Herren im Anzug: Eine transatlantische Geschichte von Klassengesellschaften im langen 19. Jahrhundert 9783412504991, 9783412503659

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Herren im Anzug: Eine transatlantische Geschichte von Klassengesellschaften im langen 19. Jahrhundert
 9783412504991, 9783412503659

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Anja Meyerrose

Herren im Anzug Eine transatlantische Geschichte von Klassengesellschaften im langen 19. Jahrhundert

2016 BÖHLAU VERLAG   KÖLN   WEIMAR   WIEN

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: oben: Andrew Carnegie, William Jennings Bryan und andere. Die Aufnahme entstand zwischen ca. 1910 und ca. 1915. Library of Congress Prints and Photographs Division Washington, D.C. 20540 USA http://hdl.loc.gov/loc.pnp/pp.print unten: Die Belegschaft der Gas- und Wasserwerke 1898. Der Abdruck erfolgt mit ­freundlicher Genehmigung der Stadtwerke Essen AG/Fotoarchiv Ruhr Museum.

© 2016 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Constanze Lehmann, Berlin Satz: Reemers Publishing Services, Krefeld Druck und Bindung: Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-412-50365-9

Für Stephan Truninger

Inhalt Danksagung  .......................................................................................................................... |9| Einleitung  ............................................................................................................................... |11| 1. DIE UNIFORM DER BOURGEOISIE  ........................................................................ |29| 1.1 Die Merchants von Manchester  ........................................................................... |31| Spanische Mode? |32|  Die neuen Händler |36|  Gewobener Wind: Die neuen Stoffe |43|  Gentry und Merchants |52| Industrielle Revolution |56| 1.2 Sansculotten – Bürger im seidenen Rock?  ...................................................... |68| Versailles oder die Nachahmung |70|  Die Kleider der Revolution |82| Luxus à la Napoleon |88| 1.3 Deutsche Bürger – Von Werther zu Jahn |94| Dichter und Denker |96|  Von der antifeudalen zur antibourgeoisen Kritik |111|  Bürger oder Juden? |116|  Jahn’sche Turner |124| 2. DIE UNIFORM DER MASSE  ...................................................................................... |131| 2.1 Merchant Farmers  ..................................................................................................... |136| Farmer im Dress Coat |138| Homespun |144|  Die Revolution der Merchants |147| 2.2 New York’s Merchants  ............................................................................................. |152| Assembly Lines |153|  Profit als Maßstab |158|  Von New York an die Frontier |165| 2.3 Massenproduzenten  ................................................................................................. |177| Sweat Suits |178| Industriearbeiter |186|  Maschinelles Weben |191| 3. DIE UNIFORM DER HERREN  ................................................................................... |207| 3.1 Die Uniform der Gentlemen  .................................................................................. |214| Klassenkämpfer |215|  Invention of the Gentleman |222| The Best-dressed-Gentleman |233| 3.2 Die Uniform der Quasi-Gentlemen  .................................................................... |239| Flexible Massenproduktion |244|  Big Business Men |250| Gentlemen of Leisure |261|  White-Collar Workers |269|  E pluribus unum |282| 3.3 Die Uniform der Berufe  ........................................................................................... |292| Bourgeois Made in Germany |294|  Die Fremden |304| Kleider machen Deutsche |307|  Sonderklasse im Anzug |319|

Schluss: Kein Ende der Geschichte  .............................................................................. |329| Literaturverzeichnis  ........................................................................................................... |332| Abbildungsnachweis  ......................................................................................................... |345| Sach- und Ortsregister........................................................................................................ |347| Personenregister...................................................................................................................  |357|

Danksagung Sehr gute Arbeiten schreibt man nur im Team. Das hat Stephan Truninger mich gelehrt, als wir uns kennenlernten. Ohne ihn wäre dieses Forschungsprojekt nicht von mir in Angriff genommen worden. Er war es, der mich durch meine Jahre des Forschens, Denkens und Nachdenkens begleitet hat. Stephan ist die Persönlichkeit, mit der ich Reiche betreten und Schätze bergen kann, die ich allein nur schwerlich erlange – ihm ist dieses Buch darum gewidmet. Aber zum Team gehört auch mein Doktorvater Detlev Claussen. Obwohl er am liebsten Chinos und Sneakers trägt, hat er sich mit mir darauf eingelassen, dem Anzug einen so großen Stellenwert in einer Geschichte zur Klassengesellschaft zu geben. Und ich möchte Sven Beckert danken, der mich so unkompliziert und freundlich, wie das nur Amerikaner können, mit dieser Forschungsarbeit als Doktorandin akzeptiert hat. Mein Dank gilt besonders Daniel Völk für seine vielen Lektorate, die er – jedes Mal wieder – genau, kritisch und sorgfältig gemacht hat. Julia Meyerrose danke ich vor allem dafür, dass sie mir die Abbildungen in diesem Buch in druckbare Versionen umgewandelt hat. Allen Teilnehmern unserer Veranstaltungsreihe Offenes Kolloquium der Reihe KunstDerKritik möchte ich für die kritischen Anmerkungen zu meinem Text danken, vor allem aber Fritz Trümpi, der mir seit meinen Anfängen hilfreich zur Seite stand. Nicole Peter und Hanna Lucia Worliczek gilt mein Dank für das sorgfältige Lesen und die kritischen Bemerkungen zu meiner Einleitung. Sie haben mir damit geholfen, den Einstieg in das Buch erheblich spannender zu gestalten. Dafür danke ich auch Annelise Truninger sehr, die mir zugleich mit ihrer finanziellen Unterstützung das Leben schöner gemacht hat. Den wichtigsten Beitrag zu den Finanzen lieferte aber die Friedrich-EbertStiftung, die mir mit einem Stipendium drei Jahre Forschungsarbeit ermöglicht hat, aber auch durch viele spannende Seminare und Weiterbildungen den Austausch mit anderen jungen Forschern erlaubte. An die British Library in London geht mein Dank dafür, dass ich zum Forschen hereingelassen wurde und die große Auswahl an internationaler Literatur studieren durfte. Der Traum eines Forschers, nahezu jedes Buch, das ich gerne lesen wollte, war in dem riesigen Archiv zu bekommen. In der New York Public Library, in die man so unkompliziert hineinkommt, danke ich vor allem den Mitarbeitern für die fachkompetente Hilfe bei der Suche und dem Finden von

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Danksagung

passender Lektüre nach meinen Recherchevorstellungen. Außerdem gilt mein Dank den vielen anderen Mitarbeitern in Bibliotheken und Archiven, die mir im Laufe der Zeit geholfen haben. Und zum Schluß danke ich all denen, die hier nicht namentlich aufgeführt sind und die doch zum Team gehören: Vielen Dank auch an dich. Die Stärken des Buches sind Ausdruck der wertvollen Teamarbeit, ich allein bin für alle Fehler und Schwächen verantwortlich. Im Gedenken an Sylvia Read.

Einleitung Mai 1789 in Versailles. Für die erste Zusammenkunft der Generalstände seit mehr als 100 Jahren waren die teuren Eintrittskarten schon am frühen Morgen ausverkauft. Unter den Zuschauern fanden sich Gesandte aus Europa und den USA, ausländische Berichterstatter1, Gouverneure, Staatsminister, Militärbeamte und wenige Frauen, darunter Aristokratinnen, Prinzessinnen sowie die Köni­ gin. Endlich traten die Generalstände nach einem strengen Hofzeremoniell ein. Zuerst durften die 300 ausgewählten Aristokraten zu ihren reservierten Plät­ zen gehen, gekleidet in Samt und Seide, Brokat und Spitzen. Dann wurden die Geistlichen eingelassen, auch sie besetzten ihre angestammten Sitze, 300 Bischöfe und Priester, viele in sakrale prachtvolle Prunkgewänder gekleidet. Gold und kostbare Edelsteine blitzten auf, edle Materialen schimmerten und glänzten, als die Männer des Ersten und Zweiten Standes ihre Plätze einnahmen. Die 600 Abgeordneten des Dritten Standes mussten noch stundenlang vor der Tür im Regen warten, bis auch sie den Saal betreten durften. Es entstanden Tumulte und Raufereien um die verbliebenen Sitzplätze, nicht wenige Männer blieben im überfüllten Raum stehen. Im Gegensatz zu den goldglänzenden Geistlichen und den Adeligen, die sich um den Thron Ludwigs XVI. drängten, schien der Dritte Stand Trauer zu tragen. Diesen Männern, unter ihnen Rechtsanwälte und wohlhabende Händler, Richter und abtrünnige Aristokraten sowie einige wenige Handwerker, waren feine Spitzen, auffällige Stickereien oder Gold ver­ boten. Ihre Kleidung, das Halstuch oder die Krawatte mussten aus schwarzer Wolle sein, genauso wie die Strümpfe. Nur am Aufschlag des Mantels durfte ein wenig schwarze Seide verarbeitet werden. Gegen diese Bekleidungsvorschriften gab es aus dem Dritten Stand schon im Vorfeld Proteste. Sie dienten, so sahen es viele Vertreter des Dritten Standes, nicht nur der äußerlichen Trennung der Stände, sondern sollten ihren Stand degradieren.2 Auf die im Rahmen des Hofzeremoniells vorgenommene Aus­ wahl oder besser gesagt: befohlene Einschränkung reagierten viele Abgeordnete gereizt oder sogar verletzt. 1

Diese Eindrücke aus der Versammlung der Generalstände stützen sich auf die Beschrei­ bung des dort anwesenden deutschen Berichterstatter Friedrich Melchior Baron von Grimm (1723–1807) (zit. n. Bombeck 1994: 48 ff.) 2 So hatte der Abgeordnete Delandine, ein Bibliothekar aus Lyon, in einem Gesuch vom April 1789 geschrieben: „weshalb sollen sich die Stände dann in der Kleidung unterschei­ den? [...] In die Nationalversammlung aber kommt man nicht als Militär, als Beamter oder als Kaufmann, sondern man erscheint einzig und allein als Franzose.“ (Bombek 1994: 48).

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Als wenige Wochen später die Revolution ausbrach, hatten die Abgeord­ neten des Dritten Standes diese Demütigung nicht vergessen. Schon auf einer der ersten Sitzungen der revolutionären Nationalversammlung wurde über die Kleiderordnung heftig debattiert. Schließlich stand ein Abgeordneter des Dritten Standes, Honoré Gabriel Victor de Riqueti, Marquis de Mirabeau, auf und hielt eine seiner gefürchteten Reden. Er wetterte gegen den Hof, der den Abgeordneten des Dritten Standes ein in „Farbe und Schmucklosigkeit gera­ dezu beleidigendes Kostüm“ vorschreibe (zit. n. Wolter 2001: 118). Sie lebten doch nun in einer Zeit, die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf ihr Banner geschrieben habe und die darum auch in der Kleidung keine Privilegien dul­ den könne. Nach dieser Rede von Mirabeau wurden die vom Hof befohlenen Standesunterschiede in der Bekleidung abgeschafft. Bekleidung, das zeigt sich hier deutlich, war keine unbedeutende Neben­ sache. Und bis heute markiert sie die gesellschaftliche Stellung ihrer Träger. Kleidung ist das äußere Kennzeichen, an dem Jeder und Jede auf den ersten Blick erkennen kann, mit wem sie oder er es zu tun hat. Sie zeigt den Stand oder die Klasse ihrer Träger und Trägerinnen an, ermöglicht es die Menschen einzuordnen. Immer wenn die Herrschaftsverhältnisse sich ändern, wenn die gesellschaftlichen Kämpfe um Macht und Anerkennung entbrennen, wird die Bekleidungsfrage zu einem zentralen Thema. In den Anfängen der französischen Revolutionszeit wandte sich der gesamte Dritte Stand vereint gegen Aristokratie und Kirche, die Männer forderten das Ende der aristokratischen und geistlichen Privilegien. Diese Abgeordneten wollten sich nicht mehr als Angehörige eines Standes sehen, sondern als Vertreter der gesamten französischen Nation. Und weil sich mit der Abschaffung der Privilegien für den Ersten und Zweiten Stand die Herrschaftsverhältnisse veränderten, trugen die Abgeordneten, obwohl sie frei gewesen wären, das zu tun, trotzdem nicht die prunkvolle Bekleidung des französischen Adels. Da sie die Aristokraten nicht mehr qua ihres Standes aner­ kannten, wurde auch die vom Adel getragene Kleidung nicht mehr anerkannt. Doch die Herrschaftsverhältnisse waren noch nicht gesichert und die gesell­ schaftlichen Kämpfe gingen weiter. Schon bald brach der Dritte Stand ausei­ nander, verschiedene Fraktionen bildeten sich, die sich auch über die Bekleidung ab-, aus- und eingrenzten. Und vier Jahre später, im Brumaire des Jahres II der Revolution (Monat von Ende Oktober bis November 1793), wurde im ein Jahr zuvor etablierten Nationalkonvent wieder einmal heftig über Kleidung debattiert. Der Konvent tagte im neu bezogenen Saal des Palais des Tuileries, der ehemaligen Residenz des Königs. Es ging laut und wild zu, die Akustik war schlecht, im Minutentakt schlugen Türen auf, Männer kamen und gin­ gen, im Tumult wollten sich einzelne Abgeordnete mit Zwischenrufen Gehör

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verschaffen. Auf der schmalen umlaufenden Galerie und den Balkontribünen strickten die Tricoteuses, rissen Witze und vergriffen sich auch gerne mal an anderen Zuschauern, die für sie aristokratisch aussahen, d. h. besser oder feiner gekleidet waren. Unter ihnen schrien sich in dem langgestreckten Raum auf den gegenüberliegenden aufsteigenden Bankreihen die verschiedenen Fraktionen an, bevor sie wieder zur Tagesordnung übergingen. Es waren die Sansculotten3 – Handwerker, Krämer und Kaufleute, Gesellen und Gelegenheitsarbeiter –, die im Nationalkonvent erneut die Kleiderfrage stellten. „Die Franzosen, die schon ihre politischen, religiösen und bürgerlichen Vorurteile abgelegt haben, sollten auch ihre lächerliche, unbequeme und verrückte Kleidung ablegen und sie mit einem edlen und bescheidenen Gewand vertauschen, dessen der natürlichen Entwicklung des Körpers gemäßer Schnitt der republikanischen Einfachheit entspricht.“ argumentierte Charles Bougas von den Pariser Sansculotten in einer Petition (Soboul 1978: 375). Die Sansculotten definierten sich unter anderem über ihre Kleidung, die sie von den sozial Höhergestellten abhob. Sie wollten durch ihre Forderung nach einfacher Bekleidung die sozialen Beziehungen auf eine egalitäre Basis gestellt wissen. Sie selbst uniformierten sich in Kattunwes­ ten mit breiten blau-weiß-roten Streifen, hüftlangen Jacken aus grober Wolle, ­carmagnole genannt, einer roten Mütze der Freiheit sowie den für sie typischen langen weiten Hosen (Soboul 1978: 276). Wer die lange Hose trug, rechnete zum Volk, während die Kniehose (culottes) die Tracht der Aristokratie und, verallge­ meinert, der oberen Schichten des alten Dritten Standes war (Soboul 1978: 21). Genauso wie den Sansculotten selbst fehlte auch ihrer uniformen Bekleidung die Anerkennung, vor allem der gemäßigten Fraktionen. Selbst radikale Abge­ ordnete wie Maximilien de Robespierre oder Louis Antoine de Saint-Just und andere Mitglieder der französischen Revolutionsregierung trugen nicht die Uniform der Sansculotten. So kleidete sich beispielsweise Robespierre bei einem

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Die hier kursiv gestellten Begriffe von Gesellschaftsgruppen werden in dieser Arbeit im Sinne Michel Foucaults markiert, weil sie so auf die Unschärfe verweisen, die in einer auf rund 200  Seiten geschriebenen Übersicht über mehrere Jahrhunderte und vier sich transformierende Gesellschaften, wie die von mir hier geschriebene, nicht beseitigt wer­ den kann. Foucault verwendet einfache Anführungsstriche in seinen Werken, das wird auf eine Diskussion zwischen ihm und dem französischen Philosophen Jacques Derrida zurückgeführt. Derrida hatte Foucault vorgeworfen, über Wahnsinn zu sprechen, obwohl es zweifelhaft sei, ob man wissen oder feststellen könne, was mit dem Begriff Wahnsinn überhaupt ausgesagt würde. Derrida soll Foucault dann vorgeschlagen haben, solche Be­ griffe etwa in Anführungsstriche zu setzen „als benutze er die Sprache anderer, jener, die in der von ihm untersuchten Periode sich deren als eines historischen Instruments bedient hätten“ (Derrida 1972: 68 f.).

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öffentlichen Auftritt in farbenfrohe leuchtend blaue und weiße Seidenkleidung, um die Hüften die dreifarbige Schärpe gewickelt; eine Pracht, die man früher nur bei Aristokraten gesehen hatte – gleich welchen Geschlechts. Viele der Reichen und Mächtigen versuchten daher, als Sansculotten im Geist anerkannt zu werden (Soboul 1978: 281). Denn noch wurden die Pariser Sansculotten gebraucht. Nur mit ihrer Unter­ stützung war es im Jahr 1789 der Bourgeoisie gelungen, den Sieg über die Aristo­ kratie und ihre Verbündeten davonzutragen (Soboul 1978: 18). Und auch die Krise der Revolution im Frühjahr und Herbst des Jahres II (1793) erzwang noch einmal ein Bündnis mit den Volksmassen, d. h. auch mit den gut organisierten Sansculotten (Soboul 1978: 32). Im Juli 1789 war das Schlagwort Freiheit gewesen, als der Dritte Stand sich gegen die Aristokratie und das Ancien Régime erhob. In dieser zweiten Revolution 1793 waren es Gleichheit und Brüderlichkeit, die vor allem von den Sansculotten, unter anderem auch über die Frage nach der ange­ messenen Bekleidung, gefordert wurden. Doch mit dem Ende der Krise von 1793 wandten sich die Fraktionen im Konvent von den Sansculotten ab. Weder die Girondisten noch die meisten Montagnards, unter ihnen viele Jakobiner, die sich vor allem aus den wohlhabenderen Schichten rekrutierten, hatten an der Durchsetzung der Gleichheit ein Interesse (Soboul 1978: 312). In einer Prokla­ mation im Brumaire des Jahres II der Revolution verkündete der Nationalkon­ vent, dass keine Person, gleich welchen Geschlechts, einen anderen Citoyen zu einer bestimmten Kleidung zwingen dürfe. Jeder sei frei zu tragen, was immer sein Geschlecht kleide (Chenoune 1993: 19). Damit wurde der Gleichheit der Todesstoß versetzt, genauso wie den Sansculotten, die diese mit Leidenschaft vertraten. Nur einige wenige weitsichtige Sansculotten erkannten schon nach der Verabschiedung solcher Proklamationen, dass an die Stelle des Vorrechts der Geburt jene des Geldes trat (Soboul 1978: 34 f.). Die Transformation der französischen Gesellschaft von einer Standes- zu einer Klassengesellschaft hatte längst begonnen. Diese Entwicklung blieb nicht auf die französische Gesellschaft beschränkt. In der westlichen Welt haben sich bis zum 20. Jahrhundert viele ­Gesellschaften so umstrukturiert, dass sich an der Spitze der gesellschaftlichen Hierarchie die Bourgeoisie gegenüber der Aristokratie durchgesetzt oder sich mit ihr in Tei­ len zusammengeschlossen hat. Da in den modernen Klassengesellschaften die Bürger und Bürgerinnen formal frei sind, können die neuen Machthaber, die Bourgeois, Macht und Herrschaft nicht qua Geburt für sich beanspruchen. Wer zur herrschenden Klasse gehört, wird in gesellschaftlichen Kämpfen verhan­ delt. Die Bourgeoisie löst diese Probleme in der Regel damit, dass innerhalb der herrschenden Klasse immer auch bedeutende Männer aus der beherrschten

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Klasse aufgenommen werden. Diese Kämpfe um die Aufnahme verlaufen in allen Gesellschaften unterschiedlich und haben stets auch einen Einfluss auf die beherrschten Klassen, wie bei den Sansculotten, die von der Bourgeoisie wieder fallengelassen wurden, als die eigene Macht in der französischen Gesellschaft gegen die konterrevolutionären Aristokraten gefestigter war. Durch diese gesell­ schaftlichen Transformationen, die nie abgeschlossen sind und doch für lange Zeiträume stabil wirken können, werden auch Unterteilungen vorgenommen, die als Mittelschichten oder sogar noch differenzierte Abstufungen wie obere Oberschicht, mittlere Oberschicht, untere Oberschicht, obere Mittelschicht, mittlere Mittelschicht etc. erscheinen. In diesem Buch wird die Entwicklung moderner Klassengesellschaften in ihren verschiedenen Transformationsformen vergleichend untersucht. Doch solch eine Untersuchung stößt auf einige Schwierigkeiten, denn Klassen­gesellschaft erscheint zunächst als abstrakter Begriff. Um diesen Begriff dennoch zu fassen zu bekommen, wird hier deshalb ein konkreter, sicht- und fühlbarer Gegenstand ins Zentrum gestellt: die Kleidung. Bekleidung ist, wie oben exemplarisch gezeigt, das äußerlich sichtbare Merk­ mal der Klassenzugehörigkeit, markiert die gesellschaftliche Stellung ihrer Träger. Denn die in der Französischen Revolution geforderte Freiheit (liberté), die nicht zuletzt auch als Wahlfreiheit der Bekleidung proklamiert wurde, ist bis heute nicht durchgesetzt. Obwohl die Einzelnen formal frei sind, auch die Kleidung tragen können, die sie wollen, unterliegen Männer wie Frauen in der gesellschaftlichen Praxis zahlreichen Einschränkungen. Statt der Uniform für alle, welche die Sansculotten forderten, uniformieren sich die verschiedenen Gesellschaftsgruppen. An der tatsächlich getragenen Bekleidung können die verschiedenen Gruppen auch unserer heutigen Gesellschaften bestimmt wer­ den. Kleidung entscheidet über die Zugehörigkeit und den Wert eines Men­ schen und nicht zuletzt wird von ihr auch gerne auf das Innere geschlossen, die Gedankenwelt des Trägers oder der Trägerin. In der deutschen Gesellschaft wird der alltäglichen Bekleidung wenig Beach­ tung geschenkt, ihre Bedeutung heruntergespielt und wer sich zuviel mit Klei­ dung beschäftigt, eher mit Verachtung gestraft. Und doch, so habe ich während der Arbeit an diesem Buch erfahren, meint jeder und jede etwas zum Thema sagen zu können. Meine Gesprächspartner, Akademiker und Akademikerinnen genauso wie Bekannte, Freunde und Familienmitglieder haben fast alle sehr vehemente und rigide Ansichten zum Thema Bekleidung. Da wird aus der per­ sönlichen Erfahrung heraus von Vätern, Großvätern, berühmten Persönlichkei­ ten berichtet, die diese oder jene Bekleidung getragen hätten. Bei der durchweg von allen Gesprächspartnern geäußerten Beteuerung, was für ein spannendes

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Thema dies doch sei, gab es oft Widerspruch und Diskussionen und vehemen­ tes Beharren auf ihren eigenen Ansichten zu meinem Forschungsbereich. Das Thema geht den meisten nahe, wenn auch nicht unter die Haut, so liegt es doch direkt auf derselben. An den Reaktionen der Leute merkt man, welch zentrale Stellung die Kleidung in allen Gesellschaften hat. Die Menschen werden nach ihrer Bekleidung beurteilt, auf der Straße, der Leinwand, auf Reisen. Man schaut immer zuerst aufs Äußerliche, um jemanden einzuordnen. Wie bedeutend ungeschriebene Bekleidungsvorschriften auch in der deut­ schen Gesellschaft sind, ist an der Reaktion zu erkennen, wenn jemand sich nicht daran hält. Exemplarisch zeigte sich das, als Gerhard Schröder 1998 zum deutschen Bundeskanzler gewählt wurde und sich bei dem italienischen Mode­ unternehmen Brioni Maßanzüge fertigen ließ. Da rauschte es im deutschen Blätterwald. Gerhard Schröders Anzüge waren das wichtige Thema in den Medien. Sozialdemokratie und teurer Luxus, modische Bekleidung für einen Mann, maßgefertigte Anzüge für einen Politiker, das war so skandalös noch nicht in die deutsche Öffentlichkeit getragen und auch noch nicht mehrheitlich so vehement abgelehnt worden. (In den Medien anderer Gesellschaften, der amerikanischen, französischen oder der englischen, wurde diese deutsche Dis­ kussion mit Unverständnis kommentiert.) Und nur einem zweiten Deutschen, auch einem Politiker, wurde wegen seiner Bekleidung eine ähnliche Medien­ aufmerksamkeit zuteil: Joschka Fischer. Bei ihm wird bis heute immer wieder kommentiert, dass er es gewagt hatte, sich 1983 in Turnschuhen und mit grobem Jacket zum hessischen Umweltminister vereidigen zu lassen und er dann 1998 als Bundesaußenminister in einem dunkelgrauen Anzug mit Weste ins Kabinett von Gerhard Schröder eintrat. Für beide Debatten wurden und werden – wie in dieser Arbeit gezeigt wird – deutsche bürgerliche Ressentiments bedient, die sich teilweise schon vor dem 19. Jahrhundert verfestigten. Bei Gerhard Schröder sind das antimodische, antiluxuriöse und antisozialdemokratische Ressentiments, die vor allem über die Feuilletons deutscher Zeitungen und Zeitschriften verbreitet werden. Bei Joschka Fischer werden sie als proreaktionäre, prouniformierte und prokonservative Ressentiments formuliert. Aber ihre Bekleidung wird nicht nur in den Feuilletons verhandelt, sondern auch in die wissenschaftlichen Debatten von Historikern und Historikerinnen sowie Soziologinnen und Soziologen hineingetragen. Diesen gilt Joschka Fischer als „Verkörperung dieses Sozialtypus eines zur Bürgerlichkeit, ja zur bürgerlichen Repräsentanz konvertierten Anti-Bürgers von 1968“, bei dem sich die „Verach­ tung und Ächtung des Bürgerlichen“ in „Achtsamkeit für die unwahrscheinli­ chen Bedingungen dieser Lebensform“ verwandelt habe (Bude/Fischer/Kauff­ mann 2010: 8 f.). Joschka Fischer, der 1968 einen entschieden antibürgerlichen

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Habitus zur Schau getragen habe, sich dann aber „als Konvertit, gleichsam mit einem Sprung, in den Sehnsuchtsort des Bürgertums rettet – indem er sich das Rollenkleid des Bürgers anpasst und als Bundesaußenminister gleich auch noch in einer repräsentativen Rolle auszuspielen sucht.“ (Kauffmann 2010: 17). Die Bedeutung der Kleidung ist enorm, sie verortet die Menschen in moder­ nen Klassengesellschaften, zeigt deren Stellung in der gesellschaftlichen Hie­ rarchie an. Und das gesellschaftlich anerkannteste Kleidungsstück ist immer noch der Männeranzug: Der Anzug gilt als Indiz für oder gegen den Aufstieg in eine bessere Gesellschaftsschicht. Er ist zentraler Bezugspunkt der über die Bekleidung ausgetragenen Kämpfe um Macht und Anerkennung und verbreitet sich bis zum 19. Jahrhundert von England aus in die ganze Welt. Nicht zuletzt daran, wer, wann, wo, welchen Anzug trug oder trägt, kann die Entwicklung moderner Klassengesellschaften abgelesen werden. In diesem Buch rückt deshalb der Männeranzug in den Fokus. Er unterschei­ det sich von den meisten anderen Bekleidungen dadurch, dass er sich schein­ bar über Hunderte von Jahren nur in Details verändert hat. Dieser Mythos hält sich hartnäckig, im Alltag wie in der Wissenschaft. Während Kleidung sonst als modisch gilt, das heißt, dem ständigen Wandel unterworfen sein soll, scheint gerade der Männeranzug, das einflussreichste Kleidungsstück der bür­ gerlichen Gesellschaft, aus der Geschichte gefallen, faktisch gleich geblieben (Hollander 1997: 12). Für den auch international gerne zitierten Soziologen René König trug die Bourgeoisie, als Nachfolger der Aristokratie, den bürgerlichen Anzug (König 1967: 101 f.) und die Arbeiter übernahmen langsam auch diese Bekleidung für sich; das wird dann als Verbürgerlichung der Lebensweise bezeichnet. Da dies das eta­ blierte Wahrnehmungsmuster ist, werden noch bis weit ins 20. Jahrhundert vor allem die nicht im Anzug auftretenden Männer beachtet. Damit soll der Anzug zum Indiz für oder gegen die Verbürgerlichung werden und damit für oder gegen den Aufstieg in eine bessere Gesellschaftsschicht, für oder gegen die Anpas­ sung an ein Lebensmodell einer homogenen Gruppe gleicher und freier Bürger. Aber sowohl bei dem eingangs erwähnten französischen als auch beim deut­ schen Beispiel Fischer/Schröder wird deutlich, dass nicht jeder Mann densel­ ben, nur im Detail verschiedenen Anzug trägt, sondern ganz bestimmte Hosen und Jacken, mit ihrer je eigenen Bedeutung. In diesem Buch wird daher nicht danach gesucht, wo die Gemeinsamkeiten zu finden sind, sondern die sehr viel spannendere Frage gestellt, wo sich die Differenzen finden lassen. Wie am Beispiel der Diskussion um Schröders Maßanzüge gezeigt, mag sein Anzug sich zwar äußerlich nur geringfügig von anderen Anzügen unterschei­ den, aber Skandalon ist die differente Produktionsweise. Der Produktion von

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Bekleidung wird jenseits der Verurteilung von sweatshops4 meist wenig Beachtung geschenkt. Der Anzug bildet hier keine Ausnahme. Rein äußerlich betrachtet, mag er sich über die letzten Jahrhunderte kaum verändert haben. Aber eine Ware wie der Anzug lässt sich nicht allein durch ihre äußerliche Erscheinung begreifen, sie ist auch durch ihre Produktion bestimmt. Wie der Anzug produ­ ziert wird, ob individuell vom Schneider gefertigt oder in der Fabrik standar­ disiert zusammengenäht, bestimmt entscheidend mit, welche Bedeutung ihm und seinem Träger beigemessen wird. Die Geschichte des Männeranzugs ist deshalb nicht nur eine Geschichte der Klassengesellschaften, sondern auch eine Geschichte der kapitalistischen Produktion. Und vom Stand der Produktion hängt ab, wie weit sich der Anzug als Kleidungsstück verbreiten kann. Nicht zufällig ist der Anzug zuerst im Land der industriellen Revolution, in England, gefertigt und getragen worden. Anders als die Bedeutung des Anzugs, die zumindest teilweise national kodiert sein mag, ist die Produktion aber von Beginn an ein grenzüberschreitendes Unternehmen. Die hier vorgelegte Studie zur Geschichte der Klassengesellschaften muss deshalb notwendig als transatlan­ tische Geschichte geschrieben werden. Denn in England wurde der Anzug zwar entwickelt, aber erst in Amerika wurde seine Produktion radikal modernisiert. Dadurch hat der Anzug in den USA nicht nur eine gänzlich neue Bedeutung und Verbreitung erlangt, die amerikanische Entwicklung hatte auch entscheidende Rückwirkungen auf die Formierung europäischer Gesellschaften. Doch diese transnationalen Prozesse treffen auf historisch gewachsene Gesellschaften und werden in diesen unterschiedlich adaptiert. Um das zu verdeutlichen (und nicht zuletzt weil dieses Buch auf Deutsch erscheint und für ein deutschsprachiges Publikum geschrieben ist), beschränkt sich diese Studie nicht auf England und die USA, sondern zieht auch immer den Vergleich zur deutschen Entwicklung. Obwohl Deutschland, wie die USA, England in der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts überholte, fanden hier ganz andere Kämpfe um Macht und Anerkennung der verschiedenen Gesellschaftsgruppen statt. Eine Analyse von Genese, Transformation und Verbreitung des Anzugs kann so Strukturen län­ derspezifischer Macht- und Herrschaftsverhältnisse sichtbar machen. Eine solche länderübergreifende Studie ist allerdings mit besonderen Schwie­ rigkeiten konfrontiert. Denn nicht nur die Gesellschaften sind historisch unter­ schiedlich gewachsen. Auch die Begriffe, mit denen gesellschaftliche Phäno­ mene wissenschaftlich gefasst werden, sind historisch in den verschiedenen 4 Mit dem Ausdruck sweatshop bezeichnet man einen Ausbeutungsbetrieb, mit oft unge­ sunden Arbeitplätzen, extrem langen Arbeitszeiten und sehr geringen Löhnen (Kidwell/ Christman 1974: 99).

Einleitung

Gesellschaften unterschiedlich geprägt. Das gilt ganz besonders für diejenigen Begriffe, mit denen die Gesellschaftsstrukturen beschrieben, mit denen die Menschen gesellschaftlichen Gruppen zugeordnet werden sollen. Es handelt sich dabei um national geprägte Wahrnehmungsmuster. Begriffe wie Bürgertum, Gentlemen, upper class, industrial worker oder Arbeiter sind keineswegs bedeu­ tungsgleich, sondern aufgeladen durch die unterschiedlichen geschichtlichen Entwicklungen der Klassengesellschaften. Deshalb können sie auch nicht ein­ fach auf andere Gesellschaften übertragen werden, ohne ihre analytische Kraft zu verlieren. Das Problem zeigte sich deutlich am großen internationalen Projekt zur Erfor­ schung der bürgerlichen Gesellschaft und Kultur in Europa im 19. Jahrhundert. Dem Historiker Jürgen Kocka gelang es Mitte der 1980er-Jahre, Sozial- und Geisteswissenschaftler nicht nur aus Großbritannien und Frankreich, sondern auch aus Polen, Tschechien, Ungarn und sogar aus der DDR ans Zentrum für Interdisziplinäre Forschung an der Universität Bielefeld zu holen. Hier sollten sie sich der Frage widmen, wie das Bürgertum sich in den verschiedenen Ländern Europas entwickelt habe und wie diese Entwicklungen einander beeinflussten. In mehrtägigen Symposien präsentierten die Wissenschaftler ihre Resultate und Überlegungen. Aber schon bald stellte sich heraus, wie schwierig so eine vergleichende Forschung ist. Jürgen Kocka selbst beklagte im abschließenden Bericht, dass zwar in Deutschland ausführlich „das Bürgertum“ thematisiert werde (1988a: 16), es in anderen Ländern aber weniger üblich sei, darüber zu sprechen. Weder in Österreich, Ungarn, Italien, Frankreich, Polen noch in Nordeuropa werde viel darüber geschrieben, im anglo-amerikanischen Bereich besitzt man zwar den Begriff middle class, aber er ist eher marginal und strukturiert die Forschung wenig. In England und Nordamerika sieht man wenig Anlaß, businessmen, professionals und civil servants gemeinsam zu behandeln, und wenn man überhaupt berufsgruppenübergreifend konzeptionalisiert, dann spricht man eher von den ‚Eliten‘, ‚den Reichen‘ oder ‚der Oberschicht‘, selten aber von der middle class. (Kocka 1988a: 15).5

Deshalb, so räumt er ein, hätte sich wohl ein ganz anderes Projekt ergeben, wenn die Diskussionen nicht auf Deutsch, sondern auf Englisch geführt worden wären (Kocka 1988a: 16). Kocka übersetzt den Begriff des Bürgers sowohl mit dem des 5

Siehe zur Verwendung des Begriffs middle class in der englischen Gesellschaft den Beitrag von Eric Hobsbawm „Die englische middle class 1780-1920“ im 1. Band von Jürgen Kocka Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich (1988: 79 ff.).

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Einleitung

Bourgeois als auch des Citoyen, wobei Bürgerlichkeit die partikularen Merkmale einer bürgerlichen Schicht oder Klasse bezeichnen soll, die „historische Idee der Bürgerlichkeit“, die im Rahmen einer bestimmten Klasse entstanden sei, aber darüber hinaus die Institutionen, den Habitus, das geistige Klima ganzer Gesellschaften geprägt habe (Kocka 1987: 16 f.). Das ist jedoch problematisch, weil diese Interpretation der Geschichte, auch wenn sie in einem internatio­ nalen Vergleich gemacht wird, die Bürger trotzdem noch zwischen Adel und Arbeitern in der gesellschaftlichen Mitte oder neuen Mitte vermutet (Bude/ Fischer/Kauffmann 2010: 8). Von den Historikern werden Idealtypen der Bürgerlichkeit bereichs- und epochenspezifisch bestimmt und begründet, die dann im Rückblick in aus­ gewählten Realitäten in unterschiedlichen Ländern dahingehend verglichen werden sollen, in welchem Maß sie dem Idealtypus entsprechen (Kocka 1987: 13, auch Wehler 1986: 27). Verantwortlich für die Entstehung von „so etwas wie ‚Bürgertum‘“ waren demnach eine scharfe Ausprägung des Land-Stadt-Unterschieds, kräftige adelig-feudale Traditionen, deutliche Klassenspannungen, starke städtisch-stadtbürgerliche Traditionen, die Wirksamkeit der Aufklärung, ethnische und konfessionelle Homogenität, deutliche Grenzen der Verallgemeinerbarkeit bürgerlicher Kultur. (Kocka 1988a: 33).

Auch Soziologen wie Bude, Fischer und Kauffmann orientieren sich an den Defi­ nitionen von Kocka und Wehler und bestimmen Schlüsselmotive des ­Bürgerlichen (2010: 7), indem sie auf die Differenzmarkierung zu einem symbolischen Außen verweisen (Adel, Klerus, Landbevölkerung, Proletariat), eine städtische Lebens­ weise anführen oder auf eine bürgerliche Körperlichkeit und Verinnerlichung verweisen (Bude/Fischer/Kauffmann 2010: 14). Die methodische Lösung des Problems – etwa durch das Bilden von Idealtypen (Kocka) oder der Bestim­ mung von Merkmalen von Bürgerlichkeit (Bude et al.) – schwächt jedoch die Analysekraft. Wirklich vergleichen, würde laut Kritikern, wie dem englischen Historiker David Blackbourn (1980), bedeuten, die Gesellschaften nicht aus einer deutschen Perspektive zu betrachten. In diesem Buch werden deshalb nicht nur länderübergreifende Prozesse analysiert, sondern auch die national geprägten Begriffe, die für die Erklärung von Gesellschaftsgeschichte unerlässlich sind, daraufhin untersucht, wie weit sie für eine vergleichende Analyse hilfreich sind.

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Im 19. Jahrhundert etablierte Wahrnehmungsmuster haben den Blick auf die Gegenwart verstellt; es ist Zeit, sie beiseitezuräumen. Aber das sollte nicht durch Ignoranz gegenüber dem Alten und Veralteten geschehen, sondern durch die historische Reflexion und veränderte Selbstwahrnehmung. (Claussen 2009).

Das heißt, es müssen auch immer der gesellschaftliche Kontext und die prägenden gesellschaftlichen Erfahrungen der Historiker und Historikerinnen oder Sozio­ loginnen und Soziologen berücksichtigt werden und ihre Äußerungen jeweils zeitlich eingeordnet werden. Eine kritische Soziologie kann den Anspruch der wissenschaftlichen Selbstreflexion moderner Klassengesellschaften nur erfül­ len, wenn das Moment der gesellschaftlichen Transformation, ihre jeweilige Geschichtlichkeit, im Vergleich mitgedacht wird (Truninger 2010: 183 ff.). Was unterscheidet Anzug tragende Wirtschaftsbürger in Deutschland von der gentry in den Anfängen der Industrialisierung in Manchester? Wieso können deutsche Bildungsbürger des 18. Jahrhunderts nicht mit den französischen Sansculotten gleichgesetzt werden, die 1789 vor der Bastille nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit gerufen haben? Wann tragen amerikanische white-collar workers6 des 19. Jahrhunderts Anzüge und welche Bekleidung tragen die Pri­ vatbeamten des deutschen Wilhelminischen Kaiserreichs? Wenn – wie in dieser Arbeit – untersucht wird, wann welcher Anzug von wem warum getragen wurde, dann kann darüber die Formierung von Klassengesellschaften an der Männer­ bekleidung analysiert werden. In diesem Buch wird deshalb der von dem Historiker Sven Beckert gefor­ derte Versuch unternommen, Geschichte neu zu denken und nationale his­ torische Perspektiven durch die Sicht auf grenzüberschreitende Prozesse zu erweitern (2014: 17). Und doch ist dies keine Globalgeschichte, da sie nicht die Gemeinsamkeiten und weltweiten Zusammenhänge betont, sondern vor allem die internen gesellschaftlichen Differenzen sowie die Unterschiede zu den anderen in dieser Arbeit untersuchten Gesellschaften. Unterschiede, die 6 Die deutsche Übersetzung vom amerikanischen white-collar worker ist Angestellter/Angestellte, trifft aber nicht ganz die Bedeutung, denn die Geschichte der Angestellten in Deutschland ist eine, die sich aus dem Privatbeamtentum herleitet (siehe dazu beispiels­ weise Die Angestellten von Kracauer 1959 [1930]) und nicht aus der Gruppe der selbst­ ständigen Kaufleute oder Ladenbesitzer (siehe dazu Kapitel 3.2, White-Collar Worker). Im Unterschied zum white-collar worker wird in den USA vom blue-collar worker gespro­ chen, der im Deutschen als Arbeiter übersetzt wird. Auch hier muss man vorsichtig sein und sollte den Begriff nicht einfach übersetzen, sondern in der historischen Gewordenheit der jeweiligen Gesellschaft anschauen (siehe dazu weiter oben in der Einleitung). Mit industrial workers werden in dieser Arbeit die (Fabrik)-Arbeiter bezeichnet.

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durch die spezifische historische Gewordenheit der in dieser Arbeit untersuch­ ten Klassengesellschaften entstanden sind und bis in unsere Zeit nachwirken. 

Diese Untersuchung orientiert sich am Männeranzug und ist insofern selbstver­ ständlich auch ein Beitrag zur Modegeschichte. Durch den Blick auf die Ent­ wicklung des Anzugs vom 16. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts, räumt sie mit hartnäckig sich haltenden Mythen der Wissenschaft auf. Dieses Buch liefert aber auch einen Beitrag zur Gendergeschichte, da hier die in der ­wissenschaftlichen Diskussion oft als vernachlässigbar behandelte Männerbekleidung thematisiert wird – obwohl die gewonnenen Erkenntnisse zeigen, dass die Männer eine Vorreiterrolle, etwa als Käufer von Kleidung, einnahmen. Darum ist dies auch ein Beitrag zur Konsumgeschichte. Während Frauen ihre Bekleidung noch selbst schneiderten, wurde für Männer schon Kleidung massengefertigt und in Geschäften zum Verkauf angeboten. Gerade die Produktion von Männer­ kleidung war ein wichtiger Motor der industriellen Revolution. Weil in diesem Buch der Weg von der Produktion von Textilien bis zur Fertigung von Klei­ dung berücksichtigt wird, ist dies auch ein Beitrag zur Industriegeschichte. Es ist aber auch eine Migrationsgeschichte, da die Veränderungen in Produktion, Distribution und Konsum von Männeranzügen entscheidend von Migranten beeinflusst wurden. Und, wie oben dargelegt, handelt es sich bei diesem Buch auch um einen Beitrag zur Begriffsgeschichte und zur Frage, wie Gesellschaf­ ten vergleichend analysiert werden können. Vor allem aber liefert das vorliegende Buch einen Beitrag zur Geschichte der Klassengesellschaften, zu den gesellschaftlichen Kämpfen um Macht und Anerkennung. Hier wird die Reproduktion der herrschenden Klasse ebenso beachtet, wie die der beherrschten; was auf der einen Seite geschieht, lässt die andere nicht unberührt. 

Die vorliegende Arbeit ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil „Die Uniform der Bourgeoisie“ wird nach der Genese der Moderne geforscht (Bude et al. 2010: 15). Es geht darum zu zeigen, wie die individuelle handgearbeitete Produktion von Männerkleidung in eine stan­ dardisierte Produktionsweise übergeht. Dabei stellt sich die Frage, wieso die englische Bourgeoisie diese hervorbrachte und anerkannte, und wie auf diese Entwicklungen in Frankreich und den deutschen Staaten reagiert wurde. Die bürgerliche Männerkleidung breitete sich erfolgreich in England aus, weil ­Merchants von Manchester (Kapitel 1.1) ein betriebsames, an den eigenen Pro­ fiten interessiertes Denken und Handeln entfalten konnten, woraus sich später

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die kapitalistische Produktionsweise entwickelte.7 Weil diese merchants gesell­ schaftliche Anerkennung und Aufnahme in einer amalgamierten herrschenden Klasse fanden, wurde auch ihre Bekleidung anerkannt. Die Uniformierung im dress coat8 war im mit der beginnenden Industrialisierung aufstrebenden kosmo­ politischen Manchester dem Bedürfnis einer einheitlichen Außendarstellung geschuldet, um kulturelle (oder religiöse und ethnische) Unterschiede innerhalb der bourgeoisen Klasse verschwinden zu lassen. Von England aus beeinflussten die veränderten Bekleidungsgewohnheiten die Männer weltweit. Ausgehend davon wird im nächsten Kapitel Sansculotten – Bürger im seide­ nen Rock? (Kapitel 1.2) auf Frankreich eingegangen, weil mit der bürgerlichen Revolution von 1789 häufig der Beginn des bürgerlichen Zeitalters angesetzt wird, ab dem sich die moderne Bürgerlichkeit entfaltet habe. Dazu passen die gängigen Darstellungen zur historischen Entwicklung der Männerkleidung, die dem Kampf französischer revolutionärer Bürger gegen den Adel entschei­ dende Einflüsse zuschreiben (René König). Aber die Sansculotten hatten weni­ ger Einfluss auf die Veränderung der Bekleidungsgewohnheiten in Frankreich, als ihnen in der Literatur zugewiesen wird. Sie waren nur eine von mehreren Fraktionen, die insgesamt lange und gewalttätig um die gesellschaftliche Vor­ herrschaft kämpften. Weil die kapitalistische Produktionsweise weniger radi­ kal ältere Produktions­weisen ablöste, als es die Entwicklung nach der Franzö­ sischen Revolution vermuten ließe, wurde auch der dress coat der Bourgeoisie 7

Die merchants sind diejenigen Kaufleute, die betriebsam denken, „weil die Produktionsver­ hältnisse, die den Feudalismus zu ersetzen begannen, nicht Luxus, sondern Fleiß verlang­ ten – ‚Betriebsamkeit‘ in zweierlei Hinsicht: als Charaktereigenschaft und als objektive Gegebenheit von Industriebetrieben.“ (Löwenthal 1990: 23). Diese merchants sind nicht auf ein Land oder eine Region festzulegen, sie können überall leben. Warum sie sich früh in England durchsetzen konnten und darum in dieser Arbeit unter dem englischen Begriff merchants benannt sind, wird in diesem Kapitel beschrieben. 8 Als dress coats verstanden werden in dieser Arbeit frock coats (dt. Gehröcke) und dress coats oder tail coats (dt. Fräcke). Das deutsche Wort Frack kam ursprünglich vom frock, dem Rock oder Kittel, im englischen Sprachraum wird mit dem frock aber der Gehrock be­ zeichnet (Loschek 2011: 197). Bei allen Unterschieden im Detail, geht es um die Ge­ meinsamkeiten, wenn vom dress coat geschrieben wird: Die Schnittform wurde bei diesen coats von militärischen Jackenformen übernommen. Es entwickelten sich verschiedene Variationen, aber diese waren alle grundsätzlich knielang, hatten lange Ärmel, Knöpfe am Revers und wenigstens einen Schlitz oder eine Öffnung im hinteren unteren Teil des Bekleidungsstücks (O,Hara Callan 2002: 105). Frock coats waren dabei im hinteren Teil gerade geschnitten und gingen meist wie ein Rock um den ganzen Körper herum. Bei Fräcken sind die stark zurückgeschnittenen Schöße charakteristisch (Loschek 2011: 197). Und was besonders wichtig ist: Die englischen coats zeichneten sich vor allem durch ihre Schlichtheit in Farben und Schnitt aus (siehe dazu Kapitel 1.1).

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noch nicht zur gesellschaftlich anerkanntesten Männerkleidung in der franzö­ sischen Gesellschaft. Als die modernen Grundlagen der bürgerlichen Männerkleidung gelegt wurden, waren die deutschen Staaten zersplittert, ökonomisch rückständig, die kapitalis­ tische Produktionsweise nicht einmal in Ansätzen ersichtlich. Im Kapitel Deut­ sche Bürger – Von Werther zu Jahn (Kapitel 1.3) wird darum gezeigt, dass die Anerkennung der Anzugträger ausblieb, weil sie entweder nicht zu den etablierten Pfahlbürgern, dem „alten Stadtbürgertum“ (Bude/Fischer/Kauffmann 2010: 11), gehörten oder im Nachhinein als Fremde und Außenseiter ausgegrenzt wurden. Die herrschenden aristokratischen Stände verweigerten den Bourgeois, anders als Englands Aristokraten, die Anerkennung. Als die langsame Modernisierung der Produktionsverhältnisse im Einklang mit der herrschenden Klasse einsetzte, kam es nicht zur Amalgamierung mit den Großhändlern und Kaufleuten. Die Uniformen der Herrschenden sollten keine kulturellen, religiösen oder ethni­ schen Unterschiede verdecken, sondern Teile der deutschen Gesellschaften je nach Bedarf ausschließen können. Es wird gezeigt, dass das Streben nach einer national einheitlichen deutschen Gesellschaft die Uniformierung der Männer in verschiedenen Uniformen förderte. Während die Uniform der Bourgeoisie im 18. Jahrhundert in der französischen und deutschen Gesellschaft auf Widerstände der herrschenden Stände traf, setzte der dress coat sich in Amerika als Alltagskleidung durch. In der amerikanischen Gesellschaft entwickelt sich daraus der ready-to-wear-suit9: Die Uniform der Masse (Teil 2). Diese amerikanische Entwicklung darf nicht ausgespart werden, da durch sie wiederum die europäischen Verhältnisse im 19. Jahrhundert stärker beeinflusst wurden, als aus deutscher Perspektive oft beschrieben.10 9

Konfektion hatte in der deutschen Herrenbekleidungsfertigung sehr lange Zeit nicht die Bedeutung des ready-to-wear, also des Fertig-zum-Tragen und Gleich-Mitnehmen oder Sich-per-Katalog-zuschicken-lassen von Männeranzügen. In Deutschland eröffneten erst um die Wende zum 20. Jahrhundert in Berlin Firmen für Herrenkonfektionen (Westphal 1992: 29). Auch war es üblich, dass man im Laden anprobierte und seine Einkäufe nicht direkt mitnahm, sondern die Ware nach Hause geliefert bekam, wenn sie fertig genäht war. Eindrucksvoll nachzulesen im Roman Kleiner Mann was nun? von Hans Fallada aus dem Jahr 1932. Hier wird auch ein Bild vom kleinen Angestellten in Deutschland gezeigt, das die Differenz zum white-collar worker deutlicher machen kann (siehe dazu Fußnote 6). 10 In der deutschen Diskussion wird unter dem Stichwort Amerikanisierung ein Kulturtrans­ fer in verschiedenen Formen behandelt. Anselm Doering-Manteuffel setzt als Zeitraum, in dem von „Amerikanisierung“ zu sprechen sei, die Jahrzehnte nach dem Zweiten Welt­ krieg. Außerdem habe nach 1918 ein neuer Transfer von Kulturmustern eingesetzt: weg von Amerika nach Europa. Vorher schon habe es ab Mitte des 18. Jahrhunderts einen europäisch-amerikanischen Ideentransfer gegeben (Doering-Manteuffel 2011). Doch es

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Obwohl sich auch in der amerikanischen Gesellschaft, wie in der deutschen, erst in den 1870er-Jahren die Industrialisierung vollends durchsetzte, war die Entwicklung bis dahin eine andere. In Amerika wurde schon unter englischer Kolonialherrschaft das betriebswirtschaftliche Denken und die kapitalistische Produktionsweise von Merchant Farmers (Kapitel 2.1) beeinflusst, weshalb früh die Kleidung der Bourgeoisie zur vorherrschenden Männerkleidung wurde. Dies war die freiwillige Uniformierung der Amerikaner in der Minderheitengesell­ schaft, das bourgeoise Merkmal der Uniform der Bourgeoisie blieb am Träger des Anzugs erhalten, kulturelle, ethnische oder religiöse Unterschiede der Ein­ wanderer verschwanden. Auch nach der Unabhängigkeit von England blieb der dress coat anerkannt als bourgeoise Männerbekleidung. New York,s Merchants (Kapitel 2.2) waren nicht nur in immer billigere und besser gemachte Anzüge gekleidet, sondern fanden darin allgemeine gesell­ schaftliche Anerkennung. Durch die differenten gesellschaftlichen Bedürfnisse entwickelte sich in den USA die Uniform der Bourgeoisie zum Massenprodukt und konnte schon vor der Mitte des 19. Jahrhunderts überall im Staatsgebiet gekauft werden. Die Massenproduzenten (Kapitel 2.3) waren zum einen manufacturers11, die mehr Einfluss in der Gesellschaft gewannen, zum andern die industrial workers, deren Zahl zum Ende des Jahrhunderts mit der zunehmenden Industrialisie­ rung zunahm. Da die Standards der ready-to-wear-suits schon von den merchant farmers festgelegt wurden und bei guter Qualität immer billiger gewor­ den waren, gingen die Hersteller der fertigen Männerbekleidung hinter diese gesetzten Standards nicht zurück. Auch industrial workers trugen gute Anzüge, die Uniform der Masse. handelte sich dabei nicht allein um den als Amerikanisierung beschriebenen europäischamerikanischen Ideentransfer von Europa nach Amerika, sondern vor allem um einen Transfer von Stoffen aus England und Arbeitskräften aus der ganzen Welt. In dieser Arbeit stützen sich die Interpretationen zu den USA vor allem auf die vom Soziologen Stephan Truninger analysierte Genese des modernen Amerikas, wodurch sich wichtige Elemente des Begriffs von Amerikanisierung erschließen. Truninger zeigt in seinem Buch Die Amerikanisierung Amerikas (2010), dass erst die besondere, weltweit ausgreifende ­Dynamik der amerikanischen Gesellschaft es ermöglichte, Modernisierungsprozesse in Europa als Amerikanisierung zu erfahren. 11 Im Deutschen werden mit dem Wort Manufakturen allgemein (vorindustrielle) gewerbli­ che Großbetriebe bezeichnet, in denen die Waren noch im Wesentlichen mit viel Hand­ arbeit gefertigt werden, während in den Fabriken maschinell große Stückzahlen produziert werden. Die hier verwendeten englischen Ausdrücke gehen auf das Wort manufacture zurück: „making of articles, esp. in a factory etc.“ (Thompson 1998). Der manufacturer ist der Erzeuger oder Fabrikant (Messinger 1994).

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Die Uniform der Masse stieß auf gesellschaftliche Widerstände in Europa, aber die Vorteile der Massenproduktionsweise, nach dem Prinzip der Aufteilung in einzelne Arbeitsschritte, wurden auch in Europa gesehen. Im abschließenden Teil: Die Uniform der Herren (Teil 3) wird gezeigt, wie es nach der Ausweitung der industriellen Produktion nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zu neuen gesellschaftlichen Kämpfen kam. Jetzt wurden die alten Herrschaftsgefüge von den an Einfluss gewinnenden aufstrebenden manufacturers in Frage gestellt. Aber auch die Zahl an industrial workers nahm durch die Industrialisierung zu, so dass sich die gesellschaftlichen Kämpfe um Anerkennung veränderten, und damit auch die Bekleidungsgewohnheiten. In England nahmen durch die von der amerikanischen Entwicklung beein­ flusste Intensivierung der maschinellen Produktion die Klassenspannungen zu. Infolgedessen traten die ihre Privilegien verlierenden industrial workers kämp­ ferischer auf. Als Reaktion darauf nahm die Bourgeoisie bedeutende manufacturers in die herrschende Klasse auf und formierte sich in England in der Uniform der Gentlemen (Kapitel 3.1). Mit der invention of fashion tradition12 wandten diese Männer sich äußerst luxuriösen handverarbeitenden, d.h. veral­ teten, Produktionsweisen zu. Diese Klasse uniformierte sich in maßgeschnei­ derten tailor-made-suits. Auch in den USA gewannen die manufacturers durch die zunehmende Indus­ trialisierung an Einfluss. Hier versuchten die an Einfluss verlierenden merchants, sich auch über die Bekleidung abzugrenzen und Lösungen in Europa bei den englischen Gentlemen zu finden. Diese Abgrenzung einer herrschen­ den Klasse über die Bekleidung im tailor-made-suit konnte in den USA aber nicht funktionieren, die Uniform der Masse entwickelte sich zur Uniform der Quasi-­Gentlemen (Kapitel 3.2). Weil die Uniform der Bourgeoisie im 18. Jahr­ hundert in der amerikanischen Gesellschaft ohne Widerstände aufgenommen und Anfang des 19. Jahrhunderts zur Uniform der Masse weiterentwickelt worden war, blieb die Uniform der Gentlemen veraltet. Die Durchsetzung von luxuriöser handgefertigter Bekleidung nach veralteten Produktionsweisen für die herrschende Klasse gelang nicht, sondern in den USA wurde die moderne Massenproduktion für die Männerbekleidung zur noch moderneren flexiblen Massenproduktion weiterentwickelt. Dadurch wurde die Uniform der Masse abgelegt, Gleichheiten in der Gesellschaft verbaut und Ungleichheiten beför­ dert. Das entsprach dem Bedürfnis nach Abgrenzung der in den USA Ende des 19. Jahrhunderts an Einfluss zunehmenden Gruppe der white-collar workers 12 Am nächsten käme dem im Deutschen vielleicht die Erfindung/Einführung von Beklei­ dungstraditionen.

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(Angestellte). Und doch blieb das bourgeoise Element in der neuen Uniform bestehen, weil, obwohl vom Einzelnen Konsumhürden zu bewältigen waren, damit auch weiterhin Chancen der Amerikanisierung, d.h. der Anerkennung in der amerikanischen bürgerlichen Gesellschaft, bestanden. Im 20. und 21. Jahrhundert geschriebene vergleichende Untersuchungen von deutschen Historikern und Soziologen zur Bürgerlichkeit setzen hier am Ende des 19. Jahrhunderts an, weil die Entwicklung im Kaiserreich nun mit der­ jenigen in anderen Industriegesellschaften vergleichbar erscheint. Dabei wer­ den vor allem die Klassenkämpfe zwischen Industriellen und Arbeitern, unter Berücksichtigung der Bildungsbürger als von den Wirtschaftsbürgern unterschie­ denen Bürgern, betrachtet. Anders als in den USA und England erschienen die Konfliktlinien in der herrschenden Klasse Deutschlands nicht als Konflikt zwischen Wirtschaftsbürgern (in England und den USA die manufacturers) und Großhändlern oder Kaufleuten (in England und den USA die merchants), sondern zwischen Wirtschaftsbürgern und dem Staat, verkörpert durch die Beamten und die Aristokratie. Durch die Herausforderungen der neuen Nation, dem Wilhel­ minischen Kaiserreich, entwickelte sich nun in einer invention of tradition (dt. Erfindung/Einführung von Traditionen) aus Militäruniformen die Uniform der Berufe (Kapitel 3.3) als anerkannteste Bekleidung in der deutschen Gesellschaft. Obwohl die Anzahl der Anzugträger im Kaiserreich stetig zunahm, war hier der Anzug immer noch nicht die anerkannteste Männerbekleidung. 

In diesem Buch werden die nationalen historischen Perspektiven durch die Sicht auf grenzüberschreitende Prozesse erweitert. Dafür werden auch verschiedene Disziplinen wie die Geschichte, die Soziologie, die Ökonomie oder die Gender­ forschung berücksichtigt. So geht es von England nach Frankreich, über deutsche Staaten in die USA. Dann von den Vereinigten Staaten nach England, wieder zurück über den Atlantik in die USA und nach Deutschland. Aber obwohl in diesem Buch die Entwicklung vom 16. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt steht, ist diese Geschichte von Männerkleidung noch lange keine vergangene Geschichte, sondern kann auch für aktuelle Debatten hilfreich sein. So werden an der Geschichte des Anzugs die spezifischen Reaktionen auf jeweilige grenzüberschreitende Prozesse in den untersuchten Gesellschaften betrachtet. Auf die Einführung von Anzügen aus England wurde in den USA anders reagiert als im Deutschen Reich, weil sie hier auf andere gesellschaftliche Strukturen mit eigenen Erfahrungen traf und je spezifische gesellschaftliche Bedürfnisse durch diese neue Bekleidung erfüllt werden sollten. Genauso sind in späterer Zeit die Reaktionen bei der Einführung von amerikanischen Jeans und T-Shirts in England oder Deutschland unterschiedlich gewesen. Und da

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sich die Klassengesellschaften immer wieder neu formieren, kann dieses Buch – oder besser noch der Ansatz, der hier angelegt ist – auch zum Verständnis heutiger formal freier Gesellschaften beitragen. Über Bekleidung werden auch aktuell noch gesellschaftliche Kämpfe um Macht und Anerkennung ausgetra­ gen, die über die Teilhabe an der herrschenden oder der beherrschten Klasse bestimmen und darüber, wer Herr im Anzug ist.

1. Die Uniform der Bourgeoisie Die Transformationen zu Klassengesellschaften begannen vor dem langen 19. Jahrhundert.13 Schon im 18. Jahrhundert haben sich Wahrnehmungs­muster etabliert, die bis heute nachwirken, daher muss die Forschung zur Genese moderner Gesellschaften, wie Bude et al. (2010: 15) fordern, auch früher ansetzen. In diesem ersten Teil der Arbeit wird gezeigt, wo, wann und warum die Bourgeoisie sich zusammenschließt. Die von Kocka oder Bude dafür verantwortlichen Merkmale und Schlüsselmotive, wie eine „scharfe Ausprägung des Land-Stadt-Unterschieds, kräftige adelig-feudale Traditionen, deutliche Klassenspannungen, starke städtisch-stadtbürgerliche Traditionen, die Wirksamkeit der Aufklärung, ethnische und konfessionelle Homogenität, deutliche Grenzen der Verallgemeinerbarkeit bürgerlicher Kultur“ (Kocka 1988a: 33) lassen sich für diese Gesellschaften vor dem 19. Jahrhundert nicht finden. Wenn man früher ansetzt, dann zeigt sich, dass es differente Macht- und ­Herrschaftsverhältnisse waren, die die Bourgeois begünstigten und heterogenere gesellschaftliche Verhältnisse, als dass sie sich über den einfachen Ansatz des Bürgers zwischen Adel und Arbeitern bestimmen ließen. Diese Verhältnisse zeichnen sich durch viele Überlappungen, Mischungsverhältnisse und ein Nebeneinander aus und passen nicht in einen nationalen Rahmen. Einflüsse aus näher gelegenen Regionen und weit entfernten Teilen der Welt bestimmten immer auch die eigenen gesellschaftlichen Veränderungen. Dabei gab es stets auch heftige Widerstände der alten herrschenden Stände, die durch zugesicherte Privilegien gesellschaftliche Macht und Herrschaft ausübten. Diese Verwobenheiten und Einflüsse, Kämpfe und Siege in den gesellschaftlichen Transformationen lassen sich nur als Teil eines großen Prozesses, einer erweiterten Perspektive erklären. In diesem Teil 1 wird aus dieser Perspektive gezeigt, wie sich eine Bourgeoisie uniformierte und als neue herrschende Klasse Maßstäbe für die Grundlagen der bis heute geltenden Herrschaftskleidung setzte: den Anzug. Die bourgeoise Männerkleidung entwickelte sich in England, weil sich hier von merchants ein betriebsames, an den eigenen Profiten interessiertes Denken und Handeln entfalten konnte, woraus sich später die kapitalistische Produktionsweise entwickelte. Diese merchants fanden gesellschaftliche Anerkennung und Aufnahme in die herrschende Klasse, darum wurde auch ihre Bekleidung anerkannt. Aus den „abenteuerlustigen Individualisten des elisabethanischen England“ (Löwenthal 1990: 81) waren zum Ende des 17. Jahrhunderts an ihren 13 Nach Eric Hobsbawm bezeichnet „long century“ die Phase von 1798 bis 1914.

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Bekleidungsgewohnheiten erkennbare Männer geworden: die Merchants von Manchester (Kapitel 1.1). Die Veränderung ihrer Kleidungsgewohnheiten verdankte sich den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen: Die Uniformierung im Anzug entsprach dem Bedürfnis einer einheitlichen Außendarstellung, um kulturelle (oder religiöse oder ethnische) Unterschiede innerhalb der bourgeoisen Klasse verschwinden zu lassen. Im nächsten Kapitel Sansculotten – Bürger im seidenen Rock? (Kapitel 1.2) wird auf Frankreich eingegangen. Häufig wird mit der Juli-Revolution von 1789 der Beginn des bürgerlichen Zeitalters angesetzt, ab dem sich die moderne Bürgerlichkeit entfaltet habe. Dazu passen die gängigen Darstellungen zur historischen Entwicklung der Männerkleidung, die dem Kampf französischer revolutionärer Bürger gegen den Adel entscheidende Einflüsse zuschreiben (René König). Auch dieses national beschränkte etablierte Wahrnehmungsmuster kann aufgebrochen werden, denn Einflüsse auf die neue französische Männerkleidung kamen vor allem aus England. In Frankreich löste die kapitalistische Produktionsweise weniger radikal ältere Produktionsweisen ab, daher wurde hier auch die Kleidung der Bourgeoisie noch nicht zur vorherrschenden, d.h. gesellschaftlich anerkanntesten Männerkleidung. Erst nach dem Ende des Napoleonischen Kaiserreichs und der Einsetzung von Louis-Philippe als König von Frankreich änderte sich das. Erst wenn diese frühe Entwicklung im England und Frankreich des 18. Jahrhunderts beschrieben ist, kann im Kapitel Deutsche Bürger – Von Werther zu Jahn (Kapitel 1.3) den Ursprüngen des modernen Bürgertums in der deutschen Gesellschaft nachgegangen werden. Nicht einmal hier passen für den untersuchten Zeitraum alle von Kocka genannten Merkmale oder von Bude et al. aufgezählten Schlüsselmotive. Es zeigt sich, dass in den deutschen Staaten die Entwicklungen in den großen Nachbarländern einen gewichtigen Einfluss auf die sich etablierenden Wahrnehmungsmuster zur Bürgerlichkeit hatten. Wie in Frankreich waren die englischen Einflüsse schon im 18. Jahrhundert zu spüren und auch hier traf die Uniform der Bourgeoisie auf Widerstände der alten herrschenden Stände, die durch zugesicherte Privilegien gesellschaftliche Macht und Herrschaft ausübten. Aber von größerer Bedeutung waren in den deutschen Staaten die sich transformierenden französischen Einflüsse. Die Uniform der Bourgeoisie traf in den deutschen Gesellschaften in hohem Maße auf Widerstände von weniger einflussreichen Gesellschaftsgruppen, gerade weil die Bekleidungsgewohnheiten aus der französischen Gesellschaft diese Bürger in noch stärkerem Maße beeinflussten. Die deutsche Abwehr der ausländischen Einflüsse, vor allem aus Frankreich, führte zur Nationalisierung, dadurch konnte die Uniform des Offiziers anerkannteste Männerbekleidung bleiben. Im Unterschied zur

Die Uniform der Bourgeoisie

Uniform der Bourgeoisie konnten über die Militäruniformen keine kulturellen, religiösen oder ethnischen Unterschiede verdeckt werden, sondern es wurden Teile der Gesellschaft je nach Bedarf ausgeschlossen. Gerade das Streben nach einer nationalen einheitlichen deutschen Gesellschaft förderte die Uniformierung der Männer in verschiedenen Uniformen und verhinderte die Akzeptanz der kosmopolitischen und grenzübergreifend am Handel interessierten Großhändler und Kaufleute (merchants) in ihrer Uniform der Bourgeoisie.

1.1 Die Merchants von Manchester Nerissa: What say you then to Falconbridge, the young baron of England? Portia: You know I say nothing to him, for he understands not me, nor I him: he hath neither Latin, French, nor Italian, and you will come into the Court and swear that I have a poor pennyworth in the English: he is a proper man’s picture, but alas who can converse with a dumbshow? how oddly he is suited, I think he bought his doublet in Italy, his round hose in France, his bonnet in Germany, and his behaviour every where. William Shakespeare, The Merchant of Venice, 1.2 (1994: 31).

Noch Ende des 16. Jahrhunderts schnitt bei Shakespeare der englische Brautwerber gegen den von Portia erwählten Venezianer ungünstig ab. Vor allem aber war er ungebildet und hatte ein schlechtes Benehmen. Mit seiner bei den verschiedensten Stilen Europas entliehenen zusammengewürfelten Kleidung war er dazu unmöglich angezogen. Rund hundert Jahre später hatte sich in Englands herrschender Klasse eine uniformierte, standardisierte Kleidung durchgesetzt, an der sich weltweit Männer zu orientieren begannen. Warum sich gerade in der englischen Gesellschaft aus der individuellen handgearbeiteten Produktionsweise die standardisierte Produktionsweise entwickelte, hat mit den sich verändernden Macht- und Herrschaftsverhältnissen zu tun. Dabei waren es weniger zwei homogene Gruppen von Bürgern und Aristokraten, die gegeneinander kämpften, sondern merchants, die in der englischen Gesellschaft Anerkennung forderten. Weil sie diese Anerkennung fanden, konnten sich ihre Anforderungen an bourgeoise Kleidung durchsetzen, die im Gegensatz zu den alten ständischen Kleidungsgewohnheiten standen.

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Spanische Mode? In der Modesoziologie wird die im 16. Jahrhundert vorherrschende Art sich zu kleiden als Spanische Mode bezeichnet. Nach einer Reihe von Kriegen, „in denen Spanien, England und Frankreich um die Hegemonie in Europa kämpften“ (König 1967: 94), sei schlussendlich das modische Chaos zu Gunsten einer spanischen Mode entschieden gewesen. Diese sei in Europa so vorherrschend gewesen, wie die weltpolitische Herrschaft unter Kaiser Karl V. (Regentschaft von 1519–1556) (König 1967: 94). Bis ins 18. Jahrhundert wurden in Europa die Textilien insgesamt größtenteils aus Flachs oder Wolle hergestellt. Der überwiegende Teil der Kleidung wurde aus groben selbstgesponnenen und selbstgewobenen Leinenstoffen gefertigt; Leinen war das robusteste Material, d.h., die Stoffe waren sehr haltbar. Flachs und Wolle waren billige Materialien, weil diese Rohstoffe oft vor Ort erhältlich waren und nicht eingeführt werden mussten (Schulze-Gävernitz 1892: 31). Bevor sich die Kleidungsgewohnheiten im 16. Jahrhundert zu verändern begannen, war auch in England, wie in ganz Europa, die Bekleidung der meisten Leute weich am Körper anliegend, aber dabei formlos. Begehrt waren jedoch vom Mittelalter bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts Kleidungsstücke, die möglichst voluminös, sperrig und steif waren (Wüsten/Wolf/Flieger 1993: 62). Und die vorherrschende Eigenschaft von Stoff, weich zu sein und sich an den Körper zu legen, konnte nur durch eine aufwändige Bearbeitung zur gewünschten steifen Formbarkeit verändert werden. Dafür wurden bevorzugt Stoffe wie Brokate, Samte und schwere Seiden verarbeitet, denen der Wert am Gewicht abzumessen war. „the heavyweight relic wrappings that have survived in European treasuries are the most expensive and of highest quality and heaviest weight.“ (Snyder 2004: 150). Auf dem Gemälde, das den englischen König James I. (siehe dazu Abbildung 1) zeigt, sieht man sehr gut, wie der Maler Paulus van Somer die Weite und Steifheit der Oberbekleidung und der Hosen betont. Neben dem metallenen Harnisch wurden zudem einige andere Kleidungsstücke mit einem metallischen Glanz versehen, wodurch dem Betrachter eine Härte vermittelt wird, die von den Stoffen sonst nicht ausgeht. Denn je reichhaltiger Textilien bestickt, durchbrochen, mit Pelz oder anderen Stoffen unterfüttert und mit Gold oder Silber gewirkt waren, desto schwerer wurden sie und desto gewichtiger waren auch die Personen, die sie trugen. Macht entfaltete sich im wörtlichen Sinne unmittelbar über die Fülle der prächtigen Kleidung; die Stellung in der Gesellschaft wurde in räumlichen Ausbuchtungen, Rundungen, Faltenwürfen dargestellt.

Die Uniform der Bourgeoisie

Abbildung 1: König James I. (1566–1625), gemalt von Paulus van Somer.

Von einer einheitlichen europäischen Mode kann darum nicht gesprochen werden, da sich einzelne Kleidungsstücke hinsichtlich ihrer handwerklichen Machart voneinander unterschieden. Unter den Produktionsbedingungen betrachtet, wurde der Stoff und die Bekleidung in Handarbeit hergestellt, das heißt gesponnen und gewoben, genäht oder bestickt, verstärkt und gefärbt. Die Arbeitskraft, die in die Herstellung und Veredelung der Stoffe hineinfloss, verstärkte gerade das Einzigartige der Textilien. In der Kombination der verschiedenen Stoffe sind die fertigen Kleidungsstücke unverwechselbar und einzigartig gewesen. Es war keine Bekleidung, die modisch war, d.h. standardisierte Bekleidung, die durch Massenfertigung produziert wurde und austauschbar war. Bei den Bekleidungsstücken handelte es sich um individuelle und unverwechselbar gearbeitete Unikate, die andererseits so großzügig geschnitten waren, dass ihre Träger wechseln konnten.

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Jacken, Hosen oder Hemden wurden weniger einzelnen Personen angemessen, sondern einer Stellung in der Gesellschaft. Es gab zahlreiche Kleidungsstücke, die als Erbstücke begehrt waren, die detailreichen Beschreibungen über die Machart einiger dieser kostbaren Stücke sind aus Testamenten bekannt: „What is notable about the personal clothing described in elite wills is the obvious luxury of the fabrics and elaboration of design.“ (Ashley 2004: 143). Der uniforme Eindruck, den die Kleidung auf heutige Betrachter macht, entsteht durch die über die Kleidung demonstrierte Macht und Herrschaft, die bis zum 17. Jahrhundert ja auch in Europa nicht nur Männer sondern Frauen gleichermaßen über die voluminöse Entfaltung ihrer Bekleidung ausstrahlen konnten. Auf Gemälden aus dem 16. Jahrhundert sind die englische Königin Elisabeth I. und ihr Hofstaat, die Minister oder merchant adventurers (Kindler/Hilgemann 2006: 247), wie Francis Drake und John Hawkins, in prunkvoller, Pracht entfaltender Kleidung zu sehen. Diese an der spanischen Art und Weise orientierte, prunkvolle und aufwändige Bekleidung, so argumentiert der Soziologe René König, sei in England gerade in dem Augenblick zum radikalen Durchbruch gekommen, als das Land unter Königin Elisabeth I. (1566–1603) „einen Kampf auf Leben und Tod“ gegen die Spanier ausfocht (König 1967: 109). Aber diese Akteure waren nicht von Bedeutung für die Entwicklung der neuen Männerbekleidung und auch nicht verantwortlich für die Durchsetzung einer neuen Produktionsweise. Wo die Gesellschaft in England voranschritt, blieb die spanische, wie andere aristokratische Gesellschaften, rückständig – und damit auch ihre Bekleidung. Für die spanische Aristokratie, so beschreibt es der Soziologe Leo Löwenthal, war Ende des 16. Jahrhunderts der innere Widerspruch zwischen der mittel­ alterlichen und der modernen Art des gesellschaftlichen Lebens charakteristisch. Die Monarchie konnte eine Weile davon zehren, dass durch die spanischen Entdeckungen, vor allem durch die Erträge des Kolonialreiches und die Beute aus siegreichen Feldzügen, große Gewinne vorhanden waren. Davon konnten sie einen veralteten, protzenden, aufwändigen Luxus aufrechterhalten. Damit versuchten die spanische Monarchie und die mit ihr verbundenen weltlichen und geistlichen Aristokraten „wesensmäßig kapitalistische Arten der Produktion und des Konsums einem antiquierten Feudalsystem unterzuordnen“ (Löwenthal 1990: 23). So wurden unter der auf Karl V. folgenden Regentschaft von ­Philipp II. (von 1556 bis 1598) die wichtigsten Träger von Handel und Gewerbe unterdrückt oder unter der Inquisition getötet, die Kontrolle über die Wirtschaft und die Kolonien wurden allein dem Königshaus unterstellt (Kindler/Hilgemann 2006: 243). Die Stoffherstellung hatte im Spanischen Reich meist in den Händen der gewerblich erfahrenen Mauren gelegen, mit ihrer Vertreibung setzte der endgültige Niedergang der einst blühenden spanischen Gewerke ein (Brost 1984: 100).

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So war im arabisch beherrschten Süden des heutigen Spaniens und auf Sizilien seit dem elften und zwölften Jahrhundert Baumwolle angebaut, gesponnen und verwoben worden. Aber als die Mauren um 1500 die iberische Halbinsel verlassen mussten, gingen viele Kenntnisse verloren (May/Lege 1999: 69). In Spanien richteten die herrschenden Stände den Blick auf die glorreiche Vergangenheit des Reiches, weil in ihrer Gegenwart die Auflösung der alten vertrauten ständischen Ordnungen in der spanischen Gesellschaft schon ersichtlich war. Im von Miguel de Cervantes 1605 veröffentlichten Don Quijote wird genau das verhandelt.14 Als an sich traurige Gestalt versucht dieser Romanheld, an einen vergangenen Ritterstand anzuknüpfen und ist doch so frei von dieser Vergangenheit, dass er als selbsternannter Ritter aus La Mancha mit Stolz das Scherbecken eines Barbiers als den goldenen Helm des Mambrin zu tragen vermag. Don Quijote mag es übertrieben haben, aber der Rekurs auf die Ritterzeit zeigt sich in der als spanisch bekannten Bekleidung deutlich. So waren zu dieser Zeit noch Brustharnische, d.h. Versatzstücke von Ritterrüstungen, Bestandteil der Bekleidung für Männer der Oberschicht. Diese Rüstungsteile wurden aber schon vermehrt durch gold- und silbern gewirkte (und damit Metallen ähnelnde) Brokatstoffe ersetzt, die bequemer und leichter waren und sich für die Kämpfe auf dem Parkett (oder der Kanzel) besser eigneten als auf dem Schlachtfeld. Die gesteigerte Entfaltung des Luxus, die sich auch in der Bekleidung zeigte, kann als eine Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen gesehen werden, die den Beginn des Verlustes feudaler Macht einleiteten. In Spanien musste der wirtschaftliche Aufschwung früher oder später ein Ende nehmen, „weil die Produktionsverhältnisse, die den Feudalismus zu ersetzen begannen, nicht Luxus, sondern Fleiß verlangten – ‚Betriebsamkeit‘ in zweierlei Hinsicht: als Charaktereigenschaft und als objektive Gegebenheit von Industriebetrieben.“ (Löwenthal 1990: 23). Auch in der englischen Monarchie wird noch diese feudale rückwärtsgewandte Bekleidung getragen, doch hat längst die Transformation in eine Gesellschaft begonnen, in der Betriebsamkeit gesellschaftlich anerkannt wird. Und damit werden Männer, die betriebsam sind, hier in ihrer Bekleidung anerkannt. Nun werden diese betriebsamen Charaktere bei den deutschen Historikern und Soziologen meist unter den Bürgern gesucht. So schreibt René König von den Stadtbürgern, dass sie diese Spanische Mode akzeptiert hatten, insbesondere in Italien und Süddeutschland, wo die „großen Kaufherren“ bald fürstliche Allüren 14 Nach einem Vortrag des Schweizer Soziologen Kurt Wyss zum Thema: Soziologisches zu Don Quijote, gehalten am 12. August 2010 in der Veranstaltung Offenes Kolloquium der Reihe KunstDerKritik in Novy Hrady, Tschechien.

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angenommen hätten (1967: 92).15 Doch hätten tatsächlich die Kaufleute und Bürger einfach die Mode der Aristokratie, also eines antiquierten Feudalsystems übernommen, wäre kaum zu erklären, wieso sich die Männerkleidung gerade in der englischen Gesellschaft verändert hat. Die Akzeptanz der Spanisch genannten Art der Bekleidung wurde weder von allen Kaufleuten und Bürgern noch von allen Aristokraten Europas (oder darüber hinaus) gleichermaßen geteilt. Nur wenn man die Vorstellung von zwei sich bekämpfenden homogenen Gesellschaftsgruppen überwindet, wie sie im etablierten Wahrnehmungsmuster deutscher Geschichtsschreibung vorkommt, kann die Frage der Weiterentwicklung der Männerkleidung befriedigend beantwortet werden. Die neuen Händler In der Übergangszeit von der Renaissance zur Moderne beschreibt Shakespeare im Merchant of Venice zwei Typen von Kaufleuten, die sich durch unterschiedliches Geschäftsgebaren auszeichnen. Der etablierte ist der Kaufmann von Venedig, der noch auf freundschaftlicher Basis seine Geschäfte führt und seine Schiffe auf eigene Gefahr beladen lässt. Er hilft einem Bekannten mit einem riskanten Geschäft, das ihm nicht nur keinen Profit, sondern vielleicht den eigenen Untergang einbringen kann. Den anderen Typ stellt der merchant Shylock dar, der Geschäfte unabhängig von der persönlichen, der bekannten Beziehung macht, sondern auf seine eigenen interests16 schaut.17 Indem Shakes­

15 Wenn man nicht von zwei strikt getrennten, homogenen, sich feindlich gegenüberstehenden Gruppen ausgeht, sondern wie hier von Überlappungen, Mischungsverhältnissen und einem Nebeneinander, dann kann auch nicht von einer Feudalisierung der Kaufleute gesprochen werden. Gerade in England, wo sich merchants und gentry zusammentaten, kann von einer Annahme „feudaler Allüren“ (König 1967: 92) nicht mehr gesprochen werden, weil sich diese amalgamierte herrschende Klasse auch in der Bekleidung etwas Neues schafft (siehe dazu den weiteren Verlauf dieses Kapitels). Eine neue Art von Bekleidung für Männer, die bis heute immer noch von den herrschenden Klassen getragen wird. 16 Im englischen Wort interests steckt neben den Interessen auch der Zins, diese Bedeutung ist es, die mich dazu veranlasst hat, hier das englische Wort durchgehend zu verwenden. 17 „On the surface, the main difference between the Christian characters and Shylock appears to be that the Christian characters value human relationships over business ones, whereas Shylock is only interested in money. The Christian characters certainly view the matter this way. Merchants like Antonio lend money free of interest and put themselves at risk for those they love, whereas Shylock agonizes over the loss of his money and is reported to run through the streets crying, ‚O, my ducats! O, my daughter!‘ (2.8). With these words, he apparently values his money at least as much as his daughter, suggesting that his greed outweighs his love. However, upon closer inspection, this supposed difference ­between Christian and Jew breaks down. [...] Some human relationships do indeed mat-

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peare ihn einer anderen Religionsgemeinschaft zugehörig sein lässt, zeigt er sehr einfach, aber mit aller Deutlichkeit, dass Shylock, obwohl er in derselben Stadt lebt, nicht unter den sich bekannten, miteinander freundschaftlich verkehrenden Kaufleuten zuhause ist. Er ist ein Fremder, der mit Fremden seine Geschäfte macht. Das verändert die Handelstätigkeiten, denn die sich fremden merchants konzentrierten sich stärker auf eigene interests, wodurch wiederum die Geschäfte mittelbar und unpersönlich, aber profitabler wurden. In ganz Europa gab es solche Männer (und Frauen), aber bei den „abenteuer­ l­ustigen Individualisten des elisabethanischen England“ (Löwenthal 1990: 81) konnte sich diese Betriebsamkeit freier entfalten, wodurch sich die Möglichkeiten zu Geschäften und Profiten erweiterten und sie ihre interests besser durchsetzen konnten. In England waren die Umstände günstig, dass diese neuen merchants akzeptiert wurden. Darum wurde es bei Shakespeare thematisiert, weil sich seine Gesellschaft im Umbruch befand und mit diesen Transformationen auseinandersetzte. Denn die zunehmende Durchsetzung des abstrakteren, unpersönlicheren, also mittelbaren Denkens und Handelns führte zur Loslösung von der Bedarfs­ deckung hin zur Bedarfsweckung über die Ausweitung der Betriebsamkeit. Und in England galt die allgemeine Freiheit im Handel mehr als in jedem anderen Land. Es war die Freiheit, ohne Zoll einheimische Waren fast jeder Art in beinahe jedes fremde Land auszuführen, die schrankenlose Freiheit, Waren von einem Landesteil in den anderen zu transportieren, ohne irgendeiner staatlichen Behörde darüber Rechenschaft ablegen zu müssen, ohne Befragung und Überprüfung unterworfen zu sein. Aber es gehörte auch die gerechte und unparteiische Justizverwaltung dazu, die die Rechte der Untertanen schützte und jeden Erwerb, egal welcher Art, anregte, weil sie dem Einzelnen die Früchte seiner Arbeit sicherte (Smith 2003 [1789]: 513). Diese gesellschaftlichen Verhältnisse in England begünstigten den betriebsamen Typ von Kaufleuten oder besser merchants, darum kam es hier früher als in Spanien zur Ablösung von der ständischen Gesellschaftsordnung. So wurde das antiquierte Feudalsystem der handwerklichen individuellen Produktion und des luxuriösen Konsums, das die spanischen herrschenden Stände noch bevorzugten, zum kapitalistischen System umgebildet. Für die Veränderung der englischen Gesellschaft und damit des Bekleidungsverhaltens der Männer, spielte das Begehren nach luxuriösen, teuren, gewichtigen Stoffen eine bedeutende Rolle. Die über den in England unbeschränkten Fernhandel von merchants nach Europa gebrachten Textilien ließen auch die ständische Gesellschaftsordnung durcheinandergeraten. Dieser kommerzielle ter to Shylock more than money.“ (http://www.sparknotes.com/shakespeare/merchant/ themes.html 2015, Herv. A. M.)

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Handel mit Textilien reichte weit zurück bis in die Zeit des ersten erfolgreichen Kreuzzugs (1095), denn schon die Erfahrungen der Pilger und Kreuzfahrer hatten bei vielen Europäern den Wunsch nach Stoffen und Kleidung aus der Levante hervorgerufen (Snyder 2004: 154).18 Es waren bis zum 16. Jahrhundert die luxuriösen von der spanischen Aristokratie vor-getragenen Kleidungstücke und das Bedürfnis nach teuren Stoffen aus aller Welt, durch die sich der Handel mit Textilien steigerte, was wiederum die merchants bereicherte.19 Auch mit Hilfe der betriebsame merchants begünstigenden Gesetze war es unter der Herrschaft von Königin Elisabeth I. (Regierungszeit von 1558–1603) zur Expansion der englischen Seefahrt gekommen, die zu einer erhöhten Einfuhr von Waren aus aller Welt geführt hatte (Schulze-Gävernitz 1892: 76). Das Angebot an Textilien erweiterte sich zu einer noch nicht gekannten Vielfalt an Materialien, Stoffen, Dekoren, das durch neue Techniken des Schneiderns und des Färbens in allen Farben immer größer wurde (Wüsten/Wolf/Flieger 1993: 16). Durch

18 Schon seit dem Mittelalter wurden von Indien aus insbesondere Baumwoll- und Seidengewebe vorzugsweise gegen Metalle gehandelt (Schulze-Gävernitz 1892: 29). Die Inder verbreiteten ihre Textilprodukte in den Mittleren Osten, von wo aus die Baumwollstoffe in den Mittelmeerraum nach Griechenland, Rom, Ägypten und letztendlich nach Europa eingeführt wurden. Im 12.  Jahrhundert war „the culture of ‚Europe‘“ aber noch „under construction“. Die Iberische Halbinsel und das normannisch beherrschte Sizilien „marginalized precisely because their political, social and cultural hybridity squares so poorly with the genealogy of the modern nationstate – may be recoded as the Latin West,s privileged points of acces to the medieval Mediterranean.“ (Kinoshita 2004: 174). „This emphasis on trade, traffic, and interaction (rather than on emergent states with their attendant proto-national cultures) brings to the force a different set of historical actors who – like the Norman Sicilians – otherwise risk disappearing in the disciplinary divides separating medieval Europe from the Islamic world or the proto-national histories of Italy, France, or Spain. Central here are the Genoese, who sailed throughout the Mediterranean, building a maritime empire rivalling that of the Venetians.“ (Kinoshita 2004: 175). Der Grund, warum die ersten in Europa bekannten Baumwollstoffe nach der Stadt Fustat als fustian benannt worden waren, lag darin, dass die „twin cities“ Kairo/Fustat zur Handelszone zwischen den beiden wichtigsten mittelalterlichen Seehandelszentren wurden: dem Mittelmeerraum- und dem Indienhandel (Snyder 2004: 149 f.). „The Fustat merchants from Old Cairo dealt with Syrian silks, Egyptian linens and fustians, and they shipped dyestuffs, cotton fibers, and flax.“ (Snyder 2004: 150). Daneben wurde auch in anderen Regionen, wie dem späteren Syrien, der „locus of the Crusaders kingdoms“, brillant gefärbte Seidenund Seide-Baumwoll-Textilien produziert und gehandelt (Snyder 2004: 156). 19 Neue Rohstoffe kamen auf den Markt. Farbe war im hohen Mittelalter ein sichtbares Zeichen der Differenzierung nach sozialem Rang (Wüsten/Wolf/Flieger 1993: 16). Zum Einfluss des Dekors siehe auch: Janet Snyder (2004) Cloth from the Promised Land: Appropriated Islamic Tiraz in Twelfth-Century French Sculpture.

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den sich ausweitenden Überseehandel stieg die Bedeutung der merchants an: „The merchants are the eyes, ears and nose of the trade.“ (Farnie 2004: 30). Die im Fernhandel tätigen merchants brachten vermehrt begehrte, aus dem Rahmen der eigenen Produktionsgrenzen fallende Waren in die Städte und sprengten die vorhandenen Einzelwirtschaften, die nur in geringer Weise durch Tausch und Handel miteinander verknüpft waren (Sombart 1913). Und diese Produktionsgrenzen hatte es auch für die englischen Textilgewerbe gegeben: „Was der einzelnen Wirtschaft an Gütern zukommt, bestimmt Sitte und Recht, insbesondere der Stand, in dem der Träger der Wirtschaft geboren ist.“ (Schulze-Gävernitz 1892: 31). Seit dem Hochmittelalter verlagerte sich in Europa die Herstellung von Stoffen aus Wolle oder anderen Textilien in die Städte. Damit wurde die Stoffproduktion vom überwiegend privaten in den allgemeinen öffentlichen Bereich getragen, wo die Herstellung von Gütern an eine rechtlich anerkannte Stellung im handwerklichen Gewerbe gebunden war. Aufgrund überlieferter Ordnungen sollte für ein auskömmliches Dasein der in Gilden oder Zünften organisierten Mitglieder gesorgt werden. Auch wenn die Bestimmung nicht einfach ist, lässt sich zumindest zeigen, dass in NordwestEuropa die Männer bei dieser Arbeit prominent wurden und die Frauen aus dem Herstellungsbereich verdrängten. In England zumindest arbeiteten die meisten in Gilden zusammengeschlossenen Männer in der lukrativen Wollweberei. Schlussendlich waren die Gilden so erfolgreich bei der Etablierung der Monopole, dass sie nicht mehr nur Frauen ausschlossen, sondern auch ihren Nachwuchs bei den Söhnen der Gildenmitglieder rekrutierten (Karras 2004: 93 ff.).20 Im ständischen Textilgewerbe, hier vor allem bei der Woll- und Leinenstoffherstellung, bedeutete dies eine Monopolstellung für die Verleger (wie die Organisatoren und Verbindungsmänner in der Textilproduktionskette hießen). Durch die Stellung als regionale Monopolisten wurde einerseits eine Konkurrenz unter den Verlegern verhindert. Andererseits waren sie dadurch aber gezwungen, von den ihnen unterstellten Spinnerinnen und Webern alle in Auftrag gegebenen Stoffe, d.h. die gesamte gearbeitete Ware, abzukaufen. Damit mussten 20 „With the continuing development of towns in the high and later Middle Ages craft guilds began to take control of production, and in northwestern Europe women’s labor was largely excluded or relegated to spinning or other less skilled and less remunerative stages of the clothmaking process, although in the Mediterranean region women may have been included for longer.“ Im 14. und 15. Jahrhundert hatten die Handwerksgilden die Fertigung dominiert. „In a few places – Paris, Rouen, Cologne – there were female guilds, particularly in luxury textile crafts like silkworking, but these were rare. In other places, like London, women did most of the silk work but did not achieve the dignity of a guild structure.“ (Karras 2004: 94 f.).

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die unterschiedlichen individuell besser oder schlechter gearbeiteten Produkte mit ihren Unregelmäßigkeiten und Fehlern im gewobenen Stoff abgenommen werden. Reglementierungen bestimmten die Anzahl an Handwerkern und Webstühlen, es gab feste Preise und Verkaufsmaxima; Produktion und Profit waren insgesamt begrenzt. Durch die festgelegten Limitierungen, die Abweichungen unter Strafe stellten, fehlten Anreize zu Verbesserungen in der Herstellungsweise und damit zum technischen Fortschritt (Schulze-Gävernitz 1892: 35). Das mit dem Fernhandel steigende Angebot an fremden Waren brachte eine unerwünschte Konkurrenz, wenn diese nicht über einen höheren Konsum ausgeglichen wurde. Mit den von merchants verstärkt eingeführten Waren wurden die ständischen Gesellschaften auch noch dadurch belastet, dass in den von ihnen belieferten Regionen Kauflust und demonstratives Zurschaustellen von Reichtum auch in anderen als der aristokratischen Gesellschaftsschicht geweckt wurden. Es gab in vielen Städten Bekleidungsregeln, die dadurch häufig unterlaufen wurden. Diese Bekleidungsregeln unterschieden sich. Es gab Regeln, die die Zugehörigkeit zu bestimmten Gesellschaftsgruppen erkennbar machen sollten: Adel, Klerus oder Bauernschaft und noch wichtiger vor allem Randgruppen wie die Juden, Dirnen und Bettler, die zu bestimmter Kleidung gezwungen wurden. Welchem Familienstand Frauen angehörten, konnte auch streng geregelt sein: Ob Ehe-, Jungfrau oder Witwe, das musste sich in der Kleidung unbedingt ausdrücken (Reich 2005: 172). Und es konnte nach Vermögen, den machtpolitischen Möglichkeiten sowie der Berufszugehörigkeit (z.B. der Zunft- oder Gildenzugehörigkeit) zugeordnet werden (Reich 2005: 175). Diese Bestimmungen stellten unter Strafe, wenn bestimmte Kleidungsstücke nicht getragen wurden oder Markierungen an der Bekleidung fehlten.21 21 Gegen die Wirksamkeit von Kleiderordnungen wird oft argumentiert, dass man die Leute nicht wirklich alle erfassen konnte und diese den Adressaten nicht ausreichend bekannt gewesen wären. (Was für die in meiner Arbeit vertretene Annahme spricht, dass diese Ordnungen eher für die Nicht-Etablierten, zu denen die merchants gehören konnten, gemacht waren.) Reichs Untersuchung zu Hannover (Deutschland) hat aber gezeigt, dass die Obrigkeit sehr viel Wert darauf legte, die Bürger, denen sie galten, auch davon in Kenntnis zu setzen, d.h., ihre Einhaltung wurde kontrolliert und Bewohner mussten schon bei kleinen Verstößen Geldstrafen zahlen (Reich 2005: 182). Reich betont allerdings auch, dass sich das Idealbild der hierarchischen Ordnung, die sich in diesen Kleiderordnungen widerspiegelte und die durch die städtische Obrigkeit geregelt wurde, parallel zu wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen im Laufe der Jahrhunderte veränderte (Reich 2005: 172). Die Aufhebung der Kleiderordnungen, wie in Paris 1789 in der Französischen Revolution, zeigt aber, dass erst mit der Durchsetzung einer bürgerlichen Gesellschaft, d.h. der Übernahme der politischen Macht durch die Bourgeoisie, eine wirkliche Aufhebung eines nach ständischen Privilegien im Sinne Max Webers orientierten Bekleidungs-

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Aber es gab auch Kleiderordnungen, die detaillierter waren und beispielsweise das Tragen bestimmter Stoffe oder Farben verboten (Snyder 2004: 154).22 Nach gängiger Ansicht in der Modeliteratur sollte hier verhindert werden, dass reiche Bürger die höfischen Moden, d.h. die Kleidung der Aristokratie, nachahmten, der Vorgang, durch den sich ein modischer Wettstreit zwischen Bürgertum und Adel entwickelt habe (König 1967: 90). Um die Bürger an der Nachahmung zu hindern, hätten erst die staatlichen und kirchlichen, dann auch die städtischen Obrigkeiten mit genauen Vorschriften zügelnd und lenkend einzugreifen gesucht (Wüsten/Wolf/Flieger 1993: 20). Wie aber neuere Untersuchungen zeigen, sollte durch diese Kleiderordnungen vor allem der Aufwand, den der Einzelne in Bezug auf Kleidung leisten durfte, geregelt werden. Das spricht weniger dafür, dass es bei den Reglementierungen darum ging, den reichen Bürgern die Anpassung an das Bekleidungsverhalten des Adels zu verbieten (Reich 2005: 172 ff.). Vielmehr waren es Versuche, mit diesen Ordnungen allgemein einen sich ausbreitenden Konsum einzudämmen. Mögen die Motive für diese Begrenzungen und Kontrollen im Konkreten vielfältig gewesen sein, lagen doch meistens auch ökonomische Gründe vor, um die Ausgaben einzelner Bürger zu beschränken: aus Angst vor der Verknappung von Edelmetallen oder Münzen, aber auch in dem Versuch, die Bürger vor dem eigenen Bankrott durch Verschuldung zu bewahren. As Kovesi Killerby observes, the absence of laws before the thirteenth century can be simply explained by the absence of large, organized groups of consumers. [...] The laws are a way of coping with a new social reality, that of constant desire for consumption. The emergence of these laws in the thirteenth century marks the emergence of a society beginning to organize itself to make constant consumption a possibility: by producing and importing a constant supply of available goods, by seeking to create available personal spending money, and by engaging in discourses that signaled what – and what not – to consume, (Heller 2004: 130 f ).23

verhaltens möglich wurde. In den deutschen Gebieten, wo 1848 die bürgerliche Revolution gescheitert war, konnten sich diese nicht ausschließlich am Geld orientierten Privilegien in der Bekleidung lange erhalten (siehe dazu Kapitel 1.3). 22 Die ersten Kleiderordnungen seien in Frankreich bereits Ende des 12. Jahrhunderts erlassen worden (Wüsten/Wolf/Flieger 1993: 20). Die sprunghafte Zunahme der Kleiderordnungen seit dem 12. Jahrhundert wird auf die Prunksucht der Bürger zurückgeführt, die ebenso auszuarten drohte wie die der Feudalherren (König 1967: 90). 23 Heller verweist auf eine Kleiderordnung von 1195, die eingeführt worden war, um die ausufernde Verwendung von Stoffmengen zu beschränken, um das ansonsten vergeudete Geld zu sparen, es sei „better spent for the war effort.“ (Heller 2004: 124). Auch eine Kleiderordnung aus dem Jahr 1300 scheint aus ökonomischen Zwecken eingeführt worden

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Wer aber gehörte zu den neuen Konsumenten, die sich in der Ständegesellschaft die luxuriösen Waren leisten konnten? Wahrscheinlich waren einige Handwerker wie Goldschmiede oder reiche Färber darunter, die sich über die Zunftgesetze hinwegsetzen konnten. Größtenteils werden sie jedoch anfangs aus der Gruppe der in ihrer Gegend etablierten Kaufleute und reichen Stadtbürger gekommen sein, wie es der Soziologe René König für die großen Kaufherren mit den fürstlichen Allüren in den reichen Handelsstädten beschreibt (1967: 92). Durch den sich ausbreitenden Konsum von mehr und neuen Waren wurden aber vor allem die nicht etablierten Kaufleute, die merchants, begünstigt, jene, die den Handel ausweiteten, um ihren eigenen interests nachzugehen, um Profite zu machen. Und mehr und mehr merchants schienen in die starren und veralteten gesellschaftlichen Ordnungen, die sich über die Standeszugehörigkeit bildeten, nicht hineinzugehören. Gerade weil sich den Kaufleuten und Großhändlern durch diese Freiheiten mehr als anderen Gesellschaftsgruppen, wie die im 16. Jahrhundert qua Geburt in eine Zunft oder Gilde eingebundenen Handwerker, Verleger oder die Aristokraten, die Möglichkeiten des gesellschaftlichen Auf-, oder Abstiegs anboten, gingen seit der Zeit der Renaissance die überlieferten Zugehörigkeiten und Abhängigkeiten immer mehr verloren. So kam es einerseits zur Ausweitung des Konsums, weil einige Männer sie sich durch steigende Gewinne leisten konnten. Aber sicher auch dadurch, dass diese merchants, als potentielle Fremde, es eher gewagt haben, dies auch in der Bekleidung auszudrücken. In Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche konnten vielleicht gerade diese Fremden, wie das auch für spätere Zeiten zu gelten scheint, in der prächtigen Kleidung versucht haben, unter den veralteten gesellschaftlichen Verhältnissen gesellschaftliche Anerkennung der länger ansässigen Einwohner zu gewinnen. Dann hätten etablierte Stadtbürger und Kaufleute zu den eigentlichen Wetteiferern und Antreibern des Luxuskonsums werden können (König 1967: 92), gerade weil ihre etablierte Machtstellung – ähnlich wie bei den herrschenden Aristokraten in Spanien – nicht mehr nach ständischer Ordnung unhinterfragt bestand. In der sich transformierenden Gesellschaftsordnung, in der nichts an sich galt, fingen andere Gesellschaftsgruppen an, diese neu zu bestimmen.

zu sein: „All three passages attempt to limit fabric consumption and display, that much can be said. In Montpellier, women would be allowed a subtle display of silk, but not an ostentatious one. Wool was apparently considered more acceptable – less showy, less sinful, or perhaps less damaging to the economy.“ (Heller 2004: 129).

