav Saurma-Jeltsch, Fam. 320, 322 Savigny, Friedrich Carl von 45, 213 Sayn-Wittgenstein-Berleburg, August Ludwig zu 295 Schäfer, Dietrich 23, 107, 119–121, 125, 127 Schaffgotsch, Fam. 87, 293 Schaffgotsch, Karl Gotthard Wenzeslaus von 87f. Schaffgotsch, Leopold Gotthard von 293 Schaumann, Adolf 229 Scheffel, Joseph Victor von 11 Scheibel, Johann Gottfried 156 Schiemann, Theodor 64 Schirren, Carl 118 Schleiermacher, Friedrich 9 Schleinitz, Alexander von 298f. Schleinitz, Johann Eduard von 112, 222f. Schlinker, Steffen 24, 96, 237 Schlosser, Friedrich Christoph 30, 161f. Schmidt, Julian 185 Schmidt, Julius 164 Schmidt, Leopold 111 Schmidt, Ludwig 109 Schmidt, Martin Heinrich August 378 Schmidt, Wilhelm Adolf 336f. Schmilewski, Ulrich 23, 95, 222 Schmölders, Franz August 346 Schmoller, Gustav 246, 251 Schneider, Anton Friedrich 265, 279 Schneider, Johann Gottlob Theaenus 134, 260 Schneider, Karl Ernst Christoph 204, 261 Schön, Theodor von 138, 140, 158 Schönborn, Fam. 204 Schönborn, Karl Gottlob 203f. Schöndorf, Friedrich 363 Schröder, Richard 210 Schrör, Heinrich 316

394

Personenregister

Schubert, Ernst 86 Schulte, Aloys 107–109, 127, 251 Schulte, Lambertus (Wilhelm) 233 Schultz, Alwin 273, 277 Schulz, David 269 Schulze, Hermann 212 Schulze, Johannes 106 Schulze-Delitzsch, Hermann 187f. Schulze-Gävernitz, Hermann von 237 Schwarz, Adolf 375 Schweinichen, Hans von 146 Schweter, Joseph 329 Sdralek, Lukas 312 Sdralek, Max 308, 311–317, 327 Seeck, Otto 111 Seger, Hans 274f., 279 Seppelt, Franz Xaver 308, 319 Sextus Papirius 205 Seydewitz, Otto Theodor von 99, 111, 242 Siegert, Heinrich 270 Silberberg, Dorothea → Brann, Dorothea Sinzheimer, Hugo 213 Sochacka, Stanisława 354 Spieler, Elisabeth → Grünhagen, Elisabeth Spieler, Marie 228 Sprickmann, Anton Matthias 51 Steffens, Henrik (Heinrich) 41, 42, 66, 264, 269 Stein, Walther 80f. Stein zum Altenstein, Karl vom 60, 69, 101, 166 Steinbeck, Aemil 360 Stenzel, Fam. 77, 160 Stenzel, Balthasar 163 Stenzel, Gustav Adolf Harald 23, 25, 53f., 62f., 72, 75, 77, 79, 85, 88, 95, 102, 105f., 109, 116, 120, 127, 152–155, 157, 159–171, 175, 179, 182, 192, 217, 220, 222, 230, 234, 254, 258, 260, 290– 292, 354 Stenzel, Karl Gustav Wilhelm 77, 165 Stenzel, Maria (Marie), geb. Bredow 23, 157, 160f. Stenzler, Adolf Friedrich 62, 204 Stier-Somlo, Fritz 363 Stillfried-Alcántara, Rudolf von 25, 88, 164, 281–303

Stillfried-Rattonitz, Karl Maria Ignaz von 281, 290, 293 Stillfried-Rattonitz, Theresia von, geb. von Rottenberg-Endersdorf 281, 290 Stobbe, Otto 210, 340 Stoehr, Hans Adam 49 Stolberg-Wernigerode, Eberhard von 112, 223 Streit, Karl Konrad 149, 155 Studt, Conrad von 107 Stutz, Ulrich 211, 213f. Sybel, Heinrich von 106, 179, 190, 220, 242, 244 Taubadel, Ernst Balthasar Siegmund von 250 Thiers, Adolphe 207 Thilenius, Georg 268, 279 Thilo, Ludwig 41 Thomsen, Christian Jürgensen 141, 158, 259f. Tiele-Winckler, Fam. 359 Tiktin, Gedalja 372 Tiktin, Salomon 368 Treitschke, Heinrich von 33, 118f., 189– 192, 194, 218, 240, 244 Treviranus, Ludolf Christian 265, 279 Troll, Johann Heinrich 270 Tykocinski, Haim 351 Tzschoppe, Gustav Adolf 162f. Ukert, Friedrich August 173, 175, 335 Unger, Georg Friedrich 124 Urban II., Papst 229 Usinger, Rudolf 115 Vahlen, Johannes 205 Varrentrapp, Conrad 119 Vogel, Daniel 258 Vogt, Carl 271f. Voigt, Johannes 191f. Volkov, Shulamit 357 Wachler, Christine → Passow, Christine Wachler, Ludwig 79, 84, 134, 144, 152, 154–157, 165f., 171, 179, 290 Wachsmuth, Kurt 124

Personenregister

Wachsmuth, Wilhelm 335 Wachter, Franz 236 Wagner, Wilhelm 262, 279 Waitz, Georg 229f. Waltz, Gustav (Pseud. Bonaventura Sauerampfer) 40 Warschauer, Adolf 182f., 191, 358f. Wasservogel, Irenäus → Bobertag, Bianca Wattenbach, Fam. 201 Wattenbach, Wilhelm 126, 201, 220–225, 230–234, 251, 253f., 381 Weber, Friedrich Benedict 269 Weber, Georg 30 Weber, Max 214 Weber, Wolfgang 307 Wehrenpfennig, Wilhelm 244 Weidlich, Gustav 355 Weinhold, Karl 58, 119, 245 Weißenborn, Hermann 229, 233 Weizsäcker, Julius 74 Welcker, Carl Theodor 201 Weltzel, Fam. 320 Weltzel, Augustin 311, 320–323, 325f., 328 Wenck, Helfrich Bernhard 162 Wendt, Heinrich 217, 318 Werminghoff, Albert 115 Werner, Anton von 10f. Wickert, Lothar 204 Wieacker, Franz 210 Wiechota, Johann 290

395

Wieland, Ernst Karl 161 Wielopolski, Aleksander 181, 186 Wierzbowski, Teodor 341 Wilamowitz-Moellendorf, Ulrich von 124 Wilcken, Ulrich 80, 122–125, 127 Wilhelm I., dt. Ks. 211, 282f., 285 Willmann, Michael Leopold 280 Wilpert, Oskar 324 Winners, Richard 78 Wittig, Joseph 308, 311f., 314–316, 327 Wolff, Christian (von) 42 Wolff, Heinrich 169 Worbs, Johann Gottlob 134, 149, 155, 171 Wutke, Konrad 232, 359–361 Wuttke, Heinrich 79, 164, 168, 335f. Xenophon 61 Yorck von Wartenburg, Paul 212 Zach, Franziska 25, 164 Ziekursch, Johannes 50, 61, 127, 228, 235 Zimmermann, Friedrich Albert 155 Zitelmann, Ernst 208 Zivier, Fam. 353f. Zivier, Ezechiel 26, 331, 341, 347, 351–365 Zoll, Fryderyk 363 Zuckermann, Benedict 347 Zunz, Leopold 379 Zwingli, Huldrych 239 Zycha, Adolf 361