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Gewobener Wind: Die neuen Stoffe Da sich letzendlich nicht die Spanische Mode, sondern die englische Bekleidung durchsetzte, muss auch eine andere Erklärung dafür gefunden werden. In der Modeliteratur werden häufig gerade für die differente Entwicklung von Männerkleidung im England des 16. Jahrhunderts, eine Zeit, in der sich die göttlich ständische Ordnung der Gesellschaft aufzulösen begann, religiöse Gründe angeführt; vor allem wegen der englischen Protestanten habe sich die Männerkleidung verändert. Die in England herrschenden reformatorischen Kräfte hätten sich nicht nur politisch gegen die spanische Vorherrschaft des Katholizismus aufgelehnt, sondern dies auch in ihrer Kleidung auszudrücken versucht (König 1962: 108 ff., König 1967: 111). Während die aristokratischen Kleidungsstile vorwiegend Prachtentfaltung und die damit verbundene Ehre, das Gewichtige im Äußeren ausdrückten (was auch die gegenreformistische Prachtentfaltung der katholischen Kirchen widerspiegelte), sollen sich die Puritaner von dieser Vorstellung losgesagt haben, um sich abzugrenzen und die innere Verfasstheit des Individuums in den Mittelpunkt zu stellen. Abgeleitet vom Wort Puritaner wird resümiert, dass auch ihre Kleidung pur, d.h. schlicht und einfach, gewesen sein soll, dabei wird vor allem auf ihre Farbwahl verwiesen. Schwarze Kleidung, wie sie Protestanten bevorzugt getragen haben sollen, habe sich für die Männerkleidung insgesamt durchgesetzt (König 1662: 110, Brenninkmeyer 1962: 137). Gleichzeitig wird allerdings argumentiert, dass der Katholik Philipp II. von Spanien Einfluss auf die schwarze Bekleidung gehabt haben soll, womit René König seine Argumentation der sich durchsetzenden spanischen Mode für die Farbwahl weiterführt. Das Merkwürdigste aber ist, daß der große Gegenspieler der spanischen Monarchie, der Protestantismus, in dieser Hinsicht wenigstens seinem Todfeind getreulich folgt, wie auch mitten im Kriege spanische Moden nach England und in die aufständischen ­Niederlande wandern. (König 1967: 109).

Doch kann weder der Einfluss der englischen Puritaner noch der des katholischen Königs bestätigt werden, weil vom 16. bis ins 18. Jahrhundert die Farben für Bekleidung der herrschenden Stände weniger bunt und gedeckter waren, aber nicht einfarbig schwarz. Einfache Kleidung aus Leinen- oder Wollstoffen war braun gewesen und wenn z.B. in Testamenten andere Kleidung erwähnt wurde, so war es weiße, manchmal schwarze oder rote und in einer überraschend hohen

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Zahl auch violette Kleidung.24 Vor allem diese violetten Kleidungsstücke wurden im frühen 16. Jahrhundert, wie aus Testamenten hervorgeht, meist an die nächsten engen Verwandten vererbt (Ashley 2004: 140 f.). Aus der Perspektive der einfachen Leute betrachtet, war die Kleidung durchaus bunt, auch wenn die vorherige Bekleidung der Aristokraten bunter und bestickter, glänzender und noch farbenfroher gewesen war. Die allgemeine Durchsetzung von Schwarz für die Männerkleidung ist erst eine Entwicklung des 19. Jahrhunderts und zu dieser Zeit keinen religiösen Einflüssen zu verdanken (siehe dazu Kapitel 3.1). Was sich ab dem 16. Jahrhundert vor allem veränderte waren der Schnitt und die Stoffqualitäten. Und diese Entwicklung wurde vor allem durch den Krieg in den Niederlanden und die damit einhergehende Emigration nach England angetrieben. Die niederländische Emigration aber war keinesweg vorwiegend religiös bedingt, sondern auch ökonomisch. Man hat sich angewöhnt, solche Wanderungsbewegungen vor allem als Ausfluß religiöskonfessioneller Verfolgung zu sehen (so der Hugenotten in Frankreich, der Griechen im ottomanischen Reich und der Juden in verschiedenen Staaten). Dies ist jedoch nur ein Aspekt. Unternehmungsgeist und Kapital sind mobil und werden sich, wenn die politischen Bedingungen dies erlauben, zu den Standorten bewegen, die die besten Gewinne versprechen. (Chapman 1992: 134).

Aber nicht nur die politischen Bedingungen mussten es erlauben, auch gesellschaftliche Akzeptanz war nötig: Oft waren merchants weniger etabliert, als sie dachten, und gezwungen zu fliehen, weil sie vertrieben wurden. Im für sie günstigsten Fall konnten diese Migranten neben Kenntnissen und Verbindungen auch ihr Kapital mitnehmen und an anderen Orten neue Handelsstätten aufbauen oder das Kapital in nicht etablierten Produktionszweigen investieren.

24 Die unteren Stände färbten ihre Stoffe gerne, doch der Aufwand zur Beschaffung der Färbemittel war je nach Farbe unterschiedlich. Rot oder Purpur musste teuer eingekauft werden und mit diesen Farben eingefärbte Stoffe durften vielleicht wegen eines Verbotes für andere Gesellschaftsgruppen nur von wenigen getragen werden. Allerdings ist dabei auch zu berücksichtigen, dass diese Stoffe, selbst ohne ein ausgesprochenes Verbot sehr teuer waren und darum nur von wenigen in der Gesellschaft getragen werden konnten. Färberwaid, eine seit dem Altertum kultivierte Pflanze, war etwa bis ins 16. Jahrhundert sehr wichtig für die Herstellung von blauem Leinen. Er wurde dann durch die Einfuhr von echtem Indigo aus dem tropischen Schmetterlingsblütler Indigofera tinctoria zurückgedrängt. In deutschen Gebieten wurde der Färberwaid im Mittelalter hauptsächlich in Thüringen angebaut. Die Stadt Erfurt erlangte beispielsweise als ein Zentrum des Waidhandels Macht und Reichtum (Raßloff 2011: 9).

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Es waren solche Fremden, die damals nach Manchester in England kamen. Wo bisher traditionell vor allem Wolle verarbeitet wurde, brachten sie Kenntnisse in der Baumwollstoffproduktion hierher, mit der die Industrialisierung Ende des 18. Jahrhunderts ihren Anfang nehmen sollte. Diese Baumwollstoffproduktion ist in dieser Region so wichtig für die Entwicklung der Bekleidung, dass sie hier genauer beschrieben werden muss. Insgesamt gab es in Europa im 16. Jahrhundert nur wenige Produktionszentren für die Verarbeitung von Baumwolle, denn die Rohstoffbeschaffung war teuer und die Handelswege mühsam. Daher waren die großen Fernhandelsstädte meist auch die Orte, an denen Baumwollstoffe gewoben wurden. Antwerpen war, neben Rotterdam, in dieser Zeit die Drehscheibe des Handels, in beiden Städten zusammen wurden rund 50 % der Welthandelsgüter umgeschlagen (Kindler/Hilgemann 2006: 245).25 Hier wurden nicht nur fertige Stoffe aus Indien oder Ägypten gehandelt, sondern auch Rohbaumwolle für die Herstellung von Baumwollstoffen eingeführt (Schulze-Gävernitz 1892: 25). Als das reiche Antwerpen im Jahr 1585 vom Herzog von Alba während der holländischen Unabhängigkeitskriege zerstört wurde, flüchteten viele Bewohner in andere Teile Europas.26 Einige der nach England vertriebenen merchants siedelten im Gebiet Lancashire, vor allem in Manchester, in dem damals schon die Wollweberei ein großes Zentrum besaß.27 Es war eine Gegend, die für die Agrarwirtschaft ungeeignet war, aber sich wegen der geografischen Bedingungen [Flüsse, weil man für die Herstellung von Textilien viel Wasser braucht] für die Produktion 25 Die Antwerpener Börse war auch das Zentrum des europäischen Geldhandels (Kindler/ Hilgemann 2006: 245). 26 Wie wichtig diese Migranten waren, zeigt sich auch an anderen Orten, an denen die Flüchtlinge aufgenommen wurden. Nach Frankfurt/Main zogen viele Antwerpener Flüchtlinge, aber hier wurde keine Entwicklung wie in Manchester und Lancashire mit der Baumwollindustrie ausgelöst. „a diamond gone, cost me two thousand ducats in Frankfort“. William Shakespeare, The Merchant of Venice, 3.1 (1994: 63). Die Flüchtlinge machten Frankfurt zum Zentrum innovativer Entwicklungen auf den Gebieten der Malerei, des Druckgewerbes, im Goldschmiedehandwerk, der Diamantenverarbeitung, des Tuchhandels, des Seidenhandels und der Färberei. Reiche Färber und Tuchhändler einerseits und reiche Goldschmiede und Diamantenhändler andererseits erweiterten ihren Geschäftsbereich um den Handel mit Geld und Wechseln. Darum wurden die merchant bankers wichtig, 1585 gründeten sie die Frankfurter Börse. Handel und Gewerbe in den Niederlanden verlagerten sich während der 80 Jahre Kampf um die Unabhängigkeit nach Amsterdam. Im 17. Jahrhundert wurde Holland erste Welthandelsmacht (Kindler/Hilgemann 2006: 245). 27 Schon diese Entwicklung einer Wollindustrie im für die Landwirtschaft wenig ergiebigen Gebiet von Lancashire war von König Edward III . in den frühen 1300er-Jahren durch das gezielte Anwerben flämischer Weber eingeleitet worden (May/Lege 1999: 70).

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von Stoffen auszeichnete (Schulze-Gävernitz 1892: 32). Hierher kamen die Antwerpener merchants als Fremde und brachten, neben den nötigen Kenntnissen über den Handel mit dem Rohstoff Baumwolle, auch die dafür notwendigen Produktionskenntnisse mit. Diese Migranten stammten aus einer der bis dahin wirtschaftlich höchstentwickelten Regionen Europas, sie verfügten über Kapital, gute ökonomische Kenntnisse und handwerkliche Fertigkeiten. Auf dem europäischen Festland war es auch in den schon seit langem Baumwolle verarbeitenden Regionen zur Entstehung von Gilden gekommen und das Recht, Baumwolle zu weben, wurde an die Mitgliedschaft in einer Zunft geknüpft (Schulze-Gävernitz 1892: 34). In England hatte sich nur die Wol­lindustrie etabliert und war ähnlichen einschränkenden Regelungen und Auflagen unterworfen wie auf dem Kontinent. Daher stand die Baumwollindustrie den Flüchtlingen als neues Gewerbe offen. Im Gebiet Lancashire beruhte die weitere Entwicklung der Textilherstellung im 16. und 17. Jahrhundert auf der relativen Abwesenheit einer restriktiven Gesetzgebung. Gerade in jenen Distrikten, die keinen Gesetzen für die Weberei unterworfen waren, setzte die Expansion der Textilgewerbe ein (Rose 1992: 150, auch schon Daniels 1920: 20 ff.). Weil in diesem Gewerbe keine ältere rechtliche Ordnung bestand, wie sie in anderen­Baumwolle ver­ arbeitenden Gebieten Europas die Produktion beschränkte, konnte sich hier der Umschwung aus der älteren Gewerbeordnung vollziehen. Da diese nicht von in Zünften eingebundenen Handwerkern besetzt war, konnten sich die Fremden durchsetzen, auch wenn die Wollindustrie anfangs vom Parlament noch bevorzugt wurde (Schulze-Gävernitz 1892: 34 f.).28 Die großen Handelsstädte waren immer auch Hauptproduktionsstätten für Baumwollstoffe in Europa gewesen, doch konnte durch den sich ausweitenden Fernhandel in England Baumwolle jetzt leichter beschafft und von London aus billig nach Manchester transportiert werden. Die Handelsbeziehungen von Manchester über Liverpool nach London waren gut ausgebaut, über London wurden schon lange Wollstoffe nach ganz Europa exportiert (Beckert 2014: 7 ff., Schulze-Gävernitz 1892: 25). Von Londons Hafen aus, im 16. Jahrhundert einer 28 „Wool manufacturers and sheep producers lobbied Parliament to pass laws forbidding the import of cotton textiles or even the wearing of cotton clothing. Ultimately, efforts to legislate against the import, production, or wearing of cotton textiles would fail.“ (May/Lege 1999: 70). Was durchgesetzt werden konnte, war etwa, dass jeder Tote im wollenen Hemd begraben werden musste. Allerdings haben die seit 1660 erlassenen staatlichen Maßnahmen zur Unterstützung der Woll- und Seidenindustrien ungewollt auch die Baumwollindustrie gefördert. Diese Gesetzgebung war nicht durch einseitige Merkantilpolitik zustande gekommen, sondern eher das Ergebnis verschiedener Interessenvertretungen im Parlament (Pollard 1992: 466).

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der größten Europas, war der früheste englische Baumwollhandel organisiert worden (Chapman 1992: 135). Anfangs war die Einfuhr des Rohstoffs Baumwolle nach England mit hohen Zöllen belegt, doch die expandierende Monarchie brauchte für die Entlohnung ihrer Beamten und Soldaten Geld und begann schon bald, auch den Handel mit Baumwolle zu fördern (Schulze-Gävernitz 1892: 32 ff.), so dass Rohbaumwolle immer billiger eingeführt werden konnte (Pope 1970 [1905]: 2). Da die ständische Gesellschaftsordnung durch den sich ausweitenden Welthandel schon im Umbruch war und da dieser den Wohlstand zu mehren schien, wurden dem Handel mit Baumwolle und der nicht zünftisch organisierten Warenproduktion bei Baumwollstoffen wenige Einschränkungen entgegengesetzt. Die neuen Produzenten von Baumwollstoffen waren vielleicht in Antwerpen etablierte Stadtbürger und Kaufleute gewesen, in Manchester aber weder etablierte Bürger noch Städter, denn Manchester war immer noch ein ländliches Gebiet. Nein, diese Migranten schienen in die starre und veraltete gesellschaftliche Ordnung der Standeszugehörigkeit nicht hineinzugehören und mussten, da sich die englische Gesellschaft insgesamt schon veränderte, die Zugehörigkeit auch nicht mehr erzwingen. Dass die Antwerpener Migranten Calvinisten waren, um noch einmal auf das gerne gebrauchte Argument der religiösen Zugehörigkeit zurückzukommen, spielte dabei eine untergeordnete Rolle. Auch wenn gesellschaftliche Kämpfe häufig als Religionskämpfe geführt wurden, ging es doch immer um Anerkennung und Akzeptanz in der Gesellschaft. Zuviel Bedeutung sollte daher den religiösen Einflüssen der Protestanten an der weiteren Entwicklung im 17. Jahrhundert für die sich verändernde Männerkleidung in England nicht beigemessen werden. Wie auf der zeitgenössischen englischen Karikatur (siehe dazu Abbildung 2) gut zu erkennen ist, war die Kleidung der Puritaner nur in Details verschieden von der ihrer Gegner. Eine ersichtlich andere oder auffällige Neuerung der englischen Puritaner waren ihre kurz geschnittenen Haare, die im deutlichen Kontrast zu den langen Locken und Perücken standen, die standesgemäß am Hof von Charles I., dem auf Elisabeth I. folgenden englischen Regenten, getragen wurden. Daher kam der Ende 1641 entstandene spöttische Ausdruck Roundhead, unter dem die englischen Puritaner, mit ihrem berühmtesten Vertreter Oliver Cromwell (1599–1658), bekannt wurden. Der bemerkenswerteste Einfluss, den die Puritaner auf die neue Männerkleidung hatten, war aber das nach dem Erfolg der Puritanischen Revolution (1642– 49) ansteigende Prestige von Geschäftsleuten (entrepreneurs und professionals) in der englischen Gesellschaft (Cobrin 1970: 15). Mit der steigenden Akzeptanz dieser merchants und ihres neuen Geschäftsgebaren wurde für sie in England

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Abbildung 2: Zeitgenössische Karikatur der gegnerischen Parteien im englischen Bürgerkrieg (1642–1649).

ein gesellschaftlicher Aufstieg möglich. Durch die politische Verfasstheit und die Gleichheit vor dem Gesetz waren die Möglichkeiten, unbeschränkten Profit zu machen (und davon z.B. auch Landbesitz kaufen zu dürfen) in England eher verwirklicht als in anderen Teilen Europas. Das schon im 17. Jahrhundert gegenüber dem König gestärkte britische Parlament griff insgesamt wenig in die wirtschaftlichen Prozesse ein und die einmal gewonnenen Freiheiten und Rechte ließen sich in der weiteren spannungsreichen Geschichte nicht mehr zurückdrängen.29 Der daraus resultierende gesellschaftliche Einfluss war entscheidender als die Abwendung streng gläubiger Puritaner von Prunk und Pracht katholischer Würdenträger oder spanischer Granden.

29 „Selbst die protektionistische Gesetzgebung war hier eher ein Nebenprodukt, das aus der Not, die Staatseinnahmen zu erhöhen, geboren wurde, und ging weniger aus der Absicht hervor, ausländische Waren fernzuhalten.“ (Pollard 1992: 466). Vgl. auch Davis (1966). Chapman betont, dass in historischer Betrachtung Großbritannien oft als das Land des wirtschaftlichen Liberalismus angesehen werde, sich jedoch der Freihandel erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts durchgesetzt habe. Der Verfall überkommener wirtschaft­licher Kontrollen am Beginn und um die Mitte des 18. Jahrhunderts war von größerer Bedeutung (Chapman 1992: 136).

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Und auch im veränderten Kleidungsverhalten drückten sich diese den merchants und entrepreneurs zugestandenen größeren Freiheiten im Handel und in der beginnenden Produktionssteigerung aus. Was dabei ganz wichtig war, es waren Männer, die weder nach geografischer noch gesellschaftlicher Herkunft oder Religion homogen waren. Die Menschen von damals [17. Jahrhundert] orientierten sich nicht bewußt an einer organisierten Gesellschaft, um ihre Normen zu finden; die ausdrückliche Berufung auf Sitte und gesunden Menschenverstand, die sich später mit der Festigung der Herrschaft des Bürgertums entwickelte, hatte wenig Zugkraft für die abenteuerlustigen Individualisten des elisabethanischen England. (Löwenthal 1990: 81).

Keine Normen, keine Sitten, Individualisten – und doch war gerade das ein Grund dafür, warum eine einheitliche Außendarstellung von merchants gebraucht wurde und die neue uniforme Männerkleidung zu ihrem äußerlich sichtbaren Erkennungszeichen wurde. Die gedeckten Farben wurden nicht ausgesucht, weil Puritaner eine modische Anregung durch den katholischen König von Spanien aufnahmen oder des Bürgers neue Kleider einem puritanischen Geist entsprangen, sondern weil unauffällige Farben den merchants ein neutrales Gepräge geben konnten. Wenn auf dem Markt alle gleich waren, konnte unauffällige Kleidung dies unterstreichen. Konkurrenz setzt Anonymität voraus: Der Markt ist der Ort der unpersönlichen Beziehungen (Resch/­Steinert 2009: 162). Aus dem unmittelbaren Geschäft, dem Handel mit Waren, die man vor Ort anbot, mit Menschen, die man persönlich traf, wurde für immer mehr merchants durch den Fernhandel ein mittelbares Geschäft, ein Handel bis in die entferntesten Gegenden der Welt, mit Waren, die teilweise nicht einmal den Weg in die eigenen Kontore fanden. Diese mittelbaren Geschäfte verlegten die merchants auch in die eigene Umgebung und die betriebsamen Gewerbetreibenden, mit ihrer an eigenen interests und steigenden Profiten interessierten, d.h. kapitalistischen, Denkweise, konnten sich in der freieren englischen Gesellschaft erfolgreich durchsetzen. Der expansive Handel hebelte die Produktionsgrenzen in der Stoffherstellung im eigenen Land aus und veränderte die Produktionsweise. Jetzt begann sich das neue Gebaren, wie es bei Shakespeare im 16. Jahrhundert nur für den Handel der merchants beschrieben war, im 17. Jahrhundert auch in der Produktion von Waren durchzusetzen. Weil die Herstellung von Baumwollstoffen nicht reglementiert war, bot sich mit der hier möglich werdenden Steigerung der Profite ein Anreiz zur Verbesserung der Produktion. Die Steigerung der Produktion lohnte sich nur, wenn es eine Nachfrage gab. Und die gab es vor allem nach feinsten Baumwollstoffen,

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die bis dahin von der indischen Konkurrenz befriedigt wurde. Daher fingen merchants in Manchester an auszuprobieren, wie sie ihre selbst produzierten Stoffe feiner fertigen konnten. Die gesteigerte Nachfrage nach Baumwollstoffen wird meist in das 18. Jahrhundert verlegt. Warum es zu dieser gestiegenen Nachfrage nach Baumwollstoffen kam, wird dann damit begründet, dass sich neue Absatzmärkte vor allem in Übersee entwickelt hätten.30 Die Einkleidung der Sklaven in den Kolonien sei einer der Gründe für eine wachsende Nachfrage nach billigen Stoffen für einfachste Fertigbekleidung gewesen, gerade für die Plantagen auf den Westindischen Inseln oder in Amerika, „where the owners possess many slaves, the quantity of clothing for them will be readily found.“ (Aldrich 2007: 17). Dieser Markt einfachster Slop-Kleidung31 wurde tatsächlich von den Engländern schnell besetzt, die es dadurch schafften, neben dem für sie profitablen Sklavenhandel auch noch den Handel mit Stoffen und Billigkleidung für Sklaven auszubauen. Weil die Produktionskapazitäten der zünftisch organisierten Weber überfordert gewesen seien, hätten die merchants versucht, Arbeitskräfte auf dem Land zu beschäftigen (Ditt 1992: 4). Die Überforderung der städtischen Weber wird auch von den Autoren angenommen, die die Ursache für die gesteigerte Nachfrage darin sehen, dass die inländische englische Baumwollindustrie schon einen großen Umfang hatte, bevor der Export sich ausweitete (Davis 1979: 65). Dabei wird auch für dieses Argument die gestiegene Nachfrage auf dem Inlandsmarkt seit den Anfängen der Industrialisierung in den Blick genommen. Der heimische Markt habe immerhin schon Mitte der 1770er-Jahre zwei Drittel der Produkte aufgenommen (Edwards 1967: 243, 247) und dieser Inlandsmarkt war „von den 1770er bis in die 1790er Jahre für die Baumwollindustrie weit wichtiger als die überseeischen Absatzmärkte.“ (Rose 1992: 152). Beide Begründungen, erhöhter Export und gestiegene Binnennachfrage, stimmen, und doch war die inländische Nachfrage nicht erst durch den Absatz 30 Der amerikanische Historiker Michael Zakim schreibt, dass um 1728 die Amerikaner schon ein Sechstel der Produktion britischer Wollmanufakturen und das Doppelte an Leinen und Kalikos konsumiert haben. Die meisten amerikanischen Kolonisten hatten im 18. Jahrhundert Zugang zu Fabrikaten aus England (Zakim 2003: 14). In diesem Kapitel geht es um die Ausweitung der Baumwollstoffproduktion, mit dem Argument, dass diese schon im 16. Jahrhundert interessant für die aufstrebende neue Klasse Englands war. Die wichtige amerikanische Entwicklung beschreibe ich im Teil  2 – Die Uniform der Masse. 31 To slop, das stand für hineinschlüpfen, einfach überziehen und meinte lockere, nicht sehr passgenaue Bekleidung, die nach einfachen Mustern gefertigt wurde (Aldrich 2007: 2).

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von teilweise maschinell erzeugten Fertigprodukten im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts entstanden, sondern hatte früher eingesetzt. Die Nachfrage entstand um 1600 durch das Begehren nach indischen Stoffen. Baumwollstoffe waren zuerst Luxusgüter, deren Attraktivität in England zunahm und die durch den ausgeweiteten Fernhandel auch vermehrt ins Land kamen. Die Nachfrage nach indischer Baumwolle als feinstes Luxusprodukt brachte die aufstrebenden Männer in England allgemein auf den Geschmack feiner und leichter Stoffe. Und ihre Ansprüche an Bekleidung veränderten sich, weil die gesellschaftlichen Verhältnisse in England sich veränderten. Die merchants waren in England – auch als sie an Macht und gesellschaftlichem Einfluss gewannen – nicht mehr an einer Bekleidung interessiert, die auf luxuriöser und pompöser Pracht- und Machtentfaltung beruhte. Die hier tätigen Groß- und Fernhändler, Unternehmer und Kaufleute suchten gerade durch ihre heterogene Zusammensetzung schlichte, neutrale Kleidung und ihr neuer gesellschaftlicher Einfluss zeigte sich daran, dass ihre Art und Weise sich zu kleiden, einen wichtigen Anteil an der neuen modernen englischen Männerkleidung hatte. Es gab also die Bürger als homogene Gruppe nicht und sie waren weder etabliert, noch hatten sie notwendig eine städtische Orientierung. Genauso gab es auch die eine, den Bürgern vermeintlich im Behauptungskampf unterlegene, homogene Gruppe der Aristokraten nicht.32 Es waren in England gerade nicht zwei sich gegenüberstehende Lager von Bürgern und Aristokraten, wie sie in der allgemeinen Modeliteratur gerne beschrieben werden. Das Aufblühen des Industrialismus konnte nur durch die gegenseitige Angleichung und Durchdringung des Landadels und der aufsteigenden Kaufmanns- und Industriellenschicht vonstatten gehen, die anderswo nicht erreicht wurde (Giddens 1981: 128). Und der Industrialismus, der anfangs auf der Baumwollstoffproduktion beruhte, konnte wiederum nur hier beginnen, weil auch die gentry nicht mehr schwere Stoffe, wie Samte und Brokate nachfragte. In England gab es sicher nicht wenige Aristokraten, die eine Abneigung gegen die z.B. von italienischen Stadtfürsten oder dem spanischen Adel bevorzugte Bekleidung hatten. Aber es gab vor allem schon im 16. Jahrhundert ein steigendes Interesse an feinen Baumwollstoffen, die zu dieser Zeit aus Indien – als gewobener Wind gepriesen – eingeführt wurden.

32 Wenn man annimmt, dass sich Bürger der Aristokratie anpassen und prächtig kleiden wollten – dann wäre ihre Kleidung der Aristokratie, mit luxuriöseren, stärkeren, steiferen Stoffen, angepasst worden. Dasselbe Argument wiederholt sich in der Französischen Revolutionszeit. Dort ist es sogar noch offensichtlicher, dass die Sieger sich nicht mehr kleiden wie die Aristokraten (siehe dazu Kapitel 1.2).

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Die indischen Produzenten hatten für die Verarbeitung der Baumwolle eine Technik entwickelt, mit der sie sich jahrhundertelang einen Verarbeitungsvorsprung sichern konnten, um konkurrenzlos schöne Stoffe herzustellen.33 „Diese feinsten indischen Musline hießen ‚gewobener Wind‘; sie waren außerordentlich kostbar,“ und es war den Europäern bis ins 18. Jahrhundert hinein unvorstellbar, dass die Geschicklichkeit der indischen Handspinner anderswo erreicht werden könne (Schulze-Gävernitz 1892: 58). Die erste bekannte Persönlichkeit, die Kleidung aus den indischen Baumwollstoffen wie Kaliko und Musselin trug, war Königin Elisabeth I. Sie bevorzugte auch für Bettwäsche und Vorhänge diese ausländischen Stoffe. Vorgezeigt durch die ranghöchste Person im Lande, sollen auch die anderen Damen Kleidung aus diesen neuen Stoffen übernommen haben (Schulze-Gävernitz 1892: 58). Und es ist nicht auszuschließen, dass die Herren, in der Modeliteratur immer vernachlässigt, sich diesem Begehren anschlossen. Diese Faszination für feine luxuriöse Baumwollstoffe führte dazu, dass allgemein feinere Stoffe nachgefragt wurden, so auch von der gentry, dem englischen Landadel. Gentry und Merchants Die englische gentry war schon in der elisabethanischen Zeit immer „landed ­gentry“, eine Gesellschaft von Landjunkern, die ihren ständigen Wohnsitz in ihrer Grafschaft hatten, auch wenn sie vielleicht jahrelang abwesend sein mussten (Suerbaum 1989: 361 f.). Insgesamt orientierte sich die englische Gesellschaft nach dem Land und nicht nach dem Hof des Königs, wie in Frankreich (Chenoune 1993: 9) oder wie im Spanischen Reich. Die Herren bei Hofe und die Personen von Stand, Adel wie gentry, sind sich bewußt, daß ihr gesellschaftlicher Rang und in der Regel auch der Großteil ihres Einkommens von ihrem Grundbesitz abhängt. Die Kaufleute wissen, daß sie mit Landprodukten handeln und daß ihr Reichtum, wie der Legende nach die Pfeiler von London Bridge, auf Wollsäcken ruht. (Suerbaum 1989: 377).

Diese gentry hatte einen großen Einfluss auf die weitere Entwicklung der Männerkleidung, denn sie veränderte ihre Gewohnheiten und bewegte sich draußen; Reiten, Jagen, Landpartien verlangten nach einer Kleidung, die bequem war. Die von der Aristokratie bevorzugte Prachtkleidung war bei körperlichen Anstrengungen nicht geeignet; Rüschen und Fransen, Borten und Litzen, schwere 33 „The first improvement in spinning technology was the spinning wheel, which was invented in India between 500 and 1000 A. D.“ (Smith/Wayne/Cothren 1999: viii).

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Brokatstoffe, aber auch empfindliche Seidenstoffe oder große Kragen passten zu diesen Anforderungen nicht.34 In Anlehnung an die Uniform der englischen Kavallerie entwickelte sich für diese Tätigkeiten der riding coat.35 Am riding coat waren die Rockschöße für die Reiter allgemein kürzer und die vorderen Schöße konnten an den hinteren mit Knöpfen festgemacht werden, damit sie beim Reiten nicht behinderten. Später wurden die vorderen Schöße weggelassen, so dass nur die Schöße am Rücken lang blieben, wie es bis heute bei den Fräcken zu sehen ist (Allen 1955: 204). Als Stoffe für diese bequemen Kleidungsstücke wurden bevorzugt Baumwollstoffe, aber auch neue Mischgewebe aus Baumwolle und Wolle gewählt, weil sie leicht und fein, aber trotzdem robust und warm, für außerhäusliche Tätigkeiten so gut geeignet waren. Bald begannen diese Oberkleider, jetzt dress coats (Chenoune 1993: 9 ff.) genannt, in die Alltagskleidung überzugehen, was wohl damit zu tun hatte, dass trotz der Orientierung zum Land, die Städte wichtiger wurden. Die Entwicklung hin zur kapitalistischen Produktionsweise fand in ländlichen Gebieten statt, dort war die Verbindung von Land besitzender gentry und merchants sehr eng und bewirkte erst die profitable Industrialisierung. Mit dem zunehmenden Wachsen von Marktflecken wie Manchester, aber auch dem sich ausweitenden Handel verlagerten sich die Geschäfte immer mehr in Städte. Vielleicht wurde gerade dadurch, dass die wichtigen Tätigkeiten langfristig in den Städten anfielen und man dort seinen Geschäften nachging oder einen Beruf ausübte, das Landleben und die ländlichen Tätigkeiten aufgewertet und der Landsitz verklärt.36 34 Aus der Vorliebe für rasante Fuchsjagden entwickelte sich auch die Leidenschaft für Pferderennen, welche erstmals in Newmarket [1634 von Charles I. eröffnet] ausgetragen wurden (Chenoune 1993: 9). Die berühmteste Pferderennbahn in Ascot wurde 1711 eröffnet. 35 Kavallerieformationen wurden vermehrt mit Pistole und Säbel ausgestattet (Paulinyi/ Troitzsch 1997: 218). Damit die Waffen die Reiter nicht behinderten, wurde die Kleidung der Reiter umgeändert. Da die englische Armee der Zeit die modernste Truppe hatte, war es auch hier zuerst ein Bedürfnis, die Bekleidung der Kavallerie zu verändern. Aber auch in anderen Herrschaftsgebieten verbreitete sich diese Militärkleidung in den stehenden Heeren, allerdings in verschiedenen Farben, mit unterschiedlichen Hüten und Dekors gefertigt (Allen 1955: 204). 36 Der Landsitz begann, zu einer vom Erwerb befreiten, natürlichen Sphäre zu werden, in der trotzdem tadellose Bekleidung, zivilisiertes Benehmen und Bildung wichtig waren; Bildung, die aus den Büchern der Bibliotheken gewonnen werden konnte, wie bei Daniel Defoes Romanfigur des zivilisierten Robinson Crusoe (1719), dessen einsame Insel auch ein Landsitz in einer abgelegenen englischen Grafschaft hätte gewesen sein können. Auch die englischen Gärten, die sich um das Haus (‚my home is my castle‘) herum arrangieren, sind Bestandteile dieser einsamen Inseln, weil man sich in sie zurückziehen kann und

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Seit der Renaissance hat der moderne Mensch die Idee weitergetragen, daß er eine unbegrenzte Fülle an Möglichkeiten in sich birgt. Seine Fähigkeiten sind so reich, daß er, wenn es sein müßte, von der übrigen Gesellschaft getrennt leben könnte; er könnte zur Natur zurückkehren. [...] In gewisser Hinsicht ersetzt die Natur Gott, aber anders als bei Gott sind ihre Wege nicht mit Sicherheit und Endgültigkeit festgelegt; wenn die Experimente des ‚Sturm‘ und des ‚Robinson Crusoe‘ einmal abgeschlossen sind, können die Menschen mit den neuen Erkenntnissen, die sie gewonnen haben, in die Gesellschaft zurückkehren. (Löwenthal 1990: 82 f.).37

Damit hatte die gentry auch einen entscheidenden Einfluss für die Akzeptanz der dress coats als Alltagskleidung. Selbst bei langer Abwesenheit von ihren Landsitzen konnten sie über ihre Bekleidung die Illusion vom Landleben in den städtischen Raum hineintragen. Auch merchants, die sich vielleicht gerade erst einen Landsitz gekauft hatten, verwiesen über ihren dress coat darauf. Als die auf dem Landsitz getragenen Kleidungsstücke in die Alltagskleidung übergingen, um den Anforderungen an die Bedürfnisse von gentry und merchants zu genügen, verlor die Männerkleidung ihre Ausbuchtungen und Weiten, sie wurde im Schnitt so körperbetont und bequem, dabei so schlicht und uniform, wie sie es vorher nie gewesen war. Prunkvolle und aufwändige, aber unbequeme Kleidung, vorher das Privileg beider Geschlechter, wurde nun den Frauen überlassen. „Englishmen ‚don,t place much stock in finery. They leave it to women‘“ (Chenoune 1993: 17), wobei auch hier die englische Frauenkleidung sich, anders als die französische, schlicht hielt und bedruckte Baumwollstoffe für die Kleider bevorzugt wurden.38 Es entwickelte sich eine „male culture“, die sich in Clubs und bei Gesellschaften im städtischen Raum zusammenfand. Das Aufkommen dieser exklusiven Männerklubs als frauenlose Bastionen, führte zum Verfall

sie trotz äußerlich erscheinender Natürlichkeit, unter Aufsicht gebildeter Robinsons, von ihren Freitags angelegt wurden (Billig 2010: 19, 105). 37 Robinson Crusoe hat den Homo oeconomicus zum Gegenstand, seinen Kämpfen „wohnt die feste Überzeugung inne, daß das wahre Ziel des Menschen in den sozialen, ökonomischen und politischen Institutionen einer individualistischen Konkurrenzgesellschaft liegt.“ Crusoe ist ein Mensch des 18. Jahrhunderts, „der durchdrungen ist von der Wünschbarkeit einer freien Konkurrenzgesellschaft.“ (Löwenthal 1990: 83). 38 Sobald Frauen jedoch ihre Tätigkeiten denen der Männer anglichen, z.B. beim Reiten oder Sport treiben, später beim Eintritt in die außerhäusliche Arbeitswelt, veränderte sich auch ihre Kleidung entsprechend und glich sich der der Männer stärker an.

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der traditionell von Frauen ausgerichteten Salons (Chenoune 1993: 14)39 und war damit auch ein Zeichen des Desinteresses der Männer an der Meinung von Frauen, zumindest wenn sie in der Gesellschaft von anderen Männern waren.40 Es war wichtiger geworden, Verbindungen mit merchants, entrepreneurs und anderen Mitgliedern der neuen Bourgeoisie in verschiedene Richtungen aufzunehmen. Für ihre Geschäfte brauchten sie einen guten Riecher, denn sie bewegten sich auf dem scheinbar für alle gleichen Markt. Auch über diese Clubs verstärkte sich die Tendenz zu einem einheitlichen Bekleidungsstil. Darum konnte um 1730 ein Besucher aus Frankreich erstaunt beschreiben, wie schlicht [pure!] die Briten gekleidet waren. „They are rarely seen in gold braiding, they wear a small coat, that they call a frock“ (Chenoune 1993: 9)41. Die neue Bekleidungsform erschien als „dress simply“, weil die Stoffe nicht mehr den Prunk aufwiesen, den Männer in anderen europäischen Gesellschaften, allen voran im nahen Frankreich, aufboten. Doch betonte der Besucher, dass die Stoffe der Kleidung trotz dieser Schlichtheit überaus fein und schön

39 Auch hier war es ein Immigrant, der den ersten und berühmtesten Club in London ­gründete: White’s wurde 1693 von dem italienischen Einwanderer Francesco Bianco (aka ‚Francis White‘) geleitet. 40 „In der Vorstellungswelt der elisabethanischen Renaissance besteht die ideale Beziehung zwischen Mann und Frau nicht in der biologischen, naturhaften Befriedigung der Triebe, sondern in der Anerkennung der Vernunft des einen Individuums durch das andere. Diese Anerkennung wird durch die Einsicht in die Grenzen des Menschen und die daraus resultierende Nachsicht dem Anderen gegenüber gemäßigt.“ (Löwenthal 1990: 117). Im 18.  Jahrhundert blieben die Frauen auf den Landsitzen zurück, wo sie den nun ihnen zugeschriebenen häuslichen Arbeiten nachgehen mussten. Weil ihre, im jetzt „privat“ genannten Bereich geleisteten Tätigkeiten verschleiert wurden, sank das Ansehen der Frauen. Löwenthal verweist auf die doppelte Rolle der Frau in der bürgerlichen Gesellschaft. Einmal war sie ausgeschlossen von den gesellschaftlichen Vorgängen außerhalb der Familie, während sie andererseits ein Prüfstein für die Fähigkeiten des Mannes blieb (oder wurde?), sich in seiner Rolle als Ernährer der Familie zu betätigen. [Männer, die reich heirateten, wurden eher verachtet.] (Löwenthal 1990: 49). Männerkleidung trennte sich von Frauenkleidung, in bestimmten Gesellschaftsschichten kam es zum Strukturwandel der Öffentlichkeit (Hausen 1990), einer neuen Aufgabenverteilung von Männern und Frauen. Aus dem gemeinsamen Umfeld wurde die Öffentlichkeit dem Mann und die Privatheit der Frau zugewiesen (Bertschik 2005: 37). 41 Hier zeigt sich deutlich das Problem von Übersetzungen. Aber die Aussage stimmt, denn bei dem Franzosen Chenoune wird in der englischen Ausgabe der Begriff „frock“ von ihm (oder seiner Übersetzerin) mit „dress coat“ übersetzt (1993: 9), es ist damit eine Anzug­ jacke mit zwei langen Rockschößen gemeint.

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anzusehen waren (Chenoune 1993: 9). Es waren die Stoffe, die vor allem die Bewunderung auslösten. In England hatte sich die Bourgeoisie sehr langsam im Zusammenschluss von profitorientierten merchants und Teilen der Aristokratie durchgesetzt. Mit dem Auflösen der Ständegesellschaft und der langsamen Durchsetzung einer bürgerlichen Gesellschaft waren neue gesellschaftliche Bedürfnisse entstanden. Diese hatten eine neue Männerkleidung erforderlich gemacht und die gegenseitige Angleichung und Durchdringung zeigte sich schon im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts. Mit der von der Bourgeoisie gewonnenen gesellschaftlichen Macht einer neuen herrschenden Klasse konnte diese auch für die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise, d.h. die Stärkung der wirtschaftlichen Macht, in der Industrie genutzt werden. Mit der Industrialisierung setzte sich das kapitalistische, betriebsame Denken und Handeln auch für die Produktion von Waren durch und breitete sich dann immer weiter aus. Industrielle Revolution Das Begehren nach den Baumwollstoffen aus der indischen handwerklichen Produktion hatte eine steigende Nachfrage nach schlichten und trotzdem feinen Stoffen gefördert. Der Handel mit Baumwollstoffen und anderen Textilien breitete sich seit dem 16. Jahrhundert aus, auch wenn die Expansion der Techniken zur Baumwollverarbeitung nur sehr langsam vorankam (May/Lege 1999: 66). Noch im Jahr 1760, also rund 200 Jahre später, wurden in England Stoffe so hergestellt wie seit Jahrtausenden von anderen Textilherstellern. In der handwerklichen Herstellung der Baumwollstoffe waren dabei die indischen Produzenten den in England ansässigen weit überlegen (Baines 1835: 79,82,104). Die Entwicklung zur industriellen Produktion im Gebiet Lancashire war daher von dem unbedingten Bemühen der dort tätigen Produzenten bestimmt, diese überlegene indische Konkurrenz auszuschalten. Bereits von Lewis Roberts (1596–1641) wurde in seinem 1641 veröffentlichten Treasure of Traffic42 die Baumwollindustrie Manchesters als aufblühendes Gewerbe erwähnt (Schulze-Gävernitz 1892: 25 f.). Aber seit sie mit der Produktion von Baumwollstoffen begannen, mussten die englischen Hersteller mit den aus Indien eingeführten Stoffen feinster Qualität, dem „gewobenen Wind“, im Baumwollgewerbe konkurrieren (Pope 1970 [1905]: 2). Das ganze 17. Jahrhundert hindurch hatte man in England versucht, die Konkurrenz auszuschalten 42 Der ganze Titel lautet: The Treasure of Traffike; or, a Discourse of Forraigne Trade; wherein is shewed the benefit ... arising to a Common-Wealth, … by the skilful Merchant, and … a well ordered commerce, etc. (Roberts 1641)

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und die indische Einfuhr durch Boykotte und Verbote zu verhindern (SchulzeGävernitz 1892: 28). Obwohl es seit dem Jahr 1701 ein gesetzliches Verbot für die Einfuhr von bedruckten indischen Kalikos gab, beklagte der Zeitgenosse Daniel Defoe (vermutlich geb. 1660–1731) im Jahr 1708 die Einfuhr indischer Baumwollgewebe nach England. „Demand for cotton textiles from India or those produced with India fabric fueled growth of cotton at the expense of wool in the British textile industry.“ (May/Lege 1999: 70). Die Maßnahmen zur Beschränkung der Importe waren vor allem deswegen nicht besonders wirksam, weil die Einfuhr trotz der Verbote so profitabel war; indische Baumwolle blieb wegen der besseren Produktionsweise begehrter als die eigene Produktion. So waren gerade durch die gut ausgebauten Handelsverbindungen der merchants Baumwollproduzenten in Manchester einer Konkurrenz ausgesetzt, die auf dem europäischen Festland durch die schlechten Landwege noch nicht spürbar wurde (Schulze-Gävernitz 1892: 29). Diese Konkurrenz muss jedoch die englischen Produzenten angespornt haben, denn 20 Jahre nach seiner Klage gegen die illegale Einfuhr indischer Stoffe findet Daniel Defoe auf seiner Tour thro’ the whole Island of Great Britain 1727 die Stadt Manchester in einem erstaunlichen Aufschwung; die Bevölkerung habe sich in wenigen Jahren verdoppelt, was vor allem der so außerordentlich aufgeblühten Baumwollindustrie zu verdanken sei (Schulze-Gävernitz 1892: 25 f.). Da hier Profit garantiert war, hatte die andauernde Konkurrenz durch Einfuhren von Stoffen aus Indien im freien Baumwollgewerbe zum Bestreben geführt, die eigene Produktion zu verbessern. Maschinen oder Gerätschaften für die Bearbeitung von Textilfasern existierten schon lange in anderen Teilen Europas, aber das Eindringen der Maschinerie in neue Produktionszweige begann nur allmählich und nicht sprunghaft. Es gab Mules, Dampfmaschinen usw., bevor es Arbeiter gab, deren ausschließliches Geschäft es war, Dampfmaschinen, Mules usw. zu machen, ganz wie der Mensch Kleider trug, bevor es Schneider gab. Die Erfindungen von Vaucanson, Arkwright, Watt usw. waren jedoch nur ausführbar, weil jene Erfinder ein von der Manufakturperiode fertig geliefertes und beträchtliches Quantum geschickter mechanischer Arbeiter vorfanden. (Marx 2001 [1867]: 402 f.)

Die Gründe für den wirtschaftlichen Umschwung im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts waren daher nicht in den einzelnen technischen Erfindungen zu sehen, sondern dem Zusammentreffen einer Reihe verschiedener Umstände geschuldet, die zu technischen Fortschritten führte. Im Gebiet Lancashire wurden die längst gemachten oder halb verwirklichten, wirtschaftlich aber wirkungslosen,

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Erfindungen profitabel verwendet (Schulze-Gävernitz 1892: 31, auch Paulinyi/ Troitzsch 1997: 272 f.) und diese Region konnte zum Vorreiter der neuen Produktionsweise werden. Dadurch vollzog sich ein ungeheurer Umschwung, der zunächst die Baumwollindustrie umgestaltete und an die Spitze der gewerb­ lichen wie gesellschaftlichen Entwicklung Englands stellte – jener Umschwung, welcher zuerst Lancashire, dann ganz England, das westliche Europa und die USA ergriff und die wirtschaftlichen Verhältnisse der Welt verschob. Die gestiegene Nachfrage nach Textilien, hier vor allem leichter, feiner Stoffe (Pope 1970 [1905]: 2), hatte zunächst zur verstärkten Nachfrage nach Garn geführt. Da auf einen Weber vier bis fünf Spinner(innen) kamen, versuchte man vor allem das Potential des Spinnens zu erhöhen und darum ergriff der Umschwung zuerst die Spinnerei. Die London Society for the Encouragement of Arts, Manufactures, and Commerce lobte einen Preis aus für denjenigen, der das Problem des Spinnens lösen könne. Preisträger wurde der Weber James Har­ greaves (May/Lege 1999: 72). Mit der von ihm 1764 entwickelten Spinnmaschine, die er nach seiner Tochter Spinning Jenny genannt hatte, konnte nicht nur mehr Garn gesponnen werden als jemals zuvor, sondern es war von gleich bleibender Qualität, was durch Handspinnen nicht erreicht werden konnte.43 Die Mecha43 Wie sehr die Industrialisierung auf dem Land beginnen musste, zeigt sich auch hier deutlich. Obwohl Arkwrights Spinnerei als erste ihrer Art 1768 in Nottingham gegründet wurde (Schulze-Gävernitz 1892: 37), siedelten sich doch die meisten Spinnereien im Bezirk Lancashire an. Diese Hochlandgebiete hatten für die landwirtschaftliche Nutzung wenig ergiebige Böden und daher ein Nebengewerbe notwendig gemacht (Rose 1992: 151). Darum hatte es schon viel Wollweberei gegeben, hier waren die ersten Baumwollweber angesiedelt worden. In Lancashire wurde die hohe Luftfeuchtigkeit bei der Verarbeitung der Wolle und Baumwolle zu einem Vorteil, – in der feuchten Luft lässt sich die Baumwolle feiner spinnen –, der anderswo nur mit hohen Extrakosten zu erreichen ist. Vor allem an den Hügeln, wo die Niederschläge am stärksten sind, ließen sich weitere Spinnereien nieder. Dazu kam die günstige Lage zu Liverpool, das an der Mündung des Mersey durch den Einfluss der atlantischen Flut einen der besten Häfen der Welt hatte. Nur fünf Jahre nach der Entwicklung der Spinning Jenny entwickelte der Fabrikant Richard Arkwright 1769 die mit Wasserkraft betriebene Waterframe. Wieder erwies sich die geografische Lage als sehr günstig für den Ausbau der Textilindustrie, weil die Bäche und Flüsse zum Meer die Triebkraft für die Maschinen lieferten. Später konnten die Kohlevorräte die Wasserkraft durch Dampfkraft ersetzen (Schulze-Gävernitz 1892: 53). James Watt hatte 1769 die Dampfmaschine überarbeitet, die von Thomas Newcomen erfunden worden war. Die Unternehmer erkannten schnell die Effektivität dieser Dampfmaschine und ihre Einführung führte zu einer Intensivierung der Industrieproduktion. Eingesetzt wurde eine Dampfmaschine in einer Baumwollfabrik allerdings erst im Jahr 1785. Die Transportwege wurden ausgebaut und die Waren über Züge, Kanäle und Dampfschiffe bewegt (May/Lege 1999: 75). Da die Lieferanten von Reserveteilen und die Werkstätten

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nisierung des Spinnens hatte es möglich gemacht, das begehrte Baumwollgarn in großen Mengen billig und qualitativ besser zu gewinnen, als zu der Zeit der Handarbeit in England möglich gewesen war (Pope 1970 [1905]: 4). „The Industrial Revolution that would transform Britain’s economy from one based on cottage industries to one dominated by factories had begun.“ (May/Lege 1999: 72). Jetzt begannen die merchants, ihre Stellung weiter auszubauen, denn für die neue Produktionssphäre war viel Kapital notwendig. Neben dem Bau von Maschinen waren das die Löhne für die Spinnerinnen, aber auch der Einkauf der Produktionsmittel wie der Baumwolle, der sich auf einige wenige Unternehmer konzentrierte. Da es größtenteils Handelskapital war, kam es zur zunehmenden Kontrolle der Produktion durch die merchants (Ditt 1992: 4, Haug 1980: 150). Die merchants begannen im 18. Jahrhundert, den ganzen Komplex der Fabrizierung zu überwachen und auch den Transport der Waren zu organisieren. Hatten sich bis zur Frühphase der Industrialisierung die Spinnereien selbst mit dem Rohstoff Baumwolle eingedeckt, wurde diese jetzt von darauf spezialisierten Händler verkauft. Vor allem der Import von Rohbaumwolle aus den USA blieb nach dem Unabhängigkeitskrieg und der endgültigen Loslösung von England (1783) von großer Bedeutung. In den USA verschob sich der Handel von in den Südstaaten produzierenden Plantagenbesitzern, die unmittelbar mit einem merchant aus Manchester im Kontakt gestanden hatten, zu merchants, die von Boston, Philadelphia, aber vor allem und am wichtigsten von New York aus den Handel aus den Südstaaten nach England organisierten. Von den amerikanischen Importeuren kauften die zumeist in Manchester ansässigen merchants die Baumwolle und übergaben sie den Spinnereibesitzern gewöhnlich gegen längeren Kredit. Eine Aufgabe der merchants bestand folglich auch darin, die einschlägigen industriellen Verhältnisse, z.B. die Kredit- und Zahlungsfähigkeit der manufacturer, also der Fabrikbesitzer, zu kennen. Es kam zur Ausbildung von Zwischengliedern wie den Einkaufs- und Verkaufsmaklern, die die Interessen ihrer Auftraggeber vertraten. Das Verhältnis dieser verschiedenen Gruppen im Handel beruhte auf einem Kodex ungeschriebenen Rechts, kein Importeur durfte versuchen, mit dem Einkaufsmakler direkt, d.h. ohne den Weg über den merchant, zu verhandeln (Schulze-Gävernitz 1892: 75, Haug 1980: 150).

für nötige Reparaturen nicht weit entfernt sein durften, siedelten sich die dazugehörigen Maschinenwerkstätten gleich neben den Spinnereien an. Lancashire wurde damit zum Hauptsitz des Maschinenbaus (Schulze-Gävernitz 1892: 52). Mit einer Weiterentwicklung der Spinnmaschine durch den Techniker Samuel Crompton im Jahr 1779, konnte das Garn noch feiner gesponnen werden (May/Lege 1999: 74).

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Doch die in Manchester beginnende neue kapitalistische Produktionsweise war nicht nur für englische Kapitalisten interessant. So transferierten einige deutsche Handelshäuser große Vermögen und Ressourcen von anderen Städten, z.B. Frankfurt/Main, Hamburg oder Berlin, nach Manchester oder siedelten sich gleich selber hier an, auch sie wurden merchants von Manchester. Für die verlassenen Regionen bedeutete die Abwanderung neben dem Verlust an Unternehmergeist auch einen Kapitalverlust für Investitionen (Chapman 1992:134 ff.).44 Manchester wurde zum Warenhaus der Welt, eine „true merchant city“, einhergehend mit einer kosmopoliten Kultur (Farnie 2004: 34 f.). Und wenn gesagt wird, dass der Kapitalismus freie Arbeitskräfte brauchte und schuf, die sich ungehindert und unbegrenzt auf den Märkten bewegten, dann galt das auch für die neuen Eigentümer der Produktionsmittel, die anfangs frei und ungehindert durch nationale, kulturelle oder religiöse Einschränkungen waren. Durch die erfolgreich eingeführte maschinelle Spinnerei in moderner Produktionsweise begann Baumwolle die Wolle als wichtigsten Rohstoff zu ersetzen (Pope 1970 [1905]: 2) und wurde ein Pioneer der maschinenbasierten Fabrikproduktion, die dann wiederum auch für andere Textilindustrien beispielhaft wurde. Stoffe waren nicht mehr durchweg individuell gefertigt. Sie verloren ein wenig ihre spezifische Struktur, weil es keine unzähligen Familienbetriebe waren, in denen das Rohmaterial vorbereitet, von den weiblichen Familienmitgliedern gesponnen und dann von den Vätern und Söhnen gewoben wurde ( Jeremy 2004a:91, Rose 1992: 148). Bei der hausindustriellen Produktion hatte es keine größeren Mengen an gleichen Waren gegeben. Das maschinell produzierte Garn war hingegen standardisierter, wenn auch durch das in Handarbeit verbliebene Weben noch individuelle Einschläge in die Stoffe hineinkamen. Aber die manufacturers konnten nun gleiche Stoffe gewährleisten. Wie der Ökonom Werner Sombart betont, konnten erst durch die Einheitlichkeit der Waren Warenmuster hergestellt werden, da die merchants erst jetzt garantieren konnten, dass auch wirklich solche Waren gehandelt wurden, wie die Muster es angaben. Auch musste der merchant gewillt sein, die dem Muster entsprechende Ware zu liefern (1913: 205 f.). Die Moral kam erst mit dem Wettbewerb, gerade weil man sich auf dem Markt als Fremde begegnete und nicht unter Freunden oder Vertrauten miteinander handelte. Tuch aus Manchester bekam ab den 1780er-Jahren ein Markenzeichen eingebrannt, „which served to differentiate an 44 In Manchester waren auf dem Höhepunkt der Entwicklung in den 1840er-Jahren ungefähr die Hälfte der merchants deutsche Juden. In den 1860er-Jahren hatten vor allem Deutsche und Griechen die Kontrolle über 75 Prozent und mehr des Auslandshandels (Farnie 2004: 33).

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essentially homogeneous product, grey cloth, into innumerable varieties.“ Der Brand stand für die Garantie von Qualität, um Kundenloyalität zu erzeugen (Farnie 2004: 35),45 auch weil die Gewohnheiten der Qualitätsprüfungen noch nicht besonders ausgebildet waren. Waren vorher die individuell gefertigten Unikate begehrter, wurde jetzt uniforme Ware bevorzugt. Nicht nur merchants, auch shippers entwickelten je spezielle Markierungen für verschiedene Märkte und für verschiedene Kunden. Durch diese Vereinheitlichung der Produktion entstanden auch neue Möglichkeiten in Verkauf und Distribution, es konnten neue Bedürfnisse geweckt werden, weil die Betriebsamkeit der Produktion erhöht war. Da in England keine Beschränkungen des Produktionsvolumens bestanden und die Nachfrage groß war, wurde die Produktion immer weiter gesteigert (May/Lege 1999: 72). Bereits im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wurden, dank der maschinellen Erzeugung, feinste Garne – bisher das Monopol Indiens – in England gesponnen (Schulze-Gävernitz 1892: 29). Aus diesem Garn konnte ebenso edles und hauchzartes englisches Musselin gewoben werden. Und auch die englischen glänzenden Chintzstoffe46 hielten dem Vergleich mit den indischen Produkten stand. Dadurch kam es nicht nur zum völligen Ausschluss des indischen Gewebes – 1772 waren die ersten einfachen Druckkattune aus Baumwolle ganz in England gefertigt – sondern fünfzig Jahre später, 1822, wurden die ersten Stoffe nach Indien ausgeführt (SchulzeGävernitz 1892: 37). Welcher Umschwung sich in den folgenden Jahrzehnten vollzog, bezeichnet eine Eingabe indischer Kaufleute von 1831. Die Petenten klagen, daß in Indien die heimischen Erzeugnisse durch englische verdrängt würden, und verlangen, wenn auch ohne sich hiervon viel Hülfe zu versprechen, Aufhebung des Einfuhrzolles in England, damit beide Länder wenigstens gleich behandelt würden. (Schulze-Gävernitz 1892: 29).

Dass die in England produzierten Stoffe immer begehrter wurden, war den merchants zu verdanken. Sie exportierten Garne und Textilien auf den Kontinent (Schulze-Gävernitz 1892: 37) und in die ganze Welt. Hier zeigte sich die weitere Bedeutung der merchants: Sie waren bereits im Welthandel tätig,

45 Unter dem Trade Marks Act von 1875 wurden schon über 44.000 marks für BauwollstoffWaren registriert (Farnie 2004: 35). 46 Englisch aus dem Hindi (Der Brockhaus 1997: 478). Ursprünglich ein mit Wachs überzogenes, dünnes, glänzendes Baumwollgewebe, später durch Kunstharzimprägnierung ersetzt.

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bevor die industrielle Produktion begann. Daher war die industrielle Produktion von Anfang an keine rein nationale Angelegenheit, die Handelsgüter auch für den Weltmarkt bestimmt. Während sich so Einfluss und Anerkennung der merchants weiter steigerten, waren die manufacturers viel enger an ihre Umgebung gebunden. Diese Industriebetriebe ähnelten eher noch Manufakturen und es wurde in England noch viel in Handarbeit produziert (Thompson 1963: 234). Die Baumwollgarne waren durch die maschinelle Produktion ein standardisiertes Erzeugnis geworden, die Waren, die sich aus den Garnen herstellen ließen, wiesen dagegen unzählige Varianten auf (Chapman 1992: 132). Baumwolle war den anderen Fasern wie Flachs und Wolle in der Bearbeitungsvielfalt deutlich überlegen (Farnie 2004: 17). Es dauerte nicht lange, da konnten aus diesen Garnen unterschiedlichste Baumwollstoffe billig produziert werden, sie fanden Verwendung für Kleidung, aber auch für andere Textilien wie Möbelstoffe. Aus Baumwollfasern konnten neue Materialien in verschiedenen Qualitäten und Dichten gewonnen werden. Die englische Überlegenheit zeigte sich bald vor allem in der Variantenbreite, nicht nur für notwendige und komfortable, sondern auch für elegante Stoffe. Es gab bunte, gemusterte Webarbeiten, karierte Stoffe und alle Arten von einfarbigen Stoffen, die eine Vielfalt aufwiesen, wie es sie vorher nicht gegeben hatte ( Jeremy 2004a: 88 und vor allem 90). Wenn jetzt noch einmal die Frage aufgegriffen wird, ob die industrielle Revolution durch import- oder exportorientierte Nachfrage ausgelöst wurde, dann zeigt sich gerade an der in den Produktionsbetrieben von Lancashire ausgebildeten Vielfalt, dass sich die Produzenten bei der Produktion nicht nur an dem Bedarf der Kolonialherren nach billigster Sklavenbekleidung oder Arbeiterkleidung orientierten. Es waren die Wünsche nach den begehrten Baumwollstoffen in einer Gesellschaft, in der sich eine durch die kapitalistische Produktionsweise amalgamierte herrschende Klasse neue Kleidungsgewohnheiten zugelegt hatte, die weltweit die Männerkleidung zu beeinflussen begannen.47 Als die Baumwollstoffproduktion zur Mengenproduktion wurde, verlor sich für die herrschende Klasse die Faszination für dieses Allerweltsmaterial, nicht aber für feine Stoffe. Die Bourgeoisie verlegte ihr Begehren wieder auf feine Wollstoffe und Mischgewebe (vor allem für die Hosen), aber die körperbetonte, schlichte Männerkleidung hatte sich durchgesetzt und blieb für die neu geordnete herrschende Klasse bestehen.

47 Für die Frauen blieb Paris einflussreicher (siehe dazu Kapitel 1.2).

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Abbildung 3: Porträt von John Milnes, Sohn eines reichen Baumwoll­ fabrikanten (1776), Ölbild von Joseph Wright of Derby.

Insgesamt kleideten sich Männer in England, auch wenn oder obwohl sie es sich hätten leisten können, im 18. Jahrhundert nicht mehr vorwiegend in Seide, Samt und Brokat, sondern in Wolle und Baumwolle. „This attire can be seen on prosperous merchants, rich gentlemen and sometimes even lords“ (Chenoune 1993: 9), wie der schon weiter oben genannte französische Besucher seinen Landsleuten die Kleidung der Briten weiter beschrieben hat. Einer dieser Männer war John Milnes, der Sohn eines Baumwollfabrikanten (Chenoune 1993: 11), der sich in dieser aufällig anderen, eng anliegenden und einfarbigen Bekleidung portraitieren ließ (siehe dazu Abbildung 3). Doch den auf Besuch in England weilenden Franzosen erstaunte am meisten, dass diese Kleidung nicht nur von merchants, sondern auch von Aristokraten getragen wurde. „Visitors were long amazed by such plain dress, particularly since it was not only worn by merchants

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conducting business in town, but also by aristocrats.“, wie auch Chenoune es noch einmal ausdrücklich betont (1993: 9, Herv. A.M). Auch in Frankreich werden die merchants diese Kleidung schon getragen haben, während es den Aristokraten unmöglich gewesen wäre, obwohl auch hier die Männer und Frauen keine an der spanischen orientierte Bekleidung mehr trugen (siehe dazu nächstes Kapitel). In England selbst begann man veraltete Männerkleidung mit Frankreich zu assoziieren, was sich darin ausdrückte, dass man ausländische Besucher, die sich bunt gekleidet und federgeschmückt durch die Straßen Londons bewegten, gerne als french dogs verlachte (Chenoune 1993: 12). Aber auch wenn der Anzug von der Bourgeoisie getragen wurde und in der englischen Gesellschaft anerkannt war, kann von einer sich vereinheitlichenden europäischen oder kontinental-europäischen Mode nicht gesprochen werden. Es gab hier weiterhin ältere und aus anderen Gesellschaften beeinflusste Bekleidungsgewohnheiten. In den 1770er-Jahren adaptierten einige junge Engländer nach ihrer grand tour (dt. Kavaliers- oder Bildungsreise) eine kontinentale Art der Bekleidung. Sie trugen sehr auffällige Kleider– eng anliegende Westen, zimtfarbene culottes und gestreifte Strümpfe – und wurden macaroni (was auf italienische Einflüsse verweist) genannt.48 Diese macaroni, wie in der Karikatur von 1774 zu sehen (siehe dazu Abbildung 4), aber auch andere Männer trugen sehr große Perücken, weshalb man sie auch curled darlings nannte. Einige Pariser Perückenmacher veranlasste diese Leidenschaft für aufwändige Perücken sogar dazu, sich in London niederzulassen. Und es gab englische Aristokraten, die für ihren spektakulär aufwändigen Kleideretat bekannt waren, obwohl sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit in satirischen Pamphleten und auf bissigen Karikaturen humorvoll kritisiert wurden (Chenoune 1993: 10). Und nicht nur europäische Einflüsse machten sich in England bemerkbar. So überraschte um 1780 der ehemalige macaroni Charles James Fox (1749–1806) die Öffentlichkeit „with his grimy dishevelment, bare chest, unruly hair and questionable beard.“ (Chenoune 1993: 19). Mit einer sehr kalkuliert eingesetzten wilden Kleidung wollte der spätere Unterstützer der Französischen Revolution auf das Niederreißen von Klassenbarrieren und egalitäre Ideen hinweisen. Er hatte sich nicht von anderen Europäern inspirieren lassen, sondern von dem Amerikaner Benjamin Franklin, einem der Hauptakteure der Amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung, der vom Amerikanischen Kongress im Oktober 1776, nach Beginn des Unabhängigkeitskrieges, als Gesandter der dreizehn 48 Einige dieser jungen Männer gründeten 1764 den London Macaroni Club, der seinen Höhe­punkt an Popularität im Jahr 1772 erreichte. Diese jungen Gentlemen machten ihre grand tour nach Italien und hatten eine Leidenschaft für alles Italienische (Sichel 1984: 6).

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Abbildung 4: Karikatur eines englischen macaroni in einer Londoner Zeitung von 1774.

vereinigten Staaten nach Frankreich geschickt worden war. Ab dieser Zeit hatte „Fashion à la Franklin“ einen gewissen Einfluss auf die Schlichtheit der Kleidung (Chenoune 1993: 19). Franklin wurde von den Europäern nicht als asketischer Puritaner angesehen, der aus religiösen Gründen andere Kleidung trug, sondern als interessanter amerikanischer Revolutionär; er soll ja auch ein sehr unterhaltsamer Zeitgenosse gewesen sein. Allerdings war bei den Amerikanern die Uniform der Bourgeoisie auch nach der Unabhängigkeit die gesellschaftlich anerkannteste geblieben, von daher waren die Differenzen in der Bekleidung insgesamt weniger groß (siehe dazu Kapitel 2.2). Für die Bourgeoisie Englands war die Unabhängigkeit der USA und der erlittene Machtverlust weniger einschneidend als der Verlust der Niederlande durch die Spanier im 16. Jahrhundert, der zur Rückständigkeit der spanischen

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Gesellschaft beigetragen hatte. Von den englischen merchants wurde der Handel mit Textilien sofort nach dem Ende des Unabhängigkeitskrieges 1783 wieder aufgenommen und ausgeweitet. Gerade weil hier nicht – wie zuvor in Spanien – eine homogene Elite versuchte die Macht zu behalten, sondern merchants aus aller Welt ihre Geschäfte tätigten – fremd, unpersönlich und an ihren Profiten interessiert. Auf eine sich national gebärdende Konkurrenz aus anderen Gesellschaften musste die herrschende Klasse in England erst ab der Mitte des 19. Jahrhunderts reagieren (siehe dazu Kapitel 3.1). 

Es waren merchants gewesen, die durch den freien Handel mit kostbaren Stoffen aus aller Welt den Wohlstand nach England gebracht hatten. Erst steigerte dieser Handel den Wunsch nach feudalen Prachtstoffen, dann aber erwuchs ein Bedürfnis nach neuen feinen und leichten Stoffen aus Baumwolle. Die im Handel erlangten Gewinne wurden zum Kapital für den Aufbau der ersten Textilindustrien genutzt, in denen wiederum merchants die Kontrolle über die Produktion übernahmen. Die Freiheit im Handel konnte in der Baumwollstoffproduktion fortgesetzt werden, unbeschränkt von ständischen Auflagen. Diese Freiheit hieß aber auch, Fremde in der Konkurrenz gewähren zu lassen, mit ein Grund warum Privat- und Berufsleben getrennt wurden. Die profitorientierten Kapitalisten waren sich fremd, dadurch aber auch potentiell für jeden Geschäftspartner offen. Nicht dass Standes- und Rangunterschiede durch die neue Männerkleidung nicht mehr zu sehen waren, war der wichtigste Grund. Sie waren für die neue Bourgeoisie weniger bedeutend; Adelstitel konnten gekauft werden, wenn man erfolgreich war. Wichtiger für die Wahl dieser neuen Männerkleidung war, dass die Unterschiede, die heute als religiöse, kulturelle oder ethnische bezeichnet werden, dadurch nicht mehr sichtbar waren: neutrale schlichte Kleidung als Schlüssel zum Erfolg der Bourgeoisie. Das gibt eine andere Vorstellung von den Anfängen der Bürgerlichkeit als im Sinn des Aufstieg oder der Verbesserung einer gesellschaftlichen Position, aber auch der Annahme festgelegter bürgerlicher Werte. Die neue Produktionsweise begann auf dem Land, nicht in den Städten, die großen Industriestädte entwickelten sich erst langsam. Die auf den englischen Landsitzen getragene ungezwungene Kleidung für eine freie Bewegung der sich in sports49 betätigenden

49 Die Bezeichnung sports kommt vom französischen se disporter, womit gemeint ist, sich (von der Arbeit) wegzubewegen. Damit wurden im 18. Jahrhundert die Vergnügen der englischen sportsmen/Gentlemen bezeichnet, die sich von den games unterscheiden sollten, wie man die bei Kirchweihen und Festen gemachten Spiele nannte (ausführlicher dazu bei Truninger, 2010: 74 ff.)

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Aristokratie hatte daher auch einen großen Einfluss auf den neuen dress coat. Durch die besonderen gesellschaftlichen Verhältnisse wurden die merchants mit Teilen der Aristokratie und der gentry durch Angleichung und Durchdringung zur Bourgeoisie, den Herren im Anzug, der in der kapitalistischen Gesellschaft herrschenden Klasse. Es war kein Kampf zwischen Adel und Bourgeoisie um eine Mode oder die Annahme feudaler Attitüden, den die englische Bourgeoisie führte. Ihre neue Kleidung setzte sich durch, wie die neue Form der Produktion und die neue herrschende Klasse insgesamt, die sich den neuen Bedürfnissen ihrer erfolgreichen bürgerlichen Gesellschaft angepasste. Von vielen außenstehenden Beobachtern wurde dieser Anzug noch nicht als Herrschaftskleidung gesehen, weil sich die Seh- und Deutungsgewohnheiten erst langsam veränderten. Da es in England noch einen königlichen Hof gab, an dem prunkvolle und prächtige Zeremonien (wenn auch bis ins 19. Jahrhundert im Vergleich zu anderen Gesellschaften sehr abgeschwächt) abgehalten wurden und Bekleidungsregeln galten, fielen die schlichten dress coats vor allem im städtischen öffentlichen Raum auf. Gerade wenn die Beobachter selber aus Gesellschaften kamen, in denen die noch mächtigen herrschenden Stände aristokratische Pracht entfalteten, konnte die neue schlichte Kleidung erscheinen, als sei sie nur Kleidung von Bürgern, nicht die der neuen herrschenden Bourgeoisie. Das verstärkte sich noch dadurch, dass diese neue Männerkleidung prinzipiell jedem offenstand und damit die veränderten Herrschaftsverhältnisse verschleierte. Der dress coat war, im Gegensatz zur Hofkleidung, Militäruniform oder Zunftkleidung, prinzipiell für jeden frei wählbar, wenn der Mann den Preis dafür bezahlen konnte. Freie Entscheidungen Einzelner hatten zur Nivellierung von Differenzen in der Uniform der Bourgeoisie geführt.50 In England begann sie, aber wo immer die kapitalistische Produktionsweise andere Produktionsweisen ablöst, da ersetzt (bis heute, beispielsweise in Chinas Gesellschaft) ein schlichter Anzug als uniforme Kleidung der Bourgeoisie die veraltete Kleidung der Männer der herrschenden Klasse. Weil diese Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise in anderen Gesellschaften anders verlief, war auch die lokale Adaptation an die Kleidungsgewohnheiten der Bourgeoisie immer unterschiedlich. Davon ausgehend wird die vorherrschende Ansicht neu betrachtet, moderne Bürgerlichkeit habe sich nicht in England, sondern in Paris entfaltet, die auch in der Literatur zur Mode immer argumentiert wird. Dort wird 50 Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die gesellschaftlichen Differenzen bewusst ausgebaut (siehe dazu Kapitel 2.3). Das war auch die Zeit, in der mit Karl Marx der Kritiker kapitalistischer Produktionsverhältnisse auftrat.

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Sansculotten – Bürger im seidenen Rock?

die Durchsetzung des bürgerlichen Anzugs gegen feudale ständische Kleidung mit der Französischen Revolution von 1789 verbunden. Die Kleidungsgewohnheiten der französischen herrschenden Stände seit der Zeit Ludwigs XIV. werden als außerordentlich aufwändig und luxuriös beschrieben. Die Herrschenden waren in Seide und Spitzen gekleidete, gepuderte und perückte Aristokraten, die in einem internen modischen Wettbewerb am Hof von Versailles ihre Stellung zu halten oder mehr Macht zu erringen versuchten. Erst die revolutionären Sansculotten sollen dem modischen Treiben im Jahr 1789 ein Ende gemacht haben. Ihre langen Hosen und schlichten Röcke seien die neue bürgerliche Kleidung gewesen, die dann von Paris aus ihren weltweiten Siegeszug angetreten habe. Diese Interpretationen sind nur dann möglich, wenn nicht über die Veränderung der Produktionsweisen auf die Entwicklung der Männerkleidung geschaut wird. Durch die in dieser Arbeit eingenommene Perspektive tritt nicht nur die englische Entwicklung in den Vordergrund, sondern auch die französische muss neu bewertet werden, weil sie die deutsche Debatte stark beeinflusst hat. Das wird im folgenden Kapitel gemacht.

1.2 Sansculotten – Bürger im seidenen Rock?

In den etablierten Wahrnehmungsmustern der deutschen Diskussion herrscht noch die Ansicht vor, moderne Bürgerlichkeit habe sich mit der bürgerlichen Revolution 1789 in Frankreich entfaltet. Schon die Bezeichnung verweist auf die Bürger, die den Adel im Kampf entmachteten. Dazu passt die gängige Darstellung der historischen Entwicklung von Männerkleidung, die den französischen Revolutionären einen gewichtigen Anteil an der Durchsetzung des bürgerlichen Anzugs zuspricht. Die gesellschaftlichen Kämpfe um Anerkennung waren im Frankreich des 18. Jahrhunderts radikal und unmittelbar gewalttätig, aber auch gekennzeichnet durch Mischungsverhältnisse, Überlappungen und ein Nebeneinander, das sich in der Veränderung der Männerkleidung widerspiegelte. Die Sansculotten, die radikalsten französischen Revolutionäre um 1789, hatten aber in der kurzen Phase ihres Auftretens weniger zur Veränderung der Männerkleidung beitragen können, als ihnen in der Literatur zugeschrieben wird (exemplarisch dafür Hunt 1989: 71, Schnierer 1995: 67). Von den im Frankreich des 17. Jahrhunderts aufstrebenden Bürgern hatten einige als notables51 an Einfluss gewonnen. Doch kam es hier nicht zur Amal51 Les notables, die Angesehenen, waren die Angehörigen der sozialen Oberschicht, deren Ansehen auf einem hohen Rang, auf den ihnen zugesprochenen besonderen Verdiensten oder einem großen Vermögen beruhte.

Die Uniform der Bourgeoisie

gamierung mit dem Adel, wie in England mit gentry und merchants, sondern in Frankreich versuchten die Bourgeois die Aristokraten nachzuahmen, die Anerkennung luxuriöser und prächtiger Bekleidungsgewohnheiten war der Versuch der Aufsteiger, gesellschaftliche Anerkennung zu bekommen. Durch die besondere Bindung mächtiger Männer (und Frauen) an einen Ort, den Hof in Versailles, mussten ehrgeizige Männer hier versuchen auf sich aufmerksam zu machen. Sie überboten sich dafür im luxuriösen Bekleiden, in Extravaganz und Neuartigem, um aus der Menge herauszustechen. Diese besondere Aus­ einandersetzung zwischen Individuen und (Hof-)Gesellschaft spiegelt sich dann auch in der Pariser Gesellschaft und zeigt sich deutlich in der Entwicklung der Bekleidung bis 1789. Die Französische Revolution kann jetzt nicht als radikaler Bruch verstanden werden, vielmehr waren die Reaktionen auf die Herausforderungen der sich verändernden Produktionsweisen vielfältig. Die an differenten gesellschaftlichen Bedürfnissen orientierte herrschende Klasse hielt lange an der Herstellung von Luxusprodukten wie Seidenstoffen fest, daher konnte sich die kapitalistische Baumwollproduktion nach englischem Vorbild nur langsam durchsetzen. Durch die französische Revolution von 1789 wurde die absolutistisch gelenkte Wirtschaftsweise zwar abgelöst. Als sich nach der kurzen republikanischen Phase durch Napoleon eine quasi-monarchische Herrschaft ausbreitete, wurde die während der Revolution verkündete Gewerbefreiheit aber teilweise wieder zurückgenommen, um die englischen Einfuhren abzuwehren und die eigenen, vor allem auf Seidenproduktion beruhenden Textilindustrien aufzubauen. Auch die unter Napoleon eingeführte neue Kleiderordnung, vor allem für den Hof, wirkte gegen eine Durchsetzung der Uniform der Bourgeoisie. Längerfristig konnte sich die französische Industrie allerdings weder der an Baumwollstoffen orientierten englischen Produktionsweise noch der aus England kommenden Uniform der Bourgeoisie, dem dress coat, entziehen. Anhand der Produktionsweise kann noch ein anderer wichtiger Aspekt geklärt werden. England wurde zum Mittelpunkt der neuen Männerkleidung, weil die Trennung der Tätigkeitsbereiche von Männern und Frauen in der Entstehungsphase der kapitalistischen Produktionsweise begann (siehe dazu Kapitel 1.1). „Von der Renaissance bis zur Revolution von 1789 war die Kleidung des Mannes ebenso glanzvoll, graziös und prunkvoll wie die der Dame.“ (Goblot 1994 [1925]: 102). In der bürgerlichen Gesellschaft grenzte sich Männerkleidung immer mehr von Frauenkleidung ab. Waren zuvor die Grenzen zwischen den Kleidern der Geschlechter noch fließend, so trennten sie sich nun in Stil, Stoff und Farbe. Gerade weil in Paris die handwerkliche Produktionsweise in der Frauenkleidung

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weiter erfolgreich betrieben werden konnte, blieb die Stadt das Zentrum der Frauenkleidung. Damit schlug sich die Trennung der Geschlechter auch in der Geografie der Produktion nieder. Der Mann sucht die Schönheit der Linien und die Pracht der Farben, schmückt sich mit Bändern, Stickereien, Spitzen, Schmuck, z.B. wenn er mit den Damen ins Theater geht, in die Salons oder auf Spaziergängen. Dann, im Jahre 1835 protestierten plötzlich die Modejournale gegen den Ballbesuch im unangemessenen schwarzen Anzug – das heißt in Arbeitskleidung. (Goblot 1994 [1925]: 105).

Warum Männer in der Uniform der Bourgeoisie, wie von dem französischen Soziologen Edmond Goblot (1858–1935) beschrieben, plötzlich im Jahr 1835 aufgetaucht sind, hat dabei auch seine Gründe in der besonderen Entwicklung der französischen Gesellschaft. Versailles oder die Nachahmung Bis zu den Anfängen der Industrialisierung war vor allem Frankreich Englands großer Konkurrent gewesen. Seit der Regierungszeit Ludwigs XIV. (1638–1715) hatte man auch hier verstanden, dass der Wohlstand des Staates, d.h. die Höhe der Steuereinkünfte, mit dem wirtschaftlichen Erfolg seiner Kaufleute, Großhändler und Gewerbetreibenden zusammenhing (Hinrichs 2008: 195). Die wirtschaftliche Staatstätigkeit, später Merkantilismus genannt, sollte den Wohlstand ganz Frankreichs mehren, nicht nur den einzelner Kaufleute – das war ein großer Unterschied zu England, wo Adam Smith mit dem Begriff der „invisible hand“ die Erklärung dafür lieferte, warum der Wohlstand des einzelnen merchants zum erstaunlichen Reichtum der gesamten Nation geführt hatte. Während in England die Regierung den merchants neue Rechte gewährte (Smith 2003 [1789]: 513), wurden in Frankreich, wenn der freien Entfaltung der wirtschaftlichen Kräfte machtpolitische Interessen entgegenstanden, erhaltene Freiheiten auch wieder zurückgenommen. Verheerende Folgen für die Wirtschaftskraft des Landes hatte z.B. im Jahr 1685 die Rücknahme des Edikts von Nantes, weil trotz Ausreiseverbot mindestens 300.000 Hugenotten, darunter viele aus technischen, kaufmännischen und handwerklichen Bereichen, Frankreich verließen und nach Holland, in deutsche Staaten oder die Schweiz auswanderten (Hinrichs 2006: 205).52

52 Diese Wanderungsbewegung mag wohl als Ausfluss religiös-konfessioneller Verfolgung gesehen werden, wie Chapman schreibt (1992: 134). Aber das vom König verhängte Aus-

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Für den Soziologen Leo Löwenthal setzte die Verbürgerlichung der französischen Gesellschaft früher ein. Während in Spanien die Aristokratie im Übergang zum 17. Jahrhundert die wirtschaftliche Entwicklung einem antiquierten Feudalsystem unterzuordnen suchte, sei diese in Frankreich nicht durch den inneren Widerspruch zwischen mittelalterlicher und moderner Art gesellschaftlichen Lebens aufgerieben worden (Löwenthal 1990: 23). Der französische Hochadel hatte seine frühere Unabhängigkeit schon verloren und orientierte sich am Hof, der sich ab 1711 in Versailles versammelte. Es war ein nicht sehr luxuriöser Aufenthaltsort für einen Hofstaat von etwa 20.000 Menschen und die Pflichtresidenz für jeden, der sich seine Versorgung durch den Hof in Heer, Verwaltung und Klerus erhoffte (Hinrichs 2006: 199 f.). Aber die am Hof des Königs versammelten notables waren eine Verwaltungs-, Beamten- und Finanzelite, die neben Aristokraten auch einige Bürger in sehr hohen Stellungen einschloss und anerkannte. Die wirtschaftliche Macht konzentrierte sich – wie alle gesellschaftliche Macht – um den König. Und die Manufakturen Ludwigs XIV. waren durchaus auf Profit ausgerichtet und insofern moderner als das staatlich-ständische, die Produktion einschränkende Verlagswesen, dass es noch in vielen Regionen Europas gab (Schulze-Gävernitz 1892: 35). Aber im Unterschied zu der auf privater Initiative beruhenden wirtschaftlichen Entwicklung zur Mengenproduktion durch unternehmerisch denkende Kapitalisten in England, wurde in Frankreich durch die Gründung von staatlichen Manufakturen vor allem die Produktion von Luxusgütern gefördert (Hinrichs 2006: 197). Die hier produzierten Güter waren sehr teuer und bei Seide konnten noch die Kosten für die Rohstoffbeschaffung hinzukommen. Insgesamt war bis zum beginnenden Industriezeitalter die während des 17. und 18. Jahrhunderts aufgebaute französische Seidenfabrikation sehr erfolgreich (Harvey 2008: 19), hier wurden die qualitativ hochwertigsten Seiden in Europa produziert (Allen 1955: 221). In Frankreich wurde durchaus mit Betriebsamkeit Luxus fabriziert. Für Löwenthal hatte in der französischen Gesellschaft im 17. Jahrhundert das betriebsame Bürgertum das Alltagsleben fest im Griff, also lange bevor es daran denken konnte, die politische Macht zu fordern (1990: 160). Wenn auch die Wirtschaft von der französischen Regierung gelenkt wurde, sollen schon im 17. Jahrhundert in der französischen Gesellschaft im Übergang von der traditionsgebundenen zur freien Gesellschaft die Gesellschaftsglieder nicht daran

reiseverbot für die Hugenotten scheint zumindest darauf hinzudeuten, dass der Abgang von Kapital verhindert werden sollte.

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gehindert worden sein, einer relativ ungehinderten Entwicklung ihrer persönlichen Vorlieben nachzugehen. Im 17. Jahrhundert hatte das bürgerliche Leben hauptsächlich als Ergebnis der merkantilistischen Politik des Staates, die die Entwicklung von Handel und Industrie unterstützte, starken Auftrieb erhalten. Denn trotz seiner aristokratischen Aufmachung hing der Wohlstand des absolutistischen Staates eben von den wirtschaftlichen Erfolgen ab, die das Bürgertum mit seiner Lebensweise und seinem Ethos in den Vordergrund rückten. (Löwenthal 1990: 125).53

Diese Lebensweise des Bürgertums in einer fast homogenen bürgerlichen Welt meint Löwenthal bereits in den Stücken des französischen Schriftstellers Mo­lière (1622–1673) zu erkennen (1990: 123). Molière, der Untertan einer ­blühenden Monarchie, erscheint bei ihm als Dichter des Bürgertums, weil seinem ­Theater die Voraussetzung zugrunde liege, dass eine integrierte Gesellschaft bürgerlichen Typs angestrebt werden müsse. „Der Bürger als Edelmann kann sein gesamtes Geld dafür ausgeben, den aristokratischen Lebensstil nachzuäffen, ohne daß ihm irgendeine Autorität hineinredet.“ (Löwenthal 1990: 152). M ­ olière, von der Vergangenheit des Renaissanceindividualismus herkommend, sah diesen Individualismus in seiner eigenen Zeit durch neue gesellschaftliche Kontrollen beschnitten (Löwenthal 1990: 160). Die vermeintliche Freiheit sei trügerisch, denn obwohl es wenig institutionalisierten Zwang gebe, herrsche doch kein geringer sozialer Druck. In Molières Stücken rückten die Helden vom produktiven Zentrum menschlicher Angelegenheiten ab, je mehr sie ihre Individualität herauskehrten und sich vom durch die Vermittler repräsentierten gesunden Menschenverstand entfernten. Diese Pseudoindividualisten scheiterten nicht heldenhaft wie Cervantes’ Pseudo-Ritter Don Quijote, vielmehr wurden sie schimpflich zur Seite geworfen und den eigenen Absurditäten überlassen.

53 Doch was Löwenthal für Spanien sah, traf auch auf Frankreich zu: „Dieser aus dem Manufakturwesen begründete wirtschaftliche Aufschwung mußte früher oder später sein Ende nehmen, und wenn auch nur deshalb, weil die Produktionsverhältnisse, die den Feudalismus zu ersetzen begannen, nicht Luxus, sondern Fleiß verlangten – ‚Betriebsamkeit‘ in zweierlei Hinsicht: als Charaktereigenschaft und als objektive Gegebenheit von Industriebetrieben.“ (Löwenthal 1990: 23). Auch die französische Produktionsweise konnte mit der englischen nicht mithalten, erst als sich in Frankreich die gesellschaftlichen Bedingungen veränderten, kam es zum verstärkten Ausbau der industriellen Produktionsweise und zur Herrschaft der Bourgeoisie.

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Die Schwierigkeiten für die Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft zeigen sich für Löwenthal darin, dass in dieser sich transformierenden Gesellschaft nicht mehr vorgeschrieben wurde, wie sich der Mensch verhalten soll (1990: 153). Diese Akte der Schöpfung und des Experiments jedoch werden nicht mehr als das Vorrecht und die Verantwortlichkeit eines erhabenen Individuums angesehen, sondern als die Anstrengungen vergesellschafteter Personen, die in einem Rahmen der allgemeinen Übereinstimmung handeln und deren Verhalten mit dem Mechanismus der sozialen Anerkennung oder Ablehnung aufs engste verzahnt ist. (Löwenthal 1990: 153).

Molières Begriff des décors etwa meine nicht nur Höflichkeit oder gutes Benehmen, sondern die Fähigkeit des Individuums „sich richtig in die Sphäre des Kollektivverhaltens einzuordnen.“ (Löwenthal 1990: 153). Wer weiß, was sich ziemt, passt sich harmonisch und erfolgreich der gesellschaftlichen Verhaltensweise an.54 Die bürgerliche Gesellschaft sei in eine Periode der Anpassung getreten, in der das bürgerliche Individuum diese Lektionen mit Schmerzen habe lernen müssen (Löwenthal 1990: 148 ff.) „Im Werk Molières tritt das Bürgertum als eine Macht eigenen Rechts auf; seine Charaktere fühlen sich in die neuen Institutionen ein und lernen – wenn auch mit Vorbehalten –, sich den gemeinsamen Sitten und Werten des bürgerlichen Lebens anzupassen.“ (Löwenthal 1990: 122). Die Vermittler in Molières Bühnenstücken predigen Mäßigung und ein bestimmtes Maß an Hedonismus; sie sind die Fürsprecher eines vernünftig regulierten bürgerlichen Lebens, indem sie der Pflicht wie dem Vergnügen ihren Teil geben. Dies ist der Ratschlag, der oftmals einem jungen Menschen gegeben wird, nämlich zu lernen, sich um seines eigenen Vorteils willen der Welt anzupassen; es ist ebenso das Motto des Kaufmanns, der lernt, mit seinen Kunden auszukommen (Löwenthal 1990: 146).

Das hätte auch dem Ratgeber für junge Männer entnommen worden sein können, den der Amerikaner Benjamin Franklin geschrieben hatte und der von 54 „Im Geizhals läßt Molière einen Helden voll Stolz sagen: die Erfahrung lehrt mich. ‚Erfahrung‘ meint, wie wir sehen, ganz bestimmt die Außenwelt und besonders die gesellschaftliche Welt; wir erkennen sie nur, indem wir sie genau beobachten, indem wir also ein wachsames Auge auf ihre Sitten und Forderungen haben. Die innere Erfahrung erscheint ausgeschlossen.“ Die Welt, die man aus Erfahrung kennt, ist so strukturiert, dass sie sich entwickelt, keine fertige Konzeption mehr. Indem die Menschen auf die veränderlichen Qualitäten achten, können sie etwas über sie erfahren (Löwenthal 1990: 146).

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Max Weber im Geist des Kapitalismus aufgegriffen wurde. Diese Männer, die lernen sich der Welt anzupassen, seien die Prototypen des von Molière vorweggenommenen Zeitalters, sie symbolisierten den goldenen Mittelweg, würden extreme Handlungen vermeiden, dafür aber gesellschaftliche Anpassung und Einfügung als höchste Tugenden preisen. „Sie sind, kurz gesagt, ‚bourgeois‘ in mehr als einer Hinsicht“ (Löwenthal 1990: 150 f.), d.h., das bourgeoise Moment erkennt Löwenthal als das Homogene, das sich Einfügen. Und wirklich hatte das, was Löwenthal hier als bourgeois beschreibt und was im „Motto des Kaufmanns“ (Löwenthal 1990: 146) steckt, der lernt, mit seinen Kunden auszukommen, in der englischen Gesellschaft die Entwicklung zur Männerkleidung an die Bedürfnisse einer neuen herrschenden Klasse als eine Uniform der Bourgeoisie zur Folge. In England war das notwendig falsche Bewusstsein der bürgerlichen Gesellschaft aber in einer freiwilligen Amalgamierung freier profitorientierter merchants und Aristokraten entstanden, um des eigenen Vorteils willen und doch letztendlich zum Wohle der Bourgeoisie.55 In der französischen Gesellschaft warnte Molière aber vor dem Pseudoindividualismus und falscher, d.h. zwanghafter, Anpassung, weil die Bourgeois dadurch keine Anerkennung des Ersten Standes erlangen konnten.56 Wenn Bourgeois trotzdem versucht haben, sich anzupassen, dann lag das an der von der höfischen Gesellschaft entfalteten Dynamik. Die notables mussten viel mehr experimentieren und ihre Individualität herauskehren als die Bourgeois in England, denn sie bewiesen damit ihre Fähigkeit, sich in das in Versailles perfektionierte „Diktat der Mode“ (König 1967: 94), durch das ein immer schnellerer Wechsel der Kleidung hervorgerufen wurde, einzupassen.57 Wenn Molières Begriff 55 Die Kritik dazu, wie sehr diese Bourgeoisie am eigenen Wohl interessiert war und nicht ausreichend an dem der gesamten Gesellschaft, kam schon von Adam Smith (2001 [1776], siehe dazu Kapitel 2.1). 56 Interessant, wie schon bei Molière die Frage gestellt wird, ob sich über die äußere Erscheinung der Habitus verändern kann, also ein über den Schatten Springen möglich ist. Das hat auch der französische Soziologe Bourdieu in seinen Untersuchungen zur französischen Gesellschaft in der Mitte des 20. Jahrhunderts betont. 57 Eher als bei der Spanische Mode genannten Bekleidung (König 1967: 94 und die Kritik an dem Begriff, siehe dazu Kapitel  1.1), kann hier der Begriff Mode verwendet werden. Im Französischen steht à la mode (von lateinisch modus, Art und Weise, Maß) für den zeitweilig vorherrschenden Geschmack in verschiedenen Bereichen des Lebens (Kolesch 1998: 26). Damit können zwei Bedeutungen verbunden sein, etwas nach einer bestimmten Art und Weise zu tragen, also wie etwas von einer Person getragen wird (individualisierend), aber auch nachahmend, nach der Art und Weise, wie ein anderer es trägt (nivellierend). Diese Doppeldeutigkeit wird in der Diskussion zu Gründen für den Wechsel von Kleidung immer

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des décors nicht nur Höflichkeit oder gutes Benehmen, sondern die Fähigkeit des Individuums beschreibt „sich richtig in die Sphäre des Kollektivverhaltens einzuordnen“ (Löwenthal 1990: 153), dann mussten sich diese Männer tatsächlich dekorieren. Molière waren diese Verhältnisse am Hof durch seinen Vater bekannt, einen wohlhabenden Pariser Händler für Heimtextilien (tapissier), der sich 1631 das Amt eines tapissier du roi (königlicher Dekorateur) gekauft hatte. Auch Molière selbst war als Protegé durchaus abhängig vom Hof und dessen finanzieller Unterstützung (Löwenthal 1990: 181), nachdem er das vom Vater noch erlernte und vererbbare Amt abgelehnt hatte. Und auch wenn sich die ständische Ordnung schon unter dem Ancien Régime aufzulösen begonnen hatte und einige Bürger sehr hohe Stellungen in der Verwaltung innehatten, standen die Bürger wegen der persönlichen Ortsgebundenheit in Versailles unter dem Druck zur Anpassung. Molière musste das selbst erleben. Die gesamte höfische Gesellschaft, auch die Bürger unter den notables, schmückte sich mit den Symbolen der feudalen Welt: neben Adelstiteln und Grundherrenschaften vor allem auch mit luxuriöser Kleidung (Hinrichs 2006: 224). Aber auch das waren nicht die von René König beschriebenen feudalen Allüren, die von reichen Kaufleuten nachgeahmt wurden (1967: 92). Nein, denn diese Bourgeois waren ja schon unter den Herrschenden zu finden und ahmten nicht deren Allüren nach, sondern versuchten sich genauso individuell wie diese Aristokraten auszuzeichnen. In England konnten sich die merchants auf ihren persönlichen Profit, ihre eigenen interests konzentrieren, ihre Geschäfte schienen unabhängig von persönlichen Beziehungen. Gerade dadurch eröffneten sich Fremden neue Möglichkeiten, Geschäfte in einem kosmopolitischen Umfeld zu tätigen. In der versammelten französischen Hofgesellschaft aber herrschten andere Interessen vor: Wer Geschäfte tätigen wollte, musste sich unter Bekannten durchsetzten. Und vor allem waren die notables am Staatswohl viel stärker interessiert, da sie als Teil der herrschenden Klasse ihre Einkünfte aus Ämtern und Renten, Teilhabe an königlichen Finanzierungen und damit verbundenen Gewinnen aus Handel, Gewerbe, Manufakturen bezogen (Hinrichs 2006: 224). Hier, wo sich alle kannten, setzte die Konkurrenz keine Anonymität oder Neutralität eines Marktes wieder aufgegriffen. Im Englischen wird dagegen der Begriff fashion im Sinne von Ausführung, Form und Erscheinungsbild (von lateinisch factio(n-), facere) verwendet, womit die bestimmte Machart und die Herstellungsweise betont werden (McKean 2005). In Deutschland wurde der Begriff aus dem Französischen übernommen, bei Bekleidungsgewohnheiten wurde immer zuerst nach Frankreich geschaut (siehe dazu Kapitel 1.3). Die Mode, die für die modernen Gesellschaften bedeutend wird, ist erst mit der Durchsetzung der industrialisierten massenhaften Herstellung von Ready-to-wear-Bekleidung in den USA im 19. Jahrhundert aufgekommen (siehe dazu Kapitel 3.1).

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der merchants voraus, sondern im Gegenteil, sie verlangte nach Aufmerksamkeit, nach Herausstechen aus der Gruppe, um einen Teil der Staatsbeute abzubekommen. Gerade weil hier noch nicht das „Motto des Kaufmanns, der lernt, mit seinen Kunden auszukommen“ (Löwenthal 1990: 146) galt, entwickelte sich keine bürgerliche Uniform, sondern Kleidung, mit der Aufmerksamkeit erzielt werden konnte, als ständige Transformation des Luxus. Anwesenheit am Hof war kein Beruf, der sich vom Privatleben trennen ließ, und nicht auf Männer beschränkt. Die Bekleidung, die Perücken, die Schminke von Männern und Frauen unterschieden sich in ihrer luxuriösen Ausstattung kaum.58 Während die gentry in woll- und baumwollenen Jacketts bei Fuchsjagden Kopf und Kragen riskierte, veranstalteten die notables in Versailles unter der Regie des Königs Maskenbälle in aufwändigsten Verkleidungen und Schäferspielchen in geometrisch geordneten Parkanlagen. Hier war es möglich, trotz eventueller Wetterwidrigkeiten, empfindliche Seide zu tragen – zum nächsten Palais, in dem man die Bekleidung wechseln konnte, war es nicht weit. Und diese Inszenierungen in immer neuer Kleidung und Aufmachung waren für die Regierung Ludwigs XIV. höchst gewinnbringend, da sie die Einnahmen der staatlichen Manufakturen steigerten. Daneben profitierten auch die in der nahen Stadt Paris ansässigen Handwerksbetriebe und andere Dienstleister, die von diesen Aristokraten, Bürgern und Beamten lebten. Mit fast einer Million Menschen war Paris in der vorrevolutionären Zeit neben London die größte Stadt der europäischen Welt – Berlin hatte Ende des 18. Jahrhunderts gerade einmal 140.000 Einwohner. Nach Paris zogen alle, die nicht mehr auf dem Land leben konnten oder wollten (Zierer 1970: 10), so dass Arbeitskraft billig zu haben war für die wachsende Anzahl an Manufakturen für Luxusgüter.

58 Unterschiede gingen damit einher, dass sich während der Regierungszeit von Ludwig XIV . im Jahr 1675 eine Schneiderinnenzunft für die Herstellung von Frauenkleidern bilden durfte – die ersten professionellen Damenschneiderinnen. Hollanders Begründung, dass Ludwig XVI . zugestimmt habe, weil er glaubte, dass der Würde französischer Frauen durch eine solche Entwicklung, die ihnen ein Betätigungsfeld für ihre Begabung, Respekt für ihre Sittsamkeit und Unabhängigkeit für ihren Geschmack einräumte, gut gedient wäre, ist fraglich, kann hier aber nicht behandelt werden. Da ganz Europa französische Mode und Methoden der Modeherstellung kopierte, waren von dem Zeitpunkt an zunehmend Frauen für die Kleidung von Frauen und Männer für die Kleidung von Männern zuständig (1997: 110). Mit dem englischen Schneider Charles Worth kam 1857 dann aber wieder ein Mann nach Paris, der dort zum wichtigsten Damenschneider wurde – er modernisierte seine Produktionsweise, indem er die neuen Nähmaschinen einsetzte.

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Abbildung 5: Louis Auguste I. de Bourbon, duc du Maine (1670–1736).

Für den Luxus der Privilegierten sind im Paris von 1789 allein 7200 Perückenmacher tätig. Mehr als 12000 Näherinnen, Maßnehmer, Zuschneider und annähernd 8000 Lakaien bemühen sich um das Wohl und Wehe einiger hundert Adeliger und ihrer Familien. (Zierer 1970: 10).