396

Ortsregister Aachen 74 Altenburg 336 Amanweiler (frz. Amanvillers) 224 Augsburg 239, 375 Bad Ems 376 Bad Landeck (poln. Lądek-Zdrój) 316 Bad Reichenhall 250 Bad Salzbrunn (poln. Szczawno-Zdrój) 362 Bad Warmbrunn (poln. Cieplice ŚląskieZdrój) 70, 87, 164, 250, 381 Baitzen (poln. Byczeń) 310 Bardo → Wartha Bayreuth 299 Berlin 10f., 14f., 18, 23, 33, 36, 41, 44f., 48, 52, 54, 56f., 59, 62, 64, 66, 69, 73–75, 78, 80, 83, 86, 88f., 93, 95, 99, 106, 108, 110–112, 121, 123, 126, 132, 136, 139f., 151, 153, 155, 157f., 160–162, 168, 174, 177, 187, 190, 194, 197, 199– 202, 207–212, 214, 219, 222–225, 227, 229–231, 235–237, 239, 244, 276f., 279, 281, 284, 289f., 294f., 297, 299, 301f., 321, 323, 333–335, 342f., 345, 347, 351, 356, 358f., 361, 364, 376, 378–380, 382 Bernstadt (poln. Bierutów) 377 Beuthen O.S. (poln. Bytom) 376f. Biała → Zülz Bierutów → Bernstadt Bolesławiec → Bunzlau Bologna 238 Bonn 18, 39, 52, 54, 105f., 109, 119, 139, 152, 157, 201, 205, 208, 225, 241, 259, 265, 307, 316, 372 Braniewo → Braunsberg Braunsberg (poln. Braniewo) 52, 54, 73, 87, 106f. Breslau (poln. Wrocław) 8–10, 12f., 16, 18f., 21–26, 30, 33–36, 41–91, 93–100, 102–127, 131–136, 138f., 141, 144– 168, 173–175, 177–179, 181f., 184– 186, 188–190, 193–195, 197–202,

204–208, 210–213, 218–234, 237, 240f., 243, 247f., 250f., 253f., 257–281, 290–292, 294, 297, 307–309, 311–320, 323–325, 327–329, 331, 333–335, 337–341, 344–347, 349–356, 358– 365, 368–374, 376f., 379, 381f. Brieg (poln. Brzeg) 69f., 151, 168, 233, 244 Brno → Brünn Bromberg (poln. Bydgoszcz) 333 Brünn (tsch. Brno) 235, 244, 321 Brüssel (frz. Bruxelles) 181, 244 Bruxelles → Brüssel Brzeg → Brieg Budapest 349, 352, 370, 375 Bunzlau (poln. Bolesławiec) 148 Byczeń → Baitzen Bydgoszcz → Bromberg Bystrzyca Kłodzka → Habelschwerdt Bytom → Beuthen O.S. Chełmno → Kulm Chełmża → Kulmsee Chojnów → Haynau Chorzów → Königshütte Cieplice Śląskie-Zdrój → Bad Warmbrunn Coburg 336 Cosel (poln. Koźle) 321, 377 Cottbus 80 Danzig (poln. Gdańsk) 54, 140, 174, 176, 183f., 375 Derenburg 378 Dessau 375 Deutsch Krone (poln. Wałcz) 343 Deutsch Müllmen (poln. Wierzch) 323 Dirschau (poln. Tczew) 334 Dobrodzień → Guttentag Dorpat (estn. Tartu, russ. Jur‘ev) 33, 80, 111, 153 Dresden 58, 118, 139, 157, 190, 235, 244, 288, 335, 361, 363, 381 Eiderstedt 197 Eisenach 12, 81

Ortsregister

Eisenstadt 377 Elbing (poln. Elbląg) 376 Elbląg → Elbing Erfurt 105, 184f., 334 Erlangen 74, 93, 122, 132, 299 Fischbach (poln. Karpniki) 289 Flensburg 148 Frankenstein (poln. Ząbkowice Śląskie) 69, 71, 310 Frankfurt am Main 45, 106, 115, 157, 165, 182, 237, 279, 339, 342, 351, 358 Frankfurt an der Oder 11, 41, 133f., 148– 151, 155 Freiburg im Breisgau 14, 108, 212, 251, 313, 316 Friedeberg am Queis (poln. Mirsk) 149 Garding 197 Gardione Riviera 228 Gawronki → Klein Gaffron Gdańsk → Danzig Genève → Genf Genf (frz. Genève) 363 Gießen 93f., 116, 336 Glatz (poln. Kłodzko) 149, 310 Gleiwitz (poln. Gliwice) 312, 324, 326, 360, 362 Glindenberg 148 Gliwice → Gleiwitz Glogau (Groß-Glogau, poln. Głogów) 149f., 279, 368, 375, 377, 379 Głogów → Glogau Głubczyce → Leobschütz Gnesen (poln. Gniezno) 26, 139, 332f., 364 Gniew → Mewe Gniezno → Gnesen Görlitz 139, 264, 279, 301 Göttingen 32, 35, 74, 81, 124, 131, 152f., 155, 157 Goldberg (poln. Złotoryja) 184 Góra → Guhrau Gotha 12, 147, 152, 335, 362 Graudenz (poln. Grudziądz) 139 Graz 251 Greifswald 66, 114, 124, 148, 207, 294

397

Grimma 61 Groß Strehlitz (poln. Strzelce Opolskie) 329, 377 Groß Wartenberg (poln. Syców) 184 Groß-Glogau → Glogau 10 Grudziądz → Graudenz Grünberg (poln. Zielona Góra) 150, 377 Guhrau (poln. Góra) 317 Guttentag (poln. Dobrodzień) 321 Habelschwerdt (poln. Bystrzyca Kłodzka) 308 Halberstadt 378 Halle an der Saale 54, 72f., 76, 116, 120, 122f., 132, 148f., 153, 155, 174, 177, 208, 229, 379 Hamburg 163, 181, 236, 268, 276, 358 Hannover 229, 235 Haynau (poln. Chojnów) 184 Hechingen 282 Heidelberg 30, 40, 45, 82f., 117, 126, 151, 161, 201, 209, 211, 220f., 230, 237, 372 Heinrichau (poln. Henryków) 163 Heilsbronn 287, 300, 302 Helmstedt 143, 150 Henryków → Heinrichau Hermsdorf unterm Kynast (poln. Sobieszów) 293 Hildesheim 204 Himmelwitz (poln. Jemielnica) 141 Hirschberg (poln. Jelenia Góra) 25, 87, 281, 292, 377 Hradec Králové → Königgrätz Innsbruck 18 Jauernig (poln. Javorník) 319 Javorník → Jauernig Jegłowa → Riegersdorf Jelcz → Jeltsch Jelenia Góra → Hirschberg Jeltsch (poln. Jelcz) 320 Jemielnica → Himmelwitz Jena 41, 73, 106, 113, 115, 119, 123, 125, 147f., 152, 155, 208, 219, 229, 231, 237, 244, 258, 297, 333, 336f., 364f., 379

398

Ortsregister

Jerusalem 379 Jordanów Śląski → Jordansmühl Jordansmühl (poln. Jordanów Śląski) 274 Jur’ev → Dorpat Kaliningrad → Königsberg i. Pr. Kamienna Góra → Landeshut Karlovy Vary → Karlsbad Karlsbad (tsch. Karlovy Vary) 250 Karlsruhe 251, 375 Karpniki → Fischbach Katowice → Kattowitz Kattowitz (poln. Katowice) 354, 359, 361, 376f. Kempen (poln. Kępno) 358 Kępno → Kempen Kiel 106, 115f., 118, 198 Klein Gaffron (poln. Gawronki) 153 Kłodzko → Glatz Kluczbork → Kreuzburg O.S. København → Kopenhagen Koblenz 81, 290 Köln 74, 80, 251, 364 Königgrätz (tsch. Hradec Králové) 208, 224 Königsberg i. Pr. (russ. Kaliningrad) 123, 139, 243, 283, 339 Königshütte (poln. Chorzów) 377 Kopenhagen (dän. København) 139, 141, 158, 259 Kórnik → Kurnik Kowary → Schmiedeberg Koźle → Cosel Krakau (poln. Kraków) 148, 175, 192, 335, 341, 363 Krapkowice → Krappitz Krappitz (poln. Krapkowice) 325 Kreuzburg O.S. (poln. Kluczbork) 237 Kulm (poln. Chełmno) 139 Kulmsee (poln. Chełmża) 139 Kurnik (poln. Kórnik) 335, 341 Kwidzyn → Marienwerder Lądek-Zdrój → Bad Landeck Landeshut (poln. Kamienna Góra) 69 Langenberg 80 Legnica → Liegnitz