Die in den Pariser Manufakturen und Zünften versammelten geschicktesten Handwerker fertigten untereinander konkurrierend aufwändige Luxusgüter. Und weil sich die Luxuswarenfertigung in den Städten konzentrierte, bestimmten auch die städtischen Gewohnheiten und Bedürfnisse die Herstellung dieser Waren. Insgesamt war der französische Markt klein, weil die vielen, aber vor allem mit aufwändiger und damit teurer Handarbeit produzierten Luxusgüter nur von wenigen gekauft werden konnten. Vom Hof weitete er sich in die Stadt Paris aus und von dort in die Provinz und auf das Land. Während in

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England die für Betätigungen auf dem Landsitz entwickelte Kleidung als neueste Männerkleidung die Städte eroberte und den Konsum ankurbelte, waren es in Frankreich Großstädter, die das Neue öffentlich zeigten, das mit einiger Verspätung dann auch die Provinz erreichte. Die für die höfische Gesellschaft gefertigten immer wieder variierenden Bekleidungen wurden erst in Paris und dann in anderen Städten in immer vereinfachenderer Form nachgearbeitet, weil die handwerklichen Fähigkeiten hier nicht so ausgebildet waren wie in Paris (Sennett 1986: 314).59 Damit setzten die Nachahmungen als das Zusammenspiel verschiedener Gesellschaftsschichten eine städtische Gesellschaft voraus (Löwenthal 1990: 156). Der von Molière kritisierte Aufsteiger Monsieur Jourdain (Le Bourgeois gentilhomme) ist solch ein Städter, der ein Edelmann werden möchte, indem er Tanzstunden nimmt, Seide und Samt trägt und Leute von Rang nachzuahmen versucht. „Es zeigt sich ferner eine große Fähigkeit, in verschiedene Rollen hineinzuschlüpfen; die Menschen können ihre Rollen mit erstaunlicher Leichtigkeit wechseln.“ (Löwenthal 1990: 156). Schon am Hof in Versailles war das Wissen darum, was sich ziemt, für das Einordnen in den herrschenden Stand unerlässlich gewesen. In der städtischen Pariser Gesellschaft wurde das übernommen.60 Wer dazu gehören wollte, wer in der Pariser Gesellschaft anerkannt sein wollte, der musste das höfische Spiel beherrschen, d.h., je nach Situation leicht in verschiedene Rollen schlüpfen können. Durch die Annahme der luxuriösen Bekleidungsgewohnheiten, die auch den ständigen Wechsel der 59 Der amerikanische Soziologe Richard Sennett schreibt, dass Paris für Frankreich und auch außerhalb Frankreichs in Sachen Mode tonangebend war. Die Londoner Dame des Mittelstands trug, was in Frankreich 10 bis 15 Jahre vorher die Frau der Oberklasse getragen hatte. Die französische Mode wurde mit Hilfe von Puppen verbreitet (Sennett 1986: 314). Auch bei Sennett wird, wie bei den meisten Autoren und Autorinnen, hauptsächlich von der Frauenkleidung her über den Wechsel von Bekleidungsgewohnheiten nachgedacht, darum ist für ihn Frankreich in der Mode tonangebend, obwohl sich das für die Männer ändert. Lobenswerte Ausnahmen sind unter anderem Gundula Wolter, die schon in den 1980er Jahren einen Blick auf die wechselvolle Geschichte der Männerbekleidung warf und Anne Hollander mit ihrer Geschichte des Anzugs. 60 Vielleicht kann man mit dem amerikanischen Politikwissenschaftler Benedict Anderson sagen, dass die höfische Gemeinschaft das Wissen dazu durch „face-to-face-Kontakte“ erlangt hatte, während die größere städtische Gemeinschaft nur eine vorgestellte war (Anderson 1998: 15). Benedict Anderson unterscheidet diese neuen größeren, vorgestellten Gemeinschaften von den dörflichen mit Face-to-face-Kontakt. Das muss hier differenziert betrachtet werden, da sich das Kleidungsverhalten, an dem sich die französische städtische Gemeinschaft orientiert, von der höfischen Gemeinschaft ableitete und nicht, auch wenn Versailles außerhalb von Paris lag, von einer dörflichen.

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Kleidung beinhaltete, versuchten die Aufsteiger, gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen.61 Anders in England, wo sich uniforme Männerbekleidung durchgesetzt hatte, die den individuellen Erfolg eher verdecken konnte und wo durch das Tragen dieser Bekleidung die Bourgeoisie als Gruppe anerkannt wurde. Und genau darum hatte Molière das Verhalten seiner Landsleute kritisiert, als er dazu aufforderte, nicht die Aristokraten nachzuahmen, da sich die Bürger dadurch lächerlich machten. Weil aber viele Männer sich am Bekleidungsstil der Aristokratie orientierten, wurde es im 18. Jahrhundert immer schwerer, die tatsächlichen Adligen von den vorgeblichen zu unterscheiden.62 Diese „visible confusion“ wurde noch dadurch verstärkt, dass die Diener die Kleidung ihrer Herren trugen, „whether honestly received or stolen.“ (Chenoune 1993: 12). Nicht zufällig erfreuten sich nun Kleidungsexperten großer Bekanntheit, die im persönlichen Gespräch und in Schriften die Kleidung im öffentlichen Raum kommentierten und die Distinktionen aufzuzeigen versuchten. Der Zeitschriften- und Büchermarkt, d.h. die Druckerzeugnisse, waren der Schlüssel für die Entstehung völlig neuer Vorstellungen von Gleichzeitigkeit (Anderson 1998: 39).63 Und was die Zeit61 Was dann auch dazubeitrug, die Nachahmung in anderen gesellschaftlichen Bereichen anzuerkennen. Im Jahr 1815 beschreibt Germaine de Staël (1766–1817) für die französischen Literaten, was sie als die Differenzen zu deutschsprachigen Dichtern sieht: „wenn sich in Deutschland eine Spur der Modegewalt blicken läßt, so besteht sie bloß darin, daß sich jeder etwas damit weiß, sich von allen andern zu unterscheiden. In Frankreich ist es gerade das Gegentheil; da strebt alles nach dem Lobe, das Montesquieu Voltairen ertheilt, wenn er sagt: ‚Er hat mehr als irgend jemand, den Verstand, den jedermann hat.‘ Die deutschen Schriftsteller würden sich eher noch entschließen, die Ausländer, als ihre Landsleute nachzuahmen.“ (de Staël 1815: 26 f.). Und die Kulturhistorikerin Annemarie Kleinert führt für Anfang des 19. Jahrhunderts aus, dass in Frankreich das Auffallen durch Äußerlichkeiten in Dichterkreisen fast schon Pflicht gewesen sei (1980: 53). 62 Dazu beigetragen hat sicherlich, dass im Verlauf des 18. Jahrhunderts Seidenstoffe billiger wurden. 63 Anderson schreibt, dass das Buch das erste modern produzierte [in Mengen, nicht in Massen produzierte, das sollte unterschieden werden, denn die Massenproduktion setzt erst in den USA ein, Anm. A. M.] Industriegut war. Schon im 15. Jahrhundert ähnelten Druckereien mehr modernen Werkstätten als Arbeitsräumen mittelalterlicher Klöster. Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts handelten Verlage bereits mit vereinheitlichten Produkten und weiteten ihre Aktivitäten so aus, dass ab Ende desselben Jahrhunderts Großdruckereien in Europa tätig waren (Anderson 1998: 36). Die Betriebsamkeit dieser merchants führte dazu, dass Drucker auf der Suche nach neuen Märkten Niederlassungen in ganz Europa gründeten. Auch diese merchants, wie die Händler im Textilbereich, orientierten sich anfangs international, d.h., sie ignorierten erfolgreich nationale Grenzen. Wie Anderson schreibt, waren auch die Buchhändler primär daran interessiert, Profite zu machen durch

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schriften und Zeitungen betraf, darüber hinaus auch der Vorstellungen von Ungleichzeitigkeit, die das Bedürfnis nach Nachahmung bedienen konnten. Das Kommentieren von wechselnden Bekleidungen als neueste Mode war doch, um das Kaufinteresse für Zeitungen täglich neu zu wecken, geradezu prädestiniert. Zum einen innerhalb der eigenen Stadt, Paris, von der die Nachrichten in kleinere Städte kamen und bis in die hintersten Winkel von Frankreich. Aber die Zeitschriften und Zeitungen wurden auch in anderen Länder gelesen und so nicht nur Gleichzeitigkeiten, sondern vor allem auch Ungleichzeitigkeiten beim Lesen erfahren. So wurde auch auf der französischen Seite schon sehr genau beobachtet, was jenseits des Kanals in England vor sich ging. Die Vorteile der neuen Produktionsweise und der sich ausweitende englische Handel erstaunten die französische Gesellschaft und es zeigte sich jetzt, dass das betriebsame Denken im Merkantilismus im Vergleich dazu weniger erfolgreich war. Diese staatlich gelenkte Entwicklung der Produktionsweise hatte nur Wenigen Vorteile gebracht, die sich in Nachteile verwandeln sollten, als sich die moderne Produktionsweise in England entwickelte und Baumwolle zum neuen und begehrten Produktionsmittel bestimmte. Zwar hatten auch in Frankreich Handel und Manufakturen seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts einen gewissen Aufschwung erlebt (Hinrichs 2006: 216), doch ließ sich durch die seit Ludwig XIV. begonnenen von oben verordneten Programme die wirtschaftliche Situation insgesamt nur schwer verändern (Hinrichs 2006: 197). Die merchants in Frankreich kritisierten etwa, dass sich die Monarchie auf die Entwicklung des Militärs konzentriere, so könne sich kein dynamischer Handelsstaat entwickeln (Hinrichs 2006: 214). In diesem einen Bereich war das französische Manufakturwesen tatsächlich sehr erfolgreich und für seine Zeit modern. Frankreich war insgesamt eine Militärmonarchie mit stehenden Heeren und die dafür benötigten Ausrüstungen, auch die Uniformen, wurden in gut funktionierenden Manufakturen hergestellt (Hinrichs 2006: 208). Als im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts die günstigen Wirtschaftsverhältnisse umschlugen und wirtschaftliche Krisen das Land erschütterten, begannen neben den Verkauf von Produkten, weshalb sie zuerst die Werke auswählten, die für möglichst viele Leser interessant sein könnten (1998: 39). In den Anfängen wurden die meisten Bücher in lateinischer Sprache gedruckt, damit bestand ein internationaler Markt. Erst nach der Sättigung dieses Marktes, durch die geringe Anzahl an Lesenden überhaupt, versuchten sie, auch die riesigen Märkte der einsprachigen Leser zu erobern. Während die Katholische Kirche beim Latein als ihrer Schriftsprache blieb, konnte eine Koalition zwischen Protestantismus und Druckmarkt neue Leserkreise erschließen, vor allem von merchants und Frauen, die häufig kein Latein lesen konnten (1998: 40 f.).

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den merchants auch Teile des Adels, der Beamtenschaft und anderer Bürger, vor allem diejenigen, die nicht in die höfische Verwaltung und Bürokratie eingebunden waren, die Monarchie immer heftiger zu kritisieren (Hinrichs 2006: 188 f.). „In der Tat gehörte der Adel in dieser Zeit zu den unruhigsten Ständen des ganzen Landes, weit unruhiger als das Bürgertum und die städtischen und ländlichen Unterschichten, deren Stunde erst 1789 schlug.“ (Hinrichs 2006: 244). Englands wirtschaftliche Erfolge faszinierten viele Adlige,64 aber auch das politische System, die parlamentarische Monarchie, wurde nicht nur von Bürgern als geeignetes Modell der Gewaltenteilung und der Freiheit gesehen. Vielen von den Staatsangelegenheiten ausgeschlossenen französischen Aristokraten erschien das englische politische System mit seinen zwei Kammern geradezu paradiesisch (Chenoune 1993: 12). England thus represented civic freedom for restive French aristocrats, as well as for the philosophers and encyclopedists they frequented and whose ideas they shared. Parliamentary immunity, freedom of the press, and legal protection for individuals against arbitrary arrest and imprisonment as embodied by habeas corpus seemed like liberal safeguards against despotism. (Chenoune 1993: 12).

So hatte sich schon vor dem Beginn der Französischen Revolution der Blick immer auf das vorauseilende England gerichtet und neben den sonstigen Veränderungen war den Kontinental-Europäern ihre ungewöhnliche Kleidung aufgefallen, die nicht dem Kleidungsgeschmack der eigenen Gesellschaft entsprach. Während die Engländer die bunt gekleideten, mit Perücken und Schminke verzierten französischen Besucher als french dogs verlachten (Chenoune 1993: 12), waren Franzosen von den neuartigen schlichten dress coats der Engländer angetan und viele französische merchants trugen sie bereits (Chenoune 1993: 9). Männer, die die gesellschaftlichen Verhältnisse im eigenen Land kritisierten, begannen sich nach englischer Bekleidungsgewohnheit zu kleiden, die viele nicht aus eigener Anschauung kannten, sondern über die neuen Modejournale, die von der anderen Seite des Kanals berichteten. Auch gab es neben den regulären Besuchern, deren Urteil unterschiedlich ausfiel, die in Ungnade gefallenen Kritiker der französischen Verhältnisse, die nach England ins Exil gingen und von denen einige, als sie später wieder nach Frankreich zurückkehrten, davon berichtet haben werden.

64 Gerade einigen französischen landbesitzenden Adeligen schien auch die Prosperität der Landwirtschaft sowie der scheinbar in Wohlstand und Zufriedenheit auf ihrem Land lebenden Gentlemen bemerkenswert (Chenoine 1993: 12).

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Zu den Bekanntesten zählen sicherlich Mirabeau, der sich lange in den Niederlanden und in England aufhalten musste, und selbstverständlich Voltaire. Similarly, cross-Channel voyages by French nobles, financiers, lawyers and writers during the periodes 1763–1769 and 1784–1789 paved the way for the waves of post-Revolutionary and Napoleonic emigration. All these exchanges helped to disseminate English customs. (Chenoune 1993: 12).

In Frankreich begannen ab Mitte des 18. Jahrhunderts neben den merchants auch andere Männer, die Samt- und Seidenkleidung durch dress coats aus den neuen englischen Tuchen und Stoffen, indiennes genannt, zu ersetzen.65 Nicht nur bürgerliche Aufklärer und Reformer, sondern auch Aristokraten kleideten sich in der vorrevolutionären Phase im englischen Stil (Chenoune 1993: 12). Das in der Modeliteratur (König 1967, Hunt 1989: 71, Wolter 1992: 117) beschriebene Bild von Aristokratie und Bourgeoisie als erbitterten Feinden passt auch hier nicht, denn im vorrevolutionären Frankreich standen sich keine homogenen Gesellschaftsgruppen feindlich gegenüber.66 Die Kleider der Revolution Die deutsche Historikerin Erika Thiel erwähnt in der Geschichte des Kostüms, dass noch während des Zusammentretens der Generalstände im Jahr 1789 die französische Monarchie glaubte, die äußerliche Trennung der Stände aufrechterhalten zu können. So wurde den Deputierten des Dritten Standes vorgeschrieben, einen einfachen schwarzen Tuchanzug zu tragen. Als Antwort darauf habe Mirabeau in der Nationalversammlung die Abschaffung der Standestrachten verkündet und den schwarzen Tuchrock zum Ehrenkleid des Bürgers erhoben. „Eine Zeit, die ‚Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit‘ auf ihr Banner geschrieben hatte, konnte auch in der Kleidung keine Privilegien dulden“ (Thiel 1997: 277 ff.), die Kleiderordnungen wurden abgeschafft. Auch wenn Mirabeau sich gerne in einem schwarzen Rock malen ließ (siehe dazu Abbildung 6), kann daraus nicht auf seine Forderungen nach schwarzem Tuch für alle geschlossen werden. Die für den Dritten Stand vorgesehene Bekleidung war einer Hofkleidung des 16. Jahrhunderts nachempfunden. Damit wollte der Monarch wahrscheinlich weniger die äußerliche Trennung der Stände 65 Das Wort indiennes (dt. Indienne, aus Indien) verweist noch auf die über England geleistete Einfuhr von Baumwollstoffen aus Indien, obwohl die Stoffe inzwischen in England gewoben wurden. 66 Ausführlicher zur französischen Kleidergeschichte siehe Green (1997: 74 ff.).

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aufrechterhalten, indem er die Bürger degradierte, sondern den Ersten Stand, die Aristokraten, als Gruppe geschlossen halten, d.h., durch die Uniformierung des Dritten Standes verschwanden vor allem die Ähnlichkeiten zur Bekleidung von Mitgliedern des Ersten Standes. Der Bürger, der in einer „Kraftrede“ gegen die Ungleichheit der Kleidung gewettert hatte, nach der mit großer Mehrheit die alte Kleiderordnung fiel (Wolter 1988: 156), war Honoré Gabriel Riqueti, Comte de Mirabeau (1749–1791), der sich, wie auch andere Montagnards und Jakobiner sehr für eine konstitutionelle Monarchie nach englischem Vorbild eingesetzt hatte (Soboul 1978: 41). Diese Regierungsform hatte Mirabeau auf einer seiner zahlreichen Fluchten als verfolgter Regimegegner kennengelernt, wodurch er auch im Kleidungsverhalten beeinflusst wurde. Da schon vor dem Ausbruch der Revolution Männerkleidung ein in der Öffentlichkeit breit diskutiertes Thema war und Differenzierungen in der Kleidung für unterschiedliche politische Positionen stehen konnten (Hunt 1989: 71), war es ein wirkungsvoller Auftritt. Aber es war gerade keine revolutionäre Angelegenheit mehr, als die Proklamation vom 8. Brumaire, im Jahr II der Revolution (29. Oktober 1793) verkündet wurde. Sie besagte, dass „no person of either sex may oblige any citizen to dress in any particular way“ sowie „everyone is free to wear whatever garment or garb of his sex that suits him“ (Chenoune 1993: 19). Sie wurde gerade gegen die Forderungen der Sansculotten nach mehr Gleichheit in der Bekleidung beschlossen (Soboul 1978: 375). Wäre die Gesinnung für oder gegen die Revolution an der Bekleidung der Männer sofort erkennbar gewesen, hätten wohl auch nicht so viele blau-weiß-rote Kokarden in Umlauf gebracht werden müssen. Der deutsche Historiker Max von Boehn, nicht gerade ein Freund der Revolution, beschrieb die Entwicklung in den Revolutionsjahren sehr dramatisch: Lange oder kurze Hosen, frisierte oder gepuderte Haare wurden zum Bekenntnis und waren daher nicht ungefährlich; spätestens mit der Schreckensherrschaft ab August 1792 büßte man das Tragen der höfischen Kniehose (Culotte) mit dem Schafott. (von Boehn 1963 [1901]: 151 f.).

Aus den Tagebuchaufzeichnungen des Pariser Bürgers Cèlestin Guittard jedoch, dessen Notizen der Revolutionszeit von 1791 bis 1796 erhalten geblieben sind, zeichnet sich das Bild eines Mannes ab, der durchaus noch culottes trug, sein Haar puderte, aber auch eine redingote (von engl. riding coat) in seinem Schrank hängen hatte. Er konnte als aufmerksamer Zaungast im revolutionären Paris herumlaufen, ohne dass sich in seinen Aufzeichnungen eine Angst ausdrückt, deswegen auf dem Schafott landen zu können (Müller/Preuschoft 2009: 8). Der

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Abbildung 6: Honoré Gabriel Riqueti, Comte de Mirabeau (1749–1791), Ölbild gemalt von Joseph Boze (1789).

von Mirabeau in seiner Rede vor der Nationalversammlung geforderten Freiheit in der Kleiderfrage hätte das auch sehr widersprochen. Trotz der Aufhebung der Kleidungsvorschriften und der Produktionsbeschränkungen setzte sich in den Revolutionsjahren keine einheitliche bürgerliche Männerkleidung durch, kein schwarzer Tuchrock als „Ehrenkleid des Bürgers“ (Thiel 1997: 277 f.). Die in der folgenden revolutionären Periode dominierenden Typen hatten mit der englischen Bourgeoisie noch wenig gemeinsam, auch wenn beide von englischer Kleidung beeinflusst waren: die Sansculotten und die Muscadin (oder Royalist fop, reaktionäre Fraktion, auch Incroyables). Wie schon Charles James Fox mit seinem provozierenden Auftreten während der englischen Revolution, wollten die Sansculotten aus

Die Uniform der Bourgeoisie

ihrer Kleidung politische Waffen machen. Seit den Unruhen von 1792 (und nicht schon 1789) trugen diese Revolutionäre die Kleidung, durch welche sie bekannt werden sollten: die roten Wollmützen, die einst ein Zeichen freigelassener Sklaven gewesen sein sollen und vor allem die langen weiten Hosen (baggy pants67) der Arbeiter (bzw. Seeleute), die den Sansculotten auch ihren Namen verschafften.68 Wichtig für die Uniformierung waren aber auch ihre Kattunwesten mit den typischen breiten blau-weiß-roten Streifen (siehe dazu Abbildung 7) und die Pike als Waffe der Revolution (Soboul 1978: 276). In diesem neuen Stil kleideten sich vor allem Handwerker, Gesellen, Kleinhändler und Manufakturarbeiter sowie einige wenige Bürger und Lohnarbeiter. Es handelt sich hier um eine Gruppe von Leuten aus unterschiedlichen sozialen Stellungen, also nicht um das Bürgertum (Haupt 2006: 263), aber genauso wenig um eine Klasse von Lohnempfängern, also Arbeiter mit einem Klassenbewusstsein (Soboul 1978: 312 ff.). Die Sansculotten waren für manche spektakuläre Aktion verantwortlich, wenn sie etwa Ludwig XVI. zwangen, sich eine rote Mütze aufzusetzen und mit ihnen auf das Wohl der Nation zu trinken (Ullrich 2009: 419). Man sollte insgesamt aber vorsichtig sein, weil ihre Aktionen schon einige Jahre später von den Franzosen selbst symbolisch aufgeladen und z.B. durch Theateraufführungen weitergetragen wurden, sie blieben dadurch sehr präsent in der Öffentlichkeit (oder wurden erst entsprechend präsentiert). Bei politischen Entscheidungen spielten die Pariser Sansculotten ab 1794 keine Rolle mehr (Haupt 2006: 270). Nach dem Sturz Robespierres am 9. Thermidor (27. Juli) wurde der Jakobinerclub verboten und im Februar 1795 Marats Leichnam aus dem Pantheon entfernt. Danach versuchte die Regierung sogar, die revolutionären Symbole aus dem Straßenbild zu entfernen, und Schlägertrupps machten Jagd auf die Sansculotten, sie wurden Opfer antiterroristischer Verfolgung (Soboul 1978: 358). Ihr letztes Aufbegehren

67 Aldrich verwendet das Wort baggy pants (2007: 2) für alle weit geschnittenen (baggy) Hosen. Dass die Hosenform der Hip-Hopper so genannt wird, zeigt nur, dass diese Schnittform sich hier auch findet. Allerdings müssen die weiten Hosen der Hip-Hopper um die Hüftknochen herum getragen werden. Sie sollen auf die in US -amerikanischen Gefängnissen getragenen Hosen verweisen, die herunterrutschen können, weil die Gefangenen keine Gürtel tragen dürfen (Loschek 2011: 114). 68 Mit ihren langen Hosen setzten die Sansculotten sich von den Culotten ab, in engen kurzen Kniebundhosen, die mit weißen Strümpfen getragen wurden. Die von König und Adel getragenen culottes galten als Symbol der Ungleichheit im Ancien Régime (Chenoune 1993: 20). Die in England schon um 1760 und dann in Europa um 1820 getragenen Hosen waren aber „very tight-fitted pantaloons“ (Condra 2008: 42) und keine weiten Hosen, wie sie die Sansculotten trugen.

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im April und Mai 1795 wurde blutig unterdrückt, die revolutionäre Volksbewegung war bis 1830 gebrochen (Ullrich 2009: 429). Doch auch die Kleidung der anderen großen Fraktion, der Muscardins, war von der in England getragenen Kleidung beeinflusst. Die Muscardins oder Incroyables genannten Männer trugen zweispitzige, vorn und hinten aufgeschlagene Hüte, lange, eng anliegende Hosen und mächtige Stulpenstiefel sowie dress coats mit gewaltigen Flügelklappen und so hohen und steifen Krägen, dass die Träger ihre Köpfe kaum bewegen konnten (Zierer 1970: 110). Auf zeitgenössischen Zeichnungen kann man deutlich sehen, warum Chenoune schreibt, dass der Look der Incroyables als „used look“ bezeichnet wurde (1993: 20). Insgesamt muss dieses extravagante Auftreten (siehe dazu Abbildung 8) sehr provoziert haben. Unter diesen Muscardins waren Handwerker, Ladenangestellte, Laufburschen im luxuriösen Bekleidungsgewerbe zu Abbildung 7: Uniform eines dem die Perückenmacher, Schneider, Sansculotten. Schuhmacher und Hutmacher gehörten (Chenoune 1993: 20). Es kann also gut sein, dass sie sich um den Erhalt ihrer eigenen Arbeitsplätze sorgten und sich deswegen die Rückkehr der von den anderen verpönten aristokratischluxuriösen Männerkleidung herbeisehnten. In England waren es die persönliche Freiheit und das verbürgte Recht auf Eigentum gewesen, durch die sich die kapitalistische Produktionsweise und mit ihr die Bourgeoisie frei hatten entfalten können. Im Verlauf der Französischen Revolution gewannen auch die Franzosen mit der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte verbriefte unwiderrufliche individuelle Rechte. Die persönliche Freiheit und die Gleichheit vor dem Recht, die Sicherheit des Besitzes und das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung wurden

Die Uniform der Bourgeoisie

Abbildung 8: Incroyables in Paris.

festgeschrieben (Haupt 2006: 261).69 Die französischen Revolutionäre richteten sich gegen die merkantile Organisation der wirtschaftlichen Belange und befreiten die industriellen Tätigkeiten von ihren administrativen Fesseln.70 Doch die umfangreiche Kapitalisierung und Industrialisierung gelang erst mehrere Jahrzehnte später. Die Handwerker und Kleingewerbetreibenden 69 Diese individuellen Rechte wurden unter der Regierung Napoleons noch in revolutionärer Tradition im Code Napoléon verbrieft. Der individuellen Leistung wurde Raum geöffnet. In der Armee, in den Gymnasien, an den Universitäten und Eliteschulen sollte nur noch die beste Leistung zählen und die Besten Ausbildungs- und Aufstiegschancen erhalten (Haupt 2006: 275). 70 Der Warenverkehr und der Zugang zu öffentlichen Positionen wurden vereinfacht, Handel und industrielle Geschäfte erleichtert. So hatte die Nationalversammlung 1791 die Zünfte, Innungen und andere die Gewerbefreiheit einschränkende Assoziationen abgeschafft (Haupt 2006: 261 f.), ein einheitliches Münz- und Zollsystem sowie eine gemeinsame Währung geschaffen und die Bank von Frankreich gegründet, um Gewinnstreben und Innovation unter neuen Bedingungen zu entfalten (Haupt 2006: 282).

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klammerten sich an ihre alten Produktionsbedingungen (Soboul 1978: 320). Noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts sollten Manufakturen und Handwerksbetriebe im gewerblichen Bereich wichtiger bleiben als Fabriken (Haupt 2006: 282). Luxus à la Napoleon Die kurze Zeitspanne der Revolutionsjahre hatte keinen durchgreifenden Wechsel der Produktionsbedingungen herbeiführen können und als Napoleon an die Macht kam, schränkte er die Handels- und Gewerbefreiheiten wieder ein. Die wichtigste und weltweit wirkende Einschränkung bestand in der von 1805 bis 1814 anhaltenden Kontinentalsperre71, mit der England und seine Alliierten geschwächt werden sollten (Haupt 2006: 279). Sie galt auch für Textilien und Kleidung: Schon im Jahr 1804 ordnete der selbstgekrönte Kaiser an, alle aus England importierten Seiden und Baumwollstoffe zu verbrennen. Napoleon richtete sein Augenmerk weiterhin auf die französischen Seidenmanufakturen in Lyon (Condra 2008: 19).72 Mit dem Verbot von englischen Baumwollstoffen und Kaschmirschals aus Indien73 sollte nicht zuletzt das französische Textilgewerbe stimuliert werden (Harvey 2008: 3). Dass die französische Regierung unter Napoleon – wenn auch erfolglos – versuchte, die Einfuhr der neuen Baumwollstoffe aus England zu unterbinden, lag nicht an einer rückwärtsgewandten Rückkehr zur alten Produktionsweise, sondern an den Bemühungen, die eigenen Industrien auszubauen und zu stärken. Dafür wurden auch aus Lancashire immer wieder Spinnmaschinen herausgeschmuggelt und nachgebaut, weil nur so das zwischen 1786 und 1843 von England verhängte Exportverbot für die neuen Textilmaschinen umgangen werden konnte (Ditt 1992: 38 f.).74 Trotzdem gab es Baumwollspinnereien bis 71 Für die deutsche Entwicklung siehe Kapitel 1.3, für die amerikanische Entwicklung siehe Kapitel 2.1. 72 Wenn Napoleon bei seiner Rückkehr von Elba im Jahr 1815 von der Lyoner Bevölkerung jubelnd empfangen wurde (Haupt 2006: 284), dann vielleicht auch, weil er dort für Aufschwung und Arbeit gesorgt hatte. 73 Diese leichten und doch wärmenden Schals aus den Fasern von Ziegen waren ursprünglich Teil der Männerbekleidung in Kashmir, einer nördlichen Provinz des Indischen Subkontinentes gewesen (Condra 2008: 18), wurden in Europa allerdings nur von Frauen getragen. 74 Vor allem interessierte Unternehmer betrieben Spionage, manchmal schickten sogar Regierungen, wie die preußische, offizielle Expertenteams nach Manchester ( Jeremy 2004a: 109). Anfangs gegenüber Ausländern geheim gehalten und in England durch Patente geschützt, wurde beispielsweise die Waterframe 1783 mittels Industriespionage für die deutsche Textilfabrik Cromford kopiert (Wischermann 1992: 199).

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einige Zeit nach dem Frieden von 1814 im übrigen Europa und in Amerika nur in so kleinem Maßstab, dass sie keine Konkurrenz zu den weltmarktbeherrschenden englischen merchants darstellten (Schulze-Gävernitz 1892: 49). Die Kontinentalsperre hatte dem Handel und der Industrie nicht die erhofften wirtschaftlichen Vorteile erbracht (Haupt 2006: 280), die wirtschaftliche Entwicklung durch das Einfuhrverbot der englischen Produkte kaum verbessert werden können. Während die von der französischen Regierung durchgesetzte Kontinentalsperre das Aufkommen einer festländisch europäischen Indus­ trie eher verhindert hatte, konnte sie der englischen Baumwollindustrie kaum schaden. Letztlich belebte die Kontinentalsperre vor allem den Schmuggel mit englischen Waren (Schulze-Gävernitz 1892: 37).75 Als Reaktion auf den Bann der englischen Güter hatte die englische Regierung ihrerseits ein Verbot für die Einfuhr von Textilien aus Frankreich erlassen, was vor allem die Einfuhr von Seide betraf. Doch in England war nur wenig Seide gewoben worden und die feinen und schön gewobenen Baumwollstoffe waren längst beliebter als Seidenstoffe, weshalb dieses Verbot den englischen merchants und manufacturers kaum schadete (Allen 1955: 221). Den gesellschaftlichen Bedürfnissen und dem damit verbundenen Profitstreben entsprechend wurde in Frankreich nicht die Herstellung von Baumwollstoffen verbessert, sondern erstmals in den späten 1790er-Jahren die maschinelle Produktion von Seidenstoffen durch Joseph-Marie Jacquard erreicht ( Jeremy 2004a: 92). Die an diesem Seidenwebstuhl gewobenen, nach dem Erfinder benannten Jacquard-Stoffe zeichneten sich durch eine Fülle an Farben aus. Nun konnten wertvolle Seiden- und Satinstoffe gewoben werden, mit den verschiedensten Mustern, gestreift, geblümt, gepunktet oder mit Silber durchwirkt ( Jeremy 2004a: 92).76 Die Verarbeitung auf den Webstühlen war allerdings sehr

75 Ganze Industrieansiedlungen verdankten sich dem Schmuggel, z.B. in Reichenberg an der sächsischen Grenze, wohin die Garne aus England geschmuggelt wurden. Auch die lombardischen Spinnereien in Mailand und Umgebung hatten keinen anderen Zweck, als die englische Ware zu maskieren (Schulze-Gävernitz 1892: 50). 76 In England hatten interessierte entrepreneurs diese Webstühle schnell eingeführt. Auch andere wichtige Entdeckungen und Entwicklungen aus diesen Jahren wurden in England nur übernommen, wie das Chlorbleichen, eine Erfindung des schwedischen Chemikers Scheele und des französischen Chemikers Berthollet, die mit James Watt und anderen Wissenschaftlern in den 1780er-Jahren sehr fruchtbar kommuniziert hatten ( Jeremy 2004a: 92). Französische und deutsche Bücher informierten die englischen Chemiker und Färber über die Verbesserung der Textilien durch chemische Farben ( Jeremy 2004a: 92). So waren die Engländer nicht die einzigen Erfinder in den Anfängen der Industrialisierung, und man muss abrücken von dem Bild, dass sie diese Entwicklung allein bestimmt

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arbeits- und zeitintensiv, weswegen die Produkte, die Seidenstoffe, immer noch extrem teuer waren (Condra 2008: 20). Aber das Bedürfnis nach kostbaren luxuriösen Seiden stieg auch deshalb wieder an, „weil Frankreich, jetzt, nach einem schrecklichen und blutigen Zwischenspiel, zu einem despotischen kaiserlichen Pomp zurückgekehrt war.“ (Hollander 1997: 149). Die im Jahr 1789 von den Vertretern der Nationalversammlung wirkungsvoll und dramatisch abgeschaffte Reglementierung der Kleidung wurde in der napoleonischen Zeit wieder eingeführt. So wie er sich selbst 1804 nach einem langen Aufstieg zum Kaiser krönte, führte Napoleon auch feudale, prunkvolle Elemente der öffentlichen Repräsentation wieder ein: die notables mussten wieder Spitzenkragen und Rüschenmanschetten tragen. Als offizielle Staatsrobe der Abgeordneten des Rates der Fünfhundert wurde eine Kleidung eingeführt, die aus langen Hosen, ausladend geschwungenen Westen mit dreifarbigen Schärpen, aufgeschlagenen Zweispitzhüten mit Riesenkokarden und roten Togenmänteln bestand, von den Hüten wallten gewaltige, dreifarbige Straußenfedern. Und die fünf Direktoren trugen eine so reich mit Gold bestickte Hoftracht, dass sie „wie Pfauen aussahen“ (Zierer 1970: 122 f.) Wie diese Bekleidung des Rates der Fünfhundert ausgesehen haben mag, kann man auf dem Gemälde sehen, das François Bouchot allerdings erst in den 1840er-Jahren gemalt hat (siehe dazu Abbildung 9). Das war kein Rückschritt zu einer feudalen Bekleidung, denn es gab mit den langen Hosen moderne Elemente, Napoleons eigene Uniform war auch sehr schlicht, viel moderner, etwa im Vergleich zur letzten Militäruniform Ludwigs XVI. „In Paris court wear for men was as ornate as could be imagined, for the new emperor wanted to impress the world.“ (de Marly 1985: 79) Die Welt sollte beeindruckt werden mit dieser Prachtentfaltung, die zum Teil der höfischen Kleidung anderer Monarchen nachgeahmt wurde, aber auch viel Kitsch, d.h. unnötigen standardisierten Ballast, enthielt, der sich in den Schärpen und den roten Togenmänteln zeigte. Die Bekleidung musste aber auch aus wenigstens zwei Gründen etwas Neues zum Ausdruck bringen. Zum einen, weil sich Napoleon als Kaiser über die anderen Königshäuser stellen wollte, aber auch weil sich die herrschende Klasse der nachrevolutionären Zeit aus verschiedenen Gruppen zusammensetzte, und damit auch die Bekleidung den verschiedenen gesellschaftlichen Bedürfnissen geschuldet war. Einerseits wurden Emigranten des Hochadels zur Rückkehr aufgefordert, damit sich der neue Hof mit den alten Titeln, Rängen und Namen schmücken konnte (Zierer 1970: 131, Haupt 2006: 276). Daneben wurden aber hätten; es war ein Zusammenspiel vieler Faktoren. Die amerikanischen Einflüsse werden im nächsten Kapitel ausführlich behandelt.

Die Uniform der Bourgeoisie

Abbildung 9: General Bonaparte vor dem Rat der Fünfhundert, Ölbild von François Bouchot (1840er-Jahre).

auch die Männer der Revolution mit neuen Orden, Kostümen und Titeln bedacht (Haupt 2006: 278). Murat, Reichsmarschall und Ehemann der Schwester Napoleons, späterer König von Neapel, war Kellner im väterlichen Gasthof gewesen, Ney, Marschall und Herzog von Elchingen sowie Fürst von der Moskwa, begann als Fassbinder und Lannes, Herzog von Montebello war vor seinem Aufstieg ins Zentrum der Macht ein Anstreicher gewesen, der Sohn eines Stallknechtes (Zierer 1970: 132). Diese Aufsteiger kamen nicht aus den Reihen der notables und hatten vor allem durch ihre militärischen Erfolge den Aufstieg geschafft. Einige Aristokraten nahmen ihren Platz zwischen anderen Männern ein. Und wenn die ständische Gesellschaftsordnung zerfallen war, konnte der Adel unter

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Napoleon im 19. Jahrhundert seine wirtschaftliche Macht teilweise restaurieren. Aristokraten stellten nicht mehr den größten Anteil unter der sich neu formierenden wirtschaftlichen Elite, doch in dem langsam beginnenden Industrialisierungsprozess wurde ihre Position in der französischen Gesellschaft noch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Immer noch prägten Klein- und Mittelbetriebe diese Gesellschaft, auch weil der Staat immer wieder steuernd in die Wirtschaft eingriff, große Industriegebiete waren eher die Ausnahme als die Regel, wie der Historiker Heinz-Gerhard Haupt beschreibt (2006: 256). Haupt resümiert allerdings, dass bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts keine politische Ordnung gefunden wurde, die die Ergebnisse der revolutionären Umwälzung garantierte und die Beteiligungsrechte der gesellschaftlichen Kräfte in Bourgeoisie und Arbeiterkreisen integriert hätte (2006: 256). Doch da gilt es zu berücksichtigen, dass die Anzahl der in der privatwirtschaftlichen kapitalistischen Großproduktion wirkenden Unternehmer sehr gering war und damit auch der Kreis – oder besser die Zahl der dort tätigen Industriearbeiter (und Industriearbeiterinnen). 

Von einem Siegeszug der bürgerlichen Gesellschaft kann im revolutionären Frankreich nicht gesprochen werden, auch wenn zu den Gewinnern einige notables gehörten, die ihre soziale Vormachtstellung aus der vorrevolutionären Zeit hatten behaupten können, weil sie zwischen Adeligen und Bourgeois verbindend agierten. „Vor allem Napoleon I. ist als Förderer dieser Symbiose hervorgetreten und hat bei der Geburt dieser adelige und bürgerliche Elemente verbindenden Mischform Pate gestanden.“ (Haupt 2006: 282). Insgesamt war diese Entwicklung in der englischen Gesellschaft erfolgreicher gewesen. Schaut man sich die Veränderung der Produktionsverhältnisse an, dann war die revolutionäre Phase der Französischen Revolution eher kurz. Zum Ende der Kaiserzeit dominierten immer noch Handwerker und Luxusmanufakturen die nicht-landwirtschaftliche Warenproduktion. Und so wie sich Napoleons Kaiserreich letzten Endes nicht durchsetzen konnte, schaffte es auch die unter seiner Regierung lancierte Männerkleidung nicht, über Frankreich hinaus allgemeine Bedeutung zu erlangen. Zwar wurde diese französische Kleidung an einigen europäischen Höfen, wie dem Preußischen, dann adaptiert an die eigenen gesellschaftlichen Erfordernisse, in tranformierter Form übernommen. Doch setzte sich der Siegeszug des englischen coat weiter fort und bei den Hosenformen, für deren Einfluss Frankreich dann doch nicht so bedeutend war, konnten ab 1810 Männer zwischen „breeches, pantaloons, and trousers“ wählen (Condra 2008: 29) – von den baggy pants der Sansculotten ist hier allerdings gar keine Rede. Welchen Einfluss die Bourgeoisie in der weiteren Entwicklung gewinnen sollte, zeigte sich erst, als Louis-Philippe (1773–1850) mit Hilfe von Finan­ziers

Die Uniform der Bourgeoisie

und den von diesen beherrschten Zeitungen König von Frankreich wurde (Regierungszeit 1830–1848). Er gilt, laut Zierer, als Repräsentant des Großbürgertums, ein liberaler, ganz von Bankiers, Fabrikbesitzern und der Geldaristokratie abhängiger Mann, der seine Regierung mit dem Ausspruch angetreten haben soll: „Nun bereichert euch, meine Lieben!“ (1970: 192). Damit erklärt sich auch, warum der französische Soziologie Goblot über das Jahr 1835 schreiben konnte, dass die Modejournale gegen den Ballbesuch im schwarzen Anzug protestiert haben (Goblot: 1925: 105).77 Es war die Zeit, in der die gesellschaftliche Anerkennung der Bourgeois in der französischen Gesellschaft erreicht war. Die Journale protestierten, weil sie von der Männerkleidung nichts mehr zu berichten hatten. Aber da die Öffentlichkeit den Männern vorbehalten war, bestimmten sie über die Inhalte. Während die Beiträge zur Männerkleidung deutlich zurückgingen, rückten jetzt die Frauen immer mehr in den Fokus der öffentlichen, medialen Aufmerksamkeit. Paris konnte sich in der Frauenkleidung vorbildlich behaupten, weil hier die handwerklichen Produktionsweisen weitergeführt wurden. Für Männerbekleidung aber war nicht mehr Paris, sondern England bestimmend: „during the French Revolution and afterwards, London became the leader in all matters concerned with men,s clothing.“ (Allen 1955: 224). Männer- und Frauenkleidung trennten sich nun auch im Ort ihrer Produktion. Gerade wegen der Rückständigkeit der im Absolutismus geförderten Produktionsverhältnisse, die in der Regierungszeit Napoleons teilweise noch verstärkt worden war, konnte sich Paris als die Modehauptstadt für Frauenkleidung auch über die Revolutionszeit hinaus behaupten. Die der langsam erstarkenden Bourgeoisie angemessene Männerkleidung aber wurde in London bestimmt und auch die französischen Männer konnten sich längerfristig diesem englischen Einfluss nicht mehr entziehen. Durch den Blick auf die Produktion zeigte sich, dass die bürgerliche Männerkleidung nicht eine Erfindung der französischen Revolutionäre war, sondern ein Produkt der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft in England. Dennoch schließt die Diskussion um Bürgertum und Verbürgerlichung in Deutschland bis heute an die französische Revolution an, muss sie als Reaktion auf die Französische Revolution begriffen werden. Denn die der Revolution von 1789 folgende Periode wurde nicht nur von den Herrschenden in den deutschen Staaten als 77 Goblot schreibt dazu in Klasse und Differenz. Soziologische Studie zur modernen französischen Bourgeoisie, was den Bourgeois unterscheidet sei die „Distinktion“, das einfache Volk auf Distanz zu halten. Der Bourgeois bemühe sich, eine Erziehung für sich zu reservieren, welche den äußeren Anschein dieser Überlegenheit aufrechtzuerhalten vermöge. Diese Distinktion erlaube es ihm, sich unters Volk zu mischen, ohne mit ihm verwechselt zu werden (Goblot 1994 [1925]: 87).

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Deutsche Bürger – Von Werther zu Jahn

beängstigend und schockierend erlebt und in der Wahrnehmung vieler Beobachter der französischen Revolution als Sieg der Bourgeoisie über den Adel empfunden. Weil viele der nach Paris gereisten Beobachter hier zum ersten Mal bürgerliche Kleidung sahen, schrieben sie die Durchsetzung der neuen Kleidung den französischen Revolutionären zu; andere lasen darüber in den Journalen und Zeitungen, die sie aus Frankreich bezogen. Dieser Ursprungsmythos des Anzugs hält sich seitdem hartnäckig in den deutschen Sozialwissenschaften (mit René König als seinem prominentesten Vertreter). In dieser Zeit, bis zur beginnenden Industrialisierung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in Deutschland die Grundlagen für spätere Reaktionen auf die kapitalistische Produktionsweise gelegt, deren Durchsetzung in Deutschland gerade nicht mit der Durchsetzung der Uniform der Bourgeoisie einherging. Weil die Reaktionen auf Veränderungen während der Französischen Revolution auch später – und bis heute – die Interpretationen der Männerkleidung bestimmen, wird im nächsten Kapitel auf die damalige Entwicklung in den deutschen Ländern eingegangen. Es wird gezeigt, wie die etablierten Wahrnehmungsmuster in der aktuellen deutschen Diskussion zur Bürgerlichkeit und dem, was ein Bürger sei, dort schon im 18. Jahrhundert ihren Anfang nahmen.

1.3 Deutsche Bürger – Von Werther zu Jahn

In der englischen Gesellschaft waren die Grundlagen für die moderne Produktionsweise geschaffen worden und verdrängten ältere Produktionsweisen. Hier wurden dress coats als Teil der uniformen Kleidung der Bourgeoisie anerkannt und ältere Bekleidungsgewohnheiten ersetzt. Im vorherigen Kapitel konnte gezeigt werden, wie sich im 18. Jahrhundert der Übergang zur kapitalistischen Produktionsweise in der französischen Gesellschaft gestaltete und wie sich die Adaptation der aus England kommenden modernen Männerbekleidung unterschied. Dass der Ausbreitung des Anzugs der Bourgeoisie keine nationalen, religiösen oder kulturellen, sondern gesellschaftliche Grenzen gesetzt waren, zeigt sich an der Transformation in andere Gesellschaften. Und wenn der englische Historiker Bayly (2003: 16) schreibt, die Herrscher hätten sich weltweit bis zum Ende des langen 19. Jahrhunderts (long century, Hobsbawm) 1914 westlicher Kleidung angenähert, kann dem nur zugestimmt werden. Aber schon das Titelblatt seines Buches The Birth of the Modern World suggeriert, dass dies für Männer der Anzug war. Doch auch für den von ihm behandelten Zeitraum von 1780 bis 1914 darf die Militäruniform nicht vergessen werden, die uniformiert, aber

Die Uniform der Bourgeoisie

auf anderen Ausschlussprinzipien beruht. Es gab Gesellschaften, in denen verlief die Anerkennung in der Gesellschaft gerade nicht über den Anzug, der als Merkmal von Bürgerlichkeit gilt, sondern über die Uniform des Offiziers. Das galt auch für deutsche Gesellschaften.78 Deutschland, das waren im 18. Jahrhundert über 300 Fürstentümer, in denen ein Übergang zur modernen Produktionsweise nicht einmal in Ansätzen erkennbar war, selbst das Manufakturwesen bildete sich erst langsam aus (Blackbourn 2005: 9).79 Mit den Manufakturen modernisierte sich das Militär. Wie im letzten Kapitel gezeigt, waren in Frankreich schon unter Ludwig XIV. Stoffe für Militäruniformen in gut funktionierenden Manufakturen unter staatlicher Aufsicht hergestellt worden (Hinrichs 2006: 220). Und genau das war der eine Produktionszweig in der Herstellung von Bekleidung, in dem die Preußischen Manufakturen erfolgreicher waren als das französische Vorbild. Die Militäruniform beruht aber auf anderen Ausschlussprinzipien als der Anzug, und die Einschlussprinzipien zielen nicht einmal ideologisch auf eine die Gesamtheit umfassende Menge (wie es prinzipiell die Parole Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit versucht). In den deutschen Gesellschaften kam es immer wieder zum Ausschluss von als Fremden definierten Männern (die in den anderen beiden untersuchten Gesellschaften und in den USA, wie sich im zweiten Teil der Arbeit noch zeigen wird, eher Anerkennung fanden), obwohl von den auch über die Bekleidung Ausgeschlossenen unbedingte Assimilierung gefordert wurde. Damit förderte gerade das Streben nach nationaler Einheit zu einem gesamtdeutschen Reich die Uniformierung der Männer in verschiedenen Uniformen. Um diese Entwicklung hin zur deutschen Gesellschaft zu verstehen, wird von der Wertherkleidung aus als der einzigen nennenswerten Männerkleidung, die in der Modeliteratur Erwähnung findet, das ambivalente Verhältnis zur Uniformierung und das Streben nach Individualität bei Goethe (für viele der erste Bürger) bis zur Uniformierung und dem Ausschluss von Individualität an der Jahn,schen Turnerkleidung gezeigt.

78 Gemeint sind hier und im Folgenden die deutschsprachigen Gebiete, die später im Wilhelminischen Kaiserreich aufgingen. Österreich mag eine ähnliche Entwicklung gehabt haben, in der Schweiz aber verlief sie deutlich anders. 79 Nicht alle deutschen Regionen können in dieser Übersichtsarbeit angeschaut werden. Es wird vor allem auf Preußen geblickt, doch es kann sehr gut möglich sein, dass die hier gemachten Aussagen für die Anerkennung der Anzugträger in einigen Regionen, wie den alten Hansestädten, nicht zutreffen.

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Dichter und Denker Im 18. Jahrhundert war Deutschland ein „quaint, half-timbered land“ (Blackbourn 2005: XIV ). „A […] patchwork of small worlds provided the framework for production, consumption and trade.“ (Blackbourn 2005: 9).80 Ähnlich wie in Frankreich, wurde der Staat zum Motor der Modernisierung (Blackbourn 2005: 60).81 Auch hier orientierte sich etwa die Preußische Regierung an Frankreich, wenn sie neben den etablierten Gewerben, wie der Leinen- und Wollstoffweberei, staatliche Manufakturen für die Luxusgüterproduktion aufzubauen versuchte. Während sich das als langwieriger und umständlicher Prozess erwies, wurde die Baumwollstoffproduktion vernachlässigt (Barudio 1997: 221). Die privat unternehmerisch tätigen Großhändler bekamen kaum Unterstützung, weil die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen die auf eigene Profite bedachten Unternehmungen nicht förderten (Krüsselberg 1987: 964). Die wenigen produzierten Waren konnten im Wettbewerb mit englischen oder 80 Zünftisch organisierte Handwerker, wie Schuhmacher, Schneider oder Zimmerleute, fertigten wenige Waren für die lokalen Wirtschaften und kleinstädtisch ausgerichteten Märkte (Blackbourn 2005: 9 f.). Vor allem war es bis ins 19. Jahrhundert hinein üblich, eigene Produktionsmittel zu verarbeiten. In städtischen Haushalten gehörte dazu das Spinnen von Flachs oder Wolle; die Spindel der Hausfrau war noch allgegenwärtig und spielte in den Deutschen Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm (Frau Holle, Die drei Spinnerinnen oder Rumpelstilzchen, 1812 veröffentlicht) eine wichtige Rolle. In der eigenen Hauswirtschaft wurde das Garn möglichst auch gewoben, vielleicht gefärbt und unter anderem zu Bekleidung weiterverarbeitet. Noch 1846 wurden 12,6 % aller Wollwebstühle und 86,1 % der Leinwandwebstühle von ihren Inhabern nur im Nebenerwerb betrieben Und es wurde mehr Leinen als Wolle verarbeitet. Garne und Stoffe konnten selbst produziert werden, für das Flicken alter und das Schneidern neuer Gewänder kamen, vor allem in dörflichen Gegenden, die Schneider alle paar Jahre einige Tage in die Hauswirtschaft (Sombart 1913: 31 ff.). 81 Der in den deutschen Fürstentümern vorherrschende Kameralismus förderte den Ausbau von Verwaltung und Wissenschaft (Krüsselberg 1987: 964), die Regierungen versuchten den Handel und das Gewerbe bürokratisch zu steuern. Das Wort Camera leitet sich auch von dem lateinischen Wort für Schatzkammer ab; dieser Wortsinn verweist nicht auf die moderne Produktionsweise unter der Zirkulation von Geld. Ein Schatz wird gehortet, aufgehäuft und nicht betriebsam verwaltet – was die Friedrichs und Friedrich Wilhelms (bis zum II .) auch nicht im Sinn hatten, weil sie sich in erster Linie als Landesväter sahen, die damit ihre Bereicherung für eine feudale Prachtentfaltung bezweckten (Barudio 1997: 221). So war schon 1686 (und 1721 erweitert) eine preußische Fabrikenkasse angelegt worden, um die Ansiedlung und den Ausbau vom Gewerbe zu fördern, darunter die Seidenstoffherstellung (Barudio 1997: 221). Doch dauerte es mehr als ein Vierteljahrhundert bis 1748 die erste Seidenmanufaktur in Berlin gegründet wurde; französische Manufakturen waren zu dem Zeitpunkt mit der Herstellung von Seidenstoffen schon über Jahrzehnte sehr erfolgreich.

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französischen Manufakturwaren nicht bestehen und waren „still regarded, [...], as cheap and nasty.“ (Blackbourn 2005: XIV ). Insgesamt gesehen wurde der Handel noch nicht berufsmäßig von Händlern ausgeübt, sondern meist von den Produzenten selber organisiert (Sombart 1913: 34 f.)82 Aber auch wenn sich die deutschen Regenten eher am Aufbau von Manufakturen für Luxusgüter als an der maschinellen Mengenproduktion beteiligten, war es ihnen – und den an Handel und Gewerbe Interessierten – durchaus bewusst, dass die Engländer die Pioniere bei etwas Neuem waren (Blackbourn 2005: XIVf.).83 Die sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts in England ausweitende Industrialisierung hatte die Verhältnisse in den rückständigen deutschen Fürstentümern beeinflusst, weil sich dadurch die Nachfrage aus England nach Rohstoffen wie Holz und Getreide deutlich steigerte. Davon profitierten vor allem die für landwirtschaftliche Exporte günstig gelegenen Küstengebiete und die Hafenstädte (Sombart 1913: 76). Die „zahlreichen freien deutschen Reichsstädte und Fürstentümer waren in dieser Hinsicht am stärksten benachteiligt, hatten sie doch [...] nur geringe Markt- und Handelserfahrungen.“ (Chapman 1992: 135).84 Daher fanden sich im 18. Jahrhundert die wenigen erfahrenen Großhändler und abenteuerlustigen Unternehmer und Kaufleute eher in den etablierten, freien Handels-(Hafen-)städten. Die gesellschaftlichen Erfahrungen von Handel und Produktion waren insgesamt nur bei wenigen Männern vorhanden. Unter solchen gesellschaftlichen Verhältnissen konnte sich im 18. Jahrhundert keine Bourgeoisie, wie in England, entwickeln. So kamen meist über Journale und Berichte von Reisenden und Besuchern Nachrichten über die neuesten Bekleidungsarten, die einige Großhändler an den Handelsplätzen zu tragen begannen, weil sie sich an den englischen merchants orientierten. Und die herrschenden

82 Zwei Drittel der deutschen Bevölkerung waren in der Landwirtschaft tätig, ein Drittel im Gewerbe, im Handel und in anderen Berufen. Noch um 1843 kamen in Preußen 97 Händler auf 10.000 Einwohner, 1907 dagegen 333. Im Jahr 1846 gab es 10 Gewerbetätige pro 122 Einwohner, 1907 dann schon 57 im Gewerbe Tätige (Sombart 1913: 35). 83 So hatte die preußische Regierung offizielle Expertenteams nach Manchester geschickt ( Jeremy 2004a: 109) und ein rheinischer Unternehmer, der während einer Reise in Basel von Spinnmaschinen gehört hatte, konnte – nach einigen vergeblichen Versuchen – 1783 eine Waterframe für den Aufbau einer Textilfabrik ins Rheinland schmuggeln (Wischermann 1992: 199). 84 Auf dem – alle mehr als 300 Fürstentümer zusammengenommen – immer noch kleinen innerdeutschen Markt hingegen bereitete der Transport der Waren große Schwierigkeiten. Wegen der Gefahren durch Banditen, aber vor allem wegen der vielen Zoll- und Landesgrenzen, war das Bewegen von Gütern schwierig; der Schmuggel blühte (Blackbourn 2005: 9 f.).

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Aristokraten richteten sich an den vielen Höfen in Sprache und Kleidungsverhalten nach dem französischen Hof. Für den englischen Historiker David Blackbourn (2005: 30) hatten die Briten eine industrielle Revolution, die Franzosen eine politische und die Deutschen eine „reading revolution“ (dt. Leserevolution). Und tatsächlich stieg im späten 18. Jahrhundert die Anzahl der veröffentlichten Bücher, aber auch der Zeitungen, Journale und Almanache deutlich an. Dadurch entwickelte sich eine größere Leserschaft, die auch eine öffentliche Meinung herausbildete (Blackbourn 2005: XV ). Über den Zeitschriftenmarkt konnten sich deutsche Leser darüber informieren, was in der Welt vor sich ging, denn Druckerzeugnisse waren der Schlüssel für die Entstehung völlig neuer Vorstellungen von Gleichzeitigkeit (Anderson 1998: 39). Aber da die Zeitung der „Eintagsbestseller“ (Anderson 1998: 36) war und da die Themen und Inhalte schnell wechselten, entstanden auch neue Vorstellungen von Ungleichzeitigkeit. Gerade in den deutschsprachigen Gebieten (außer den Schweizer Kantonen – das wird oft vergessen), die keine politische oder wirtschaftliche Verbundenheit hatten, wurde die Sprache extrem wichtig. Die größere Leseöffentlichkeit wurde in den Prozess der Nationenbildung einbezogen, wie Benedict Anderson das beschrieben hat.85 Hier verkündeten zuerst selbstbewusste Literaten und die philosophischen Debattierer die Idee von Deutschland als dem Land der Dichter und Denker (Blackbourn 2005: XV ). Und es überrascht nicht, dass es gerade die Literaten waren, die diese Idee verkündeten, weil sie doch vielmehr als die Künstler, die nach Paris strömten, von ihrer Sprache abhängig waren. So war es Ende des 18. Jahrhunderts Johann Gottfried Herder (1744–1803), der von den Verhältnissen in Europa beeinflusst (außerhalb gab es das nicht unbedingt) eine eng-europäische Konzeption entwickelte, die das Nation-Sein von der exklusiven Sprache abhängig machte (Anderson 1998: 63). Aber diese europäische Konzeption zu denken war nur möglich, weil der Austausch von gleichzeitigen und ungleichzeitigen Erfahrungen über die Druckerzeugnisse, durch eigene Reisen und durch Besucher aus anderen Ländern oder Regionen stattfand. Schreibkundige Besucher erfuhren 85 In den Nationalismusbewegungen in Europa stand die nationale Sprache im Zentrum, in ganz Amerika war das kein Thema. [Aber auch nicht in der Schweiz.] Es gab Vorbilder für diese Nationalbewegungen, wie die Französische Revolution. Nation konnte zu einem bewusst verfolgten Ziel werden (Anderson 1998: 63). Nationalsprachen bildeten das Fundament für das Nationalbewusstsein, einheitliche Grundlage für den Austausch und die Kommunikation unterhalb des Lateinischen und oberhalb der gesprochenen Umgangssprache. Hunderttausenden wurde klar, dass sie alle die gleiche Sprache gebrauchen konnten, andererseits aber auch, dass nur sie diese Sprache gebrauchen konnten (Anderson 1998: 45).

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die gesellschaftlichen Ungleichzeitigkeiten, analysierten diese in Reiseberichten und gaben sie an ihre Leser weiter. Andere kamen, wie die in Paris lebende Schriftstellerin Germaine de Staël, auf ihrer Reise durch die deutschsprachigen Regionen. Staël stellte Anfang des 19. Jahrhunderts fest, dass diesem Deutschland das Zentrum fehle – die eine große Stadt. Da es keine Hauptstadt giebt, die der Sammelplatz der guten Gesellschaft von ganz Deutschland ist. So kann der gesellige Geist seine Gewalt nur wenig geltend machen, so fehlt es dem herrschenden Geschmack an Einfluß, und den Waffen des Spotts am Stachel. Der große Theil der Schriftsteller arbeitet in der Einsamkeit, oder in dem engen Kreise kleiner Umgebungen, über die sie die Herrschaft führen. Sie geben sich, jeder besonders, allem hin, was eine ungezügelte Einbildungskraft ihnen eingiebt; und wenn sich in Deutschland eine Spur der Modegewalt blicken läßt, so besteht sie bloß darin, daß sich jeder etwas damit weiß, sich von allen andern zu unterscheiden. In Frankreich ist es gerade das Gegentheil; da strebt alles nach dem Lobe, das Montesquieu Voltairen ertheilt, wenn er sagt: ‚Er hat mehr als irgend jemand, den Verstand, den jedermann hat.‘ Die deutschen Schriftsteller würden sich eher noch entschließen, die Ausländer, als ihre Landsleute nachzuahmen. (Germaine de Staël, Über Deutschland 1766 –1817 (1815: 26 f.)

Eine dieser kleinen Umgebungen, die sie besuchte, war Weimar, das 1779 auf rund 6000 Einwohner kam (Sombart 1913: 22), und über diesen engen Kreis führte ein Literat die Herrschaft – Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832). Goethe gilt als einer der wichtigsten Repräsentanten des Bürgertums seiner Zeit, der bis in die aktuelle Diskussion wie selbstverständlich als Bürger betrachtet wird. So ist für den Publizisten Bernd Kauffmann „Joachim Fest [...] unmittelbar präsent als Repräsentant des Bürgertums – hinter ihm natürlich Thomas Mann und hinter diesem wiederum Goethe in Weimar“ (2010: 17). Auch für den Historiker Andreas Fahrmeir war Goethe ein Frankfurter Bürgersohn (2010: 27). Und einige Jahre früher beschrieb schon Leo Löwenthal ihn als einen Menschen, dessen Stellung in einer Nation, die zwar einerseits zurückgeblieben war, sich aber andererseits sehr schnell entwickelte, ihm einen überlegenen Standpunkt bot, von dem aus er Vergangenheit und Gegenwart überblicken und verbinden konnte. Er sei damit einer der Vertreter des Bürgertums gewesen, die im 18. Jahrhundert ihre Stimme erhoben hätten (1990: 163).

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Anders als England mit seiner hochentwickelten Handels- und Industriewirtschaft und seinen mannigfachen literarischen Darstellungsformen und anders als Frankreich, dessen fortschrittliche aristokratische und bürgerliche Intellektuelle sich bemühten, zu ihrem wechselseitigen Nutzen gemeinsame Sache zu machen, erlaubte Deutschland seinem Bürgertum praktisch keine Stimme, weder in politischen noch in geistigen Angelegenheiten. Das Theater allein machte eine aufsehenerregende Ausnahme. (Löwenthal 1990: 175).86

Für Löwenthal habe das Bürgertum in den deutschen Ländern zum Mittel des Dramas gegriffen, um sich des Niedergangs seiner politischen und gesellschaftlichen Umwelt bewusst zu werden, die genauso veraltet gewesen sei, wie die spanische Monarchie des 17. Jahrhunderts (Löwenthal 1990: 177). Auch Löwenthal argumentiert damit nach etablierten Wahrnehmungsmustern vom Blickwinkel eines Niedergangs des Bürgertums aus. 87 Wichtig war jedoch auch, 86 In diesem „quaint, half-timbered land“ (Blackbourn 2005: XIV ) ermöglichten die wirtschaftlichen Verhältnisse den Bürgern insgesamt wenige luxuriöse Aufprotzungen, vielleicht bot das Theater daher eine Möglichkeit, die von den Journalen und Zeitschriften aus Paris berichtete luxuriöse Prachtentfaltung mit geringeren Mitteln nachzuahmen. Für die ohnmächtigen Bürger zumindest war es die Bühne, auf der sie nach ihrem Verlust an Einfluss in politischen und wirtschaftlichen Angelegenheiten meinten, noch wirken zu können. 87 Dieser Niedergang ist der des alten Stadtbürgertums, der 1648 mit dem Ende des 30-jährigen Krieges und dem Westfälischen Frieden begonnen haben soll, denn viele herrschende Häuser hatten die Not- und Kriegszeiten ausgenützt, um ihre Besitz-, Erb- und Machtinteressen durchzusetzen. Der Preußische Kurfürst Friedrich III . war sehr erfolgreich darin, die vormals einflussreichen Stände einzuschüchtern und ihre Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu beschränken. Den Ständen sei politische Ohnmacht aufgezwungen, die Beamten zu Bedienten degradiert und freie Bürger zu Erbsklaven des herrschenden Hauses gemacht worden. Während die Stadtbürger als Stand ihre politischen Rechte verloren hatten, wurden wenige Bürger in den Adelsstand erhoben; die individuelle Gewährung von Rechten förderte die Entsolidarisierung untereinander. Das galt auch für Künstler und Wissenschaftler (Barudio 1997: 215), „members of the university-educated middle class were themselves becoming ennobled“ (Blackbourn 2005: 32). Religiöse Toleranz und künstlerische Freiheit wurden aber nur gewährt, solange die Gelehrten und Philosophen nicht auf die Idee kamen, den patrimonialen Absolutismus abzulehnen (Barudio 1997: 218). So sei das vorher herrschende libertäre Verfassungssystem durch ein „personales Haus“ ersetzt worden (Barudio 1997: 205). In Preußen zelebrierte Kurfürst Friedrich  III . im Jahr 1701 seine Eigenkrönung in Königsberg und erhob sich als Friedrich  I. zum König von Preußen (Barudio 1997: 210). Sein ungeheures Prunkbedürfnis, mit japanischen oder indianischen Hoffesten, teuren Begräbnissen, aufwändig inszenierten Hochzeiten etc., das Unsummen verschlang (Barudio 1997: 215), verweist nach dieser eigenmächtigen Etablierung einer Preußischen Mo­ narchie noch einmal auf eine feudale Machtentfaltung durch Prachtentfaltung. Obwohl

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dass durch den innereuropäischen Austausch diese bis heute literarisch und philosophisch einflussreichen Männer des 18. Jahrhunderts den Aufstieg neuer Herren im Anzug die Transformationen anderer Gesellschaften mitbekamen. Einerseits machten sie die ungleichzeitigen Erfahrungen im Handel und der Nationenbildung, andererseits bemerkten sie die revolutionäre Entwicklung neuer Produktionsweisen in dieser Zeit der Leserevolution (Blackbourn 2005: 30). Denn in dieser Revolution schrieben nicht nur viele Schriftsteller für viele neue Leser, sondern die Produktion der Bücher und Theaterstücke wurde revolutioniert, sie war sehr modern. Alle diese Literaten waren von europäischen Schriftstellern der vorherigen Jahrhunderte beeinflusst. Es war Johann Gottfried Herder gewesen, der Goethe dazu gebracht hatte, sich neben der Natur- und Volkspoesie für Ossian und Shakespeare zu begeistern (Rothmann 2003: 95). Auch Molière wurde von Goethe sein ganzes Leben lang über alle Maßen bewundert (Löwenthal 1990: 161). Er selbst wiederum beeinflusste mit seinen Werken andere, Die Leiden des jungen Werthers (1774) wurde ein ungeheurer Bucherfolg – Napoleon Bonaparte soll den Roman siebenmal gelesen haben. Es gab zahllose ernste und parodistische Nachahmungen, daneben wurden Illustrationen zu dem Buch, Werther Nippes und Eau-de-Werther-Parfüms gehandelt. Und Goethe schrieb seinem Romanhelden Werther die einzige einflussreiche deutsche Männerbekleidung auf den Leib. Der Roman soll in ganz Europa begeisterte junge Männer dazu veranlasst haben, sich ebenso zu kleiden; die gräflichen Brüder Friedrich Leopold und Christian Stolberg (1750–1819 und 1748–1821) reisten im „Werther Kostüm“ mit Goethe in die Schweiz. Und wo sich diese Mode zum schlimmsten Werther-Fieber steigerte, soll es stilechte Werther-Selbstmorde gegeben haben (Rothmann 2003: 94 ff.). An der von Goethe dem leidenden Werther zugeschriebenen Kleidung können Differenzen zu der in Frankreich und von den Herren in England getragenen Männerkleidung für das 18. Jahrhundert deutlich gemacht werden.88

Preußen im Jahr 1709, nach einer Pest und großen Hungersnot, vor dem totalen Ruin stand (Barudio 1997: 218) und trotz Auspressung der Untertanen und Misswirtschaft, gelang es Friedrich I. seine Herrschaft durch Terror und Unterdrückung, Korruption und Selbstherrlichkeit zu befestigen (Barudio 1997: 222). Von Ludwig XIV . wurde dieser neue preußische König zunächst nicht anerkannt (Barudio 1997: 215). 88 Dabei kann nicht darauf eingegangen werden, aus welchen Bedürfnissen heraus die Männer (meist Aristokraten, wie es scheint) diese Kleidung trugen, hier geht es darum zu zeigen, was an dieser Bekleidung aus der deutschen Erfahrung heraus gesellschaftliche Zustimmung fand.

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Es hat schwer gehalten, bis ich mich entschloß, meinen blauen einfachen Frack, [...] abzulegen. [...] Auch hab ich mir einen machen lassen, ganz wie den vorigen, Kragen und Aufschlag und auch wieder so gelbe West und Hosen dazu. (Goethe 1993 [1774]: 152).

Werthers Frack scheint zunächst einmal modern geschnitten und vom englischen dress coat inspiriert, in der Form schlicht, auch Kragen und Aufschlag verweisen auf die Uniform der Bourgeoisie. Wenn dieser Frack als ein „einfaches“ Kleidungsstück beschrieben wird, dann gilt das nur für den Schnitt, denn für die Farbwahl trifft es nicht zu. Goethe wählt für Werthers Kleidung auffällige Farben aus, und diese Zusammensetzung aus gelben Hosen, gelber Weste und blauer Jacke wirkt erst einmal sehr individuell; es ist nur Werther, der diese Kleidung trägt, womit sie als äußerer Ausdruck seiner inneren Freiheit interpretiert werden könnte, die sich mit Gereiftheit und Festigkeit verbindet. Dazu würde passen, dass Werther, als er sich enttäuscht von der städtischen Gesellschaft abwendet, für seine neue Kleidung wieder dieselbe Zusammenstellung in Farbe, Stoff und Schnitt wählt. In dieser Wahl „ganz wie den vorigen“ kann sich Verlässlichkeit, Vertrautheit und damit die Sicherheit eines individuellen Urteils ausdrücken. Es könnte jedoch auch als eine gegen Variationen und Veränderung gerichtete Auswahl gedeutet werden. Denn schon Goethe setzte sich mit dem Bestreben nach Individualität und innerer Freiheit auseinander, das gleichzeitig verbunden war mit einer Abwehr von Uniformierung und Vereinheitlichung oder Nivellierung.89 Goethe lehnte den wechselnden Geschmack ab. Seine Kritik daran äußerte er aber nicht in Bezug auf die Bekleidung, sondern auf seine eigene Produktionssphäre. Es war der Buchmarkt, auf dem die Leserevolution (Blackbourn 2005: 30) stattfand, – nur hier hatte in Deutschland die Transformation in die Moderne schon begonnen. „Er verteidigt die Kunst unter dem Ansturm der für den Markt geschaffenen Produkte der Massenkultur.“ (Löwenthal 1990: 185). Goethe verurteilte dabei nicht, dass das Publikum Unterhaltung suche, sondern diejenigen, die daraus Kapital schlügen, indem sie billige Ware anböten. Das Theater, wie die übrige Welt, werde durch herrschende Moden geplagt 89 Die Ambivalenz zwischen Uniformierung und Individualisierung blieb in der deutschen Diskussion ein wichtiges Themenfeld, z. B. bei Georg Simmel in der Philosophie der Mode (1983 [1905]), bei Ferdinand Tönnies in Die Sitte (1909), während Max Weber sich dem Problem nicht aussetzen wollte, indem er mit Idealtypen arbeitete. Doch diese Auseinandersetzung mit dem Individuum und der Gesellschaft war eine Voraussetzung für die mit den bürgerlichen Gesellschaften entstandene Soziologie. Das Bedürfnis nach der beständigen Klärung der ambivalenten Problematik ließ die deutsche Soziologie im eigenen Sprachraum, aber auch im anglo-amerikanischen oder französischen, so einflussreich werden.

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und Moden bestünden darin, einer Sache eine Zeitlang nachzuhängen, um sie dann auf ewig zu verbannen. Der literarische Künstler müsse die Tagesmoden beherrschen [Klassiker schaffen], beherrschten die Moden ihn, sei seine Kunst in der beständigen Gefahr, ihre exemplarische Rolle zu verlieren (Löwenthal 1990: 188 ff.). Das war auch an der Beschreibung der Werther,schen Kleidung beispielhaft zu sehen, dem eine individuelle Bekleidung angedichtet wurde, die nicht wechselhaft war, d.h., die Tagesmoden beherrschte. Das deutsche Wort Mode wurde als Schimpfwort aus dem Französischen übernommen (damals hieß es noch à la mode, nach einer bestimmten Art und Weise gekleidet), weil die Bekleidung in der Zeit vor der Französischen Revolution als französisch feudal, luxuriös und in der Art und Weise wechselnd auffällig ins Bewusstsein der deutschen Beobachter kam.90 In Frankreich war in Modejournalen und Berichten Bekleidung in dieser Zeit ein wichtiges Thema geworden (siehe Kapitel 1.2). Modische Neuigkeiten kamen schon im 18. Jahrhundert aus Frankreich, neue Bekleidung war zuerst französisch, zumindest in den Residenzstädtchen und an den großen und kleinen Höfen, wie dem von Weimar. (Auch wenn die neue Bekleidung für Männer aus England beachtet wurde, erschien sie schlicht, der dress coat wurde, wenn überhaupt, eher als Bekleidung von den Kaufleuten und Großhändlern in den Handelsstädten bevorzugt.) Seit der Regentschaft Ludwigs XIV. hatte sich in Versailles der höfische Luxus konzentriert und war auf die Spitze getrieben worden (siehe Kapitel 1.2). Die luxuriöse französische Männerkleidung gewann an den Höfen in den deutschen Kleinstaaten und am Hofe des Königs von Preußen – wenn auch im sehr viel bescheideneren Rahmen – einen deutlichen Einfluss. Als Goethe den Werther schrieb, war er noch nicht nach Weimar gekommen. Obwohl – oder gerade weil– nur einige Bürger, wie Goethe oder Herder, in den (niedrigen und auch nicht sehr lukrativen) Adelsstand erhoben wurden, gab es Ressentiments. Diese antifeudalen Ressentiments richteten sich aber mehr gegen den französischen Feudalismus als gegen die eigenen Fürsten, weil Frankreich im 18. Jahrhundert 90 So schreiben die Gebrüder Grimm im Deutschen Wörterbuch von 1885: „das franz. seit dem 15. jahrh. häufig erscheinende fem. Mode, dessen unmittelbare ableitung vom lat. masc. modus nicht ohne Zweifel steht (man müste denn die geschlechtsänderung durch den Einflusz des älteren fem. manière erklären wollen), das zeitgenössische art und brauch im allgemeinen, auch die dem wechselnden geschmack unterworfene art sich zu kleiden ausdrückt [...] erscheint vor den zwanziger jahren des 17. jahrh. in deutscher sprache nicht [...]; der begriff bleibt zunächst auf die tracht beschränkt [...], mode erweitert seine bedeutung aber bald auch auf den augenblicklichen zeitgeschmack im benehmen und thun der gesellschaft“ (Grimm/Grimm, 1984 [1885]: 2435 f.). Zur nationalistischen Komponente beim Auftreten des Wortes im 17. Jahrhundert auch Kolesch (1998: 26).

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alles das war, was die mehr als 300 deutschen Fürstentümer nicht waren: groß, vereint, mächtig und vor allem prächtig. Wenn Goethe seinen Werther wieder zum Bewährten greifen lässt: sich einen Rock machen läßt, „ganz wie den vorigen“ (Goethe 1993 [1774]: 152) und dieser sich nicht modisch, wechselnd, variabel kleidet, dann drückt sich darin eine antimodische und damit auch antifranzösische und antifeudale Haltung aus.91 Seit Goethe und bis in die aktuellen Diskussionen wird die Ablehnung des luxuriösen Bekleidens für den Bürger des 18. Jahrhunderts positiv gewendet: „Das deutsche Individuum muss nicht ‚comme il faut‘ sein und bei Hofe eine gute Figur machen, sondern sich selbst finden und zur höchsten, eben individuellen Entwicklung aufgipfeln.“ (Müller 2010: 158). Das trifft aber auf Werther nicht zu, denn der hätte gerne eine gute Figur am Hof gemacht, wenn es ihm erlaubt gewesen wäre. Es ist problematisch von einem deutschen Individuum auszugehen, das eine individuelle Entwicklung durchgemacht haben soll, obwohl ihm doch die gesellschaftliche Akzeptanz nicht gewährt wurde und somit konkret gar keine Wahl blieb. Diese fehlende Anerkennung wurde im Werther problematisiert, wo Goethe die aristokratische Gesellschaft als „überholte Schicht von Schmalspuraristokraten“ verurteilt (Löwenthal 1990: 166). Werther ist der gebildete Bürger, der, trotz individueller Anstrengung, von der herrschenden Gesellschaftsschicht nicht aufgenommen wird. Mit seiner Frustration steht Werther als Beispiel für eine ganze Schicht, für die Jugend unter den Intellektuellen und in den akademischen Berufen Deutschlands, die gern an der politischen Ordnung mitarbeiten würde, aber von einer veralteten Gesellschaftsstruktur daran gehindert wird. (Löwenthal 1990: 173).

Wie Werther die Kleidung trug, wollte er sich als Individuum auszeichnen, gerade weil er – anders als der Bourgeois in England – keine gesellschaftliche Anerkennung fand. Im Vergleich zu dem von Goethe sehr bewunderten Franzosen Mo­lière, der von der Vorstellungswelt des Bürgertums her schrieb und des Bourgeois unvollkommene Nachahmung der Aristokraten absurd machte, finden

91 Ein Jahr nach Erscheinen von Die Leiden des jungen Werthers wurde Goethe im Jahr 1775 nach Weimar berufen; er bekam mit 25 Jahren gesellschaftliche Akzeptanz, weil er über ihr Fehlen ein Jahr zuvor kritisch geschrieben hatte und berühmt geworden war. Für Andreas Fahrmeir konnte Goethe, der Frankfurter Bürgersohn, „seinen Stadt-Bürgerstatus kaum schnell genug abstreifen, sobald er sich in Weimar etabliert hatte.“ (Fahrmeir 2010: 27). Goethe wurde 1782 geadelt. Interessant ist, dass er – obwohl geadelt – den meisten heute immer noch als der Bürger gilt.

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sich bei Goethes Werther Klagen über das Dazugehörenwollen (Löwenthal 1990: 180). Molière forderte, dass die Bürger sich mäßigend verhalten sollten, an sich selber orientiert, mit dem „Motto des Kaufmannes“ (Löwenthal 1990: 146) zu seinen Kunden (siehe dazu Kapitel 1.2). Nichts sprach bei Molière im Frankreich des 17. Jahrhunderts für die Sorge ums Individuum, und auch bei Germaine de Staël wurde im 18. Jahrhundert die Nachahmung positiv herausgestellt, denn alle strebten danach, den Verstand zu haben, den jedermann habe (1815: 26 f.). Im Vergleich dazu sah Goethe in der Nachahmung etwas Zwanghaftes, Negatives. Ihm wäre es aber auch nicht eingefallen sich wie einige Schriftsteller noch eher nach dem Ausland zu orientierten, wie es Germaine de Staël beschrieben hatte (1815: 26 f.). Denn mit solcher Nachahmung hätte sich die Idee von der Einheit Deutschlands zu einem Ganzen für ihn nicht erfüllen können. Goethe war darum besorgt, dass die Fähigkeiten des Individuums durch die gesellschaftlichen Gefahren, die dem Kompromiss innewohnen, nivelliert werden könnten (Löwenthal 1990: 184). Bis ans Ende seines Lebens hoffte er, dass sich die höchste Entfaltung des Individuums und das höchstmögliche Wohl der gesamten Gesellschaft miteinander in Einklang bringen lassen (Löwenthal 1990: 163).92 Und diese Gesellschaft sollte die deutsche sein. Das bei Goethe wenigstens noch mitgedachte höchstmögliche Wohl der ganzen Gesellschaft wird in der aktuellen deutschen Diskussion zur Frage, was bürgerlich sei, bei Joachim Fest [dem von Norbert Bolz die „beste Definition“ für Exzellenz bescheinigt wird] komplett ausgeblendet und über die Faszination für das Einzigartige: das bürgerliche Genie, ein „mitleidloses“ Anerkennen nicht nur menschlicher Unterschiede, sondern der gesellschaftlichen Ungleichheit abgeleitet (Bolz 2010: 80). Bürgerlich ist die Idee der Konkurrenz, des Exillierens auf allen Gebieten; bürgerlich der Wille zum Herausragenden und, daraus hervorspringend, der Sinn für individuellen Rang, auch für menschliche oder künstlerische Größe, der wiederum aufs engste mit dem zu tun hat, was man das bürgerliche Genie zur Bewunderung nannte. Und bürgerlich ist schließlich, dies alles zusammenfassend, die Faszination durch das Einzigartige, auf deren Grund ein schroffes, im Einzelfall oft mitleidloses Bekenntnis zu menschlichen Unterschieden, sogar zur Ungleichheit greifbar wird. (Joachim Fest zit. n. Bolz 2010: 80).93 92 Goethes Wilhelm Meister (Lehrjahre 1795/96 und Wanderjahre 1807) handelt vom Sohn eines Kaufmannes, der beim Theater landet und gemahnt vor allem in den Wanderjahren (Untertitel: Die Entsagenden) zur Unterordnung individueller Wünsche, wo immer sie mit den Ansprüchen der Gesellschaft als Ganzes in Konflikt geraten (Löwenthal 1990: 167). 93 In der Jugendlyrik Goethes findet sich der vollendete Ausdruck des Genies. Und zur genialistischen Gefühlsunmittelbarkeit war die dramatische Gebärde die angemessenste,

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Und so wie in der Literatur Goethes als trotzige Reaktion auf die fehlende gesellschaftliche Akzeptanz das empfindsame bürgerliche Individuum, dem nachgeeifert werden sollte, herausgestellt wurde, nahm auch die brüchige Solidarität in der Gesellschaft unter den Bürgern weiter ab, denn sie wollten ja auf keinen Fall den Kompromiss, weil das für viele von ihnen nur „das Motto des Kaufmanns“ (Löwenthal 1990: 146), ein sich Angleichen und Nachahmen, gewesen wäre. Im Vergleich zu der in England durchgesetzten Uniform der Bourgeoisie lässt sich der Unterschied zeigen. Diese war Ausdruck frei gewählter gleicher Männerkleidung. Bourgeois hatten keine Angst davor, dass ihre individuellen Fähigkeiten nivelliert werden könnten. Die Anerkennung in der englischen Gesellschaft bekam man nicht durch das Herausstellen von Ungleichheit und Einzigartigkeit oder Genie, sondern durch die Akzeptanz der sich fremden Marktteilnehmer, auch im neuen betriebsamen Geschäftsgebaren. Goethes Werther dagegen wollte kein Kaufmann sein, ihm fehlte der Geschäftsinn und er strebte ihn auch nicht an.94 Seine frei gewählte Kleidung stärkt die gesellschaftliche Ungleichheit, hebt seine Differenz zum herrschenden Adel trotzig hervor, verminderte dadurch aber die Unfreiheit der Bürger in der Gesellschaft nicht. Bürger sein hieß für einige dieser Dichter und Denker, im Besitz von individueller Freiheit und Bildung zu sein, ohne den Besitz von Besitz mitzudenken (und das wird bis heute noch selten mitgedacht), der doch für die Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft von größter Bedeutung wäre.95

darum bevorzugte Ausdrucksweise. Genie wurde dem Nachahmungsgeist gänzlich entgegen gesetzt, erst nur auf einzelne Eigenschaften bezogen, im späten 18.  Jahrhundert nannte man den Begabten selbst ein Genie (Rothmann 2003: 92 ff.). 94 Auch bei späteren Romanfiguren von Goethe, wie dem Wilhelm Meister wird gerade nicht die Betriebsamkeit in der Wirtschaft gefordert. Während sein Freund Werner ihm brieflich zu seinem gewachsenen Verständnis der Geschäfte dieser Welt und der Erweiterung der statistischen, technologischen, landwirtschaftlichen Kenntnisse gratuliert, protestiert ­Wilhelm, der nur ein Ziel kennt: die Vollendung der Persönlichkeit. Alles Übrige ist Schmuck, Verzierung, eine Art, die harmonische Persönlichkeit auszustaffieren. Als Weg für eine Überwindung der Schranken, so meint er, stehe ihm nur das Theater offen, in dem er seinem Selbst in jeder gewünschten Weise Ausdruck verleihen könne (Löwenthal 1990: 181). 95 So ließ Goethes ausgezeichnete Kenntnis von Molière ihn eine geistige Kontinuität zu den Schriftstellern der Vergangenheit herstellen, ohne konkrete Unterschiede zu sehen. Er nahm die bürgerliche Gesellschaft als geschichtslos wahr und ignorierte zum Beispiel Molières finanzielle Abhängigkeit vom Hof und Adel. Goethe nannte ihn einfach einen Künstler, der die Literatur als Beruf gewählt habe und sich erfolgreich in einer verbürgerlichten Gesellschaft durchsetzte (Löwenthal 1990: 182).

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Von der Vorstellung gebildeter Bürger ohne betriebsames unternehmerisches Wollen und Leisten, fühlten sich viele der kärglich lebenden staatlich oder privat finanzierten Gebildeten in den deutschen Fürstentümern angesprochen. Denn in der Zeit der Ablösung von der ständischen zur Klassengesellschaft wurde Bildung, so Löwenthal (aber auch Werner Sombart, 1913, und der amerikanische Ökonom Thorstein Veblen, 2006 [1915] beschreiben das schon um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert für die deutsche Gesellschaft) von einem wirtschaftlich rückständigen Bürgertum überhöht. Von Wohlstand und Luxus konnte in den deutschen Kleinstädten (wie Weimar mit seinen rund 6000 Einwohnern) nicht die Rede sein. Auch in den Kreisen der besser gestellten Groß-Bauern, Handwerker und Krämer ging es ärmlich zu. Der größte Anteil der Bevölkerung in den deutschen Ländern lebte in elenden Verhältnissen, die oft von Hungersnöten oder sogar Hungerepidemien geprägt waren. Selbst in den höheren Schichten des Bürgertums war gerade mal ein bescheidenes Auskommen möglich, eine luxuriöse Lebensführung hatten höchstens einige Familien des hohen Adels und vielleicht kaum ein Dutzend reicher Handelsherren oder Bankiers (Sombart 1913: 22), die wiederum am ehesten in den freien Handelsstädten lebten und nicht in den Residenzstädten. Und die Gehälter der Beamten waren mehrheitlich so knapp, dass sie nur eine karge Existenz ermöglichten (Barudio 1997: 219).96 Der Kameralismus in den deutschen Fürstentümern wurde, anders als das merkantile System in Frankreich, von dienenden Beamten getragen, die keine Wohlstandmehrung davon zu erhoffen hatten.97 Darum waren sie mit den notables nicht zu vergleichen (siehe dazu Kapitel 1.2). Gerade weil die meisten deutschen Gebildeten arm waren, kehrten sie sich von der Welt des äußeren Scheins ab, die Welt der Ideen galt im Innern und

96 In Preußen wurde unter Friedrich I. beispielsweise auf die hohe Korruptionsanfälligkeit unter den in unbeschreiblicher Not dienenden Beamten nicht mit Anhebung der Gehälter, sondern einer Erhöhung des Gehorsams reagiert (Barudio 1997: 219). Ungehorsam seiner Bediensteten wollte der Preußische König so bestraft wissen, „wie in Deutschland noch nit gesehen worden wäre“, exemplarisch und auf „gut russisch“ (Barudio 1997: 227). Unter dem nächsten Regenten, Friedrich Wilhelm I. (Regierungszeit 1713–1740), mussten Beamte dann eine universitäre Ausbildung absolvieren, was ihre finanzielle Situation eher verschlechterte, weil auch noch eine kostspielige Studienzeit der wenig auskömmlichen Vergütung vorausging. 97 Die Wohlstandsmehrung lag beim König, der durchaus modern ein „Universal-Unternehmer großen Stils“ gewesen sein soll. Auch wenn Friedrich Wilhelm I. einen bis an Geiz grenzenden Sinn für Sparsamkeit gehabt haben soll, gab er Geld für Aktien-Spekulationen in England und den Niederlanden aus und kaufte silberne Möbel, kostbare Edelsteine oder „schöne Kerls“, jene Soldaten, die lang im Wuchs waren (Barudio 1997: 228).

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alles, was nach Körperlichkeit schmeckte, wurde verachtet (Sombart 1913: 24).98 Ihre Interessen gingen nicht in die Richtung des Nachdenkens über unternehmerische profitable Geschäfte. Der Bürger, der es versuchte, wurde wie im Faust bei Goethe vom verzweifelten Intellektuellen zum gescheiterten Unternehmer.99 In den deutschen Fürstentümern und Handelsstädten blieb viel stärker getrennt, was bei der Bourgeoisie in England, bei gentry und merchants, in Stadtgeschäften und auf dem Land zu einem Ganzen verschmolz: Clubs, Landsitze, körperliche und sportliche Betätigungen, politisches und unternehmerisches Handeln, die gemeinsame ganzheitliche Bildung an den public schools (Hobsbawm 1983: 10). Für den sich von der geschäftigen Stadt abwendenden Werther forderte die Lebensweise in der Nähe ländlicher, einfacher Leute keine großen Summen, keinen aufwändigen Lebensstil, wie er in der Stadt viel eher geführt werden musste, ein blauer einfacher Frack genügte auf dem Land. Auch seine gelben Hosen, vom Schnitt her noch feudale culottes, waren nicht aus Seide oder Baumwoll-Wollgemisch, sondern aus haltbarem Leder gefertigt. Allerdings war das Leder wiederum nicht robust, sondern fein angeraut, Abnutzungserscheinungen wurden schnell sichtbar. Das gelbe Wildleder verweist nicht auf eine stürmende und drängende, körperliche Wildheit des Trägers. Werthers erneuter Weg in die ländliche Gegend war keiner, der „nach Körperlichkeit schmeckte“ (Sombart 1913: 24), also kein sportlicher, dynamischer, jagender, wie ihn die Bourgeoisie in England bevorzugte, sondern es war ein Rückzug, der gerade wegführte von den in einer bourgeoisen Klassengesellschaft geforderten unternehmerischen, betriebsamen Handlungen. Bei Goethe wird vom Bürger keine bequeme Kleidung verlangt: Denken, Bildung und Sterben fanden am Schreibtisch statt; es wird auch keine neue Kleidung verlangt, der Bildungsbereich war eine abgetrennte Sphäre. In den dunklen Amts- und Studierstuben wurden abgewetzte Kragen und Aufschläge nicht bemerkt und in den Vorlesungen Talare getragen. Das Bourgeoise, so hatte Löwenthal es beschrieben, sei „sich richtig in die Sphäre des Kollektivverhaltens einzuordnen.“ (1990: 153). Für ihn gehörte – mit dem Blick auf die französische Gesellschaft – dazu zu wissen, was sich ziemt. (Daran war Werther in der Stadt gescheitert.) Und um sich harmonisch der gesellschaftlichen Verhaltensweise einzupassen, war ein notwendig falsches Bewusstsein von Freiwilligkeit erforderlich. Auch wenn diese Eigenschaften

98 Man war empfindsam, rührselig, zart, man betrachtete und erbaute sich. Der Gedanke, die Idee, die Gelehrsamkeit waren das, was als Grundstimmung eine Weltflucht darstellte (Sombart 1913: 24). 99 Vgl. zu Goethes Faust die Interpretation von Oskar Negt: „Fausts Karriere geht aus vom verzweifelten Intellektuellen und endet beim gescheiterten Unternehmer.“ (Negt 2006: 282).

Die Uniform der Bourgeoisie

von Teilen des Bildungsbürgertums in Deutschland abgelehnt wurden, lernten viele Männer sich in eine Sphäre des Kollektivverhaltens richtig einzuordnen – allerdings selten freiwillig. Körperlichkeit und Ertüchtigung fanden im ebenfalls staatlichen, aber unter absolutistischen Herrschern vom Bildungsbereich streng getrennt gehaltenen Militär statt. Hier mussten die Männer nicht wissen was sich ziemt, es wurde ihnen angeordnet.100 Das Militär war insgesamt eher durch Unterordnung, nicht Einordnung oder Adaptation geprägt. In Preußen strebte Friedrich Wilhelm I. (Regierungszeit 1713–1740) sogar ein persönliches Regiment an. Er hatte noch keinen Einheitsstaat im Sinn, völlig fremd waren ihm Begriffe wie eine „transpersonale Nation“, ein übergeordneter Staat oder ein souveränes Volk. Seine Soldaten hatten zu gehorchen und mechanisch zu funktionieren, nicht zu denken; „Maschinen“ nannte er sie und die wollte er haben. Der strenge Drill im Preußischen Militär verursachte bald eine große Desertierungswelle, die zur Flucht vieler Männer aus dem Herrschaftsbereich des preußischen Monarchen führte (Barudio 1997: 230 ff.). Ab dem Jahr 1721 wurde daher jeder junge Mann als Wehrfähiger eingetragen und wer aus dem Militär austrat, verlor sein Erbteil und noch die Eltern wurden bestraft. Wer sich jedoch freiwillig zu den Soldaten meldete, der bekam ein Handgeld, Unterkunft und Verpflegung sowie eine Uniform (Barudio 1997: 233). Daher wurden sehr viele Uniformen benötigt. Und während Preußen ansonsten im Manufakturwesen gegenüber England oder Frankreich deutlich rückständig war, besaß es im 18. Jahrhundert mit dem Königlichen Lagerhaus eine „der größten Wollmanufakturen des Kontinents“ (Barudio 1997: 233), in der die Stoffe für die vielen Uniformen gewoben wurden (Paulinyi/Troitzsch 1997: 219). Weil Militäruniformen in der preußischen Gesellschaft so wichtig waren, modernisierte die Regierung die Produktionsweise im Manufakturwesen, wie es auch Frankreich tat. Und in der Produktion von uniformer Männerkleidung waren die Modernisierungsbestrebungen dann erfolgreicher als in anderen gesellschaftlichen Bereichen (Barudio 1997: 232 f.). Militäruniformen sollten vom Schnitt her gleich sein – eben uniform – und konnten dadurch leichter in Mengen fabriziert werden. Doch unterschieden sie sich hinsichtlich ihrer Aufnäher, Litzen und Borten, sie spiegelten die differenzierte militärische Hierarchie und bis ins 19. Jahrhundert ließen sich durch 100 Eine Vermutung muss der Gedanke bleiben, dass nur die Offiziere „wissen mussten, was sich ziemt“, weil die Satisfaktion im deutschsprachigen Raum auf denselben Prinzipien beruhte, wie bei der herrschenden Klasse in anderen Gesellschaften der Umgang miteinander. Nun galt diese militärische Sphäre als konservativ und reaktionär, weswegen die Gleichzeitigkeiten beider modernen gesellschaftlichen Entwicklungen vielleicht nicht wahrgenommen werden.

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unterschiedliche Einfärbungen Freund und Feind erkennen (Paulinyi/Troitzsch 1997: 219). Die entscheidende Differenz zur Uniform der Bourgeoisie bestand darin, dass der Anzug es den erfolgreichen Männern leichter machte, sich in der Bourgeoisie nicht unterzuordnen, sondern einzuordnen und anerkannt zu werden. Während sich die Wahl eines dress coats letztendlich über das Geld, den Preis bestimmte, durfte die Militäruniform und im besonderen die verschiedenen reglementierten Verzierungen, nicht jeder tragen. Und nachahmen konnte man die Uniformen nur, indem man sie in anderen Bereichen der Gesellschaft einführte (siehe dazu Kapitel 3.3).101 Auch wenn sich für „nicht wenige Männer aus den Unterschichten“ gewisse Chancen des materiellen Fortkommens boten, ein gesellschaftlicher Aufstieg im Militär war eher selten (Barudio 1997: 234). Doch auch Offizieren mit gekauftem Adelsbesitz [und damit aus ehemals bürgerlichen Familien] wurde die dauernde Aufnahme in die Armee verweigert (Barudio 1997: 255). Söhne, deren Eltern mehr als 10.000 Reichstaler besaßen, mussten nicht zum Militär (Barudio 1997: 233). Diese Regelung sorgte dafür, dass die ökonomisch erfolgreiche Sphäre des betriebsamen Unternehmertums und seiner Profitinteressen getrennt blieb von der militärischen. Die Macht verteilte sich auf Aristokratie und Bürokratie, wobei in Preußen die Aristokratie sogar in den Staatsdienst eingeschlossen war, und dabei vor allem die Offiziere (Blackbourn 2005: 20).102 Under successive rulers who steadily expanded the standing army, in a society where military drill reached down into the villages and officers enjoyed a high status. [...] [Prussia was] not a country with an army, but an army with a country. (Blackbourn 2005: 17).

Die Vorherrschaft des Militärs zeigte sich auch daran, dass der auf Friedrich Wilhelm I. folgende König Friedrich II. (der Große, Regierungszeit 1740–1786) als einer der ersten Herrscher überhaupt die Militäruniform als Alltagskleidung zu tragen begann (Allen 1955: 205). Weil diejenigen, die im Militär höchste Anerkennung erfuhren, aus dem ständischen Adel kamen, waren die preußischen

101 Alle uniforme Kleidung ist letztendlich ausschließend (ob als Uniform der Bourgeoisie, Uniform der Masse oder als Uniform der Gentlemen), aber im Anzug steckt das Bourgeoise als Möglichkeit. In Uniformen ist es immer das ausschließende Moment, das im Vordergrund bleibt – das Offensichtliche. Es war keine Nachahmung möglich, wie bei der Mode, die dann später für die Angestellten wichtig wurde (siehe dazu Kapitel 3.2). 102 Der bürokratische Aufwand, wie die Übersicht über wehrfähige Männer oder die Regelung der Dienstpflichten, hatte sich mit der Einrichtung stehender Heere vergrößert (Barudio 1997: 232 f.).

Die Uniform der Bourgeoisie

Uniformen ihren Bedürfnissen angemessen.103 Ihre Männerkleidung war nicht weniger luxuriös ausgestattet als die Bekleidung des französischen Adels. Diesen prächtigen Uniformträgern in den deutschen Fürstentümern wurde wenig Kritik entgegengebracht und stattdessen trug so mancher bürgerliche Dichter gerne Uniformen und Orden.104 Der französische Luxus wurde dagegen von vielen beobachtet und kritisch kommentiert und beeinflusste die deutsche Sicht auf teure, aufwändige, wechselnde, nachahmende und damit modischfranzösische Bekleidung. Von der antifeudalen zur antibourgeoisen Kritik Der Einfluss Frankreichs auf das Leben der Deutschen blieb während der Französischen Revolution bis zur Regentschaft Napoleons bestehen (Blackbourn 2005: 33). This was a neighbour whose actions bore directly on German lives, as well as a country to whom the educated had long been accustomed to look for moral and intellectual instruction – although not for models of good government. (Blackbourn 2005: 33).

Noch bis zur Revolution von 1789 wurden gesellschaftliche Differenzen über die Literatur (Bücher, Zeitschriften) und über Aufenthalte und Besuche, die nach einer langen Anreise meist von so kurzer Dauer waren, dass sie wenig Möglichkeit zur differenzierten Erfahrung boten, vor allem als ungleichzeitig erfahren.105 Mit dem Aufstieg Napoleons begannen sie direkt, in gleichzeitige Erfahrungen überzugehen. Politisch und wirtschaftlich veränderte sich viel, zum einen durch die Reaktionen auf die umwälzenden gesellschaftlichen Verhältnisse in Frankreich durch die Kämpfe um Macht und Herrschaft, die Herrschaftssicherung oder Erweiterung von Herrschaftsbereichen. Zum anderen aber wurden die Erfahrungen durch die Besetzung oder politische Zusammenlegung von 103 In Frankreich wurden nach der Französischen Revolution und unter Napoleon die Uniformen schlichter gestaltet, aber es fiel auch Aufsteigern aus den unteren Gesellschaftsschichten weniger schwer, im und über das Militär hinaus gesellschaftliche Anerkennung zu erwerben (siehe dazu Kapitel 1.2). 104 So hatte etwa im Jahr 1803 Germaine de Staël bei ihrem Besuch in Weimar den Dichter Friedrich Schiller zuerst für einen General gehalten, weil er in Gala-Uniform mit Orden zur Audienz erschienen war (Becker-Cantarino 2000: 187). 105 Begeisterte reisten nach Paris, um die Revolution mit eigenen Augen zu sehen (Blackbourn 2005: 38) und verbreiteten ihre Berichte in der deutschen Presse (Zierer 1970: 91). Die vielen französischen Schriften, Pamphlete und Artikel zum Sturm auf die Bastille waren auch in Deutschland sehr populär (Blackbourn 2005: 38).

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Staaten, Fürstentümern und Handelsstädten durch die französischen Truppen selbst gemacht. „In Germany as elsewhere, the French Revolution proved to be a convulsive and defining experience.“ (Blackbourn 2005: 33).106 Überall in deutschen Ländern gab es Reaktionen auf die verschiedenen Phasen der Französischen Revolution (Blackbourn 2005: 37).107 Anfangs war die Revolution von vielen mit Begeisterung aufgenommen worden. Jakobinerclubs gründeten sich (Blackbourn 2005: 40), Freiheitsbäume wurden aufgestellt und auch in deutschen Ländern wurden die aus Frankreich bekannt gewordenen „Bräuche“ (wie Zierer 1970: 91 sie nennt) teilweise sehr unbefangen betrieben. Und damit entpolitisiert. Selbst die ‚Garde du Corps‘ von Potsdam läßt ihr Trompentenkorps ganz naiv das ‚Ca ira‘ blasen, wozu die Berliner Schusterjungen einen gräulichen Text singen, in dem hauptsächlich die Rede von Blut und Hängen ist. Die Trikolore wird große Mode als Hutschleife, als Band und Rüsche an den Kleidern der vornehmen Gesellschaft. (Zierer 1970: 92).108

Die Begeisterung über die Ereignisse in Frankreich wich einer allgemeinen Ernüchterung, als die Nachrichten über die brutalen Kämpfe in Paris und die Enthauptung des Königs eintrafen. Erst jetzt wurden die Reaktionen der Regierungen strenger, der Minister von Schlesien etwa drohte jedem bei Erwähnung der Revolution mit Haft und auch Goethe ging auf maßvolle Distanz zur Französischen Revolution (Blackbourn 2005: 38 ff.).

106 Die Amerikanische Revolution war auch in den deutschen Staaten nicht unbemerkt geblieben, obwohl es schwieriger war, an genaue Informationen zu kommen. „Benjamin Franklin was already a well-regarded figure and ‚liberty‘ had become something of a modish term by the 1780s.“ Im Jahr 1785 wurde zwischen Preußen und den USA ein Freihandelsabkommen geschlossen, das nicht sehr wirksam war. Das Interesse an Amerika ließ nach dem Ende des Unabhängigkeitskriegs um 1787 schnell wieder nach. Die ehemals englischen Kolonien waren zu weit weg und der direkte Einfluss auf die deutschen Staaten minimal (Blackbourn 2005: 33). 107 Erst die moderate Phase, dann der Terror, folgend die konservative Stabilisierung durch das Direktorium und schließlich Napoleons Inbesitznahme. 108 Auch einige Herrscher sympathisierten durchaus mit der Französischen Revolution, wähnten sich selbst als aufgeklärt und versuchten, die Situation ihrer Untertanen zu verbessern (Blackbourn 2005: 39). Friedrich Wilhelm  II . von Preußen war nicht begeistert von der Französischen Revolution. Aber er sah in diesem frühen Stadium von den Franzosen keine Gefahr ausgehen. Um 1790 waren die Prinzen im deutschen Gebiet, inklusive der Herrscher von Preußen und Österreich, eher besorgt wegen der Rivalitäten zwischen Habsburgern und Hohenzollern als wegen der Ereignisse in Paris (Blackbourn 2005: 39). Als sich 1791 Preußen und Österreich geeinigt hatten, begannen die Herrscher ernsthafter über Frankreich nachzudenken (Blackbourn 2005: 46).