Leipzig 18, 42f., 47, 53, 58, 62, 80, 83, 118, 124, 155, 159–161, 167f., 170, 189, 198f., 201, 250f., 297, 333f., 336, 343 Lemberg (ukr. Ľviv, poln. Lwów) 334, 336, 339, 341 Leobschütz (poln. Głubczyce) 323f. Leubus (poln. Lubiąż) 70, 144, 317 Liegnitz (poln. Legnica) 118, 150, 184, 290, 368, 377–383 Lodz (poln. Łódź) 334 Łódź → Lodz London 235f., 238, 244 Lubiąż → Leubus Lublin 148 Lubliniec → Lublinitz Lublinitz (poln. Lubliniec) 377 Ludwigslust 152 Ľviv → Lemberg Lwów → Lemberg Magdeburg 235, 375, 378 Marburg an der Lahn 57, 80, 106, 111, 118f., 121, 152, 376 Marienwerder (poln. Kwidzyn) 139 Meiningen 336 Metz 224 Mewe (poln. Gniew) 139 Mikołów → Nikolai Mionów → Polnisch Müllmen Mirsk → Friedeberg am Queis München 18, 61, 74, 86, 108, 115, 244, 300, 316, 358, 375 Münster/Westfalen 52, 54, 58, 72, 87, 106, 108f., 307, 314, 316 Mysłowice → Myslowitz Myslowitz (poln. Mysłowice) 377 Namslau (poln. Namysłów) 184 Namysłów → Namslau Neisse (poln. Nysa) 71, 84f., 377 Neu Altmannsdorf (poln. Starczówek) 329 Neumarkt (poln. Środa Śląska) 161, 165, 317 Neurode (poln. Nowa Ruda) 279 Neustadt O.S. (poln. Prudnik) 321, 323– 326 Neuwied 259

Ortsregister

Nieder Mois (poln. Ujazd Dolny) 317 Nikolai (poln. Mikołów) 377 Nowa Ruda → Neurode Nürnberg 375 Nysa → Neisse Ober Mois (poln. Ujazd Górny) 317 Oels (poln. Oleśnica) 184, 218 Ohlau (poln. Oława) 72, 279, 320 Oława → Ohlau Oldenburg (Oldb.) 153 Ołdrzychowice Kłodzkie → Ullersdorf Oleśnica → Oels Opole → Oppeln Oppeln (poln. Opole) 324, 327, 368, 376f. Ostrów Wielkopolski → Ostrowo Ostrowo (poln. Ostrów Wielkopolski) 333 Paderborn 108 Padova → Padua Padua (ital. Padova) 238 Paris 181 Pasewalk 376 Peiskretscham (poln. Pyskowice) 323, 325, 327 Pest → Budapest Petrikau (poln. Piotrków Trybunalski) 354 Piła → Schneidemühl Pilsen (tsch. Plzeň) 334 Pinne (poln. Pniewy) 332f. Piotrków Trybunalski → Petrikau Pless (poln. Pszczyna) 312, 347, 355f., 359–361, 363, 365, 377 Plzeň → Pilsen Pniewy → Pinne Polnisch Müllmen (poln. Mionów) 323 Posen (poln. Poznań) 70, 139, 182–184, 187f., 331, 333, 339, 342f., 350, 358, 364, 375, 379 Potsdam 73 Poznań → Posen Prag (tsch. Praha) 235, 244, 273, 301, 324, 349, 361, 370, 381 Praha → Prag Priebus (poln. Przewóz) 149 Prudnik→ Neustadt O.S. Przewóz → Priebus