Die Uniform der Bourgeoisie

Das Volk der Dichter und Denker hat die Ideen der Revolution begeistert begrüßt, doch es schreckt vor der blutigen Praxis der revolutionären Ereignisse verstört zurück. (Zierer 1970: 100).

Im deutschen Sprachraum wurde diese Revolution als bürgerliche Revolution verstanden, eine in der Bürger den Kampf mit der Aristokratie gewonnen hatten. Damit ging für viele deutsche Bürger ihre vorher an den französischen Aristokraten geübte antifeudale Kritik verloren, während in der nachrevolutionären Zeit eine antifranzösische Kritik bestehen blieb.109 Napoleon Bonaparte war kein Adliger, das war allen kritischen Beobachtern klar. Weil die Modernisierungen durch Napoleons Armeen vor allem in der ökonomischen Sphäre sichtbar wurden, kam es jetzt neben antifeudalen auch zu antibourgeoisen (antibürgerlich wäre hier nicht der passende Begriff ) Haltungen. Dies war auch denjenigen Stimmen deutscher Theaterdichter und Denker des 18. Jahrhunderts zu verdanken, die sich dem betriebsamen Handeln nicht nur verweigerten, sondern die ausländischen merchants, Großhändler und Unternehmer verachteten. In der Reaktion entwickelte sich daraus eine Allianz von Militär und Bildungsbereich, die sich unter großnationalen Vorzeichen für ein einheitliches Deutsches Reich stark machte. Die Idee von Deutschland mit der nationalen Sprache im Zentrum wurde zum bewusst verfolgten konkreten Ziel. Anfangs war die Französische Revolution dabei noch Vorbild (Anderson 1998: 63), später wurde Frankreich wegen der Eingriffe Napoleons auf die deutschen Staatsgebiete zum bekämpften Gegner im Namen Deutschlands. Ein erster Schritt zur nationalen Einheit wurde den Deutschen zu einem Teil von Napoleon aufgezwungen, indem er den Fürsten der größeren deutschen Monarchien als Ersatz für die besetzten linksrheinischen Gebiete die Einverleibung kleiner Reichsherrschaften und Reichstädte sowie der geistlichen Besitztümer zugestand (Zierer 1970: 107).110 Doch war diese Zusammenführung von Kleinstaaten in Deutschland nicht nur Frankreich, sondern auch 109 Der Mythos in der deutschen Modeliteratur von der Durchsetzung der bürgerlichen Kleidung durch die französischen Revolutionäre verweist darauf (siehe dazu Kapitel 1.2). 110 Die französischen Truppen exportierten nicht nur ihre Verwaltungs- und Sozialordnung, sondern verlangten auch Steuern und Abgaben. Die hohen Lasten, die in den besetzten Gebieten erhoben wurden, förderten Gegenbewegungen in der Bevölkerung (Haupt 2006: 272). Der französische Druck wurde aber nicht nur in den besetzten Gebieten gespürt, sondern fast überall in Deutschland (Blackbourn 2005: 51). Positive Aspekte der von den Franzosen ausgehenden Besetzung waren z.B. die Entstehung von Transportnetzwerken, die Emanzipation von Landarbeitern, die Schwächung von Zunftprivilegien und anderen Kooperationen (Blackbourn 2005: 53).

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dem Machthunger einiger deutscher Staaten geschuldet (Blackbourn 2005: 48). Das in der Ausweitung seines Machbereichs sehr erfolgreiche Preußen konnte den einmarschierenden französischen Truppen allerdings nicht lange widerstehen. Die gedrillte preußische „clockwork“ Armee war gegen deren ständige kleine Scharmützel machtlos; schon 1795 musste Preußen aus dem Bündnis gegen die französische Armee austreten und wurde 1806 demütigend geschlagen (Blackbourn 2005: 47). Jetzt begann in den besetzten Gebieten des Rheinlandes ein Crashkurs der Modernisierung (Blackbourn 2005: 54). Unter dem „Schatten von Frankreich“, das sich selbst zu der Zeit modernisierte, veränderten sich auch die deutschen Staaten, so dass sie 1815 nicht mehr wiederzuerkennende Versionen ihrer früheren Selbst waren (Blackbourn 2005: 38). Die Bürokratie wurde verbessert oder erst eingeführt und es kam zu einer relativ ungehinderten Akkumulation und Neueinteilung von Eigentum (Blackbourn 2005: 54). Rheinische Unternehmer etwa adaptieren die neuen Freiheiten schnell und erfolgreich, so in der Baumwollstoffherstellung (Blackbourn 2005: 55). Es waren aber immer noch sehr wenige Unternehmer, als Napoleon 1806 die Verschärfung der Kontinentalsperre ausrief. In jedem wichtigen Hafen auf deutschem Gebiet wurden englische Waren verbrannt, alle kommerziellen Zentren Deutschlands waren betroffen (Blackbourn 2005: 52 f.). Durch die Kontinentalsperre kam es zum sofortigen Rückgang der Exporte von Getreide und Rohstoffen nach England und der Importe von Stoffen und anderen Waren in die deutschen Länder (Blackbourn 2005: 52).111 Nach der Vorstellung Napoleons sollte Deutschland zum Lieferanten von Agrarprodukten und Rohmaterial für Frankreich werden. Weil die Stoffe der Weber in den deutschen Staaten wegen der fehlenden englischen Einfuhren gefragt waren und besser bezahlt wurden, erlebten die Weber einige gute Jahre (Zierer 1970: 159), bevor sich z.B. in Schlesien ihre Lebensbedingungen bis in die 1840er-Jahre immer mehr verschlechterten.112 111 Wie weit sich die Kontinentalsperre noch auswirkte, zeigt sich auch daran, dass in einigen Bereichen deutsche Betriebe ins Hintertreffen gerieten, weil z. B. in der schlesischen Textilbranche die Leinenindustrie ihre Exportmärkte in Südamerika und der Karibik hatte. Das muss wiederum Auswirkungen auf diese Länder gehabt haben. Auch für die USA hatte die Kontinentalsperre Auswirkungen (siehe dazu Kapitel 2.1). Die langfristigen ökonomischen Entwicklungen waren von dieser Zwischenphase für die deutsche Wirtschaft aber nicht beeinträchtigt (Blackbourn 2005: 52 f.). 112 In Sachsen konnte die Produktion in der Baumwollindustrie von 1806–1818 verzwanzigfacht werden (allerdings waren die Industriebetriebe oft nur als Schwindelfirmen für den Schmuggel aus England gegründet worden). In Thüringen, Sachsen, Schlesien forcierte man die Schafzucht und förderte die Einrichtung von Textilheimindustrien (Zierer 1970:

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Die französischen Einflüsse waren auch laut den ökonomischen Analysen Werner Sombarts dafür verantwortlich, dass Die deutsche Volkswirtschaft im neunzehnten Jahrhundert (so der Titel seines Hauptwerks) in der Rheinprovinz, Berlin und anderen Gebieten ihren Anfang nahm (1913: 112). Es verwundert dann nicht, warum Sombart vom Bourgeois schreibt und nicht vom Bürger [wie es Kocka verwundert, 1988a: 17], denn mit dem alten Stadtbürgertum hatte der Beginn des Kapitalismus hier wenig zu tun; wichtig waren die vor der Revolution und Napoleon geflüchteten Franzosen, die sich im deutschen Gebiet niederließen.113 Sombart ging davon aus, dass für die Entwicklung des Kapitalismus wohlhabende Schichten bestimmend seien. Weil reiche Leute ihr Geld für Luxusartikel ausgaben, habe die Steigerung der Bedürfnisse eine vermehrte Produktion von Waren in Gang gebracht (Sombart 1913: 104). Bei der Entwicklung in England hatte ebenfalls die gesteigerte Nachfrage nach Luxusgütern aus fernen Gegenden zur Verbesserung der eigenen Produktion und damit zu neuen Produktionsweisen geführt. Profitorientierte merchants, die am Import dieser Luxusgüter das Kapital für neue Unternehmungen verdienten, hatten die Industrialisierung vorangebracht (siehe dazu Kapitel 1.1). Da die deutsche Bevölkerung insgesamt eher kärglich lebte, waren es in den deutschen Fürstentümern zunächst diese wohlhabenden Emigranten, die den Kapitalismus beförderten (Sombart 1913: 104). Große Vermögen bildeten sich daneben durch Kriegslieferungen, Finanzoperationen und Handelstätigkeiten auch bei einigen etablierten Großhändlern, für welche die infolge der Kontinentalsperre geschaffene Monopolstellung der deutschen Seeplätze für das europäische Festland Vorteile erbracht hatte. Teils waren es auch Gewinne aus der Landwirtschaft, die durch den zuvor gestiegenen Export von Holz und Getreide nach England zusammengetragen worden waren (Sombart 1913: 77). Aber hier wie in den besetzten Gebieten fehlten oft noch die nötigen Arbeitskräfte und der entsprechende Absatzmarkt lag für die kapitalistisch produzierten Waren vorwiegend im Ausland (Sombart 1913: 78). Die industriellen Unternehmungen kamen weiterhin nur langsam voran. Eine jetzt im Vergleich zu Frankreich gleichzeitige Entwicklung in den besetzten Gebieten beeinflusste andere deutsche Staaten, allerdings meistens nicht besonders nachhaltig. So reagierte in Preußen Friedrich Wilhelm III. (Regierungszeit von 1797–1840) auf die den französischen Staatsbürgern im Code Napoléon

158). Viel wichtiger als die Textilindustrie wurden in Deutschland später andere Industrien, wie die Stahl- und Farbenindustrie (siehe dazu den Schluss des Kapitels). 113 In Hamburg ließen sich beispielsweise 8000 bis 10.000 Franzosen nieder, in Altona ca. 4000 (Sombart 1913: 76). Jetzt trafen Großhändler und kapitalkräftige Aristokraten aufeinander.

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verbrieften Rechte (Haupt 2006: 275). Er versprach 1807 seinen Untertanen eine Reform: freie Wahl des Gewerbes, einen freien Güterverkehr und die Auflösung der Gutsuntertanentätigkeit (Zierer 1970: 107). Die vom König gegebenen Versprechen auf eine Verfassung und mehr politische Teilhabe der Stände wurden nicht eingehalten (und nach 1815 wurden alle Reformbewegungen unterdrückt). Vor allem dem Adel zugesicherte Privilegien wie die ungleiche Besteuerung als die eigentliche Bremse für weitergehende Reformen wurden nicht angegangen: Monarchie, Aristokratie und Bürokratie konnten ihre Macht bestätigen. Damit wurden humanistisch gebildete Beamte nach wie vor höher geschätzt als vulgär praktizierende „men of trade“ ohne Universitätsbildung (Blackbourn 2005: 64 f.). Bürger oder Juden? Weil die halbherzige Ausweitung der ökonomischen Freiheiten in Preußen mit der Emanzipation der Juden zusammenfiel, hatte das vor allem für letztere Konsequenzen. Schon von Sombart war, nicht sehr nett formuliert, „die Einsprengung jüdischer Elemente“ als eine weitere wichtige Ursache für die Veränderung der Produktionsweise und der gesellschaftlichen Verhältnisse bezeichnet worden (1913: 112). Ab 1807 war in Preußen die seit den 1780er-Jahren – wieder als Reaktion auf die Entwicklungen in Frankreich – geforderte Tolerierung der Juden teilweise gewährt worden, auch wenn es noch keine volle Emanzipation gab (Blackbourn 2005: 33). Wie schon bei der Ansiedlung der vom französischen König Ludwig XIV. vertriebenen Hugenotten im 17. Jahrhundert ging diese Toleranz weniger auf aufgeklärte, liberale Ideen zurück, sondern von konkreten wirtschaftlichen Überlegungen aus. Die Restriktionen, die den Juden aufgezwungen wurden, um ihre Abschließung zu befördern, bedeuteten eine Einschränkung ihres ökonomischen Nutzens im Sinne des Merkantilsystems. Dieser Nutzen trieb die Judenemanzipation voran. (Claussen 2005: 100).

In Frankfurt/Main hatte sich innerhalb der Ghettomauern schon vorher eine innerjüdische Oberschicht von Handelsherren und Bankiers gebildet (Claussen 2005: 100). In den von französischen Truppen besetzten Gebieten trennten sich diese wirtschaftlich erfolgreichen Männer vom traditionellen Judentum. „Gerade die rheinländischen Juden sind auf dem Wege, ökonomisch in der bürgerlichen Klasse aufzugehen.“ (Claussen 2005: 101). Aber auch in Preußen begannen die inneren Auflösungserscheinungen der jüdischen Gemeinschaft dort, wo auch die fortschrittlichste Veränderung der Produktionsweisen festzustellen war. „Als die Juden im Ghetto leben mussten, schien die Geldmacht noch gezähmt.“ (Claussen 2005: 111). Als die Juden aus dem Ghetto heraustraten, gingen sie

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direkt von der mittelalterlichen Welt der Kleiderordnungen in die bürgerliche Gesellschaft114, in der sie formal frei waren jede Bekleidung zu tragen, die ihnen gefiel. Und doch unterlagen die Juden in der preußischen Gesellschaft, aber auch in den besetzten Gebieten, weiterhin zahlreichen Einschränkungen. Gerade für die Juden nahm in dieser Zeit der gesellschaftliche Anpassungsdruck zu, weil „Emanzipation in einem Atemzug mit Assimilation genannt“ wird (Claussen 2005: 102, Herv. A. M.). Es wurde Assimilation gefordert, keine Adaptation wie in England, aber auch keine Nachahmung wie in Frankreich (siehe dazu Kapitel 1.1 und 1.2).115

114 Zu den Kleiderordnungen allgemein siehe Kapitel 1.1. Juden waren zu bestimmter Kleidung gezwungen worden (Reich 2005: 172). In Frankfurt/Main hatten sie, wie der Autor Johann Konrad Friederich 1848 rückwirkend schrieb, „kleine Mäntel mit einem gelben Läppchen zu tragen, damit man sie schon von weitem als solche erkennen konnte, sie hatten sämtlich ein höchst elendes, kränkliches Aussehen, eine braungelbliche Hautfarbe, und waren fast alle mit ekelhaften Krankheiten und mit der Krätze behaftet, die natürlichen Folgen dieses Einsperrens in ungesunder Luft.“ (Friederich, zit. n. Bartetzko 1988: 224). Und der Schriftsteller Heinrich Heine schrieb: „Es war freilich den Frankfurter Juden damals eine bestimmte Kleidung gesetzlich vorgeschrieben, und zur Unterscheidung von den Christen, sollten die Männer an ihren Mänteln gelbe Ringe und die Weiber an ihren Mützen hochaufstehende blaugestreifte Schleier tragen.“ Heinrich Heine (1797–1856), selber aufgewachsen im freieren, weil von 1806–1813 durch französische Truppen besetzten Düsseldorf, bezog seine 1824 beschriebenen Kenntnisse über die Zustände im Frankfurter Ghetto während der letzten Jahre des 18. und des beginnenden 19. Jahrhunderts aus den Erinnerungen der Zeitgenossen. Er kannte aber auch das Frankfurter Ghetto aus eigener Anschauung, von Besuchen bei seinem älteren Kollegen Ludwig Börne (Heine, zit. n. Bartetzko 1988: 46). Zur Aussage über das Austreten aus den Ghettos möchte ich auf die freundliche Anmerkung vom Historiker Frank Stern zu meinem Vortrag beim Jewish Consumer Culture Congress in Washington 2015 verweisen. Er bemerkte dazu, dass es Ghettos nur in sehr wenigen Städten gab. Ich möchte diesen wichtigen Gedanken dennoch „am Extrem“ deutlich machen, wie es der Soziologe Siegfried Kracauer nannte, wo sich die Konflikte am deutlichsten zeigten und von dem her „die Wirklichkeit erschlossen werden“ kann (Kracauer (1959 [1930]): XIX ). 115 Auch wenn nicht Assimilation sondern Adaptation gefordert ist, d.h. die formal versprochene bürgerliche Freiheit, gibt es Zwang und Unfreiheit in der Gesellschaft (es ist eine Klassengesellschaft und die Bekleidung in dieser Gesellschaft wird in diesem Buch Uniform genannt). Aber das englische adaption geht in zwei Richtungen: being adapted als ein Prozess des Annnehmens und „adapting to new conditions, make something suitable for a new use or purpose“ (McKean 2005). Das ist keine starre Forderung zur vollkommenen Assimilation. Zur ganzen Auseinandersetzung mit der Adaptation, die in der amerikanischen Gesellschaft immer wieder ausgehandelt wird, siehe Truninger (2010). Die (falsche) Annahme eines zwanghaften und unfreien Nachahmens, das deutsche Dichter

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Ludwig Börne beschrieb in einem Manuskript von 1808, wie sich die Juden, aus dem Ghetto entlassen und in die Stadt gezogen, auf ihre „christlichen“ Nachbarn einstellten. Man hätte nun erwarten sollen, daß hierdurch der Haß der Bürgerschaft gegen die Juden würde zerstört werden. Denn man sah, daß die jüdischen Bewohner die Christenheit weder verpestet noch die Sitten ihrer Nachbarn verderbt hatten. Kein Feuer fiel vom Himmel, kein Erdbeben ward vernommen, kein furchtbarer glühender Komet drohte die ruchlose Stadt zu zerstören, wo Juden mitten unter ehrbaren Leuten wohnen. Man sah, daß der Jude kein so schlimmes Tier sei, das man wohl zu verwahren habe. Aber eben durch die Erkenntnis dieses blieb der Haß nicht bloß ungeschwächt, sondern er wurde immer mehr gestärkt. Denn wie es die Bosheit sonst bequem fand, die Juden verachten zu dürfen, um ihre Verfolgung damit zu rechtfertigen, so mußte ihr Herz ergrimmen, daß ihr diese Rechtfertigung entzogen ward. Denn die Lächerlichkeiten der Juden verminderten sich täglich. Es war nicht mehr Moses, dem der eklige Geifer von dem Barte träufelte, der mit schlotternden Beinen und gesenktem Haupte über den Markt schlich. Die Jungens hüpften froh umher, und ihre Röcke waren nach der neuesten Mode. (Börne 1808, zit. n. Bartetzko 1988: 203 f ., Herv. A.M.).

Doch in diesen Röcken nach der neuesten Mode, d.h. in der bourgeoisen Bekleidung, konnte den Juden die in Deutschland geforderte Assimilation nicht gelingen. Die höchste gesellschaftliche Anerkennung ließ sich hier nicht durch erfolgreiches betriebsames Handeln und das Tragen eines dress coats als Uniform der Bourgeoisie erreichen, weil die wichtigste Männerkleidung die Offiziersuniform war. Schon Offizieren mit gekauften Adelstiteln war eine dauerhafte Aufnahme in die militärische Sphäre verweigert worden (Barudio 1997: 255). Jetzt konnten Offizierspatente für Geld gekauft werden, doch damit nicht die

und Denker den Franzosen unterstellten, wurde von vielen Deutschen abgelehnt. Hier auf deutschem Gebiet wurde (und wird in Teilen auch heute noch, z.B. in der Diskussion zur Leitkultur) das völlige Verschmelzen verstanden, das genauso Sein wie die anderen. Damit wird beim Begriff Assimilation und der Forderung danach angenommen, dass etwas Unwandelbares, Unveränderliches, so etwas wie ein Status quo bestehe. Weil Gesellschaften sich immer wieder verändern, kann diese geforderte Assimilation nie gelingen. Weil sie theoretisch alles einschließen kann, werden bis heute immer wieder Kriterien gefunden, um Fremde und Vertraute, die dann zu Fremden gemacht werden, als Minderheiten auszuschließen. Dass etwa Georg Simmel ein Plädoyer für den Fremden schrieb, entsprang seiner eigenen gesellschaftlichen Erfahrung als dem zum Fremden gemachten und in der deutschen Gesellschaft immer wieder Ausgeschlossenen (Simmel 1908: 509 ff.).

Die Uniform der Bourgeoisie

uneingeschränkte Akzeptanz und schon gar keine Assimilation, weil die Träger der gekauften Uniformen nicht zur herrschenden Aristokratie gehörten. Zwar war in Preußen nach dem Desaster von 1806–1807 eine militärische Reorganisation nach französischem Vorbild eingeführt worden. Alle Privilegien von Geburt und Stand wurden in einem Dekret von 1808 für das Militär aufgehoben; nur noch nach professionellen Kriterien sollten Befähigung und Beförderung entschieden werden (Blackbourn 2005: 65). Ein Generalstab wurde eingesetzt, damit wissenschaftlich ausgebildete Strategen den altgedienten Haudegen zur Seite standen (Zierer 1970: 145). Tatsächlich fiel danach die Zahl der Aristokraten im Offizierskorps bis zum Jahr 1819 von 90 % auf etwas mehr als 50 % (Blackbourn 2005: 65).116 Die Juden hingegen konnten sich weiterhin nur ein eingeschränktes Patent als Offizier – und die damit verbundene Militäruniform – kaufen. Sie waren in der Preußischen Armee eigentlich nicht erwünscht, auch diese Modernisierung blieb auf halbem Weg stecken. Und sie bekamen sehr oft, wie in Frankfurt/Main, nur ein privatbürgerliches und kein staatsbürgerliches Recht, eine eingeschränkte, erkaufte bürgerliche Gleichheit (Claussen 2005: 116). Löwenthal hatte es in einem anderen Zusammenhang geschrieben, aber es passt auch hier: „Zu der Zeit, als das Bürgertum in Deutschland zu politischer Macht kam, war der Preis, den das Individuum für seine Anpassung zahlen mußte, schon sehr hoch.“ (Löwenthal 1990: 163). Und der hohe Preis, den einige Juden für eine eingeschränkte bürgerliche Gleichheit zahlen mussten, war auch deutschen Bildungsbürgern, darunter Goethe, gleich wieder sehr verdächtig. „Wer wisse denn nicht, ob bei alledem Bestechung eine Rolle gespielt habe; wer wisse, ob denn nicht der allmächtige Rothschild dahinterstecke?“ ( Johann Wolfgang von Goethe, zit. n. Claussen 2005: 116).117 Und so wie den durch Kauf veradelten bürgerlichen Offizieren unter Friedrich dem Großen (II.) keine dauerhafte gesellschaftliche Anerkennung im militärisch herrschenden Stand zugesprochen wurde, war auch der von jüdischen Neu-Bürgern bezahlte Preis für eine Bürgerschaft nie hoch genug, als dass die Anerkennung ihnen nicht immer wieder entzogen werden konnte. Als Friedrich Wilhelm III. sich zum Kampf gegen Napoleons Frankreich rüstete und 1813 in Breslau in der Schlesischen Privilegierten Zeitung, Nr. 34 seinen Aufruf An mein Volk! (Blackbourn 2005: 66) an alle Preußen und Deutsche

116 Aber der alte Korpsgeist der Offiziere war ungebrochen und die neuen Taktiken von jungen Offizieren wurden einfach ignoriert (Blackbourn 2005: 66). 117 Später wurde in Hessen, Mecklenburg und Preußen das Bürgerrecht der Juden erneut eingeschränkt; die Stadtstaaten Hamburg und Frankfurt/Main haben die bürgerliche Gleichstellung der Juden sogar wieder rückgängig gemacht (Zierer 1970: 241).

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richtete, appellierte er an die Deutsche Nation als Kollektiv, das übergeordnete Allgemeine. Einleitend entschuldigte er sich für die Niederlage und die Demütigungen der Franzosen und forderte seine Bürger und Bauern auf, alles für die Wiedererlangung der Freiheit zu tun. Nicht mehr in erster Linie für das Königshaus, sondern aus nationalen Interessen wurde das gesamte Volk zu größtmöglicher Opferbereitschaft aufgefordert (Zierer 1970: 174).118 Auch Juden fühlten sich von diesem Aufruf angesprochen und wollten im Volk zum Opfer bereit sein, denn „im internationalen Konflikt findet der Kampf um Anerkennung statt.“ (Claussen 2005: 127). Allerdings war es gleichzeitig ein innergesellschaftlicher Kampf, wenn auch noch kein nationaler Konflikt. Diese Gesellschaft war eine, in der sich die nach Anerkennung aufstrebenden Männer ins Militär einzurichten suchten, da dies in Preußen und dem Rest von Deutschland die, wie Löwenthal es formuliert hatte, „Sphäre des Kollektivverhaltens“ (1990: 153) war. Darum gab es auch Juden, die den Versuch unternahmen, sich in der hier anerkanntesten Männerkleidung, der Militäruniform, zu assimilieren. Die Juden, die gegen Napoleon kämpften, versuchten die von Bürgern immer heftiger geäußerte antifranzösische Stimmung, die bei vielen ihre antifeudale Kritik verloren hatte, für sich zu nutzen. Aber gerade weil sich jetzt das Antifranzösische mit dem Deutsch-Nationalen vermischte, musste dieser Versuch misslingen. Den Juden wurde am Ende des Krieges die angebliche NichtTeilnahme am bewaffneten Nationalkampf vorgeworfen, es war die „Ideologisierung des deutschen Freiheitskampfes gegen internationale Gleichmacherei“ (Claussen 2005: 134).119 Ludwig Börne, 1786 im Frankfurter Ghetto geboren, hatte diesen Entsolidarisierungseffekt der stadtbürgerlichen Gesellschaft gegen die Juden schon früher erleben müssen. Als einer der wichtigsten Vorkämpfer für die Emanzipation der Juden in Frankfurt/Main, hatte er nicht nur die Intoleranz des Frankfurter Bürgertums, sondern auch die Juden kritisiert, wenn sie sich gegen ihre eigenen Interessen verhielten (Claussen 2005: 118). Er nannte die nationalistische Bewegung gegen Napoleon eine „Befreiungskomödie“, denn indem sie Frankreich besiegte, habe sie das ausländische gegen das inländische Joch ausgetauscht (Börne, zit. n. Claussen 2005: 119). Er sollte Recht behalten. Die Judenemanzipation stoppte auf halbem Weg oder wurde verwässert 118 „Welche Opfer auch vom einzelnen gefordert werden müssen, sie wiegen die heiligen Güter nicht auf, für die wir sie hingeben, für die wir streiten und siegen müssen, wenn wir nicht aufhören wollen, Preußen und Deutsche zu sein“ (Zierer 1970: 174). 119 Erst mit dem Beginn der modernen Produktionsweise in der Klassengesellschaft konnte die Problematik von Individualisierung und Nivellierung, wie sie auch Goethe immer thematisiert hatte, für eine ganze Gesellschaft übernommen werden. Jetzt allerdings als Nationalisierung (wir, ein Volk) gegen die Internationalisierung (den Rest der ganzen Welt).

Die Uniform der Bourgeoisie

(Blackbourn 2005: 64). Manchmal während sie noch kämpften, hatte man ihren Vätern die bürgerlichen und politischen Rechte wieder entzogen. Viele der Juden, die gegen Napoleon gekämpft hatten, wurden gleich wieder „unter die Heloten gesteckt“ (Claussen 2005: 120), im Staate zwar sesshaft, aber keine Bürger, und an der Kleidung, dem Rock nach der neuesten Mode, für jedermann erkennbar. Gerade wegen der Forderungen an die Fremden oder die wieder zu Fremden bestimmten, wie hier die Juden, zeigt sich das Problem, den Anzug als Merkmal von Bürgerlichkeit zu bestimmen, ohne die historische Gewordenheit und im Vergleich zu anderen Gesellschaften die Differenz zum bourgeoisen dress coat zu berücksichtigen. Gerade wenn die heutigen Bürgertumsforscher darauf verweisen, dass die Emanzipation der Juden in Deutschland damit zusammenhing, dass sie die richtige Kleidung trugen: Der realhistorische Zusammenhang zwischen Bürgertum und bürgerlicher Gesellschaft zeigt sich entsprechend, wenn man fragt, wie man es anstellte, um voll dazuzugehören. Wie sich an der Geschichte der Juden in Deutschland vorzüglich demonstrieren läßt, gingen die Erringung voller Staatsbürgerrechte und der Aufstieg ins Bürgertum Hand in Hand. Das erste war ohne das zweite nur schwer zu haben. Die Forderung nach voller Gleichstellung als Staatsbürger konnten Juden erst dann klar erheben und allmählich realisieren, als sie nach Sprache und Bildung, Umgangsformen und Sitten, Reinlichkeit und Kleidung ‚bürgerlich‘ wurden. (Kocka 1988a: 39).120

120 Das Argument wird für diese Zeit auch noch weiter ausgedehnt auf die Arbeiter. „Vermutlich läßt sich derselbe Mechanismus an den Bemühungen der Arbeiter-Emanzipationsbewegung zeigen, die – bis zum Ersten Weltkrieg – auch deshalb weniger erfolgreich als die jüdische war, weil sich die proletarische Situation gegen volle Verbürgerlichung sperrte.“ Für Kocka waren es „Unselbstständigkeit, marktabhängige Unsicherheit, der manuelle Charakter der Arbeit, geringe Einkommen, beengte Wohnverhältnisse und die Notwendigkeit aller Familienmitglieder, zum Einkommen beizutragen [...] die einer wirklichen ‚Verbürgerlichung‘ der Arbeiter im 19.  Jahrhundert im Wege standen.“ (Kocka 1988a: 39). Dass in der militärisch-bürokratischen Elite, die charakteristisch war für Deutschland (Hobsbawm 1983: 10), zum einen immer noch die Uniform das wichtigste Kleidungsstück war, und die Arbeiter keinen Zugang zum Beamtentum hatten, wird nicht berücksichtigt. Auch dass viele Arbeiter im deutschen Kaiserreich aus einem proletarischen Bewusstsein heraus diese Uniformen nicht tragen wollten, weil ihnen sonst die Anerkennung in der einzigen Gesellschaftsgruppe abhanden gekommen wäre, die sie ihnen gab, findet auch keine Beachtung (siehe dazu ausführlich Kapitel 3.3). Und ist es nicht genau das Argument von den sich der bürgerlichen Gesellschaft verschließenden Gruppen, die sich nicht anpassen wollen, das in der aktuellen Debatte so gerne auf Migranten angewendet wird?

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Die richtige Kleidung für eine Anerkennung oder tatsächliche Gleichstellung wäre in der deutschen Gesellschaft nicht der dress coat, sondern die Uniform des Offiziers als anerkannteste Männerbekleidung gewesen. Die Anerkennung durch die herrschende Aristokratie wurde auch den erfolgreichen, wohlhabenden und betriebsamen Juden nicht gewährt, Militäruniformen konnten ihnen jederzeit wieder entzogen werden und da sie nicht in den Staatsdienst aufgenommen wurden, blieben ihnen Uniformen von Staatsräten oder Postbeamten genauso verwehrt. Der dress coat des erfolgreichen Bourgeois, der moderne Rock, wie Börne ihn nannte, war daher das einzige Kleidungsstück, das diese Männer tragen konnten, und er wurde nur von den in der deutschen Gesellschaft selbst weniger geschätzten „men of trade“ (Blackbourn 2005: 64), den Großhändlern, Unternehmern und den Bourgeois im Ausland, wirklich akzeptiert. Diese Männer dachten Anfang des 19. Jahrhunderts viel internationaler. Wer als merchant Akzeptanz finden wollte, musste über die eigenen, oft kleinen Staatsgrenzen hinaus denken, und erfolgreich wirtschaften. Erst mit dem größeren deutschen Markt begannen auch einige von ihnen national beschränkter zu denken oder die, die sich nationaler gebärdeten, konnten sich besser durchsetzen. Von den antisemitischen Bürgern wurde die sich für das neue betriebsame Handeln und die dazugehörige Produktionsweise langsam öffnende Gesellschaft als jüdische gebrandmarkt und als „Bourgeoisiegesellschaft“ bezeichnet (Claussen 2005: 107). „Die nationale Reaktion auf die Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft ist eine antisemitische“ (Claussen 2005: 134). Damit waren den Antisemiten und Nationalisten im Umkehrschluss die bourgeoisen Anzugträger als jüdisch verdächtig; gerade weil ihre dress coats nach der neuesten Mode waren. Die ökonomische Nützlichkeit der betriebsam denkenden merchants gefiel nur der Regierung. Die Juden, die profitabel wirtschafteten, wurden von nicht wenigen kärglich lebenden Theaterdichtern und Denkern sowie anderen Bürgern neidisch beäugt. Es blieb, wie Börne es aus eigener Erfahrung geschrieben hatte, „der Haß nicht bloß ungeschwächt, sondern er wurde immer mehr gestärkt.“ (1808: 203 f.) Der schwäbische Schriftsteller Wilhelm Hauff (1802–1827), Autor von Märchen, aber auch von Jud Süß (veröffentlicht 1827) und Mitglied der 1816 gegründeten Burschenschaft Germania, schrieb 1826 nach einem Aufenthalt in einem Frankfurter Gasthausgarten: Wir traten ein; da saßen sie, die Söhne und Töchter Abrahams, Isaaks und Jakobs, mit funkelnden Augen, kühn gebogenen Nasen, fein geschnittenen Gesichtern, wie aus Einer Form geprägt, da saßen sie vergnügt und fröhlich plaudernd und tranken Champagner aus saurem Wein, Zucker und Mineralwasser zubereitet, da saßen sie in malerischen

Die Uniform der Bourgeoisie

Gruppen unter den Bäumen, und der Garten war anzuschauen, als wäre er das gelobte Land Kanaan, das der Prophet vom Berge gesehen und seinem Volk verheißen hatte. Wie sich doch die Zeiten ändern durch Aufklärung und das Geld! Es waren dieselben Menschen, die noch vor dreißig Jahren keinen Fuß auf den breiten Weg der Promenade setzen durften, sondern bescheiden den Nebenweg gingen; dieselben, die den Hut abziehen mußten, wenn man ihnen zurief: ‚Jude, sei artig, mach dein Kompliment!‘. Dieselben, die von dem Bürgermeister und dem hohen Rat der freien Stadt Frankfurt jede Nacht eingepfercht wurden in ihr schmutziges Quartier. Und wie so ganz anders waren sie jetzt anzuschauen. Überladen mit Putz und köstlichen Steinen saßen die Frauen und Judenfräulein; die Männer, konnten sie auch nicht die spitzigen Ellenbogen und die vorgebogenen Knie ihres Volkes verleugnen, suchten sie auch umsonst den ruhigen, soliden Anstand eines Kaufherrn, von der Zeile oder der Million zu kopieren, die Männer hatten sich sonntäglich und schön angetan, ließen schwere goldene Ketten über die Brust und den Magen herabhängen, streckten alle zehn Finger, mit blitzenden Solitärs besteckt, von sich, als wollten sie zu verstehen geben: ‚Ist das nicht was ganz Solides? Sind wir nicht das auserwählte Volk? Wer hat denn alles Geld, gemünzt in Barren, als wir? Wem ist Gott und Welt, Kaiser und König schuldig, wem anders als uns?‘ (Hauff, zit. n. Bartetzko 1988: 212 f., Herv. A.M.).121

Ludwig Börne hatte es richtig erfasst, als er schrieb: „Ihr haßt die Juden nicht, weil sie es verdienen; ihr haßt sie und sucht, so gut ihr es könnt, zu beweisen, daß sie es verdienen, weil sie verdienen.“ (zit. n. Claussen 2005: 117). Über eine hohe Bildung und ein Studium versuchten einige der Männer den Weg zur gesellschaftlichen Anerkennung zu finden. „Der einzige Emanzipationsprozeß, bei dem man nicht abhängig von andern ist, bleibt der Bildungsprozeß, der einen Ausweg in die Zirkulation zu eröffnen scheint.“ (Claussen 2005: 134). Einen Ausweg eröffnen sollte ihnen über das Studium von Medizin oder Jurisprudenz der Weg in die Selbstständigkeit, durch die Einrichtung einer eigenen Praxis oder Kanzlei. Diese ökonomische Sphäre der Zirkulation war dann tatsächlich der einzige Ausweg, um sich als Jude profitabel einzurichten und Anerkennung zu finden. Denn über das Studium und die höchste Bildung

121 Als sie nicht mehr mit Kaftan, Schläfenlocken und Markierungen an der Kleidung he­ rumlaufen, also nicht mehr an Kleiderordnungen gebunden waren, wurden Mitbürgern angebliche Attribute ihres Jüdischseins auf den Kopf zugesagt und ins Gesicht geschrieben. Die Phrenologie begann Anfang des 19. Jahrhunderts, um über Schädel- und Gehirnform auf den Charakter zu schließen. Das war genau die Zeit, in der die Gesichter deutlich auffälliger wurden, denn die Männer hatten ihre Perücken und ihr Make-up abgenommen und angefangen Anzüge zu tragen.

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konnten weder die geforderte Assimilation noch eine gesellschaftliche Anerkennung erlangt werden, obwohl es nicht wenige darüber versuchten. Jahn’sche Turner Seit es die Reformen zur rechtlichen Gleichstellung gab, besuchten jüdische Studierende, darunter waren auch Ludwig Börne (1786–1837) oder Heinrich Heine (1797–1856) gewesen, in zunehmender Zahl die Universitäten. Doch auch dort wurden Emanzipation und Anerkennung im dress coat schwierig, weil sich unter den Studenten immer mehr Uniformträger fanden, die von den Jahn,schen Turnern beeinflusst waren. Viele Studenten hatten ihr Interesse an deutscher Sprache, Geschichte und Traditionen schon vor dem Krieg gegen Napoleons Frankreich entwickelt (Blackbourn 2005: 67). Dieses Interesse wandelte sich bei nicht wenigen in einen gesteigerten radikalen Nationalismus. Bei vielen Studierenden fand daher der Begründer der Turnbewegung, Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) mit seinen donnernden deutschtümelnden antifranzösischen und antisemitischen Phrasen Gehör (Zierer 1970: 241). Unterstützt wurden solche Stimmungen durch eine weit verbreitete „professorale Hetze“, „ohne die [...] die antisemitischen Aktionen nicht denkbar“ waren (Claussen 2005: 130). Diese jungen Studierenden grenzten sich über ihre Bekleidung in den Universitäten ab, einer Mischung aus Turnkleidung und Uniformversatzstücken, die sie aus dem Krieg gegen die Napoleonischen Armeen an die Bildungsinstitute mitgebracht hatten. Schon 1810 hatte Jahn und wenig später auch der Schriftsteller Ernst Moritz Arndt (1769–1860)122 eine Abgrenzung von Frankreich auch in der Kleidung propagiert und stellte dem französisch-aristokratischen Nationalcharakter den deutsch-bürgerlichen entgegen (Belting 1995: 143). Jahn trug einen grauen Drillichanzug,123 bestehend aus einer langen Hose und einem schlichten, völlig geschlossenen Leibrock, in der Art dessen, was man Gehrock nannte (von Boehn 1926: 113). Diese Kleidung war „einfach und zweckmäßig“ (Zierer 1970: 240): keine feinen Baumwollstoffe aus England oder Seidenstoffe aus Frankreich, sondern derber Drillich, der sehr wahrscheinlich aus deutschem Leinen hergestellt wurde. Turner-Bekleidungen waren dunkel, was daher kam, dass 122 Vgl. Arndt (1814). Zu Arndts Begriff vom Adel des Geistes, der Wissenschaft und der Kunst siehe Hardtwig (1992: 32  f.) und zur Bildungsschicht von 1750–1819 vgl. Hardtwig (1992: 19 ff.), zur Diskussion des Bildungsbürgertums insgesamt im 19. Jahrhundert vgl. Lepsius (1992). 123 Drillich, sehr robuster und strapazierfähiger Leinenstoff (oder Mischungen mit Leinen und Baumwolle), der häufig zu Arbeitsbekleidung, Hand- oder Tischtüchern verarbeitet wird.

Die Uniform der Bourgeoisie

Schwarz die einzige Farbe war, mit der sich durch Einfärbung der Alltagskleidung eine einheitliche Uniformfarbe herstellen ließ (Zierer 1970: 241).Wieder einmal wurde schlichte und einfache Männerkleidung unter dem Verzicht auf modische Variationen, wie bei Werther, attraktiv für Bürgersöhne. Und auch in dieser Zeit ließen es die schlechten ökonomischen Verhältnisse nicht zu, dass alle sich neue Kleider kauften, weswegen die Bekleidung einfarbig war, leicht einzufärben. Allerdings wurde diese Bekleidung nicht mehr, wie noch die von Goethe dem Werther zugeschriebene, von Männern in ganz Europa getragen, sondern von teutschen Männern, um sich vom Rest der Welt abzugrenzen. Diese Bekleidung war bei jungen Schülern und Studenten in den deutschen Ländern in den letzten Jahren des Krieges gegen Napoleon beliebt geworden und diese studentischen Jahn,schen Turner waren, als Friedrich Wilhelm III. das Volk angesprochen hatte, bereit, ihr Opfer für den Preußischen König zu bringen. Da sie nicht Teil der Armee waren, sondern ein Freikorps bildeten, machten sie sich im sogenannten „Räuberzivil“, d.h. in zusammengewürfelter Bekleidung, auf in die Schlacht. Sie kämpften für die Aufhebung ständischer Schranken, aber nicht gegen die Monarchie (Blackbourn 2005: 67); ihr erster Vorturner sollte der König werden. Jahn eilte unter dem Vorsatz: „Die Zeit ist angebrochen für die nationalen Schönredner, Großsprecher und ‚Teutschtümler‘“, mit diesen jungen, begeisterungsfähigen Männern in das befreite Schlesien. Er hielt sich selbst von den Kampfhandlungen lieber fern, aber Jahn war einer der aktivsten Werber für das Lützow,sche Freikorps (Zierer 1970: 177).124 Als diese von Jahn angeworbenen Schüler und Studenten aus dem Krieg gegen Frankreich zurückkamen, hatte sich ihre Turnerbekleidung mit den Uniformenversatzstücken der Regimenter vermischt – dem Räuberzivil. Darunter waren die Litewka der Lützower Jäger, der Husaren oder die bunten Röcke anderer Regimenter (Zierer 1970: 240). Einige trugen blaue Hosen der bayrischen Armee, Reiterstiefel und schwarze Jacken der preußischen Husaren oder weiterhin die Röcke der Turner (Zierer 1970: 241). Dann gab es die „Unbedingten“, wie sie sich nannten, die schwarze Uniformen und Bärenmützen trugen, auf denen der Totenkopf der Ziethen,schen Husaren zu sehen war. Diese Gruppe bekannte sich offen zum Antisemitismus und hielt sich auch mit gewaltsamen und direkten Aktionen nicht zurück (Zierer 1970: 242). Allen gemeinsam war, dass sie die farbigen Mützen nicht ablegten, ihre Uniformen weitertrugen und die Degen, Schläger und Rapiere behielten, wie einst die freien Akademiker 124 Vor allem beim Lützower Freikorps waren viele Turner. Aus den Farben ihrer Uniform – schwarze Röcke, rote Aufschläge und goldene Knöpfe – wurde die 1831 erstmals öffentlich geschwenkte schwarz-rot-goldene Fahne zusammengestellt.

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vergangener Tage (Zierer 1970: 240). Und in diesem Aufzug kamen sie als Studenten an die Universitäten zurück. Noch einmal ganz deutlich gesagt: Entscheidend war nicht, dass die national gesinnten Studierenden sich uniformierten, sondern dass diese Uniformen sich von Militäruniformen ableiteten. Diese studentischen Turner brachten so die nicht integrierende, sondern ausschließende Bekleidung der aristokratischen Herrschaft in die Bildungssphäre hinein. Jetzt wurde dort genau das, was die Dress-coat-Träger in der ökonomischen Sphäre ausgezeichnet hätte, das Absehen von Herkunft, Kultur und Religion, von den Korporationen an den Universitäten verachtet. Jüdische und kritische Studierende wurden als heimatlos, kosmopolitisch, international abgelehnt. Goethe hatte noch die Stärkung des Individuums gefordert, damit es sich nicht vom Kollektiv vereinnahmen ließe, er sah den Einzelnen noch positiv. Aber zur Mitte des 19. Jahrhunderts hin wurden an den deutschen Universitäten die Männer, die sich individuell kritisch gegenüber dem Kollektiv verhielten, von diesen Verbindungen immer stärker angefeindet. Jetzt sollte nicht mehr das einzelne Genie erhaben sein, sondern das Kollektiv, das gemeinsam andere Studierenden ausgrenzte und als weniger wert befand.125 Das passt viel besser zu der von dem Historiker Joachim Fest im ersten Abschnitt dieses Kapitels in Bezug auf Goethe gegebenen Definition von bürgerlich, als „mitleidloses Bekenntnis zu menschlichen Unterschieden, sogar zur Ungleichheit“ (zit. n. Bolz 2010: 80).126 Anders als das Kapital Geld, bei dem das schwierig war, konnte das Kapital Bildung jetzt immer stärker in nationale Grenzen gepackt werden (Blackbourn 2005: 67), wodurch es die nicht anerkannten hervorragend gebildeten Akademiker umso schwerer hatten, wenn sie diese Bildung zum Lebensunterhalt einbringen wollten. 125 In den Geisteswissenschaften und der Literatur hatte sich schon die Generation davor mit Individuum und Gesellschaft beschäftigt, durch den gesteigerten Nationalismus und die Ausgrenzung vieler in der versuchten Mehrheitsgesellschaft, die sich durch die Veränderung der Städte (Tönnies), die Vereinheitlichung des Konsums (Sombart) gefühlt verstärkte, wurde jetzt wieder kritischer darüber nachgedacht, wie das Individuum weniger unfrei sein könne, wie es sich stärker in einer nivellierenden Gesellschaft behaupten könne, z.B. ganz wichtig bei Simmel. 126 Hier sei noch einmal das ganze Zitat genannt: „Bürgerlich ist die Idee der Konkurrenz, des Exillierens auf allen Gebieten; bürgerlich der Wille zum Herausragenden und, daraus hervorspringend, der Sinn für individuellen Rang, auch für menschliche oder künstlerische Größe, der wiederum aufs engste mit dem zu tun hat, was man das bürgerliche Genie zur Bewunderung nannte. Und bürgerlich ist schließlich, dies alles zusammenfassend, die Faszination durch das Einzigartige, auf deren Grund ein schroffes, im Einzelfall oft mitleidloses Bekenntnis zu menschlichen Unterschieden, sogar zur Ungleichheit greifbar wird.“ ( Joachim Fest zit. n. Bolz 2010: 80).

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Der wegen der Reformen zur rechtlichen Gleichstellung jüdischer Studierender damit nur vermeintlich geöffnete Bildungsbereich wirkte ab dem Beginn des 19. Jahrhunderts aber auch deswegen einschränkend, weil merchants und betriebsame Unternehmer, als vulgär praktizierende „men of trade“, im Gegensatz zu den humanistisch gebildeten Beamten (Blackbourn 2005: 64) in der Regel keine Universitätsabschlüsse machten. Vom eigentlich bourgeoisen Bereich, dem Markt und dem individuellen Profitstreben, blieben die Akademiker damit ausgeschlossen, während ab 1813 auch über die Uniformierung die vorher getrennten Bereiche von Bildung und Militär eine enge Verbindung eingingen. Aber man kann nicht von einer Amalgamierung zu einer herrschenden Klasse sprechen wie in England, denn die Aristokraten behielten auch innerhalb der Bürokratie die höheren Positionen inne. Im Jahr 1815 gründete sich die erste Burschenschaft in Jena nach Jahns Vorbild und in dieser Verbindung wurden die Juden nicht zugelassen (Claussen 2005: 135). Für die Juden schien es zu dieser Zeit nur noch Taufe oder Exil zu geben, bei Börne und Heine war es sogar beides (Claussen 2005: 106). Börne hatte die nationalistische Bewegung gegen Napoleons Frankreich zu Recht eine „Befreiungskomödie“ genannt und nicht nur für die Juden war es ein Rückschlag. Auch für reformwillige und fortschrittlich Denkende war die Enttäuschung groß. Die deutschen Freiheitsfreunde jedoch, zu republikanisch gesinnt, um dem Napoleon zu huldigen, auch zu großmütig sich der Fremdherrschaft anzuschließen, hüllten sich seitdem in ein tiefes Schweigen. Sie gingen traurig herum mit gebrochenem Herzen, mit geschlossenen Lippen. Als Napoleon fiel, da lächelten sie, aber wehmütig, und schwiegen; sie nahmen fast gar keinen Teil an dem patriotischen Enthusiasmus, der damals, mit allerhöchster Bewilligung, in Deutschland emporjubelte. (Heinrich Heine, zit. n. Claussen 2005: 234).

Die deutsch-national gesinnten Studenten, die auch nicht zufrieden waren mit der neuen gesellschaftlichen Situation, die immer noch kein großes Deutsches Reich gebracht hatte, machte dagegen keinen Hehl aus ihrer Unzufriedenheit und feierte 1817, nicht weit von Weimar, auf der Wartburg das so berühmt gewordene Fest, sie lärmte und tobte, wo sich irgend Gelegenheit dazu finden ließ. So bezeichnete ihre Tracht, die man nicht mit Recht die ‚altdeutsche‘ nannte, die Jünglinge und jungen Männer als Vertreter einer ganz bestimmten Meinung politisch Unzufriedener. (von Boehn 1926: 113).

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Als einer aus ihrer Mitte, der Theologiestudent Karl Ludwig Sand (1795–1820), zwei Jahre später den Dichter August von Kotzebue (1761–1819) ermordete127 „erschien die ‚altdeutsche‘ Tracht, die der Mörder getragen und die Wohlwollende bisher nur belächelt hatten, wie die Uniform einer über ganz Deutschland verbreiteten Armee des Umsturzes.“ (von Boehn 1926: 113, Herv. A. M.).128 Das Tragen altdeutscher Röcke wurde an manchen Universitäten untersagt (z.B. an der Dresdener Akademie) und 1820 verbot sie König Friedrich Wilhelm III. für ganz Preußen. Jahn wurde 1825 wegen Bildung eines Geheimbundes verhaftet, doch schon 1840 rehabilitiert und zwei Jahre später auch das öffentliche Turnen wieder zugelassen (von Boehn 1926: 113).129 

Anfang des 19. Jahrhunderts brachten betriebsame merchants und entrepreneurs die moderne Produktionsweise voran und damit einher gingen mehr Träger des dress coats. Es dauerte, bis sich die wirtschaftlichen Verhältnisse in den deutschen Fürstentümern veränderten; wie viele europäische Länder, von Spanien bis Skandinavien, ging auch Deutschland den Weg langsamer Reformen (Blackbourn 2005: 33). Aber in der deutschen Gesellschaft wurde die neue Männerkleidung nicht nur vom herrschenden Stand, der Aristokratie, abgelehnt. Auch Dichtern und Denkern, manchem Bildungsbürger in seinen culottes, erschienen die Anzüge erst als französisch-bourgeois und, nachdem die Franzosen besiegt waren, als bourgeois-semitisch und damit untragbar. Dabei wurde ausgeblendet, dass gerade die Preußische Regierung im Militär die Modernisierungsbemühungen sehr erfolgreich durchsetzte, was sich wiederum auf die kommende Industrialisierung auswirkte. Die preußische Regierung griff in diesen Jahren weiterhin stärker als die englische (die eher eine Handelsund Zollpolitik betrieb) direkt in die Wirtschaft ein. Durch ein Zollgesetz aus dem Jahr 1818 bestanden im europäischen Vergleich relativ niedrige Zollsätze für importierte Textilien, weil die staatliche Verwaltung hoffte, durch die Zulassung der ausländischen Konkurrenz den Übergang zur Mechanisierung

127 Im Jahr 1819 wurde August von Kotzebue (1761–1819) von Sand ermordet (Rothmann 2003: 154), weil er angeblich ein Spion gewesen sei (Grabbe 1997: 74). 128 Goethes Reaktion darauf soll gewesen sein; „Glauben Sie ja nicht [...] daß ich gleichgültig wäre gegen die großen Ideen Freiheit, Volk, Vaterland! [...] Auch mir liegt Deutschland am Herzen; ich habe oft einen bitteren Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche Volk, das so achtbar im einzelnen und so miserabel im ganzen ist.“ (zit. n. Zierer 1970: 243). 129 Im Jahr 1848 nahm Jahn sogar an der Nationalversammlung in Frankfurt/Main teil (von Boehn 1926: 113).

Die Uniform der Bourgeoisie

des Textilgewerbes zu beschleunigen (Ditt 1992: 36).130 Diese Erwartung wurde nicht erfüllt, die einheimischen Ausfuhren sanken und die englischen Textilien eroberten zunehmend die deutschen Märkte. Aber solange Uniformen für das Militär in genügend hoher Zahl hergestellt werden konnten, war dies der Regierung ein eher unwichtiger Industriezweig. Von größerer Bedeutung als die Textilbranche war die Eisen- und Stahlbranche. Im Ruhrgebiet wurden neue Gruben erschlossen und Eisenhüttenwerke gebaut und in Essen gründete Friedrich Krupp (1787–1826) 1811 das erste GussStahlwerk, das er 1826 hoch verschuldet und mit gerade mal zwei Angestellten an seinen Sohn weitergab (Zierer 1970: 158). Im Unterschied zu Goethes Werther, dem der gesellschaftliche Aufstieg verweigert worden war, gelang er in dieser Zeit jungen Männern wie Alfred Krupp. Werther wurde in die Verzweiflung getrieben, weil sich ihm die Gesellschaft verschloß; in dem heraufkommenden expandierenden und expansiven 19. Jahrhundert öffnete die Gesellschaft ihre Tore für alle tatkräftigen Werthers. (Löwenthal 1990: 185).

Einer dieser deutschen Werthers war Alfred Krupp, der aus dem Gussbetrieb seines Vaters ein Imperium machte, das größte Stahlwerk seiner Zeit. Hier wurde Stahl in ungeheuren Mengen produziert, der vor allem für das Militär gebraucht und daher als Mengenproduktion in der Öffentlichkeit nicht so wahrgenommen wurde, wie das in anderen Bereichen erfahrbar wurde. Denn obwohl sich die Freiheit des Individuums in den deutschen Staaten nicht zu erfüllen schien, blieb die Idee von ihr mit der Angst vor der Nivellierung und der Kritik an der Produktion in großen Mengen aus dem 18. Jahrhundert erhalten. In der Leserevolution hatte sich die Anzahl an Büchern, Zeitungen und Zeitschriften enorm gesteigert (Blackbourn 2005: XV ). Dadurch gab es aber – und das darf dabei nicht übersehen werden – auch eine unternehmerische Lektürerevolution: Jemand verdiente daran, dass mehr Bücher gelesen wurden. Sogar hier, selbst auf dem einen Feld, wo sich im deutschsprachigen Raum unternehmerisches Denken und Handeln durchaus schon früh niederschlugen, in der Produktion von Büchern – und hier ist die Produktion von Büchern aus den Manuskripten der Dichter und Denker gemeint – hatte sich eine negative Einstellung dazu entwickelt. Weil gerade im Bildungs- und Kulturbereich Bücher und Theaterstücke schon unternehmerisch, d.h. mit Betriebsamkeit (Löwenthal 1990: 23), produziert wurden, hatte hier an der Mengenproduktion von Bildungsware Goethes Kritik besonders heftig angesetzt. 130 Erst 1879 schottete die deutsche Schutzpolitik den Markt ab (Ditt 1992: 36).

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Deutsche Bürger – Von Werther zu Jahn

Bei Goethe fanden sich die Kritik an der Massenkultur und Ansätze zur bis heute geübten Kritik an dem, was als Mode bezeichnet wurde und wird: Er kritisierte den Wunsch nach Abwechslung, Neuigkeiten, Sensationsbedürfnis, Mode mündete bei ihm in die ablehnende Betrachtung der organisierten Unterhaltung (Löwenthal 1990: 188). Damit nahm Goethe vorweg, was bis heute Kritiker der Unterhaltungsware für die Massenmedien beschreiben; er verurteilte diejenigen, die daraus Kapital schlügen, indem sie billige Ware anböten (Löwenthal 1990: 190): also die Großhändler (merchants) und Unternehmer (manufacturers). Goethes Gedanke, dass, wer nur mit schäbiger Kunst gefüttert wird, auch nur noch zu schäbigen Gedanken fähig sei, wurde später auf viele Bereiche, in denen die moderne Produktionsweise in Deutschland sich durchsetzte, angewendet – auch auf die Träger billiger Männerkleidung. Nur für die Militäruniformen, die ja schon viel früher standardisiert und im Manufakturwesen hergestellt wurden, galt diese Kritik noch lange nicht, weil sie durch ihren Aufputz die Standardisierung und damit die moderne Mengenproduktion verbargen. Sie entsprachen den Bedürfnissen der deutschen Gesellschaft und der sie beherrschenden Aristokratie und waren anerkannt. Zu genau dieser Zeit, Anfang des 19. Jahrhunderts, begann sich wie in Deutschland auch in den USA die moderne Produktionsweise langsam zu verbreiten. Damit kam dort allerdings eine ganz neue Männerbekleidung auf: ready-to-wear-suits (dt. Anzüge von der Stange). In der amerikanischen Gesellschaft wurde die Uniform der Bourgeoisie nicht nur different adaptiert, sondern so radikal verändert, dass sie als Uniform der Masse für jeden Bürger zu haben war – und dort Zustimmung und gesellschaftliche Anerkennung fand.

2. Die Uniform der Masse Die Uniform der Bourgeoisie traf im 18. Jahrhundert in der französischen und den deutschen Gesellschaften auf Widerstände der alten herrschenden Stände, die durch zugesicherte feudale Privilegien gesellschaftliche Macht und Herrschaft ausübten. Schon für die Durchsetzung der Bourgeois im dress coat in England galt nicht, was Kocka für die Entstehung von „so etwas wie ‚Bürgertum‘“ beschreibt: eine „scharfe Ausprägung des Land-Stand-Unterschieds, kräftige adelig-feudale Traditionen, deutliche Klassenspannungen, starke städtisch-stadtbürgerliche Traditionen, […] ethnische und konfessionelle Homogenität“, denn die Verbundenheit zum Landsitz war bei der Bourgeoisie in England ersichtlich, die sich mit Teilen der Aristokratie, der gentry, verband, anstatt deren Traditionen zu bekämpfen. Deutliche Klassenspannungen zeigten sich noch nicht, weil es noch wenige manufacturers und auch wenige industrial workers gab (das kommt dann im 19. Jahrhundert, siehe dazu Kapitel 3.1). Auf die französische Gesellschaft trifft das schon eher zu, allerdings war zu sehen, wie Vermischungen und Überlappungen eine solche eindeutige Zusage nicht zulassen. Doch die Gesellschaft, die den entscheidenden Einfluss auf die weitere Entwicklung der Männerbekleidung hatte und auch die Transformation von modernen Klassengesellschaften weiter beeinflussen sollte, war die amerikanische Gesellschaft. Und in den USA lassen sich die von Kocka genannten Merkmale, die heute in der deutschen Debatte zu den etablierten Wahrnehmungsmustern gehören, noch weniger finden als in der englischen Gesellschaft. Gerade die Entwicklung der standardisierten Produktion vor der Industrialisierung ist entscheidend, also bevor sich aus der deutschen Erfahrung heraus ab der Mitte des 19. Jahrhunderts deutliche Klassengrenzen zwischen manufacturer und industrial worker herausbilden konnten. Um das im Teil 1 dieser Arbeit erschlossene Argument weiterzuführen, wird im Teil 2 die Entwicklung von einer agrarische Güter produzierenden hin zu einer Industriegüter produzierenden Klassengesellschaft in den USA beschrieben. Die amerikanische Gesellschaft war bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine vorwiegend von betriebsam handelnden merchants geprägte, die mit dem von den Engländern beherrschten Weltmarkt verbunden war. Auch wenn rund 90 Prozent von der Landwirtschaft lebten, gab es keinen ausgeprägten StadtLand-Unterschied, weil nicht nur viele merchants in den Städten, sondern auch die farmer auf dem Land in den Markt eingebunden waren. Damit konnten die Amerikaner keine städtisch-stadtbürgerlichen Traditionen vorweisen und die adelig-feudalen Traditionen lehnten sie ab. Verbleibt als weiterer Punkt für das Entstehen von Bürgerlichkeit bei Kocka die ethnische und konfessionelle

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Homogenität. Aber bis heute gehört die über den Markt geregelte und daher freie Wahl der Religion zur besonderen Attraktivität der USA als Auswanderungs- und Einwanderungsland. Zu diesem besonderen Anreiz trägt aber vor allem auch die Möglichkeit bei, Amerikaner sein zu können, ohne seine ethnischen Wurzeln aufgeben zu müssen. Im Gegenteil, man kann darauf mit Stolz verweisen, sie müssen nicht geopfert werden, um Akzeptanz und Anerkennung in der amerikanischen Gesellschaft zu finden. Gründe dafür waren andere gesellschaftliche Entwicklungen, die nicht wie in Deutschland die unmögliche Assimilation in eine vermeintliche Mehrheitsgesellschaft forderten. Den eigenen gesellschaftlichen Bedürfnissen entsprechend, wurde in den USA die Uniform der Bourgeoisie so weiterentwickelt, dass die Einwanderer in dieser Minderheitengesellschaft sich freiwillig in Anzügen uniformieren konnten. Eine einheitliche Außendarstellung war gewünscht, um die privaten Unterschiede im Alltag verschwinden zu lassen. Ist aber dieser Anzug, der sich in den USA vom dress coat zum massenproduzierten ready-to-wear-suit entwickelte, den jeder Bürger erwerben konnte und der bei allen Männern Zustimmung und darum auch allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz fand, dann überhaupt ein bürgerliches Kleidungsstück? Er ist es, insofern er für das steht, was zur Verbreitung des Anzugs der Bourgeoisie geführt hatte und was die Attraktivität dieser Bekleidung bis heute ausmacht. In der heterogenen Einwanderergesellschaft konnte die freiwillige Adaptation in die Gesellschaft der Minderheiten im Anzug erfolgreich gelingen, weil sein Zweck war, ethnische, religiöse oder kulturelle Unterschiede im Alltag nicht zu zeigen. In der deutschen Diskussion wird Verbürgerlichung auch so verstanden: als Aufstieg und Verbesserung der Lebenssituation. Und doch wird die amerikanische Entwicklung der Männerkleidung, die selten genug mit untersucht wird, nicht unter diesem Aspekt betrachtet. Das hat damit zu tun, dass schon als die Uniform der Bourgeoisie sich langsam durchzusetzen begann, die ambivalente Haltung der deutschen Bildungsbürger zur Modernisierung und Mode als gegen die Entfaltung individueller Freiheit verstandene negative Nivellierung bestand. Alles, was für Viele in Massen gemacht wird, scheint suspekt, dass man sich freiwillig uniformiert (mit einer Mode mitzugehen gehört auch dazu und Mode ist vielen deutschen Intellektuellen bis heute verdächtig), ist eher unverständlich. Die mehr oder weniger freiwilligen Uniformierungen in den deutschen Gesellschaften waren durch den hohen Preis des Ausschlusses Vieler aus ihrer Gesellschaft bestimmt (siehe dazu Kapitel 1.3). Gerade weil die US-amerikanische Gesellschaft nicht mit den Problemen zu kämpfen hatte, die Kocka als Gründe für die Entstehung von Bürgertum beschreibt, konnte sich

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hier der Anzug als von verbürgerlichten Männern selbstverständlich getragenes Kleidungsstück viel schneller durchsetzen. Darum trifft die von Kocka gezogene Schlussfolgerung, dass mit der Entstehung von Bürgertum „deutliche Grenzen der Verallgemeinerbarkeit bürgerlicher Kultur“ (Kocka 1988: 33) gesetzt wurden, auf die ehemaligen englischen Kolonien nicht zu; hier fand die bürgerliche Uniformierung nicht nur gesellschaftliche Akzeptanz in der herrschenden Klasse, sondern konnte sich über die Bourgeoisie hinaus zur Uniform der Masse, d.h. des Großteils der gesamten Bevölkerung, entwickeln. Diese amerikanische Bevölkerung war im 18. und frühen 19. Jahrhundert, jener Zeit, in der das Bürgertum entstanden sein soll, den meisten Europäern fremd. Wobei es im 18. Jahrhundert mehr Leuten bekannt gewesen sein dürfte als Ende des 19. Jahrhunderts, als die Auswanderungsbewegungen aus deutschen Gebieten aufhörten. Das Bild, das die Europäer von den Siedlern in Amerika hatten, entsprach zumeist demjenigen, das auch die Engländer von ihnen zeichneten. In Englands vornehmen Kreisen hatte man sich schon im 18. Jahrhundert über Kleidung, Sprache und Manieren der englischen Kolonisten auf dem amerikanischen Kontinent gerne lustig gemacht. Yankee doodle went to town A-ridin’ on a pony Stuck a feather in his cap And called it macaroni Yankee doodle, keep it up, Yankee doodle dandy, Mind the music and the step, And with the girls be handy!

Das Lied über den Doodle-Dandy war ursprünglich ein Spottlied englischer Offiziere für die undisziplinierten und unorganisierten Yankees, die Mitte des 18. Jahrhunderts gemeinsam mit den Engländern auf dem nordamerikanischen Kontinent gegen Franzosen und Indianer kämpften (1754-1762).131 Diese Dandys 131 Der politische Gegensatz zwischen Frankreich und England, schreibt Sautter, übertrug sich auf Nordamerika, darum „verschmolz er hier natürlicherweise mit der handelspolitischen Rivalität. Pelzjagende Indianer und französische Pelzhändler auf der einen Seite, englischer Siedlungsdrang auf der anderen Seite, in dieser simplen Konstellation präsentierte sich der Antagonismus schließlich in der Mitte des 18.  Jahrhunderts.“ (1994: 69). Natürlich war das nicht, aber es zeigt die unterschiedlichen Bedürfnisse für die eigene Gesellschaft. Französische Einfuhren von Pelzen, für die prächtige Ausschmückung

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waren in den Augen vieler Engländer Hinterwäldler, die im agrarisch geprägten kolonialen Amerika vom Land in die Städte hätten reiten müssen, um etwas zu erleben und sich dafür auffällig – oder vermeintlich elegant – kleideten. Ihre Reittiere seien kleine Ponys oder kräftige Pferden gewesen, die auch für die Farmarbeit im Alltag eingesetzt wurden, während die englische Bourgeoisie auf hochgezüchteten Vollblütern Fuchsjagden, Pferderennen und andere sports betrieb (siehe dazu Kapitel 1.1). Aber nicht einmal die spöttischen Engländer hätten es den Kolonisten zugetraut, eine Feder mit einer Nudel zu verwechseln. Macaroni waren bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert die jungen englischen Gentlemen genannt worden, die sich auf ihrer grand tour von den italienischen Bekleidungsgewohnheiten inspirieren ließen. Bei ihrer Rückkehr nach England hatten sich diese jungen Männer dem Spott ihrer Väter und der Karikaturisten aussetzen müssen (siehe dazu Kapitel 1.1). Und die im Lied den amerikanischen Yankees zugeschriebene Art, durch das Verzieren ihres Hutes mit einer Feder einer dieser Modegecken sein zu wollen, war ein doppelt spöttischer Verweis darauf, wie unelegant und geschmacklos die Männer in den Kolonien sich kleideten. Ein Vorurteil, das gegen die Amerikaner bis in die moderne Zeit bestehen bleiben sollte. Mit dem in diesem Teil 2 vorgenommenen Blick auf die Veränderung der Produktionsweise lässt sich ein anderes Bild zeichnen. Schon die Siedler entsprachen nicht dem Bild hinterwäldlerischer Yankeedoodles, das viele Europäer von ihnen hatten. Als profitorientierte betriebsame Merchant Farmers (Kapitel 2.1) hatten diese Männer von Anfang an Markt- und Handelserfahrungen, ihre Agrargüter wurden schon früh für den Weltmarkt produziert. Der dress coat als die Uniform der Bourgeoisie wurde von ihnen anerkannt. Weil diesen merchants die gleichberechtigte Anerkennung in der englischen Gesellschaft verweigert wurde, kämpften sie mit für die Loslösung

der Aristokratie am Hof in Versailles, Aufbau von Rohstoffe liefernden Kolonien für den steigenden Bedarf in der englischen Gesellschaft. Es siegten die Engländer, dieser Krieg (1754–1762) beendete die französische Herrschaft in Nordamerika (vgl. dazu auch Adams 1977: 13). Die Rivalität der europäischen Großmächte, vor allem die Konkurrenz von Frankreich und England, hatte den Amerikanern letztendlich die Unabhängigkeit ermöglicht. Erst musste Frankreich Nordamerika bis zum Mississippi 1763 den Engländern überlassen, danach förderte die französische Regierung durch Waffenlieferungen und Anleihen ab 1775 heimlich, ab 1778 offen die Rebellion der Amerikaner und half den Aufständischen, sich gegen die Engländer durchzusetzen (Adams 1977: 23). Die dadurch angestiegene Verschuldung der französischen Monarchie führte dann zur Finanzkrise in der eigenen Gesellschaft und es folgte 1789 die Französische Revolution (siehe dazu Kapitel 1.2).

Die Uniform der Masse

der Kolonien von England. Die mit der Gründung der Vereinigten Staaten von Amerika errungenen Handelsfreiheiten vergrößerten die Anerkennung der merchants als amerikanische und steigerten ihren Einfluss in der herrschenden Klasse, den sie im darauffolgenden innergesellschaftlichen Machtkampf behielten. Für die weitere Entwicklung der amerikanischen Gesellschaft ist entscheidend, wie sich die Produktionsweise veränderte. Während die Industriegeschichte meistens mit der Textilgeschichte als dem Motor der Industrialisierung begonnen wird, war es in den USA die Bekleidungsindustrie. Hier waren die modernsten Produktionsweisen längst eingeführt, bevor die amerikanische Textilindustrie sich mit Massenproduktion der übermächtigen englischen Konkurrenz entziehen konnte. Die Bekleidungsgewohnheiten wurden den Bedürfnissen der neuen amerikanischen Gesellschaft angepasst. Die merchant farmers, die sich an der Uniform der englischen Bourgeoisie orientierten, hatten ein steigendes Interesse an guter Kleidung für wenig Geld, hier entwickelte die Herrenbekleidungsbranche daraus die ready-to-wear-suits. Die unter neuesten Produktionsbedingungen in der Bekleidungsindustrie hergestellten Anzüge konnten sich dann aber nur durchsetzen, weil New York,s Merchants (Kapitel 2.2) den amerikanischen Markt beherrschten. Und nur weil mit dem ready-to-wear die Massenfertigung von Männerkleidung möglich geworden war, konnte sich in den 1820er-Jahren der Handel damit auf das gesamte besiedelte Gebiet der USA ausweiten. Mit Massenproduzenten (Kapitel 2.3) verbindet sich aus europäischer und speziell deutscher Sicht (siehe dazu Kapitel 1.3) ein negatives Image. Das gilt gerade für die Modeliteratur, die sich mit der Entwicklung des ready-to-wearsuits selten beschäftigt, sondern in ihren Beschreibungen für das 19. Jahrhundert bei der englischen Geschichte der Männerkleidung verweilt und dann meist bei der Bekleidung der Bourgeoisie; die Betrachtung der Bekleidung der unteren Schichten fällt dadurch weg (siehe dazu Kapitel 3.1). Dass in den USA die Massenproduktionsweise entwickelt wurde, gehört zu den etablierten Wahrnehmungsmustern. Aber lange bevor der erste Ford T vom Band rollte, wurde das Prinzip des Fließbands für die Herstellung von Männerkleidung schon in den 1820er-Jahren erfolgreich eingesetzt. Nur mit diesem Verständnis kann aber erklärt werden, warum sich amerikanische Bekleidung für Männer und Frauen in Europa (unter dem Stichwort Amerikanisierung zwar erkannt, aber meist nicht von der Produktionsweise her begründet) weltweit durchsetzen konnte. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts strebten betriebsam denkende merchants und clothiers auf dem inneramerikanischen Markt bei ständiger Preissenkung die weitere Qualitätssteigerung ihrer ready-to-wear gefertigten Produkte an. Die für die Massenproduktion benötigten Massenproduzenten zu bekommen, blieb

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ein Problem, so dass die Neueinwanderer für die am schlechtesten bezahlten Arbeiten genommen wurden. Weil die Mobilität der Lohnarbeiter hoch blieb, wurden immer mehr Maschinen entwickelt, die es erlaubten, diese industrial workers trotz großer Fluktuation so einzusetzen, dass die bei der Massenproduktion notwendige konstante oder standardisierte Qualität erreicht wurde. Der steigende Bedarf an Textilien für die Ready-to-wear-Bekleidung hielt die Nachfrage hoch. Das nützte den im Schatten der englischen stehenden amerikanischen Textilfabrikanten, die sich mit der Entwicklung vom maschinellen Weben und der damit erstmals massenproduzierten Textilien, d.h. durch den Einsatz neuester Produktionsmittel, ab Mitte des 19. Jahrhunderts gegen die englische Konkurrenz behaupten konnten. Und die mit der erfolgreichen Industrialisierung wachsende Gruppe von industrial workers bekam gute und billige ready-to-wear-suits, weil die Bekleidungsindustrie hinter die von den merchant farmers eingeforderten Standards nicht mehr zurückgingen: als Uniform der Masse.

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Anfänglich glaubten die aus Europa ausziehenden Untertanen auf dem amerikanischen Kontinent ihr Eldorado zu finden,132 schnell verlegten sich die meisten jedoch auf die Erzeugung landwirtschaftlicher Produkte. Die englischen Kolonisten hatten dabei allerdings gegenüber den Bewohnern der Kolonien anderer europäischer Königreiche einen Vorteil, der im 18. Jahrhundert die Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise befördern sollte: Die englischen Kolonien waren nicht auf feudalen Herrschaftsprinzipien aufgebaut. Spanien, Portugal und Frankreich übertrugen ihre absolutistische Staatsform auf die Kolonien; Beamte hatten hier unbeschränkte Vollmachten, die sie teilweise noch rücksichtloser ausübten, da die Regierung des Mutterlandes weit entfernt war. Und noch Ende des 18. Jahrhunderts pflegten die spanischen, portugiesischen und französischen Kolonialregierungen sehr aufwändige Zeremonielle, unterhielten luxuriöse Höfe oder verbrauchten für die Feiern zur Einführung neuer Vizekönige, beispielsweise in Peru, enorme Summen (Smith 2003 [1789]: 482). So waren auch Kolonialisten durch diese Gewohnheiten dazu

132 Die von den ersten Entdeckern gemachten Angaben über große Gold- und Edelmetallfunde seien der einzige Grund gewesen sein, weswegen die spanische Krone eine weitere Inbesitznahme des amerikanischen Kontinents überhaupt erwogen habe (Smith 2003 [1789]: 472).

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gebracht worden, „bei allen Gelegenheiten Prunk und Aufwand zu treiben“ (Smith 2003 [1789]: 482).133 In den englischen Kolonien hatte sich eine von merchants dominierte Gesellschaft entwickelt (Smith 2003 [1789]: 513), die laut der Handelsstatistiken zu den wohlhabendsten Gebieten der Welt gehörte (Raeithel 2002: 171).134 Während in der englischen Gesellschaft zur herrschenden Klasse auch Aristokraten gehörten, die sich mit den betriebsamen merchants arrangiert hatten, waren die meisten Kolonien so von den merchants dominiert (Smith 2003 [1789]: 513), dass weder der englische Adel anerkannt wurde, noch sich vor Ort eine Aristokratie herausbilden konnte.135

133 Als schottischer Ökonom betont Adam Smith (1723–1790) bei diesen auffälligen Unterschieden zur Regierung der englischen Kolonien vor allem die enormen Kosten, die von den wohlhabenden Kolonisten für den Luxus aufgebracht werden mussten (Smith 2003 [1789]: 482). Das Problem lag für Smith vor allem darin, dass die Gewinne aus dem Handel mit ihren spanischen und portugiesischen Kolonien von den merchants aus Cadiz und Lissabon für einen luxuriösen und ausschweifenden Lebensstil verwendet wurden, weshalb weniger z.B. in gewerbliche Unternehmungen reinvestiert werden konnte als in England (Smith 2003 [1789]: 528). Aber auch in den Mutterländern selber spielten diese feudalen Ausschmückungen noch bis ins 18.  Jahrhundert eine viel wichtigere Rolle als in England, gerade weil sich deren Macht und ihr Einfluss verringert hatte (siehe dazu Kapitel 1.1). 134 Ihre Freiheiten im Handel waren größer als diejenigen der Händler jeder anderen Kolonialmacht. Diese Freiheiten im Handel umfassten die Freiheit, ohne Zollgebühren einheimische Waren fast jeder Art in beinahe jedes fremde Land auszuführen und Waren von einem Landesteil in den anderen zu transportieren, ohne irgendeiner staatlichen Behörde darüber Rechenschaft ablegen zu müssen oder einer Befragung und Überprüfung unterworfen zu sein. Dazu gehörte auch eine unparteiische Justiz, die die Rechte des geringsten englischen Untertanen schützen sollte und jeden Erwerb, egal welcher Art, anregte, weil sie dem Einzelnen „die Früchte seiner Arbeit“ sicherte (Smith 2003 [1789]: 513). Im Unterschied zu den Kolonisten der anderen Kolonialmächte mussten die Kolonisten der Engländer keine Grundrente und kaum Steuern entrichten, weder gab es Großgrundbesitzer, die ihren Ertrag teilten, noch eine Kirche, die einen Zehnten verlangte (Smith 2003 [1789]: 482). 135 Von den 13 Kolonien waren um die Mitte des 18.  Jahrhunderts noch drei, Maryland, Pennsylvania und Delaware formal nach feudalem Besitzrecht organisiert. In Connecticut und Rhode Island hatte sich die ursprüngliche Selbstregierung erhalten. In den anderen Kolonien bestimmte ein von der englischen Krone ernannter Gouverneur das Oberhaus. Nur in Massachusetts wurde seit 1691 das Oberhaus (council) vom Unterhaus (general court) gewählt (Sautter 1994: 67).

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Man achtet zwar in allen Kolonien, [...] den Sproß einer alten Kolonialfamilie mehr als einen Emporkömmling mit gleichem Verdienst und Vermögen, doch wird er lediglich mehr geachtet und hat keine Privilegien, mit denen er seinen Nachbarn behelligen könnte. (Smith 2003 [1789]: 492).

Es gab einige wenige Pflanzerfamilien auf den Großplantagen im Süden, die einen verschwenderischen Lebensstil hatten, aber ihr Konsum von Luxusgütern hing von der Kreditwilligkeit der Handelshäuser in London, Liverpool, Glasgow oder Bristol ab. Auch war der Erwerb auf die Agrarproduktion ausgerichtet, das Leben auf den Plantagen daher anders gestaltet, als das der Bourgeois in England, die in den Städten ihre Geschäfte machten und den Landsitz eher in Abwesenheit verklärten. In Amerika gab es freies Land im Überfluss und zuviel Natur, als dass die Kolonisten einen romantischen Blick darauf hätten werfen können. Wie von Besuchern des nordamerikanischen Kontinents dieser Zeit beschrieben, genossen die Reichen insgesamt einen wenig aufwändigen Luxus und die Armen lebten weniger trostlos. Die breite Mittelschicht, die von einer „Kaufmannsschicht“ in den Küstenstädten der Mittelkolonien und Neuenglands bestimmt wurde, hatte ihren Anteil am steigenden Wohlstand (Adams 1977: 28 f.). Aber, und das ist entscheidend, nicht nur die tradesmen oder mechanics in den Städten (Adams 1977: 28), sondern auch die von der Landwirtschaft lebenden Farmer, rund 90 Prozent der Bevölkerung136 (Raeithel 2002: 251), waren zu einem großen Teil selbstständige und betriebsam handelnde merchants, die schon im 18. Jahrhundert kein durch rustikale Selbstversorgung genügsames Leben führten, sondern durch Ungebundenheit und Marktgewinne zu Wohlstand kommen wollten (Sautter 1994: 127). Farmer im Dress Coat Die amerikanischen Farmer waren keine hinterwäldlerischen Yankee-doodles, weil hier die landwirtschaftliche Produktion mit einer in Europa zu dieser Zeit noch sehr seltenen Betriebsamkeit geführt wurde. Daher konnten diese Farmer mit den meisten Bauern der deutschen Fürstentümer, Frankreichs oder Englands [aber auch Spaniens und Portugals] nicht verglichen werden. Gerade weil sich schon in der englischen Gesellschaft das betriebsame Denken der merchants durchgesetzt hatte, gewannen die Kolonisten von Anfang an Markt- und 136 Fünf Millionen Einwohner insgesamt, darunter eine Million Schwarze, und die Mehrzahl war im Land geboren, denn gegen Ende des 18. Jahrhunderts war die Einwanderung recht dünn gewesen (Raeithel 2002: 251). Das soll laut Grabbe u.a. damit zu tun gehabt haben, dass sich die Ernährungslage in Europa verbessert hatte (1990: 140).

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Handelserfahrungen, die selbst den meisten Einwohnern Europas noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus nicht zugänglich waren (Chapman 1992: 135). Als Folge beider Entdeckungen sind indes die Handelsstädte Europas nicht mehr allein Produzenten und Händler für einen höchst kleinen Teil der Welt, sondern auch Hersteller von Waren für die vielen unternehmerischen Pflanzer in Amerika und die Außenhändler sowie in gewissem Sinne auch Produzenten für nahezu alle Länder Asiens, Afrikas und Amerikas. Zwei neue Welten sind für die europäische Wirtschaft erschlossen worden, jede weit größer und ausgedehnter als die alte, und der Markt der einen wächst noch von Tag zu Tag mehr. (Smith 2003 [1789]: 527, Herv. A. M.).

Vor allem für die englischen merchants war das eine vorteilhafte Situation, weil ein Teil der von den Farmern produzierten Agrargüter ausschließlich über Englands Häfen gehandelt werden durfte.137 Dazu gehörte, neben Getreide, die von

137 Es war gerade unter Cromwells bürgerlicher Regentschaft gewesen, dass sich die englische Regierung verstärkt ihren Kolonien zuwandte und die Navigationsakte erließ, die diese Vorschriften des ausschließlichen Handels über Englands Häfen beinhaltete. Der Handel nach England war während der Kolonialzeit auf Rohstoffe und grobe Halbfertigwaren beschränkt gewesen (Smith 2003 [1789]: 487 f.). Das Ausland wurde gezwungen, englische Kolonialwaren über englische Märkte zu kaufen, was wiederum den Aufschwung der englischen Wirtschaft förderte (Smith 2003 [1789]: 499). Der Kolonialhandel stieg ständig und die englische Exportwirtschaft stellte sich überwiegend auf den fernen Markt der Kolonien ein, weil hier keine Konkurrenz zu fürchten war (Smith 2003 [1789]: 501). Eine Beeinträchtigung lag darin, dass die merchants einen Teil des Kapitals dem Handel mit Europa und den Mittelmeerländern entzogen und in den Warenaustausch mit Amerika lenkten. Die neuen Kolonien litten unter Kapitalmangel, Kapital brauchten sie zur Erschließung und Kultivierung des Bodens. Die Kolonisten bemühten sich, soviel wie möglich vom Mutterland zu leihen und sich zu verschulden. Mit der Rückzahlung des Geldes an wohlhabende Leute oder Geschäftspartner konnten sich die Kolonisten in Amerika länger Zeit lassen, als die europäischen Handelspartner der Engländer (Smith 2003 [1789]: 504 f.). Durch diesen Abfluss von Kapital nach Amerika, sollen die merchants weniger in England investiert haben, aber auch weniger in Kontinentaleuropa. Die Frage wäre, ob dadurch die europäischen Nachbarländer schneller zu Industrienationen werden konnten. Ein Großhändler aus Hamburg musste sein für den amerikanischen Markt bestimmtes Leinen nach London senden und konnte nur über diesen Hafen beispielsweise Tabak für den eigenen Markt beziehen. So floss das Kapital durch den für ihn kurzen Handelsweg schneller wieder zu ihm zurück, als das Kapital der englischen merchants, die den Fernhandel mit Amerika betrieben (bis zu drei Jahre, anstatt eines Jahres innerhalb Europas). Auch wenn der Gewinn dadurch geringer war, konnte der Hamburger Großhändler sein Kapital schneller

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den englischen manufacturers immer stärker angeforderte Baumwolle (Smith 2003 [1789]: 487 f.).138 Weil daraus in den englischen Unternehmen mehr Stoffe produziert werden konnten, als im eigenen Land verbraucht wurden, verkauften die merchants aus England ihre Überschüsse mit hohem Gewinn in ihren kolonialen Märkten (Smith 2003 [1789]: 499, auch Zakim 2003: 14). Durch diese frühe Integration in den englischen Markt (Zakim 2003: 14) hatten nur die ersten Kolonisten in Amerika ihre Stoffproduktion eigenständig organisieren müssen. Mit Ausnahme derjenigen in den entlegensten Grenzgebieten (frontier139), waren im 18. Jahrhundert allen Amerikanern die Fabrikate aus England zugänglich (Kidwell/Christman 1974: 21). Das Volumen an Stoffexporten aus England nach Amerika stieg mit jedem Jahr an, um 1728 nahmen die dort lebenden Kolonisten bereits mehr als ein Sechstel der gesamten Produktion englischer Wollmanufakturen und das Doppelte an Leinen und Kaliko (Baumwollstoff ) ab (Zakim 2003: 14). Vornehmlich von Engländern, die sich in den Kolonien aufhielten, oder von durch den Handel mit ihnen reich gewordenen Kolonisten, wurden die luxuriösen Stoffe gekauft (Vgl. Zakim 2003: 1 ff.). The rich took full advantage of the increasingly sophisticated English textile industry and purchased superfine woolens, brocaded silks, quality cottons, and the exciting printed calicos imported from England’s other major colony, India. (Kidwell/Christman 1974: 21).

Der Großteil der Stoffe wurde jedoch von den betriebsam denkenden Farmern gekauft, „die vielen unternehmerischen Pflanzer in Amerika“, die schon Adam Smith als Kunden für die Fertigwaren aus Europa berücksichtigt hatte (2003 [1789]: 527).140 Das hieß aber im Umkehrschluss, dass die Kolonisten etwas wieder investieren, als wenn er direkt im Fernhandel tätig gewesen wäre. Das wiederum, so Smiths Argument, wäre für den Wohlstand seiner Nation von Vorteil gewesen (2003 [1789]: 528). 138 Getreide wurde von Anfang an in den englischen Kolonien weit über den eigenen Bedarf angebaut. Einerseits konnte dadurch eine ständig wachsende Bevölkerung in den Kolonien selber gut ernährt werden, andererseits wurde von Beginn an nach England exportiert (Smith 2003 [1789]: 485). 139 Die frontier ist das US -amerikanische Symbol für ökonomische Expansion und unbegrenzte Möglichkeiten (Whiteclay Chambers 1980: 7). 140 Nur Familien, deren Farmerträge so dürftig waren, dass keine Überschüsse verkauft werden konnten, mussten Stoffe selber herstellen. Diese handgefertigten Textilien unterschieden sich von den maschinell gesponnenen in der Textur, in der Glätte etc., vor allem auch in den Mustern und Farben (Kidwell/Christman 1974: 23), die Stoffe waren meist einfach und grob gearbeitet. Die von den Ärmsten daraus gefertigte Kleidung war auffällig.

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besitzen mussten, für das sie Waren kaufen konnten. Die Großpflanzer aus dem Süden handelten direkt mit den englischen merchants und bekamen wohl auf Kredit die begehrten Güter von ihren Londoner Händlern. Die in allen Kolonien verteilten kleinen Farmer brauchten Geld, um Waren kaufen zu können, weil sie ihre Stoffe bei den lokalen Anbietern bezogen. Aus europäischer Perspektive könnte man denken, dass es auf den Farmen genügend Möglichkeiten gegeben hätte, Stoffe herzustellen. In den amerikanischen Kolonien war es aber immer schwierig gewesen, Arbeitskräfte zu bekommen, um das Land urbar zu machen und zu bebauen. Und gerade in der Landwirtschaft wurden viele Arbeiter benötigt, weswegen es für die amerikanischen Kolonisten billiger war, Manufakturwaren einzukaufen (Smith 2003 [1789]: 512), als sie selbst herzustellen. Und darum hatten die Beschränkungen durch die englische Regierung, Waren aus der englischen Produktion zu kaufen, schon in den Kolonialzeiten den Kolonisten kaum geschadet. Aus England konnten feine und veredelte Produkte bezogen werden (Smith 2003 [1789]: 489), weil Geld dafür vorhanden war oder Kreditwürdigkeit bestand, da die Nachfrage nach Rohstoffen, wie der dringend benötigten Baumwolle, für die englische Textilindustrie immer weiter anstieg. Dass den Amerikanern die modern, also teilweise maschinell gefertigten Stoffe als Importgut sehr willkommen waren, unterschied die Kolonien von anderen Gegenden. In Ländern wie Frankreich oder Preußen sprengten die englischen Importe die eigenen Produktionsgrenzen; vor allem die manuell produzierenden Handwerker in den organisierten Zünften und Gilden sahen ihre ständisch bestimmte, beschränkte Produktion in Gefahr und riefen zum Widerstand gegen die Einfuhr von Stoffen auf (Schule-Gävernitz 1892: 31). In Amerika stießen die Einfuhren dagegen auf weniger Widerstand, weil die Aneignung der Kolonien als Markt mit der beginnenden Ausbreitung der Textilproduktion in England zusammengefallen war. Zum einen hatten sich in den englischen Kolonien Einzelwirtschaften nur in sehr geringem Ausmaß herausgebildet, so dass sie nicht von Bedeutung waren. Zum anderen gab es einfach zu wenige Handwerker in den Kolonien, die sich zünftisch hätten organisieren können. Und ansonsten waren auch die Handwerker, wie die Farmer, unter den differenten gesellschaftlichen Verhältnissen Teil eines wirtschaftlich und betriebsam denkenden Lebens, in dem verkauft und gekauft wurde. Sie waren damit Teil des Marktes, der für die europäische Wirtschaft erschlossen worden war und der von Tag zu Tag weiter wuchs. Und Neuankömmlinge wurden akzeptiert, solange sie diese Marktorientierung annahmen, sei es als Farmer oder Lohnarbeiter, tradesman oder mechanic.

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Unter diesen gesellschaftlichen Bedingungen konnte es nur der dress coat der merchants sein, der die größte Akzeptanz als Männerbekleidung fand. Wie im ersten Teil zur Uniform der Bourgeoisie ausgeführt, war von Löwenthal das bourgeoise Verhalten als „richtige“ Einordnung in die Sphäre des Kollektivverhaltens beschrieben worden (Löwenthal 1990: 153). In der englischen Gesellschaft hatte sich der dress coat innerhalb der Bourgeoisie durchgesetzt, weil die gesellschaftliche Akzeptanz des betriebsamen Denkens und Handelns der entrepreneurs und merchants groß war; die bürgerliche Gesellschaft forderte ein unternehmerisches, betriebsames und freies Handeln der Einzelnen (siehe dazu Kapitel 1.1). In der französischen und deutschen Gesellschaft wurde dieses unternehmerische Denken und Handeln von vielen abgelehnt: von den Regierungen, die die Produktion staatlich lenken ließen, von Handwerkern in Paris, den Zünftlern in Schlesien oder von einigen deutschen Dichtern und Denkern aus Weimar oder anderen Kleinstädten. Von diesen Männern wurde das betriebsame Denken und die entstehende neue Produktionsweise als eine radikale Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse aufgefasst und daher letztendlich eher widerwillig angenommen (siehe dazu Kapitel 1.2 und 1.3). In den englischen Kolonien Nordamerikas war das genau umgekehrt: Ein Mann ohne betriebsames, unternehmerisches Wollen und Leisten fand in diesem Teil von Amerika keine gesellschaftliche Akzeptanz. Hier wurde der Besitz von Besitz (siehe dazu Kapitel 1.3, Dichter und Denker, vor allem S. 71) von Anbeginn mitgedacht, weil er zur Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft gehörte. In den deutschen Staaten des 18. Jahrhunderts waren die betriebsamen Bourgeois gesellschaftlich weniger anerkannt als beispielsweise gebildete, aber arme Beamte. In den englischen Kolonien beanspruchten neben den farmers auch die Akademiker oder entrepreneurs Anerkennung, weil sie sich, wie die betriebsamen merchants, einzuordnen verstanden. Die Akademiker und Intellektuellen, auch die Ladenbesitzer usw. waren ja meist Söhne von merchant farmers gewesen. Ihre gesellschaftliche Akzeptanz mussten diese Männer nicht, wie die deutschen, in der militärischen Sphäre erringen; zwangsweise Uniformierung lehnten sie ab.141 Sie wollten diese Anerkennung auch nicht bei Aristokraten finden, was sich in der Nachahmung aristokratischer Bekleidungsgewohnheiten ausgedrückt hätte, wie sie sich in Frankreich in dieser Zeit deutlicher zeigte (siehe dazu Kapitel 1.2).

141 Erst gab es lange eine Freiwilligenarmee, Offiziere bis zum Rang des Hauptmannes wurden demokratisch gewählt (Sautter 1994: 86). Und der amerikanische Ökonom und Soziologe Thorstein Veblen schrieb, dass sich die Antipathie der Amerikaner gegen alle Formen von Uniformen richtete (2001 [1899]: 61). Der Anzug ist bei ihm allerdings keine Uniform (siehe dazu Kapitel 3.2).

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Denn Aristokraten bekamen in den Kolonien keinerlei Privilegien, die sich profitabel ausgewirkt hätten. In den Kolonien dominierten die merchants, und sie wollten auch als betriebsame merchants mit den gleichen Freiheiten und Rechten in der englischen Gesellschaft anerkannt sein. Darum war das Auftreten in den Kolonien eher schlicht, es konnte auf den Einfluss der englischen merchants seit der Mitte des 17. Jahrhunderts zurückgeführt werden (Cobrin 1970: 15).142 Aber nicht das allein war es, warum die Uniform der Bourgeoisie in der amerikanischen Gesellschaft bei Männern aus allen Gesellschaftsschichten, vielen Religionen, vielen Regionen der Welt so attraktiv war. Es war das bourgeoise Moment an der Kleidung, denn die in Amerika tätigen merchants hatten alle eine Einwanderergeschichte und beanspruchten durch ihre heterogene Zusammensetzung schlichte, neutrale Kleidung. Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts hatte der monopolistische Kolonialhandel zu beiderseitigem Wohlstand geführt; in der Gesellschaft von Produzenten galt es, den eigenen Profit zu vermehren und als Kunden zu kaufen. Die erfolgreichen amerikanischen Kolonisten engagierten sich daher im 18. Jahrhundert für eine gleichberechtigte Teilhabe in der englischen Gesellschaft, gekleidet wie die Männer der herrschenden Klasse: im dress coat. Die transatlantischen Beziehungen wurden erst dann problematisch, als den betriebsamen merchants in den Kolonien die gesellschaftlich gleichberechtigte Akzeptanz (und der gleiche Anteil am Wohlstand) in der englischen Gesellschaft verwehrt wurde.

142 Für Smith drohten Ende des 18. Jahrhunderts auch die Londoner merchants, im Vergleich zu den von ihm löblich hervorgehobenen Amsterdamer merchants, sich in Lebensführung und Charakter zu verändern, auch wenn er durchaus noch Unterschiede zu den portugiesischen und spanischen merchants sah. „Die Londoner Kaufleute sind zwar in der Regel noch nicht zu so prachtliebenden Lords geworden wie die in Cadiz und Lissabon, doch sind sie im allgemeinen, im Vergleich zu den Amsterdamern, nicht solch bedachte und sparsame Bürger, obwohl viele von ihnen angeblich wesentlich reicher sind als die meisten der ersteren und nicht ganz so wohlhabend wie viele der letzteren.“ (Smith 2003 [1789]: 515  f.) Indem er aufwändige Lebensstile kritisiert, weil die merchants ihre Gewinne so nicht zum Wohle aller reinvestierten, stellt sich Adam Smith auch gegen das von Bernard Mandeville (1670–1733) in The Fable of the Bees: or, Private Vices, Publick Benefits geführte Argument, mit dem dieser gegen die bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts vorherrschende genussfeindliche und sparsame Lebensweise anschrieb: Nur ein verschwenderischer Egoismus, also das Laster, führe zu nationalem Wohlstand (Kaye 1988: xlix). Aber auch wenn sich die herrschende Klasse in England vielleicht schon luxuriöser kleidete als die Amsterdamer merchants, trat sie im dress coat auf. Vielleicht war Adam Smith mit seiner Sorge vorausschauender, als man meinen möchte, denn eine neue Art der luxuriösen Entfaltung, allerdings nicht mehr für den Erhalt feudaler, sondern bourgeoiser Macht, kam im 19. Jahrhundert mit der invention of fashion tradition in England auf (siehe dazu Kapitel 3.1).

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Jetzt wurde die englische Politik immer mehr als Einschränkung des Handels durch die englischen merchants empfunden, und das zeigte sich an einer zunehmenden Belastung ihrer Handelsbeziehungen (Sautter 1994: 77).143 Und obwohl es Tee und Zucker waren, die als Auslöser der Unabhängigkeitsbewegung bekannt wurden, war auch die Abhängigkeit von den Stoffimporten aus England einigen Amerikanern nicht mehr willkommen und es gab Versuche, die Importe zu boykottieren. Homespun Schon in der Vorphase der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung hatte sich mit einer um 1760 unter dem Namen homespun begonnen Aktion eine bewusste Opposition gegen die Einfuhr englischer Stoffe gebildet. Die Homespun-Bewegung war gegen die von den englischen merchants dominierte Regierung im Mutterland gerichtet, gegen den Import von Gütern und die Abhängigkeit von ihren Textilien (Zakim 2003: 2).144 Es waren vor allem politisch aktive und gebildete Amerikaner, die die Handweberei im Protest gegen die englischen Kolonialherren propagierten, wichtige Vertreter der Unabhängigkeitsbewegung waren darunter.145 Ihre Frauen sollten ihre Fähigkeiten nutzen und wieder (oder erstmals) Stoffe für ihre Männer herstellen. Die Daughters of Liberty (DoL), gegründet von Abigail Adams (1744–1818), der Frau des späteren 2. Präsidenten John Adams und Mutter von John Quincy Adams, dem 6. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, begannen eifrig zu spinnen. Die Familie von George Washington unterstützte die Bewegung, auch Benjamin Franklins Frau war Mitglied der DoL, Franklin selbst publizierte auch unter dem Pseudonym „homespun“. In den Südstaaten beteiligten sich Plantagenbesitzer an 143 Die 1733 erlassenen hohen Schutzzölle auf Zucker, Rum und Melasse aus dem nichtenglischen Westindien waren noch wenig wirksam in den Kolonien, der 1764 erlassene Grenvilles Sugar Act dagegen traf vor allem die amerikanischen merchants. Einen Einfuhrstopp für sämtliche englischen Waren hatte 1768 als erstes Virginia erlassen, dem die anderen Kolonien nach und nach folgten, so dass sich Ende 1769 alle außer New Hampshire dem Boykott angeschlossen hatten (Sautter 1994: 77 ff.). 144 Mahatma Gandhis (1869–1948) berühmter Boykottaufruf gegen englische Textilien im April 1919, war auch eine Homespun-Bewegung im indischen Unabhängigkeitskampf. Gandhi selber sah man seitdem nur noch in selbstgesponnene Baumwolltücher gewickelt – Gewobener Wind. (Zur Ausschaltung der indischen Konkurrenz durch die englischen Produzenten im 18. Jahrhundert, siehe Kapitel 1.1). Weniger bekannt ist, dass dasselbe politische Instrument schon mehr als 150  Jahre früher von den Amerikanern versucht worden war (Zakim 2003: 2). 145 Von den Graduierten des Harvard College von 1768 weiß man, dass sie homespun bei ihrer Abschlussfeier trugen (Zakim 2003: 12).

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der Homespun-Bewegung, mit einigem Stolz trugen sie so die Produkte ihrer eigenen Plantagen (Zakim 2003: 12 f.). Aber neben den politisch motivierten Verfechtern von Selbstgesponnenem waren auch farmers an dieser Mittelschichtsbewegung beteiligt, die die Fabrikation zuhause aus Profitinteresse organisierten (Zakim 2003: 16). „Similarly, homespun yarns and cloths were often exchanged directly for imported fabrics of finer quality, the homespun then being marketed elsewhere in the empire.“ (Zakim 2003: 17). An die englischen Stoffe gewöhnt, gefielen diesen profitorientierten Farmern die handgemachten Stoffe nicht so sehr; auch George Washington war da wohl schon etwas empfindlicher, denn er soll bei seiner Inauguration einen Homespun-Anzug getragen haben der von den weiblichen Mitgliedern seiner Familie so fein gearbeitet war, dass man es der Kleidung nicht ansah (Zakim 2003: 12). Die Grobheit und Kratzigkeit der Homespun-Stoffe gegenüber den maschinell hergestellten feineren englischen konnten daher nur als patriotische Qualitäten hervorgehoben werden.146 „The skin of a son of liberty will not feel the coarseness of a homespun shirt!“, riefen viele Männer begeistert aus (Zakim 2003: 12). Diese Söhne der Freiheit wollten durch den Boykott eine Freiheit im Handel erreichen, die den meisten von ihnen von der herrschenden Klasse in England verwehrt wurde. Doch auch wenn diese Männer einen Boykott gegen englische Stoffe anstrebten, eine andere Bekleidung versuchten die Aufständischen nicht durchzusetzen: Der Schnitt des Anzugs, die Uniform der Bourgeoisie, wurde als Vorlage nicht verändert. Zwar zeigte sich in der Bekleidung einiger Gründerväter wie George Washington, Thomas Jefferson (beide Virginia) und Alexander Hamilton (Pflanzersohn, Westindische Inseln) noch die Dominanz der Südstaatenherren in der neuen Regierung, sie trugen die culottes, doch dazu schlichte Röcke, die sich an den englischen dress coats orientierten. Weder kleideten sie sich wie die französische Aristokratie, noch trugen sie Uniformen, wie die deutschen Fürsten. Benjamin Franklin, der sehr häufig in Europa für die Kolonisten unterwegs war, beeinflusste mit seiner schlichten Kleidung sogar die englischen und französischen Revolutionäre (siehe dazu Kapitel 1.1 und 1.2).