399

Pszczyna → Pless Pyskowice → Peiskretscham Quedlinburg 218 Racibórz → Ratibor Radzionkau (poln. Radzionków) 329 Radzionków → Radzionkau Radzyń Chełmiński → Rheden Ratibor (poln. Racibórz) 320f., 377 Raudten (poln. Rudna) 153 Rawicz → Rawitsch Rawitsch (poln. Rawicz) 342f. Rheden (poln. Radzyń Chełmiński) 139 Riegersdorf (poln. Jegłowa) 219 Riga (lett. Rīga) 118 Rīga → Riga Rinteln 152 Rom (ital. Roma) 108, 110, 122, 188, 200, 211, 238, 262, 337 Roma → Rom Rostock 161 Rovereto 301 Rudna → Raudten Sackrau (poln. Zakrzów) 274 Sagan (poln. Żagań) 134, 144, 149 Sankt Peter 313 Sankt Petersburg (russ. Sankt-Peterburg) 131, 337 Sankt-Peterburg → Sankt Petersburg Schlawa (poln. Sława) 279 Schmiedeberg (poln. Kowary) 224, 248, 250 Schneidemühl (poln. Piła) 343 Schulpforta 76 Schweidnitz (poln. Świdnica) 164 Skalice → Skalitz Skalitz (tsch. Skalice) 224 Sława → Schlawa Sobieszów → Hermsdorf unterm Kynast Sohrau (poln. Żory) 321, 376 Sprottau (poln. Szprotawa) 279 Środa Śląska → Neumarkt Starczówek → Neu Altmannsdorf Stettin (poln. Szczecin) 11, 208, 294, 320 Strasbourg → Straßburg

400

Ortsregister

Straßburg (frz. Strasbourg) 33, 74, 110, 115, 125 Strehlen (poln. Strzelin) 219, 328 Strzelce Opolskie → Groß Strehlitz Strzelin → Strehlen Stuhm (poln. Sztum) 139 Stuttgart 12 Świdnica → Schweidnitz Syców → Groß Wartenberg Szczawno-Zdrój → Bad Salzbrunn Szczecin → Stettin Szprotawa → Sprottau Sztum → Stuhm Tarnowitz (poln. Tarnowskie Góry) 377 Tarnowskie Góry → Tarnowitz Tartu → Dorpat Tczew → Dirschau Thorn (poln. Toruń) 375 Toruń → Thorn Tost (poln. Toszek) 325 Toszek→ Tost Trebnitz (poln. Trzebnica) 73, 218f., 238 Triest (ital. Trieste) 258 Trieste → Triest Trzebnica → Trebnitz Tübingen 74, 109f., 116f., 119f., 122, 205, 263 Tworkau (poln. Tworków) 320, 322f. Tworków → Tworkau Ujazd Dolny → Nieder Mois Ujazd Górny → Ober Mois Ullersdorf (poln. Ołdrzychowice Kłodzkie) 310 Verdun 190f. Wałbrzych → Waldenburg Wałcz → Deutsch Krone

Waldenburg (poln. Wałbrzych) 137, 267, 362, 376 Warmbrunn → Bad Warmbrunn Warschau (poln. Warszawa) 174, 339, 341f. Warszawa → Warschau Wartenberg → Groß Wartenberg Wartha (poln. Bardo) 329 Washington, D.C. 314 Weimar 157, 214, 336 Welun (poln. Wieluń) 353 Werna 378 Wiehe an der Unstrut 77 Wieluń → Welun Wien 85, 110, 138, 235, 243, 276, 348, 351, 375 Wierzch → Deutsch Müllmen Wiesbaden 368 Włocławek 333 Wolmirstedt 148 Woschczytz (poln. Woszczyce) 312 Woszczyce → Woschczytz Wrocław → Breslau Würzburg 124 Ząbkowice Śląskie → Frankenstein Żagań → Sagan Zakrzów → Sackrau Zella-Mehlis 147 Zerbst 23, 53, 153, 159, 162, 235 Zielona Góra → Grünberg Zinnowitz 250 Zittau 228 Zlaté Hory → Zuckmantel Złotoryja → Goldberg Żory → Sohrau Zuckmantel (tsch. Zlaté Hory) 250 Zülz (poln. Biała) 326 Zürich 116, 199, 201, 210