146 Anders die Aufwertung handgefertigter Tweed- und Wollstoffe ab Mitte des 19.  Jahrhunderts in England selber, dort sind sie Teil der invention of fashion tradition (siehe dazu Teil 3).

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Abbildung 10: John Quincy Adams, Sohn von John Adams, einem der Gründerväter und selbst 6. Präsident der USA, Daguerreotyp

Um ihre politische Differenz zu England zu demonstrieren, widersetzten sich die Männer in den USA nicht der bürgerlichen Kleidung, wie auch auf dem Porträt bei John Quincy Adams zu sehen ist (siehe dazu Abbildung 10).147 Ihre 147 Die Demonstration einer nationalen Differenz über differente Kleidung, wurde in anderen Gesellschaften durchaus probiert und propagiert. Der Maler David bekam nach der Französischen Revolution offiziell von der Regierung den Auftrag, eine Nationaltracht zu entwickeln; auch in den deutschen Ländern gab es später solche Versuche. Eine erfundene Nationalkleidung, die sich von der bourgeoisen unterschied, hatte in keinem Land Erfolg; die den Französischen Revolutionären irrigerweise zugeschriebenen Veränderungen der Männerkleidung waren nicht Teil der David,schen Nationalkleidung. In Deutschland waren es unter anderem die Turner, die versuchten, eine „Teutsche Tracht“ einzuführen, aber

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ablehnende Haltung bestand nicht gegen die Bourgeoisie; im Gegenteil, bald schon wähnten sie sich in der moderneren, überlegeneren Position, weil sie viel mehr Bourgeois waren als die Engländer selber, die den Aristokraten noch Privilegien gaben, die sie, durch und durch Republikaner, niemals gewährt hätten. Die Revolution der Merchants Schon der schottische Ökonom Adam Smith hatte bemerkt, dass das bestehende Handelsmonopol nur den merchants diene (Smith 2003 [1789]: 519) und zwar vor allem denen, die den Handel nach und von England organisierten.148 Ihr politisches Gewicht zeige sich daran, dass im Parlament auf ihr Anraten hin diese Handelsgesetze überhaupt durchgesetzt wurden. Smiths Kritik ging dahin, dass eine Gesellschaft von merchants unfähig sei, sich als Landesherr zu begreifen, sie sehe in der Aufgabe des Souverän nur ein Anhängsel zu den Pflichten des

das konnte nicht funktionieren (siehe Kapitel 1.3). In England selbst gab es keine Nationalkleidung, auch wenn der Männeranzug zum englischen Kleidungsstück schlechthin wurde. Dieser weist aber immer über das Nationale hinaus, wie auch das britische Empire immer darüber hinaus ging, weil diese Kleidung von Anfang an auf die Möglichkeit verweist, jeder Mann könne ihn anziehen. Die Frauen folgten in größerer Zahl erst in den 1820-Jahren, wie die Schriftstellerin George Sand (1804–1876), einer der frühen weiblichen Anzugträger (Hollander 1997: 89). 148 Wegen der den englischen merchants gebilligten Handelsprivilegien waren die Preise für alle zum Britischen Empire gehörenden Mitglieder höher, als sie hätten sein müssen. „Es kann somit nur im Interesse eines solchen Herrschers liegen, den Absatzmarkt weitestgehend für die Erzeugnisse seines Landes zu öffnen, einen vollkommen freien Handel zuzulassen, um damit die Zahl der Käufer zu erhöhen und den Wettbewerb unter ihnen zu verschärfen.“ (Smith 2003 [1789]: 537). Smith vergleicht das englische Prinzip mit dem in Frankreich oder den deutschen Staaten praktizierten Merkantilismus, durch den die Regierungen die Einfuhr von gewerblichen Rohstoffen förderten, um die eigene Bevölkerung in die Lage zu setzen, sie billiger zu verarbeiten. Dadurch würde ein höherer Import hochwertiger Manufakturwaren verhindert (Smith 2003 [1789]: 542). Im Gegensatz dazu werde einzig für die Gewinne der englischen merchants zum Nachteil der indischen Mitglieder der Nation, billig in Indien eingekauft und, zum Nachteil der englischen (und schottischen) sowie amerikanischen Mitglieder, teuer verkauft. „Vom Gesichtspunkt eines Landesherrn aus müßte es im Interesse der Ostindien-Gesellschaft liegen, daß europä­ ische Waren, die in ihre indischen Besitzungen exportiert werden, dort so billig wie möglich verkauft werden sollten, und ostindische Erzeugnisse, die von dort ausgeführt werden, einen guten Preis erzielen oder so teuer wie möglich abgesetzt werden sollten. Gerade das Umgekehrte liegt aber in ihrem Interesse als Kaufleute.“ (Smith 2003 [1789]: 538). Also nicht, um die Interessen der englischen merchants zu vertreten, sondern weil nur so tatsächlich für alle Untertanen der englischen Krone billige und gute Produkte zu haben seien, verweist Smith immer wieder auf den Freihandel als Lösung (2003 [1789]: 491).

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„Kaufmannes“, diesen immer untergeordnet.149 Weil er sich für den Wohlstand der gesamten Nation interessierte, forderte Smith, dass auch die Interessen aller Bewohner berücksichtigt werden müssten, nicht nur die der Kolonialhändler oder der englischen Gesellschaft (Smith 2003 [1789]: 490). Die Dominanz der englischen merchants wurde zum Problem in ihren Kolonien, denn es gab dort unter den ehrgeizigen Männern viele, die durch die Unabhängigkeit von England nur gewinnen konnten.150 Aus Ladenbesitzern, Handwerkern und Anwälten sind Staatsmänner und Gesetzgeber geworden, die dabei sind, eine neue Form der Regierung für ein weiträumiges Land zu suchen, das, wie sie sich schmeicheln und wie es auch höchst wahrscheinlich ist, zu einem der größten und mächtigsten Länder werden wird, die es jemals auf Erden gegeben hat.

149 Das unterschied die englische Gesellschaft deutlich von der deutschen oder der französischen, wo die Gewinne eher in den Staatsmanufakturen erwirtschaftet wurden und den Regierungen zugute kamen (siehe dazu Kapitel 1.2 und 1.3). 150 Für Smith, der das Treffen auf dem Kontinentalkongress noch vor der Veröffentlichung seines Buches Wealth of the Nation verfolgen konnte, war klar: Wenn diesen Männern keine neue Aufgabe geboten würde, die ihrem Ehrgeiz entgegen käme, dann würden sie die gewonnenen Positionen hartnäckig und „bis in den Tod“ verteidigen. Sie würden auch „das beste aller Mutterländer“ verlassen (Smith 2003 [1789]: 524  f.). Obwohl er selbst in der Aufgabe der Kolonien die beste Lösung sah, war ihm klar, dass seine Politikempfehlung wohl nicht akzeptiert werden würde; kein Land würde freiwillig seinen Einfluss auf Kolonien aufgeben, auch England nicht. Für die Engländer wäre es einerseits eine Verletzung des Stolzes gewesen, aber andererseits – für ihn das viel gewichtigere Argument – hätte es den privaten Interessen der herrschenden Schicht entgegengestanden, die dadurch Macht und Verfügung verlieren könnten. Wieder argumentierte Smith, dass die Freigabe der Handelsprivilegien für die breite Bevölkerungsmasse vorteilhafter wäre, als das jetzt bestehende Monopol, das nur den merchants diene. Durch einen Handelsvertrag würden die Amerikaner in einer Union als ehemalige Kolonie, trotz aller derzeitigen Streitereien, schnell wieder zu gewinnen sein. Der Aufwand für ihre Verwaltung und auch die Kosten dafür könnten wegfallen und im Kriegsfalle würden sie den Engländern zur Seite stehen. Aus elterlicher Zuneigung entstehe freundschaftlicher Respekt, aus unruhigen und aufrührerischen Untertanen wären treue, hilfreiche Bundesgenossen gewonnen (Smith 2003 [1789]: 518 f.). Für Smith war es sogar unproblematisch, dass der Sitz der Regierung des Empire irgendwann verlegt werden würde, wenn ein anderer Unionsteil dann zur Verteidigung und Unterstützung am meisten beitrüge (Smith 2003 [1789]: 526). Was Smith vorausgedacht hatte, geschah: Die englische Regierung erklärte Ende August 1775 die amerikanischen Kolonien als im Zustand der Rebellion und verbot als erstes jeglichen Handel der rebellischen Kolonien mit fremden Ländern (Sautter 1994: 83). Der Lösungsvorschlag von Adam Smith, sich friedlich als freie Handelspartner in einer Union zu bekennen, war nicht angenommen worden. Trotzdem wurden, sobald die Amerikaner ihre Unabhängigkeit hatten, die altvertrauten Handelsbeziehungen wieder aufgenommen.

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Rund fünfhundert Menschen, die auf verschiedene Weise unmittelbar für den Kontinentalkongreß arbeiten und vielleicht fünfhunderttausend, die wiederum unter diesen fünfhundert tätig sind, spüren alle auf die gleiche Weise, wie der eigene Einfluß und ihr Ansehen entsprechend zunehmen. Nahezu jedes Mitglied der Regierungspartei in Amerika füllt heute nach seiner Vorstellung eine Position aus, die nicht nur höher als jene ist, die er jemals inne hatte, sondern auch bedeutender als jede Stellung, die er sich überhaupt erhoffen konnte.“ (Smith 2003 [1789]: 524, Herv. A. M.).

Diese Mitglieder des im Jahr 1774 zusammengerufenen Kontinentalkongresses, sprachen sich als erstes gegen alle Einfuhren aus England und den Verbrauch englischer Waren aus (Sautter 1994: 81, Zakim 2003: 17). Der Handelsboykott war damit der Höhepunkt einer Entwicklung, die schon länger zum Ärgernis vieler amerikanischer Kolonisten beigetragen hatte. Mit Beginn des Unabhängigkeitskrieges 1776 kam der Handel mit England zum Erliegen und somit auch der Stoffimport. George Washington hatte bei seiner Amtseinführung einen Homespun-Anzug getragen, aber der Versuch, sich auf eine veraltete Produktionsweise des homespun zurückzuziehen, konnte nicht gelingen. Die Amerikaner waren zu sehr daran gewöhnt, aus maschinell gesponnenem Garn gewobene fertige Stoffe zu kaufen. Schon 1783 kamen die aufgestauten Lagervorräte aus englischer Produktion wieder auf den amerikanischen Markt (Sautter 1994: 98). Nachdem die politische Unabhängigkeit und damit die Freiheit, eigene Handelsgesetze zu beschließen, für die Vereinigten Staaten von Amerika erreicht war, gab es keine Gründe für die betriebsamen Amerikaner, ihre Handelsbeziehungen zu England nicht wieder aufzunehmen. In der kurzen Zeit zwischen der Unabhängigkeit und 1790 bauten die amerikanischen Händler ein großes Verbundnetz innerhalb ihres Territoriums, nach Europa und in viele andere Regionen aus (Grabbe 1990: 106). An den aus England importierten Textilien verdienten jetzt allerdings auch die amerikanischen merchants mit, während die wenig entwickelte eigene Textilindustrie dem nicht standhalten konnte (Sautter 1994: 98). Bei der seit den 1790er-Jahren heftig geführten Debatte zur innergesellschaftlichen Machtfrage wurde darum gestritten, ob sich die Vereinigten Staaten vom Agrarstaat zum Industriestaat weiterentwickeln sollten, d.h. es ging auch um die Frage, ob merchants oder manufacturers bevorzugt behandelt werden sollten. Dahinter standen Gewinn- und damit Machtinteressen von zwei Fraktionen, die sich in dieser Frage nicht einig waren. Auf der einen Seite waren die Rohstofferzeuger und die jetzt einflussreichen international tätigen amerikanischen merchants nicht an der Beschränkung der Importe und Exporte interessiert; auf

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der anderen Seite wollten die wenigen Hersteller veredelter Fabrikwaren, die manufacturers, ihre Konkurrenz aus England aufhalten. Zur treibenden Kraft für die Industrialisierung und damit zum Sprecher der manufacturers wurde Alexander Hamilton (1755–1804), selbst Sohn eines schottischen Kaufmanns auf den Westindischen Inseln (Raeithel 2002: 256), Finanzminister der ersten Regierung unter George Washington und Mitautor der Federalist Papers. Zum einen hatte er die Entwicklung des wirtschaftlichen Aufschwungs in Englands sehr genau verfolgt (Sautter 1994: 109) und war der Ansicht, dass die beginnende amerikanische Industrie „vor den rauen Winden der internationalen Konkurrenz“, womit vor allem England gemeint war, zu schützen sei. Weil, wie Karl Marx geschrieben hatte, das Protektionssystem [...] ein Kunstmittel [war], Fabrikanten zu fabrizieren, unabhängige Arbeiter zu expropriieren, die nationalen Produktions- und Lebensmittel zu kapitalisieren, den Übergang aus der altertümlichen in die moderne Produktionsweise gewaltsam abzukürzen. (2001 [1867]: 785),

forderte auch Hamilton in seinem Report on Manufactures Schutzzölle und zum Ausgleich Subventionen für die Landwirtschaft. Zum anderen war ihm als Finanzminister und Verfechter eines starken Bundesstaates (als einer der Autoren der Federalist Papers) daran gelegen, genügend Gelder für diesen einzunehmen, um ihn weiter zu stärken. Tatsächlich verpflichtete sich die amerikanische Regierung, der industriellen Produktion und der aktiven Schutzzollpolitik für amerikanische manufacturers den Vorzug zu geben. Unter Hamilton wurden die wirtschaftlichen Interessen im Norden zu Lasten einzelstaatlicher Autonomie und agrarischer Grundstrukturen gefördert (Raeithel 2002: 256 ff., Hobsbawm 1991: 41). Aber zu dieser Zeit hatte die Industrialisierung erst in Ansätzen begonnen, die merchants sollten noch längere Zeit den größeren Einfluss auf die Regierungsgeschäfte haben. Die farmers und Plantagenbesitzer handelten seit der Unabhängigkeit und der Aufhebung der Handelsbeschränkungen nicht mehr direkt mit englischen Aufkäufern, sondern mit in New York ansässigen merchants. Wie groß der Einfluss dieser merchants wurde, zeigte sich etwa daran, dass sie sich während der napoleonischen Kriege politisch durchsetzen konnten. Im Jahr 1807 hatte die amerikanische Regierung jeglichen Handel mit fremden Ländern verboten, worunter vor allem die merchants in den Neuenglandstaaten und die farmers litten (Sautter 1994: 132) und auf ihren Protest wurde zwei Jahre später, 1809,

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das Embargo wieder aufgehoben.151 Viele Kongressabgeordnete argumentierten, „daß billigere Importgüter der Allgemeinheit mehr nützten als eine vorerst nur den Unternehmern einträgliche teure Eigenproduktion.“ (Sautter 1994: 111). Und die Einfuhr von Textilien aus Englands Manufakturen und Fabriken brachte tatsächlich einen großen Nutzen für die Allgemeinheit. Als billige Importgüter trugen diese Stoffe zum Aufschwung einer amerikanischen Bekleidungsindustrie bei, die in der Geschichte der Männerkleidung bis dahin beispiellos war. 

Die amerikanischen merchant farmers hatten ihre Bekleidungsgewohnheiten den englischen merchants angepasst, sie akzeptierten die Uniform der Bourgeoisie, den dress coat. Mit der Revolution der merchants gaben sie diese Gewohnheiten nicht auf, es wurden keine Versuche gemacht, andere Bekleidungen durchzusetzen. Die amerikanischen Bourgeois wähnten sich gegenüber den Engländern eher überlegen, weil sie veraltete aristokratische Bekleidungsgewohnheiten nicht mehr anerkannten, wie sie sich in Englands Monarchie z.B. noch am Hof erhalten hatten. Durch die Unabhängigkeit gewannen die amerikanischen merchants an Einfluss und passten die Uniform der Bourgeoisie den ihren gesellschaftlichen Verhältnissen entsprechenden Bedürfnissen an. So konnten aus dress coats fertig zu kaufende Männeranzüge entwickelt werden, die zu einem der wichtigen Handelsgüter auf dem inneramerikanischen Markt wurden. Aber auch wenn die amerikanischen merchants den Handel dominierten, blieb die weitere Entwicklung davon abhängig, dass die erfolgreiche englische Textilindustrie den amerikanischen Markt mit Stoffen überschwemmte. Auch die dafür geschaffenen Handelswege konnten weiter ausgebaut werden und damit der erfolgreiche Handel mit ready-to-wear-suits. Warum das Bedürfnis nach fertig zu kaufender standardisierter Männerkleidung in den USA bestand und sich der Ready-to-wear-Markt anders als in Europa entwickelte, wird im nächsten Kapitel erklärt. Diese Geschichte hat in Philadelphia begonnen, doch weil es New Yorks merchants waren, die den inneramerikanischen Markt beherrschten, wurden die standardisierten readyto-wear-suits, als Uniform der Masse, auf dem sich ausbreitenden Markt von New York bis an die frontier verkauft.

151 Der Konflikt in Europa führte auch dazu, dass die amerikanische Regierung Louisiana kaufen konnte (Sautter 1994: 127). Dass so ein Kauf überhaupt möglich war, war bereits Ausdruck der neuen Zeit. Der Kauf von Land hat keine Wurzeln mehr in der feudalen Vergangenheit, wo Krieg und Tausch oder Heiratspolitik Land einbrachte; der Kauf entspringt dem betriebsamen Denken der Bourgeoisie.

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2.2 New York’s Merchants

Die Industriegeschichte beginnt meistens mit der Textilindustrie als dem Motor der Industrialisierung, durch die mit Hilfe von Maschinen die von der Agrargesellschaft geprägten Strukturen hin zu einer marktorientierten modernen Gesellschaft verändert werden. Der Historiker Udo Sautter schreibt, dass der Anbruch der industriellen Revolution in den USA manche Parallele zum europäischen Kontinent zeige. England sei der Entwicklung weit voraus gewesen und erst Handelssperren und Seeblockaden der napoleonischen Zeit hätten die Umstellung von Importen englischer Industriegüter auf die Eigenproduktion erleichtert. „Wie in England, so wurde auch in Amerika die Textilbranche der erste industriell organisierte Fertigungszweig.“ Die Erzeugnisse seien anfangs noch grob gewesen und hatten nicht mit den feinen englischen Stoffen mithalten können, auch habe die industrielle Verarbeitung von Wolle nie die Bedeutung erlangt wie die Baumwollverarbeitung durch die Industrie (1994: 146 f.). Sautter schreibt weiter, dass die Industrialisierung insgesamt in dem halben Jahrhundert vor dem Bürgerkrieg gut vorankam, aber die USA noch keine ganze Industrienation gewesen seien. Das wichtigste Erzeugnis der Südstaaten sei die Baumwolle gewesen (1994: 152). Noch 1860 wären mehr landwirtschaftliche Erzeugnisse auf den Markt gelangt als industrielle. „Eisen und Maschinen rangierten im Gesamtwert noch hinter den Erzeugnissen der Herrenbekleidungsbranche.“ (Sautter 1994: 149). Genau diese Branche war aber ein großer und bedeutender Teil der Entwicklung, der leicht übersehen wird. An der Spitze der heimischen Erzeugnisse im frühen 19. Jahrhundert standen Textilien nur, wenn man diese als fertige veredelte Bekleidung begreift. Dass die USA zu einem so großen Textilproduzenten wurden, war nach der Unabhängigkeit im 18. Jahrhundert noch nicht abzusehen gewesen. Die Bevölkerung und die Märkte waren klein und weit verstreut, es fehlte an Kapital und an ausgebildeten Facharbeitern (Rosenbloom 2004: 366). Und Sautter schreibt dazu, die Industrie habe sich zuerst in den Nordost-Staaten der Union angesiedelt, wo durch den Handel bereits genügend Kapital angehäuft worden sei, hier habe der notwendige unternehmerische Weitblick geherrscht, eine verhältnismäßig dichte Besiedlung, und damit ein Markt für die Waren sowie genügend Arbeitskräfte (1994: 146). Aus europäischer Perspektive, mit den etablierten Wahrnehmungsmustern, werden die Entstehung einer Bekleidungsbranche und ihr beständiges Wachsen als Folge der durch die Industrialisierung anwachsenden konsumorientierten Mittelschichten verstanden, wodurch sich langsam ein großer Markt für Konsumgüter entwickelt. Um die amerikanische Industriegesellschaft in ihren

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Anfängen zu verstehen, muss man aber bedenken, dass die Entwicklung hier in umgekehrter Reihenfolge ablief. Die amerikanische Textilindustrie entwickelte sich nur, weil die Erzeugnisse aus der Herrenbekleidungsbranche so weit vorne rangierten, sich also früher erfolgreich auf dem amerikanischen Markt durchgesetzt hatten. Und das wiederum hatte nur geschehen können, weil die erfolgreiche englische Textilindustrie mit ihren feinen Produkten den US-Markt überschwemmte, mit denen die amerikanischen Erzeugnisse nicht mithalten konnten. In den USA gab es die kaufkräftigen Mittelschichten schon bevor die Textilindustrie auch hier langsam voran kam (siehe dazu Kapitel 2.1). Für ihren Bedarf an fertiger Männerkleidung wurde die Produktion von ready-towear-suits in assembly lines152 entwickelt. Assembly Lines Bekleidung war in dieser Zeit schwierig herzustellen und die Zuständigkeit im Allgemeinen nach Geschlechtszugehörigkeit geregelt: Ehefrauen und Töchter nähten einfache Ausfertigungen für die gesamte Familie in Heimarbeit, ohne dafür entlohnt zu werden; Männer, durch eine handwerkliche Ausbildung legitimiert, nähten im professionellen Bereich als Schneider oder Gesellen, gegen Geld (meist auf Kredit). Während die Stoffe dafür in Europa noch überwiegend im eigenen Haushalt hergestellt oder von in Zünften und Gilden organisierten Tuchmachern gewoben wurden,153 war der Konsum von Fertigstoffen in den USA schon selbstverständlich geworden. Die von Schneidern hergestellte Bekleidung wurde auf Bestellung angefertigt, aber es gab auch schon im 16. und frühen 17. Jahrhundert weltweit in vielen Hafenstädten clothier contractors, die vor allem die von Seefahrern getragenen Hosen (baggy pants)154 im Angebot hatten; sie belieferten auch die Marine mit fertiger Kleidung und Bettwäsche. In Europa soll sich schon während des letzten Teils des 18. Jahrhunderts eine große Anzahl von Männern und Frauen daran gewöhnt haben, ihre Kleidung ready-to-wear zu kaufen, wobei der Anteil an Gebrauchtkleidung (Secondhandware) deutlich überwog (Aldrich 2007: 2). 152 Die assembly line wird im Deutschen mit Fließband oder Montageband übersetzt. Besser jedoch ist die Definition laut Oxford Dictionary of Current English: „machinery arranged so that a product can be progressively assembled“ – diese fortschrittliche Zusammensetzung der Bekleidung mit Hilfe von Maschinen wurde in der Herstellung von Männerbekleidung sehr früh genutzt (Thompson 1998). 153 In den deutschen Fürstentümern wurde das noch bis ins 19. Jahrhundert häufig in Eigenarbeit gemacht (siehe dazu Kapitel 1.3). 154 Diese Hosen sollen auch von den Pariser Sansculotten getragenen worden sein (siehe dazu Kapitel 1.2).

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Fertige Kleidungsstücke in unterschiedlicher Qualität konnten im 18. Jahrhundert bei clothiers oder slop sellers155 gekauft werden. Bei den clothiers handelte es sich um kleine Ausbeutungsbetriebe, in denen alle anfallenden Arbeiten koordiniert wurden. Neben dem Meister selber war in diesen Geschäften nur der foreman (Vorarbeiter) fest angestellt, die anderen Arbeiter schneiderten nicht mehr, sondern nähten zusammen, säumten oder machten Knopflöcher. Sie wurden nur nach Auftragslage, d.h. in sehr unsicheren Arbeitsverhältnissen, beschäftigt und waren „poor like rats“ (Aldrich 2007: 2). Die dort gefertigten Kleidungsstücke waren schlecht gearbeitet und billig, wahrscheinlich schlechter als gebrauchte Kleidung. Der Bedarf an diesen billigsten Anziehsachen wurde vor allem durch den Sklavenhandel in die Kolonien gesteigert, weil sie von den Plantagenbesitzern für ihre Sklaven in großen Mengen gekauft wurden.156 Teilweise schon besser verarbeitete, aber immer noch locker sitzende Oberbekleidung, wie Mäntel und andere Überzieher, konnten fertig gekauft werden. Herrenanzüge allerdings, genauso wie Breeches und Reitkleidung für Männer und Frauen, wurden als komplizierte Bekleidungsstücke von Schneidern einzeln in Handarbeit genäht (Aldrich 2007: 3). Allgemein galt: During this period, men’s and women’s outdoor garment were generally similar; bespoke garments (made for individual customers) of varying quality were provided by tailors, who independently or with assistants completed the whole pattern-making, cutting and construction process in their shop. (Aldrich 2007: 2).157

Überall gab es herumziehende Schneider, die für einige Tage oder Wochen ins Haus kamen, oder kleine Schneidereien in den Dörfern und Städten, die den 155 Siehe dazu Fußnote 30. 156 Es herrscht in der Literatur Uneinigkeit über diesen Punkt. Kidwell und Christman ­schreiben, Kleidung, die man den Sklaven gab, sei einfache aus England importierte grobe Ready-to-wear-Bekleidung gewesen, die vor allem in die vom Tabak- und Reisanbau dominierten Ökonomien in den Südstaaten geliefert worden sein soll. Sie begründen das damit, dass Kleidung in den USA teuer war und der Import aus England billiger erschien, als selbst Kleidung zu produzieren (1974: 21). Während Kidwell und Christman argumentieren, dass sich deren eigene Produktion von Kleidung nicht gelohnt hätte, argumentiert Zakim dagegen, dass es einen Vorteil für die Plantagenbesitzer gegeben habe, weil auf den Plantagen, beispielsweise in Virginia, erwachsene Sklaven in den erntelosen Monaten für das Spinnen und Weben eingesetzt, aber auch Kinder und alte Sklaven so beschäftigt werden konnten (2003: 21). 157 ‚Bespoke‘, das war die mit dem Schneider besprochene, bestellte und geschneiderte Kleidung, aus der sich in England in den 1850er-Jahren die Londoner Tailor-made-Qualität des maßgeschneiderten Anzugs entwickeln sollte (siehe dazu Kapitel 3.1).

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nötigsten Bedarf an Kleidung individuell deckten (Sombart 1913: 31, Costantino 1997: 22). In den USA fanden die Einwanderer aber selten diese in Europa üblichen Dorfstrukturen mit Handwerksbetrieben vor. Was schon für die Herstellung von Stoffen galt, war auch für die Fertigung von Bekleidung wichtig. Es gab wenige ausgebildete Schneider und nicht alle arbeiteten in ihrem Handwerk, Arbeitskraft war kostspielig und deshalb die handwerkliche Produktion entsprechend teuer (Sautter 1994: 146). Dazu kam der Überschuss an Männern unter den Einwanderern, denen von New York bis an die frontier oft die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten fehlten, Kleidung selber herzustellen (Sautter 1994: 166). Und durch die zunehmend von Lohnarbeit geprägten gesellschaft­ lichen Verhältnisse, die es bis dahin so nur in England gab, hatten Agrararbeiter in den USA nicht mehr die Werkzeuge und den Platz, um sich ihre Kleidung selber herzustellen – es fehlte ihnen die Zeit und oft auch die Energie. Zusammengenommen führten diese Gründe dazu, dass in den USA die Nachfrage an fertiger Männerkleidung immer weiter anstieg und betriebsame entrepreneurs begannen, sich dieses Problems anzunehmen. Da schon die Textilien von den meisten Amerikanern fertig gekauft wurden, war es nur ein kleiner Schritt, fertige Bekleidung anzubieten. Gleichzeitig wurden dadurch auch diejenigen als Kunden erschlossen, die mit den Textilien, aufgrund fehlender Fertigkeiten in der Herstellung ihrer Bekleidung, nichts anfangen konnten. Wichtigster Bezieher von fertiger Männerkleidung war bis dahin das Militär, das Uniformen für seine Soldaten brauchte, weshalb sich in Frankreich und Preußen auch die großen Manufakturen entwickelt hatten, in denen die Stoffe in Mengen hergestellt wurden (siehe dazu Kapitel 1.1 und 1.2). Auch in den USA stand der Bedarf an Militäruniformen für den 1812 begonnenen Krieg gegen England158 am Beginn des erfolgreichen ready-to-wear-business. Für diesen Krieg wurden plötzlich viele Männer eingezogen, so dass schnell, billig und möglichst passgenau produzierte, uniforme Männerkleidung gebraucht wurde. In Phila­delphia entstand mit dem für diese Zwecke gegründeten United States Army Clothing Establishment im Jahr 1812 eine der ersten modernen Manufakturen für Bekleidung überhaupt (Kidwell/Christman 1974: 47, Zakim 2003: 52).

158 In diesen europäischen Konflikt waren die Amerikaner hineingeraten, weil eine allgemein steigende Entrüstung u.a. über das Verhalten der Engländer auf See und der dadurch bedingten Einschränkung ihrer Handelsfreiheiten aufkam. Von vielen wurde daher der bewaffnete Kampf gefordert, 1812 erklärte das Repräsentantenhaus den Krieg (Sautter 1994: 132).

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Bis dahin war es üblich gewesen, die Aufträge für den jeweiligen Bedarf an Uniformen einzelnen Schneidern zu erteilen, die sie entweder selber erledigten oder weiter verteilten (im Verlagswesen). Das wirklich Neue in Philadelphia war, dass im Zentrum der Stadt ein großes Gebäude angemietet wurde, in dem die Stoffe vorgeschnitten und zusammengeheftet wurden, um von Näherinnen zu Uniformen zusammengenäht zu werden. Es arbeiteten um 1812 rund 5000 Näher (Zakim schreibt Näher, aber wahrscheinlicher sind Näherinnen) für das clothing department. Wenn auch die Qualität der Näharbeiten durch die Handarbeit noch differierte, entsprach die Einteilung der Arbeitsschritte einer assembly line.159 Durch die Vereinheitlichung der Vorarbeiten an einem Ort wurde eine größere Uniformität im Schnitt und den Größen erreicht, außerdem konnten durch das neue System zehn Mal so viele Uniformen hergestellt werden, wie die Schneider genäht hatten. Am Ende des Krieges wurden in dieser Manufaktur für die Armee rund 2500 Uniformen wöchentlich und 85.000 andere Kleidungsstücke in einem Monat hergestellt (Zakim 2003: 259). In Friedenszeiten konnten jetzt rund 10.000 Mann im Monat eingekleidet werden.160 Das neue System wurde als Philadelphia-System bekannt. Durch die neue Bearbeitungsstrategie wurde nicht nur Zeit gespart. Auch wenn es in der Literatur nicht erwähnt wird, wird ein Grund gewesen sein, dass englische Importe ausblieben und die eigene Industrie noch in den Anfängen war. Für die Amerikaner stiegen die Stoffpreise an. Eine unnötige Verschwendung von Stoffen konnte durch das neue System vermieden und so die Kosten niedrig gehalten werden. Wenn auch die Armee eher von technischen Bedürfnissen als vom Profitmotiv geprägt war, wurde das in Philadelphia eingeführte Produktionssystem zur Basis der kommerziellen Industrie für die folgende Dekade (Zakim 2003: 259). Warum, kann man sich fragen, hatte es eine solche Entwicklung nicht auch in Europa gegeben, beispielsweise in Preußen, das schon 1713 mit dem sogenannten Königlichen Lagerhaus eine staatliche Tuchmanufaktur hatte, die als größte der damals bekannten Welt eingerichtet worden war und in der rund 5000 Spinner mit der Herstellung von Uniformstoffen für die preußische Armee beschäftigt gewesen waren? Die Anregung durch Militärbekleidung gab es schon länger 159 Dem Erfinder Eli Whitney (1765–1825) wurde die Erfindung der assembly line zugeschrieben ( Jeremy 2004a: 93). Als 1798 der Krieg mit Frankreich drohte, war Eli ­W hitney schon auf die Idee gekommen, Gewehrteile in Massenproduktion herzustellen und dann zusammenzusetzen (Sautter 1994: 147). Das gleiche Prinzip wurde dann schnell für ­Uhren und Schuhe eingeführt – und für Bekleidung. 160 Mit der Einführung von Nähmaschinen um 1850 stiegen die Zahlen noch weiter an (Kidwell/Christman 1974: 47).

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(auch in England war der dress coat aus dem riding coat hervorgegangen, siehe dazu Kapitel 1.1) und auch die preußische Weiterentwicklung der Tuchmanufaktur war für das Militär gemacht worden, das Land brauchte für sein stehendes Heer uniforme Männerkleidung. Und wenn auch der Anzug des Bourgeois Anfang des 18. Jahrhundert noch keine Verbreitung gefunden hatte, war er nicht unbekannt, so dass die Idee, daraus zivile Männerkleidung zu machen, bis zum Ende des Jahrhunderts hätte aufgegriffen werden können. Der Grund lag darin, dass in der preußischen Gesellschaft kein Bedürfnis bestand, zivile Kleidung für Männer in solch großer Anzahl herzustellen, die Strukturen waren gefestigt, der größte Teil der Bevölkerung lebte noch in elenden Verhältnissen und selbst höhere Schichten hatten gerade mal ein bescheidenes Auskommen (Sombart 1913: 22, siehe dazu Kapitel 1.3). In den USA hingegen wurde das Philadelphia-System von geschäftstüchtigen entrepreneurs übernommen. Sie hatten erkannt, dass sich in dieser Form auch billige und massenhaft produzierte zivile Männerkleidung herstellen ließ, Kleidung, die gebraucht wurde, und, noch viel wichtiger, von den farmers und mechanics auch gekauft werden konnte. Der entscheidende Unterschied zu den Herstellern von Fertigkleidung in den Hafenstädten war, dass sich die amerikanischen Hersteller von Bekleidung nicht an der schlechten Slop-Ware orientierten, sondern an den Bekleidungsgewohnheiten der Bourgeoisie: dem bürgerlichen dress coat. Die an sich schlichte Grundform des in England entwickelten Anzugs eignete sich so gut für die Umsetzung in ready-to-wear, dass Anzüge, ohne zum Schneider zu gehen, ohne viel Geld zu bezahlen und trotzdem zufrieden zu sein,161 sich bald überall in den USA erfolgreich durchsetzten. Die Adaptation der Uniform der Bourgeoisie war durch die freiwillige Angleichung der betriebsam denkenden Bürger möglich geworden. Diese Gleichheit wurde in der amerikanischen bürgerlichen Gesellschaft als die Chance auf Erfolg gesehen, bei der der Aufsteiger im dress coat nur betriebsamer und erfolgreicher gewesen war als die anderen. Gerade weil die Mehrheit der amerikanischen merchants diese Freiheit (eingeschränkt auf die Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft) in einem demokratischen Gleichheitsverständnis einforderte, wurde in der amerikanischen Gesellschaft die Uniformierung weitergeführt. Durch die Standardisierung der Produktion mit dem Philadelphia-System konnte eine ausreichende Menge an Männerkleidung hergestellt werden, der Gedanke an Anzüge für Jedermann wurde damit vorstellbar in der „nation of 161 Wie ein amerikanischer Aussteller von ready-to-wear-suits 1851 bei der Weltausstellung in London für seine – wenig Beachtung findenden – Produkte warb (siehe dazu den Schluss dieses Kapitels).

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customers“, wie Adam Smith diese Nation von Kunden schon genannt hatte (zit. n. Zakim 2003: 14). Verkaufen ließen sich fertige Anzüge für diese Kunden aber nur, wenn sie zufriedenstellend, d.h. orientiert am Anzug des Bourgeois, gefertigt waren. Unzufriedene Kunden konnten sich die entrepreneurs, anders als das Militär, nicht leisten. Darum gehörte das Vermessen beim ready-to-wear dazu, denn im richtigen Maß lag der Profit des entrepreneurs. Und weil die Hersteller der Männerkleidung aus diesem Profitstreben heraus neben den einzelnen Arbeitsschritten für das Nähen auch die Maße und damit die Schnitte standardisierten, wurde die Uniformierung der Männeranzüge weiter vorangetrieben. Für die neuen aus dem Philadelphia-System entwickelten assembly lines war das unbedingt notwendig. Profit als Maßstab Die am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende Vereinheitlichung der Anzüge erklärt sich somit gesellschaftlich und nicht kulturell, wie es die amerikanische Historikerin Anne Hollander versucht, wenn sie beantwortet, warum sich Franzosen, Engländer und Männer anderer Nationen, obwohl „aus verschiedenen Kulturen“, diese Uniformität als Variationen eines Stils der individuellen Schnitte gewünscht hätten (Hollander 1997: 159). Denn, so Hollander weiter: Die größere Uniformität bekleideter Männer, welche wir aus den letzten zwei Jahrhunderten kennen und die sich von der Formenvielfalt der Frauenkleidung unterscheidet, wurde in der gleichen Epoche eingeleitet. (1997: 159)

Das Vorbild der Männer seien die antiken Statuen gewesen, genauso hätten Männer einander ähnlich sehen wollen; als ein Muster, das sich sehr unterschiedlichen Körpern anpasst. Wenn die formale Ungekünsteltheit der Antike sowohl für die Franzosen als auch für die Engländer zur gleichen Zeit – also in einer geschichtlichen Periode, meint Hollander, in der ihre kulturelle Lage und ihre gesellschaftlichen Ziele so unterschiedlich waren – wundervoll aussah, dann habe das Bedürfnis, antike Formen zu übernehmen, weder aus den einen noch aus den anderen gerade gängigen Idealen entstehen können. Nach Hollander soll es ein ästhetisches Verlangen gewesen sein, das den Männern gemeinsam sei, ohne irgendwelchen politischen Nutzen. [Den wirtschaftlichen diskutiert sie nicht.] Es sei ein Bedürfnis gewesen, das Aussehen der Dinge in etwas zugleich Altes (hier Klassisch-Antikes) und Neues (den Anzug) zu verändern. Doch nicht ästhetische Gemeinsamkeiten bei bestehenden kulturellen Unterschieden verband diese Männer; das Gemeinsame in England und Frankreich war die allgemeine Durchsetzung des Kapitalismus, der seine eigenen Gesetze

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aufzwingt. England war eine bürgerliche Gesellschaft und auch die Regierung Napoleons musste sich mit der Bourgeoisie anfreunden und Konzessionen machen. Dazu den maßgeschneiderten Anzug als Klassiker und Ideal aufzuwerten, also der bei Hollander genannte Versuch, Alt und Neu zu verbinden, spiegelt die Ideologie des Bourgeois, einerseits die Entdeckung der Geschichtlichkeit, bei gleichzeitiger Annahme, bürgerliche Gesellschaft, also auch den Bürger selbst, habe es immer schon gegeben. Das hat gut funktioniert, denn bis heute wird geschrieben, der Anzug sei ein Klassiker, überzeitlich gültig und habe sich nur im Detail verändert. Doch ist der Mythos vom klassischen Maßanzug des dress coats im 19. Jahrhundert entstanden, und heute sind Maßanzüge ihrer Form nach business suits162, genauso angepasst an die in Amerika am durchgängigsten entwickelten modernen Maßsysteme, die auf Vorlagen beruhen, die jeder verwenden kann. Klassisch bedeutet damit auch, nicht kitschig zu sein, sondern schlicht, und darum schließen die seit dem Anfang des 19. Jahrhundert beginnenden Experimente der Schneider, mit ihren auf mathematischen Theorien beruhenden Methoden Vorlagen für die vereinfachte Messung zum Schneidern von Anzügen zu finden (Aldrich 2007: 6), den Profitaspekt der Bourgeoisie schon ein.163 Die von einigen Tüftlern preisgegebenen Methoden und drafting systems schienen sich dafür gut zu eignen.164 162 Anzüge, die Ende des 19. Jahrhunderts aufkommen. Sie sind aus einem Stoff für Jacke und Hose. Die Jacken der business suits waren streng geschnittenen, d.h. eng anliegend und mit drei Knöpfen zu schließen, um der breitschultrigen gepolsterten Form einen besonderen Ausdruck zu verleihen (Costantino 1997: 21). Sie wurden zur Grundlage der modernen Anzüge (siehe dazu Kapitel 3.2, ab Unterkapitel Gentlemen of Leisure). 163 Schon im Mittelalter und bis in die Zeit der Aufklärung im 18. Jahrhundert hatte man versucht messbare Standards zu finden, allerdings war der systematischen Vermessung von Kleidung dabei keine Aufmerksamkeit geschenkt worden. Standardisierung der Messung gab es in Frankreich nicht vor 1799, die Einheit, der Meter, basierte auf dem 10millionstel Teil des quarter of the meridian. Erst mit der sich durchsetzenden Industrialisierung deklarierte die französische Regierung im Jahr 1840, dass es gegen das Gesetz sei, eine andere Maßeinheit zu gebrauchen. Der Meter wurde in den meisten europäischen Gegenden als Maßeinheit akzeptiert, das House of Commons verlangte 1852, dass der Meter ebenfalls die einheitliche Maßeinheit sein solle, konnte sich aber nicht durchsetzen, so dass the yard als Maßeinheit verblieb. Auch in den amerikanischen Kolonien hatte sich diese Maßeinheit durchgesetzt und blieb in den Vereinigten Staaten weiter bestehen (Aldrich 2007: 5). Denkt man an die viel engeren Handelsbeziehungen (hier Stoffe, siehe dazu Kapitel 2.1) zwischen den USA und England, wäre die Umrechnung eher hinderlich geworden. 164 Der Engländer Benjamin Read veröffentlichte 1815 eine der frühesten Größentabellen: The Proportionate and Universal Table. Die Aufteilungen dieser Größentabellen beruhten oft auf Theorien von Proportionen. Um 1820 waren die Größentabellen so weit ausge-

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These early drafts are very important, because their ideas and methods of approaching the problems of sizing for pattern making formed the basis for the later more sophisticated methods and created the technical means to provide the mass-produced clothing of the twentieth century. (Aldrich 2007: 7).

Durch die Maßvorlagen konnten die Hersteller, ob Schneider oder clothier, auch Stoff einsparen. Mit der Zunahme an maschinell gesponnenen Textilien brachten immer weniger Kunden ihre selbstgewobenen Stoffe zum Schneider. Erstens waren die industriell produzierten Textilien anfangs begehrter, d.h. von feinerer und besserer Qualität, zweitens hatten die farmers, workers und Stadtbewohner weder Zeit noch Interesse oder Möglichkeiten, in Heimarbeit zu fertigen, und drittens wurden die fertig gekauften Stoffe immer billiger. Viele Schneider waren daher dazu übergegangen, Stoffe vorrätig zu haben. Aber es waren eher selten Schneider, die ihr kleines Geschäft ausbauten, um in der entstehenden Bekleidungsindustrie profitabel den steigenden Bedarf an Männerkleidung zu befriedigen. In größerer Zahl waren es die für Armee und Marine produzierenden clothiers sowie slop sellers, die ihr bestehendes Gebrauchtwarengeschäft um das Angebot an neuer Fertigkleidung erweiterten. Dazu kamen andere interessierte branchenfremde Seiteneinsteiger, die im Handel mit Anzügen Profite vermuteten (Aldrich 2007: 2). Für diese entrepreneurs, die vor allem einen hohen Gewinn aus der Produktion und dem Verkauf in der Bekleidungsbranche machen wollten, war es von enormer Bedeutung, dass die lebendige Erfahrung des Schneiders, seine Kenntnisse und Fähigkeiten, durch Nummern und Zahlen, also mathematische Berechnungen der Proportionen ersetzt werden konnten. Zudem gab es in den USA, wie oben erwähnt, wenige ausgebildete Schneider und diese wurden in den Prozess von Standardisierung und Kommerzialisierung hineingezogen; individuelle, variable Vorlagen oder unterschiedliche Maßsysteme, bei englischen Schneidern üblich, wurden hier schnell aufgegeben reift, dass ausgebildete Schneider nach ihnen standardisierte Anzüge schneidern konnten. Anfangs nahm man nicht am Körper Maß, sondern am Mantel oder der Anzugjacke des Kunden (Aldrich 2007: 9). Der Schneider J. G. Bernhardt aus Dresden hatte um 1810 als erster ein Diagramm erstellt, das vom nackten Körper aus vermisst (Aldrich 2007: 17). Um sich von den vererbten oder billig gefertigten Anzügen abzuheben, mussten die Anzüge immer körperbetonter und enger geschnitten sein. Der Glasgower Schneider McIntyre, dem die Erfindung des tape measures, des flexiblen Maßbands zugeschrieben wird, vereinfachte die Messung am nackten Körper, so dass keine mathematischen Berechnungen mehr vonnöten waren (Aldrich 2007: 10). Es gab allerdings auch Schneider, die Schnittmuster kopierten, viele waren perforiert, so dass man die Löcher markieren und das Muster dann einfach abpausen konnte (Aldrich 2007: 14).

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(Zakim 2003: 88).165 In Europa verweigerten sich viele Schneider, vor allem die in Innungen organisierten, diesem Geschäft. Aber in den Vereinigten Staaten waren Geheimnisse, wie sie später die Londoner Maßschneider pflegen sollten, um sich zu differenzieren, einfach nicht gut fürs Geschäft. Es ging darum, das beste, sprich profitabelste, System zu finden, um dann Männerkleidung in guter Qualität herzustellen. Noch in den 1830er-Jahren wurden in Amerika verschiedene drafting systems ausprobiert. Es gab öffentliche Wettkämpfe zwischen verschiedenen Anbietern, in denen die Vorzüge und Nachteile des jeweiligen Systems im direkten Vergleich aufgedeckt wurden.166 Der Verlierer eines 1837 stattgefundenen Wettstreits gestand seinem Gegner das bessere System zu, was dessen Verkaufschancen steigerte (denn darum ging es letztendlich auch bei diesen Entwicklungen) und die Durchsetzung eines allgemein gültigen MessSystems schneller voranbrachte (Zakim 2003: 85). Es entstand das american ­system, nach dem im Prinzip jeder, der diesem Maßsystem folgte, für jeden Mann Bekleidung schneidern konnte (Zakim 2003: 91). Die Maßsysteme waren von industriellen Wünschen beeinflusst (Zakim 2003: 93), denn ein erfolgreiches Maßsystem sicherte Zeit und Proportionalität und wurde die Basis der Massenproduktion, an deren Ende die Ready-towear-Bekleidung stand.167 So setzten sich schon in den 1820er-Jahren in den 165 „The rise in drafting books and systemised cutting by dressmakers in England was stimulated by the decision of the City and Guilds of London Institute to include domestic subjects in its examinations in 1892.“ In England wurden Maßsysteme erst akzeptiert, als sie in den Lehrplan zur Ausbildung eines Schneiders aufgenommen wurden. „but the rise began much earlier in America; many of the drafts developed by the ‚man dressmakers‘ used the systematic mathematics of tailors, cutting but adapted the French and English dressmaker method of working within a rectangle“ (Aldrich 2007: 23 f.). 166 Zur Vorliebe für Wettkämpfe von Amerikanern siehe den Aufsatz Warum gibt es keinen Sozialismus in den Vereinigten Staaten? des Ökonomen und Soziologen Werner Sombart (1969 [1906]). 167 In England entwickelten sich später zwei Messvarianten: das Leeds Sizing und das London Sizing. In England war die Produktion von Kleidung vor allem in einigen wenigen Gegenden angesiedelt, in London und Leicester, auch speziell in Leeds (Aldrich 2007: 33). Der Unterschied zu den Vereinigten Staaten zeigt sich deutlich: In Leeds wurde die Fabrikkleidung produziert, in London legten die Schneider Wert darauf, ein anderes Messverfahren zu haben, um sich von der Massenproduktion abzuheben. Erst 1953, mehr als 100 Jahre später, wurde in England vom Clothing Industry Development Council ein Plan veröffentlicht, in dem die Größen und Maße vereinheitlicht und standardisiert wurden. England war nach dem Zweiten Weltkrieg noch länger als andere Länder in einer wirtschaftlichen Krise und man war in der Verwaltung erschrocken über den Verlust von zu viel Arbeit und Material durch die unterschiedlichen Messmethoden der vielen kleinen Manufakturen und Geschäfte (Aldrich 2007: 43).

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Vereinigten Staaten standardisierte Schneidertechniken durch (Zakim 2003: 87). Die hohe Qualität war durch die in Philadelphia vorgemachte Uniformierung der Schnitte und der Reduzierung des Materials zu niedrigen Preisen profitabel zu erreichen. Die moderne Produktion von ready-to-wear-suits war nicht mehr aufzuhalten.168 In den USA konnte die Standardisierung am konsequentesten durchgesetzt werden, weil Käufer, Markt, Maßsystem und das gesellschaftliche Bedürfnis nach bourgeoiser Männerkleidung hier am weitesten entwickelt waren. Das individuelle Messen hatte zum Messen der Massen geführt, zur Systematisierung der Käufer,

168 In der Literatur zur Mode und Bekleidung wird beschrieben, dass sich der dress coat aus dem riding coat entwickelt habe (siehe dazu Kapitel 1.1). Auch dass neue Anzugformen entwickelt worden sind, kann in der Modeliteratur nachgelesen werden (beispielsweise Loschek 2011). Warum neben dem tail coat und frock coat im 19. Jahrhundert der morning coat, bei dem die unteren Rockschöße begradigt wurden, oder die kurze Version davon, als lounge suit, business suit oder working suit bezeichnet, diese Form angenommen haben, ist nicht deutlich beschrieben. Die Veränderungen der Männeranzüge werden gerne den englischen Schneidern zugesprochen, weil London das Zentrum fortschrittlichster Männerbekleidung und von verblüffender Modernität gewesen sei (Hollander 1997: 131 ff.). Hollander schreibt auch, dass der Konfektionsanzug eine amerikanische Erfindung der 1820er-Jahre gewesen sei (1997: 166), aber nicht, wie diese Anzüge aussahen. Diese Problematik der eindeutig auf England beschränkten Sichtweise für Veränderungen der Männerbekleidung wird im Teil 3 der Arbeit wieder aufgegriffen und diskutiert (siehe dazu Kapitel 3.1). Weil es keine Erklärungen dafür gibt, wieso und wie sich in den USA der dress coat durch das ready-to-wear in den lounge oder business suit veränderte, wäre hier Grundlagenforschung notwendig. Das kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Aber aus der Perspektive in dieser Arbeit, von der Produktionsweise her gedacht, war die amerikanische Männerbekleidung die fortschrittlichste und das könnte sich auch auf die Form der ready-to-wear-suits ausgewirkt haben. In einem Schnittmusterbuch aus England wird für 1880 das erste Mal ein Schnittmuster für den Herren beschrieben, bei dem die Jacke nur noch aus vier Teilen besteht, eine Hälfte Rückseite, eine Hälfte Vorderseite, ein Ärmel und ein Kragen (Hamilton Hill/Bucknell 1967: 184). Bei den Anzügen wurde vorher immer noch ein Rock angenäht und eine Taille eingezogen, d.h., es waren immer mindestens 5 Teile auszuschneiden und anzunähen. Vielleicht war dies eine Entwicklung, die zeitlich früher von der Ready-to-wear-Branche in den USA entwickelt worden. Zum ersten lag der Vorteil in der Reduzierung von 5 auf 4  Teile darin, dass einfacher und schneller zuzuschneiden war, d.h., es konnten Facharbeiter eingespart werden. Zum zweiten mussten dadurch weniger Teile angenäht werden, was die Näharbeiten verbilligte. Es konnten drittens durch die spätere Verkürzung der Jacken zu der heute noch üblichen Länge enorme Mengen an Stoff gespart werden, der immer ein teurer Faktor in der Produktion war (siehe dazu Kapitel 2.3). Und viertens sollen bei lounge suits Jacke, Hose und Weste nur noch aus einem Stoff gefertigt worden sein (de Marly 1985: 101), was den Massenproduzenten von Textilien in den USA sehr zugesprochen hätte.

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durch das Angebot an uniformen Anzügen. Schon 1818 fiel dem Engländer William Chambers bei einem Besuch in den USA auf: „When operatives had finished the labours of the day, they generally changed their garments, and were as neatly attired as those in higher stations.“ Aber auch die Beamten, Regierungsmitglieder und sonstigen Amtsinhaber, so Chambers weiter, waren gleich gekleidet wie die Bürger. Und sogar beim Militär, nicht nur im Zivilleben, stieß er auf die ihn verwirrende Gleichmacherei: „watching a military field day in Pittsfield in 1818, he could not distinguish between officers and enlisted men.“ (Zakim 2003: 207). Die Standardisierung des Produkts führte aber auch zur Systematisierung der Produzenten. Denn ob der Produzent von Ready-to-wear-Bekleidung nun Schneider, clothier, merchant oder manufacturer war, spielte unter den fließenden Bedingungen des industrialisierten Marktes zu der Zeit keine Rolle (Zakim 2003: 45). Die in den von feudalen Restbeständen durchdrungenen Gesellschaften Englands, Frankreichs und nicht zuletzt Deutschlands gemachten Versuche, sich der modernen Fertigung von Kleidung, also der Ready-to-wear-Branche, durch Aufwertung des Schneiders und dessen handwerklicher Kenntnisse und Fähigkeiten entgegenzustemmen, gab es in den USA nicht.169 Für einen amerikanischen merchant farmer machte es keinen Unterschied, ob die Kleidung vom Schneider oder aus dem Ready-to-wear-Business kam, wenn sie nur gut gearbeitet war. „The tailor has less to do with manufacturing a gentleman here, than in perhaps any other part of the world.“ (Zakim 2003: 187). Während die englischen tailors anfingen, auf ehrwürdige Traditionen für gute, aber teure handwerklich gefertigte Anzüge Wert zu legen und am liebsten zu Hofschneidern berufen worden wären (siehe dazu Kapitel 3.1), warben in den Vereinigten Staaten bereits in den 1830er-Jahren Schneider mit der Modernität ihrer Methoden. In Werbungen sprachen sie ihre Kunden damit an, ganz sicher die alten Zeiten von Queen Elisabeth I. oder Ludwig XIV. hinter sich gelassen zu haben. Das als Karikatur in England entstandene Bild vom Yankee-doodleDandy, der zum englischen macaroni aufsteigen wollte, wurde umgewendet. Spöttisch wurde eine Gegenfigur zum amerikanischen Gentleman, der in Amerika jeder gut angezogene Mann sein konnte, erkoren: ein englischer „Royal“, der im amerikanischen Verständnis zu seinem dress coat bunte Westen, immer 169 In Frankreich (Paris) war es die Frauenbekleidungsbranche, die in dem aus England zugezogenen Schneider Charles Frederick Worth (1852–1895) den ersten französischen Modeschöpfer hatte. Worth kam 1845 nach Paris, wo er 1858 ein Modeatelier eröffnete, mit dem er zum „Begründer der Haute Couture“ wurde (Belting 1997: 26). In Paris hält sich das Schneiderhandwerk bis heute wegen der aufwändigen Modeindustrie der Haute Couture und die Haute Couture nur wegen der einigen Handwerkern und Handwerkerinnen noch bekannten Kenntnisse und Fähigkeiten.

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einen weißen Seidenschal und Juwelen trug (Zakim 2003: 185).170 Die Figur des royals verkörperte die noch vorhandenen feudalen Einflüsse in der bourgeoisen Gesellschaft Englands, die in den USA mehrheitlich abgelehnt wurden.171 In individueller Handarbeit gefertigte Bekleidung, luxuriöses und teures Ausschmücken mit Juwelen und Schals schien gegenüber den Möglichkeiten, die sich mit der neuen Produktionsweise entwickelt hatten, als rückschrittlich. Denn durch die in den USA entwickelte Massenproduktionsweise konnte Männerkleidung in guter Qualität und für wenig Geld bereitgestellt werden, es war industrial luxury, für alle betriebsam denkenden erfolgreichen Bürger bestimmt. Am wichtigsten war jedoch für die weitere Entwicklung der Bekleidungsgewohnheiten in den USA, dass die Hersteller von Ready-to-wear-Bekleidung von Anfang an versuchten, schlichte Anzüge in hoher Qualität für so wenig Geld wie möglich zu produzieren, die jeder als Alltagskleidung tragen konnte. Die Männerkleidung musste von hoher Qualität sein, weil diejenigen, für die die Anzüge fertig zum Tragen waren, zwar noch größtenteils von der landwirtschaftlichen Produktion lebten, aber merchant farmers oder ihre Angestellten waren, die mehr Geld ausgeben konnten als Arbeiter oder Bauern in Europa oder Gelehrte und Beamte in den deutschen Staaten (siehe dazu Kapitel 2.1). Das Prinzip der Aufteilung in einzelne Arbeitsschritte zur Mengenproduktion, die assembly line, hatte sich in der Bekleidungsbranche bewährt. Weil sich so erfolgreich, d.h. profitabel, Männerkleidung herstellen ließ, wurde immer bessere Kleidung zu immer niedrigeren Preisen angeboten. Erfolgreich war die Branche mit den ready-to-wear-suits in Amerika allerdings nur, weil durch den ständigen Ausbau der Infrastruktur und des Transportwesens der inneramerikanische Markt beständig wuchs (Zakim 2003: 38). Seit der Unabhängigkeit von den englischen merchants hatte sich New York immer mehr zum Zentrum dieses Marktes entwickelt, von dem aus ein Großteil des Handels mit dem In- und Ausland gesteuert wurde. Von New York bis an die frontier wurden ready-to-wear-suits geliefert und die amerikanischen Männer daran gewöhnt, als Kunden diese fertigen Anzüge zu kaufen. 170 In einer sehr erfolgreichen Komödie mit dem Namen Fashion aus dem Jahr 1845 tritt neben Mr.Truman, im country style gekleidet, einem städtischen dry-good-wholesaler und anderen, auch der Count Jolimaitre auf, ein Möchtegern-Royal (Zakim 2003: 185). 171 Diese spöttische Ablehnung entsprang einer antifeudalen Haltung, weil die Aristokraten in der englischen Gesellschaft durchaus noch Privilegien hatten und es noch eine Mo­ narchie war, während die USA als eine Republik gegründet worden waren. Sie sahen sich dadurch in einer moderneren, überlegeneren Position, daher war die Haltung weniger antibritisch, wie es z.B. die heftige antifranzösische Haltung in der deutschen Gesellschaft war, die sich dort mit einer antibourgeoisen verbunden hatte (siehe dazu Kapitel 1.3).

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Von New York an die Frontier Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts war New York zu einer Stadt herangewachsen, die neben Paris und London bestehen und ihre herausragende Position erfolgreich ausweiten konnte.172 Um 1860 wurden zwei Drittel der Importe und ein Drittel der Exporte über den New Yorker Hafen umgeschlagen (Beckert 2001: 17 f.). Die Grundlage für den Erfolg der merchants in New York gegenüber denen anderer Hafenstädte wie Philadelphia, Baltimore oder Boston, war der auf Sklavenarbeit beruhende Baumwollhandel (Beckert 2001: 20).173

172 Schon 1820 hatte New York 124.000  Einwohner, dicht gefolgt von Philadelphia. 1840 hatte New York 350.000  Einwohner, Philadelphia nur 260.000. Während der 1850erJahre lebten in New York genauso viele Einwanderer wie Einheimische. Kurz vor dem Bürgerkrieg 1860 hatte New York eine Million Einwohner, Philadelphia 590.000. Chicago holte schnell auf und lag jetzt schon an achter Stelle (Sautter 1994: 157 f.). 173 Der „Sturmmarsch“ der englischen Spinnereien hatte den Baumwollanbau in den Vereinigten Staaten und damit den Sklavenhandel gefördert (Marx 2001 [1867]: 467). Im Jahr 1793 wurden im gesamten Süden um die 10.000  Ballen Baumwolle produziert, in den 1820er Jahren waren es auf der nach Westen vergrößerten Fläche gut eine halbe Millionen und 1850 waren es wiederum zehnmal so viel (Sautter 1994: 199). Im Jahr 1790 hatte die Zahl der Sklaven rund 700.000 betragen, bis 1861 war sie auf ungefähr 4 Millionen angestiegen. Karl Marx schreibt dazu, dass die Baumwollindustrie den Anstoß zur Verwandlung der früher mehr oder weniger patriarchalischen Sklavenwirtschaft der Vereinigten Staaten in ein kommerzielles Exploitationssystem gab (2001 [1867]: 787). Das heißt, dass nicht nur im Norden eine Modernisierung eingesetzt hatte, sondern das Sklavensystem der betriebsamen, d.h. der modernen, Produktionsweise angepasst wurde. Das zeigte sich schon bei der ersten wichtigen amerikanischen Erfindung, die auf den Rohstoff Baumwolle ausgerichtet gewesen war. Für die Reinigung der Baumwolle war die card clothing machine von Amos Whittemore (1759–1828) entwickelt worden (1797 in den USA patentiert, in England 1811). Mit dieser Maschine konnten die Baumwollfasern gebürstet und vom Schmutz und den Samenkapseln befreit werden. Außerdem wurden die Fasern mit dem Gerät gleichmäßig ausgerichtet und zu dicken Seilen zusammengezogen, die dann zum Spinnen verwendet wurden. Nicht nur konnte durch die maschinelle Reinigung der Baumwolle Arbeitskraft eingespart werden, sondern die gewonnene Menge an Baumwollfasern war größer. Noch wichtiger war der Erfinder Eli Whitney (1765–1825) für die Weiterentwicklungen in der landwirtschaftlichen genauso wie in der industriellen Produktion der USA, dem schon die Erfindung der assembly line zugeschrieben wurde. Seine im Jahr 1793 erfundene Baumwollentkörnungsmaschine trug zur Ausbreitung der Sklaverei in den Südstaaten nicht unerheblich bei. Diese Maschine erlaubte die Verwertung kurzfasriger Baumwollarten, die überall im Süden angebaut werden konnten, während die bis dahin genutzte langfasrige Baumwollart auf die östlichen Küstenlandstriche beschränkt gewesen war ( Jeremy 2004a: 93).

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Moreover, as a central outpost of the trading networks of the Atlantic world that ­strechted from the coasts of Europe and Western Africa to North and South America, the city connected the southern plantation economy to the factories of Great Britain. (Beckert 2001: 19).

Die New Yorker Handelhäuser waren mit den Plantagen im amerikanischen Süden ebenso verbunden wie mit den merchants aus Manchester, Liverpool und London (Beckert 2001: 18). Even if cotton was shipped directly from New Orleans or Charleston to Europe and did not touch New York, the city’s merchants still profited from commissions, interest on loans, shipping charges, insurance payments, and, ultimately, the import of manufactured goods in the South. (Beckert 2001: 22).

In New York ansässige Banker, Unternehmer und merchants begannen das ganze Land zu dominieren.174 So wie auch in England schon, spezialisierten sich mit der Ausweitung des Handels viele merchants, weil sie „constantly needed to adapt to the rapid expansion and growing complexities of trade.“ (Beckert 2001: 21). Um die Mitte des 19. Jahrhunderts verlegten sich einige exklusiv auf den Baumwollhandel, andere boten Dienstleistungen an, wie das Verschiffen der Waren oder die Finanzierung von Projekten, den Verkauf von Versicherungen. „It set a small but growing number of traders free from the political economy of Atlantic trade and, thus, free of the powerful dependence of slavery and low tariffs.“ (Beckert 2001: 22).175 Für die merchants, die in der Bekleidungsbranche

174 Die Bereitschaft der merchants Kredite zu geben für Korn, das noch nicht geerntet war und für Waren, die noch nicht verkauft waren, förderte die boomende New Yorker Ökonomie. Die erste Bank wurde 1784 gegründet, ab den 1830er-Jahren dominierten die New Yorker Banker das Bankengeschäft. Hatten vorher einzelne merchants den Hauptteil der Kredite vergeben, waren das schon in den 1850er-Jahren die Banken. Während der 1850er-Jahren war es britisches und kontinentales Kapital, das in amerikanischen Handel und Landwirtschaft investiert wurde. Zwei der wichtigsten Banken waren europäische, die französisches, britisches und teilweise auch deutsches Kapital in Amerikas Ökonomie steckten (Beckert 2001: 24 f.). Wieder kamen merchants und Kapital aus den verschiedensten Regionen, wie schon in Manchester (siehe dazu Kapitel 1.1). 175 Durch die Befreiung vom Welthandel und die Konzentration auf den inneramerikanischen Markt waren immer mehr merchants nicht mehr an Gewinnen aus dem Sklavensystem beteiligt, es wird ihnen leichter gefallen sein, sich dagegen zu stellen.

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tätig waren oder in der später aufkommenden Textilindustrie, galt das nicht, ihre wichtigste Rohstoffquelle blieb die Baumwolle aus dem Süden.176 Waren es vorher englische merchants gewesen, die direkt mit den Baumwollpflanzern verhandelt hatten, verbanden jetzt New Yorker merchants Produzenten und Kunden. Während im Süden die Baumwolle Gewinne brachte und für die Verbesserung der Erträge Kapital gegeben wurde,177 waren es im Norden Investitionen in erste Fabriken. Die Gewinne aus dem Handel konnten in Unternehmen wie die Ready-to-wear-Industrie gesteckt werden. Aber auch wenn die Industrialisierung von den Nordstaaten ausging, war der Norden von Anfang an mit dem Süden und später mit dem Westen verbunden. „What,s more, they operated at the intersection of the two great trading triangles of the age, where exports of cotton from the South and produce from the West met cloth and capital from the North and from Europe.“ (Zakim 2003: 38). Diese Weiterentwicklung der Handelsräume machte die Gewinne erst möglich und ohne das Bedürfnis nach Männerkleidung im gesamten bewohnten Gebiet der Vereinigten Staaten wäre die Geschichte der Bekleidung, wie die des amerikanischen Kapitalismus, ganz anders ausgefallen (Zakim 2003: 57). Über New York als dem wichtigsten Hafen der USA kamen die Textilien, ob aus England oder aus Frankreich (wie die Lyoner Seide) ins Land, wurden hier versteigert und dann weiterverkauft. „Auctioneers usually put dry goods under the hammer, to be sold to the city,s numerous jobbers.“ (Beckert 2001: 22). Und diese Stoffe wurden ab den 1820er-Jahren zu Männerkleidung veredelt, was unter anderem ein Grund dafür war, warum New York zum Zentrum der Bekleidungsindustrie wurde, auch wenn das System in Philadelphia entwickelt worden war.178 Aus dem Handel mit Stoffen entwickelte sich der Handel mit fertiger Bekleidung. Als die Produktion von gut sitzender Männerkleidung Anfang des 19. Jahrhunderts möglich wurde, fand diese ihren Weg vom Norden anfangs vor allem über den Schiffsweg in den Süden und mit dem Ausbau der Eisenbahn fast bis zur ständig vorrückenden frontier in den weniger besiedelten Westen (Zakim 176 Wäre die Abspaltung der Sklavenstaaten in den 1830er-Jahren versucht worden, hätte es vielleicht weniger Gegenreaktionen gegeben, weil die Bekleidungsbranche nur indirekt über England mit dem Süden verknüpft war. Aber weil der Versuch der Segregation in den 1860er-Jahren erfolgte, als die amerikanische Textilindustrie schon groß geworden war, waren die in den Nordstaaten tätigen merchants und manufacturers nicht bereit, ihren inneramerikanischen Rohstofflieferanten freizugeben. 177 Auch hier wurde Kapital benötigt (siehe dazu Fußnote 137, zweiter Absatz). 178 In diesem Kapitel geht es um den Handel mit der Ware, der andere wichtige Aspekt der Produktion der Anzüge wird später behandelt (siehe dazu Kapitel 2.3).

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2003: 38). Die erste Eisenbahnstrecke wurde 1830 eröffnet, fünf Jahre nach der ersten englischen und fünf Jahre vor der ersten deutschen Strecke (Sautter 1994: 144). In Manchester war das Hauptmotiv für den Bau der ersten Eisenbahn nach Liverpool das erhöhte Verkehrsbedürfnis zwischen dem Hafen, wo die Baumwolle ankam, und dem Zentrum der verarbeitenden Baumwollindustrie gewesen, das zurückwirkte auf die gesamte Ökonomie. Während in Europa Verbindungen zwischen Städten mit der Eisenbahn hergestellt wurden, wurden in Amerika Siedlungsgebiete verbunden, die zuvor nur über den Umweg der Wasserstraßen zu erreichen waren (Schivelbusch 2000: 87 f.). In den USA war ein effektives Transportsystem notwendig gewesen, um das riesige Gebiet der ökonomischen Nutzung zu erschließen. Doch das Transportsystem war in Amerika nicht vorrangig für eine amerikanische industrielle Revolution von Bedeutung, wie Schivelbusch (2000: 84 f.) schreibt, sondern zuerst bedeutend für den Markt, dem dann die industrielle Produktion folgte. Mit New Yorker Kapital waren die Schiffe bezahlt worden, um die Waren schneller in den Süden zu bringen. Schon ab 1811 hatte sich mit Dampfschiffen eine Fahrt von New Orleans nach St. Louis von drei Monaten auf zehn Tage verringert (Zakim 2003: 47).179 Als nächstes wurde mit New Yorker Kapital 1825 der Erie-Kanal gebaut (Sautter 1994: 143).180 Und schließlich waren von den New Yorker merchants die Eisenbahnen finanziert worden, wieder um neue Märkte zu erschließen (Beckert 2001: 19).181 Wenn Sautter schreibt, dass die Produktion für den Markt statt nur für den Eigenverbrauch des Erzeugers durch die Eisenbahn stieg und mit der 179 Diese Dampfschiffe verkehrten schnell regulär, täglich nach Savannah, Athens, Milledgeville, Macon, Columbia, South Carolina, aber auch nach Greensboro, Fayetteville in North Carolina und nach Chattanooga in Tennesse (Zakim 2003: 51). Wenn Kidwell und Christman schreiben, dass die merchants aus dem Süden und Westen zweimal jährlich in den Norden kamen, um einzukaufen (1974: 63), dann ist das wohl noch untertrieben. 180 Die Kanalzölle brachten schon binnen sieben Jahren die Baukosten für den Erie-Kanal wieder herein, der Staat New York begann, Seitenkanäle als Verbindung zu wichtigen Städten auszuheben (Sautter 1994: 143). 181 „Nachdem die Wasserwege, die in direkter Verbindung mit dem Atlantik stehen, erschlossen sind, macht die Besiedlung einen Sprung: an den Großen Seen sowie im Ohio-Tal bilden sich große Siedlungs-Taschen, die nun in keiner direkten Wasserverbindung mit dem Atlantik-Bereich mehr stehen. Die Verbindung wird dennoch hergestellt, entweder künstlich (Erie-Kanal zu den Großen Seen) oder über einen Umweg natürlicher Wasserwege (Ohio-Mississippi-Golf-Atlantik). Derselbe Vorgang wiederholt sich im großen Maßstab in Kalifornien, das wesentlich von der Küste aus besiedelt wird und mit dem bis zum Bau der transkontinentalen Bahnlinie der Verkehr hauptsächlich via Kap Horn bzw. dem Isthmus von Panama abgewickelt wurde.“ (Schivelbusch 2000: 87).

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Ausdehnung ins Innere des Kontinents für den Markt dort zur vorherrschenden Wirtschaftsform wurde (1994: 142 f.), stimmt das nur halb. Die Erschließung des Westens fiel mit dem Markt zusammen. Schon die merchant farmers hatten von Anfang an Markt- und Handelserfahrungen (Chapman 1992: 135) und Sautter selbst erwähnt ein paar Seiten vorher, dass schon im 18. Jahrhundert die Pioniere durch Marktgewinne zu Wohlstand hatten kommen wollen (1994: 127). Aus einer deutschen und englischen Perspektive heraus wird hier von einem deutschen Historiker anders argumentiert, weil in Deutschland erst die Textil­ industrie einzog und viel später die Bekleidungsindustrie dazukam. Und von dieser Erfahrung aus werden die Entstehung der Bekleidungsbranche und ihr beständiges Wachsen als Folge der durch die Industrialisierung anwachsenden Mittelschichten verstanden, durch deren Bedürfnisse nach Männerkleidung sich langsam ein großer Markt für Konsumgüter entwickelte. Daher noch einmal: Ohne das Bedürfnis nach Männerkleidung wäre für die amerikanische Gesellschaft die Geschichte der Bekleidung anders verlaufen, aber auch die des Kapitalismus (Zakim 2003: 57). Diesem Bedürfnis nach fertiger Männerkleidung nachkommend, durch das Philadelphia-System immer billiger und schneller in Mengen produzierbar, begannen country merchants das amerikanische Territorium mit Fertigkleidung zu beliefern. Die Handelswege von New York in die Provinz waren vom Handel mit Textilien bekannt. Jetzt wurden die Stoffe einfach in Bekleidung veredelt.182 Die Extrakosten, die dadurch erbringen waren, wurden unter anderem eingespart, dass manufacturers damit begannen, die etablierten dry-good-wholesaler (Kurzwarenhändler) und die alten general stores zu umgehen (Zakim 2003: 48). Fertige Kleidung boten bald darauf spezialisierte Händler im gesamten bewohnten Gebiet der damaligen Vereinigten Staaten feil. Damit wurde fast jeder Mann als Kunde erreicht, jeder provinzielle Einwohner konnte „clothing for work or for their Sunday best“ kaufen (Zakim 2003: 50). Diese Händler von fertiger Männerkleidung waren keine einzelnen Schneider, bei denen häufig die Ware auf Kredit zu bekommen gewesen war. Dadurch dass das neue Geschäft auf Barzahlung beruhte, trug es zur Modernisierung des Vertriebssystems bei. „Country merchants [...] have found that the sale of clothing can be effected with less trouble than piece goods [lengths of cloth], and without the serious drawback of remnants – that there is less competition – [and] that their daily receipts of cash are thereby increased.“ (Zakim 2003: 182 Als nach der Wiedereröffnung des Handels mit England 1815 erneut Mengen an englischen Stoffen eingeführt wurden, war das der beständig wachsenden amerikanischen zivilen Bekleidungsindustrie äußerst willkommen (Zakim 2003: 41).

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48). Für country merchants war Barzahlung bequem, sie brauchten keine Kundenkonten zu führen, mussten weniger säumige Schuldner verfolgen und damit nicht mehr um ihre Auslagen fürchten. Aber auch für die New Yorker merchants war es der sicherste Weg ein Business zu führen (Zakim 2003: 75). Dazu kam, dass sich in den riesigen Handelsräumen Käufer und Verkäufer fremd wurden, wer die Ware kaufte, konnte am nächsten Tag weiterziehen, um woanders sein Glück zu machen. Die frühe Spezialisierung im Geschäft mit der Herrenbekleidung hatte also dazu geführt, dass country merchants größere Mengen von Waren einkaufen und ein breites Angebot bereitstellen konnten (Zakim 2003: 48). In den 1830erJahren warb ein Geschäftsmann aus Augusta für feine tail coats, aber auch für solche, die im Alltag getragen werden konnten und für dress coats in über zehn verschiedenen Farben (Zakim 2003: 50).183 Nicht nur wurde durch die billigere Produktion in New York der Preis reduziert, sondern die Kleidung war in Stil und Machart immer schon einheitlich standardisiert (Zakim 2003: 55). Hier wurde eine gleichzeitige Erfahrung hergestellt, die in Europa so noch nicht vorstellbar war, wo z.B. von Paris aus die Bekleidung in immer schlichteren Versionen in den Provinzen nachgeahmt oder in deutschen Städten in Journalen nachgelesen, und damit als ungleichzeitig erfahren wurde (siehe dazu Kapitel 1.2 und 1.3). Aber es war noch keine einseitige Ausbreitung von der Metropole New York oder den großen Städten in die Provinz, sondern es gab Legionen von country merchants, die selbst in die Metropolen reisten, um dort die Warenbestände wieder aufzufüllen (Zakim 2003: 48).184 Vergleicht man diese Entwicklung mit derjenigen in England, das in dieser Zeit in der industriellen Fertigung von Textilien noch konkurrenzlos war, 183 Außerdem für eine Auswahl an Mänteln aus Mohair, Deutscher Ziege, grober Petersham Wolle, die mit Mänteln von Schiffslotsen, Seeleuten oder Jägern assoziiert wurden. Westen in scheinbar endlosen Variationen von Farben, Garnen, Webarten und Schnitten, aus Seide imitierenden, bis hin zu einfachen schwarzen oder blauen Stoffen (Zakim 2003: 50). Obwohl diese vielfältige Auswahl den Eindruck von großem Variantenreichtum vermittelt, war es doch durch die standardisierten Maßsysteme nur ein scheinbarer. Im Süden gab es jedoch neben dieser Vielfalt an guter und günstiger Ready-to-wear-Männerbekleidung eine ältere Form, die sich davon grundlegend unterschied. Zwar hatten die manufacturers auch „Negro Clothing“, „‚neogroe‘ [sic!] pants and vests“ im Angebot (Zakim 2003: 51). Aber obwohl es rund zwei Millionen Einwohner gewesen wären, ein lukrativer Markt für standardisierte billige Kleidung, wurde der Bedarf an Bekleidung für Sklaven nicht über den vernetzten Handel mit ready-to-wear abgewickelt (Zakim 2003: 51), sondern weiterhin von den englischen clothiers mit billigster Slop-Ware betrieben (siehe dazu Kapitel 1.1). 184 Diese einzelnen unabhängigen country merchants werden spätestens nach dem Bürgerkrieg durch große corporations ersetzt, von big business men kontrolliert (siehe dazu Kapitel 3.2).

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veränderten sich dort erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts die Verhältnisse, also mit einer Verspätung von rund 20 Jahren. Marx zitiert einen Londoner Fabrikanten, wie sich die Gewohnheiten bei der Warenbestellung durch die Ausdehnung des Eisenbahnsystems verändern. Käufer kommen jetzt von Glasgow, Manchester und Edinburgh einmal in 14 Tagen oder für den Engroskauf zu den City-Warenhäusern, denen wir die Waren liefern. Sie geben Ordres, die unmittelbar ausgeführt werden müssen, statt vom Lager zu kaufen, wie es Gewohnheit war. In früheren Jahren waren wir stets fähig, während der schlaffen Zeit für die Nachfrage der nächsten Saison vorauszuarbeiten, aber jetzt kann niemand vorhersagen, was dann in Nachfrage sein wird. (Marx 2001 [1867]: 502).

Eine Umstellung auf die raschere Nachfrage konnte nur unter großen Mühen erfolgen. Und Marx beschreibt das als große Entfernung, die jetzt überwunden wurde. Eine Reisestrecke von 650 km, wie die von Edinburgh nach London, zu überwinden, hätte schon in den 1830er-Jahren bei den amerikanischen merchants kein Erstaunen hervorgerufen. Am Beispiel Augusta in Georgia kann das genauer gezeigt werden. Augusta war einer der Knotenpunkte für den Handel mit Männerkleidung im Süden der Vereinigten Staaten. Es lag an einer Federal Road, die Familien vom GeorgiaCarolina Piedmont (Plateau zwischen dem Atlantik und der Gebirgskette Appalachen) nehmen mussten, wenn sie nach Westen auswandern wollten (Zakim 2003: 49). Die Eisenbahn, die von Augusta nach Charleston fuhr, war in den 1830er-Jahren die längste der Welt und ab 1833 wurden weitere Strecken ausgebaut, um Augusta mit dem Zentrum des Staates und dann mit dem Tennessee River und Knoxville zu verbinden (Zakim 2003: 51). Dadurch konnten ab den 1830er-Jahren Firmen aus dem Nordosten den Handel mit Männerkleidung in entlegene Gebiete ausweiten. In Augusta, Georgia, mit rund 1200 km Distanz fast doppelt so weit entfernt von New York wie Edinburgh von London, war schon in den 1830er-Jahren damit geworben worden, dass täglich frische Ware (und damit war kein Gemüse oder Fleisch gemeint, sondern Anzüge, Mäntel oder Hemden für Männer) aus dem Norden ankäme.185 In der Hauptsaison konnte ein Geschäftsmann aus Augusta schon Mitte des 19. Jahrhunderts beispielsweise fünfzig oder sechzig Mäntel extra bestellen und innerhalb von wenigen Tagen die lokale Nachfrage befriedigen. Dazu 185 Zehn Jahre vorher, in den 1820er-Jahren, hatte man hier noch damit geworben, dass Kleidung bester Qualität so günstig sei, weil man sie im vorigen Sommer genäht habe (Zakim 2003: 155).

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kontaktierte er seinen Mittelsmann in New York und gab den favorisierten Stil sowie die Farben weiter, auch spezielle Preislisten und spezielle Größen konnten angegeben werden. Der als white-collar worker (Angestellter) des country merchants (hier aus Augusta) arbeitende New Yorker Mittelsmann versuchte dann als Erstes, die Stoffpreise niedrig zu halten, wozu er für gute Gelegenheiten oder Schnäppchen Auktionshäuser aufsuchte, um anschließend die Nähaufträge zu erteilen. Bereits am Ende der Woche waren die gewünschten Kleidungsstücke fertig gearbeitet und als Pakete auf eines der täglich von New York nach Charleston fahrenden Dampfschiffe verladen. Von Charleston aus brauchten die Waren mit der Eisenbahn neun Stunden bis nach Augusta, so dass sie, nur wenige Tage nachdem sie New York verlassen hatten, dort ankamen (Zakim 2003: 50).186 Clothiers verkauften von hier aus ihre Waren weiter an die general stores im Inland, als diese begannen, einige Bekleidungsstücke für Männer bereit zu halten (Zakim 2003: 51). Noch 100 Meilen westlich von Augusta hatte ein merchant seine Waren im Angebot, beispielsweise einmal quer durch den Staat Georgia bis an die Grenze von Alabama. Hier verkauften country merchants erfolgreich Männerkleidung für Farmer und Pflanzer, die sich an den Kauf ihrer Bekleidung gewöhnten. Aber auch die auf ihrem Weg in den Westen ziehenden Pioniere kamen, noch bevor sie ihre Siedlungsgebiete erreichten, mit der fertigen Männerkleidung in Kontakt. In den USA gab es die hergebrachten Dorfstrukturen und die Unerreichbarkeit für Waren oder Menschen, eine autonome Versorgung und Abschottung vom Markt, nicht im europäischen Ausmaß. Die Strukturen, die sich in den Metropolen gebildet hatten, gab es immer auch dort, wo die Transport- und Handelswege hinreichten. In Amerika haben die Begriffe Land, Dorf, Provinz eine differente Bedeutung. Der Markt war in den USA in der Provinz, dort konnte mit dem Kapital und der Arbeit aus der Metropole Profit gemacht werden. Wie an Augusta gezeigt, war der amerikanische Süden eingebunden in den Markt (Zakim 2003: 51). Der lukrative Verkauf von durch Sklavenarbeit erwirtschafteten Rohstoffen in die Weltökonomie erlaubte die Einfuhr von Fertigwaren im Süden. Aber die freien Männer konnten den Variantenreichtum und die Fülle an Bekleidung nur auf Kosten der Millionen Sklaven erwerben, die davon 186 Anfangs gingen die Bestellungen von Augusta nach New York, es wurden nach Kunden­ interessen Waren produziert. Zakim schreibt, dass durch den Wunsch nach immer billigerer Männerkleidung bei den konkurrierenden Herstellern die Preise gedrückt wurden. Aber wenn er weiter schreibt, dass sich Hersteller mit differenten Preise auf bestimmte Preisgruppen spezialisierten und der moderne Massenkonsum begann (Zakim 2003: 155), so war das eine Entwicklung, die sich erst in der Zeit nach dem Bürgerkrieg durchsetzen sollte, weil sich die Bedürfnisse der amerikanischen Gesellschaft veränderten (siehe dazu Kapitel 3.2).

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ausgenommen waren. Während es den verschwenderischen Lebensstil einiger weniger Plantagenbesitzer im Süden gab (Adams 1977: 28), war ein großer Teil der männlichen Bevölkerung nicht im Besitz guter Ready-to-wear-Bekleidung.187 So lässt sich auch an der Männerkleidung zeigen, dass die gesellschaftlichen Differenzen im Süden größer waren als im Norden. Sie nahmen noch zu, als über New York stets neue Einwanderer ins Land kamen und als Siedler weiter nach Westen zogen, wo sie als Produzenten von landwirtschaftlichen Produkten für den amerikanischen Markt und als Konsumenten der neuen ready-towear-suits den Markt der merchants von New York immer weiter ausdehnten. Der Handel nach Westen begann in den 1850er-Jahren wichtiger zu werden (Beckert 2001: 23).188 Die Eisenbahn war gebaut worden, um bereits bestehendes Siedlungsgebiet zu erreichen (Schivelbusch 2000: 87 f.), jetzt erschloss sie den Mittleren Westen und verband die kleinen Städte über Chicago mit der Ostküste. Im Jahr 1850 lebte jeder zweite Amerikaner dort, wo ein halbes Jahrhundert vorher scheinbar unbesiedelte Wildnis gewesen war.189 Das Bild von der

187 Zur Pflanzeraristokratie, deren Angehörige 50 und mehr Sklaven besaßen, gehörten um die Jahrhundertmitte etwa 8000  Familien, die rund 350.000  Sklaven besaßen (Sautter 1994: 200). Diese Sklaven trugen die billige Slop-Bekleidung (Aldrich 2007: 17) oder wohl auch abgelegte Kleidung der Besitzer (Sautter 1994: 201). Knapp ein Zehntel der schwarzen Bevölkerung war frei, und das blieb konstant (Sautter 1994: 200). Zur Bekleidung dieser freien Schwarzen habe ich nicht geforscht. 188 Durch die Öffnung nach Westen in den 1830er-Jahren kam der Streit zwischen agrarischen Produzenten und denen für industrielle Güter wieder auf, über die Frage nach billigen Sklaven oder billigen Arbeitskräften, an denen immer noch ein großer Mangel herrschte. Die manufacturers der nordöstlichen Staaten waren gegen neue Landverkäufe im Westen, weil ihnen billige Arbeitskräfte abgezogen wurden. Da die Verkäufe zudem neues Geld für die Regierung brachten, hatten sie die Befürchtung, dass die Schutzzölle gegen ausländische Industrieprodukte aufgehoben würden (Sautter 1994: 182). In den Südstaaten blieb bei den Pflanzern die Abneigung gegen die hohen Schutzzölle bestehen, weil sie nur den Nordoststaaten dienten, ihnen selbst aber zweifach schadeten. Einmal wurden die Fertigwarenimporte künstlich verteuert und zudem sahen sie die Gefahr von Gegenmaßnahmen der von den Schutzzöllen betroffenen Staaten, was ihre Baumwollexporte ins Ausland gefährdet hätte. Schon 1832 entwickelte sich dieser Missmut im Süden und South Carolina dachte daran, solche Gesetze, die den Einzelstaaten schaden, zu „nullifizieren“ (Sautter 1994: 183). Das Problem der Verteilung der gesetzgeberischen Autorität war nicht entschieden und blieb bis zum Bürgerkrieg sehr strittig (Sautter 1994: 183 ff.). 189 Und mit dem im Jahr 1862 eingeführten Homestead Act wurde die Besiedlung weiter unterstützt. Bis 1860 vergab der Kongress über 30 Millionen acres an elf Staaten, vor allem im Mittelwesten. Chicago wurde hier nach der Jahrhundertmitte zum Knotenpunkt des Verkehrs, 15 verschiedene Linien belieferten dieses Handelszentrum, über hundert Züge wurden auf seinen Bahnhöfen jeden Tag abgefertigt (Sautter 1994: 145).

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Erschließung des Westens, das seit den 1890er-Jahren in den USA geprägt und in Europa bis heute romantisiert wird, der Einzelne habe frei und unabhängig der Natur die Früchte abgerungen, stimmt nicht. Auch wenn die Eroberung des Westens als Leistung unabhängiger Farmer im amerikanischen Mythos gefeiert wird, endete hier die relativ kurze Phase des freien Wettbewerbs um natürliche Ressourcen, denn die Besiedlung des Westens begann gleichzeitig mit der Industrialisierung (Truninger 2010: 48). Der Westen war ein Amerika in Amerika – hatte die Besiedelung der Ostküste frei von feudalem Ballast in Agrarkolonien ihren Anfang genommen, die Nordstaaten sich bis zum Bürgerkrieg zur Industriegesellschaft entwickelt, begann die Besiedelung der Staaten des Westens schon als industriegesellschaftliches Unternehmen. [Farmer] [...] betrieben keine Subsistenzwirtschaft [...], sondern produzierten von Beginn an für den Markt. (Truninger 2010: 49).

Die farmers im Westen wurden dabei nicht nur als Produzenten, sondern auch als Konsumenten in den Markt eingebunden. Männliche Siedler, die, wie an Augusta beispielhaft gezeigt, schon auf dem Weg zu ihren Siedlungsgebieten ready-to-wear-suits kennengelernt hatten, waren damit auch Kunden für die Bekleidungsindustrie. Und die bestand seit den 1820er-Jahren und damit lange bevor irgendeine Industrie sich in den Siedlungsgebieten selbst ausbreiten konnte. Immer weiter nach Westen schritt die Besiedlung voran, durch den Bau der Eisenbahn hatte sich auch die Reisezeit nach Kalifornien verringert, das, ausgelöst durch den Goldrausch, zum Ziel vieler abenteuerlustiger Männer wurde. „The huge California market that opened up after 1849 gave this seasonal shift an extra push, since the garments required that much longer to make the trip to San Francisco.“ (Zakim 2003: 67).190 Doch ging der Blick nach 190 Weil bis heute die Erschließung des Westens romantisiert wird, interpretieren Autoren wie Kidwell und Christman die Ausbreitung von Jeans und Freizeitkleidung dahingehend. „Beginning in the thirties a fashion influence from a new source, namely California, was manifest in both men,s and women,s clothing. Out of a less formal lifestyle of the West, perhaps out of the lingering frontier attitudes of individuality and independence, out of the louder tones of a newer civilization, out of the vivid colors of a sundrenched landscape came a casual clothing which Americans made peculiarly their own [...] It is symbolic that California,s first clothing manufacturer was Levi Strauss, who in 1850 began the production of jeans, the most American of all garments, which in his day spoke to the pragmatic need for durable clothing“ (1974: 169). Levi Strauss bezog seine Stoffe aus dem Geschäft seiner Familie in New York (Condra 2008: 66). Die Produktion der Jeans war gar nicht so revolutionär und besonders amerikanisch, wie bei Kidwell und Christman angedeutet, das war schon die Ready-to-wear-Produktion der Anzüge gewesen – der Schritt zur Her-

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Westen gegen Mitte des Jahrhunderts für viele New Yorker merchants noch viel weiter über die Küste Kaliforniens hinaus. Es war das Bedürfnis, den Handel mit dem Fernen Osten zu erweitern und die Häfen von San Diego und San Francisco als Stationen für den Exporthandel mit Asien zu nutzen.191 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts hatte sich der Handel so erfolgreich durchgesetzt, dass Männerkleidung in den USA nur noch fertig gekauft wurde.192 Und das Prinzip des Philadelphia-Systems, mit der Aufteilung in einzelne Arbeitsschritte zur Massenproduktion als assembly line, die sich unter anderem in der Bekleidungsbranche bewährt hatte, wurde auch auf immer neue Waren ausgeweitet. Im Jahr 1840 wurde das Ende der Heimfertigung von Männerkleidung gefeiert (Zakim 2003: 208). Wo sich erfolgreich, d.h. profitabel, Männerkleidung herstellen ließ, wuchs die Konkurrenz unter den Produzenten und Händlern, um immer bessere Kleidung zu immer niedrigeren Preisen anzubieten. Auch hier wurden, wie bei den Maßsystemen, Wettkämpfe veranstaltet, in denen manu­facturers darum kämpften, wer schneller einen ready-to-wear-suits herstellen konnte. Ein Sieger, der in 10 Stunden einen suit fertig hatte (unter Mithilfe seiner Näherinnen höchstwahrscheinlich), bot, angefeuert vom eigenen Erfolg, sofort eine erneute Wette, es noch einmal in nur 8 Stunden zu schaffen (Zakim 2003: 76). Es war vor allem ein System von kleinen Profiten und schnellen Umsätzen (Zakim 2003: 73 ff.). Noch fand die Konkurrenz über den Preis der Ware statt und der riesige Markt wurde mit ready-to-wear-suits überschwemmt, was in den frühen 1840er-Jahren zu einem dramatischen Preisverfall führte. Einstmals exklusive Güter wurden für alle erreichbar; Anbieter von Herrenbekleidung stellung von Mengen von Hosen aus einem brauchbaren Stoff war da nur ein kleiner. Der Großteil der Bekleidung wurde in dieser Zeit im Umfeld von New York genäht (siehe dazu Kapitel 2.3) und von dort genauso in den Süden oder an die Westküste geschickt. Von denselben Näherinnen konnten Anzüge für Männer in Augusta, Kittel für Farmer in Iowa oder die Jeans der Goldgräber in Kalifornien genäht werden (Zakim 2003: 65). Da der Markt immer weiter ausgebaut wurde, war es keine Überraschung, dass die Jeans ein Erfolgsschlager wurden, sie waren überall zu bekommen. Freizeitkleidung wurde erst nach dem Bürgerkrieg wichtig, als die gesellschaftlichen Bedürfnisse sich wieder veränderten (siehe dazu Kapitel 3.2). 191 Aus Angst, dass die wertvollsten Gebiete, Texas, Oregon und Kalifornien in den 1840erJahren in englische Hände fallen konnten, wollten die Amerikaner den Spaniern nach bewährter Merchant-Methode Texas abkaufen. Nachdem Texas 1836 unabhängig und von England sofort anerkannt worden war, um das Baumwollmonopol der Amerikaner zu brechen, wurde Texas 1845 in die Union aufgenommen, obwohl die Sklavenfrage es lange verhindert hatte (Sautter 1994: 192 f.). Hier konvergierten die Interessen der merchants und der Pflanzer in den Südstaaten, die ihr Sklavensystem nicht verlieren wollten. 192 Die Frauenkleidung wurde allerdings auch nach dieser Zeit weiter in Heimarbeit genäht.

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hängten täglich Preise aus, um ein größer werdendes Publikum für ihre zu günstigen Preisen zu erstehenden Anzüge zu interessieren. In den Geschäften sollen sogar Dandys und Beaus um 30 Cent Rabatt auf ihren Anzug gefeilscht haben (Zakim 2003: 77). Und so erstaunlich es klingen mag, es waren anfangs ausschließlich Warenhäuser für Männerkleidung, in denen die Anzüge, Westen, Hemden und Mäntel aufgehängt auf den neu erfundenen Bügeln oder in sorgfältig beschrifteten Boxen, nach festen Preisen sortiert ausgestellt wurden (Zakim 2003: 100). Die Warenhäuser boten ganz neue Möglichkeiten für den sich ausweitenden Handel (Aldrich 2007: 33).193 In den 1850er-Jahren schrieb der in Polen geborene, in Europa ausgebildete und in Amerika gestorbene und damit beide Seiten des Atlantiks gut kennende Adam de Gurowski (1805–1866), „homespun has [...] disappeared, and the consumption of various articles by twenty odd million Americans surpasses that of one hundred millions of Europeans“ (zit. n. Zakim 2003: 187) 

Die Standardisierung konnte in den USA am konsequentesten durchgesetzt werden, weil Käufer, Markt, Maßsystem und das gesellschaftliche Bedürfnis nach bourgeoiser Männerkleidung am weitesten entwickelt waren. Durch die neuen assembly lines war es zur Systematisierung der Käufer gekommen, denen ein Angebot an immer billigeren und qualitativ besseren uniformen Anzügen gemacht werden konnte. Es war auch zur Systematisierung der Produzenten gekommen, weil es unter den fließenden Bedingungen des industrialisierten Marktes keine Rolle spielte, wer der Produzent von Ready-to-wear-Bekleidung war. Aber das galt nicht nur für die Schneider, clothier, merchants oder manufacturers (Zakim 2003: 45), sondern das sollte auch für die industrial workers in der Bekleidungsindustrie gelten, die Massenproduzenten der Uniform der Masse. Deshalb war das Ende der Heimfertigung nicht für alle ein Grund zum Feiern. Auch wenn die Männerkleidung jetzt fertig gekauft wurde, musste sie trotzdem 193 Einige der damals gegründeten Geschäfte bestehen bis heute. Die Firma Brooks ­Brothers, so nannten sie sich seit 1850, hatte als kleines Warenhaus begonnen, dann zogen die Brüder an den Broadway, womit der Ready-to-wear-Bekleidungshandel ins Zentrum der Stadt rückte (Zakim 2003: 65). Und der von Rowland Macy 1858 eröffnete Laden wurde von ihm als der größte der Welt beworben (Beckert 2001: 24). Mit dem Wissen darum, dass im Einzelhandel Geld zu machen war, eröffnete Alexander T. Stewart, ein New Yorker Banker und Investor, 1846 den Marble Palace (Beckert 2001: 24), um den Herren ein elegantes und modisches Einkaufen zu ermöglichen. New York und andere Metropolen füllten sich mit großen Bekleidungsgeschäften, beispielsweise eröffneten Marshall Field und Carson Pirie Scott & Co. 1852 in Chicago ein Warenhaus (Kidwell/ Christman 1974: 157).

Die Uniform der Masse

noch zusammengenäht, d.h. produziert, werden. Um in der seit den 1820er-Jahren anwachsenden Bekleidungsindustrie konkurrenzfähig zu bleiben, wurden immer bessere und preiswertere ready-to-wear-suits verlangt. Das Problem der dafür benötigten billigen Arbeitskräfte konnte in den USA, wo der Mangel an Lohnarbeitern schon lange bestand, nur durch die zunehmende Einwanderung über die Stadt New York gelöst werden. Die Neueinwanderer übernahmen das Nähen der suits in den sweatshops für die amerikanische Gesellschaft, bis sie selbst in die Fabriken der Umgebung oder in das Landesinnere und bis in die Siedlungsgebiete im Westen weiterziehen konnten. Und die industrial workers nahmen jede sich bietende Gelegenheit wahr, um ihre Situation zu verbessern. Das Problem des dadurch bedingten ständigen Personalwechsels unter den Lohnarbeitern wurde gelöst, indem die manu­ facturers in den USA verstärkt auf Maschinenarbeit setzten. Die Arbeitsabläufe und die Arbeit der Industriearbeiter selber wurden durch den Einsatz der Massenproduktionstechnik konsequent weiter standardisiert. So wurde in den USA maschinelles Weben entwickelt und damit erstmals die gesamte Textilproduktion maschinisiert: Als Massenproduzenten konnten sich nun durch diese Weiterentwicklung auch amerikanische Textilproduzenten auf dem von den englischen merchants seit der Kolonialzeit beherrschten inneramerikanischen Stoffmarkt mit im eigenen Land produzierten Textilien durchzusetzen.

2.3 Massenproduzenten

Die alte Weisheit: Schuster bleib bei deinen Leisten, „wurde zur Narrheit von dem Moment, wo der Uhrmacher Watt die Dampfmaschine, der Barbier Arkwright den Kettenstuhl, der Juwelierarbeiter Fulton das Dampfschiff erfunden hatte.“ (Marx 2001 [1867]: 512 f.). Das Prinzip der erfolgreichen Großmanufaktur in Philadelphia konnte ausgebaut werden, weil die Bekleidungsindustrie – im Gegensatz zur Textilindustrie – keine großen Investitionen, also wenig Kapital für teure Maschinen, und keine Unternehmensstrukturen benötigte (Zakim 2003: 38). Während Faktoren wie Wasserkraft, für den Antrieb von Maschinen, oder hohe Mieten andere Industrien daran hinderten sich in den Metropolen anzusiedeln, konnten die entrepreneurs in der Bekleidungsbranche überall dort ihr Geschäft starten, wo sie den für sie wichtigsten Faktor fanden: billige Arbeitskräfte.194

194 Bis heute sind ein geringes Investitionskapital für Maschinen, Räume ohne besondere Einrichtungen, niedrige Fixkosten, dafür eine hohe Ausbeutung an vorhandenen Arbeits-

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Obwohl durch die ständige Einwanderung in die Vereinigten Staaten von Amerika die Zufuhr an potentiellen Lohnarbeitern groß war, die absolute Bevölkerung sehr rasch wuchs und viele Arbeiter „erwachsen auf die Welt“ kamen (Marx 2001 [1867]: 797), war es weiterhin schwierig Lohnarbeiter zu bekommen, Menschen, die dazu gezwungen waren, ihre Arbeitskraft freiwillig zu verkaufen (Marx 2001 [1867]: 793). Nur in New York war das möglich, weil hier der größte Teil der über den Atlantik Einwandernden landete. Einerseits läßt der ungeheure und kontinuierliche Menschenstrom, jahraus, jahrein nach Amerika getrieben, stockende Niederschläge im Osten der Vereinigten Staaten zurück, indem die Emigrationswelle von Europa die Menschen rascher dorthin auf den Arbeitsmarkt wirft, als die Emigrationswelle nach dem Westen sie abspülen kann. (Marx 2001 [1867]: 801).

Es war dieser „Bodensatz ‚überzähliger‘ Arbeiter“ (Marx 2001 [1867]: 799), durch den sich die Bekleidungsindustrie langsam aufbauen konnte. Es gab auch Unternehmen in Städten wie Philadelphia oder Boston. Aber weil in New York die Anzahl an Einwanderern ungleich größer war und sie alle ihre Arbeitskraft aufgrund der Konkurrenz billig verkaufen mussten, nutzten das die clothiers. Sie konnten ready-to-wear-suits in Massen immer preiswerter produzieren.195 Sweat Suits Work-work-work! Till the brain begins to swim Work-work-work! Till the eyes are heavy and dim! Seam and gusset, and band Band, and gusset, and seam, Till over the buttons I fall asleep And sew them on in a dream. Song of the Shirt by Thomas Hood, 1843

kräften die Gründe, warum die Bekleidungsindustrie derjenige Sektor ist, der schnell in immer neue Billiglohnländer abwandern kann. 195 Bis 1880 konzentrierten sich die clothiers in New York (Aldrich 2007: 33), weil mit der zweiten großen Einwanderungswelle so viele Menschen kamen, die für die niedrigsten Löhne arbeiten mussten (siehe dazu Kapitel 3.2).

Die Uniform der Masse

Die Fertigung von Männerkleidung für einen anonymen Markt bot Vorteile für die clothiers, weil bei der Ready-to-wear-Produktion längerfristige Planungen möglich waren, wenn nicht sowieso sehr spezialisierte Bekleidung gefertigt wurde (Zakim 2003: 136), Stoffe konnten so günstig wie möglich auf Auktionen oder lange im Voraus gekauft werden, was längerfristige Planungen zuließ (Zakim 2003: 58) und die Arbeiten (und damit die Aufträge) konnten besser verteilt werden. Einige Geschäfte fingen an, überall die günstigsten Kleidungsstücke aufzukaufen und „at the shortest notice and for the lowest price“ (Zakim 2003: 60) wieder weiterzuverkaufen. Zwar war der Profit geringer, aber auch das finanzielle Risiko, so dass kleinere Firmen mit wenig Kredit dadurch einen Anfang in die Selbstständigkeit machen konnten. Hunderte von entrepreneurs, die keine Ahnung vom Geschäft hatten, eröffneten ihre eigenen clothier shops, heuerten cutters (dt. Zuschneider) an, und beuteten die Arbeit von verarmten Näherinnen aus, um Männerbekleidung zu nähen (Zakim 2003: 60).196 Clothing once again proved ideally suited to the exigencies of metropolitan profit making as clothiers avoided the more rigid, and costly, social obligations – overall responsibility for their laborers’ subsistence – once expected of employers. (Zakim 2003: 137).

Nach dem Philadelphia-System wurden die Arbeitsschritte, die vorher der einzelne Schneider, oder im größeren Betrieb er mit seinen Gesellen, erledigt hatte, jetzt wie in einer assembly line aufgeteilt (siehe dazu Kapitel 2.2). Größere manufactories übernahmen dieses System und versammelten alle Arbeiten unter einem Dach. Aber kleinere clothiers lagerten – wie in Europa für die Slop-Kleidung bekannt (siehe dazu Kapitel 1.1) – die Näharbeiten aus. Zwischen dem Händler und dem fertigen Kleidungsstück bewegten sich Mittelsmänner (Verleger), die den Stoff- und Arbeitsmarkt balancierten, um die größte Ausbeute und den größten Profit herauszuholen (Zakim 2003: 47). Für die clothiers bedeutete die Auslagerung, also die Verlegung der Produktion, den besten Weg zu einem garantierten Gewinn. Gerade weil der Bedarf an flexiblen Arbeitern groß war, konnten sie die Koordination von Angebot und Nachfrage wunderbar abwälzen. Durch Auslagerung der Risiken wurde Geld gespart, d.h., es wurde nur dann bezahlt, wenn Bedarf an Arbeit da war. Auch brauchte man

196 Die cleversten der neuen businessmen steckten das Geld in Land im Westen und verschwanden in der Krise von 1837 nach dem Bankrott ihrer Läden (Zakim 2003: 60). Bankkrisen folgten immer wieder, erst von 1834 bis 1837, dann die europäische Depression, die auch Auswirkungen in den USA hatte und 1843 den absoluten Tiefpunkt erreichte, bis Ende der 1840er-Jahre der Aufschwung kam (Sautter 1994: 149).

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sich nicht um Räume oder Heizbedarf, kaum um die Maschinen oder Werkzeuge zu kümmern. Bis zur Entwicklung der Nähmaschine ersetzten daher die zu Tausenden in der Bekleidungsindustrie arbeitenden Näherinnen das, was in anderen Bereichen die Maschinen waren (Zakim 2003: 147). Denn auch wenn man die Ready-to-wear-Branche mit dem Wort Bekleidungs-Industrie in Abgrenzung zum Handwerk zu beschreiben versucht, war es die Handarbeit des Nähens, die dringend für ihre erfolgreiche Durchsetzung benötigt wurde. Die kapitalistische Produktion von Kleidung unterschied sich technisch nicht von der vorkapitalistischen Produktion, darum war es dieser Teil der Arbeit, der ungeheuer viel Arbeitskraft brauchte (Zakim 2003: 130). Das Prinzip des Nähens hatte sich seit der Altsteinzeit nicht verändert (Zakim 2003: 134) und bis zur Einführung der Nähmaschinen nahm man am liebsten Frauen, die ihre notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten auf der anderen Seite des Atlantiks gelernt hatten (Zakim 2003: 142).197 Doch auch wenn, wie Zakim schreibt, die Nähmaschine, eingeführt in den 1850er-Jahren, nach derselben Technik funktionierte, und die Produktivität dadurch enorm gesteigert werden konnte (2003: 130), lag der Gewinn der clothiers bei deren Einsatz noch woanders. Der entscheidende Unterschied war nicht, dass die Nähtechnik sich veränderte. Das war beim maschinellen Spinnen, wie es in England aus der Handarbeit entwickelt worden war, auch nicht gegeben. Der Unterschied lag darin, dass jede Näherin und jeder Näher zu einem gleichförmig arbeitenden Massenproduzenten wurde. In Amerika unterschied sich die Einführung der Nähmaschinen von der Einführung derselben in England, wo Marx die Veränderung der Bekleidungsindustrie durch das „Wearing Apparel“198, als eine Umwälzung von Manufaktur, Handwerk und Hausarbeit in Fabrikarbeit beschrieb. Diese Branche habe erst darauf aufbauen können, dass durch die Industrialisierung und die dadurch erfolgte Einführung von Maschinen viele Arbeiter freigesetzt wurden, die sich aus Verzweiflung mit der Produktion von „Wearing Apparel“ verdingen mussten (Marx 2001 [1867]: 494). Die Erfindung der Nähmaschine habe, wie bei jeder Einführung von Maschinerie, den Lohn der Maschinenarbeiter im Verhältnis zu 197 Ob es allerdings bei den Frauen zur „self-identity“ als „skill integral“ führte, wie Zakim (2003: 142) schreibt, ist fraglich. Bevorzugt wurden immer alleinstehende Mütter mit Kindern, die wegen dieser Verantwortung als disziplinierteste Arbeiter galten. 198 Bei Marx sind das die zum Anzug gehörigen Artikel, die nicht mehr für den individuellen Konsumenten, sondern für Manufakturen und Warenmagazine gearbeitet werden, im Grunde ready-to-wear – interessant ist, warum es nur die dazugehörigen Artikel sind und nicht der Anzug selber, dessen Herstellung man in den USA für diese Zeit auf jeden Fall mit einschließen muss.

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dem der Heimarbeiter gesteigert. Der Lohn der besser gestellten Handwerker, mit denen die Maschine konkurrierte, sei dagegen gesunken (Marx 2001 [1867]: 494). Erst durch die Dampfkraft, hier für den Antrieb von Nähmaschinen, habe sich die Arbeit dann wieder auf die Fabriken konzentriert. Die Exploitation wohlfeiler und unreifer Arbeitskräfte wird in der modernen Manufaktur schamloser als in der eigentlichen Fabrik, [...] wird in der sog. Hausarbeit schamloser als in der Manufaktur, weil die Widerstandsfähigkeit der Arbeiter mit ihrer Zersplitterung abnimmt, eine ganze Reihe räuberischer Parasiten sich zwischen den eigentlichen Arbeitgeber und den Arbeiter drängt, die Hausarbeit überall mit Maschinen- oder wenigstens Manufakturbetrieb in demselben Produktionszweig kämpft, die Armut dem Arbeiter die nötigsten Arbeitsbedingungen, Raum, Licht, Ventilatoren usw. raubt, die Unregelmäßigkeit der Beschäftigung wächst und endlich in diesen letzten Zufluchtstätten der durch die große Industrie und Agrikultur ‚überflüssig‘ Gemachten die Arbeiterkonkurrenz notwendig ihr Maximum erreicht. (Marx 2001 [1867]: 486).

Aber das war die Erfahrung in der englischen Gesellschaft durch den zunehmenden Einsatz von Maschinen in den 1860er-Jahren. Dort in Manchester hatte die Industrialisierung früher begonnen, die erst zum Aufstieg der Handweber und dann zum Abstieg in die Arbeitslosigkeit oder den Weg in die Hausarbeit des Nähens – also zur Pauperisierung geführt hatte (siehe dazu Kapitel 3.1). In den USA hatte die Einführung der Nähmaschine nicht zu einem Anstieg des gesamten Arbeitskräftereservoirs geführt, d.h. keine „Überbevölkerung von Lohnarbeitern produziert“ (Marx 2001 [1867]: 797). Hier wurde schon vor der Einführung der Nähmaschine von Tausenden Bekleidung genäht. Die wachsende Nachfrage nach Bekleidung hielt in den USA mit der wachsenden Produktivität durch die Nähmaschine schritt; diese Ausdehnung fand weiterhin sowohl in der Produktion als auch in der Konsumption statt. Jeder, der in den USA eine Nähmaschine besaß, konnte wieder andere Arbeiter einstellen und noch einen Profit daraus schlagen, ohne dass die standardisierte gleichförmige Arbeit darunter gelitten hätte (Zakim 2003: 154). Denn die neuen entrepreneurs im Bekleidungssektor brauchten vor allem Arbeitskräfte, die die nach vorgegebenen einheitlichen Maßgaben ausgeschnittenen Stoffstücke zusammennähten. Dafür nahmen sie ab den 1820er-Jahren für die Arbeiten am unteren Ende der Lohnskala jeden, der bereit war, die mühsame Handarbeit zu machen. Für die schlecht bezahlten Näharbeiten wurden die in New York ankommenden Einwanderer oft noch direkt vom Schiff angeheuert (Zakim 2003; 141). Und neben den Einwanderern waren ab der Mitte der 1830er-Jahre in jeder kleinen

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Stadt im Umkreis von 100 Meilen Frauen und Männer [sicher auch Kinder] damit beschäftigt, für die clothiers der Metropolen zu nähen (Zakim 2003: 58). New Yorker Firmen sandten ihre zu nähenden Arbeiten bis nach New Jersey, Connecticut und ins gesamte Umland, in Newark arbeiteten um das Jahr 1850 rund 2000 Frauen. Von Boston aus verlegten Bekleidungsfirmen ihre Arbeiten bis in das Hinterland von New Hampshire, Main und ins westliche Massachusetts. Hier wurden die Frauen und Töchter von Mechanikern, Farmern und Fischern kontinuierlich mit Arbeiten zum Nähen beliefert. Diese geografische Ausdehnung für die Beschäftigung von Näherinnen und der ständige Strom an Neueinwanderern ermöglichte es, die Löhne niedrig zu halten (Zakim 2003: 59). Aus einer europäischen Perspektive werden die USA bis in die 1870er-Jahre als Agrargesellschaft wahrgenommen, die die Rohstoffe für die englische Industriegesellschaft lieferte, bis sie zu deren Konkurrenten in der Industrie werden konnten (Sautter 1994: 146, Raeithel 2002: 261, Jeremy 2004b:191). Schon Marx hatte in den Vereinigten Staaten eine agrarische Gesellschaft gesehen, in der die Arbeiter nicht von ihren Arbeitsbedingungen getrennt seien und die Vernichtung der ländlichen häuslichen Produktion noch nicht stattgefunden hätte. Er schrieb, dass freie Amerikaner neben der Landwirtschaft zugleich viele andere Beschäftigungen betrieben. Sie seien Spinner und Weber, fabrizierten Seife und Kerzen, Schuhe und Kleider für ihren eigenen Gebrauch, so dass in Amerika der Landbau oft das Nebengeschäft eines Grobschmieds, Müllers oder Krämers bilde (Marx 2001 [1867]: 796, Herv. A. M.). Männerkleidung wurde tatsächlich auf vielen Farmen von Frauen genäht, jedoch nicht für den eigenen Gebrauch, sondern für die Bekleidungsindustrie. „Farm women, in other words, had not stopped sewing men,s clothing. But now they were often paid a wage by city clothiers to do so.“ (Zakim 2003: 136). Für den erworbenen Lohn kamen die fertigen Anzüge dann vielleicht über den Laden des country merchants als readyto-wear wieder zu ihnen zurück. „Production, it turned out, traveled the same rivers, canals, and railroads by which the finished goods subsequently cirulated.“ (Zakim 2003: 136). Durch den Ausbau von Handel und Transport war es möglich geworden, dass nicht nur innerhalb der großen Städte, sondern im ganzen besiedelten Land die Unterschiede in der Männerbekleidung gering waren. Es ist verständlich, dass das den Franzosen Alexis de Tocqueville (1805–1859), der im Auftrag der französischen Regierung die Vereinigten Staaten besuchte, erstaunte, war seine eigene gesellschaftliche Erfahrung doch eine andere. In Frankreich wurde die aufwändigste Bekleidung in der Hauptstadt Paris getragen, um dann bis in die Provinz immer schlichter und einfacher gearbeitet zu werden (siehe dazu Kapitel 1.2). Tocqueville schrieb 1831: „The man you left in New York you find again

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in almost impenetrable solitudes: same clothes, same attitude, same language, same habits, same pleasures.“ (zit. n. Zakim 2003: 207). Die erfolgreiche massenhafte Produktion von Bekleidung entsprach durch ihre beeindruckende Gesamtmenge aller kleinen Unternehmen derjenigen von industrieller Fertigung. In der amerikanischen Öffentlichkeit war man auf das Ausmaß der seit den 1820er-Jahren beständig wachsenden Bekleidungsbranche erst ab Mitte des 19. Jahrhunderts aufmerksam geworden. Vorher in den offiziellen Statistiken nicht aufgenommen, hatte man durch neue Maßstäbe bei der Zählung erst im Federal Census (Volkszählung) von 1850 erstaunt festgestellt, dass hier eine der größten Industrien entstanden war (Zakim 2003: 40).199 Daran zeigt sich, wie sehr sich auch die Amerikaner in der Entwicklung an den Engländern gemessen hatten, schon seit der Unabhängigkeit war der wirtschaftliche Aufschwung in Englands Industriebezirken sehr genau verfolgt worden (Sautter 1994: 109). Und deren Stärken lagen in der Herstellung von anderen Waren, als der von Männerbekleidung. Contemporaries were still unused to thinking that unprecedented levels of mass production and distribution could rest on the decentralized, small-scale, labor-intensive practices of the past, just as many still clung to the notion that industrial progress was antithetical to impoverishment and pauperization. (Zakim 2003: 156).

Diese dezentrale und arbeitsintensive Seite der Bekleidungsindustrie beruhte auf der Arbeit von Menschen, denen durch die moderne Produktionsweise keine Vorteile erwuchsen. Durch die Verlagerung der Näharbeiten in die einzelnen Wohnstuben war das Nähen abgetrennt vom Rest des Arbeitsprozesses (Zakim 2003: 134). Darum musste der größte Teil der Näher und Näherinnen im Akkord arbeiten, denn in der Akkordarbeit sah man die effektivste Methode, um unter den unorganisierten, verschieden ausgebildeten Näherinnen, die unbeaufsichtigt als ausgelagerte Arbeitskräfte arbeiteten, eine Arbeitsdisziplin zu bewahren (Zakim 2003: 139). Die ersten Proteste und Streiks in der Bekleidungsindustrie gingen aber nicht von den unter erbärmlichen Zuständen arbeitenden vereinzelten Näherinnen in ihren Wohnstuben aus. Und auch nicht von den schon bestehenden großen manufactories, bei denen teilweise hunderte oder tausende von Näherinnen arbeiteten, sondern von den Mitarbeitern der New Yorker Schneidereien (Zakim 2003: 78). Es waren die journeymen, die in den 1820er-Jahren einen Arbeitskampf 199 Ab 1850 zählten im Federal Census zur Kategorie Industrie alle Branchen, in denen hohe Gewinne erwirtschaftet wurden (Zakim 2003: 42).

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begannen, weil sie von ihren Arbeitgebern systematisch durch geringer bezahlte Arbeiter ersetzt wurden. „Skilled work was not a highly valuable property in industrial life.“ (Zakim 2003: 151). Auch wenn man sich in einem branchenweiten Kompromiss schließlich darauf geeinigt hatte, verschiedene Löhne für das Nähen von schweren und leichten Stoffen zu zahlen (Zakim 2003: 79), gehörten spätestens ab den 1850er-Jahren die journeymen nicht mehr zur Handwerkerelite (Zakim 2003: 128). Vielleicht lag in der unterschiedlichen Bezahlung für verschiedene Näharbeiten auch ein Grund dafür, dass für Männerkleidung verstärkt auf leichte Baumwolle oder Mischwaren gesetzt wurde, die Verarbeitung von schwerer Wolle blieb in den USA immer marginal (Sautter 1994: 147). Die Veränderungen, die sich durch das Wachsen der Bekleidungsindustrie ergaben, stießen damit auch in den USA auf Widerstand. Vielleicht waren die Proteste auch mit verantwortlich dafür, dass die manufacturers mit den großen Industriebetrieben aus den Städten zogen. Mit der zunehmenden Besiedlung des Landes wurde es leichter, außerhalb von New York industrial workers zu finden, zudem stiegen die Mieten und Grundstückspreise in New York City, was eine weitere räumliche Ausdehnung innerhalb der Stadt verhinderte. Men’s clothing continued to be manufactured in the large factories of Rochester and Chicago and in smaller establishments in Philadelphia, Boston, Baltimore, St. Louis, Dallas, Kansas City, and other places. (Kidwell/Christman 1974: 167).200

Weil die Stoffpreise in den 1830er-Jahren hoch blieben, wurde das Einsparen von Lohnkosten der Schlüsselfaktor der Bekleidungsbranche (Zakim 2003: 53). Schneider genauso wie clothiers wählten den Weg der weiteren Rationalisierung ihrer Produktion. Obwohl diese als Standardisierung der Arbeitsschritte gedacht war, durch die alle Arbeiter in der Lage sein sollten, an allen Arbeitsplätzen gleich zu arbeiten und gleich zu sein, entwickelt sich eine feine Hierarchie unter den industrial workers, die dem Zweck diente, mehr oder weniger hohe Löhne zu zahlen.201 Jetzt wurden für die Vorbereitungsarbeiten der wertvollen Stoffe die 200 Die Branche blieb in New York City in vielen kleinen Ausbeutungsbetriebe bestehen, in den sweatshops wurde zum Ende des 19. Jahrhunderts für die Frauenbekleidungsindus­ trie gearbeitet, nachdem sie in New York von der Lower East Side zur Seventh Avenue wechselte (Kidwell/Christman 1974: 167). Aber bis heute soll es im Garment District von Manhattan sweatshops geben (http://www.labor.ny.gov/home/ 2015). 201 Es gab eine ganz ausgefeilte Unterteilung der Arbeiter: foremen, general cutters, southern cutters, specialized cutters, journeymen, ‚irregular‘ men, coat makers, pantaloon makers, sweaters, ‚plain‘ and ‚fancy‘ needleworkers, in-house girls, put-out labor, spongers, embroiderers, basters und finishers, die die unterschiedlichen Arbeitsgänge der Verwandlung von Stoff in Klei-

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höchsten Löhne gezahlt (Zakim 2003: 83). Und da durch das Drafting System (die Vorlagen für das Aufzeichnen der Schnitte auf den Stoff ) an der Stoffmenge kaum mehr gespart werden konnte, wurde das qualitativ hochwertige Zuschneiden der Stoffe, um die Stoffverschwendung möglichst gering zu halten, zur wichtigsten Arbeit in der Bekleidungsindustrie. Die Berufsgruppe der cutters konnte vom industriellen Markt, von der Veränderbarkeit der Arbeiterhierarchien und dem unglaublich schnellen Wachstum der Bekleidungsbranche profitierten (Zakim 2003: 132). Die cutters verstanden sich einerseits ganz klar als Lohnarbeiter, waren aber dennoch sehr stolz auf ihre handwerklichen Fähigkeiten. Sie waren in der neuen Bekleidungsindustrie zur Arbeiterelite geworden und arbeiteten, wie in Philadelphia erfolgreich gestartet, wegen der wertvollen Produktionsprozesse als In-house-Arbeiter (Zakim 2003: 134). Obwohl in New York in den 1850er-Jahren über 80 % der industrial workers im Ausland geboren waren und dieser Anteil im Bekleidungssektor sogar noch größer gewesen sein mag (Zakim 2003: 128), gehörten zur Berufsgruppe der cutters überwiegend im Land Geborene oder wenigstens Arbeiter mit einer angelsächsischen Herkunft (Zakim 2003: 132). Die hier gezahlten hohen Löhne wurden ausgeglichen durch die niedrige Entlohnung der Näherinnen. Die Auslagerung der Arbeit in die sweatshops, die in dieser Form bis heute bestehen und weltweit funktionieren, war für die clothiers äußerst profitabel, weil sie über Mittelsmänner oder Verleger die Nachteile auf die Näherinnen selber abwälzten. Und viele Einwanderer mussten erst durch diesen Sektor der Ausbeutung hindurch: das Nähen unter erbärmlichen Verhältnissen am untersten Ende der Lohnskala.202 In so doing, they began that tradition by which newcomers shouldered ‚for a time [...] the responsibility for clothing the people among whom they settled.‘ (Zakim 2003: 128).

Erst dann konnten die Neueinwanderer nach dem Glück streben und sich der unbegrenzten freien Möglichkeiten erinnern, die viele von ihnen in die dung zu leisten hatten und die eine fein ausdifferenzierte Bezahlung zur Folge hatte. Es wurde auch unterschieden nach organisierten und unorganisierten industrial workers, Immigranten und in Amerika Geborenen, zwischen Deutschen und Iren. Auch unterschieden sich die Arbeiter zwischen den Ärmsten, die ihre gesamten Einnahmen zum Leben aufbringen mussten, und den Lohnarbeitern, die sich einen komfortableren Lebensunterhalt leisten konnten (Zakim 2003: 129). 202 Erst in den 1890er-Jahren wurden durch Jakob Riis’ Fotobuch How the Other Half Lives: Studies Among the Tenements of New York (1890) mehr Amerikaner auf die elenden Verhältnisse aufmerksam gemacht, unter denen ihre Bekleidung produziert wurde.

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Vereinigten Staaten von Amerika geführt hatte. Wer dem Flaschenhals New Yorks entkommen konnte, ging aus der Bekleidungsindustrie in andere Industriebereiche. Das betriebsame Denken hatte sich auch auf die industrial workers ausgewirkt, die für bessere Arbeitsbedingungen und höhere Löhne bei jeder sich bietenden Gelegenheit weiterzogen. Die soziale Abhängigkeit der Arbeiter, die für die Kapitalisten verbürgt sein muss, damit die kapitalistische Produktion läuft (Marx 2001 [1867]: 797), war in den USA bis zur Mitte des 19. Jahrhundertes immer noch gering – sehr zum Verdruss der Kapitalisten. Industriearbeiter Während für die Bekleidungsindustrie wenig Kapital benötigt wurde (Zakim 2003: 38), war dieses für den Aufbau der Textilindustrie sehr wichtig. Die Vergabe von Krediten wurde seit den 1830er-Jahren von New York aus dominiert, von hier konnten die Gewinne aus dem Handel in Fabriken investiert werden. Zwei der wichtigsten Banken in New York waren europäische, die französisches, britisches und teilweise auch deutsches Kapital in Amerikas Ökonomie steckten (Beckert 2001: 25).203 Doch stieß das aus Europa transferierte exploitationslustige und entsagungsbedürftige Kapital hier auf unerwartete Hindernisse. ‚Unser Kapital‘, seufzt eine der Personen des Melodrams, ‚unser Kapital lag bereit für viele Operationen, die eine beträchtliche Zeitperiode zu ihrer Vollendung brauchen; aber konnten wir solche Operationen beginnen mit Arbeitern, welche, wir wußten es, uns bald den Rücken wenden würden? Wären wir sicher gewesen, die Arbeit solcher Einwandrer festhalten zu können, wir hätten sie mit Freude sofort engagiert und zu hohem Preis. Ja, trotz der Sicherheit unseres Verlustes würden wir sie dennoch engagiert haben, wären wir einer frischen Zufuhr je nach unserem Bedürfnis sicher gewesen.‘ (Marx 2001 [1867]: 799).

Frische Zufuhr erhofften sich viele manufacturers nicht nur durch Einwanderer, sondern auch durch Rekrutierungsteams, die nach England gesandt wurden, um die Industriedistrikte nach Auswanderungswilligen zu durchkämmen. Man bot den gut ausgebildeten und qualifizierten Arbeitern Anreize, um das

203 „Manch Kapital, das heute in den Vereinigten Staaten ohne Geburtsschein auftritt, ist erst gestern in England kapitalisiertes Kinderblut.“ (Marx 2001 [1867]: 785). Obwohl viele fremde und besonders englische Geldgeber Kapital für den Aufbau von Industrie und Infrastruktur beisteuerten (Sautter 1994: 148), blieb der ausländische Kapitalfluss oft zu gering für größere Unternehmungen einzelner manufacturers. Daher gründeten sich in den USA auch corporations, also Kapitalgesellschaften (Sautter 1994: 148).

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Land zu verlassen; auch durch den Einfluss der amerikanischen Werber stieg der Transfer bis in die 1830er-Jahre an ( Jeremy 2004a: 95). Doch solange die Möglichkeit des Entkommens aus der Existenz eines Lohnarbeiters bestand, d.h., sich die Arbeiter als betriebsame Produzenten unabhängig machen konnten, blieb die Mobilität für die manufacturers ein Problem (Marx 2001 [1867]: 797). Der Lohnarbeiter von heute wird morgen unabhängiger, selbstwirtschaftender Bauer oder Handwerker. Er verschwindet vom Arbeitsmarkt, aber – nicht ins Worke house. Die beständige Verwandlung von Lohnarbeitern in unabhängige Produzenten, die statt für das Kapital, für sich selbst arbeiten, und statt den Herrn Kapitalisten sich selbst bereichern, wirkt ihrerseits durchaus schadhaft auf die Zustände des Arbeitsmarktes zurück. Der Arbeiter nimmt vom zu teilenden Produkt einen zu großen Teil, jammert der Engländer. Nur wenige können große Reichtumsmassen akkumulieren. (Marx 2001 [1867]: 797).

Bis Mitte des 19. Jahrhunderts bot die ständige Ausweitung der US-amerikanischen Gebiete durch die nach Westen vorrückende frontier Einwanderern Möglichkeiten, sich auf einem Stück Land niederzulassen und Farmarbeit zu betreiben.204 So schrieb Marx 1867, das Besondere einer freien Kolonie205 sei, dass „die Masse des Bodens noch Volkseigentum ist und jeder Ansiedler daher einen Teil davon in sein Privateigentum und individuelles Produktionsmittel verwandeln kann, ohne den spätren Ansiedler an derselben Operation zu verhindern.“ (Marx 2001 [1867]: 792). Die dadurch weiter bestehende Knappheit an Arbeitskräften hielt die Löhne hoch, höher als in England selber (Raeithel 2002: 173), und die Möglichkeit zu eigenen selbstständigen Unternehmungen, machte das betriebsame Denken der Bourgeoisie auch für diese Neueinwanderer 204 „Wo Land sehr wohlfeil ist und alle Menschen frei sind, wo jeder nach Wunsch ein Stück Land für sich selbst erhalten kann, ist Arbeit nicht nur teuer, was den Anteil des Arbeiters an seinem Produkt angeht, sondern die Schwierigkeit ist, kombinierte Arbeit zu irgendeinem Preis zu erhalten.“ (Marx 2001 [1867]: 796). 205 Wie Marx die Vereinigten Staaten auch fast 100 Jahre nach ihrer Unabhängigkeit noch beschrieb, weil sie ökonomisch gesprochen immer noch das Kolonialland seien (2001 [1867]: 792). Das Kapital kam größtenteils aus England und auch wurden zu der Zeit noch mehr Waren in die USA importiert, als selber im Land hergestellt wurden. Marx schrieb diesen Text zwei Jahre nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs. In den unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten von Amerika war die wichtige Frage um die Form der Exploitation in der Auseinandersetzung zwischen den Süd- und Nordstaaten entschieden. Es dauerte nur noch wenige Jahre bis sich die USA in den 1870er-Jahren zu einer der am stärksten mit England konkurrierenden Industriegesellschaften transformiert hatten.

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attraktiv. Da konnte es nicht überraschen, dass gerade den Investoren aus England – sich selbst dabei bedauernd – diese amerikanischen Arbeiter als wohlhabend, unabhängig und unternehmerisch denkend erschienen (Marx 2001 [1867]: 799). Neben dem Arbeitskräftemangel war für die manufacturers das Kommen und Gehen der Arbeitskräfte ein Problem. Um trotz des ständigen Wechsels an Lohnarbeitern das Funktionieren der Fabriken zu garantieren, wurde daher versucht, viel stärker als in Europa auf maschinelle Arbeitskraft zu setzen. Massenproduktion setzte gleichbleibende Qualität voraus, die von standardisierten Produzenten erledigt werden sollte. Die Nähmaschine hatte die Qualität der Arbeit einer ungelernten Näherin an die der gelernten angeglichen, die Spinnmaschine die Arbeit des gelernten Spinners durch Maschinen ersetzt; jetzt sollten aber Maschinen die Arbeit der ungelernten Arbeiter angleichen. Denn was nach Marx (2001 [1867]: 443 f.) die Fabrikarbeit von der in einer Manufaktur unterschied, war, dass sich die Leistungsfähigkeit des Werkzeugs von den persönlichen Schranken menschlicher Arbeitskraft emanzipierte. An die Stelle der charakterisierenden Hierarchie spezialisierter Arbeiter sollten in der automatischen Fabrik die Gleichmacherei und Nivellierung der Arbeiten treten, die an den Maschinen zu verrichten waren. In einer Fabrik muss daher der Arbeiter lernen, seine eigenen Bewegungen der gleichförmigen kontinuierlichen Bewegung jeder Art von Automat oder Maschine anzupassen. Aber da die Gesamtbewegung nicht vom Arbeiter ausgeht, sondern von der Maschine, kann ohne Unterbrechung des Arbeitsprozesses ein fortwährender Personalwechsel stattfinden (Marx 2001 [1867]: 443 f.). Diesen Vorteil wollten sich amerikanische manufacturers verstärkt zunutze machen, so dass die effektive Nutzung der Einteilung der Arbeit durch die assembly lines in der Fabrik für die Entwicklung von Maschinen eingesetzt wurde. Noch einmal deutlich gesagt: Zuerst wurde der Arbeiter als standardisiert betrachtet, seine Arbeit schon als kleiner Ausschnitt des Ganzen angeschaut und erst danach eine Maschine für den Ersatz dieses kleinen Teils an Arbeit entwickelt. Das war anders als bei der Entwicklung von Maschinen in der englischen Industrie, wo man die flexible Arbeit der Arbeiter anschaute und dann versuchte, dafür Maschinen zu entwickeln (siehe dazu weiter hinten im Text zum maschinellen Weben).206 206 Aber wenn Marx schreibt, dass die künstlich erzeugten Unterschiede der Teilarbeiter durch natürliche des Alters und Geschlechts ersetzt werden (2001 [1867]: 442), stimmt das nicht, weil wieder Hierarchien entstanden. Seine gesellschaftliche Erfahrung geht von England aus, wo die gelernten Arbeiter, wie die Weber etc., durch Maschinen ersetzt wurden, die Fabrikarbeiter waren dann ohne besondere Kenntnisse und Fähigkeiten. Das galt auch für die Schneider in den englischen Städten, die durch die Ready-to-wear-Branche

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War auch dem Mangel an Arbeitskräften durch die beständig nachrückenden Einwandererzahlen in den Anfängen der amerikanischen Industrialisierung abgeholfen worden, wurde erst durch die Maschinen eine schnelle Einarbeitungszeit von wenigen Wochen, manchmal nur Tagen, garantiert. In den Fabriken benötigten die Arbeiter keine langjährig erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten mehr, der Arbeitsprozess konnte ohne Unterbrechung laufen und war damit den Bedürfnissen der amerikanischen Wirtschaft angepasst. Darum war der englische Sonderberichterstatter Joseph Withworth 1853 so beeindruckt, als er nach Hause schrieb, wie viele Arbeit sparende Maschinen in Amerika schon eingesetzt wurden (Hounshell 1984: 125). Die durch die Automatisierung veränderte Arbeitsweise wurde in einer Gesellschaft entwickelt, in der die industrial workers jede sich bietende Möglichkeit der Verbesserung der eigenen Situation durch höhere Löhne sofort ergriffen. Aber gerade wegen der eigenen Mobilität wurde die Automation auch von ihnen akzeptiert, weil es eine Gesellschaft mit wechselnden industrial workers war, wo viel weniger auf handwerkliche Kenntnisse und Fähigkeiten oder die Strukturen der Zünfte zurückgegriffen werden konnte.207

ab Mitte der 1850er-Jahre vertrieben wurden (siehe dazu Kapitel 3.1). Weil die Bekleidungsindustrie so viel früher anfing, hatte es in Amerika zuerst in den 1820er-Jahren diese Entwicklung gegeben, journeymen wurden durch Näherinnen ersetzt, aber in viel geringerem Ausmaß. Hier ging es vielmehr darum, dass sich mit den cutters eine Arbeiterelite gebildet hatte, die neue Kenntnisse und Fähigkeiten für industrial workers brachte und damit weiterhin nicht nur Unterscheidungen nach Alter und Geschlecht. Damit war eine totale Standardisierung auch unter den Massenproduzenten nicht zu erreichen. Für die Bourgeoisie war es nicht von Nachteil, dass sich der einzelne Arbeiter durch diese Ausdifferenzierung und Abstufung viel weniger als Teil der einen Arbeiterklasse betrachtete (siehe dazu Kapitel 3.2). 207 Es geht hier nur um die Akzeptanz der Maschinen, nicht um die Arbeitsbedingungen, gegen die sehr häufig gestreikt wurde. Auch in anderen Gesellschaften konnten Maschinen freudig aufgenommen werden, so z.B. Ende des 19. Jahrhunderts im österreichischen Trebitsch, wo die maschinelle Schuhproduktion nicht nur bessere Arbeitsbedingungen für viele schuf, sondern auch die Qualität der Schuhe enorm verbesserte. „Überall dringt die Maschinenarbeit unaufhaltbar vor. In Nordamerika, woher sie stammt, in England und in Deutschland ist sie fast alleinherrschend geworden und auch in Österreich beginnt sie festen Fuß zu fassen. [...] Die Vorteile der Maschinenarbeit erstrecken sich nicht bloß auf die materiellen Ersparnisse an Arbeitslohn und dergleichen, sondern auch auf die Qualität des Schuhes. Die Maschine geht mit dem Schuh natürlich nicht so sanft um, wie der Schuster, die Maschine erfordert darum ein gutes Material, während der Handwerker das schlechteste Leder bearbeiten kann.“ (Pollatschek 1899: 424)

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Wie viel eingeschränkter die Arbeitsmöglichkeiten für den Einzelnen zu der Zeit in Europa noch waren, welche anderen gesellschaftlichen Erfahrungen gemacht wurden, kann man an den Berichten der Besucher ermessen. So schrieb ein französischer Buchdrucker bei seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten um das Jahr 1859: Ich hätte nie geglaubt, daß ich fähig wäre, alle die Gewerbe auszuüben, die ich in Kalifornien betrieben habe. Ich war fest überzeugt, daß ich außer zur Buchdruckerei zu nichts gut sei […] Einmal in der Mitte dieser Welt von Abenteurern, welche ihr Handwerk leichter wechseln als ihr Hemde, meiner Treu! ich [sic!] tat wie die andren. Da das Geschäft der Minenarbeit sich nicht einträglich genug auswies, verließ ich es und zog in die Stadt, wo ich der Reihe nach Typograph, Dachdecker, Bleigießer usw. wurde. Infolge dieser Erfahrung, zu allen Arbeiten tauglich zu sein, fühle ich mich weniger als Molluske und mehr als Mensch.“ (A. Carbon, zit. n. Marx 2001 [1867]: 511 f.).

Mehr als Mensch konnten sich auch die Einwanderer fühlen, die den Weg aus New Yorks sweatshops auf eine Farm oder wenigstens in das von der Stadt nicht weit entfernte Textilindustriegebiet Neuenglands schafften. Die Ansiedlung der Textilindustrie in den Neuenglandstaaten hatte damit zu tun, dass die anfangs in New York, Philadelphia und Boston aufgebaute Bekleidungsindustrie für Männerkleidung sich um 1880 in New York zentralisierte (Aldrich 2007: 33). Von hier aus war der Handel mit Rohstoffen, insbesondere Baumwolle, gut organisiert und zugleich der Bedarf an genügend Arbeitskräften zu befriedigen.208 Woolen mills, for instance, remained concentrated in the East even while their wool sources moved west because the clothing trade was likewise concentrated in New York and other seaboard cities. (Zakim 2003: 67).

208 In den 1820er-Jahren war die Zuwanderung zurückgegangen, im Jahr 1830 wurden 23.000 Immigranten gezählt. Zehn Jahre später, 1840 waren die Einwanderungszahlen bis auf 600.000 angestiegen, um dann auf 1,7  Millionen während der 40er-Jahre und 2,6 Millionen während des Jahrzehnts vor dem Bürgerkrieg weiter zu steigen. Von 1850 bis 1854 kamen jährlich über 300.000 Einwanderer, 1854 sogar 430.000 Immigranten. Erst in den 1870er-Jahren wurde das erneut überboten, weil von 1850 bis 1860 450.000 Briten, 25.000 Skandinavier und eine große Masse aus Deutschland und Irland den Weg nach Amerika genommen hatten. Die ärmsten Einwanderer waren die Iren, die einen Anteil von 1,6 Millionen an den um 1870 rund 31 Millionen US -Amerikanern stellten. Weil sie selten genügend Mittel hatten, um weiter ins Landesinnere zu kommen, blieben diese Einwanderer in großer Zahl in den Küstenstädten der Nordstaaten (Sautter 1994: 155 f.).

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Die Textilindustrie hatte sich damit der Bekleidungsindustrie unterzuordnen, viele Textilfabriken produzierten ab Mitte des 19. Jahrhunderts speziell für den Bekleidungshandel (Zakim 2003: 67 f.). Die amerikanischen manufactories wurden nur so erfolgreich, weil es den manufacturers durch den konsequenten Einsatz von Massenproduktionstechnologie gelang, die englische Konkurrenz langsam zu überholen. Dass sie darin erfolgreicher waren als Unternehmen in anderen, meist europäischen Ländern, lag an den spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen in den USA, die mit dem konsequenten Einsatz neuester maschineller Produktionsweisen zusammenhingen. Maschinelles Weben Die amerikanischen manufacturers waren seit ihrer politischen Unabhängigkeit von England darum bemüht, sich von der englischen Marktbeherrschung in der Textilproduktion und der Einfuhr billig produzierter Stoffe zu befreien. Da ab den 1820er-Jahren der Bedarf an Stoffen durch die Ausweitung der Bekleidungsindustrie weiter anstieg, wurden die Begehrlichkeiten der manufacturers immer größer, auch in den USA selbst damit Geld zu machen. In the USA between the 1790s and the 1830s, capitalists, faced with growing demand from urban populations, similarly seized the chance to profit from investment in the new cotton-manufacturing technology. (Jeremy 2004a: 96).

Wie sich schon in den Anfängen der Industrialisierung die Produzenten in England gegenüber der indischen Produktion nur wegen der verbesserten Produktionsweise für Textilien durch das mechanische Spinnen durchgesetzt hatten (siehe dazu Kapitel 1.1), konnten auch die amerikanischen manufacturers in der Konkurrenzsituation zu den englischen Einfuhren ihre eigenen Produkte nur durch die Verbesserung der Technologie marktfähig, d.h. billiger, machen. Im Vergleich zu der damals führenden Industrienation wurden in den USA konsequenter Maschinen für den Produktionsablauf der Herstellung von Textilien entwickelt und eingesetzt, während die Handarbeit in England auch im 19. Jahrhundert noch einen großen Anteil hatte. In amerikanischen Unternehmen wurden Maschinen für das Weben entwickelt, die die Handweberei ablösten und die so gut funktionierten, dass sie über den Atlantik nach Europa zurückverkauft werden konnten. Die in den USA aufgebaute Textilindustrie beruhte auf dem Wissen und Können der Engländer; Patente hätten den Amerikanern mit dem wenigen Know-how nichts genutzt. Um die englische Produktion nicht zu gefährden, war es qualifizierten englischen Arbeitern und Handwerkern bis ca. 1824 nach

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englischem Recht verboten zu emigrieren. Der Export von weiterentwickelteren Textilmaschinen war sogar bis 1843 untersagt ( Jeremy 2004a: 95).209 Schon Adam Smith äußerte seinen Unmut über die Beschränkungen der Ausfuhr von toten Produktionsmitteln, den Maschinen, sowie das Verbot für in englischen Gewerben arbeitende Männer und Frauen, ins Ausland zu gehen, um dort ihren Beruf oder ihr Gewerbe auszuüben (2003 [1789]: 557). Ich muß wohl, glaube ich, nicht besonders darauf hinweisen, wie sehr diese Bestimmungen der laut gepriesenen Freiheit des Untertanen widersprechen, von der wir sagen, daß wir über sie höchst eifersüchtig wachen, die wir aber in diesem Falle ganz einfach den niedrigen Interessen unserer Kaufleute und Fabrikanten opfern. (2003 [1789]: 558).210

Viele Engländer ließen sich jedoch nicht von dem Auswanderungsverbot abhalten, sie gingen zu einem großen Teil nach Europa211, aber vor allem in die USA. Viele von ihnen schmuggelten ihre Werkzeuge, manche auch nur das Wissen im Kopf und in den Händen. Doch der Schmuggel fand nicht nur in Form von Kenntnissen und Fähigkeiten wie dem handwerklichen Können als individuelle Fertigkeit statt, sondern – und das war wiederum eine neue Entwicklung – in Form von in Einzelteile zerlegten Maschinen.212 Dadurch wurde der 209 Diese Geheimhaltung sollte den gut ausgebildeten Arbeitern in England die Arbeitsplätze erhalten ( Jeremy 2004a: 95). Waren mit den Migranten die Kenntnisse der Baumwollverarbeitung im 16. Jahrhundert aus Antwerpen nach Manchester gebracht worden (siehe Kapitel  1.1), so wurden jetzt, am Ende des 18.  Jahrhunderts, die in Lancashire entwickelten Kenntnisse hauptsächlich von englischen Auswanderern wieder ausgeführt in die Neuenglandstaaten. 210 Und es war Smith, der bemerkte, dass die Spinner, meist Frauen, die ohne Hilfe und Schutz in allen Gegenden des Landes verstreut für die geringsten Löhne arbeiteten, durch den Verkauf ihrer Erzeugnisse nichts gewannen, die Besitzer der Manufakturen dagegen ihren Gewinn durch den Absatz der fertigen, von Webern veredelten Textilien machten. Die manufacturers verlangten hohe Zölle für die Einfuhr von ausländischen Stoffen, aber der Import ausländischer Garne sollte gefördert werden, weil sie ihr Rohmaterial Garn so billig wie möglich einkaufen wollen. Für Smith vernachlässigte die Wirtschaftsordnung damit die Erwerbsmöglichkeiten der Armen und Schwachen und kam hauptsächlich den Wohlhabenden und Mächtigen zugute (Smith 2003 [1789]: 543 f.). 211 Etwa nach Frankreich, vgl. Industrial Espionage and Technology Transfer: Britain and France in the Eighteenth Century (Harris 1998). 212 Auch die Eisenbahn war eine englische Erfindung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Methoden der Übernahme von Eisenbahn- und Textiltechnik waren unterschiedlich. „In the case of Britain and the USA , the latter had established a recognizable version of a textile industry by the 1820s, and of railroads by the 1840s.“ Textiltechnik war einfacher und die Maschinen konnten Stück für Stück von Handwerkern (artisans) aufge-

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Aufbau einer maschinellen Produktion außerhalb Englands erst möglich. Die englischen Migranten spielten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf jeden Fall eine erhebliche Rolle beim Transfer der Textiltechnologie auf das europäische Festland und in die USA ( Jeremy 2004a: 97). There arose in the first half of the nineteenth century a transatlantic fraternity of English-speaking technicians, an ebb and flow of craftsmen and industrial workers who emigrated, temporarly or permanently, bringing the latest technical knowledge from one side of the Atlantic, and observing and seeking to understand the innovations on the other. This flow was abetted by the development of regular ocean travel and by economic fluctuations which brought alternating prosperity to Britain and America such that in some industries it was not uncommon for workmen (usually British) to emigrate and return several times. (Jeremy/Stapleton 1991: 32, Berthoff 1953: 52).

Mit dem Engländer Samuel Slater (1768–1835), der eine Ausbildung bei Jedediah Strutt, dem Geschäftspartner von Richard Arkwright (siehe dazu Kapitel 1.1), gemacht hatte, war 1789 die erste Arkwright-Spinnmaschine nach Amerika gekommen. Über ein Jahr brauchte Slater noch, um die Maschine für die manufacturer Almy und Brown in Rhode Island einzurichten (Kidwell/Christman 1974: 35), dann lief die erste mill (Spinnerei) für die industrielle Herstellung von Garnen erfolgreich und wurde zum Vorbild für andere. Nachdem durch die mechanische Spinnerei entsprechende Mengen an Garn geliefert werden konnten, begannen in den USA manufacturers, auch über das Maschinenweben nachzudenken (Schulze-Gävernitz 1892: 37). Üblich war, dass Garnhersteller mit den Webern individuelle Verträge schlossen. Doch lebten diese Weber weit verstreut und die Qualität ihrer Arbeit variierte stark. Die beiden Fabrikbesitzer Almy and Brown, denen Slater die erste Spinnmaschine eingerichtet hatte, klagten: „we have several hundred pieces now out weaving [...] but a hundret looms in families will not weave as much cloth as ten at least constant workmen.“ (Rosenbloom 2004: 375). In den USA entwickelte man daher die Webmaschine aus demselben Grund wie in England baut werden. Für den Transfer der Eisenbahntechnologie brauchte man Ingenieure, da es sich hier um komplexe fertige Maschinen handelte. Eisenbahnen wurden in vielen Fällen eingeführt über „the property of a tiny group of highly-trained professional engineers who acted as consultants to several projects at the same time. The technology was new and systemic, requiring an all-or-nothing choice for adaptation.“ ( Jeremy/Stapleton 1991: 45) Dadurch, dass gut ausgebildete Ingenieure sich mit der Technik befassten, konnten schnell eigene Adaptationen zu Innovationen führen, so dass diese zu Modellen für andere Länder wurden. So bevorzugten die deutschen Einkäufer amerikanische Eisenbahnen.

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die Spinnmaschine entwickelt worden war, um die Produktion der individuellen Arbeit einzelner Handwerker zu standardisieren, d.h., um eine konstante Qualität der Produkte zu erreichen (Rosenbloom 2004: 376). Auch für die englische Produktion wurde zeitgleich sehr intensiv nach einem mechanischen Webstuhl geforscht, doch die Anforderungen an solche Maschine entwickelten sich unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen. Die englischen manufacturers produzierten eine große Auswahl an verschiedenen Stoffqualitäten, so dass die von ihnen beschäftigten Handweber flexibel sein und hochwertige Wollgarne genauso weben können mussten wie einfache Baumwollgarne. Von den Kenntnissen und Fähigkeiten dieser Weber ausgehend, sollten Webmaschinen für die englische Produktion ausdifferenzierte Arbeit übernehmen. Der erste von dem Amerikaner Francis Cabot Lowell (1775–1817)213 für die Boston Manufacturing Company entwickelte Dampfwebstuhl wurde schneller funktionstüchtig, weil er für ein leichteres Ziel entwickelt worden war: ein bestimmtes uniformes Produkt zu weben, für das man nur eine bestimmte Garnstärke zu verwenden brauchte (Rosenbloom 2004: 376, Raeithel 2002: 261). Die Technologie unterschied sich damit substanziell von der auch in diesen Jahren noch mit viel Handwerksarbeit betriebenen englischen: dies war Massenproduktionstechnologie (Rosenbloom 2004: 390).214 Im Jahr 1813 war die erste Webmaschine in Boston so weit entwickelt, dass Spinnen und Weben in einer Fabrik vorgenommen und auf die individuellen Handweber verzichtet werden konnte. „This close integration, in conjunction with the decision to produce a single uniform type of fabric, also reduced the need for flexibility in production.“ (Rosenbloom 2004: 377). Und nicht nur auf die Handweber konnte so verzichtet werden, durch das eigene Spinnen und Weben in einer Fabrik wurden diese neuen Textilfabrikanten unabhängig von anderen manufacturers oder merchants und Zwischenhändlern, die mit den Garnen handelten oder zwischen Webern und Spinnern vermittelt hatten. Damit fiel die gesamte Produktion von Textilien in die Hand eines manufacturers oder einer corporation.

213 Lowell hatte die Anregung dazu durch einen Besuch in Englands „cotton mills“ bekommen (Condra 2008: 22). 214 In England wurde erst Jahre später, während des Amerikanischen Bürgerkriegs, die mechanische Verbesserung der Baumwollindustrie vorangetrieben, um eine größere Ausbeute von Baumwolle zu haben. Marx bezeichnet das Jahr 1860 als Zenitjahr der englischen Baumwollindustrie, hervorgerufen durch „galoppierende Verbesserungen der Maschinerie und die entsprechende Deplacierung von Handarbeit“ (2001 [1867]: 457, vgl. auch die Tabelle auf 2001 [1867]: 458)

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Die Reduktion von Kapital und Kosten waren die Hauptmotivationen für innovative Neuerungen in den USA. Along with small arms producers, textile machine shops were the major source of skilled mechanics who contributed to the emergence of a distinctive American machine-building industry in the nineteenth century. (Rosenbloom 2004: 391).

Amerikanische Fabrikbesitzer und ihre Maschinenbauer machten an der importierten Technik alle möglichen Modifikationen. „A torrent of modifications, most saving the cost and skill of labour, appeared.“ ( Jeremy 2004a: 100).215 Sogar das kontinuierliche Spinnen hatten die Amerikaner bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts weiterentwickelt, damit die standardisierten Garne mit immer schnellerer Geschwindigkeit hergestellt werden konnten, so dass sie ihre Spinnmaschinen auch nach England exportieren. Doch vor allem durch die Entwicklung des maschinellen Webens schritt die industrielle Verarbeitung massenhaft produzierter Stoffe schneller voran und beeinflusste andere amerikanische und ausländische Industrien. Insgesamt blieben bis vor dem Bürgerkrieg die Textilunternehmen in New England klein und hatten einen oder wenige Partner (Raeithel 2002: 46). Die meisten Unternehmen waren in der Hand von businessmen, die direkt am Geschäft interessiert waren. Die Firmen wurden selten aufgekauft oder verkauft, d.h., Eigentümer wechselten kaum, weil viele kleine Geldgeber mehr an einer sicheren Geldanlage interessiert waren als an großen Renditen. Diese businessmen waren vielseitige entrepreneurs und damit zugleich merchants, Geldverleiher, Spekulanten, manufacturers (Mills 1956: 5).216 Doch einige der manufacturers wurden mit der neuen Massenproduktionstechnologie einflussreicher.217 215 Weitere wichtige Erfindungen waren der Antrieb für das Vorgarn von Aza Arnold (American Patent 1823, British Patent 1826), und John Thorp’s Ringspindel (American Patent 1828, British Patent 1826) ( Jeremy 2004a: 93). „Most important in the long run for cotton production was the ring spindle, patented by John Thorp in 1828.“ ( Jeremy 2004a: 100). Die amerikanischen Mill-Besitzer freuten sich, im Gegensatz zu den Spinnereibesitzern im englischen Lancashire, sehr über Besucher in ihren Unternehmen, vor allem in der Hoffnung darauf „some new thing“ zu lernen ( Jeremy 2004b: 239). 216 Sie gehörten im frühen 19.  Jahrhundert zur Spitze der Gemeinde (community) in den kleinen Städten (Mills 1956: 5). 217 Die neuen Industriekapitäne unterschieden sich in ihrem hemdsärmeligen Pragmatismus von den ländlichen Gutsherren, von denen sie wegen ihres vulgären Ehrgeizes verachtet wurden. Auch mit den altväterlichen Handelsherren Neuenglands hatten sie wenig gemein, auch wenn einige von ihnen aus diesen Kreisen stammten. Mit dem Einsatz von Druckmitteln gegen Konkurrenten und durch die rigorose Ausnutzung aller gesetzlichen Möglichkeiten hatten sie Erfolg (Sautter 1994: 154).

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Eine neue Schicht hatte die Führung der Gesellschaft übernommen. Nüchtern, praktisch, dem materiellen Gewinn zugewandt und an seine Erreichbarkeit inbrünstig glaubend – dies war der Steckbrief des erfolgreichen Industriekapitäns wie des Farmers, der die Stahlpflugschar in den Prärieboden preßte. (Sautter 1994: 176).

Das zeigt sich gut an Lowell, dem durch die Entwicklung des Kraftwebstuhls zum Großfabrikanten aufgestiegenen manufacturer, den die Handelsinteressen der New Yorker merchants nicht mehr beeindrucken konnten. Durch den Krieg gegen England 1812 war nicht nur das Gewerbe für ready-to-wear-suits nach dem Philadelphia-System entstanden (siehe dazu Kapitel 2.2), sondern die aufkeimende Industrie hatte einen gewissen Aufschwung genommen. Aber sobald wieder Stoffe und Garne aus England in die USA importiert werden durften, stieg der Wert der eingeführten englischen Waren von null im Jahr 1814 auf 21 Millionen Dollar im Jahr 1815.218 Auch aus Indien und China wurden Stoffe und Garne in großen Mengen eingeführt (Rosenbloom 2004: 381). Diese Schwemme billiger englischer Erzeugnisse drohte die Ansätze einer amerikanischen Industrie zu vernichten (Sautter 1994: 137). Um sich der Billigkonkurrenz zu erwehren, wollten die kleineren manufacturers wieder Schutzzölle einführen, doch konnte Lowell sich 1816 mit einem Vorschlag zur erneuten Einführung von nur minimalen Schutzzöllen auf ausländische Produkte durchsetzen. Während diese geringen Zölle für den Handel mit England nicht bedeutsam waren, wollte der Unternehmer von der Ostküste die billigsten Importe aus Indien verhindern, und wurde dabei von den Produzenten der Baumwolle im Süden unterstützt (Rosenbloom 2004: 384 f.). Für beide Parteien lag ein Vorteil in den geringen Zöllen, weil für die Südstaatler die englischen merchants immer noch die wichtigsten Einkäufer ihrer Baumwolle waren und Lowells Boston Manufacturing Company die englische Konkurrenz zu dieser Zeit (nur drei Jahre nach der Entwicklung des Webstuhls) nicht mehr fürchtete. Im Gegenteil, die eigenen Produkte konnten schon genauso billig produziert werden, so dass die geringen Zölle nur den amerikanischen manufacturers in den USA schadeten, die sich auf kleinere Mengen hochwertiger Stoffe spezialisiert hatten.219 218 Die englische Regierung war in den Jahren unter Druck geraten, weil weder die militärischen Operationen in Amerika zufriedenstellend waren noch die Verhandlungen auf dem Wiener Kongress. Darum wurde 1814 mit den USA ein Friedensvertrag geschlossen und schon ein Jahr später einigten sich die Amerikaner und Engländer in einem Handelsvertrag auf ein Ende des Embargos von 1807 und über die künftigen kommerziellen Beziehungen (Sautter 1994: 135). 219 Mit der Rücknahme der Protektionen im Tariff Bill 1846 gingen die Preise für Textilien wieder massiv zurück. Auch davon waren die kleineren und weniger mechanisierten Fab-

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In den Metropolen begannen ehrgeizige clothiers die zwei Geschäftszweige des Produzierens und Verkaufens von Kleidung zu verbinden (Zakim 2003: 65). Das war neu, denn die meisten manufacturing businesses dieser Zeit beruhten darauf, dass es Mittelsmänner oder Kommissionäre gab, die zwischen den Bereichen Herstellen und Verkaufen agierten (Zakim 2003: 65). Clothiers übernahmen beides, um sich von diesen merchants unabhängig zu machen. Ab 1850 importierten einige ihre Stoffe direkt aus England, d.h. ohne Einschaltung eines Zwischenhändlers, oder bezogen sie aus der jetzt aufblühenden amerikanischen Textilindustrie, wie der Unternehmer John Wanamaker. Er begann sich direkt an die Quelle zu wenden und seine Fabrikate von den mills in New England zu kaufen (Zakim 2003: 66). Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass man für die englischen Textilimporte die merchants mit den Verbindungen gebraucht hatte, während Kontakte zu den aufstrebenden amerikanischen Textilfirmen durch die räumliche Nähe selber hergestellt werden konnten (das intensivierte sich nach dem Bürgerkrieg durch die Konzentration der neuen big business men in New York, siehe dazu Kapitel 3.2). Im Jahr 1861 organisierten die cloth jobbers (Großhändler von Textilien) in Philadelphia einen Boykott. Sie wollten gesetzlich verbieten lassen, dass unter Ausschaltung ihrer Tätigkeit direkt mit den Stoffproduzenten verhandelt werden durfte. Aber zu dieser Zeit waren die Bekleidungshäuser schon so einflussreich, dass sie einigen Textilunternehmen längst ihre Bedingungen diktierten (Zakim 2003: 67). In der Produktion von Stoffen in unterschiedlichen, vor allem hochwertigen Qualitäten konnten die amerikanischen manufacturers mit den englischen Produzenten nicht konkurrieren; sie waren aber dann sehr erfolgreich, wenn sie auf billige Massenproduktion setzten. Amerika stieg bis in die 1870er-Jahre zum zweitgrößten Produzenten von Textilien auf und wenn die amerikanischen Fabrikanten auch im Exportgeschäft nicht so weit waren wie die englischen merchants, begannen sie doch, ihren eigenen großen Markt zu dominieren. In den USA kam insgesamt gegen die Einführung der Massenproduktionstechnologie wenig Widerstand auf, es gab kaum Konkurrenz zu etablierten Handwebern, da die Stoffe vorher vor allem von den Engländern eingeführt worden waren, also von englischen Webern produziert wurden. Lohnarbeit hatte es schon in der vorindustriellen Gesellschaft gegeben, aber bis zur Mitte riken in Philadelphia und Rhode Island weit stärker betroffen, die Boston Manufacturing Company von Lowell schritt gegen diese bill hingegen nicht ein (Rosenbloom 2004: 388). Nach dem endgültigen Fall der Schutzzölle konnten die amerikanischen Produkte im Vergleich zu den englischen durchaus bestehen (Rosenbloom 2004: 390).

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des 19. Jahrhunderts bestand für viele die Möglichkeit, selber einmal als farmer betriebsam zu arbeiten. Jetzt hörten die USA auf, ein gelobtes Land für Arbeiter zu sein (Marx 2001 [1867]: 801), die Anzahl an Fabriken nahm stetig zu, weil die Einwanderer hier Arbeit finden mussten; immer weniger konnten auf ein Stück Land zum selbstständigen betriebsamen Erwerb hoffen.220 The frontier, in other words, might have served as an escape from the oppressions of waged existence in factory towns and Eastern cities, but it was certainly no escape from the market itself. (Zakim 2003: 55).221

Zusätzlich wurde der Zugang zu diesem Markt durch die jetzt beginnende Abhängigkeit von den entstehenden corporations und trusts erschwert, deren Zentralisation keine Konkurrenz mehr zuließ. Das zeigte sich vor allem im Eisenbahnsektor (siehe dazu Kapitel 3.2). Hier begann ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Besiedlung des Westens die ursprüngliche Akkumulation im großen Stil, vor allem durch die Landschenkungen an die Eisenbahngesellschaften. Marx beschreibt für die Zeit nach dem amerikanischen Bürgerkrieg, er habe „eine kolossale Nationalschuld in seinem Gefolge gehabt und mit ihr Steuerdruck, Erzeugung der allergemeinsten Finanzaristokratie“. Dadurch sei es zu einer noch rascheren Zentralisation des Kapitals gekommen, durch „Verschenkung eines ungeheuren Teils der öffentlichen Ländereien an SpekulantenGesellschaften zur Ausbeutung von Eisenbahnen, Bergwerken etc.“. Für Marx hatte die große Republik schon aufgehört, das gelobte Land für auswandernde Arbeiter zu sein. Die kapitalistische Produktion gehe dort mit Riesenschritten voran, „wenn auch Lohnsenkung und Abhängigkeit des Lohnarbeiters noch lange nicht auf das europäische Normalniveau heruntergebracht sind.“ (2001 [1867]: 801). Die amerikanischen manufacturers hatten wegen des Bedarfs an Arbeitskräften und der beständigen Fluktuation viel stärker auf Maschinenarbeitskraft gesetzt. In England hatte Handarbeit einen großen Anteil an der Produktion ausgemacht, weswegen die konsequente Durchsetzung von Maschinenarbeit später begann. Da die neuen maschinellen Webstühle auch nach Lancashire 220 Die Bedingungen für eigenes betriebsames Wirtschaften wurden immer schwieriger, weshalb sich hier auch eine politische Radikalisierung zeigte und sie scharfe Kritiker der amerikanischen Gesellschaft wie den Ökonomen Thorstein Veblen hervorbrachte (Truninger 2010, siehe dazu Kapitel 3.2). 221 Wobei die Siedlungsgebiete der farmers nie zur vordersten frontier gehörten. Um in der Wildnis zu überleben, hätten den Einwanderern die notwendigen Fertigkeiten gefehlt. Erst nach den Pionieren und Pionierfarmern kamen die eigentlichen farmers (Truninger 2010: 29).

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geliefert wurden, sank das im Vergleich zu Amerika niedrigere Lohnniveau für die englischen Lohnarbeiter immer weiter ab. Hatten die Handweber in Lancashire zu den am besten bezahlten Männern gehört, wurden sie durch den ungleichen Wettbewerb mit den Kraftwebstühlen gezwungen, ihre Arbeitskraft immer billiger zu verkaufen.222 So ist also erniedrigender Pauperismus oder Auswanderung der Vorteil, den die Einführung der Maschinerie den Werktätigen gebracht hat, sie sind aus geachteten und in gewissem Grade unabhängigen Handwerkern zu kriecherischen Elenden herabgedrückt worden, die das entwürdigende Brot der Mildtätigkeit essen. (Marx 2001 [1867]: 455).

Um der erniedrigenden Armut zu entgehen, kamen vor allem die Handweber aus den europäischen Textilindustrieregionen nach Amerika. Aber die neue Powerloom-weaving-Technologie brauchte sie auch hier nicht mehr ( Jeremy 2004a: 97), die amerikanischen manufacturers setzten sie daher als Massenproduzenten ein. Die amerikanische Gesellschaft hatte sich von einer Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft gewandelt. 

Der dress coat war schon im agrarisch ausgerichteten Amerika nicht auf denselben gesellschaftlichen Widerstand gestoßen wie in der französischen oder englischen Gesellschaft. In dieser amerikanischen Gesellschaft hatte sich die Uniform der Bourgeoisie, orientiert an den Bedürfnissen der merchant farmers, als ready-to-wear-suit zur Uniform der Masse gewandelt, die von den New York merchants auf dem gesamten inneramerikanischen Markt verkauft wurde. Zu der Gesellschaft von wenigen Reichen, wenigen Armen und vielen selbstständigen farmers kam ein zunehmender Anteil von abhängigen Lohnarbeitern, von denen immer mehr als Kunden den Handel bereicherten. Aber da sich ready-to-wear-suits schon in den 1820er-Jahren durchgesetzt hatten, bevor es industrial workers gab, gingen die clothiers hinter diese einmal bemessenen Standards der merchant farmers nicht mehr zurück.223 Die Bowery, eine Straße, in der die workers einkaufen gingen, war gesäumt mit Bekleidungsgeschäften 222 Das hatte auch Folgen für die Veränderung der Kleidungsgewohnheiten der englischen Bourgeoisie (siehe dazu Kapitel 3.1). 223 Diese Entwicklung wird in der aktuellen Literatur zur Mode und Bekleidung übersehen, weil sie für den Zeitraum vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts den Fokus auf die Männerkleidung einer sozialen Schicht, die upper classes, und die individuelle Maßschneiderei richtet. Über die Kleidung anderer Gesellschaftsschichten wie der working class wird im Allgemeinen wenig geschrieben, die Entwicklungen in den USA werden bis zum beginnenden 20. Jahrhundert kaum beachtet.

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Abbildung 11: Der Lebanon Club in New York, ein Kaffeehaus für Arbeiter um 1880.

für Männer. Mitte des 19. Jahrhunderts gab es allein auf diesem engsten Raum schon 27 Geschäfte – auch die Arbeiter hatten, wie man auf Zeichnungen aus dieser Zeit sehen kann (siehe dazu Abbildung 11), reichlich Gelegenheit, sich elegant anzuziehen (Zakim 2003: 105). Pariser Journale, wie der Mirror of Fashion, mussten berichten, dass in der Hauptstadt der Mode „most of the population still dressed in blouses and caps, whereas in New York a far greater ratio appeared in genteel styles.“ (Zakim 2003: 187).224 Michel Chevalier (1806–1879), im Jahr 1834 offiziell vom 224 In Frankreich, aber auch in anderen Ländern, trug man in vielen Gegenden eine blouse (siehe zum Schnitt auch unter „Kittel“ und „Russenbluse“ bei Loschek 2011: 299 und 431) aus blauem Denim, die dann mit der Industrialisierung auch von den Arbeitern als Alltagskleidung übernommen wurde. Von den ärmeren Schichten wurden bevorzugt grobe Stoffe wie Cord und Manchester oder Tweed ebenso wie Moleskin (bezeichnet nach dem Maulwurfsfell, eine Art dicker Filz) getragen, denn sie waren strapazierfähig und lange haltbar. Cordhosen und Cordjacken gab es seit dem späten 18. Jahrhundert und sie hielten sich noch lange als Arbeitskleidung bei Landarbeitern oder Bauern (de Marly 1985: 100). Der Stoff fustian, aus dem ein Großteil der englischen Arbeiterkleidung geschneidert wurde, so schrieb es um 1847 ein Engländer auf Besuch in den USA , sei wenig bekannt in Amerika (Zakim 2003: 208).

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Abbildung 12: Amerikanische Karikatur eines irischen Einwanderers von 1858.

französischen Innenminister für Studien über die industrielle und finanzielle Lage von Amerika über den Atlantik geschickt, schrieb an seine Landsleute: „the United States are certainly the land of promise for the labouring class.“ Ihm erschien jeder Tag in den USA wie ein Feiertag, weil alle Klassen so gut gekleidet waren, wie das sonst bei ihnen in Frankreich nur am Sonntag zu sehen sei. Und ein Immigrant aus Wales berichtete 1844 an seine Zurückgebliebenen, die Stadtbewohner in New York seien „all so neatly and comfortably clad.“ Und fragt sich „where are the working classes – the tattered and half-fed, miserablelooking starvelings [...] of his native land.“ (Zakim 2003: 208). Vielen Amerikanern erschien jetzt Europa als alt und rückständig, wenn sie es an den Migranten maßen, die auf den Segel- und Dampfschiffen im Hafen von New York ankamen. Diese zeigten ihnen das Bild einer Vergangenheit, die

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sie längst hinter sich gelassen hatten. Denn der Anblick, den die meisten Einwanderer nach der beschwerlichen Überfahrt boten, war wenig ansehnlich. Ihre Kleidung war mit Sicherheit zerknautscht, wahrscheinlich dreckig, verlaust und kaputt. Man machte sich in amerikanischen Zeitungen darüber lustig, wie in der Karikatur von einem Iren vor der Einwanderung in die Vereinigten Staaten mit dem zerbeulten alten Zylinder und einem zerrissenen dress coat (siehe dazu Abbildung 12).225 Das Angebot an Männerbekleidung stand im gesamten besiedelten Gebiet der USA zur Verfügung, nicht nur den reichen merchants, manufacturers und industrial workers in den Metropolen des Ostens, sondern auch den Plantagenbesitzern und merchants im Süden226, den Farmern in allen besiedelten Gebieten, sogar den Pionieren an der vordersten frontier. In den USA waren ready-to-wear suits zur selbstverständlichen Alltagskleidung geworden und die merchants und clothiers stolz darauf, die eleganteste und schickste Kleidung für alle Männer zu bieten, so dass jeder ein Gentleman sein konnte. Den europäischen Besuchern (im 19. Jahrhundert) gefiel es nicht immer, dass es so schwer geworden war, amerikanische Gentlemen von Ladeninhabern, Handwerkern oder farmers außerhalb ihres Arbeitsumfeldes, also etwa im Park oder in der Kirche, zu unterscheiden (Hollander 1995:166).227 Sie wollten diese amerikanischen Gentlemen nicht mit den englischen Gentlemen gleichsetzen und nach Europa reisende Amerikaner228 wurden aufgrund ihrer Manieren, die als ungehobelt bezeichnet wurden, und ihrer Bekleidung zum Negativbild der englischen Gentlemen (siehe dazu Kapitel 3.1).

225 Dass auf der Abbildung der Ire (Haug 2009) einen abgerissenen dress coat trägt, hat seinen Grund darin, dass gebrauchte Bekleidung schon länger im Umlauf war (siehe dazu Kapitel 1.1). 226 Die Sklaven blieben von dieser Entwicklung ausgenommen. Es wäre noch interessant zu wissen, welche Bekleidung die rund 10 % freien, d.h. nicht versklavten, Schwarzen in den USA der damaligen Zeit trugen. 227 Bezeichnenderweise hängen auf der 1880 entstandenen Karikatur (siehe dazu Abbildung 13) die beiden Männer kopfüber an Gaslaternen, die seit den 1820er-Jahren Verbreitung fanden und für deren Installation und Wartung Klempner zuständig und damit als ausgebildete Handwerker sehr wichtig waren. Die Bildunterschrift lautet: To Hint to a Long-Suffering People. When Plumbers are fighting each other, oh, then/Is a possible chance for respectable men:/Let us hang them together, both „Union“ and „Rats,“/And hope for the fate of the Kilkenny cats. „To fight like a Kilkenny cat“ verweist in einem Limerick auf einen Kampf, bei dem es keinen Sieger gibt. 228 Und hier sind die wohlhabenden Amerikaner auf Besuch gemeint, nicht hin- und heroder zurückreisende Arbeiter, Handwerker oder sonstige Bürger.

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Abbildung 13: Karikatur zweier amerikanischer Bürger; im Vordergrund zwei Klempner, Satire im Puck Magazin.

In England hatte man sich in vornehmen Kreisen ja schon zu Kolonialzeiten über die Kleidung, Sprache und Manieren der Amerikaner lustig gemacht. Doch das als Karikatur in England entstandene Bild vom Yankee-doodle-Dandy wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts von den Amerikanern umgewendet zum patriotischen Symbol und im Gegenzug der englische royal lächerlich gemacht. Viele Einwanderer hatten mit Aristokraten noch ihre eigenen Erfahrungen gemacht, darum konnte ein Irish-American im Rückblick beschreiben: „success in the clothing business was proof that in America Irishmen could no longer be sneered at by the aristocrats of the ‚ancient world‘.“ (Zakim 2003: 104).

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Überhaupt, so schrieb es ein Beobachter in den 1840er-Jahren: the age is, perhaps, forever gone by, when a privileged class could monopolize finery of garb; and of all the civilized nations, it were least possible in ours. I have already seen a dozen at least of cheap-booted apprentices wearing velvet waistcoats, which, a few years ago, would have delighted D’Orsay. (zit. n. Zakim 2003: 74).

In den Vereinigten Staaten von Amerika sollte keiner privilegiert sein, weil durch Massenproduktion Massenkonsum bereitgestellt werden konnte. Gerade in den unbegrenzte Möglichkeiten und Freiheiten versprechenden Vereinigten Staaten von Amerika trugen alle eingewanderten Männer mit ihren vormals unterschiedlichsten Bekleidungsgewohnheiten ihre ready-to-wear-suits als Uniform der Masse. Diese amerikanische Entwicklung hatte ihre eigene Dynamik durch differente gesellschaftliche Bedingungen und Bedürfnisse und wirkte auf England und andere europäische Gesellschaften zurück. Und diese amerikanische Entwicklung brachte Veränderungen in den Konsumgewohnheiten, die bis heute ihre weltweiten Auswirkungen haben. Aber welche wirtschaftlichen Vorteile diese Entwicklung für die Amerikaner brachte, war bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts weder ihnen noch den Europäern wirklich ersichtlich. Baumwolle war der Rohstoff für die Textilindustrie Englands gewesen, der aus den amerikanischen Kolonien nach Manchester verschifft wurde. Verarbeitet und veredelt überschwemmten die daraus gefertigten englischen Stoffe den amerikanischen Kontinent genauso konkurrenzlos wie den europäischen oder asiatischen. Solche Transfers hatten die ökonomische Vorherrschaft der Engländer, ihre weltweite Führung in der gesamten Produktion von industriell gefertigten Waren auf dem Weltmarkt gefestigt. Auf dem Höhepunkt ökonomischer Macht angekommen, demonstrierten die Engländer 1851 in London auf einer Weltausstellung die Möglichkeiten industrieller Fertigung im eigens dafür gebauten imposanten Crystal Palace. Im direkten Vergleich mit internationalen Konkurrenten sollte das Qualitätsniveau der englischen Produkte verdeutlicht werden. Es wurden rund 13.000 Aussteller aus der ganzen Welt, von Europa über Indien bis nach Australien und Neuseeland, eingeladen, um sich mit denjenigen aus England zu messen. Über sechs Millionen Besucher, was einem Drittel der gesamten Bevölkerung Englands entsprach, kamen größtenteils vom europäischen Festland, um diese Warenvielfalt zu bestaunen – und die Führungsrolle der Engländer im 19. Jahrhundert anzuerkennen. Während nun die meisten Ausstellungsgegenstände maschinell gefertigte Waren oder Maschinen und Werkzeuge zu ihrer Herstellung waren, gab es einen amerikanischen Aussteller im Crystal Palace der für ready-to-wear-suits

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warb: Nun müsse niemand mehr zum Schneider gehen, um sich einen Anzug machen zu lassen, denn ohne exorbitante Preise dafür zu bezahlen, könne man einen wirklich befriedigenden Anzug bekommen (Zakim 2003: 111). Fertige (ready-to-wear) Männerkleidung gab es auch in Europa als billigst gearbeitete oder Secondhandware, die kaufen musste, wer sich bessere, d.h. individuell geschneiderte, Anzüge nicht leisten konnte. Nur sehr wenige Besucher interessierten sich für diesen Aussteller, der sich für amerikanische Zeitgenossen allerdings im edlen Crystal Palace genau am passenden Ort befand. Die Werbung für seine ready-to-wear suits wäre den amerikanischen Bürgern in keinster Weise übertrieben erschienen, denn Einkaufspaläste, wie den 1846 gegründeten Marble Palace (Beckert 2001: 24), in denen ausschließlich fertige Männerkleidung in guter Qualität und jeder Preisklasse verkauft wurde, gab es in amerikanischen Metropolen schon. Die Europäer erkannten die amerikanische Ready-to-wearIndustrie noch nicht als zukünftige Konkurrenz. Diese Branche war so neu, dass sich viele europäische Zeitgenossen nicht vorstellen konnten, wie erfolgreich sie weltweit schon bald sein sollte. Mit der neuen Produktionsweise bekamen die manufacturers mehr gesellschaftlichen Einfluss. Wo sie in die herrschende Klasse aufgenommen wurden, konnten industrial workers kein gelobtes Land mehr finden. Die neue Webtechnologie wirkte zurück nach Europa, vor allem auf England, weil hier die Industrialisierung am weitesten fortgeschritten war. Dadurch kam es zu neuen innergesellschaftlichen Kämpfen um Anerkennung in der herrschenden Klasse, die die Bekleidungsgewohnheiten wieder veränderten. In der englischen Gesellschaft wurde als Reaktion auf standardisierte ready-to-wear-suits das individuelle Schneiderhandwerk als invention of fashion tradition mit der Uniform der Gentlemen aufgewertet.

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3. Die Uniform der Herren Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts kam es durch die zunehmende Industrialisierung in kurzer Zeit zu großen gesellschaftlichen Veränderungen, die mit neuen gesellschaftlichen Kämpfen, neuen gesellschaftlichen Konflikten, einhergingen. In dieser Zeit setzen die vergleichenden Untersuchungen zur Bürgerlichkeit von deutschen Historikern und Soziologen an, weil die Entwicklungen im deutschen Kaiserreich mit den Entwicklungen in anderen Industriegesellschaften vergleichbar erscheinen. Dabei werden vor allem die Klassenkämpfe zwischen Industriellen (als Wirtschaftsbürger bezeichnet und damit von den Bildungsbürgern unterschieden) und Arbeitern betrachtet. Wie in dieser Arbeit gezeigt, setzte die Genese der modernen Klassengesellschaften, die Bildung der Bourgeoisie im Anzug vor der Mitte des 19. Jahrhunderts ein. Die merchants hatten bourgeoise Freiheitspotentiale schon freigelegt, lange bevor die Industrialisierung begann. Die herrschende Klasse musste sich zum Ende des langen 19. Jahrhunderts nicht nur mit der Arbeiterklasse auseinandersetzen, sondern auch die erst jetzt an Einfluss gewinnenden manufacturers stellten die älteren Herrschaftsansprüche in Frage. Die in den drei größten Industrienationen entwickelten Bewältigungsstrategien der daraus entstehenden Klassenkonflikte waren, aufgrund der gesellschaftshistorischen Differenzen zwischen den drei Nationen, sehr unterschiedlich und doch stets aufeinander bezogen. In England, dem industriegesellschaftlichen Pionier, sollen diese Transformationen der Klassengesellschaft und die daraus entstehenden Konflikte zuerst gezeigt werden. Mit der Weiterentwicklung der maschinellen Produktionsweise und ihrer verstärkten Durchsetzung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts gewannen die manufacturers an Einfluss. Die upper class setzte sich in England neu zusammen in der Uniform der Gentlemen (Kapitel 3.1). Hier traten die Klassengrenzen nun stärker hervor und das zeigte sich an der Männerkleidung deutlich. Als Reaktion auf standardisierte ready-to-wear-suits wurde in der invention of fashion tradition die Uniform der Gentlemen eingeführt, das Produkt individuellen Schneiderhandwerks. Aber allein das Tragen von maßgeschneiderten Anzügen führte nicht zur gesellschaftlichen Akzeptanz, sondern die Uniform des Gentlemans bestimmte sich neben dem Preis auch über strenge Bekleidungs- und Benimmregeln. In der englischen Gesellschaft wurden mit der neuen Männerbekleidung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die von Kocka konstatierten Grenzen der „Verallgemeinerbarkeit bürgerlicher Kultur“ (1988a: 33) durchaus gesetzt. Für die USA hat sich dagegen ein Wahrnehmungsmuster etabliert, das der Gesellschaft einen Demokratisierungsprozess in der Mode und Bekleidung

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attestiert, der in den 1870er-Jahren begann und spätestens in den 1920er-Jahren erreicht worden sei (und bei einigen Autoren bis heute noch bestehen soll). Doch auch hier gewannen durch die zunehmende Industrialisierung die manufacturers seit den 1870er-Jahren an Einfluss und die ihrerseits an Einfluss verlierenden merchants orientierten sich an den von den englischen Gentlemen gewählten Strategien der Abgrenzung als upper class. Diese Abgrenzung über die Durchsetzung von luxuriöser handgefertigter Männerbekleidung für die herrschende Klasse gelang aber nicht. In den USA wurde die Massenproduktion zur flexiblen Massenproduktion weiterentwickelt, und die Uniform der Masse entwickelte sich zur Uniform der Quasi-Gentlemen (Kapitel 3.2). Hier entwickelte sich, auch über den Konsum von ready-to-wear-suits, eine klassenlose Klassengesellschaft, die über den Preis für die Konsumgüter gesellschaftliche Unterschiede schuf. Die bourgeoisen Potentiale waren in der amerikanischen Gesellschaft am weitesten entwickelt, aber nicht allen gleichermaßen zugänglich. Und doch blieb das bourgeoise Element in der neuen Uniform bestehen, weil, obwohl vom Einzelnen Konsumhürden zu bewältigen waren, damit auch weiterhin Chancen der Amerikanisierung, d.h. der Akzeptanz in der amerikanischen bürgerlichen Gesellschaft, bestanden. Anders als in den USA und England erschienen die Konfliktlinien in der herrschenden Klasse Deutschlands nicht als Konflikt zwischen manufacturers und merchants. Seit 1871 war das deutsche Kaiserreich zwar ein geeinter ökonomisch fortschrittlicher Staat, musste aber seitdem auch mit den gesellschaftlichen Herausforderungen umgehen, die diese schnelle Industrialisierung und Modernisierung brachte. In der deutschen Gesellschaft fand die Auseinandersetzung um Anerkennung nicht zwischen merchants (Großhändler und Kaufleute) und manufacturers (Industrielle) statt, sondern zwischen Wirtschaftsbürgern und dem Staat, der durch Beamte und Teile der Aristokratie vertreten wurde. Obwohl die Anzahl der Anzugträger im Kaiserreich stetig zunahm, war der Anzug nicht die anerkannteste Männerbekleidung. Das Streben nach nationaler Einheit in einer deutschen Gesellschaft hatte im 18. Jahrhundert die Uniformierung der Männer in verschiedenen Uniformen gefördert, das änderte sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht. Durch die Herausforderungen der Moderne in der neuen Nation, dem Wilhelminischen Kaiserreich, entwickelte sich nun durch invention of tradition aus Militäruniformen die Uniform der Berufe (Kapitel 3.3) als anerkannteste Bekleidung in der deutschen Gesellschaft. Dadurch wurden die sesshaften Deutschen von den Fremden oder zu Fremden gemachten unterschieden, und die geforderte Assimilation bei den zu Außenseitern erklärten Mitbürgern verhindert. Und weil die Arbeiter keine Berufsuniform hatten, wurden sie gerade dadurch, dass sie Anzüge tragen mussten, ausgegrenzt.

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Für die Bekleidung wird eher die Ausbreitung des Anzugs und seiner Träger untersucht, aber selten die Bekleidung von Männern in Militäruniformen oder in Berufskleidung. Als Entwicklung ist ihre Bedeutung in der Literatur nicht beschrieben und das hängt damit zusammen, dass, wenn von Bildung oder Beruf die Rede ist, in Deutschland über Kapital und Besitz von Besitz meist geschwiegen wird. Daran ist aber auch ein etabliertes Wahrnehmungsmuster schuld, das sich in der Diskussion um die Verbreitung des bürgerlichen Anzugs, nicht nur bei den deutschen Historikern, sondern weltweit findet. Diese Entsoziologisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse, diese Loslösung vom Konkreten ist es, die zur verzerrten Darstellung der geschichtlichen Entwicklung führt. In der Modegeschichte und -soziologie wird allein den Engländern zugesprochen, die Männerbekleidung seit der Zeit nach der Französischen Revolution (siehe zur Kritik daran Kapitel 1.2) bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg (wenn nicht sogar bis heute) bestimmt zu haben. Begründet wird diese Fokussierung auf England mit dem Verweise auf die Anglomania, die spätestens im langen 19. Jahrhundert weltweit zu beobachten gewesen sei. Anglomania – a term that became current in French in the 1760s – was henceforth a permanent feature of male fashion, supplying vocabulary, ideology and legends as well as models. (Chenoune 1993: 9).

Dem hier zitierten Franzosen Chenoune, der in seiner Geschichte der Mode vor allem den Vergleich zu Pariser Bekleidungsgewohnheiten zieht, würden alle im Weiteren genannten Autoren zustimmen. So sieht es auch der deutsche Soziologe René König für die Entwicklung nach 1789: „Es ist im übrigen kein Zufall, daß England, das Vaterland des siegreichen Puritanismus, in Männermoden bis heute maßgebend geblieben ist,“ (König 1967: 111). Für ihn ist weiterhin der Kampf zwischen Aristokratie und Bürgertum entscheidend, wobei die neue Bourgeoisie versucht habe, distinguierte Vornehmheit in allen Lebenslagen nachzuahmen, um sich als Nachfolger der alten Aristokratie darzustellen (König 1967: 101 f.). Die britischen Autoren de Marly (1985: 101) und Black et al. bezeichnen die englische Entwicklung als wichtigste für die Männerkleidung; spätestens nach der Schlacht bei Waterloo 1815 und dem Sieg der Briten sei die, von einigen Autoren auch schon für die Zeit davor behauptete Anglomania wieder voll eingetreten (Black/Garland/Kennett1982: 80). Die Amerikanerin Perl (1990: 32 f.) schreibt, dass erst die Französische Revolution neue Männerkleidung gebracht und danach England die Führung übernommen habe, ohne dass sie für letzteres eine Erklärung gibt.

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Und die Amerikanerin Anne Hollander schreibt zwar in ihrer Geschichte der modernen Kleidung, die für sie der Anzug ist: „Wie man sich denken kann, waren Konfektionsanzüge ursprünglich eine amerikanische Erfindung. Sie hatten dort schon nach 1820 einen phänomenalen Erfolg, als englische Herren es für sich nie in Betracht gezogen hätten, sie zu tragen.“ (Hollander 1997: 166). Aber weil man es sich ja denken könne, gibt Hollander dafür keine Erklärung, sondern konzentriert sich hauptsächlich auf die englische Entwicklung. Der klassische moderne Anzug sei durch das überlegene Talent der englischen Designer während des 18. und frühen 19. Jahrhunderts geschaffen worden (Hollander 1997: 162).229 England sei die Nation der „verblüffenden Modernisierungen der männlichen Bekleidung“, und den englischen Herrenschneidern sei die Einfachheit des Anzugs zu verdanken, London darum zum Zentrum wahrhaft fortschrittlicher männlicher Bekleidung aufgestiegen (Hollander 1997: 131 ff.). Diese Autoren stimmen darin überein: Von England aus hätten sich die Impulse für die neue Männerkleidung weltweit ausgebreitet und mit kleinen Modifikationen habe sich aus der englischen Bekleidung des 18. Jahrhunderts bis zum 20. Jahrhundert der heutige klassische Anzug entwickelt. Von Chenoune (1993: 9) und Amies (1997: 67) wird dieser Anzug business suit, von anderen auch lounge suit (Black/ Garland/Kennett1982: 131) oder working suit genannt (de Marly 1985: 101). England has been the historical and legendary point of men’s fashion for over two hundred years. As early as 1760, a few continental aristocrats and wealthy Merchants began to adopt the dress and habits of their British peers, abandoning the Paris fashions that had set the tone in Europe up to that time. (Chenoune 1993: 9).

Ganz wesentlich bleibt bei allen Autoren für Erklärungen der Entwicklung und Veränderung von Männerkleidung, dass sie sich nur die herrschenden Gesellschaftsschichten (upper class) anschauen, deren Bekleidungsverhalten sich langsam in untere Schichten (lower class) durchgesetzt habe. Nineteenth-century Anglomania shaped the sartorial fate first of the upper classes, then of the lower classes, and it was England that heralded the advent of the key item in a modern man’s wardrobe – the business suit. (Chenoune 1993: 9).

229 Der Anzug wird als Klassiker bezeichnet, womit die Differenzen und Details, die sich gerade mit dem Blick auf die amerikanische Entwicklung ergeben, verschwinden und der Anzug als in hunderten von Jahren unverändert dargestellt werden kann (siehe dazu Kapitel 2.1).

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Dabei haben die meisten Autoren ein Bild von französischer Mode und der dort geübten Nachahmung vor sich, wie Chenoune, mit seinen Vergleichen der französischen Bekleidungsgewohnheiten (1993: 9), und König, wenn er England als das Vaterland der Männermode begreift (1967: 111). Auch der amerikanische Soziologe Richard Sennett, der an der Veränderung der Kleidung den für ihn im 19. Jahrhundert beginnenden Verfall des öffentlichen Lebens beschreiben will, schaut bei den Kleidungsgewohnheiten der Männer auf die englische Oberschicht als die Nachfolgerin der Pariser Aristokratie, die bis ins 18. Jahrhundert die Mode diktiert habe (1986: 322). Weil Veränderungen der Bekleidungsgewohnheiten nur von oben nach unten (als Trickle-down-Theorie ein „klassischer“ Ansatz, Schnierer 1995: 44 ff.) beschrieben werden, bleibt der Blick auf eine andere Perspektive versperrt, wie sie in dieser Arbeit eingenommen wird. So wird in der Literatur nicht konkret gefasst, wer die herrschenden Gesellschaftsschichten waren, wer zur upper oder lower class gehörte.230 Bis zur Französischen Revolution werden die Einflüsse der gesellschaftlichen Gruppen Aristokratie und Bourgeoisie, bei Chenoune (1993) oder König (1967), in einer gewissen über das nationale hinausgehenden Dynamik beschrieben. Danach kann man feststellen, dass sich mit der Herausbildung neuer national differenzierter Eliten (wie auch immer sie in den einzelnen Klassengesellschaften zusammengesetzt waren) die Einflüsse der sich weiterentwickelnden Männerkleidung quasi entsoziologisieren. Die Geschichte der Männerkleidung wird nationalen Perspektiven unterworfen und nicht als weltweites Zusammenwirken behandelt. Nicht einmal für das ab dem 19. Jahrhundert deutlich als bestimmend beschriebene England werden die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse angeschaut, sondern einzelnen Personen eine Vorbildfunktion für die Veränderung von Männerkleidung zugeschrieben, der sich andere Männer weltweit angeschlossen hätten. Auch durch diese individuelle Zuschreibung gesellschaftlicher Prozesse konnte England der vorderste Platz im Mythos Männermode zugeschrieben werden. Es sind Figuren wie der Londoner tailor und der Gentleman, die den als Anglomania beschriebenen Einfluss auf die Männerkleidung bestimmt hätten: Der erste unter den Gentlemen soll bis in die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts der jeweilige Prince of Wales gewesen sein, bei dem sich das elegante Aussehen des Dandys231 mit der weltbesten Schneiderkunst vereinte. Ihm wurde eine 230 Über die Arbeiterkleidung des 18. und 19. Jahrhunderts lässt sich allgemein wenig sagen (Tozer/Levitt 1983: 121 f ). 231 Eine eingehende Erörterung zum Dandy würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Als erster Dandy wird George Bryan Brummell (1778–1840) bezeichnet, der einen großen

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Vorbildfunktion für die gesamte, d.h. weltweite, Männermode zugesprochen (Condra 2008: 2). Im Folgenden wird gezeigt, dass die Attraktivität dieser Figuren in ihrer Abstraktheit liegt, so dass sie und ihre gesellschaftliche Stellung unterschiedlich bewertet werden können, je nachdem wie der jeweilige Autor argumentieren möchte. Mit Hilfe dieser abstrakten Figuren, die ihren realen Bezug in der englischen Vergangenheit und ihre beliebige Ausformbarkeit und Charakterisierung bis in die heutige Zeit haben, wurde in England eine invention of fashion tradition erfolgreich betrieben. Der englische way of life konnte sich in die (Männer-)Welt über die Grenzen des Empires hinaus ausbreiten, die Vorbildfiguren als Werbeträger für den Absatz der Waren genutzt werden. Bis heute hat der Mythos von der Londoner Vorherrschaft für die Herstellung der hochwertigsten Anzüge tatsächlich nichts eingebüßt. Ausgeblendet werden die in den USA entwickelten Verfahren der Massenproduktion, die für die Männerkleidung im Besonderen und für die Kleidung im Allgemeinen umwälzende Neuerungen brachten (siehe dazu Teil 2). Warum dieser Entwicklung allgemein wenig



Einfluss auf das Kleidungsverhalten des Prince of Wales George IV gehabt haben soll. In der Literatur wird der Dandy sehr unterschiedlich bewertet, bei dem deutschen Soziologen René König erhält er seine negativste Interpretation. Dandys seien gesellschaftliche Randfiguren und Exzentriker, die unbedingt auffallen wollten und darum neue Kleidungsstile einführten. Auffälliges Abweichen sei aber den Aufsteigern der neuen Mittelschicht ein Gräuel gewesen (König 1967: 157) und neue Kleidung darum erst dann vom Bürgertum aufgenommen worden, wenn sie nicht mehr auffällig, sondern allgemein anerkannt gewesen sei (König 1967: 106). Denn das Bürgertum habe sich zwar distinguieren, also Unterschiede zu unteren Gesellschaftsschichten auch in der Kleidung deutlich machen wollen, aber ohne die Exzentrik, mit der die Aristokratie das getan habe (König 1967: 107). König, der die Entwicklung der Männerkleidung als einen Kampf der Spitzen der Gesellschaft um die Herrschaft beschreibt, schafft mit dem Dandy und dem reformierten Pionier der modernen Industriewirtschaft, der nüchtern seine Arbeit verrichte und den Frauen das Konsumieren überlasse (König 1967: 117), zwei neue Gegenspieler in der bürgerlichen Gesellschaft. Dieser Dandy lebe aus den Restbeständen des Feudalismus, weshalb es kein Wunder sei, dass diese Gestalt aus England käme (wo sich der Feudalismus auch im Industriesystem erhalten habe), um sich ab 1815 über Europa zu verbreiten. Während der Deutsche René König besonders die auffällige Extravaganz betont, hat für die Amerikanerin Hollander der Dandy Brummell bewiesen, wie überlegenes männliches Wesen sich nicht mehr durch die vererbten Adelstitel zeigte, sondern dass die Vortrefflichkeit in der persönlichen Natur lag (Hollander 1997: 147). In den USA war die Figur des Brummell schnell sehr beliebt, es gab ein Theaterstück, dann auch mindestens zwei Hollywood-Filme über das Leben eines selbstsicheren Aufsteigers, der sich vom Prinzen nichts gefallen lässt. Diese andere Interpretation des Dandys erklärt sich aus der amerikanischen Erfahrung (siehe dazu Kapitel 2.1).

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Beachtung geschenkt wird, hängt damit zusammen, dass für die Entwicklung der Männerkleidung der Produktionsprozess gerne ausgeblendet wird – wenn er nicht die handwerkliche Schneiderei betrifft. Um das Phänomen der weltweiten Anglomania zu begreifen, ist es zunächst wichtig, sich die weitere Entwicklung in England anzuschauen. England war zur Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt seiner industriellen Macht und beherrschte den Welthandel, d.h., in jeder Ecke der Welt war auch ein englischer merchant anzutreffen. Das allein waren schon Gründe, warum alle Welt auf ihre Bekleidung schaute. Aber war die englische Männerkleidung auch die fortschrittlichste, d.h., wurde in England umgesetzt, was in Amerika an modernsten Produktionsweisen entwickelt worden war? Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts wurde der Widerspruch zwischen der mittelalterlichen Art des gesellschaftlichen Lebens und der modernen Art deutlicher. Die spanische Aristokratie hatte noch versucht, die wesensmäßig kapitalistischen Arten der Produktion und des Konsums einem antiquierten Feudalsystem unterzuordnen (siehe dazu Kapitel 1.1). Aufwändig handwerklich gearbeitete Kleidung wurde immer prächtiger, als sich die Auflösung der vertrauten ständischen Gesellschaftsordnung und damit der Machtverlust der aristokratischen Stände abzeichneten. Diese feudale Kleidung war von den nach moderner Art denkenden und handelnden Männern, vor allem von vielen merchants, nicht mehr akzeptiert worden; die neuen Produktionsverhältnisse verlangten Fleiß und Betriebsamkeit, keinen Luxus (Löwenthal 1990: 23). Wegen der differenten gesellschaftlichen Verhältnisse in England hatten sich hier die merchants erfolgreich durchsetzen können, deren abstrakteres, unpersönliches, mittelbares Denken und Handeln auf die eigenen interests gerichtet war. Sie ließen sich gegenseitig in der Konkurrenz gewähren. Mit der neuen heterogen zusammengesetzten Bourgeoisie war es zur Ablösung der ständischen Gesellschaftsordnung und damit der feudalen Prachtkleidung gekommen. Die Ideologie des freien Zusammenschlusses auf dem Markt drückte sich in der freiheitlichen Wahl der uniformen Kleidung aus, die Uniform der Bourgeoisie setzte sich durch. Prinzipiell stand der Anzug (als dress coat) jedem offen, der den Preis dafür bezahlen konnte. In den USA, als bourgeoiser Gesellschaft ohne feudale Restbestände, war dieses Prinzip soweit fortgeschritten, dass quasi alle Männer diese bourgeoisen Anzüge tragen konnten (siehe dazu Kapitel 2.1). Das war gelungen durch die ready-to-wear-Produktion, bei der die amerikanischen Produzenten bis ins 19. Jahrhundert hinein versuchten, bei guter Qualität zu immer niedrigeren Preisen Anzüge bereitzustellen. Erst in der Betrachtung der Reaktionen der englischen Gesellschaft auf diese neue Massenproduktionsform aus der amerikanischen Gesellschaft können die transatlantischen

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gesellschaftlichen Differenzen gezeigt werden. Die aufwändige handwerkliche Prachtentfaltung in individuellen Kleidungsstücken war durch uniforme Anzüge aus maschinell gefertigten Stoffen, vereinheitlichten Schnitten und gleichen Maßen ersetzt worden, doch in der englischen Gesellschaft wurde mit dem Eindringen des ready-to-wear die handwerkliche Verarbeitung, wenn auch nach modernen Regeln, die einer Standardisierung der Produktion nahekamen, als Uniform der Gentlemen aufgewertet.

3.1 Die Uniform der Gentlemen

Im Übergang zur Industriegesellschaft veränderte sich die Männerkleidung in England, eine Entwicklung, die im Zusammenhang mit innergesellschaftlichen Klassenkonflikten gesehen werden muss. Das Besondere dieser englischen Klassenkonflikte zeigt sich vor allem im Vergleich mit den USA, wo sich die Industrialisierung, d.h. auch die Einführung von Maschinen für die Produktion, mit den Aufstiegserfahrungen der Einwanderer verband. Die Anerkennung in der Kollektivsphäre der betriebsamen merchants fiel daher nicht nur den merchant farmers leichter, sondern auch die industrial workers verstanden sich in den USA in diese einzuordnen. Das unterschied sich von der englischen Gesellschaft, wo der innere Widerspruch zwischen den Ansprüchen und Verheißungen der bürgerlichen Gesellschaft und den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen einer Klassengesellschaft viel radikaler erlebt wurde. Deshalb hatte sich bis zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine working class mit einem Klassenbewusstsein herausgebildet (Thompson 1963). Für viele von diesen Männern verband sich der Prozess der Industrialisierung mit gesellschaftlichen Abstiegserfahrungen. Das von Kocka zur Entstehung von so etwas wie Bürgertum genannte Merkmal der deutlichen Klassenspannungen (1988: 33) kam im 19. Jahrhundert in England zum Tragen. Hier zeigte sich eine gegenüber den USA viel stärker gespaltene Gesellschaft, in der Arbeiter offen für die gesellschaftliche Anerkennung der eigenen Klasse und ihrer Bedürfnisse gegen die herrschende Klasse als nationale, d.h. englische, Bourgeoisie kämpften (Hobsbawm 1991: 106 f.). Die Uniform der Bourgeoisie wurde zur Uniform der Gentlemen, weil die bourgeoise Tradition nur noch dem Verbergen der gesellschaftlichen Unterschiede in einer, und zwar der herrschenden Klasse diente. Das war keine von der upper class herunterwirkende Entwicklung (wie es bei der Trickle-down-Theorie als Begründung genügen würde), sondern hing mit dem Erstarken der working class zusammen. Die herrschende Klasse setzte sich wegen der Konfrontation mit der working class neu zusammen und reagierte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts durch radikalere gesellschaftliche Differenzierung, für die sie die von einigen

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tailors für den Erhalt ihres Status aufgewertete handwerkliche Produktion aufgriff: die Erfindung/Einführung (invention) von Gentlemen. Dafür waren Regeln notwendig, weil diese aber so schwer zu verstehen und nachvollziehen waren, wurde die Figur des Prinzen zum Best-dressed-Gentleman. Klassenkämpfer Seit dem Beginn der Industriellen Revolution in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatten sich in England die gesellschaftlichen Verhältnisse nur langsam verändert, es dauerte oft mehrere Generationen, bevor aus peasants (Landarbeitern, A. M.) neue Fabrikarbeiter geworden waren (Thompson 1963: 831). Denn obwohl in den ehemals ländlichen Gebieten große Industrieregionen entstanden waren, arbeiteten noch 1830 viele der sich als industrial workers verstehenden Arbeiter nicht in den großen mills oder Fabriken, sondern in kleinen workshops oder Zuhause. Die erfolgreiche Industrialisierung hatte daher erst zu einer stetigen Zunahme an Handwerkern und Heimarbeitern und einem steigenden Lebensstandard für diese industrial workers geführt.232 So stieg durch die Einführung der maschinellen Spinnereien der Bedarf an Handwebern (Thompson 1963: 234), weil das Problem des Spinnens großer Mengen an Garn damit gelöst worden war (Pope 1970 [1905]: 4). Aber die Weiterentwicklung der maschinellen Produktionsweise durch die Mechanisierung, wie z.B. die Erfindung der mechanischen Webstühle, hatte zu Veränderungen in England geführt, die sich von denen in den USA deutlich unterschieden (siehe dazu Kapitel 2.3). Während die Maschinenarbeitskraft in Amerika den ständigen Bedarf an Arbeitskräften ergänzte, wurden in England durch die Umstellung von der Handarbeit auf Maschinen die Handwerker und Heimarbeiter verdrängt, die in der früheren Industrialisierung zu den Gewinnern gezählt hatten. Hier wurde immer mehr lebendige Arbeitskraft durch Maschinen ersetzt (Thompson 1963: 248). Und so verloren durch die neuen Entwicklungen in der maschinellen Verarbeitung, auch wenn in der Textilindustrie um 1830 noch immer die Heimarbeiter dominierten (Thompson 1963: 234), immer mehr industrial workers ihre Arbeit (Thompson 1963: 247). Das steigende Überangebot an freigestellten Arbeitskräften führte zu sinkenden Löhnen, die für die steigenden Lebenshaltungskosten nicht reichten (Thompson 1963: 249). Das war die gesellschaftliche Erfahrung, aus der heraus Marx geschrieben hatte, dass durch die Einführung der Maschinen den Arbeitern nur „erniedrigender Pauperismus oder Auswanderung“ bleibe, weil die Arbeiter zu „kriecherischen 232 Für ungelernte Arbeiter blieben die Lebensbedingungen allerdings die ganze Zeit über sehr mangelhaft (Thompson 1963: 234).

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Elenden“ herabgestuft worden seien, „die das entwürdigende Brot der Mildtätigkeit essen.“ (Marx 2001 [1867]: 455). Für die Handwerker und Heimarbeiter bedeutete das auch den Verlust ihres Ansehens und ihres Könnens. Viele, die sich zuvor als „free-born English men“ gesehen hatten und für ihre Kenntnisse und Fähigkeiten geachtet waren, mussten nun Unterdrückung und gesellschaftliche Ausgrenzung erfahren (Thompson 1963: 831). „They were told that they have no rights, but they knew that they were born free.“ (Thompson 1963: 831). Darum ging der teilweise radikale Widerstand gegen die Einführung der neuen Maschinen auch hauptsächlich von den vielen sich als industrial workers verstehenden Handwerkern und Heimarbeitern aus. Denn in den englischen Industriebezirken im 18. Jahrhundert waren die ersten kleinen friendly societies und trade clubs gegründet worden (Thompson 1963: 831) aus denen sich in den 1830er-Jahren die großen unions zusammenschlossen.233 Vor allem sie verstanden sich seit der beginnenden Industrialisierung als und waren Teil der industrial workers, die sich in den 30er-Jahren des 19. Jahrhunderts zur working class herausbildeten. Diese working class unterschied sich vom mob des 18. Jahrhunderts dadurch, dass sie sich ein kollektives Selbstbewusstsein aus Theorie, Institutionen, Disziplin und Gemeinschaftswerten erschlossen (Thompson 1963: 424). Für den englischen Historiker Edward Thompson war das vielleicht die „most distinguished popular culture“, die England gekannt hat (1963: 831). Aber die neuen Produktionsweisen für die Herstellung von Bekleidung führten nicht nur bei den Webern zu massiven Veränderungen ihrer Lebensverhältnisse, auch die Schneider fühlten sich zu den industrial workers zugehörig und mussten sich mit dem Problem der Proletarisierung auseinandersetzen, weil die Bekleidungsbranche sich massiv veränderte. Marx hatte angemerkt, dass sich die Bekleidungsbranche in England erst habe aufbauen können, als durch die Industrialisierung und die Einführung von Maschinen viele Arbeiter freigesetzt wurden, die aus Verzweiflung in die Produktion des ready-to-wear (bei ihm wearing apparel genannt) wechseln mussten. Durch das Anwachsen des Bekleidungssektors sei eine Umwälzung von Manufaktur, Handwerk und Hausarbeit in Fabrikarbeit geschehen. Die Nähmaschine habe dazu geführt, dass die Löhne der Maschinenarbeiter im Verhältnis zu den Heimarbeitern 233 Nicht die mittelalterlichen Gilden und Zünfte waren das Vorbild, dies waren keine ständischen Handwerker, sondern Männer, die sich freiwillig in Clubs zusammenschlossen. Chenoune (1993: 14) hatte von einer „male culture“ geschrieben, die sich in Clubs und bei Gesellschaften, in „frauenlosen Bastionen“, im städtischen Raum zusammenfand (siehe dazu Kapitel  1.1). Inwieweit auch die friendly societies exklusiv für Männer waren und wie davon die Kleidung der working class beeinflusst war, müsste unter Genderaspekten untersucht werden; das kann hier aber nicht geleistet werden.

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stiegen. [Diese Heimarbeiter sind nicht die von Thompson als Mitbegründer der Gewerkschaften beschriebenen, z.B. die Weber, sondern die in den sweatshops ausgebeuteten Beschäftigten.] Dadurch seien aber die Löhne der vorher besser gestellten Handwerker gesunken, weil sie mit den Maschinen konkurrieren mussten (Marx 2001 [1867]: 494). Vergleicht man das mit der Entwicklung in den USA, dann hatte es dort nie viele ausgebildete Schneider gegeben und für so manchen Einwanderer war die schlecht bezahlte Näharbeit ein erster Schritt zum Aufstieg zu besser bezahlten Arbeiten. Die Einführung der Nähmaschinen ab Mitte des 19. Jahrhunderts führte dort auf dem beständig wachsenden Readyto-wear-Bekleidungssektor nicht zu Entlassungen oder Verschlechterungen der miserablen Arbeitsbedingungen. Und weil der Bedarf an Männerbekleidung ständig stieg, war auch die Ready-to-wear-Branche allgemein akzeptiert (siehe dazu Kapitel 2.2 und 2.3). Whilst America was embracing mass production techniques of the sectional construction of garments and other industrial methods, these developed more slowly in a more conservative Europe. (Aldrich 2007: 33).

Wenn man England zu diesem Europa dazu zählen möchte und hier von einer konservativen Entwicklung sprechen will, sollte aber bedacht werden, dass mit der Branche keine positiven Erfahrungen verknüpft werden konnten. Thompson weist darauf hin, dass es leicht wäre zu sagen, diese culture der working class sei nach rückwärts gewandt und konservativ gewesen. Was aber die großen Agitatoren der Handwerker und Heimarbeiter wollten, war über 50 Jahre – „to resist being turned into a proletariat.“ (1963: 831). Der Widerstand war daher auch gegen die Bekleidungsbranche stärker, weil es jetzt viele Schneider gab, die in der englischen Wirtschaft nicht mehr gebraucht wurden. Während die Ready-to-wear-Branche wuchs, verloren Schneider ihre Arbeitsplätze bei kleinen Meistern, die jeweils einige Gesellen und Lehrlinge hatten. Diese wiederum mussten ihre Schneidereien aufgeben oder für die sich vergrößernden manufactories und Mittelsmänner arbeiten, die wiederum Heimarbeiter (auch hier handelt es sich nicht um die gutbezahlten Heimarbeiter aus der früheren Zeit, wie die Weber) oder Unterhändler beschäftigten. Here, the smaller workshops and the independent tailors and dressmakers in the small urbanised towns both adopted the technology of the sewing machine and adapted the early tailors’ drafting techniques. This made them uniquely able to service the demand for the close-fitting fashionable garments of the latter half of the century and to offer a personal service. (Aldrich 2007: 33).

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In England entwickelte sich der wholesale bespoke trade in der Männerkleidung, für deren Herstellung unzählige Schneider arbeiteten, deren Lage sich aber immer weiter verschlechterte.234 Von den 23.519 Londoner Schneidern arbeiteten Mitte des 19. Jahrhunderts 3000 Schneider in der Luxus- und Qualitätsbranche, also im „honourable“ Gewerbe, während der größte Teil von rund 18.000 im „dishonorable“ Gewerbe, d.h. völlig abhängig von Mittelsmännern oder manufacturers, im ready-to-wear arbeitete. Nur noch 2748 Schneider waren als unabhängige Meister tätig. Nicht nur gingen den gelernten Schneidern die sozialen Absicherungen verloren, es begannen auch immer mehr Ungelernte, Frauen und Kinder in der Ready-to-wear-Branche zu arbeiten. Die Zahl der Arbeitsstunden stieg ständig an und es wurde teilweise an jedem Tag der Woche gearbeitet. Schneider, die nicht zur Luxus- oder Qualitätsbranche gehörten, verloren ihren Status, ihre Sicherheiten, ihr Einkommen, sie konnten kaum mehr für die eigene Kleidung bezahlen. Die in der gehobenen Schneiderei verbliebenen Schneider organisierten sich (Thompson 1963: 257 ff.). Auch in den USA hatten die journeymen in den 1820er-Jahren gegen die sinkenden Löhne gestreikt, waren dabei aber wenig erfolgreich gewesen (siehe dazu Kapitel 2.3). Die industrial workers in England waren dagegen so erfolgreich in unions oder trade clubs organisiert, dass einige es schafften, ihre Position zu verteidigen (Thompson 1963: 257). Die Schneider unterschieden sich jetzt nach den in friendly societies organisierten und den nicht organisierten, wobei letztere einerseits die „honourable“ der Luxus- und Qualitätsbranche und die „dishonourable“ in der Cheap-and-nasty-Branche waren, wozu das ready-to-wear unzweifelhaft gehörte (Thompson 1963: 251). Damit differenzierte sich das Schneiderhandwerk weiter aus, denn die Qualitätsschneider stemmten sich immer radikaler gegen die billigste Massenfertigung. Es wurden Regeln für die Herstellung von Kleidung aufgestellt, die es vor der industriellen Produktion nicht gegeben hatte und die gut ausgebildete Schneider beherrschen mussten (de Marly 1985: 82). So hatten vor der Einführung dieser Regeln die Knopfleisten auf der einen oder anderen Seite genäht werden können, so wie der Kunde es individuell bevorzugte oder der Schneider es am besten nähen konnte. Jetzt gab es Regeln und obwohl handwerklich gearbeitet wurde, verlangten diese eine strikte Einhaltung von vorgegebenen

234 Wholesale bespoke tailoring – der retailer nahm die Maße des Kunden und der Anzug wurde in einer Fabrik oder einer ausgelagerten Nähstube hergestellt (Aldrich 2007: 36). Im Deutschen wird das mit Verlagswesen bezeichnet. Zur Herkunftsgeschichte von bespoke, das sich vom „bespeaking“, dem Besprechen des Kunden mit dem Hersteller über die Machart der Ware herleitet, siehe auch Poole (1920: 5).

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Mustern (de Marly 1985: 82). Das führte zu einer Modernisierung der Produktion durch Standardisierung bei gleichzeitiger invention of tradition. Wie in den USA gingen auch in England mit der Ausweitung der Bekleidungsbranche die Einteilung der Arbeitsschritte und eine Vereinheitlichung der Vorarbeiten einher. Bei der Uniformität im Schnitt sah es hingegen anders aus: In den USA entwickelte sich ein einheitliches Maßsystem, das von industriellen Wünschen bestimmt war, in England aber entwickelten sich viele Messvarianten, mit denen sich die Schneider sichtbar von der Massenproduktion abheben wollten (siehe dazu Kapitel 2.2). Teure Männerbekleidung wurde für die upper class gemacht, billigste Ware für die working class. „A few systems provided by the clothiers offered simple drafts and grades for working garments.“ (Aldrich 2007: 6). Wenn der englische Historiker Aldrich hier von working garment als „simple and low graded“ schreibt, spiegelt sich darin die teilweise bis heute bestehende Vorstellung vieler Europäer über das Aussehen von Kleidung für Arbeiter im Unterschied zur Kleidung anderer Gesellschaftsschichten, die auch die Differenz von Alltags- und Sonntagskleidung, Arbeits- und Freizeitkleidung mit einschließt: Working garments für die working class waren billig und schlecht gearbeitet (cheap and nasty). Organisierte englische Schneider der Luxus- und Qualitätsbranche suchten sich von den in der Cheap-and-nasty-Branche Arbeitenden deutlich abzuheben. In den USA hatte sich die Standardisierung konsequent durchgesetzt, weil das gesellschaftliche Bedürfnis nach bourgeoiser Männerkleidung am weitesten entwickelt war. Dort war es zur Systematisierung von Käufern und Produzenten gekommen, d.h., wer produzierte spielte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts keine Rolle. Die Produzenten warben in den USA mit der Modernität ihrer Methoden, sie waren geschäftstüchtige entrepreneurs aus allen möglichen Branchen, die hier Profite vermuteten. Dazu produzierten sie möglichst billig, aber in guter Qualität (siehe dazu Kapitel 2.2). Die von der Proletarisierung bedrohten englischen Schneider dagegen betonten die ehrwürdigen Traditionen ihrer teuren, handwerklich gearbeiteten Anzüge. Die Aufwertung von Maßanfertigungen (wholesale bespoke garments) sollte gegen den gesellschaftlichen Abstieg und die Pauperisierung helfen. Dass die organisierten Mitglieder der Gewerkschaften für ihre eigenen Rechte, aber damit nicht unbedingt für alle Arbeiter kämpften, sah der englische Soziologe Herbert Spencer (1820–1903) als ein Problem und rechnete es zu den Klassenvorurteilen (class bias) dazu. 235 235 Der konservative, also nicht gerade als revolutionär zu bezeichnende, Herbert Spencer sah vor allem Nachteile für die erfolgreiche Weiterentwicklung der Gesellschaft im Ganzen,

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The feeling which thus warps working-men’s conceptions, at the same time prevents them from seeing that each of their unions is selfishly aiming to benefit at the expense of the industrial population at large. (Spencer 1960 [1873]: 55.).

Aber mag es auch selbstbezogen und egoistisch gewirkt haben, durch die Erfolge der organisierten Handwerker und Heimarbeiter verstärkte sich der politische Radikalismus, andere Gruppen schlossen sich an (Thompson 1963: 262). Marx, der dieselbe Gesellschaft wie Spencer vor Augen hatte, wendete diese Erfahrung der Gewerkschaftsbildung und der Pauperisierung dann ja auch anders: Wenn sich auch erst nur kleine Gruppen zum Protest zusammenschlössen, würden sie sich nach und nach vereinen (Marx 1972 [1848]: 471). Und die industrial workers machten die Erfahrung für sich, dass für sie nur durch den Kampfgeist der Gewerkschaften ihr Status hatte erhalten bleiben können (Thompson 1963: 262). Daher war diese working class community (Gemeinschaft) im frühen 19. Jahrhundert in hohem Maße vom Bewusstsein ihrer eigenen Bemühungen bestimmt (Thompson 1963: 418) und blieb es auch noch in späteren Zeiten. Innerhalb der englischen Arbeiterklasse hatte sich aus diesem Bewusstsein einer working class community heraus eine eigene gesellschaftliche Sphäre gebildet, in der auch Männerkleidung als working suit eine Rolle spielte.236 Alles wurde wenn die unions die Freiheit der einzelnen Arbeiter behinderten. „The general policy of trades-unionism, tending everywhere to restrain the superior from profiting by his superiority lest the inferior should be disadvantaged, is a policy which, acted out in any industrial combinations, must make them incapable of competing with combinations based on the principle that benefit gained shall be portioned to faculty put forth.“ (Spencer 1960 [1873]: 57). Auch wenn er Klassenvorurteile (class bias), die der Entwicklung im Weg stehen, auf beiden Seiten sah, stand er mit der Forderung nach freier Entfaltung der Besten der Ideologie der herrschenden upper class näher, die sich für die Aufsteiger in der Gesellschaft als richtige erwies. Denn zwischen Französischer Revolution und Reform Bill formierte sich ein middle class „class consciousness“ (Klassenbewusstsein) für eine Klasse, die konservativer und selbstbezogener gewesen sei als in anderen Industriestaaten (Thompson 1963: 819). 236 Keir Hardie (1856–1915), einer der Gründer der Independent Labour Party, später Labour Party, konnte 1892 (siehe dazu Abbildung 14) als erstes Mitglied der Labour Party im Parlament Aufsehen erregen, als er im einfach gearbeiteten schwarzen Anzug, von den Sozialisten working suit tituliert und mit Tweedkappe, „Andy Capp“ genannt (Hobsbawm 1983: 287), zu den Parlamentssitzungen erschien. Die Hafenarbeiter wollten erst, dass er auch in einem morning coat ginge wie die anderen Mitglieder des Parlaments, aber als er dann in diesem working suit mit seiner Tweedkappe in den Palast trat, jubelten sie. Die ihm von anderen Parlamentsmitgliedern nach Hause geschickten Zylinder und tailor-made-suits lehnte er ab. Ein black suit [auch hier kann man wieder sehen, wie viele unterschiedliche Begriffe in der Modegeschichte benutzt werden, ohne sie zu definieren, A. M.] wurde die Uniform der Labour Mitglieder im englischen Parlament (de Marly 1985: 115).

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Abbildung 14: Keir Hardie, 1892 erster Parlamentsabgeordneter (MP) der Labour Party in einem lounge suit.

in den „battle-ground of class“ gezogen: die Geschäfte, Schulen, Kirchen und Vergnügungsorte (Thompson 1963: 832). „Orphans we are, and bastards of society,“ schrieb ein bekannter Radikaler 1834, nicht mit resigniertem Tonfall, sondern mit Stolz (zit. n. Thompson 1963: 832). Stolz im Bewusstsein der Gleichheit der Interessen („identity of interests“) zwischen den Arbeitern – was sich auch darin zeigte, dass zwischen 1830 und 1834 die größeren Unions entstanden. Stolz im Bewusstsein der Gleichheit der Interessen der working class gegen die anderen Klassen der Gesellschaft (Thompson 1963: 807). Die Transformation der englischen Gesellschaft mit der zunehmenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert (Hobsbawm 1983: 10) hatte eine kämpferische working class ausgebildet. Die zunehmende Industrialisierung blieb aber auch nicht ohne Folgen für die Umgestaltung der herrschenden Klasse selbst, die damit auch kämpferisch auf die innergesellschaftlichen Konflikte mit der working class reagierte. In der englischen Gesellschaft hatte die upper class aus Aristokraten, etablierten merchants und gentry trotz früher Industrialisierung weiter herrschen können, denn die mill owners und manufacturers kleinerer Unternehmen blieben wenig einflussreich (Thompson 1963: 234). Als Arbeitgeber vieler Handwerker und Heimarbeiter fehlte ihnen die gesellschaftliche Akzeptanz der herrschenden Klasse. Je mehr Maschinen aber angeschafft wurden, desto mehr Kapital floss in die industrielle Produktion, desto größer wurden die Fabriken und desto

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einflussreicher wurden die manufacturers. Mit dem Erfolg der manufacturers stieg aber auch die Zahl der industrial workers. Ihre Radikalisierung in den Industriebezirken, das Making of the Working Class, löste nicht nur bei den „mill-owners, iron-masters, manufacturers“ Angst und Unbehagen aus (Thompson 1963: 819). Die Angst der upper class vor dem eigenen Machtverlust sowie die der manufacturers vor einem Eigentumsverlust dämmten in der englischen Gesellschaft die Konflikte zwischen aufstrebenden Industriellen und etablierten Händlern ein (Thompson 1963: 809). Das gemeinsame Interesse gegen die working class brachte sie zusammen; die manufacturers konnten nicht mehr nicht anerkannt werden in dieser sich in Klassen organisierenden Gesellschaft. Die „old order“ vereinigte sich mit den neuen Eliten (Hobsbawm 1983: 10). Dafür wurden neue Netzwerke genutzt und bestehende weiterentwickelt (Hobsbawm 1983: 3). Zur Festigung dieser neuen herrschenden Klasse wurden mit der invention of tradition Kontinuitäten erzeugt, wobei alte Institutionen mit etablierten Funktionen, die ihre Referenz in die Vergangenheit hatten, von neuen Praktiken eingenommen wurden. „‚Traditions‘ which appear or claim to be old are often quite recent in origin and sometimes invented.“ (Hobsbawm 1983: 1).237 Für die englischen Historiker Eric Hobsbawm und David Cannadine ist Kleidung ein wichtiger Bestandteil der invention of tradition. Allerdings beschränken sie ihre Untersuchung auf die prunkvolle Zurschaustellung des Königshauses, die Aristokratie und die großen Zeremonien, die ab den 1870er-Jahren begannen. Aber hier wird ihr Ansatz weiter gefasst, denn der tiefgreifende Wandel, der die englische Klassengesellschaft erfasste, blieb nicht auf die Amts- und Prachtkleidung beschränkt. Er galt auch für die Uniform der Bourgeoisie, die als Uniform des Gentlemans gleichzeitig mit der invention des Gentlemen selbst erfunden wurde. Mit der Neuzusammensetzung der upper class verdichteten sich die vermeintlichen Einflüsse in der weiteren Entwicklung der Männerkleidung auf einzelne Figuren und die prägende Figur des Gentlemans. Invention of the Gentleman Es gab Gentlemen schon früher, der Begriff bekam aber in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine veränderte Bedeutung, die über die englische Gesellschaft hinaus bestimmend wurde.238 Die neuen „Christian Gentlemen“ (Truninger 2010: 237 „‚Invented tradition‘ is taken to mean a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past.“ (Hobsbawm 1983: 1). 238 De Marly schreibt zwar, die sozial herausgehobene Stellung eines Gentlemans sei nun nicht mehr durch die Zugehörigkeit zum Adel bestimmt. „The title of Gentleman is now

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74 ff.) kleideten sich in eine neue Uniform, die ihre Ausformung auch durch die Versuche der im Klassenkampf begriffenen organisierten englischen tailors erhielt, die gegen die Abwertung ihrer Arbeit, ihrer Anerkennung, ihres Auskommens ankämpften. Die tailors der Luxus- und Qualitätsbranche hatten, um der Proletarisierung zu entgehen, Maßanzüge aufgewertet, und die herrschende Klasse nahm das auf, so dass ab den 1830er-Jahren individuell geschneiderte Anzüge zum Aushängeschild eines jeden sich als Gentleman verstehenden und damit von dieser Klasse akzeptierten Mitglieds der Gesellschaft wurden. Ein Russe, der den Jockey Club besuchte, bat seine Gastgeber um eine Definition des Gentleman: Handelte es sich um einen ererbten Titel, um eine Kaste, war das ganze eine Frage des Geldes? Die Antwort lautete, ein Gentleman offenbare seine Qualität nur jenen, die sie zu erkennen vermögen, ohne daß es ihnen gesagt werden muß. Der Russe, augenscheinlich ein ungeschliffener Kerl, wollte wissen, in welcher Form sich solche Offenbarungen abspielten. Worauf ihm ein Mitglied des Clubs im Ton strenger Vertraulichkeit erklärte, die Kleidung eines Gentleman könne man stets daran erkennen, daß sich die Knöpfe am Ärmel seines Mantels wirklich auf- und zuknöpfen ließen, und das Verhalten eines Gentleman könne man daran erkennen, daß er seine Knöpfe stets sorgfältig zugeknöpft halte, um keinerlei Aufmerksamkeit auf seine Ärmel zu lenken. (Sennett 1986: 327).

Es sind Geschichten wie diese, die die Figur des Gentlemans bis heute so reizvoll erscheinen lassen. Hier wird das Kleidungsverhalten mit der Sorgfalt für Details, ein perfektes Aussehen durch unauffällige Qualität mit der Überlegenheit der englischen Schneiderkunst für einen maßgeschneiderten Anzug commonly given to all those that distinguish themselves from the common sort of people, by a good suit of clothes“ (de Marly 1985: 93). Aber das stimmt nicht ganz, auch wenn sich das Bild des Gentlemans vom 18. zum 19.  Jahrhundert durchaus veränderte. Die Gentlemen dieser Zeit waren „Christian Gentlemen“, geprägt durch die Erziehung in den public schools, den Erziehungsanstalten der englischen Elite, wo aristokratische Eltern noch bis Anfang des 19. Jahrhunderts die Aufnahme bürgerlicher Schüler zu verhindern suchten (Truninger 2010: 74 ff.). Da aristokratische Schüler die Autorität ihrer bürgerlichen Lehrer nicht anerkannten, wurde an den public schools das Ideal des „Christian Gentlemen“ eingeführt, das „Charaktereigenschaften wie Loyalität zur eigenen Gruppe, Unterordnung der individuellen unter die Gruppenziele, die Fähigkeit zu regelgeleitetem Wettbewerb, Entscheidungsfähigkeit, physischer und moralischer Mut sowie Führungskompetenzen“ beinhaltete. Diese Eigenschaften wurden vor allem über Team-Sport erlernt, daraus entwickelte sich das fair play des sportsman, für das die englischen Gentlemen so bekannt wurden. Aber viel wichtiger war, dass diese Eigenschaften für die Verwaltung und militärische Sicherung des Empires, mit seinen Kolonien, erfolgreich eingesetzt werden konnten (siehe dazu Truninger 2010: 74 ff.).

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verbunden. Damit wurden die tailors wichtig, denn die Uniform des Gentlemans beruhte auf der Perfektion des Schnittes, des Sitzes und der Qualität des Stoffes (Chenoune 1993: 40). Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts waren die Röcke (also die Anzugjacken) schlicht, aber insgesamt noch großzügig geschnitten239, weil die teuren Stücke vererbt wurden und der nächsten Generation möglichst noch passen sollten. Im 19. Jahrhundert wurden der tail coat (dt. Frack) und der frock coat (dt. Gehrock), der um 1880 allgemein getragen wurde und noch bis ca. 1914 im Straßenbild präsent war (Chenoune 1993: 109)240, immer figurbetonter. Er zeichnete sich vor allem durch einen taillierten Rock aus, wodurch die ganze Linie weicher wurde (de Marly 1985: 97).241 Dafür waren veränderte Schneidetechniken nötig, denn die Röcke hatten eine Naht in der Taille, was wiederum dazu führte, dass diese dress coats aufwändiger zu schneidern waren (Chenoune 1993: 40).242 Als weiteres Kriterium kam die Qualität der verwendeten Stoffe hinzu. Für die figurbetonten maßgeschneiderten Anzüge in der Männerkleidung wurden nahezu ausschließlich teure schwarze Wollstoffe verwendet und es wird damit argumentiert, dass diese Stoffe sich dehnen und glätten ließen und so den neuen Schnitten und Formen bestens angepasst werden konnten (Sennett 1986: 323). Aber es war doch auch so, dass die Produktion von Baumwollstoffen durch das maschinelle Spinnen und Weben industriell zufriedenstellend gelang und die Preise für die Stoffe sanken. Die Verarbeitung von Wolle war aufwändiger und die Preise für Wollstoffe blieben hoch, die teuren Wollstoffe verschafften Distinktionen. Welche Stoffqualität die Kleidung hatte, fiel besonders auf, weil die Stoffe sich farblich nicht wirklich unterschieden, sondern allgemein in Farbe und Tönung gedämpft waren (Sennett 1986: 326).243 Für die Feinheiten in der 239 Wenn auch nicht so weit und ausladend, wie in den vorausgegangenen Jahrhunderten, und auch schon ohne die aufwändigen Besetzungen der Stoffe, luxuriöse Ornamente und anderen Putz (siehe dazu Kapitel 1.1). 240 Allerdings betont Condra (2008: 71), dass der tail coat nach 1890 als Tagesbekleidung nicht mehr getragen wurde. Das galt zu dieser Zeit aber nicht in der deutschen Gesellschaft (siehe dazu Kapitel 3.3). 241 Auch die Haare wurden länger und lockten sich im Nacken und die Männer legten sich Bärte und Schnurrbärte zu (de Marly 1985: 97). Der Grund für den Bartwuchs wird gewesen sein, dass die Männer dadurch ein maskulines Aussehen bewahren konnten. 242 Zu den Details der Schnittmuster vgl. Hamilton Hill/Bucknell (1967: 184 ff.) 243 Die von der gentry getragene Kleidung war farbig gewesen, auch wenn es gedeckte Farbtöne waren, von Braun über Grau zu Grün, die mit der Landschaft harmonierten, mit den Wiesen, Äckern, aber auch den Pferden und Jagdhunden. Mit der Akzeptanz ihrer Kleidung für das Stadtleben verschwand die ländliche Farbpalette der frühindustriellen Phase (siehe dazu Kapitel 1.1). Die zunehmende Dominanz der Stadt über das Land hatte die

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Verarbeitung wollener Fabrikate wurden die ausgebildeten englischen tailors bekannt und schnell auch in Europa und Amerika als vorbildliche Fachleute akzeptiert (Black/Garland/Kennett1982: 80).244 Die Regeln, die für die Herstelländliche Kleidung auch in der Farbgebung verstädtert, Schwarz wurde zur dominierenden Farbe. „As fashion follows power the black evening dress for men was given a tremendous boost by the British victories over Napoleon (1815). If black was what the British heroes were wearing for evenings then all capitals allied to Britain followed suit: Madrid, The Hague, Berlin, Vienna, and St. Petersburg. Even defeated Paris and Munich adopted the style, and while the military remainded reluctant to abandon their finery for decades to come, for civilians British black was the only attire for formal occasions requiring full dress. It was a monumental alteration from previous practice, with all Europe and the Americas, whether Protestant, Catholic or Orthodox, adopting British black, which of course came from Protestant modesty.“ (de Marly 1985: 86). Aber Schwarz wurde nicht aus religiösen Gründen zur Farbe für die Alltagsbekleidung vieler Männer (siehe dazu Kapitel 1.1), sondern weil der Farbstoff Schwarz jetzt einfacher und billiger synthetisch hergestellt werden konnte (Condra 2008: 26). Die schwarzen Tönungen gab es neben vielen anderen, schwarz für die Bekleidung wurde nie so rigide eingehalten. Wieder einmal gilt, nur wenn man es als von der Aristokratie und dem Militär (oft ein- und dasselbe) her denkt, wirkte die Kleidung farblos und eintönig. Es konnten feine gesellschaftliche Unterschiede durch die schwarze Bekleidung erreicht werden, um sich in der Klassengesellschaft zu differenzieren. Ein viel interessanteres Argument für die neue schwarze Kleidung der Männer erwähnt de Marly nur beiläufig. Die Luft in den Städten war nach der Entwicklung der Dampfmaschinen und der Ansiedlung von Industrie extrem dreckig geworden. Dazu kamen die Kohleöfen, die London bis ins 20. Jahrhundert in den berühmt gewordenen Nebel tauchen ließen. Schwarze Kleidungsstücke wurden sehr praktisch, weil sie nicht so oft gewaschen werden mussten (1985: 87). In einer Zeit, in der Sauberkeit der Kleidung zunehmend wichtig wurde, trug helle Kleidung nur noch, wer es sich leisten konnte. Helle cremefarbene Hosen blieben immer mehr auf ländliche Events oder Rennveranstaltungen beschränkt (de Marly 1985: 90). Während der Anzug schwarz sein musste, fiel die Unterkleidung, das weiße Hemd oder die Krawatte, noch mehr auf, als es in Kombination mit heller Oberbekleidung der Fall gewesen wäre. Diese Hemden und Tücher mussten jetzt viel häufiger gewaschen werden. Dadurch gewannen die Kragen (collars) in der Männerkleidung mehr Bedeutung, weil sie oft das einzige waren, was sich von dem dunklen Stoff abhob (siehe dazu Kapitel 3.2). 244 Der Ruf der tailors ging über die Bourgeoisie hinaus. Auch in der feudalen Welt des Hofes wurde jetzt auf die handwerkliche Machart größter Wert gelegt. An vielen Höfen ließen sich die Regenten bevorzugt von englischen Schneidern einkleiden. Louis Napoleon, 1849 noch französischer Präsident, hatte seinen englischen Schneider Creed, bevor er sich zum Kaiser Napoleon  III. proklamierte. Dieser übernahm mit der Krönung die Position des Hofschneiders, was wiederum den neuen französischen Hof verpflichtete, auch dort die Anzüge schneidern zu lassen. Der Nachfolger dieses Schneiders wurde nach dem Sturz des französischen Kaisers 1870 Hofschneider von Kaiser Franz Joseph von Österreich-Ungarn, Zar Nikolas von Russland sowie den Königen von Italien und Spanien (de Marly 1985: 94).

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lung von Kleidung aufgestellt wurden und die es vor der industriellen Produktion nicht gegeben hatte, wurden immer strenger und mussten von gut ausgebildeten tailors beherrscht werden (de Marly 1985: 82). Mit Feinheiten der handwerklichen Machart belegten die Schneider ihr Können und damit die gesellschaftliche Stellung des Mannes, der ihre Anzüge trug. Die Schneider hatten sich diese Regeln selber gegeben, sie waren nicht von den Gentlemen vorgegeben, diese hätten die dafür notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten nicht gehabt. Nach Außen gelang die Differenzierung als class über den maßgeschneiderten Anzug. Kleidung war gut, wenn sie teuer war, Kleidung musste teuer sein, wenn sie gut aussehen, d.h. perfekt sitzen sollte, wie man auf der Fotografie von Prinz Albert gut sehen kann (siehe dazu Abbildung 15). Diese Ware bestimmte sich über den Preis, den der Einzelne bezahlen konnte, die Londoner Maßschneiderei wurde auch zur teuersten. Je mehr durch die Ready-to-wear-Branche das Angebot an billiger Kleidung wuchs, desto kostspieliger wurde die individuelle Arbeit von Luxusschneidern und das wiederum verstärkte den Mythos eines maßgeschneiderten Anzugs. Für die klasseninterne Differenzierung bestimmte sich der Gentleman durch eine über die rein ökonomische Überlegenheit hinausgehende Erhöhung seiner Position, Gentleman war im Grunde nur, wer an den Nuancen der äußerlichen Erscheinung abzulesen vermochte, „ob jemand seine ökonomische Position in die eines ‚Gentleman‘ hatte übersetzen können.“ (Sennett 1986: 325). Man musste sehen können, dass ein nie geöffneter Knopf zu öffnen wäre und das Wissen um verschiedene Stoffqualitäten haben, um sie am Gegenüber zu registrieren. Mit der Industrialisierung hatte sich die Unterscheidung, wie der Soziologe René König richtig bemerkt hatte, von den Umgangsformen, dem „Wie“ man sich benimmt, allein auf den „Preis“ gerichtet, alles werde in erste, zweite, dritte Klasse eingeteilt. Und wenn er eigentlich im Widerspruch dazu schreibt, dass trotzdem das Hauptgewicht auf der Etikette liege (1967: 104), dann trifft auch das auf die upper class in England zu.245 Während hundert Jahre früher die Hinweise auf die 245 Vor König hat schon Thorstein Veblen so argumentiert (siehe dazu Kapitel 3.2). Für König baut sich die Etikette traditionslos auf, da sich bei ihm das Bürgertum der Industriewirtschaft größtenteils aus ganz anderen Schichten zusammensetze als das alte händlerische Stadtbürgertum (König 1967: 104). Für die englische Gesellschaft trifft dies nicht zu, denn die britische Elite konnte das, was König Traditionslosigkeit nennt, durch invention of tradition aufheben. Für die deutsche Gesellschaft wird der Frage von neuen und/oder alten gesellschaftlichen Eliten und ihren Geschmäckern in dieser Arbeit noch nachgegangen. Königs Argument kann jedenfalls nicht für alle Gesellschaften im Übergang zur Industriegesellschaft als allgemeine Feststellung behauptet werden, in der amerikanischen Gesellschaft gab es eine andere Entwicklung (siehe dazu Kapitel 3.2).

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Abbildung 15: Prinz Albert von Sachsen-Coburg und Gotha, Königin Victorias Gemahl, fotografiert 1861 in einem dress coat.

gesellschaftliche Stellung deutlich gewesen waren, wurden sie, weil sie sich u.a. auch auf die Feinheiten der handwerklichen Machart der Kleidung bezogen, ab den 1840er-Jahren nur Eingeweihten zugänglich.246 Spürsinn war erforderlich, 246 Die Vereinfachung der Kleidung und die dadurch entstandene Gleichförmigkeit der äußeren Hülle hätten, so der amerikanische Soziologe Richard Sennett, den Blick stärker auf das Innere der Personen gerichtet. Für Sennett kommt es Mitte des 19. Jahrhundert zur Tyrannei der Intimität, wie er auch sein Buch betitelte, weil man Angst habe, sich in der Öffentlichkeit durchschaubar zu machen, seinen inneren Charakter zu erkennen zu geben. „Man versteckte sich vor den anderen, weil man glaubte, sie vermöchten die geheimsten Gefühlsregungen mit einem Blick zu entdecken.“ (1986: 337). Die Angst vor einem Verrat intimer Details hätte im Viktorianischen Zeitalter zur Tyrannei der Intimität geführt,

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um eine Beziehung zur Person hinter der Fassade ihrer äußeren Erscheinung herzustellen und Kleidung wurde zu einer gesellschaftlichen Sprache, einem Kode, der entschlüsselt werden musste (Sennett 1986: 329).247 Aber in England galt dieser Kode nur innerhalb der Klasse. Nach Außen waren die Klassen verschieden, von einer Uniformierung in Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft war hier nicht mehr viel zu spüren. Der englische Historiker Thompson schreibt dazu, dass die Klassengesellschaft nur noch Klassen zurückließ, mit dem Stolz im Bewusstsein der Gleichheit der Interessen, einer „identity of interests“, bei der die working class mehr die Kenntnisse und Fähigkeiten und die Ehre wegen der Erfahrung vom Verlust der Anerkennung in der Gesellschaft betonte (1963: 807). Dieser Stolz auf das Bewusstsein der Gleichheit der Interessen war anders als der auch in den USA vorhandene Stolz, der nicht klassenmäßig geschieden wurde, weil der Besitz grundlegend über die Anerkennung in der Gesellschaft entschied (siehe dazu Kapitel 3.2). In dieser englischen Gesellschaft diente der Kode vielmehr der internen Differenzierung, war es doch für einige der Klassenmitglieder schwer, das richtige Verhalten zu erkennen oder gar nachzumachen. In England wurden Etikette und Geschmack, die man durch die Erziehung vermittelt bekam, in der neu zusammengesetzten upper class immer wichtiger. Die Vereinigung von herrschenden Gruppen oder Autoritäten mit den neuen Eliten gelang in England über das Modell der „moralized gentry“ an den public schools (Hobsbawm 1983: 10).248 Hier fand die Erziehung der Gentlemen statt, d.h., zum Versuch, das innerste Wesen zu verstecken und die Gedanken nicht darauf zu richten, weshalb man sogar noch Gegenstände, die den versteckten Körperteilen ähnelten, wie Klavierbeine etc. mit Tüchern, Bändern und Troddeln verhüllte. Sennett versucht, die historischen und aktuellen Erscheinungen der Mode in eine allgemeine Soziologie des öffentlichen Ausdrucks einzubinden (Bovenschen 1986: 8). 247 Die Sorge darum, was die äußere Erscheinung symbolisiert, die zwanghafte Aufmerksamkeit zum Detail, geht auf das viktorianische Zeitalter zurück, so Sennett (1986: 329). 248 Jetzt wurden die Umgangsformen der Stadt aufs Land – in die public schools – gebracht und dort perfektioniert. Die ländlichen wilden Aristokraten, vorher oft als betrunkene, herumhurende und dem Spiel verfallene Männer angesehen, wurden zu „Christian Gentlemen“ geformt (de Marly 1985: 94). Die Anforderungen für Gentlemen veränderten sich, aber wenn de Marly schreibt, „The public school ideal of the simple man, an unquestioning Christian who played the game of life like a game of cricket, and had no truck with challenging ideas, was not equipped for an industrial world of ruthless competition“ (1985: 103), dann trifft das nicht zu. Auch dass diese Männer einem ritterlichen Bild der Romantik nicht mehr entsprechen mussten – was immer das sein sollte – sondern zu den noblen Qualitäten eines Gentleman gehöre, dass er stark und fit sei (de Marly 1985: 103). Die an den public schools erlernten Ideale und sports, waren unzweifelhaft wichtige physische und

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hier wurden die in der kapitalistischen Gesellschaft notwendigen Fremd- und Selbstdiziplinierungen eingeübt (Resch/Steinert 2009: 20), mit deren Hilfe sie bis in die letzten Winkel der Erde vordringen und ein Weltreich beherrschen konnten. Das viktorianische England mit seinem kolonialen Empire hatte zwischen 1853 und 1880 über zwei Millionen Untertanen ihrer Majestät in den Kolonien als Soldaten, Handelsleute, Botschafter (Chenoune 1993: 78). Die englische herrschende Klasse versuchte mit der Uniform der Bourgeoisie Gleichzeitigkeit ihrer Herrschaft in allen Ecken der Welt herzustellen, es ging um die Uniformierung als Adaptation. Es ging gerade nicht darum, dass eine Mode wie in Frankreichs Gesellschaft von sehr aufwändigem Pariser Stil immer schlichter wurde, je weiter weg in der Provinz der Nachahmer saß. Das war auch wieder das bourgeoise Moment an der Uniform der Gentlemen. Für von außerhalb der englischen Gesellschaft kommende Besucher wurde das Erkennen der Abstufungen innerhalb der herrschenden Klasse immer schwieriger. Aber gerade weil den Gentleman durch die nur Eingeweihten bekannten Regeln etwas Geheimnisvolles umgab, das gewisse Etwas, das man nur durch die entsprechende Erziehung an einer public school hatte erlernen können, differenzierte sich die herrschende Klasse aus. Gentlemen kannten sich von der Schulzeit her oder erkannten sich später an den Charaktereigenschaften nach den Idealen der „Christian Gentlemen“ (Truninger 2010: 74 ff.). Daher wurde das Wissen um das gewisse Etwas nicht gegen die Mitglieder der englischen working class gewendet, warum auch, diese waren schon durch die billige Machart ihrer Kleidung deutlich unterschieden. Es konnte aber sehr gut gegen Konkurrenten anderer Nationen, ob Russen, Deutsche oder Amerikaner, gewendet werden.249 Zum an einer public school gebildeten englischen Gentleman gehörte ganz unzweifelhaft der unwissende Außenstehende, der wie ein Holzfäller durch die englischen Clubs stapfte und die so wichtigen Details durch mangelnden Spürsinn und fehlenden Geschmack nicht erkennen konnte (wie schon der Yankee-doodle-Dandy für den Bourgeois im 18. Jahrhundert, siehe dazu Kapitel 2.1). Am ungehobelten Kerl spiegelte sich die perfekte Figur des charakterlich überlegenen englischen Gentleman, der wusste, wann psychische Kenntnisse, um das größte Kolonialreich aller Zeiten zu beherrschen (Truninger 2010: 74 f., Hobsbawm 295 ff., v.a. 297). Bei ihrer Interpretation verfällt de Marly genau dem Bild vom Gentleman, das die Engländer gerne in der Welt präsentieren wollten. 249 Andererseits führten die Nationalisierungsbewegungen auch dazu, dass z.B. in den 1860er-Jahren die Franzosen damit begannen, weniger Anglizismen zu verwenden und französische Ausdrücke zu gebrauchen: Paletot für overcoat, gandin für fop, chic für stylish (Chenoune 1993: 78) oder nationale Bekleidungen erfunden wurden, für Deutschland vgl. dazu Isabella Belting Mode und Revolution. Deutschland 1848/49 (1997).

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und wo welche Kleidung getragen werden musste. Mitgeholfen, den Mythos zu begründen, haben aber auch ausländische Kommentatoren, wie etwa der deutsche Historiker Max von Boehn, der abschätzig über deutsche Honoratioren schreibt: „In Deutschland kleidet man sich für die Gelegenheit, in England für die Tageszeit. Nie würde ein Engländer vormittags den Frack anlegen, was der Deutsche in allen möglichen Situationen tat.“ (1963 [1901]: 196, siehe dazu Kapitel 3.3). Die Einhaltung dieser strengen Bekleidungsregeln war aber nicht nur für Ausländer, sondern auch innerhalb der herrschenden Klasse durchaus ein Problem. Black, Garland und Kenneth schreiben etwa: „Before the 1914 war there was no question as to what a well-dressed man should wear on any given occasion; each dictated its special uniform and no deviations were possible.“ (1982: 131). Die Bekleidungsvorschriften diktierten mit immer strengeren Regeln, wie ein Gentleman sich zu welcher Tageszeit zu kleiden habe. Aber Black et al. gehen hier von der Annahme aus, der Anzug habe sich über 200 Jahre nur in Details verändert, daher schreiben sie, es wäre keine Frage gewesen, was der gut angezogene Mann trage. Wenn man aber davon ausgeht, dass sich die Uniform des Gentlemans in Details veränderte, dann waren die immer strengeren Bekleidungsregeln eine Reaktion darauf, dass immer mehr verschiedene Männerkleidung zur Auswahl bereitstand. So wurde ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der morning coat (hier von Prinz Albert Edward getragen, siehe dazu Abbildung 16, der im Deutschen Reich ab Mitte des 20. Jahrhunderts Stresemann genannt wurde, nach dem Politiker und Staatsmann Gustav Stresemann, 1878–1929, Loschek 2011: 470), mit langer schwarzer Jacke, schwarzen, grauen oder oft auch schwarz-weiß-gestreiften Hosen, als semi-informelle Kleidung neben dem dress coat getragen (Chenoune 1993: 122).250 „Gentlemen went to work in striped trousers, morning-coats and top-hats.“ (Black/Garland/Kennett1982: 131). Und auch der lounge suit (oder business suit – „the modern man,s wardrobe“) kam in der Mitte des 19. Jahrhunderts dazu. Er unterschied sich von den morning coats durch eine kürzere Jacke und dadurch, dass Hose, Weste und Jacke aus einem Stoff gefertigt waren (de Marly 1985: 101).251 Eigens zum Sport getragene einfarbige 250 Bei Black et al. (1982: 80) kam der Gehrock nach 1825 in die Tagesgarderobe, dieser war vom Schnitt her einfacher als der dress coat. Und bei Condra (2008: 56) erst in den 1850erJahren. Bei allen Autoren wird aber beschrieben, dass ab der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich mehr Kleidungsstücke für Männer hinzukamen (siehe dazu Kapitel 3.1). 251 Prinz Alfred, der Ehemann von Queen Victoria, hatte sich jedenfalls 1857 erstmals in einem lounge suit fotografieren lassen, was als der Beginn der Existenz dieser gleichfarbigen Anzüge (Hose, Weste und Jacke aus einem Stoff ) in England gilt. Sein Sohn Berti, der Prince of Wales, soll die neuen Anzüge fashionable gemacht haben (de Marly 1985: 101).

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Abbildung 16: Prinz Albert Edward (genannt Berti), Sohn von Königin Viktoria, in einem morning coat.

Jacken in den Farben der jeweiligen Clubs tauchten 1860 auf, ab den 1870er-Jahren gab es davon dann auch gestreifte und karierte Versionen (de Marly 1985: 103). Mit der Erweiterung der Möglichkeiten, d.h. der größeren Auswahl an Männerkleidung, wurden die Bekleidungsregeln immer komplizierter, um die Feinheiten des Gentlemans erkennen zu können.252 Ohne Zweifel blieb die wichtigste Regel zur Differenzierung mit den anderen Klassen in England ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, dass die Anzüge maßgeschneidert sein mussten. Alles andere war sehr schwierig zu benennen. Weil die Details der Bekleidung als Bestandteil des gewissen Etwas sich in der modernen Zeit ständig wandelten, wurde einzelnen Figuren eine Vorbildfunktion für die Veränderung von Männerkleidung zugeschrieben.253

252 Für den amerikanischen Soziologen und Ökonomen Thorstein Veblen ist das die Zeit, die zum Erlernen dieser Regeln nötig ist, die von ihm abschätzig bewertete, weil unnütze conspicuous leisure (siehe dazu Kapitel 3.2). 253 Noch einmal soll hier aufgegriffen werden, was schon im Kapitel  2.1 besprochen wurde. Die Veränderungen der Männeranzüge werden immer den englischen Schneidern zugesprochen, London sei das Zentrum fortschrittlichster Männerbekleidung und von verblüffender Modernität gewesen (Hollander 1997: 131  ff.). Das ist in der Einleitung zu diesem 3. Teil als Anglomania ausführlichst beschrieben. In dieser Arbeit wird der Ansatz vertreten, dass die Entwicklungen zur Veränderung der dress coats in lounge suits oder morning coats von Amerika ausgingen. Weil sich dafür keine Erklärungen in der Literatur finden, wäre hier Grundlagenforschung notwendig. Das kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden, würde aber die These von der invention of fashion tradition stützen, nach der die Engländer es geschafft hätten, sich die Vorreiterrolle zuzuschreiben. Denn

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Wie alle inventions hatte die abstrakte Figur des Gentlemans einen realen Bezug in der englischen Vergangenheit und trotzdem eine offene Ausformbarkeit und Charakterisierung. Offen jedoch nur, insofern sie den Bedürfnissen der englischen Gesellschaft angepasst wurde, weshalb über den Blick auf die konkreten Verhältnisse die dahinterstehenden Bedürfnisse gezeigt werden können. Diese Zuschreibung gesellschaftlicher Prozesse am Gentleman kann auch erklären, warum jetzt unter ihnen ab der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts der jeweilige Prince of Wales als der erste unter den Gentlemen galt.254 Diese Figur des Prinzen hatte aber nicht bereits seit dem 18. Jahrhundert eine Vorbildfunktion, wie de Marly schreibt (1985: 83), sondern erst seit 1870. Die königliche Familie und damit auch der Prinz von Wales, mussten ab den 1870er-Jahren in der englischen Gesellschaft eine neue Rolle auszufüllen. Die Gründe dafür lassen sich wieder sowohl in den Reaktionen auf andere Gesellschaften als auch den internen gesellschaftlichen Kämpfe finden. Als England Mitte des 19. Jahrhunderts auf dem Höhepunkt seiner wirtschaftlichen Macht war, wurde auch die Bourgeoisie in den Nationenbildungsprozess hineingezogen, weil sich die Industrialisierung im 19. Jahrhundert zur nationalen Konkurrenzunternehmung entwickelte. „Im 19. Jahrhundert standen die Engländer ziemlich allein da, wenn sie sich ihrer undefinierbaren Abstammung rühmten (Angelsachsen, Skandinavier, Normannen, Schotten, Iren usw.) und sich der philologischen Mischung ihrer Sprache erfreuten (Hobsbawm 1991: 128). Die englische invention of tradition war nicht zuletzt auch eine Reaktion auf die Konkurrenz der nationalistisch aufstrebenden Industrienationen. „In developed countries the ‚national economy‘, its area defined by the territory of some states or its subdivisions, was the basic unit of economic development.“ (Hobsbawm 1983: 264). Die Uniform der Bourgeoisie wurde zu einer englischen, weil die den Weltmarkt beherrschenden merchants von anderen, national denkenden

auch der Schneider ist solch eine abstrakte Figur, weil sich die Männerkleidung immer wieder veränderte, und doch die Londoner immer noch die besten tailors sein sollen. Tradition ist ja das, auf was sie sich berufen, 100  Jahre alte Maßsysteme, Fertigkeiten, die die Zeiten überdauert haben sollen. Die einzelnen Schneider und Schneidergenerationen treten dabei in den Hintergrund. 254 Vgl. auch de Marly (1985: 83). Sie schreibt, dass in England die Männerkleidung vom Prince of Wales bestimmt wurde. Rückwirkend wird die Vorbildfunktion den männlichen Herrschern seit dem 18. Jahrhundert weiter dem Prinzgemahl von Queen Viktoria, Albert, sowie allen englischen Thronfolgern zugeschrieben. Spätestens seit den 20er- Jahren wird die Vorbildfunktion des Prince of Wales nicht mehr so einheitlich beschrieben, weil die männlichen Hollywood-Stars diese Funktion übernommen haben sollen (siehe dazu Kapitel 3.1).

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merchants als englische merchants gesehen wurden. Durch diese ökonomischen und sozialen Entwicklungen wurden in der englischen Gesellschaft die Klassenloyalitäten und Klassenkonflikte in einen nationalen Rahmen gespannt (Cannadine 1983: 122), auch weil die in großen Gewerkschaften organisierten industrial workers auf nationaler Ebene für die Rechte der Arbeiter in der englischen Gesellschaft kämpften (Hobsbawm 1983: 264 f.). Die Arbeiterklasse war „gegen die Reichen und gegen die Franzosen“, aber das bedeutete keine Sympathie mit der herrschenden Klasse. Diese upper class wiederum misstraute der Loyalität der Militanten aus den unteren Schichten, weil den industrial workers „die Reichen und die Aristokraten [...] unmittelbarer und dauerhafter vor Augen standen als die verhaßtesten Ausländer.“ (Hobsbawm 1991: 106 f.). Hier war Nationalismus eine Antwort auf die Klassenkämpfe. Die Engländer, die bis vor 1850 weltweit führend in der gesamten Produktion von industriell gefertigten Waren gewesen waren, wurden nach 1870 in vielen Industriezweigen von anderen Nationen überholt ( Jeremy 2004b: 191). In dieser Situation wurde das englische Königshaus zu einem wichtigen Bestandteil der eigenen Nationenbildung, wie es Hobsbawm (1983) beschreibt. Als sich ab den 1870erJahren die repräsentative Rolle der Royals veränderte, weil Queen Victoria unter Premierminister William Gladstone (1809–1898) – für das soziale Wohlergehen des Landes und die Stabilität des Throns – in eine repräsentative öffentliche Rolle gedrängt wurde, begann auch der Prince of Wales eine dieser Figuren zu werden.255 The Best-dressed-Gentleman Durch das neue öffentliche Auftreten veränderte sich das Image der gesamten königlichen Familie zwischen den 1870er-Jahren und 1914 (Cannadine 1983: 120).256 Cannadine begründet den notwendig gewordenen Imagewandel damit, 255 Doch selbst zu dieser Zeit waren die Royals immer noch so unpopulär, dass sich auf den (schon seit den 1790er-Jahren) erscheinenden Sammeltassen, -tellern etc. die mit Bildern der königlichen Familie geschmückten Stücke am wenigsten gut verkauften (Cannadine 1983: 120). 256 Cannadine schreibt, dass die Viktorianer bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts große Auftritte, Extravaganzen, Zeremonien und Prahlerei gehasst hätten. Sie waren stolz auf ihre führende Position als Pioniere der Zivilisation. In London seien die Plätze und Vororte, die Eisenbahnstationen und Hotels als Zeichen der Macht und des Wohlstandes privater Individuen angesehen worden, während in anderen Metropolen etwa die Ruinen von Rom, die Prachtstraßen von Haussmann in Paris oder die Rekonstruktion von Wien oder St.  Petersburg zu Monumenten der Macht des Monarchen wurden (Cannadine 1983: 113). Noch bis zur Mitte des 19.  Jahrhunderts seien keine großen königlichen Zeremonien abgehalten und keine prunkvolle Kleidung zur Schau gestellt worden. Die Krönung von Queen Viktoria war noch sehr bescheiden inszeniert worden (Cannadi-

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dass England wie andere westliche Länder die Position seines Oberhauptes verbessern musste (Cannadine 1983: 133). Darum seien in diesen Zeiten dramatischer gesellschaftlicher Umwälzungen und Krisen die Zeremonien immer eindrucksvoller und die Queen in all ihrer Pracht und Herrlichkeit zum Symbol von Konsens und Kontinuität geworden. Spätestens ab 1897, als die kolonialen Premiers und Truppen für Königin Viktoria bei der Diamond Jubilee Procession aufmarschierten, war jedes stattfindende Ereignis auch ein imperiales (Cannadine 1983: 124). Allerdings waren, anders als in Russland, Deutschland oder Italien, die Zeremonien in England nicht auf die wirkliche Macht gerichtet (Cannadine 1983: 133). Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde das Wahlrecht auf weitere Bevölkerungskreise ausgedehnt (Hobsbawm 1991: 100), darum kam es in dieser Ära der Demokratisierung und Massenpolitik ab 1880 zunehmend darauf an, was die Leute auf der Straße dachten (Hobsbawm 1991: 58). Der englische Journalist Walter Bagehot (1826–1877) hatte es schon in den 1860erJahren formuliert: „the more democratic we get, the more we shall get to like state and show, which have ever pleased the vulgar.“ (zit. n. Cannadine 1983: 122). Erst jetzt, als sich die repräsentative Rolle der Royals zu verändern begann, wurde dem jungen Prinz von Wales Albert Edward (genannt Berti, späterer König Edward VII.) die Position des ersten Gentleman zugesprochen. „In the country in which unquestionably the gentlemen dressed best, he was the best dressed gentleman“ (de Marly 1985: 113). Er war der erste Prince of Wales, der ein öffentlich kommentiertes Leben geführt hatte und dessen Bekleidungsstil zum wichtigen Bestandteil der Berichterstattung in den Zeitungen wurde (Cannadine 1983: 121). Das war dem Aufstieg der yellow press in den 1880erJahren zu verdanken. Über die Zeitungen und Zeitschriften wurden Nachrichten und Sensationen nationalisiert, wozu gehörte, dass die Affären von Albert Edward diskret vertuscht wurden und Bildergeschichten große Ereignisse der verstorbenen und lebenden Monarchen respektvoll nachzeichneten. Und mit der Erfindung der Fotografie wurden auch in den billigeren Zeitungen Fotos ne 1983: 116). Den Engländern habe der Geschmack für Zeremonien gefehlt, wie die Franzosen oder andere Nationen sie ausführten. Beispielhaft dafür wäre die in Frankreich differente Entwicklung, wo neue Hofkleidung durch Napoleon eingeführt worden war (siehe dazu Kapitel 1.2), während man bei den Briten die anerkannteste Männerkleidung immer schlichter hielt, bis man sogar die Farben völlig verbannte. Das Aufkommen der Figur des schlichten Gentlemans passte zu dieser Einstellung sehr gut. Queen Victoria, die darauf einen gewissen Einfluss hatte, weil sie nach dem Tod von Prinzgemahl Albert nur noch schwarze Trauerkleidung trug, lebte sehr zurückgezogen. Ihr Ansehen und das des Thronfolgers, des Prince of Wales Albert Edward (Berti), sowie der ganzen Königsfamilie war bei den britischen Untertanen bis zu dieser Zeit eher gering (Cannadine 1983: 119).

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gebracht, die die großen königlichen Zeremonien abbildeten und sie sentimental und emotional beschrieben (Cannadine 1983: 123). Nicht nur bei Zeremonien (in Militäruniformen) wurde Edward fotografiert und kommentiert, sondern in der gesamten Bandbreite seiner Kleidung.257 Dadurch wurde dieser Prinz von Wales auch zu einem wichtigen Bestandteil der Nationenbildung für die Leute von der Straße: die vulgäre working class. „Glory and greatness, wealth and power, could be symbotically shared by the poor through royality and its rituals.“ (Hobsbawm 1983: 283). Aber nicht nur für die working class, auch für die upper class war der Prince of Wales eine wichtige Figur. Obwohl die Gentlemen die Etikette in den public schools gelernt hatten, konnten sich die für sie so wichtigen Bekleidungsregeln nicht wirklich festigen. Orientierung bot der Prinz und die Figur des Prince of Wales wurde zum Maßstab der Konvention, sie ermöglichte die Kontinuität im Wechsel der Männerbekleidung. Eine wichtige invention of fashion tradition war dabei die, dass erst wenn der Prinz seine Kleidungsgewohnheiten veränderte, die top of society diese Veränderungen nachvollzog. Er war der Best-dressed-Gentleman, weil Fehler in den Konventionen, den strikten Reglementierungen der Kleidung, nur bei ihm geduldet und dann auch schleunigst nachgeahmt wurden (de Marly 1985: 113). Ließ er den untersten Knopf seiner Weste offen, weil er sie nicht mehr schließen konnte, soll es das Signal für die Männerwelt gewesen sein, – Bauch hin oder her – den untersten Westenknopf nicht zu schließen (Chenoune 1993: 114, auch de Marly 1985: 112). Trug Berti zerknitterte Hosen, machte man es von New York bis Buenos Aires und Tokio nach (de Marly 1985: 112). Gerade weil der Prince of Wales nur eine Figur war, an der die gesamte Bandbreite der Männerbekleidung gezeigt wurde, konnten sich Männer anderer Gesellschaften heraussuchen, was ihnen davon passte. So adaptierte die New Yorker leisure class den taillierten dress coat (siehe dazu Kapitel 3.2), argentinische sportsmen trugen gestreifte Jacketts zum Polospiel und feudale Monarchen riefen englische tailors

257 Neben der Alltagskleidung soll der Prinz von Wales Albert Edward (Berti) auch die neue sportswear für Radfahren, Polo, Tennis, Golf, Segeln, Motorsport eingeführt haben; all die Aktivitäten, mit denen die Aristokratie ihre elitäre Stellung behauptete (Chenoune 1993: 114). Auch diese Individualisierung eines gesellschaftlichen Prozesses, d.h., die Zuschreibung der Entwicklungen auf eine Person, ist nicht richtig, passt aber wieder zum Bild des fair play spielenden sportsman, der seinen Charakter als Christian Gentleman in einer public school geformt hat. Auch hier gilt noch einmal, dass die Amerikaner einen erheblichen Einfluss auf diese neue Bekleidung (die sogenannte Freizeitkleidung) hatten, aus ihren gesellschaftlichen Bedürfnissen heraus (siehe dazu Kapitel 3.2).

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an ihren Hof, um prächtige Militäruniformen schneidern zu lassen.258 Über die Presse wurde das Bild des englischen Gentlemans international bekannt gemacht (siehe dazu Abbildung 18). Wenn der englische Prince of Wales Ferien machte und somit in der Öffentlichkeit auftrat, kamen Schneider aus allen Teilen der westlichen Welt, um sich seine Kleidung anzusehen und seinen Stil zu kopieren. Mit dem Telegrafen konnte man diese Informationen schneller übermitteln als je zuvor und nach der Erfindung des Films übernahm man auch diese modernste Methode, um über die allerneuesten Bekleidungsstile zu informieren. Der Prinz Abbildung 17: König Edward VII. im lounge suit mit Kaiser Wilhelm II., abgebildet auf einer Postkarte von Wales Albert Edward wurde somit zum einflussreichen Werbeträger des englischen way of life (de Marly 1985: 116).259 Als erster unter den Gentlemen tat er nun der nationalen Wirtschaft aber auch den Gefallen, gegen den größten Konkurrenten in der Bekleidungsbranche mit abschätzigen 258 Hier sind die gesellschaftlichen Unterschiede im Vergleich sehr deutlich an der Bekleidung zu sehen. Während der englische König auf diesem Foto einen lounge suit trägt (siehe dazu Abbildung 17), trug der deutsche Kaiser Wilhelm II . nur Uniformen. Er soll sie sich teilweise selbst ausgedacht haben, sie hatten als Phantasieuniformen keinen Bezug mehr zu bestimmten Armeeeinheiten. 259 Sein Sohn George, der spätere König George V., der von 1910 bis 1936 regierte, konnte diese Vorreiterrolle noch weiter ausbauen. Dieser Prinz von Wales sah sich ganz bewusst als Botschafter für den britischen Handel und die Londoner Schneiderkunst (de Marly 1985: 116 und Amies 1997: 32).

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Abbildung 18: Gentlemen beim Pferderennen in Ascot, 1912.

Bemerkungen aufzufallen. Albert Edward hatte selbst viele Neureiche in seinem Gefolge (Chenoune 1993: 6) und doch wird von ihm berichtet, er habe ständig die Amerikaner als Neureiche beleidigt, weil sie sich nicht zu kleiden wüssten, mit ihrer schrecklich geschmacklosen Vorliebe für helle Krawatten, auffällige bunte Westen, überladene Juwelen (de Marly 1985: 111, auch Chenoune 1993: 114). Und zu einem unpassend gekleideten englischen Lord soll er sehr abschätzig bemerkt haben: „I presume you have come in the suite of the American ambassador.“ (Costantino 1997: 5).260 Den Amerikanern wurde die Rolle der stapfenden Holzfäller mit unflätigem Benehmen und fehlendem Geschmack zugesprochen, obwohl viele von ihnen nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkrieges (Sezessionskrieg von 1861–1865) gerne nach Europa und auch nach London reisten, um ihre industriell erwirtschafteten Profite auszugeben.261 Weil den Briten ihre invention of fashion tradition so gut gelang, wurden die wichtigen amerikanischen Einflüsse auf die Männerkleidung bis heute selten beachtet oder negativ bewertet, sie bleiben schlussendlich bis nach dem Ersten Weltkrieg in der gesamten Literatur zur Mode hartnäckig unterbelichtet. Die 260 Es gibt sehr viele Beispiele für diesen Antiamerikanismus (beispielsweise auch von Boehn, 1925: 201 f.) 261 Vor allem ab den 1890er-Jahren werden die Fifth Avenue millionaires erwähnt. Auch die männliche amerikanische high society orientierte sich an London, aber die amerikanische Gesellschaft hatte eine schnellere Dynamik, andere gesellschaftliche Bedürfnisse, die erfüllt werden mussten und die der Veränderung von Männer- und Frauenkleidung nicht erst im letzten Jahrhundert ihren Stempel aufgedrückt haben – the American way of life (siehe dazu Kapitel 3.2).

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Engländer waren darin so erfolgreich, dass Anzugträger im Londoner tailormade-suit sich einer elitären Gruppe zugehörig fühlen konnten – woran sich bis heute nicht viel geändert hat. 

So hatten mit der Weiterentwicklung der maschinellen Produktionsweise und ihrer verstärkten Durchsetzung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die manufacturers an Einfluss gewonnen: Die upper class setzte sich in England neu zusammen. Hier traten die Klassengrenzen nun stärker hervor und das zeigte sich in der Männerkleidung an den Produktionsbedingungen in der Unterscheidung von maßgeschneiderten tailor-made-suits als Uniform der Gentlemen. Weil diese Uniform des Gentlemans sich neben dem Preis auch über strenge Bekleidungsund Benimmregeln bestimmte, führte allein das Tragen von maßgeschneiderten Anzügen nicht zur gesellschaftlichen Akzeptanz. Im Zeitalter des durchgesetzten Standards, d.h., als die Mehrzahl der Männer den Anzug bekommen konnten, verschwanden die Bourgeois in handgenähten tailor-made-suits, die als solche oft nur Eingeweihten erkennbar waren. Damit schloss die Bourgeoisie sich elitär ab und marginalisierte zugleich ihre Stellung als herrschende Klasse im scheinbar für alle gleichen Anzug. In der englischen Gesellschaft wurden der von Kocka konstatierten „Verallgemeinerbarkeit bürgerlicher Kultur“ durchaus Grenzen gesetzt (1988: 33). Während die englischen Bekleidungsgewohnheiten (wenigstens der upper class) durchaus bekannt sind, gilt das für die US-amerikanischen nicht, obwohl sie bis heute die weltweiten Veränderungen der Bekleidungsgewohnheiten bestimmen. Die als Anglomania bezeichnete Vorherrschaft englischer Bekleidungsgewohnheiten und der handgefertigten Londoner tailor-made-suits, wurde auch in den USA bemerkt. Aber die Uniform der Gentlemen war in der englischen Gesellschaft wegen der durch die verstärkte Industrialisierung entstandenen Klassenkonflikte zwischen upper class und working class entwickelt worden. In den USA wurde mit dieser Uniform der Gentlemen geliebäugelt, aber es sollten andere gesellschaftliche Konflikte damit gelöst werden. Gerade in der Zeit nach dem Bürgerkrieg bis in die 1920er-Jahre, als nach etablierten Wahrnehmungsmustern bei den amerikanischen Bürgern auch das Tragen der ready-to-wear-suits von einigen Modehistorikern und Soziologen als eine Bestätigung der erfolgreichen Demokratisierung beschrieben wird, verändern sich die Bekleidungsgewohnheiten. Einflüsse durch die Uniform der Gentlemen trugen dazu bei, weil es in den USA Männer gab, die über privilegierte Bekleidungsgewohnheiten versuchten, ihre gesellschaftliche Stellung in der Klassengesellschaft zu verbessern. Das konnten sie aber in der amerikanischen Gesellschaft nicht durchsetzen, weil sich hier vorher schon die Uniform der Masse entwickelt hatte. Auch

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wenn alle Amerikaner sich noch als Gentlemen anredeten, konnten sie alle nur die Uniform der Quasi-Gentlemen tragen und die Gründe dafür werden im nächsten Kapitel genannt.

3.2 Die Uniform der Quasi-Gentlemen

In den USA hatten sich bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Grenzen der „Verallgemeinerbarkeit bürgerlicher Kultur“ (Kocka 1988a: 33) nicht gezeigt, weil sich mit dem ready-to-wear-suit eine bourgeoise Uniformierung über die Bourgeoisie hinaus zur Uniform der Masse, d.h. des Großteils der gesamten Bevölkerung, entwickelt hatte (siehe dazu Teil 2). Diese amerikanische Entwicklung ist in der deutschen Diskussion immer wieder falsch verstanden worden. Gerade weil Verbürgerlichung in Deutschland als Aufstieg und Verbesserung der Lebens­situation des Individuums gesehen wurde (vor allem als Bildungsprozess, wie schon die Generation von Goethe es artikulierte) und weil aus deutscher Sicht Männer in der amerikanischen Gesellschaft alle irgendwie gleich aussahen und Individuen nicht auseinandergehalten werden konnten, wurde in der amerikanischen Uniformierung im Anzug keine freiheitliche Betätigung Einzelner erkannt. Aber am Träger der Uniform der Masse verschwanden ethnische, religiöse oder kulturelle Unterschiede, diese Männerkleidung stand prinzipiell jedem offen und wurde nur über den Preis bestimmt. Gerade weil die Preise für Konsumgüter in den USA dank der modernen, d.h. standardisierten, Massenproduktionsweise bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gefallen waren und in der kapitalistischen Konkurrenz gute ready-to-wear-suits für möglichst wenig Geld angeboten wurden, konnten sich fast alle gut kleiden und gegenseitig als Gentleman ansprechen. T[t]he age is, perhaps, forever gone by, when a privileged class could monopolize finery of garb; and of all the civilized nations, it were least possible in ours. (zit. n. Zakim 2003: 74).

Dieser Ansicht konnten bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die meisten Amerikaner zustimmen, denn hier gab es keine Gruppe in der Gesellschaft, der es, wie in einigen europäischen Ländern, gelingen konnte, über Privilegien, wie Abstammung, Religionszugehörigkeit oder Bildung, von den übrigen als überlegen, höhergestellt anerkannt zu werden. Das hatte auch damit zu tun, dass sich in der amerikanischen Gesellschaft bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Einwanderern ebenso wie Alteingesessenen vielfältige Möglichkeiten des Aufstiegs und der Verbesserung ihrer Lebenssituation boten. Individuell konnte diese Entwicklung zur gesellschaftlichen Teilhabe gerade auch für die Einwanderer

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als Anerkennung und Akzeptanz in der Gesellschaft erfahren werden. Der bis 1956 geltende amerikanische Wappenspruch: E pluribus unum, (out of many, one) aus vielen eins, für jeden bezahlbar, galt auch für die Uniform der Masse, die dem Träger in der aufgeklärten bürgerlichen Gesellschaft die demokratische Teilhabe und Gleichheit gewährleistete. Viele Modehistoriker sehen die Zeit nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865 (beispielsweise Kidwell/Christman 1974 und Hollander 1997), weiterhin als die Zeit einer erfolgreichen Demokratisierung. Denn in den USA hätten alle Männern ready-to-wear-suits getragen. „The lowly lounge-suit meanwhile became the all-purpose formal costume for twentieth-century men, what­ ever their class or occupation.“ (Hollander 1997: 108). Damit stand für diese Autoren fest, dass es in der Bekleidung keine Privilegien, sondern die gleichberechtigte Teilhabe aller Amerikaner gab. Anders als in England, wo die Privilegierten maßgeschneiderte Anzüge trugen, war es in den USA weiterhin so, dass Amerikaner ready-to-wear-suits bevorzugten. Der gewöhnliche dreiteilige Anzug werde universell von jedem „common man“ getragen, im späten 19. Jahrhunderts trügen alle Männer Ready-to-wear-Versionen „of just such suits for all dressed-up occasions“ (Hollander 1997: 108)262 In Amerika sei Ready-to-wearBekleidung immer von einem akzeptablen Charakter gewesen, nicht wie in Europa, „where, it was said, well into the twentieth century, that cheap clothing looked cheap.“ (Kidwell/Christman 1974: 15). Zwar sei der exakte Zeitpunkt der Demokratisierung der Kleidung schwer zu bestimmen, aber spätestens um „1920, with all the elements that made for a fantastical successful production of both men,s and women,s garments, it can conclusively be said to have arrived.“ (Kidwell/Christman 1974: 17). Wieder scheint es auf den ersten Blick in der Männerbekleidung keine Veränderung gegeben zu haben, allerdings wurden die USA damit nicht zum weltweiten Vorbild für andere Gesellschaften, aber zum Beispiel der gelungenen Demokratisierung mit gleichen Chancen für alle. Eine Zeitspanne von rund 100 Jahren mit einer kontinuierlichen Entwicklung hin zur demokratischen Teilhabe aller Männer gab es aber nicht, spätestens mit dem Bürgerkrieg begannen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern. Schon Marx hatte geschrieben, Amerika höre auf „das gelobte Land für auswandernde Arbeiter zu sein.“ (2001 [1867]: 801). Deutlich spürbar wurde das ab 262 Wenn darum alle Amerikaner, vom Arbeiter, über den Ladengehilfen bis zum common man, egal in welcher Klasse, welchem Beruf, einen Anzug trugen, dann schien das wie eine Bestätigung der amerikanischen Erfolgsgeschichte, die alle Unterschiede zwischen den Einwanderern weggeschmolzen habe, um Amerikaner zu formen. Keiner sei besser als der andere, habe irgendwelche Privilegien, die anderen prinzipiell verwehrt seien. „Goods suitable for the millionaire at prices in reach of the millions“ (Kidwell/Christman 1974: 17).

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Abbildung 19: Gruppenbild mit Andrew Carnegie (vorne links, mit Vollbart) um 1900.

den 1870er-Jahren: auch in den USA kam es nun im Zuge der zunehmenden Industrialisierung und einer erneuten Veränderung der Massenproduktion zu den von Kocka beschriebenen deutlicheren Klassenspannungen. Diese Klassenspannungen hatten ihre Ursache aber nicht wie in England in der Intensivierung maschineller Produktion, die dazu führte, dass die ihre Privilegien verlierenden industrial workers kämpferisch auftraten und die britische Bourgeoisie sich fester zusammenschloss. In den USA wurde die maschinelle Produktion von Beginn an konsequenter angewandt und war allgemein akzeptiert als flexible Massenproduktion. In der amerikanischen Gesellschaft ging es um die Teilhabe auf dem Markt. Nach dem Bürgerkrieg stand die Anerkennung der merchants zur Diskussion und damit die Frage der gesellschaftlichen Akzeptanz, die in der amerikanischen bürgerlichen Gesellschaft überwiegend über den Erfolg im betriebsamen Handeln erworben worden war (siehe dazu Kapitel 2.1). Die bis dahin eher ausgewogenen Eigentumsverhältnisse unter den meist selbstständig wirtschaftenden farmers, businessmen und vielseitigen entrepreneurs (Mills 1956: 5) verschwanden zugunsten einer stärkeren Konzentration des Kapitals bei Wenigen. Es waren Männer, die sich, wie der Millionär Andrew Carnegie, stolz der Öffentlichkeit präsentierten (siehe dazu Abbildung 19). Damit gelang

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neuen Einwanderern und Alteingesessenen der Aufstieg über die Lohnarbeit in die Selbstständigkeit zur Mitte des 19. Jahrhunderts immer seltener. Diese inneramerikanischen Konflikte im Übergang zur Industriegesellschaft können an der Veränderung der Männerkleidung gezeigt werden. Denn während sich für Autoren wie Kidwell und Christman oder Hollander durch den ready-to-wear-suit die demokratischen Ansprüche der Amerikaner erfüllten, gab es andere Autoren, die dem durchaus kritisch gegenüberstanden. Der amerikanische Soziologe und Ökonom Thorstein Veblen (1857–1926) schaute schon in seinem 1899 herausgegebenen Buch The Theory of the Leisure Class als einer der schärfsten Beobachter der amerikanischen Gesellschaft seiner Zeit hinter die Fassade der im lounge suit gleich gekleideten Männer. Veblen machte auf gesellschaftliche Differenzen aufmerksam, auf den Kampf um Anerkennung und einen höheren Status, der auch über die Kleidung und den dafür verlangten Preis ausgetragen werde. Gerade in jener Zeit, die von der Modeliteratur als Epoche der Demokratisierung gefeiert wird, prangerte Veblen soziale Ungleichheiten an, die sich in der Bekleidung deutlich zeigten. Er schrieb schon Ende des 19. Jahrhunderts: „a cheap coat makes a cheap man“ (Veblen 2001 [1899]: 124). Während in der Modeliteratur bis heute die demokratische Teilhabe an der standardisierten Männerbekleidung im 19. Jahrhundert und darüber hinaus hervorgehoben wird, kritisierte Veblen den Mangel an Standardisierung, weil sich eine leisure class263 herausgebildet hatte, die auf einer Differenzierung bestehe, die er als vermeintlich veraltete strikt ablehnte.264 Vordergründig scheint es sich bei der leisure class um die Gruppe der neuen big business men zu handeln, die die großen Industrien beherrschten und an die Spitze der Gesellschaft drängten. Auch in der amerikanischen Gesellschaft kam es zum Aufstieg der manufacturers, dabei scheinen die Ähnlichkeiten mit der Entwicklung in der englischen Gesellschaft zu dieser Zeit auf. Doch unterschieden 263 Leisure, bei Veblen auch gerne zusammen mit conspicuous verwendet, ist nicht Nichtstun, sondern demonstriert, dass man freie Zeit/Freizeit hat, in der man Dinge tun kann, die für andere Luxus – und für Veblen überflüssig –, aber trotzdem hoch angesehen sind – wie etwa das Ansammeln von nicht praktisch verwertbarem Wissen, das Erlernen von toten Sprachen oder die Teilnahme an Sportveranstaltungen. 264 Die Aussagen sowohl zu Veblen als auch zu den USA stützen sich vor allem auf Stephan Truningers Neuinterpretation von Thorstein Veblen über die Genese des modernen Amerika, wodurch sich wichtige Elemente des Begriffs von Amerikanisierung erschließen. Truninger analysiert in seinem Buch Die Amerikanisierung Amerikas. Thorstein Veblens Amerikanische Weltgeschichte (2010), die Entstehung einer spezifisch amerikanischen Tradition und zeigt, dass erst die besondere, weltweit ausgreifende Dynamik der amerikanischen Gesellschaft es ermöglichte, Modernisierungsprozesse in Europa als Amerikanisierung zu erfahren. Und Veblen war der zeitgenössische Kritiker dieser Gesellschaft.

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sich die Lösungen der gesellschaftlichen Konflikte: Mit der Entstehung einer nationalen Elite bildeten sich in den USA keine „adelig-feudalen Traditionen“ (wie Kocka, 1988: 33, diese aus der europäischen Perspektive als bürgerliche Merkmale nennt), sondern die herrschende Klasse reagierte mit Traditionen, auf denen das amerikanische Gesellschaftssystem in der Zeit davor schon beruhte. Die big business men, das wird im ersten Abschnitt gezeigt, erlangten ihren Status über conspicuous consumption, den demonstrativen Konsum, auch von teurer Kleidung. Für Bourgeois war ein solches verschwenderisches Verhalten neu, entsprang aber durchaus bourgeoiser Tradition. Da die mit dem Mythos des selfmade millionaires – from-rags-to-riches265 – behafteten Industriellen es schafften, die höchste gesellschaftliche Akzeptanz und Anerkennung über den Markt zu erhalten, forderten sie keine ausschließenden Privilegien für die Spitzenposition ihrer Klasse. Die Männer der amerikanischen old order, die von Veblen als Gentlemen of leisure bezeichnet wurden, konnten mit den neuen Reichen in der conspicuous consumption nicht mithalten und versuchten – und das war neu in den USA – ihre schwindende gesellschaftliche Anerkennung durch Privilegien der Abstammung, Religion oder Bildung als conspicuous leisure aufrechtzuerhalten. Dabei orientierten sie sich an der englischen upper class. Das war aber nicht, wie Veblen meinte, veraltet, sondern eine Reaktion auf die aktuellen gesellschaftlichen Konflikte. Und obwohl sie als Gentlemen of leisure bezeichnet wurden, trugen sie nicht die sich von den USA aus verbreitende zwanglose und lockere (casual) Freizeitkleidung, sondern waren im Bekleidungsverhalten konservativ. Die Männer der amerikanischen old order waren im Vergleich zu den englischen Gentlemen nur Quasi-Gentlemen. Mit der Ausweitung des Marktes, der Distribution, dem Handel und der damit verbundenen Dienstleistungen, wuchs seit der Mitte des 19. Jahrhunderts die Gruppe der white-collar workers, die sich wie die old order den bourgeoisen Traditionen durch eine auf Status und Privilegien beruhende neue Gesellschaftsordnung zu entziehen suchte. Was bei der old order noch als conspicuous leisure funktionierte, konnte von den white-collar workers nur noch als quasi nachgeahmt werden. Genau dadurch veränderten sie aber die Männerbekleidung nachhaltig, sportliche Kleidung wurde zur Freizeit- und Alltagskleidung. Aus dem Wissen um die Machart der Kleidung wurde das Wissen um die Mode;

265 Übersetzt aus dem Amerikanischen würde es heißen: Von Lumpen zum Reichtum. In der deutschen Version dieses Sprichwortes heißt es aber: Vom Tellerwäscher zum Millionär, auch hier ist die erste Bezeichnung bestimmt, allerdings als Beruf übersetzt, denn zu der Zeit, als das aufkam, hatte in der deutschen Diskussion die Kleidung eine ganz andere Beachtung (siehe dazu Kapitel 3.3).

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modische Bekleidung wurde zur Illusion. Doch die wichtigste gesellschaftliche Anerkennung wurde weiterhin über den Preis und nicht das Privileg oder Prestige erreicht, weshalb die Abgrenzung der white-collar workers als Klasse nicht funktionieren konnte. Weil der demonstrative Konsum, conspicuous consumption, wichtig blieb für die Anerkennung in der amerikanischen Gesellschaft konnten sie sich nicht als privilegierte Gruppe absetzen, sie wurden nur Quasi-Gentlemen. Und das galt auch für die mit der zweiten großen Einwanderungswelle ins Land strömenden Männer, die sich an bürgerlichen Traditionen und dem in der amerikanischen Verfassung garantierten Versprechen auf Glück orientierten. Sie nahmen den Mythos from-rags-to-riches ernst und versuchten – auch über den Konsum von ready-to-wear-suits – den gesellschaftlichen Aufstieg und die damit verbundene Anerkennung zu erreichen. Obwohl diese working class für einen scharfen Beobachter wie Veblen als Klasse sichtbar wurde, erarbeiteten sich die industrial workers Anerkennung nicht mit der Ausbildung eines Klassenbewusstseins, sondern durch die individuelle Adaptation in die klassenlose Klassengesellschaft: E pluribus unum, aus vielen eins. Diese individuelle Adaptation hatte sich allerdings im Vergleich zur Zeit vor dem Bürgerkrieg verändert, für die Männerbekleidung wurde ab den 1870erJahren, zeitlich früher als für viele andere Konsumgüter in der amerikanischen Industriegesellschaft, die flexible Massenproduktionsweise („flexible mass production“, Hounshell 1984: 264) eingeführt. Es wurde also nicht die handwerkliche Produktion aufgewertet wie in der englischen Gesellschaft, sondern die Massenproduktionsweise weiterentwickelt. Die Aussage, jeder Mann sei ein Gentleman, traf nicht mehr zu, weil weder bei Produzenten noch bei Konsumenten das Ziel des ‚immer besser und immer billiger‘ verfolgt wurde. Mit dieser neuesten Produktionsweise wurden durch die Abstufung der Preisklassen Gleichheiten in der Gesellschaft verbaut und Ungleichheiten befördert, es waren nur noch Quasi-Gentlemen. Doch obwohl vom Einzelnen Konsumhürden zu bewältigen waren, bestanden damit auch weiterhin Chancen der Amerikanisierung, d.h. der Akzeptanz der Aufsteiger in der amerikanischen Gesellschaft. 

Flexible Massenproduktion Die aus den USA kommende moderne standardisierte Massenproduktionsweise wurde auch hier als Erstes weiterentwickelt. Anders als oft geschrieben, gehörte der Unternehmer Henry Ford mit seiner Autofabrik nicht an den Anfang, sondern das Ende der Ära dieser modernen Produktionsweise. Ford „comes at the end of a long historical process which, in a Hegelian sense, becomes recognizable only at the end, when ever-unfolding historical reason makes itself known.“

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(Hounshell 1984: 217 f.). Für den Übergang zur neuesten Produktionsweise steht das Scheitern der Autofabrikation von Henry Ford in der Progressive Era, also der Periode zwischen den späten 1890er-Jahren und dem Ersten Weltkrieg. Ford begann Ende des 19. Jahrhunderts mit der Produktion des Ford T, bis er in den 1920er-Jahren, fast völlig ruiniert, seine Produktionsweise von immer billigeren und besseren Autos auf jährlich wechselnde und verschieden teure Modelle umstellen musste. In der Männerbekleidungsbranche aber setzte sich nicht erst in der Progressive Era, sondern schon nach dem Bürgerkrieg mit der flexiblen Massenproduktion eine modernere Produktionsweise durch. Obwohl in den USA insgesamt die Preise für Konsumgüter sanken, so dass der Preisindex zwischen 1873 und 1896 um 25 % fiel (Whiteclay Chambers 1980: 18), war die Zeit der immer besseren und billigeren Produktion von Männerbekleidung vorbei. Die Preise für Anzüge differenzierten sich aus und die Bewertung wurde nach der Höhe des Preises bestimmt: Je teurer ein Kleidungsstück, desto besser müsse es sein. Ein Grund dafür lag in den nach dem Bürgerkrieg einsetzenden Konzentrationsbewegungen des Kapitals, die sich früh auch in der Bekleidungsindustrie zeigten. Bis zur Mitte des Jahrhunderts war der immer größer werdende amerikanische Markt für Textilien und Männerkleidung von merchants dominiert worden, vor allem New Yorker Großhändler hatten Kleinhändler, kleine Manufakturbesitzer und die Shopbesitzer mit ihren kleinen Verkaufsläden im ganzen besiedelten Gebiet kontrolliert (siehe dazu Teil 2). Mit der Industrialisierung, vor allem nach dem Bürgerkrieg, stiegen die big business men auf, wodurch der Einfluss vieler merchants (vor allem der Großhändler) auf das Marktgeschehen abnahm (Mills 1956: 5). Durch den Ausbau einer mit der Entwicklung der Webmaschinen noch konsequenter maschinell produzierenden Textilindustrie konnten die manufacturers von Massenware mit den englischen Textilhändlern und amerikanischen Importhändlern konkurrieren. Erst gewannen die mill owners an Einfluss, die in den USA schon vor dem Bürgerkrieg damit begonnen hatten, direkt mit den Produzenten in der Bekleidungsindustrie zu verhandeln und so die amerikanischen merchants auszuschalten (Zakim 2003: 65). Dann vereinten sich in der Bekleidungsbranche allerdings oft Produktion und Handel, so dass es zum Zusammenschluss von manufacturers und merchants kam. Diese die Männerkleidung nicht nur produzierenden, sondern auch damit handelnden big business men beherrschten bald die mill owners; gerade weil die big business men die Großhändler ausgeschaltet hatten, konnten sie den Textilfabrikanten in direkten Verhandlungen die Preise diktieren (Mills 1956: 24).266 Dieser Prozess 266 Aber auch die vielseitigen entrepreneurs des frühen 19. Jahrhunderts verschwanden (Mills 1956: 5) durch die massive Konzentration des Kapitals zunehmend (Mills 1956: 24). Wo-

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der Machtverschiebung begann bei den produzierenden manufacturers, dann setzte er sich seit dem Ende des Bürgerkriegs auch im Verkauf mit der Eröffnung von department stores und der Ausdehnung der Geschäfte von Versandhäusern durch.267 Gerade mit dem Katalogsystem vereinten und konzentrierten sich die Vertriebsketten im gesamten besiedelten Gebiet. Weil in den USA der Markt schon vor der Industrialisierung so ausgedehnt war, hatten die Verkaufs­ imperien auch bei der Veränderung hin zur neuen Produktionsweise der flexiblen Massenproduktion wieder einen gewichtigen Anteil. Als sich die großen Warenhausketten und die den gesamten amerikanischen Markt beliefernden Versandhäuser ausbreiteten, bestimmten ihre einflussreichen Besitzer über die Abnahme der Ware aus der Bekleidungsbranche (Mills 1956: 25 f.). Um am Markt zu bleiben, d.h., ihre Waren in den Katalogen und Warenhäusern präsent zu haben, begannen einige große Industriekonzerne, unter ihren Produktionskosten zu verkaufen, weshalb die Preise für Waren insgesamt sanken. Andere versuchten den Absatz durch Ausverkaufskampagnen über Outletstores und die massive Bewerbung von Marken im nationalen Maßstab zu steigern (Mills 1956: 162).268 Die Hersteller von Männerkleidung begannen damit Druck auf die Verkaufsimperien der big business men auszuüben, um ihre Markenartikel in die von diesen dominierten Geschäfte zu bekommen. „But in its way highpressure selling is a substitute stimulator of demand, not by lowering prices but by creating new wants and more urgent desires.“ (Mills 1956: 162). Es gelang so gut, dass die Kunden, durch die Werbung gelockt, Markenartikel forderten, wodurch die Produzenten ihren Einfluss auf die großen Versand- und Warenhäuser zurückgewannen (Mills 1956: 26).

bei auch die neuen big business men als durchaus vielseitig beschrieben werden können, nur waren sie nicht mehr kleine Unternehmer. 267 Nach Aaron Montgomery Ward, dessen Katalog 1875 schon 72 Seiten hatte und auch Männerkleidung anbot, eröffnete Sears, Roebuck and Co. unter diesem Namen 1893, May, Stern and Company wurden 1882 gegründet. Alle drei waren in Chicago ansässig, von wo aus sie vor allem den großen Markt im Westen bedienten (Kidwell/Christman 1974: 163 f.). Der Markt im Süden war schon seit den 1820er-Jahren sehr gut an New York angebunden (siehe dazu Kapitel 2.2). Um 1920 hatte der Ward-Katalog 872 Seiten erreicht, inklusive einiger Seiten in Farbe (Kidwell/Christman 1974: 164). 268 Während der Progressive Era wurde es zur Gewohnheit, die Artikel schöner zu präsentieren, als sie wirklich waren, und sie über Wert zu verkaufen (Raeithel 2002: 111). Auch Slogans und Jingles wurden in dieser Zeit schon entwickelt (Whiteclay Chambers 1980: 55).

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Diese neuen Warenhäuser wurden zu Anziehungspunkten in den neuen Innenstädten.269 Moderne Industriemetropolen mit mehreren Millionen Einwohnern, wie Chicago, Philadelphia und Boston, dehnten sich in der Fläche auf bis zu über 40 Quadratmeilen aus (Whiteclay Chambers 1980: 13).270 Es entstanden innenstädtische Geschäftsbezirke, in denen sich die Warenhäuser, Banken, die Anwaltskanzleien und Arztpraxen der professionals sowie Bürogebäude, Theater, Restaurants, Hotels verdichteten, um die Menschen zusammenzubringen, die in die Städte zum Arbeiten, Shoppen oder zum Vergnügen kamen (Whiteclay Chambers 1980: 13). Tausende von Amerikanern reisten mit den neuen Stadtbahnen aus allen Ecken der Stadt in diese Zentren, „with the promise of fair, equal, and elegant treatment“ (Kidwell/Christman 1974: 159). Aber die von Kidwell und Christman angesprochene faire und gleiche Behandlung als Teil einer demokratischen Erfüllung konnte sich nur darauf beziehen, dass in den Geschäften von allen die gleichen Preise bezahlt werden mussten, nicht darauf, dass alle die gleichen Preise zahlen konnten. Von demokratischer Teilhabe kann nur gesprochen werden in Bezug darauf, dass alle in die Warenhäuser hineinkamen. Was sich aber änderte, war, dass die Waren nicht mehr möglichst ‚billig und immer besser‘ beworben wurden. Denn es wurden nicht allgemein die Preise gesenkt, sondern Preiskategorien nach oben kreiert. Warenhäuser mit unterschiedlichen Produkt- und vor allem Preisangeboten eröffneten in den in dieser Zeit entstehenden, nach Einkommen getrennten Wohnbezirken (Whiteclay Chambers 1980: 13). Neben den besseren Geschäften tauchten Billig-Handelsketten auf, wie Woolworth,s 5-and–10-cent-Geschäfte, das erste gegründet 1879 in Utica, New York, oder J. C. Penney, gegründet 1902, deren Warenhausketten und Filialnetze sich so schnell ausbreiteten (Whiteclay Chambers 1980: 56), wie die Einwanderer an Zahl zunahmen. Gerade durch die zunehmende Konzentration der Konzerne breitete sich das Angebot an Männerkleidung weiter aus, es begann die Ära der „flexible mass production“ (Hounshell 1984: 264). Für Markenartikel wurde mehr Geld ausgegeben, so dass seit den 1870er-Jahren das Prinzip des E pluribum unum, aus vielem eins, jedem gute Qualität zu einem für alle bezahlbaren Preis, nicht mehr eingehalten wurde. Die allgemeine Akzeptanz von ready-to-wear-suits wurde in der amerikanischen 269 Um 1873 begann durch die Fortschritte in der Gebäudetechnologie der Einbau von riesigen Schaufenstern, „‚window-shopping‘ came into the American vocabulary.“ (Kidwell/ Christman 1974: 158). 270 In New York zogen sich die reichen Städter um den Central Park und die Fifth Avenue zusammen, in den anderen Städten begannen die wohlhabenderen Leute außerhalb der Downtowns zu wohnen, die elektrischen Straßenbahnen fuhren sie ab den 1890ern in die Innenstädte (Whiteclay Chambers 1980: 13).

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Gesellschaft dadurch nicht verringert, aber die Preise für diese suits differenzierten sich immer weiter aus, es gab bald sehr teure und sehr billige und alle Abstufungen dazwischen. Und obwohl auch in anderen Großstädten Männerbekleidung hergestellt wurde, in Chicago ebenso wie in Philadelphia, und das Stadt-Land-Gefälle sich in den USA nicht so zeigte, wie in Europa, war doch das Zentrum der Produktion New York. Die Stadt New York war „das Extrem“, hier zeigten sich die Konflikte am deutlichsten und von hier aus kann „die Wirklichkeit erschlossen werden“, wie der deutsche Soziologe Siegfried Kracauer es formuliert hatte (1959 [1930]): XIX).271 Das Besondere an New York war, dass hier die Einwanderer über Ellis Island ins Land kamen, in der Bekleidungsindustrie arbeiteten und von dort aus in die neu entstehenden Industriebetriebe gingen.272 New York war 271 Die neue frontier bildete die Stadt, schreibt der amerikanische Historiker John Whiteclay Chambers, aber das stimmt so nicht. Der Stadt-Land-Unterschied war bis zur Industrialisierung weniger wichtig (siehe dazu Teil 2). Und nach 1870 zeigen sich in der Stadt, vor allem in New York, aber auch in Chicago, diese neuen Veränderungen der Gesellschaft am deutlichsten. 272 Auch diese zweite große Einwanderungswelle (nun stammten die Migranten vor allem aus Ost- und Südost-Europa) fiel mit dem Wachsen der New Yorker Ready-to-wearBekleidungsindustrie zusammen (Kidwell/Christman 1974: 87). Vor allem die Migrantinnen fanden als Näherinnen in der Bekleidungsindustrie Arbeit und viele jüdische Migranten, letztere arbeiteten allerdings vor allem in der Frauenbekleidungsbranche. In der Periode von 1881 bis 1900 kam über eine Million jüdische Migranten nach Amerika und in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts kam noch über eine Million dazu. Sie siedelten sich in der Lower East Side von New York an, die zum Symbol für die Einwanderung und für die Frauenbekleidungsindustrie wurde. Jetzt war das Verlangen nach Fertigkleidung für Frauen groß geworden, hier konnten viele jüdische Einwanderer arbeiten oder selber ein Geschäft oder einen sweatshop eröffnen (Kidwell/Christman 1974: 88, auch Soyer 2005: 7 f.). Der Grund, warum die Fertigkleidungsbranche für Frauen wuchs, lag vor allem darin, dass viele von ihnen als Angestellte zu arbeiten begannen. Hier fanden die Sphären von Männern und Frauen wieder zusammen, daher trugen sie auch gleich gefertigte Kleidung. In den Jahren 1885 bis 1917 war es die Lower East Side, dieser Flecken New Yorks, auf dem sich die Kleidungsindustrie weiterentwickelte. Da die neuen Migranten eher aus Städten kamen, hatte hier ein größerer Prozentsatz der Migranten eine Ausbildung, handwerkliche Fähigkeiten, sie fanden Arbeit in der Bekleidungsindustrie und in den expandierenden Geschäften der neuen städtischen Nation (Whiteclay Chambers 1980: 11). Bis heute soll es in New York sweatshops geben. Erst waren sie mit Iren und Deutschen in der Mitte des 19. Jahrhunderts besetzt, als nächstes mit Juden und Italienern im späten 19. Jahrhundert und Anfang des 20. Jahrhunderts kamen die African-Americans, die Puertorikaner in der Mitte des 20. Jahrhunderts und dann die Chinesen, Dominikaner und andere an der Wende zum 21. Jahrhundert (Soyer 2005: 4). Die Arbeitsbedingungen blieben weiterhin miserabel, doch die New Yorker Bekleidungsbranche war in der Innenstadt

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das Zentrum der Männerbekleidungsindustrie, hier siedelte sich auch die Werbebranche an. Werbung weckte jene Wünsche nach teureren Markenprodukten, die durch die flexible Massenproduktionsweise im ganzen Land für die Massen erfüllt werden konnten. In New York fanden sich die meisten der neuen whitecollar workers und hier versuchten die vor der Industrialisierung einflussreichen Männer der old order ihre gesellschaftliche Akzeptant und ihren Einfluss zu behalten, den sie an eine neue national amalgamierte Elite zu verlieren drohten. In New York war es auch, wo merchants, manufacturers, Banker, Rentiers und andere „metamorphosed into a social class“. Sie unterschieden sich nicht mehr nach Kapitalbesitz (Beckert 2001: 3), nicht mehr danach, in welcher Art und Weise sie ihre Profite erwirtschafteten.273 In New York traten die big business men auf, die den Mythos from-rags-to-riches verkörperten, Männer wie John D. Rockefeller und J. P. Morgan, die bis heute für die meisten Amerikaner diese neue Ära symbolisieren (Beckert 2001: 3). Weil sie ihren Reichtum öffentlich opulent zur Schau stellten, werden sie oft als die leisure class bezeichnet, nach dem Buch des Soziologen und Ökonomen Thorstein Veblen The Theory of the Leisure Class. Warum sie nicht diese leisure class waren und welche Rolle sie bei in Gebäuden untergebracht, Bürogebäuden ähnlich und nicht großen Fabrikhallen mit rauchenden Schornsteinen, daher wurden sie von der Bevölkerung weniger als Industrie wahrgenommen (Soyer 2005: 5). Dazu kam, dass dort vor allem Frauen arbeiteten. „Generally men have monopolized those jobs – such as cutter and presser – regarded as more skilled and, therefore, better paid.“ (Soyer 2005: 5). Aber, so der amerikanische Historiker Daniel Soyer, wahrscheinlich wurden diese Jobs als better skilled bezeichnet, weil sie von Männern ausgeführt wurden (2005: 5). Üblicherweise wurden die Bewohner der Tenement Houses mit Näharbeiten beschäftigt. „In the late nineteenth century, as the hoards of immigrants swarmed into the overcrowded tenement districts of Boston, Chicago, and especially New York,s East Side, the term ‚sweatshop‘ came to mean unsanitary, dirty surroundings, long hours, low pay. [...] Reformers of the period were constantly touting the superiority of the factory system over the home factory, and as a general rule conditions were somewhat better in the inside shops.“ (Kidwell/Christman 1974: 99). Die Tenement Houses waren extra für die Migranten gebaute Wohnhäuser an Manhattans Lower East Side, die für viele Einwanderer die erste Station ihres neuen Lebens in Amerika wurde. „These tenement shops were the archetypal sweatshops, where workers labored long hours in terrible conditions for little pay. The development was cyclical. Small contractors grew into manufacturers, pushing aside older firms and increasing the average size of shops. Later, the new manufacturers would establish ties with a new crop of contractors, and the average shop size dropped again. In any case, small shops remained the norm. In 1913, three-quarters of garment shops in New York had five or fewer workers. The following year, the average men,s wear shop had thirty-six employees.“ (Soyer 2005: 7) 273 Zur ganzen Diskussion vgl. Beckert (2001: 6 ff.)

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den in den USA aufgetretenen Kämpfen um gesellschaftliche Anerkennung spielten, wird im Folgenden auch an der weiteren Entwicklung der Männerbekleidung gezeigt. Big Business Men On a snowy evening as the new century opened, two men in tuxedos paced in front of a crackling fire in the library of a brownstone mansion in New York City. [...] two modern titans helped shape the economic structure of the future as they put together the largest manufacturing company the world had ever seen, the United States Steel Corporation. (Whiteclay Chambers 1980: 43).

Es waren der Banker J. P. Morgan und der business man Charles M. Schwab, die im Winter 1897 in dieser sehr gemütlichen Atmosphäre ihre weitreichenden Entscheidungen getroffen haben.274 Die beiden Männer trugen bei ihrem intimen Kamingespräch einen tuxedo, die legere Form des tail coats. Und wenn überhaupt ein Kleidungsstück mit den sich Ende des 19. Jahrhunderts amalgamierenden amerikanischen big business men ganz besonders in Verbindung gebracht werden kann, dann ist es diese neue Anzugjacke: der tuxedo. Das Jackett wurde nach dem berühmten Tuxedo Club benannt, der 1886 seine Tore öffnete, um die New Yorker Elite zu beherbergen. Hier gab es neben einem großen Clubhaus einige Tennisplätze, eine Golfanlage und der jährlich im Herbst veranstaltete Ball wurde schnell als Debütantinnenball beliebt. Für den ersten Herbstball soll der Tabakmagnat Pierre Lorillard anstelle des üblichen tail coats eine schwarze Jacke ohne Schöße in Auftrag gegeben haben. Einige Autoren 274 Charles  M. Schwab war Manager im von Andrew Carnegie beherrschten business und bot in dieser Funktion J. P. Morgan die Vereinigung der meisten der wichtigsten Stahl­ unternehmen (mit Carnegies Firma als Herzstück), um die Preise hochzuhalten und die amerikanischen und internationalen Märkte zu stabilisieren. Für die Summe von $ 492.000.000 war Morgan dazu bereit. Diese neue corporation kontrollierte Eisen- und Stahlwerke, Schifffahrts- und Eisenbahnlinien, Erz- und Kohleminen. Der U. S. Steel gehörten 156 große Unternehmen und mehrere hundert kleinere Betriebe in vielen Staaten an, sie beschäftigten 168.000 Menschen und besaßen ein Kapital von $ 1,4 Milliarden. 1901 kontrollierte die corporation 60 % der Stahlproduktion. Der neue Industriegigant war größer und mächtiger als mancher Staat, das jährliche Gesamteinkommen war genauso hoch wie das des US -Schatzes (Whiteclay Chambers 1980: 43  f.). Von 1897 bis 1903 reorganisierten und konsolidierten sich viele corporations nach dem Vorbild der U. S. Steel: General Electric, die National Biscuit Company (Nabisco), die American Can Company, Eastman Kodak, U.S. Rubber (später Uniroyal), die American Telephone and Telegraph Company und viele andere mehr.

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schreiben, dass er die Idee zu diesem Dinnerjackett vom Londoner Savile Row Schneider Henry Poole & Co. übernommen habe, dem Schneider des Prinz von Wales, des späteren King Edward VII. Andere sagen, er habe sich vom Stil des roten, zur Fuchsjagd getragenen Jacketts inspirieren lassen. Während die erste Version, also der Einfluss des englischen Prince of Wales, eher auf die invention of fashion tradition verweist (siehe dazu Kapitel 3.1), ist die zweite Begründung nicht abwegig, da die Fuchsjagd im Park des Tuxedo Clubs sehr schnell verboten wurde, und diese Jacke vielleicht ein Zeichen des Protestes gegen das Verbot war. Auf jeden Fall wurde so der traditionelle tail coat (dt. Frack) mit den langen Schößen oder der in England von den Gentlemen getragene morning coat verändert. Pierre Lorillard selber trug dann diesen tuxedo zum Ball nicht, aber sein Sohn, Griswold Lorillard, und einige von dessen Freunden kamen in dieser – nur im Vergleich zum langen tail coat – kurzen Jacke zum autumn ball. Die kurze Jacke wurde bewundert, kopiert und noch im selben Jahr in der Metropolitan Opera in New York getragen.275 War ein Kleidungsstück in New York City akzeptiert, dann allgemein in der amerikanischen herrschenden Klasse, denn die in New York und der Umgebung angesiedelten Institutionen wie der Tuxedo Club, die Metropolitan Opera oder auch der beliebte Ferienort Newport verbanden am Ende des 19. Jahrhunderts eine neue nationale amerikanische Bourgeoisie. Hatten vorher zur society in New York City nur New Yorker gehört, gehörten Ende des 19. Jahrhunderts Männer aus allen Bundesstaaten und den entferntesten Städten dazu. Für diese neue nationale herrschende Klasse war die Stadt New York das Zentrum, von dem aus sie Produktion, Finanzen und Handel dominierten (Beckert 2001: 2). Sie traten unter bestimmten Voraussetzungen gemeinsam für politische Kampagnen auf, trafen sich in Clubs, auf Debütantenbällen, bei ehrenamtlichen Vereinigungen und in Museen (Beckert 2001: 9). Ihre ökonomische, soziale und politische Macht reichte von Kalifornien bis South Carolina, von den Fabriken zu den Farmen, von Stadthallen bis zum Weißen Haus in Washington (Beckert 2001: 4). New York war schon lange das Handels- und Kapitalzentrum gewesen. Aber nicht nur Macht und Kapital konzentrierten sich jetzt hier, sondern es konzentrierte sich in einzelnen Personen, unter denen immer noch viele New Yorker waren. Diese Männer hatten hunderte Millionen von Dollar Kapital zu ihrer Verfügung, kontrollierten viele Fabriken und damit auch tausende von Arbeitern (Whiteclay Chambers 1980: 19). Im Jahr 1892 zählte man in den USA schon 4047 Millionäre, davon 84 Landwirte und Viehzüchter, die anderen 275 In der Literatur gibt es Übereinstimmung darin, dass der tuxedo vom Tuxedo Club kommt (Chenoune 1993: 111, Kidwell/Christman 1974: 114, Costantino 1997: 11).

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hatten durch Eisenbahnen, im Handel oder in der Industrie ihren Reichtum erworben (Sautter 1994: 250). Ihr Aufstieg zu soviel Reichtum wurde als fromrags-to-riches bezeichnet. Diese neuen Reichen verkörperten aber nur einen Mythos vom self-made millionaire, denn tatsächlich waren es weniger als zehn Prozent der Reichen, die in ihrer Jugend Lumpen getragen hatten. Über zwei Drittel dagegen hatten den Grundstock ihres Vermögens geerbt, der Rest war aus dem Mittelstand aufgestiegen (Raeithel 2002: 111). Und ihre Kooperationen waren weniger auf Wettbewerb und Konkurrenz ausgerichtet, als es dem eigenständigen self-made businessman zugesprochen wurde. „I like a little competition,“ erklärte J. P. Morgan, der Wall Street Banker, der viele dieser Zusammenschlüsse mit beträchtlichen Gewinnen finanzierte, „but I like combination better.“ Gerade durch die Ausschaltung der Konkurrenz in corporations waren diese Männer zu einem noch nie dagewesenen Reichtum gekommen (Raeithel 2002: 53). Was aber die eigentliche Faszination dieser Männer der neuen herrschenden Klasse ausmachte, war eine bis dahin unbekannte Zurschaustellung dieses Reichtums; sie wurden für die pompöse Darstellung ihres Wohlstands bekannt (Beckert 2001: 2). Wenn das Leben und das Konsumverhalten dieser self-made millionaires beschrieben wird, die ihr Geld so verschwenderisch ausgaben, wie es bis dahin nicht bekannt war, dann wird das gerne als „Verschwendungssucht“ bezeichnet (Raeithel 2002: 53). Hier soll gezeigt werden, dass es sich hierbei nicht um psychische Suchtprobleme handelte, sondern gesellschaftliche Gründe vorlagen, warum diese big business men sich so auffällig anders benahmen als die Bourgeois in anderen Gesellschaften. Für diese neu auftretende, einen luxuriösen Lebensstil betreibende herrschende Klasse der big business men wird bis heute gerne der Veblen’sche Begriff der ­leisure class gebraucht. Laut dem New Oxford American Dictionary (McKean 2005) ist die leisure class: „a social class that is independently wealthy or has much l­ eisure.“ Der Historiker Raeithel schreibt, dass sich um 1890 die wirkliche Geldaristokratie formte, zu der die Eisenbahnkönige Gould, Whitney, Harriman, der Ölmilliardär Rockefeller, die Stahlmagnaten Carnegie und Guggenheim, der Munitions- und Chemikalienfabrikant DuPont und der Großbankier J. P. Morgan gehörten (2002: 111). Dabei wird keine Unterscheidung zwischen bourgeoiser Klasse und aristokratischem Stand gemacht, sondern beides in diesem Begriff zusammengebracht. Selbst in den USA wurde seit ihrem Auftauchen gerne das Bild von einer aristokratischen, elitären Gruppe gezeichnet. Louis B. Brandeis, Jurist und Autor des 1914 erschienen Essaybandes Other People,s Money And How the Bankers Use It, verglich die trustees, wie diese Männer wegen ihrer großen trusts auch genannt

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wurden, mit den Statthaltern nachbarlicher Königreiche und ihre Beziehung zu Kunden und Arbeitern mit derjenigen von Feudalherren zu ihren Untertanen. Cartoonisten ­portraitierten reiche Amerikaner mit hohen seidenen Zylindern, während sie durch Monokel auf die Gesellschaft he­rabschauen (Whiteclay Chambers 1980: 21) oder in feudalen Roben, wie J. D. Rockefeller in einem Cartoon von 1901 (siehe dazu Abbildung 20). Und im 19. Jahrhundert hatte auch schon Karl Marx die mit der Konzentration des Kapitals in Amerika neu auftretenden Männer eine „allergemeinste Finanzaristokratie“ genannt (2001 [1867]: 801). Was seit ihrem Auftauchen damit ausgedrückt werden sollte war, dass diese Männer einer privilegierten Abbildung 20: John D. Rockefeller, Satire im Puck Gruppe angehörten, die andere ausMagazin von 1901. schloss und sich absonderte. Doch ließen sich diese trustees oder big buisness men nicht mit europäischen Aristokraten vergleichen, und über sie theorisierte auch Veblen nicht als leisure class. Die Bourgeoisie, ob in England, den USA oder auch in Frankreich, war bis in die 1860er-Jahre eher diskret im Auftreten gewesen, wobei schon Adam Smith darauf aufmerksam gemacht hatte, dass sich in den verschiedenen Gesellschaften gewisse Unterschiede im Lebensstil beobachten ließen (Smith 2003 [1789]: 515 f.). Der opulente luxuriöse Lebensstil, wie er jetzt von den amerikanischen big business men geführt wurde, war bis dahin von Königen und Adligen (oder der katholischen Kirche) bekannt; von Ludwig XIV. und Marie Antoinette als faszinierenden Figuren eines unumschränkten verschwenderischen Konsumverhaltens unter absolutistischer Herrschaft. Auch die in England Mitte des 19. Jahrhunderts begonnene invention of tradition hatte für die Öffentlichkeit vor allem den feudalen Pomp des Königshauses gesteigert, der über die Presse verbreitet wurde. Die Gentlemen blieben auf der europäischen Seite des Atlantiks insgesamt eher diskret im Auftreten und differenzierten sich gerade durch

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Feinheiten und nicht durch einen öffentlich so auffälligen luxuriösen Lebensstil (siehe dazu Kapitel 3.1). Da sich die amerikanischen Bourgeois durch ihr verschwenderisches Leben so deutlich bemerkbar machten, schienen Vergleiche mit feudalen Monarchen und Aristokraten naheliegend. Aber die amerikanischen big business men orientierten sich an der feudalen Pracht von Adel und Kirche, weil es andere Vorbilder für das, was sie tun wollten, nicht gab: verschwenderisch ihr Geld ausgeben.276 Im Jahr 1897 gab es einen spektakulären Kostümball im Waldorf Astoria in New York, auf dem rund 700 merchants, manufacturers, Banker und andere reiche Amerikaner Kostüme trugen, die den Luxus vergangener Zeiten spiegelten. Allein fünfzig Marie Antoinettes waren unter den Gästen und nicht wenige Männer als Ludwig XIV. verkleidet (Beckert 2001: 1) und es ist kein Zufall, dass es diese zwei für ihren ausschweifenden Lebensstil bekannte historische Personen waren. Doch nicht nur auf opulenten Festen, auch in der Alltagskleidung orientierten sich Amerikas erfolgreiche big business men gerne an Europa. Schon seit dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs 1865 reisten viele nach London, um sich in der Savile Row mit tailor-made-suits einzukleiden, aber spätestens ab den 1890erJahren machten immer mehr big business men ihre Einkaufstouren in Europa (Kunstsammlungen und ganze Schlösser kauften sie auf ) und wurden von der englischen Presse als Fifth Avenue millionaires bezeichnet (Chenoune 1993: 102). Doch obwohl diese big business men dort einkauften, wo auch die englischen Gentlemen ihre suits bezogen, hatten die Amerikaner in Bezug auf ihre Kleidung einen schlechten Ruf, der z.B. durch Beleidigungen des Prince of Wales unterstützt wurde (de Marly 1985: 111, Chenoune 1993: 114). Der Prinz wird kaum in Kontakt mit einfachen Amerikanern gekommen sein, so waren es vor allem einige der amerikanischen big business men, die sich den Bekleidungsund Benimmregeln der englischen Gentlemen widersetzt haben werden – ihnen konnte die Rolle der herumpolternden und laut auftretenden Holzfäller mit fehlendem Geschmack durchaus zugesprochen werden. Mochten die jeweiligen englischen Prinzen und die Presse jedoch noch so verächtlich herabschauen, diese modernen big business men selbst hatten damit kein Problem. Sie unterliefen die Bekleidungsregeln häufiger als andere, weil sie in ihrer Stellung an der Spitze der amerikanischen Gesellschaft akzeptiert und anerkannt waren. Ihre unangefochtene gesellschaftliche Stellung wurde nicht wie in England über ein in langer Zeit angelerntes Wissen, z.B. um Knopflöcher, 276 Der Hof in Versailles war besonders geeignet, weil dort ein aristokratischer Stand im Wettbewerb um Anerkennung und Herausstechen schon Mechanismen vorgegeben hatte (siehe dazu Kapitel 1.2), die jetzt auch hier wirksam waren.

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Stoffqualitäten, Schneidertechniken oder feines Benehmen definiert. Wie Thorstein Veblen es in seinem Buch zur leisure class im Kapitel Pecuniary Canons of Taste (2001 [1899]: 85 ff.) erläutert, gab es in Amerika mit der conspicuous consumption (dem demonstrativen Konsum) Regeln des Konsums und des Geschmacks, die hauptsächlich darin bestanden, dass die Waren teuer sein mussten. Dieser gesellschaftliche Unterschied ist entscheidend, denn während die englischen Bourgeois in handgenähten tailor-mades, mit diskreten Details, die oft nur Eingeweihten erkennbar waren, hinter dem Prince of Wales verschwanden, demonstrierten die Männer des big business ihren Wohlstand und ihren Erfolg öffentlich über den Konsum im Überfluss. Viele der Millionäre kauften die handgemachten maßgeschneiderten Anzüge in London daher nicht ein, weil sie das dazugehörige Prestige benötigten, sondern weil dies einfach die teuersten Männeranzüge waren, die man für Geld bekommen konnte. Und bei der Wahl der Kostüme für einen Maskenball im Waldorf Astoria lag darin keine Anerkennung damaliger oder heutiger Monarchie oder feudaler Traditionen und ständischer Privilegien, sondern der Versuch sich an einem pompösen, protzigen und damit sehr kostspieligen Lebensstil zu orientieren. Es war kein anderer Stil bekannt, mit dem die big business men ihr demonstratives Kaufverhalten besser hätten ausdrücken können. Und weil sie ihren Konsum nicht vor der Öffentlichkeit verbargen, sondern diese darüber gut informierten, festigten sie den um sie gelegten Mythos in ihrer eigenen, der amerikanischen, Gesellschaft. In den USA hatten sich schon im 18. Jahrhundert ständische Privilegien nicht durchsetzen lassen, denn die gesellschaftliche Akzeptanz war in der amerikanischen bürgerlichen Gesellschaft überwiegend über den Erfolg im betriebsamen Handeln erworben worden (siehe dazu Kapitel 2.1). Und die gesellschaftliche Akzeptanz von betriebsamen, am Profit und eigenen interests orientierten Männern (und Frauen) steigerte sich, wenn sie damit auch noch erfolgreich waren, das heißt, reich wurden. Die neue herrschende Klasse des 19. Jahrhunderts hob weiterhin die bürgerlichen Werte von Rationalität, Disziplin und individuellem Fleiß hervor (Beckert 2001: 9). Damit konnten die big business men den Mythos from-rags-to-riches unterstützen, der auf der Vorstellung beruhte, dass es der Einzelne schaffen kann, obwohl sie selbst die Konkurrenz lieber ausschalteten und sich in corporations zusammenschlossen. Da die big business men diese bourgeoisen Werte weiterhin hochhielten, waren die von der auch in Amerika mit der Industrialisierung neu zusammengeschlossenen Bourgeoisie gebildeten Traditionen nicht einmal quasi-feudale, sondern bourgeoise, d.h., der Zugang war jedem offen, der sich einen solchen Lebensstil

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leisten konnte.277 „It expressed itself in shared habits and manners (such as rituals of eating at the dining room table)“ (Beckert 2001: 8), wer diese Gewohnheiten teilen konnte, gehörte dazu und wurde anerkannt, wer dazu gehören wollte, musste denselben Aufwand betreiben. With the exception of the instinct of self-preservation, the propensity for emulation is probably the strongest and most alert and persistent of the economic motives proper. In an industrial community this propensity for emulation expresses itself in pecuniary emulation; and this, so far as regards the Western civilised communities of the present, is virtually equivalent to saying that it expresses itself in some form of conspicuous waste. (Veblen 2001 [1899]: 82, Herv. A. M.).

Der Amerikaner Thorstein Veblen schrieb hier zwar allgemein von den westlichen Gesellschaften, doch waren es zuerst und vor allem die USA, wo die ökonomischen Motive offengelegt werden mussten, weil die Anerkennung über den individuellen Erfolg so relativ war. Seine Attacke richtete sich dabei aber nicht gegen den Wohlstand, sondern gegen eine ungerechte Verteilung. Es ging also auch um die Frage, wieso die amerikanische Gesellschaft von betriebsamen merchant farmers mit relativ gleicher Vermögenslage zu einer wurde, in der unterschiedlich hohe Vermögen die Akzeptanz in verschiedenen Gesellschaftsschichten bestimmten. Der Lebensstandard einer jeden Klasse, so Veblen, sei, soweit es die demonstrative Verschwendung beträfe, so hoch, wie es die Einkommensverhältnisse dieser Klasse erlaubten; mit der konstanten Tendenz anzusteigen (Veblen 2001 [1899]: 83). Damit sei es in der amerikanischen Gesellschaft dazu gekommen, dass sich Nachbarn ständig verglichen und eine chronische Unbefriedigtheit die Leute dazu bringe, mehr und mehr zu verdienen, um sich von den anderen abzuheben (Veblen 2001 [1899]: 25). Die gesellschaftliche Akzeptanz hänge immer mehr von der conspicuous consumption von Gütern (dem demonstrativen Konsum) und der conspicuous leisure, also der demonstrativen Muße ab (Veblen 2001 [1899]: 21). Dass Veblen für die Entwicklung seiner Argumente zur amerikanischen Gesellschaft der Kleidung ein ganzes Kapitel widmete, war dabei kein Zufall. Die schon weit entwickelte Bekleidungsindustrie für Männerkleidung war eine

277 So wie etwa der Tuxedo Club einen englischen Landsitz nachahmte, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass keine Einladung erfolgen musste, um hier Zutritt gewährt zu bekommen, sondern die Aufnahme mit hohen Gebühren verbunden war, die man bezahlen musste, um eingelassen zu werden. Und die Presse durfte darüber berichten (siehe dazu auch Abbildung 22).

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Abbildung 21: J. P. Morgan (1837–1913) hier um 1900.

der industriellen Fertigung, Anzüge konnten billig und in guter Qualität für alle hergestellt werden. Obwohl die Dinge also auch für wenig Geld zu haben wären, so argumentierte Veblen, gehe es nur noch darum, viel Geld auszugeben (2001 [1899]: 24). Wenn aber ein billiger Anzug einen billigen Mann mache, dann gelte jetzt für Männeranzüge: je teurer desto besser – auf einer nach oben offenen Skala. „Relative success, tested by an invidious pecuniary comparison with other men, becomes the conventional end of action.“ (Veblen 2001 [1899]: 26). Das sei, so Veblen weiter, entgegen der Ansicht der Sozialdarwinisten, die nach dem englischen (und in den USA sehr erfolgreichen) Soziologen Herbert Spencer kamen, kein „struggle for subsidence“, also Kampf um seinen Lebensunterhalt mehr, dafür hätten die Leute ja längst genug. Dies sei ein neuer „struggle for wealth“, ein Kampf um immer mehr Güter, die selber oder von Stellvertretern konsumiert würden, um darüber den Wohlstand und das

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Prestige auszudrücken (Veblen 2001 [1899]: 20). Und es war dieser „struggle for wealth“ den die superreichen big business men mitmachten, weil es einige von ihnen gab, die versuchen konnten, sich untereinander, also auch als Nachbarn, immer wieder im Wettkampf zu überbieten. So soll der Banker J. P. Morgan (siehe dazu Abbildung 21) gesagt haben, dass, wer nicht wisse, wie viel seine Jacht koste, sie sich sowieso nicht leisten könne (Mrozek, zit. n. Truninger 2010: 106). Er stand damit auf seiner Stufe nur mit denjenigen im Wettbewerb, die den Geldwert seiner Ausgaben kannten, weil sie, wie Veblen es nannte, seiner Klasse, seiner Nachbarschaft angehörten und genauso wie er auf solche Preise achteten. Morgan tat nicht einmal so, als ginge es bei seiner Jacht um Schnittigkeit, Schnelligkeit oder die besonderen Hölzer, die feinen Segel, weswegen er sie vermeintlich gekauft habe. Von ihm wurde offen ausgesprochen, was Veblen im Kapitel Pecuniary Canons of Taste (2001 [1899]: 85 ff.) aufzudecken beabsichtigte, dass beim Kauf von Waren die Schönheit oder Nützlichkeit immer vorgeschoben würde, um zu rechtfertigen, warum man für etwas einen höheren Preis bezahlt habe. Was hätte dem reichsten big business man sein ungeheurer Reichtum genützt, wenn da keiner gewesen wäre, an dem er sich hätte messen können? Durch die räumliche Konzentration der big business men in New York, im Ferienort Newport oder Versammlungsorten wie dem Tuxedo Club und dem Waldorf Astoria, boten und verstärkten sich die Vergleichsmöglichkeiten untereinander und damit der Wettkampf um die conspicuous consumption. Fünfzig Marie Antoinettes und einige Ludwigs XVI. beim Ball in einem Nobelhotel in Manhattan konnten daher auch bei den gleich gekleideten Anwesenden keinen Schock auslösen. Diese Kostümierung diente nicht, wie die luxuriöse Bekleidung am realen Hof von Versailles, dazu, sich unter den Hofaristokraten individuell auszustaffieren, um dem König aufzufallen und zu mehr Wohlstand und Einfluss zu kommen (siehe dazu Kapitel 1.2). Auf dem Kostümball im Waldorf Astoria konnte der erworbene Reichtum hervorstechen, es ließen sich die längst zu Wohlstand und unvorstellbarem Reichtum gekommenen Verschwender im (Nah-)Wettkampf noch besser vergleichen. Bekleidung war für die big business men wichtig, denn zum Mythos des amerikanischen selfmade millionaires gehörte der Aufstieg from-rags-to-riches. Welche Kleidung man nicht wollte, war damit klar definiert: keine Lumpen; unbestimmt blieb hingegen, was man als Reicher trug. Da es um conspicuous consumption ging, musste die Männerkleidung teuer sein. Doch welcher Art sie war, das spielte für die Profiteure der amerikanischen Gesellschaft ebenso wenig eine Rolle, wie von welcher Art der Reichtum war, mit dem sie am „struggle for wealth“ teilnahmen. Big business men wechselten die Clubjacke mit dem Marineblazer,

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trugen Knickerbockers zum Jagen, aber helle Hosen zum Tennisspielen und karierte beim Golfen (siehe dazu Abbildung 22). Sie tauschten den dress coat auf dem Ball gegen den tuxedo, wenn sie, wie Schwab und Morgan, Milliardendeals vor dem Kaminfeuer in der Bibliothek einer New Yorker Villa machten. Diese big business men trugen alles, solange es das Teuerste war und konnten sich durchaus über alle Bekleidungsregeln hinwegsetzen, weil sie in der amerikanischen Gesellschaft die anerkannteste gesellschaftliche Position innehatten. Die big business men waren damit nicht die Abbildung 22: Alle Golfen – John D. Rockefeller, Präsident William Howard Taft, Andrew Carnegie (o.v.l.) und Speaker leisure class, die den Titel Nicholas Longworth, Secretary of the State Philander C. von Veblens erfolgreiKnox, Justice Joseh Mc Kenna (u.v.l.), 1909. cher Kritik an der amerikanischen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts schmückt. Diese Männer zeigten demonstrativ ihren Reichtum über ihr Konsumverhalten und damit den vermeintlichen selbst geschafften Erfolg, der auf harter Arbeit des Einzelnen beruhe. Im opulenten Konsum lag die Möglichkeit des immer weiteren Anstiegs der gesellschaftlichen Anerkennung und der Erfolg war darüber sichtbar und damit schneller zu erzielen als über den Erwerb von Bildung und Wissen. Darum konnte ein Wettbewerb darüber veranstaltet werden, von dem die Öffentlichkeit über die Presse erfuhr. Öffentlich musste er gemacht werden, weil dieser Wettkampf von anderen Gesellschaftsgruppen verstanden wurde und sie mitmachen konnten. Die big business men brauchten sich nicht den Habitus eines Gentleman anzueignen;

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sie waren Quasi-Gentlemen in quasi dress coats, den tuxedos. Quasi, weil in der deutlichen Bevorzugung der conspicuous consumption der amerikanischen herrschenden Klasse auch die Chance für alle Männer lag, der amerikanische Traum vom Aufstieg und der Anerkennung in der Gesellschaft. Der Mythos vom selfmade millionaire, der es von ganz unten nach ganz oben schafft, war für die Einwanderer Teil der amerikanischen Erfahrung. Und das, obwohl sie selber keine Chance mehr darauf hatten, über den Erwerb von Eigentum zu ihrem eigenen Wohlstand zu kommen. Big business men repräsentierten für viele dieser Einwanderer den Fortschritt, weil sie Jobs kreierten und den Lebensstandard hoben, da immer mehr Produkte für weniger Geld zu bekommen waren (Whiteclay Chambers 1980: 21). Die working class reagierte wenig radikal auf diese Millionäre, denn auch wenn etwa viele U.S. Steel, den Stahltrust von Carnegie verdammten, wurde er als Person außerordentlich bewundert (Raeithel 2002: 112). Horatio Alger (1832–1899), ein New Yorker Prediger, erzählte in insgesamt 119 Büchern die Geschichte vom armen Landjungen, der in die Stadt kommt und hier durch harte Arbeit sein Glück macht. Alger verkaufte rund 20 Millionen Exemplare (Sautter 1994: 251) und machte sicher sein eigenes Glück, weil die breite Masse die Geschichten from-rags-to-riches liebte (Sautter 1994: 251). Selbst die in die ärgsten Lumpen gekleideten Einwanderer anerkannten allerdings nur den Erfolg der big business men, der sich in übermäßiger conspicuous consumption ausdrückte. Anders als bei der englischen herrschenden Klasse in der Uniform der Gentlemen, die ein besonderes Benehmen und einen gewissen Habitus278 haben musste (siehe dazu Kapitel 3.1), und damit mehr als einen teuren maßgeschneiderten Anzug, oder in der deutschen Gesellschaft, in der die Aristokratie über Militäruniformen andere ein- und ausschloss (siehe dazu Kapitel 1.3), hätte jeder erfolgreiche Aufsteiger aus der working class den Preis bezahlen, sich im maßgeschneiderten Anzug einen solchen Lebensstil kaufen und auch demonstrativ den Wohlstand zeigen können. Gerade weil der „Lebensstil Mittel der sozialen Abgrenzung gegen all jene, die ihn sich nicht leisten konnten“ wurde (Truninger 2010: 108, Herv. A. M.) konnte sich keine quasi-aristokratische Privilegiertheit einer Gruppe in der Gesellschaft durchsetzen. Denn weil sich dieser Lebensstil über den Preis definierte, konnte theoretisch jeder mitmachen, der es schaffte, viel Geld anzuhäufen.

278 Habitus, die die es haben: Eine göttliche Sicherheit (divine assurance) und ein gebieterisches (imperious) Entgegenkommen (complaisance), wie man sich benimmt, um Unterwürfigkeit zu erzeugen, keinen Gedanken an das Morgen zu verschwenden, ist das Geburtsrecht und das Kriterium eines „gentleman at his best“ (Veblen 2001 [1899]: 41).

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Die Logik der Ökonomie (Sombart 1913), die alle Lebensbereiche der amerikanischen Gesellschaft durchdrang, war schon vor dem Aufstieg dieser big business men entfaltet gewesen (siehe dazu Teil 2) und weil mit der amerikanischen Industrialisierung das Marktprinzip mit der flexiblen Massenproduktion weiter ausgebaut worden war, blieb diese Logik weiterhin bestimmend für die amerikanische Gesellschaft. Es gab Bekleidungsregeln, wann was zu tragen war, die karierte Hose beim Golfen, das Kostüm beim Ball, und sie wurden von den big business men geschätzt, konnten sie doch gerade über die Vielfalt der Männerkleidung den Nutzen aus der opulenten conspicuous consumption ziehen. Veblen richtete sich in der Theory of the Leisure Class (1899) gegen die Männer des big business, die in gigantischen Unternehmen als trustees der conspicuous consumption verfielen, weil durch ihren Aufstieg die Verteilung des Wohlstands so ungerecht geworden war. Aber viel stärker wandte sich seine Kritik gegen die Mitglieder der old order, die er als „gentlemen of leisure“ bezeichnete (Veblen 2001 [1899]: 34 ff.). Diese versuchten sich in der verändernden Gesellschaft über Privilegien der conspicuous leisure nicht nach der Logik der Ökonomie, also der Höhe der Ausgaben für den Konsum, und damit mit Hilfe des kapitalistischen Marktprinzips abzugrenzen. Gentlemen of leisure versuchten die Regeln zu verfeinern, um vom opulenten zum richtigen Konsum zu kommen. Aber daran scheiterten die amerikanischen Männer der old order letztendlich genauso wie die Europäer, unter ihnen der Prince of Wales: Kritik am schlechten Benehmen oder unpassender Kleidung prallte einfach an den big business men der herrschenden Klasse ab. Der Ökonom Thorstein Veblen hatte auch das schon entlarvt, weil die gesellschaftliche Stellung in der amerikanischen Gesellschaft – wie allgemein im Kapitalismus (der Anzug des englischen Gentleman ist auch der teuerste) – immer zuallererst vom Besitz von Besitz bestimmt blieb. Gentlemen of Leisure Der tuxedo war das amerikanische Kleidungsstück, selbstverständlich getragen, von einigen auch zu formellen Anlässen, wie dem Besuch der Metropolitan Opera oder anderen Gelegenheiten, während als zivile Männerkleidung in Deutschland weiterhin gerne der Frack (engl. tail coat) oder in England der morning coat getragen wurden. Aber auch in Europa setzte sich das kürzere Dinnerjackett als Bekleidung für halbformelle Anlässe, für Sommerabende an Kurorten und in Seebädern oder bei Kasinobesuchen durch (Chenoune 1993: 111). Gerade an den Orten also, wo Männer aus aller Welt auf ihren Reisen zusammenkamen, wurde diese Jackenform national vereinnahmt: Die Engländer erklärten die Herkunft des Dinnerjacketts von der smoking jacket, nach dem Essen von Gentlemen im Rauchsalon getragen (Costantino 1997: 11). Dieser smoking war aus eher dickerem

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Stoff und die Männer trugen ihn ausschließlich im Rauchsalon, um die Damen vom Geruch ihrer Pfeifen und Zigarren zu verschonen (Chenoune 1993: 111). Die Franzosen machten das Jackett aus leichten Stoffen zum Monte Carlo, der an der französischen Riviera in den Kasinos getragen werden konnte (Costantino 1997: 11, Chenoune 1993: 111). Zwar beanspruchten auch Engländer und Franzosen die Erfindung jenes Dinnerjacketts, das die Amerikaner tuxedo nannten, aber wahrscheinlich waren die amerikanischen Einflüsse groß.279 Nicht nur der tuxedo, die gesamte amerikanische Männerkleidung wurde im eigenen Land, aber auch in Europa immer stärker mit legerer, zwangloser Bekleidung (casual) assoziiert, weil sie meist aus leichten Stoffen und in lockeren Schnitten hergestellt war. Da läge die Vermutung nahe, dass die von Thorstein Veblen als Gentlemen of leisure bezeichneten amerikanischen Männer diese legeren Anzüge getragen und zur Akzeptanz derselben beigetragen hätten. Es war aber im Gegenteil so, dass gerade Gentlemen of leisure sich im modernen business suit ein konservatives Image zulegen wollten. „The lounge suit lost its former associations with leisure and, [...] became the basis of the modern business suit“ (Costantino 1997: 20). Die Jacken des business suits waren streng geschnittenen, d.h. eng anliegend und mit drei Knöpfen zu schließen, um der breitschultrigen gepolsterten Form einen besonderen Ausdruck zu verleihen (Costantino 1997: 21). Betont wurden durch diese business suits Strenge, Stärke und Maskulinität, etwa durch die Polsterung der Schulterpartien seit den 1880er-Jahren, was als „American build“ bezeichnet wurde (Chenoune 1993: 89) und daher wohl dort entwickelt worden war. Einer der bekanntesten Männer der old order, Theodore Roosevelt (1858– 1919)280, durchaus wohlhabend und einflussreich, aber den big business men 279 Der smoking wird erstmals 1894 erwähnt und soll auf den Herzog von Sutherland zurückgehen (Loschek 2011: 449). Die Männer in Amerika trugen diese legere Jackenform aber früh in Palm Beach, Florida, dem luxuriösen Urlaubsort der gehobenen Preisklasse. Und da so viele wohlhabende Amerikaner an die französische Riviera, nach Italien, in die wichtigsten Hauptstädte Europas reisten, konnten die Gäste aus anderen Gegenden die vor allem bequeme Männerkleidung leicht übernehmen. „In style and general make-up American clothing is radically different from that of Europe, but every year these differences become less pronounced. In 1903 it was reported that an English firm had sent its agent to New York City to study styles and process of manufacture.“ (Pope 1970 [1905]: 291). Das Interesse der englischen und anderer europäischer manufacturers an den Stilen und der Herstellung ließ wiederum die amerikanische Bekleidungsindustrie und ihre Gewinne wachsen. 280 Von 1901–1906 Präsident, der Vater ein erfolgreicher Geschäftsmann und der Großvater einer von 10 Millionären, die 1864 in New York lebten (Truninger 2010: 109). Er war damit der Sohn und Enkel einflussreicher Männer, ging aber in die Politik, und setzte damit seine interests nicht als entrepreneur ein, auch wenn er als New Yorker aus der society die Verbindungen zu dort wohnhaften neuen big business men nutzen konnte.

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Abbildung 23: Theodore Roosevelt und die Rough Riders.

ökonomisch vielfach unterlegen, legte besonders viel Wert auf business suits, die ihm ein konservatives Image verliehen (Costantino 1997: 20). Roosevelt wurde nicht durch einen verschwenderischen Lebensstil bekannt, sondern er erlangte Ruhm durch seine Beteiligung im Spanisch-Amerikanischen Krieg 1898. Freiwillig zogen er und die Rough Riders genannte Kampftruppe, unter denen sich viele Football-Spieler der Eliteuniversitäten an der Ostküste befanden (Truninger 2010: 111), in den Krieg. Auffallend ist die im Vergleich zum von ihm bevorzugt getragenen streng geschnittenen business suit betont lässige Militärkleidung (siehe dazu Abbildung 23). Diese Uniformierung erinnert an die Kleidung der Cowboys (auf die der Name der Einheit verweist) oder farmers und damit an eine vergangene Zeit der unbegrenzten Möglichkeiten in Amerika. Sie verweist auf einen Wilden Westen, der seit 1891 mystifiziert wurde, dem Jahr in dem die Zeit der frontier offiziell für beendet erklärt worden war. Es war die vergangene Epoche, in der Männer wie Roosevelt an der Spitze der Gesellschaft gestanden hatten.

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Nach dem siegreichen Ende des Krieges trug Roosevelt wieder streng konservative business suits, seine Cowboy-Uniform ließ er in Texas. Was er allerdings nach New York mitbrachte, das waren Trophäen und Orden, die nicht nur der ganzen Gesellschaft seine Männlichkeit beweisen, sondern eine Überlegenheit demonstrieren sollten, die nach Thorstein Veblen barbarischen Zeiten entsprungen sei.281 Barbarisch war das Verhalten bei diesen Männern, schrieb Veblen, weil sie mit dem Bestehen auf unnützem Wissen und Verhalten eine Rückständigkeit betonten, die in der Industriegesellschaft nicht nur unnütz sei, sondern die weitere Entwicklung zu einer besseren Gesellschaft bremse. Denn das Entscheidende war, dass Gentlemen of leisure nicht auf leisure als Freizeit oder freie Zeit Wert legten, sondern auf leisure, die dazu diente, Wissen im langen Studium zu erwerben (Veblen 2001 [1899]: 34 ff.).282 Als Folge des Erlernens von Wissen kam das Anwachsen von Rängen, Titeln, Abschlüssen und anderen Insignien, das sich in Medaillen, ehrenvollen Dekorationen und Urkunden ausdrückte. Es ging vor allem um immaterielle Güter, das Wissen um Prozesse, die nicht unbedingt zum Weiterkommen des menschlichen Lebens nötig seien, z.B. auch tote Sprachen, okkulte Wissenschaften, eine korrekte Aussprache, und Musik, Inneneinrichtung und Kleidung (Veblen 2001 [1899]: 45). Gentlemen of leisure, das waren für Veblen diejenigen, die unnütze Dinge erlernten, ganz so wie es die englischen Gentlemen mit dem an den public schools erlernten Wissen vormachten. Auch in ihrer Kleidung zeigte sich das, denn diesen Anzügen der old order durfte kein „human use“ anhaften, keine Nützlichkeit im Sinne gesellschaftlicher Produktivität.283 Much of the charm that invests the patent-leather shoe, the stainless linen, the lustrous cylindrical hat, and the walking stick, which so greatly enhance the native dignity of a gentleman, comes of their pointedly suggesting that the wearer cannot when so attired bear a hand in any employment that is directly and immediatly of any human use. Elegant dress serves its purpose of elegance not only in that it is expensive, but also because it is the insignia of leisure. (Veblen 2001 [1899]: 126).

281 Zur Diskussion von Roosevelt und der Debatte um Männlichkeit in der amerikanischen Gesellschaft vgl. Truninger (2010: 110). 282 Siehe dazu Fußnote 263. 283 Der Anzug von Roosevelt war aber, und das sieht Veblen nicht, trotzdem auch der eines arbeitenden Mannes, aus dem von ihm ein Nutzen gezogen werden konnte.

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Die Produkte der veralteten handwerklichen Produktion, in der Männerkleidung etwa als maßgeschneiderte Fräcke und Anzüge, waren ja nicht nur teuer, sondern drückten die leisure aus, die ihre Träger genießen konnten. Zu den insignia of leisure gehörte einerseits für die old order, Männer wie Roosevelt, das Wissen um den Herstellungsprozess, die Stoffqualität, eine Geschichte hinter dem Kleidungsstück. Aber andererseits wurde, gerade weil es die standardisierte Produktionsweise schon gab, die Verarbeitungszeit zu einem Wert, den sie in einer Feudalgesellschaft nicht hätte haben können. Auch die handwerkliche Produktionsweise wurde durch Maßnehmen rationalisiert, d.h. in Einheiten gebracht.284 Gerade die Ausdifferenzierung der Preise durch die flexible Massenproduktion kam Männern wie Roosevelt gelegen, da sie die Unterschiede in der Qualität kannten und sich dann über den Preis unterscheiden konnten; sie kleideten sich konservativ und ganz bewusst nicht zwanglos, locker und leger (casual). An der von der englischen upper class Mitte des 19. Jahrhunderts eingeleiteten invention of fashion tradition konnten sich die Männer orientieren, die Angst hatten, ihre Anerkennung zu verlieren, weil sich nach dem amerikanischen Bürgerkrieg die herrschende Klasse aufgrund der Weiterentwicklung der Produktionsweise neu zusammensetzte. Weil die invention of tradition in England gelang, erschienen die (quasi-)feudalen Elemente der englischen Gesellschaft der amerikanischen Bourgeoisie als immer schon Dagewesenes. Der Amerikaner Veblen nennt im o.g. Zitat die richtige Reihenfolge: „Elegant dress serves not only in that it is expensive, but also because it is the insignia of leisure“. Weil aber auch Veblen diese leisure285 im alten Europa zu erkennen glaubte, erschien ihm die amerikanische conspicuous leisure als barbarische, d.h. ältere europäisch-feudale. Er verkannte, dass diese conspicuous leisure in der amerikanischen Gesellschaft eine Reaktion der an Einfluss verlierenden merchants und anderer Männer der old order war, die

284 Die Zeit, die der Handwerker für die handwerkliche Produktionsweise braucht, hat auch einen Wert, der in der amerikanischen Gesellschaft erst in dieser Zeit wertvoller wurde. Das war etwas Neues, weil von Beginn an handwerkliche Tätigkeiten möglichst vermieden wurden. Die auch in den USA ab den 1890er-Jahren stattfindende Besinnung auf tailormade war anders als in der englischen Entwicklung keine, in der sich Schneider ihre gesellschaftliche Anerkennung aus dem Verlust der Anerkennung als industrial workers, und daher mit realem Bezug, erkämpften. Die Brooks Brothers etwa erfanden sich die Tradition, dass ihr Geschäft sich aus einer Schneiderei entwickelt habe, um die höheren Preise zu rechtfertigen (Zakim 2003: 65). Die Marke braucht den Mythos des Besseren, den Mythos als Tauschwert, aber das heißt, austauschbar im Inhalt, nur was das Äußere betrifft, etwas Besseres und daher Teureres. Dieses Markenverständnis ist das amerikanische. Auch der selfmade millionaire hat diesen Tauschwert. 285 Siehe dazu Fußnote 263.

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sich unselbstständigen Berufen, wie dem des Politikers, zuwandten. Damit war sie nichts Barbarisches, sondern etwas Neues und sehr Modernes. Auch wenn Veblen schrieb, dass sich das Leben dieser Gentlemen viel weniger vor den Augen der Öffentlichkeit abspielte als das der trustees oder big business men, und sie deswegen eine Möglichkeit finden mussten, leisure zu demonstrieren (Veblen 2001 [1899]: 44), zeigt sich etwa bei Roosevelt das Verhalten als öffentlich zelebriertes und als Reaktion auf die aktuellen Konflikte. Er erzeugte seinen kriegerischen Ruhm und benutzte ihn für eigene Ziele und interests, denn als Mann, der in die Politik ging, brauchte er die Öffentlichkeit. „Roosevelt ergriff das Wort für die Männer der alten Elite, die mit den teuren Vergnügungen der trustees, diesen von ihnen geschmähten Emporkömmlingen, nicht mithalten konnten.“ (Truninger 2010: 110).286 Der Politiker positionierte sich als Verteidiger der Männer der Mittelklasse, deren Mitglieder zunehmend ihre ökonomische Unabhängigkeit verloren und zu white-collar workers wurden. Und das hieß in einer Gesellschaft wie der amerikanischen, in der der betriebsame merchant und der profitorientierte Aufsteiger so anerkannt war, eine Schmälerung der Anerkennung, denn white-collar workers bekamen in der Regel einen festen Lohn und konnten weniger dazu beitragen, dass ihr Lohn stieg. Außerdem wurden die Unternehmen immer größer, hatten viele Mitarbeiter und das hieß, dass die Möglichkeiten des Einzelnen, zum Erfolg des Unternehmens und damit vielleicht auch zum eigenen höheren Lohn beizutragen, beschränkt waren. Der durch die Zunahme von Kataloggeschäften und Warenhäusern eingetretene Verlust der Unabhängigkeit vieler Männer zeigte sich in der Bekleidungsbranche vor allem in den country towns sehr deutlich. Die kleinen Ladenbesitzer waren nicht sehr angetan vom Katalogversand (Kidwell/Christman 1974: 164) und die small business men, so nennt der amerikanische Soziologe C. Wright Mills sie, nicht von der Konkurrenz der großen big business men im Ganzen und der Warenhausketten im Einzelnen, die in allen Preisklassen ihre Waren anboten. Sie hatten dieser Preispolitik der großen Unternehmen nichts entgegenzusetzen (Mills 1956: 28).

286 Wobei Roosevelt ganz klar zu den gemäßigten Vertretern gehörte. Einige amerikanische Historiker der Periode zwischen 1875 and 1925 deklarierten die Überlegenheit des ­„‚Anglo-Saxon‘ stock [...] Mass as well as academic publicity reflected and spread the fact of prestige distinctions between immigrants and native“. Für den amerikanischen Soziologen C. Wright Mills ist wahrscheinlich, dass die Differenzen zwischen den nativists und den Einwanderern die zwischen white-collar work und wage work waren (1956: 248). Vgl. zur Abgrenzung beider Gruppen den nächsten Abschnitt dieses Kapitels.

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The freedom to compete – the main principle of order in the world of small entrepreneur – became the freedom to shape the new society. As the concentration of private enterprise began to change the type of businessman that prevailed, the Captain of Industry gave way to the Rentier, the Absentee Owner, the Corportation Executive, and a type presently to be described, the New Entrepreneur. (Mills 1956: 21).

Vor allem die merchant farmers verloren in den 1870er-Jahren zu großen Teilen ihre Selbstständigkeit (Mills 1956: 15).287 Wie Truninger (2010: 47 ff.) zeigt, hatte Veblen im Mittleren Westen das Scheitern vieler dieser betriebsamen merchants, unabhängigen farmers und shop owners, von Mills middle men genannt, verfolgen können. Während um 1820 noch dreiviertel der Amerikaner unabhängige farmers waren, konnten das 1880 nur noch die Hälfte von ihnen behaupten (1956: 16).288 Und für diese vom Abstieg bedrohten Amerikaner setzte sich auch der spätere Präsident Roosevelt ein.

287 Für die wachsende Industriegesellschaft in der amerikanischen radikal sich konzentrierenden Form waren die farmers Werkzeug und Opfer zugleich. Zum einen konnten die amerikanischen manufacturers nur wegen der von den farmers erzeugten Agrarüberschüsse überhaupt hinter hohen Schutzzöllen ihre Industrien aufbauen. Und farmers waren die Opfer, weil sie für die protegierten amerikanischen Waren die höheren Preise bezahlen mussten (Mills 1956: 15). 288 Entweder wurden die Eigentümer selber, oder die nächste Generation Lohnarbeiter. Das führte dazu, dass in den 1870er-Jahren nur noch ein Drittel sich als unabhängige old middle class bezeichnen konnte, während die Lohnarbeiter mehr als die Hälfte der Bevölkerung stellten, ohne auch nur die Aussicht auf unabhängiges Eigentum zu haben (Mills 1956: 63). Hatten zur Zeit des Bürgerkrieges nur eine Millionen Einwohner als fest angestellte Lohnarbeiter gearbeitet, waren es zu Beginn des Ersten Weltkriegs mehr als 7 Millionen, und weitere Millionen waren wöchentlich oder monatlich bezahlte Arbeiter (Whiteclay Chambers 1980: 22). Zwischen 1870 und 1940 wuchs die Anzahl der white-collar workers von 15 % auf 56 % (Mills 1956: 64). Aber die leisure class schaffte es, dass sie heute als neue Mittelschicht beschrieben wird, wie von Whiteclay Chambers, bei dem die neue Mittelklasse die alte Mittelklasse der Künstler, skilled workers, Ladenbesitzer und kleinen Fabrikanten verdrängte (1980: 26 f.). Viele Mitglieder dieser Mittelschicht waren Nachfahren der farmers, business men oder entrepreneurs. Und weil diese farmers, small business men, Ladengehilfen, die keine Chance mehr auf eine Übernahme des Geschäftes hatten, shop owners oder deren Kinder aus der Mittelschicht kamen, verloren die Männer (und Frauen) aus der lower class die Chancen zum Einstieg. Während in den ersten fünfzig Jahren des 19. Jahrhunderts viele Aufsteiger eine Chance hatten, d.h., noch ungefähr die Hälfte aus „lower-class origin“ kamen, waren es in der zweiten Hälfte nur noch ein Fünftel (Mills 1956: 7). Noch um 1930 waren unter den white-collar workers nur 3 % im Ausland geboren, während es bei den freien Unternehmern immerhin rund 16 % und unter den wage workers rund 21 % waren. White-collar

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Gerade weil die frontier 1891 für geschlossen erklärt wurde, weil Amerika jetzt als begrenzt erfahren wurde, konnte von Roosevelt das Bild einer nach innen und außen bedrohten amerikanischen Nation gezeichnet werden, die er tapfer verteidigte. Nach außen, wie im Spanisch-Amerikanischen Krieg, nach innen in den Innenstädten, in denen die Armen und Radikalen im Zaum gehalten werden mussten. Hier wollte er die amerikanische Zivilisation gegen die Massen armer süd- und osteuropäischer Einwanderer verteidigen. (Truninger 2010: 110).289

Die Diskussion darüber, wie die Einwanderer amerikanisiert werden konnten oder sollten (Truninger 2010) wurde auch über die Männerkleidung ausgetragen. Selbst der bekannteste Kritiker des melting pots, der amerikanische Philosph Horace M. Kallen, nahm die Anpassung der Einwanderer an den Kleidungsstil in Amerika für selbstverständlich (Kallen 1998 [1924]: 71). Wenn Whiteclay Chambers (1980: 77) schreibt, dass „the Americanization movement became an effort to get immigrants to change their culture – their religion, language, behavior, patterns of thought and action“, dann wurde das zwar diskutiert, setzte sich aber nie so radikal durch. Was die Einwanderer tatsächlich machen mussten, um als Amerikaner anerkannt zu werden, war mehr, als nur die amerikanische Bekleidung anzuziehen, aber auch weniger, als von Männern wie Roosevelt gewünscht. „Americanism as an act of choice“, so beschreibt es der englische Historiker Eric Hobsbawm: At all events it provided an internal enemy against whom the good American could assert his or her Americanism, not least by the punctilious performance of all the formal and informal rituals, the assertion of all the beliefs conventionally and institutionally established as characteristic of good Americans. (2002: 280).

workers kamen, außer in einigen isolierten Bereichen, nicht aus der Gruppe der AfricanAmericans (Mills 1956: 74, 248 f.). 289 Bis 1890 kamen die meisten dieser Migranten aus denselben Ländern wie vor dem Bürgerkrieg: Großbritannien, Irland, Deutschland, Skandinavien. Ab Mitte der 1880er-Jahre stieg die Zahl der Einwanderer aus Süd- und Osteuropa. Diese neuen Immigranten kamen aus Italien, Österreich-Ungarn, Russland, dem russischen Teil Polens, dem Balkan und Griechenland (Whiteclay Chambers 1980: 10). Vorher zogen die Migranten in viel größerer Zahl und schneller ins Landesinnere weiter, jetzt verstopfte der Flaschenhals von New York. Um 1900 hatte sich die Bevölkerung im Westen vervierfacht, erreichte 17 Millionen. Und die Zeit der frontier, dem Symbol für ökonomische Expansion und unbegrenzte Möglichkeiten, wurde 1891 offiziell für beendet erklärt (Whiteclay Chambers 1980: 7).

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Bei Hobsbawm konnten sich die Amerikaner bei allen formellen und informellen Ritualen als gute Amerikaner charakterisieren (Hobsbawm 2002: 280).290 Man darf aber nicht vergessen, dass das nicht nur für die Einwanderer galt: Bei den neu erschaffenen Ritualen konnte nicht nur, sondern musste ohne Unterschiede jeder mitmachen, d.h., auch die big business men oder die Männer der old order, wie Roosevelt, hätten sich dem kaum entziehen können. Gerade weil das Tragen von amerikanischen Anzügen seit der Einführung der flexiblen Massenproduktion über die verschiedenen Preiskategorien erfolgte, konnten alle mitmachen und für die old order, also die Männer, die nach dem Bürgerkrieg ihre Spitzenpositionen in der Gesellschaft verloren, wurde die Abgrenzung über die Männerkleidung schwierig. In der amerikanischen Gesellschaft fanden sich die Gentlemen of leisure in ihren konservativen business suits und eleganten dress coats unter den von Mills (1956) beschriebenen business men. Weil die Anerkennung über den opulenten Konsum und nicht den richtigen, d.h. prestigeträchtigen, Konsum von Wissen verlief, blieben trotz aller Bemühungen der old order, die ihre eigenen interests verfolgenden (erfolg-)reichsten big business men anerkannter als Gentlemen of leisure. Mochten diese den englischen Gentlemen auch am nächsten stehen, waren sie, weil ihnen die dazugehörige Macht und Akzeptanz fehlte, doch nur Quasi-Gentlemen. Das Prestigeträchtige an der neuen Männerbekleidung versuchten nun aber auch die neuen white-collar workers für eigene Privilegien zu nutzen, mit der sie Überlegenheit nicht gegenüber der leisure class oder den big business men, sondern den industrial workers (später auch blue-collar workers genannt) demonstrieren wollten. White-Collar Workers In Amerika tauchten die ersten Angestellten ab den 1820er-Jahren auf, in einer Zeit, in der die meisten Amerikaner noch selbstständige farmers, business men oder entrepreneurs waren oder sich auf dem Weg dahin wähnten. Hatten Ladengehilfen die Aussicht auf die Übernahme des Geschäftes und den Aufstieg zum small business men gehabt, war der Weg in die Selbstständigkeit für die neuen Angestellten nicht zu erwarten. Weil also die white-collar workers weniger ihren eigenen interests nach Profit nachgingen, wie die betriebsamen Bourgeois, fehlte ihnen die gesellschaftliche Akzeptanz. Und den Ausdruck white-collar gebrauchte 290 Auch das sind für Hobsbawm erfundene, eingeführte Traditionen (invented traditions), die die Migranten als Rituale akzeptieren mussten. Rituale, die aus aus der Geschichte der Nation kamen: der 4. Juli oder der Thanksgiving Day; und später wurden auch Rituale der Neueinwanderer aufgenommen: St. Patrick,s Day, Columbus Day und im Bildungssystem wurde der Schwur auf die amerikanische Flagge seit den 1880er-Jahren von den Schulkindern erwartet (Hobsbawm 1983: 279 f.).

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man Anfang des 19. Jahrhunderts als verächtlichen Ausdruck, denn in dieser Zeit wurden abknöpfbare Kragen für die Hemden entwickelt (Chenoune 1993: 92). Da die meisten Angestellten wenig verdienten und trotzdem gezwungen waren, saubere Kleidung und frische Hemden zu tragen, entwickelten sich die auswechselbaren Kragen schnell zu einem Verkaufsschlager.291 So konnte die Illusion frischer Hemden vermittelt werden, ohne sie jeden Tag wechseln zu müssen (Kidwell/Christman 1974: 49). Erst nach dem Bürgerkrieg veränderte sich das Ansehen der white-collar workers. Der Aufstieg in die Selbstständigkeit wurde für Alteingesessene und Einwanderer immer schwieriger; durch die zunehmende Industrialisierung wuchs die Zahl der industrial workers, die den Wechsel in andere Berufsfelder nicht schafften. Zwar stieg auch die Anzahl der Angestellten im Dienstleistungssektor, sie rekrutierten sich jedoch fast ausschließlich aus Alteingesessenen. Ab den 1870er-Jahren begannen die white-collar workers über die weißen Kragen und ihre bei der Arbeit getragenen suits gesellschaftliche Differenzen zu den industrial workers, das hieß zu den Neueinwanderern, herauszustellen. White-collar workers unterschieden sich von ihnen dadurch, dass sie keine Arbeits- oder Schutzkleidung und auch keine Uniform tragen mussten (Mills 1956: 241).292 Sie trugen auch während der Arbeitszeit lounge oder business suits, industrial workers dagegen hatten diese suits nur nach Feierabend oder an den freien Tagen, d.h. in ihrem Alltag, an (Mills 1956: 241). The stylization of their appearance, in particular the fact that most white-collar jobs have permitted the wearing of street clothes on the job, has also figured in their prestige claims, as have the skills required in most white-collar jobs. (Mills 1956: 74).

Dieses Prestige konnte auf Differenzen in der Bekleidung aufbauen, weil die suits, die Angestellte an ihren Arbeitsplätzen tragen mussten, denen ähnelten, in denen die Männer der old middle class vor dem Bürgerkrieg selbstständig gearbeitet hatten.

291 Diese Kragen wurden in einer eigenständigen Branche der Bekleidungsindustrie produziert (Kidwell/Christman 1974: 49). 292 Die Antipathie der Amerikaner gegen Uniformen war gegen alle Formen gerichtet, auch gegen die firmeneigenen Uniformen (Veblen 2001 [1899]: 61). „This antipathy asserts itself even in the case of the liveries or uniforms which some corporations prescribe as the distinctive dress of their employees. In this country the aversion even goes the length of discrediting – in a mild and uncertain way – those government employments, military and civil, which require the wearing of a livery or uniform.“ (Veblen 2001 [1899]: 61).

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The historic bases of the white-collar employees’ prestige, apart from superior income, have included the similarity of their place and type of work to those of the old middle-­ classes’ which has permitted them to borrow prestige. (Mills 1956: 73 f.).

Der betriebsame small business man „became the seedbed of middle-class ideal and aspiration and myth“ für die white-collar workers (Mills 1956: 6). Das war erfolgreich, weil Männer wie Roosevelt in konservativen business suits diese Abgrenzung gegen die Arbeiter unterstützten, indem sie sich als Verteidiger der middle class gegen die Einwanderer und damit gegen die industrial workers wandten. Schon Veblen hatte bemerkt, dass im nicht-industriellen Bereich begonnen wurde, sich über das Bekleidungsverhalten von den Arbeitern abzugrenzen. Die non-industrial workers unterschieden sich von den industrial workers, denn industrial bezeichnete alles, was die Nützlichmachung von nicht-menschlichen Dingen war, und nicht den Gebrauch von Menschen für Menschen (Veblen 2001 [1899]: 10). Die white-collar workers waren für Veblen als Dienstleister von der industriellen Arbeit ausgenommen und darum die leisure class, weil sie aus dieser Abwesenheit „the economic expression of their superior rank“ bezögen (Veblen 2001 [1899]: 1).293 Diese leisure class wolle Privilegien, die der amerikanischen Gesellschaft nicht entsprächen, weil sie nicht über den individuellen Erfolg, sondern über die class, d.h. über ihre (An-)Stellung in den Unternehmen, gegeben werden sollten (Veblen 2001 [1899]: 5). Veblen beschrieb sie als leisure class, weil ihre privilegierte Stellung, d.h. ihr besseres Ansehen, in den Augen der industrial workers über den Warenmarkt, d.h. über die conspicuous consumption, alleine nicht zu rechtfertigen war. Den amerikanischen Sozialisten Veblen ärgerte, dass das Prestige nicht auf dem gesellschaftlichem Nutzen ihrer Tätigkeit, sondern auf dem Konsum vermeintlich wertvoller Güter beruhte, mit denen sie ein höheres Prestige bekommen wollten, als ihnen nach den bürgerlichen Prinzipien über Eigentum und Wohlstand zugekommen wäre. Mit der Ausweitung des Dienstleistungssektor ab den 1870er-Jahren wurde die Ausdifferenzierung der white-collar workers in 293 Im Zuge der Arbeitsteilung sei es zur Unterscheidung der Industriearbeiter von den nicht-industriell Arbeitenden gekommen, wobei die ganze industrielle Arbeit aus dem erwachsen sei, was in primitiven Gesellschaften von Frauen gemacht worden sei (Veblen 2001 [1899]: 5). Die Unterscheidung von industrieller und nicht-industrieller Arbeit habe sich erhalten, auch wenn „what are recognised as the salient and decisive features of a class of acitivities or of a social class at one stage of culture will not retain the same relative importance for the purposes of classification at any subsequent stage.“ (Veblen 2001 [1899]: 9).

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unterschiedliche Lohngruppen stärker.294 Die Massenproduktionsindustrie kam den white-collar workers mit einer Konsumfülle entgegen, die dazu beitrug, dass die leisure class immer größer wurde, weil wiederum mehr Menschen im Dienstleistungssektor arbeiteten. Denn die flexiblen Massenproduktion von Gütern führte nicht, wie der Historiker Raeithel (2002: 111) schreibt, zu einer Minderung der Qualität. Mit der flexiblen Massenproduktion entstanden Warenhäuser für unterschiedliche Lohngruppen und da sich die white-collar workers das Prestige vom Arbeitsplatz liehen, gab es hier zunehmend große Unterschiede. Durch die unterschiedlichen Preisniveaus wurden jetzt die Differenzen innerhalb der Gruppe der white-collar workers stärker sichtbar. Sie waren einerseits als whitecollar workers angesehen und damit für Veblen eine class, andererseits zeigte sich für ihn am Bekleidungsverhalten, dass die Einzelnen sich unterschieden und viele nur vermeintlich wertvolle Güter konsumierten. Wie sehr das Prestige auf der Illusion des Besseren beruhte, zeigte sich etwa an den in den 1880er-Jahren eingeführten Kragen aus Papier und Zelluloid. Diese mussten von den auf den untersten Lohnstufen rangierenden white-collar workers gekauft werden. Wenn der französische Historiker Chenoune daher schreibt, dass ab den 1890er-Jahren den abnehmbaren Kragen abgeschworen wurde, dann ist das richtig, aber es trifft zumindest für die USA nicht zu, dass diese Kragen vorher das Vorrecht der upper class gewesen waren und es zur Demokratisierung der weißen Kragen als Zeichen sozialen Wohlstands gekommen sei (1993: 92). Besser verdienende white-collar workers trugen diese Papierkragen nicht; das war das Gegenteil von Demokratisierung.295 More than any other article of dress, the shirt and its attendant collar came to be associated with a man’s social status. The white shirt and collar, in the very nature of the laundry cost it presupposed, easily marked the man as one of some means. (Kidwell/ Christman 1974: 121).

294 Immer mehr white-collar workers arbeiteten in den anwachsenden Geschäftsbezirken in den Städten, in Warenhäusern, Banken, Anwaltskanzleien und Arztpraxen der professionals, in Bürogebäuden, Theatern, Restaurants, Hotels (Whiteclay Chambers 1980: 13). 295 Genauso wie mit der Massenproduktion von Hemden die preislichen Unterscheidungen an der Frontseite des Hemdes sichtbar wurden. In den 1880ern, schreibt Chenoune, wurden die schlichten weißen Hemden ausgetauscht gegen solche mit in sich genähten Mustern, um sie von den Ready-to-wear-Hemden zu unterscheiden. Je enger die Falten, desto eleganter, schreibt er weiter (1993: 95). Aber am wichtigsten war, je enger die Falten genäht waren, desto teurer das Hemd, weil je weiter die Nähte auseinander, desto einfacher zu nähen. Später wurden diese Hemden dann aber auch wieder gegen sportlich geschnittene, mit weichem Kragen ausgetauscht.

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Männer von einigem Ansehen waren die white-collar workers mit dem Papierkragen nur für die industrial workers. Die amerikanischen Historikerinnen Kidwell und Christman folgern daraus, dass gerade in der Ära des melting pot die Demokratisierung in der Männerkleidung weiter vorangeschritten sei, weil die Massenfabrikation sich derart perfektioniert habe, dass „from across the room a man,s $ 50 suit looked much like a $ 250 suit, and only an eagle eye could tell if the fashionable ‚little nothing dress‘ was custom or ready-made. (1974: 165, Herv. A. M.). Doch es kam auf diese Adleraugen an in der amerikanischen Gesellschaft, das machte ihre Differenz aus, und der Zeitgenosse Veblen erkannte die feinen Unterschiede: „a cheap coat makes a cheap man“ (2001 [1899]: 124). Das war die neue Entwicklung, an der die leisure class ihren Anteil hatte, und ein Grund dafür, warum die white-collar workers296, auch wenn viele in etwa genauso viel verdienten wie die industrial workers, mehr Geld für Kleidung ausgaben (Mills 1956: 241). Um sich von den Arbeitern abzugrenzen, reichte das aus. Jedoch war das Anrecht auf Prestige auf der Basis des Konsums, von Veblen als conspicuous consumption beschrieben, relativ und nach oben grenzenlos, der struggle for wealth, den die big business men öffentlich vorlebten. Da unter den white-collar workers der Konsum durch das meist niedrige Einkommen limitiert war, konnten sich diese den Status von den „higher elements“ oft nur leihen (Mills 1956: 243) und die Illusion eines frischen Hemdes wurde zur Illusion von Prestige.297

296 Der amerikanische Soziologe Mills nennt vor allem die „girls“ und die Frauen, die Männer betraf das genauso, außerdem kommt der Ausdruck vom Kragen am Männerhemd, nicht von dem an einer Damenbluse (1956: 241). „To mass production and mass distribution had been added mass fashion information. No one in this wide land need ever suffer for want knowledge of ‚what they are wearing.‘ [...] The image of the fashionable male was kept in constant view as men,s brand name clothing was advertised nationally. However, because the status of a woman, far more than the status of a man, was determined by clothes, the story of fashion promotion is overwhelmingly the story of the female side of things. Fashion, someone once said, is the great equalizer of women.“ (Kidwell/Christman 1974: 177). Wer das einst gesagt hatte, war René König, aber wie unwahr die Aussage ist, dass der Status von Frauen mehr über die Kleidung bestimmt war als der von Männern, hat sich wohl im Laufe dieser Arbeit gezeigt. 297 Das heißt, sie konnten nicht so konsumieren wie die besser Verdienenden der old order, nur so tun als ob, als Quasi-Gentlemen. Diese white-collar workers ahmten das Verhalten der Oberschicht nach, weshalb sie Veblen auch als stellvertretende, vicarious leisure class bezeichnete, deren Funktion vor allem darin bestehe, den Status der leisure class im engeren Sinne zu steigern (Truninger 2010: 104 f.).

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Weil ein billiger Mantel jetzt einen billigen Mann machte, hing die gesellschaftliche Akzeptanz innerhalb der leisure class jetzt vom Kauf der richtigen Kleidung ab.298 So war 1851 als Tipp in einem Journal zu lesen: Go to the hotel [...] in a homespun coat, in cowhide boots [...] and they will thrust you into the garrett [...] But open your trunk, put on your broadcloth, and don’t forget your straps, and they will say give the stranger, it may be a parlour, for he is a gentleman.“ (kursiv i. O., zit. n. Zakim 2003:).

Der relative Erfolg durch den Vergleich mit den Anderen sei zur Konvention geworden (Veblen 2001 [1899]: 26), der struggle for wealth finde auch hier statt. Die Nachbarn verglichen sich ständig und die damit verbundene chronische Unbefriedigtheit bringe die Leute dazu, mehr und mehr zu verdienen (Veblen 2001 [1899]: 25). Die unterschiedlichen Preiskategorien ließen es zu, dass ein etwas teurerer Anzug, ein um ein wenig besseres Hemd, ein neuer weißer Kragen gekauft werden konnten, Anschaffungen, die immer noch billiger als andere waren, und schnelle Erfolgserlebnisse erzeugten. Die großen Warenhäuser boten sich dafür vorteilhaft an, da hier die fertigen Anzüge auf den Kleiderständern hingen. Bei Hart, Schaffner & Marx, einer Chicagoer Fabrik, die 1910 rund 6000 Arbeiter beschäftigte (Kidwell/Christman 1974: 97), wurden als Vorteile der Ready-to-wear-Bekleidung nicht nur der Preis genannt, sondern auch die Zeitersparnis. „Moreover, [...] ‚You can see at the start exactly how the suit looks on you‘.“ (Kidwell/Christman 1974: 113). Kaufen und gleich mitnehmen, das waren die männlichen Kunden schon gewohnt, jetzt gab es das allerdings in unvergleichbar riesigen Ausmaßen, mit einem Angebot, größer als je zuvor. Wer in den großen Warenhäusern einkaufte, der erlebte, dass alle Kunden gleich behandelt wurden.

298 Wenn über die gute Kleidung auf den Charakter geschlossen wurde, dann folgerte man unweigerlich, dass Einwanderer einen schlechten Charakter hätten, da sie die Ärmsten waren und die billigste Kleidung tragen mussten. „When the ‚race peril‘ literature was popular, the textbook myth about the lowly character of newer immigrants was also widespread“ (Mills 1956: 248). Auch Kallen hatte sich darüber geärgert, dass „stuff and form“ der Amerikaner nicht mehr von Außenstehenden, sondern von verängstigten Mitbewohnern begutachtet wurden (Kallen 1998 [1924]: 16). Aufgrund von Privilegien und ihrer gesellschaftlichen Position sehe die „‚upper‘ class“, Kallen setzte das in Anführungszeichen, sich als überlegen, und das solle im Charakter fixiert werden. Sie sagten von sich, sie seien intelligenter, nun soll ihr Privileg nicht nur durch einen „institutional accident“, also Zufall, sondern durch Bildung und Leistung erreicht worden sein (Kallen 1998 [1924]: 17 ff.).

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Sureley the privilege to shop in such palaces made all who participated feel important of free local delivery and all were given the special promise, ‚Satisfaction guaranteed or your money back.‘ Everyone could be assured that he was being treated equally with the one-price policy being generally adopted by the large department stores. With hundreds of salespeople manning these public palaces, it was no longer feasible to trust bargaining to the individual salesman. (Kidwell/Christman 1974: 159).

Das mag eine Verbesserung für die meisten Kunden gewesen sein, allerdings wurden sie damit für die Verkäufer austauschbar (auch wenn genau das nicht spürbar werden durfte). Veblen hatte schon geschrieben, dass servants nach dem bewertet werden, was sie servieren (Veblen 2001 [1899]: 53) und sich selber auch so bewerten. Aber je größer die Warenhäuser wurden und je mehr sich die Geschäfte nach Preisen für das Sortiment ausdifferenzierten, desto weniger funktionierte die Übernahme des Prestiges der Kunden (Mills 1956: 173). Auch rückten die white-collar workers, durch die Arbeitsteilung bedingt, immer weiter von einem persönlichen Dienstherren ab (Veblen 2001 [1899]: 54). Für die Kunden wurden aber auch die Verkäufer auswechselbar, wer die Dienstleistung erledigte, wurde mit zunehmender Anzahl an white-collar workers unwichtiger.299 Viele white-collar workers, die weder für die Kunden noch für die Arbeitgeber als Personen interessant waren, fühlten sich machtlos und hatten Depressionen (Mills 1956: 173). 299 Einerseits wurde das Einkaufen in den Innenstädten zentralisiert, andererseits schritt die Dezentralisierung mit der Katalogbestellung durch den Ausbau der Post sowie der Eisenbahnen fort (Kidwell/Christman 1974: 163). Die großen national werbenden Unternehmen setzten nicht zuletzt mit Marken die Einzelhändler (retailer) unter Druck. Die Marke bekam besonders für diese Katalogversandhäuser eine wichtige Bedeutung, weil darüber Vertrautheit hergestellt werden konnte. Noch einmal aus dem 1. Teil, Kapitel 1: The Brand stand für eine Garantie der Qualität, um Kundenloyalität zu erzeugen (Farnie 2004: 35). Wie Sombart betonte, konnten erst durch Einheitlichkeit der Waren, Warenmuster hergestellt werden, da erst jetzt garantiert werden konnte, dass auch wirklich die Waren produziert wurden, die die Muster angaben (1913: 205). Die Moral kam erst mit dem Wettbewerb, gerade weil man sich als Fremde begegnete und nicht unter Freunden oder Vertrauten handelte. Darum wurden der Verkauf und die Distribution wichtig, es konnten Bedürfnisse geweckt, die Betriebsamkeit erhöht werden. Die Katalogbestellung war für viele Käufer eine Umgewöhnung, die der big business man Montgomery Ward bei den frühen Katalogen zu lösen versuchte, indem er Bilder von der Geschäftsleitung, den white-collar workers sowie Szenen des Versandhausgeschäftes hineinnahm. „This illustration shows bill clerks, examiners, sorters, and packers – all working with the utmost efficiency.“ (Kidwell/Christman 1974: 161). Damit sollte das Vertrauen hergestellt werden, von jemandem zu kaufen, der einem fremd war, und etwas zu kaufen, das man nicht direkt sehen, anfassen, anprobieren konnte.

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Obwohl sich also die beruflichen Positionen der white-collar workers immer weiter ausdifferenzierten und die Mitglieder der leisure class damit größtenteils weder, wie es heute im New Oxford American Dictionary (McKean 2005) definiert wird, besonders wohlhabend waren, noch leisure hatten, versuchten sie ihr Prestige auch über die Bekleidung weiterhin aufrechtzuerhalten. Das taten die Männer, die sich anfangs nur über die business suits und weißen Kragen im Berufsleben distanziert hatten, indem sie anfingen, sich über den Konsum von sportlicher Freizeitkleidung von den industrial workers abzugrenzen. Als Folge davon begannen sich diese Männer im Bekleidungsverhalten auch von den konservativen business suit Trägern der old order immer weiter zu entfernen. Zum Ende des Jahrhunderts hin wurden sportliche Aktivitäten immer wichtiger. Wer Zeit und Geld hatte, der interessierte sich für Sportarten wie Golf, die aus den Countryclubs, auch über die Presse bekannt geworden waren ( JeffreyJones 1977: 246). Auch Jagen wurde nun zu einem Sport „for any genuine man who feels he must go out in the open air.“ (Kidwell/Christman 1974: 118) und ab den 1890er-Jahren Tennis: the preferred costume was white flannel worn with striped blazers. White remained the traditional color for tennis clothing, it has been suggested, because the hard-to-maintain color reflected tennis’s early position as a status sport. (Kidwell/Christman 1974: 118).

Für alle sportlichen Aktivitäten gab es immer die jeweils passende Kleidung zu kaufen (Kidwell/Christman 1974: 118 f.). Aber auch wenn die Anzahl der Sporttreibenden sehr schnell anstieg, waren für viele white-collar workers diese sportlichen Aktivitäten vor der Jahrhundertwende noch nicht erreichbar. Es kostete Geld, die Freizeit gut auszufüllen (Mills 1956: 256) und viele Männer hatten weder Zeit noch Geld, um zu Golfen, Tennis zu spielen, Fahrrad zu fahren oder den Baseball zu schlagen. Was für alle Männer in den USA im späten 19. Jahrhundert an Bedeutung gewann, das waren die Zuschauersportarten, die nicht auf eigene körperliche Ertüchtigung angelegt waren, sondern auf Aufregung und Spannung zur Unterhaltung ( Jeffrey-Jones 1977: 245).300 Neben Baseball, der als Zuschauersport zur amerikanischen Institution wurde (Whiteclay Chambers 1980: 94), wurden auch Footballspiele immer populärer. Doch obwohl die Zuschauer keine sportliche Kleidung tragen mussten und die eigene Freizeit für sportliche Aktivitäten eher beschränkt war, wuchs die 300 Ein Besucher aus England schrieb 1905, dass mit Ausnahme der Präsidentschaftswahl, das öffentliche Interesse an Baseball und Football größer als alles andere sei (Whiteclay Chambers 1980: 95).

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Sportbekleidungsindustrie gewaltig an. Ab den 1890er-Jahren stand eine immer größere Auswahl an sportlicher Kleidung zur Verfügung.301 Bunte Hemden etwa, schreiben Kidwell und Christman, die als nicht akzeptabel gegolten und zur „blue-collar world“ gehört hatten, waren in den 1890er-Jahren mit weichem Kragen und einer großen Auswahl an Mustern für eigene sportliche Aktivitäten akzeptiert: „boating, tennis, cycling, and outings“ (1974: 121).302 Und die neue Sportkleidung wurde von Modekommentatoren gelobt: „In the 1890s colored shirts were approved for summer wear – many of them, said one fashion commentary, ‚loud enough to wake the dead but they will doubtless be very stylish and that’s an important consideration.‘“ (Kidwell/Christman 1974: 123). Stylische Hemden brauchte die leisure class nicht zum „Sporten“ (Kracauer 1990: 64) an sich, sondern diese legere, lockere und zwanglose (casual) Männerkleidung diente anderen Zwecken. Obwohl von industrieller Arbeit ausgenommen, waren die Angestellten im Alltag nicht von industrial workers zu unterscheiden. Darum musste die leisure class im Alltag die Illusion von leisure erzeugen: Freizeit. Da für den Erfolg der neuen Mittelschichten der soziale Habitus entscheidend sei, nicht die Nützlichkeit des Produkts ihrer Arbeit, imitierten sie in ihrer Freizeit das Verhalten der Oberschicht, um den Schein höheren sozialen Status zu erwecken (Truninger 2010: 105).

Wenn Veblen schrieb, dass die Kleidung der leisure class soweit als möglich weg sein müsse von industrieller Arbeit, was lag dann näher, als die neue Sportbewegung aufzugreifen. Auch white-collar workers mit wenig Geld oder Freizeit imitierten die Sportaktivitäten der Reichen. Weil sich der Dienstleistungssektor ausdifferenzierte und damit die Preise der Waren, wurden nicht nur die sportlichen Aktivitäten der Reichen, wie Golfen oder Tennis, in der Mittelschicht 301 Es wurde in den 1890er-Jahren üblich, für Sportkleidung zu werben, so wie Jordan Marsh 1894 mit einer speziellen Abteilung oder die Bill Brothers im selben Jahr: „‚We have at all times in stock a large and varied assortment of tennis and outing suits, skeleton coats and vests, flannel trousers, summer suits, yachting suits, white duck trousers, bicycle suits, overcoats and double breasted suits‘.“ Das Interesse an Fahrrädern führte dazu, dass eine der größten Bekleidungsmanufakturen Amerikas 1897 begann, nur noch Fahrradbekleidung herzustellen. Werbung dafür wurde auch von anderen gemacht: „In these days of almost universal wheeling no man,s or boy,s wardrobe is complete without a bicycle suit.“ (Kidwell/Christman 1974: 118 f.). 302 Sportliche Hosen gab es in einer unglaublichen Vielfalt – eine Firma warb mit 800 verschiedenen Stilen für die sportliche Frühlings- und Sommersaison: weiße Flanellhosen für den Sommersport, Knickers fürs Golfen oder Fahrradfahren und Schwimmhosen, die Männer mit einem T-Shirt trugen (Kidwell/Christman 1974: 118 f.).

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gespielt, sondern vor allem auch die Kleidung angezogen, ob nun tatsächlich Sport getrieben wurde oder nicht. Während die Männer der old order sich betont konservativ kleideten, um sich den Anschein seriöser Geschäftsmänner zu geben, bekam die legere Freizeitkleidung bei den white-collar workers einen hohen Stellenwert, denn es war einfacher, den Schein von leisure auszudrücken, als sich ihm tatsächlich zu widmen. Da auch die industrial workers im Alltag den lounge suit trugen, begannen white-collar workers in ihrem Alltag Kleidung mit einem sportlichen Anstrich zu tragen, womit sie sich zum einen demon­ strativ von den Arbeitern unterscheiden konnten. Zum anderen konnten sie sich über die sportliche Kleidung auch des Anzugzwangs bei der unpersönlichen, austauschbaren, unbefriedigenden Arbeit im Dienstleistungsgewerbe entledigen. Denn die Alltagskleidung der leisure class sollte nicht nur weit entfernt sein von der industriellen Arbeit, sie begann auch von ihrer eigenen städtischen Berufswelt wegzuführen. Dafür griffen die Männer gerne auf das zeitsparende Angebot von Ready-to-wear-Bekleidung in den Warenhäusern zurück. Gerade über den Wechsel vom business suit während der Arbeitszeit zum modischen Sporthemd im Alltag versuchten sie sich etwas mehr Prestige, einen höheren Status zu verschaffen (Mills 1956: 257). Die seit den 1820er-Jahren bestehende Unterscheidung der Kleidung, die ab den 1870er-Jahren als prestigeträchtige Besonderheit hervorgehoben wurde, wurde damit aber auch zum Zwang und zur Belastung, weil die Betonung der differenten Männerkleidung von der Industrie aufgegriffen wurde – oder ihr zuspielte. Die von den manufacturers gebrauchten Strategien der Markenbildung und der aggressiven Werbung, die weiterentwickelt worden waren, um die großen Warenhaus- und Versandhausketten zu zwingen, ihnen die Waren abzunehmen, funktionierten, weil die Käufer darauf reagierten. Je weniger die Leute mit einem Aufstieg rechnen konnten, desto mehr Werbung gab es für ein erfolgreiches Leben, und je mehr der Einzelne austauschbar wurde, desto austauschbarer auch seine Kleidung. Dafür bot sich der ständige Wechsel an. Schon Veblen hatte geschrieben, dass die Mode umso schneller wechseln müsse, je stärker die „wealthy classes“ in einer Gemeinschaft anwachsen. Gerade sie müssen demonstrieren, dass sie beim ständig wechselnden und darum kostspieligeren Konsum mithalten können (2001 [1899]: 131).303 Und Mills dazu: 303 Aber Kleidung muss nicht nur demonstrativ teuer und unbequem sein, sie muss auch „up to date“ sein. Die Mode wechselt von Saison zu Saison, was auch als demonstrative Verschwendung angesehen werden kann. Das würde aber noch nicht erklären, warum man einen vorherrschenden Stil wechselt und warum das mit einer solchen Konformität passiert (Veblen 2001 [1899]: 127). Man könnte von Bequemlichkeit ausgehen, davon, dass irgendwann eine Kleidung gefunden wird, die dem menschlichen Körper am besten

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the Big Bazaar has democratized the idea of fashion to all orders of commodities and for all classes of worshipers. Fashion means faster turnover, because if you worship the new, you will be ashamed of the old. (Mills 1956: 168).

Vielleicht wurde, wie Mills schreibt, die Idee von Mode demokratisiert, aber nur als Schein insofern „the wealthy leisure class has grown so large, or the contact of the leisure-class individual with members of his own class has grown so wide,“, so Veblen (2001 [1899]: 137). Dadurch konnte es so aussehen, als wäre allen eine demokratische Teilhabe ermöglicht. Aber, so Veblen kritisch, gerade weil diese Gesellschaftsgruppe groß geworden war, sei es zur Verfeinerung der Bekleidungsvorschriften gekommen. Die frühen und groben Methoden der Werbung hätten viele Leute ansprechen müssen, die nicht darauf trainiert gewesen seien, die kleinen Variationen in den Anzeichen von Wohlstand und leisure zu sehen. Mit steigendem Wohlstand werden die Möglichkeiten zur feinen Unterscheidung größer, auch über die Werbemittel (Veblen 2001 [1899]: 137). Die gesellschaftliche Anerkennung durch conspicuous consumption hing immer mehr vom Wissen um die modischen Feinheiten ab, das war die eigentliche leisure der leisure class. Ihr Wissen um unnütze Dinge war selber nur noch der oberflächliche Schein, weil die Produktionsweise, das Wissen um die Herstellung, die Materialfragen etc. bei der conspicuous consumption immer weniger eine Rolle spielten. Während sich die Ladengehilfen mit der Aussicht auf eine eigene Selbstständigkeit dieses Wissen noch hatten aneignen müssen, brauchten die neuen Verkäufer die für die Waren angesetzten Preise nicht mehr selbst zu bestimmen. Die am besten verdienenden white-collar workers gaben vor, was modern war. „And as this upper leisure class sets the pace in all matters of decency, the result for the rest of society also is a gradual amelioration of the scheme of dress.“ (Veblen 2001 [1899]: 137). Weil das nicht mehr die betont konservativ gekleideten Männer der old order waren, orientierten sich die Werbebranche und die Presse zum Ende des Jahrhunderts um.

passt. Veblen schrieb aber zutreffend, dass es darum nicht ginge. Die Leute wollten zwar grundsätzlich nichts verschwenden, aber wenn die Menschen in ihrem Umfeld anders aussehen, möchten sie das auch.

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The deciders and originators in matter of the highest fashion and style of life have definitely passed from the old families of Boston, Philadelphia, Baltimore, and Newport to the stars of Hollywood and Radio City. [...] The society reporters of all the eastern cities combined cannot compete with the several hundred journalists who cover Hollywood. (Mills 1956: 253).304

Hollywoods männliche Akteure mussten, im Gegensatz zu den Schauspielerinnen, ihre eigene Kleidung mitbringen, daher waren sie als Vorbilder für die Alltagskleidung der Männer interessant (Chenoune 1993: 186). Dazu kam, dass mit dem Kino von Anfang an ein Massenpublikum verbunden war.305 Daher bildeten auch die Massen von Zuschauern für die Bekleidungsbranche ein wichtiges Ziel ihrer Werbung. Der erste längere Kinofilm The Great Train Robbery (1913) war ein Western, in dem Zugräuber ihre Strafe erhielten, weil der brave Bahnangestellte sich rechtzeitig aus seinen Fesseln befreien konnte. Das war Kino für die white-collar workers, die kleinen Ladenmädchen genauso wie für die gefesselten white-collar workers, die, an Illusionen im Arbeits- und Alltagsleben gewöhnt, mit dem Helden fühlen konnten.306 Die Idole der white-collar workers wurden zu wichtigen Werbeträgern. Während die Filmstudios in den sonnigen Westen zogen, blieb die herrschende Klasse in New York und an der Ostküste. Die meisten Einwohner Amerikas hatten Ende des 19. Jahrhunderts keine Chance auf betriebsames Profitvermehren, um über den Wohlstand die Anerkennung in der Gesellschaft zu erlangen. Sie versuchten ihre Hoffnungen auf Hollywood und den Sport zu legen, die Sphären in denen über den individuellen Erfolg der Reichtum möglich war. In Hollywood wurde fortgeführt, was die big business men vorgemacht hatten, das öffentliche Zurschaustellen, um im öffentlichen Wettkampf zu bestehen. Während in Newport und auf der Fifth Avenue in New York Reichtum unabdingbar

304 Sie bedienten sich dafür aber auch gerne der Vorbilder aus Europa. Zur Rolle der Presse bei der Übermittlung von neuesten Trends vgl. de Marly (1985: 116). 305 Bei den Filmwerken ist die technische Reproduzierbarkeit des Produkts nicht wie z. B. bei den Werken der Literatur oder der Malerei eine von außen her sich einfindende Bedingung ihrer massenweisen Verbreitung. „Die technische Reproduzierbarkeit der Filmwerke ist unmittelbar in der Technik ihrer Produktion begründet. Diese ermöglicht nicht nur auf die unmittelbarste Art die massenweise Verbreitung der Filmwerke, sie erzwingt sie vielmehr geradezu.“ Sie erzwingt sie, weil die Produktion eines Films so teuer ist, dass ein Einzelner sich den Film nicht mehr leisten könnte (Benjamin 1977: 17). 306 Wie es in einem frühen Jingle ausgedrückt wurde: „If you,re tired of life, go to the picture show. You,ll forget your unpaid bills, rheumatism and other ills, If you,ll stow away your pills, and go to the picture show.“ (Whiteclay Chambers 1980: 96).

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Abbildung 24: Moviestar Rodolfo Valentino, der 1913 in die USA einwanderte.

war, um zur Elite zu gehören, war es in Hollywood nötig, öffentliche Aufmerksamkeit zu haben, um Wohlstand zu erreichen (Mills 1956: 253). Da erstaunt es nicht, dass Leo Löwenthal schrieb, die Idole der Arbeit seien zu Idolen der Freizeit geworden, weil die Biografien über manufacturers, pro­ fessionals, Politiker, big business men jetzt von solchen über Männer aus der Unterhaltungsbranche, wie den Moviestars, und aus dem Sportbereich, von Baseballspielern, verdrängt wurden (Löwenthal 1944: 507 ff., vgl. Mills 1956: 237). Was Männer wie Rodolfo Valentino trugen (siehe dazu Abbildung 24), konnte in billigeren Versionen nachgekauft werden. So war der richtige, d.h. übermäßige und teure, Konsum zum Schlüssel der gesellschaftlichen Akzeptanz geworden. Während die big business men über conspicuous consumption, d.h. über den Preis bestimmt, bourgeoise Tradition, d.h. das Absehen von Religion und Herkunft, fortführten, versuchten sich die white-collar workers dieser Tradition zu entziehen. Aber da sie als leisure class das Prestige und die Privilegien aus der Vergangenheit beschworen, konnten sie die von ihren Vorfahren, den small business men, so hochgehaltene, auf die

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eigenen interests bedachte Profitmehrung nicht einfach ignorieren. Darum wurden die vermeintlich selbstständigen Individualisten, wie der Cowboy, zum Ideal. Theodore Roosevelt und seine Rough Riders, bekannt geworden mit dem Cowboy-Image, beriefen sich, gleich nach der Verkündung des Endes der frontier, sehr erfolgreich auf eine wilde, männliche Pionierzeit.307 Das hieß, auch die leisure class musste den monetären Erfolg noch zum Maßstab nehmen und anerkennen. Und das wiederum bedeutete, dass jeder, der diesen Erfolg hatte, akzeptiert wurde. Immer noch nannten sich alle Gentlemen, aber sie waren QuasiGentlemen, denn in der amerikanischen Gesellschaft konnte eine Grenze zum deutlichen Ausschluss der anderen Gesellschaftsgruppen nicht gezogen werden. White-collar workers versuchten sich von der mit der Massenproduktion verbundenen Standardisierung abzugrenzen, um nicht selber als austauschbar zu gelten. Aber sie mussten als Alteingesessene, durch das Bestehen auf den durch die Diskussion um die Erfüllung des melting pots eingeführten Ritualen, die Einwanderer, also die industrial workers, in ihre traditionellen auf den Vorfahren beruhenden Denk- und Verhaltensmuster einbinden. Aber da sich die Massenproduktion von der Maxime des ‚immer besser und immer billiger‘ zum illusionären Besser-und-darum-Teurer, also zur flexiblen Massenproduktion verändert hatte, war es nicht mehr möglich, sich deutlich über den Konsum abzugrenzen. Es gelang den white-collar workers nicht, über das Prestige des Berufsstands eine class zu sein. Die weiter ins Land kommenden Einwanderer erkannten die Rituale und Traditionen der leisure class an, aber sie vertrauten auch dem Mythos vom aufgestiegenen selfmade millionaire. Damit blieb auch der utopische Gehalt des Strebens nach Glück und Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft, mit dem Motto des E pluribus unum, bestehen. E pluribus unum Die Einwanderer kamen auch nach 1870 weiterhin vielfältig gekleidet in den USA an (siehe dazu Abbildung 25), doch sehr bald nach ihrer Ankunft änderte sich das, weswegen schon der amerkanische Philosoph Horace Kallen, der in der Bekleidung die Gleichmacherei nicht ablehnte, beobachtet hatte, dass hier die „Americanization“ gelang (1998 [1924]: 71). Wie sich ein Einwanderer erinnerte: „Wir mußten in amerikanische Läden gehen und uns von Kopf bis Fuß einkleiden lassen.“ (Burchell 1977: 215). Das 307 Darum wurden neben der Sportkleidung auch Jeans bei Städtern beliebter, die anfangs auf den ab Ende des 19. Jahrhunderts sehr erfolgreich betriebenen „dude ranches“ (Touristenranches) getragen wurden (Perl 1990: 46).

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Abbildung 25: Einwanderer, vor der Ankunft auf Ellis Island, New York.

bedeutete für die Männer, sich einen ready-to-wear-suit zu kaufen. Die meisten der mit der zweiten großen Einwanderungswelle ins Land kommenden Männer gingen in die großen Unternehmen, in denen es Angebote für industrial workers gab, die englische Sprache und die „American form of dress, behavior, and ideals“ zu lernen (Whiteclay Chambers 1980: 77). In Henry Fords Unternehmen, dessen Geschäftsmodell bis 1927 für die konsequente Standardisierung der Massenproduktion, d.h. gegen die Ausdifferenzierung nach Preisklassen, nur nach dem Motto ‚immer billiger und immer besser‘ – und damit für die Melting-pot-Idee stand, wurde diese Ausbildung mit einem richtigen Initiationsritus verbunden. Wer von den industrial workers die Ford English School erfolgreich absolviert hatte, der bekam sein Diplom nicht einfach überreicht, sondern die Graduierten wurden in einer aufwändigen Zeremonie vor mehr als 2000 Zuschauern im riesigen Schmelztiegel zum Amerikaner getauft. Dressed in a foreign costume and carrying his cherished possessions wrapped in a bundle suspended from the cane, he gazed about with a look of bewilderment and then slowly descended the ladder into the ‚Melting Pot‘, holding aloft a sign indicating the country from which he had come. (aus Outlook 44, 1916, 197, zit. n. Sollors 1987: 90).

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Abbildung 26: Gruppenbild mit Arbeitern der Ford Werke beim Melting Pot Ritual, 1916.

In einer Reihe schritten die Männer, jeweils Schilder mit der Aufschrift: Syrien, Griechenland, Italien, Österreich oder Indien hochhaltend und in fantasievolle, angeblich landestypische Kostüme gekleidet, zu den am Schmelztiegel angelehnten Leitern, um gemeinsam darin zu verschwinden, unterzutauchen (siehe dazu Abbildung 26). „From it they emerged dressed in American clothes, faces eager with the stimulus of the new opportunities and responsibilities opening out before them. Every man carried a small American flag in his hand.“ (aus Outlook 44, 1916, 197, zit. n. Sollers 1987: 90). Vom amerikanischen Historiker Burchell wird diese Anerkennung von amerikanischer Uniformierung im Anzug als Anpassung in der amerikanischen Gesellschaft negativ bewertet: „Viele paßten sich zwar in der Kleidung den übrigen Amerikanern an, weil sie sonst zu sehr aufgefallen wären, aber weiter gingen sie im allgemeinen nicht.“ (1977: 210). Kallen dagegen, der sich ansonsten gegen die Forderung nach Verschmelzung und Uniformierung stellte, hatte diese Adaptation in der Kleidung keine Mühe bereitet (1998 [1924]: 71). Und auch Kidwell und Christman argumentieren mit der demokratischen Teilhabe: „The newly arrived immigrants were quick to purchase ready-made suits which transformed them instantaneously from ‚greenhorn‘ to ‚one who belonged‘.“ (Kidwell/Christman 1974: 115). Was dafür sprach, waren Aufstiegserfahrungen der amerikanischen industrial workers, die sich auch im Kauf- und Bekleidungsverhalten ausdrückten. Mit jedem Arbeitsplatz- oder Branchenwechsel, durch Lohnerhöhungen oder bessere

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Sozialleistungen konnten die Ausgaben für die Kleidung steigen: from-rags-toriches. Durch die flexible Massenproduktion war der Konsum in jeder Preisklasse möglich, jeder neue Anzug war eine Verbesserung, jeder teurere Anzug ein Aufstieg. Aber die Einwanderer mussten sich beim Aufstieg immer mehr auf die Arbeit als industrial workers beschränken. Die abnehmenden Möglichkeiten des Erwerbs einer Farm oder eines eigenen Geschäfts, oder von anderem Eigentum, die zunehmende Industrialisierung und die damit verbundenen Veränderungen von landwirtschaftlicher zu schwerer Industriearbeit, wurden von den Einwanderern unterschiedlich aufgenommen. Many accepted factory conditions because of the high wages, which generally exceeded those in rural areas of the United States and Europe. Although prices dropped in the last third of the nineteenth century, wages increased as a result of economic growth. Another incentive was the prospect of upward social mobility. Although it was seldom experienced, the ‚rags-to-riches‘ myth celebrated in American folklore [...] People pointed to Andrew Carnegie, who rose from immigrant factory worker to steel magnate and multimillionaire. (Whiteclay Chambers 1980: 23).

Carnegie, der mit 13 Jahren aus Schottland eingewandert war und sein erstes Geld als Hilfsarbeiter in einer Textilfabrik verdient haben soll (Heideking/ Mauch 2007: 173), war eine Ausnahme. Doch es wurden auch andere Immigranten bekannt, die ihren Aufstieg erfolgreich bewältigten.308 „In America, a Warsaw tailor became a dressmaker; a Pinsk peddler flourished as a storekeeper; a talmudic scholar from Vienna became a leading lawyer. [...] Unskilled workers moved into semiskilled positions, and their children often moved on to skilled jobs.“ (Whiteclay Chambers 1980: 23). Der Sohn eines Tagelöhners konnte Fabrikarbeiter werden und dessen Sohn wiederum Maschinist. Man durfte die kleinen Aufstiege nicht zu hoch bewerten: Wir finden diese verschwundenen ungelernten Arbeiter wohl zum größten Teil unter den angelernten Arbeitern (‚semi-skilled‘) wieder, deren Zahl sich von 1910 bis 1940 mehr als verdoppelt hat. Wenngleich es sich bei diesem Prozeß um ein Aufsteigen in eine höher qualifizierte und entlohnte Tätigkeit handelt, soll man die Bedeutung dieses ‚upgrading‘

308 Nicht selten auf Kosten der wiederum neu einwandernden Migranten. „Giuseppe Tuoti opened a real estate office in Manhattan in 1885, and his business prospered as Italian immigrants saved their earnings and bought stores and tenements.“ Als Tuoti sich aus dem Berufsleben verabschiedete, hatte er Millionen gemacht (Whiteclay Chambers, 1980: 23).

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nicht überschätzen. Die Zeitdauer des Anlernens beträgt in der Fließbandproduktion bei etwa 60 % der Angelernten 3 Tage, mit dem Ergebnis, daß ‚sie nach wenigen Wochen ebensoviel leisten wie die geschultesten unter ihren Kameraden‘. (Pollock 1956: 115).

Für die meisten Einwanderer waren es nur kleine Aufstiege, aber davon gab es viele. Während in Zeiten von Kriegen und Depressionen die Prosperität jeweils zurückging, kam es doch auf Dauer und im Durchschnitt zur Hebung des Lebensstandards in den Vereinigten Staaten. Entscheidend war, in welcher Region der einzelne lebte und welchen Beruf er hatte (Killick 1977: 178 f.). In manchen Städten konnte in den 1880er-Jahren von fünf Männern, dort geboren oder eingewandert, einer vom blue- zum white-collar worker aufsteigen (Whiteclay Chambers 1980: 23). Doch in der Progressive Era vertiefte sich die Kluft zwischen Arm und Reich. Die wohlhabendsten 10 % der Bevölkerung gewannen 34 bis 38 % der Gesamteinkommen zwischen 1910 und 1920, während der Anteil der Ärmsten 60 % der Amerikaner von 35 auf 30 % fiel (Whiteclay Chambers 1980: 245).309 Während in den 1880ern die Europäer auf die Auswirkungen der verstärkten Industrialisierung reagierten, indem sie Wohlfahrtsstaaten zu bilden begannen (Whiteclay Chambers 1980: 234) und Sozialversicherungsgesetze einführten, um dem ärmsten Teil der Arbeiterklasse ein Existenzminimum zu garantieren, waren in den Vereinigten Staaten der Verarmung in bestimmten Regionen und Berufszweigen nach unten keine Grenzen gesetzt ( Jeffrey-Jones 1977: 235). Industrialisierung in den USA garantierte nicht mehr jedem einen Arbeitsplatz. Der amerikanische Soziologe Robert Hunter schrieb in seinem Buch Poverty (1904), dass in den USA 6 Millionen Menschen oder ein Fünftel der Bevölkerung in bitterster Armut lebten; einer von zehn Bewohnern New Yorks starb, ohne genügend Geld für seine Beerdigung zu hinterlassen. Wie es ein eingewanderter Priester in Yonkers, New York, ausdrückte: My people do not live in America, they live underneath America. [...] America does not begin till a man is a workingman, till he is earning two dollars a day. A laborer cannot afford to be an American. (Whiteclay Chambers 1980: 80).

309 „Nevertheless, poverty remained widespread, and it was not until the Great Depression demonstrated the inadequacy of local efforts that the federal government established programs of relief for the unemployed which went far beyond any previous private or municipal assistance.“ (Whiteclay Chambers 1980: 245).

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Abbildung 27: Streikende Arbeiter beim Bread-and-Roses-Streik in Lawrence, MA, 1912.

Die Argumentation des Priesters und seine von ihm damit verbundene Hoffnung bezog sich nicht darauf, dass jeder ein Amerikaner sein sollte, egal wie viel Einkommen er besitze. „to be an American“ hieß, dass man, um als Amerikaner akzeptiert zu werden, unter anderem an der conspicuous consumption teilhaben müsse. Wenn man zu wenig verdient, kann man kein Amerikaner sein. Umgekehrt hatten ja Männer wie Roosevelt sich als Verteidiger der amerikanischen Zivilisation, also der Mittelschicht verstanden (Truninger 2010: 110), weil sie denen, die nicht am struggle for wealth teilhatten, das Amerikanersein absprachen. Daher legten auch die industrial workers, als größtenteils Neueingewanderte, viel Wert darauf, sich als gute Amerikaner zu charakterisieren, wenn sie Verbesserungen ihrer Arbeitsbedingungen forderten. So hüllten sich etwa die in der Textilindustrie streikenden Polish-Americans Ende des 19. Jahrhunderts in amerikanische Flaggen ein, während sie auf die konstitutionellen Rechte von Freiheit und Gleichheit verwiesen und bei der Präsentation ihres Falles vor Publikum Bilder der Gründungsväter zeigten (Pula 1990: 229). Auch gibt es Fotos mit Streikenden in schicken Mänteln, mit Hüten oder auch schon ein paar sportlichen Kappen, ordentlich gebundenen Krawatten und Hemden mit weißen Kragen, nicht zu übersehen die Amerikaflaggen in ihren Händen (siehe dazu Abbildung 27). Für die amerikanischen Historikerinnen Kidwell und Christman steht fest, dass diese Bekleidung Teil der erfolgreichen demokratischen Teilhabe aller Gesellschaftsschichten und damit auch der industrial workers war, die durch die Massenproduktion möglich geworden war.

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No more shabby broadcloth. Americans, by the last quarter of the nineteenth century could, for very little money, ‚enjoy the comfort, freedom and convenience of a work outfit, and the saving of better clothing that such an outfit affords‘. Work clothing had a special purpose, and once this had been served, it could be removed so that workers could emerge at the end of the day and look like other men. (1974: 131).

Wenn aber sogar schon streikende Italian- und Jewish-Americans weiße Kragen trugen, dann war das wohl eine der Entwicklungen, die den white-collar workers nicht gefiel. Doch es stimmte eben nicht, dass die industrial workers alle aussahen wie Angestellte, „look like other men“, denn die white-collar workers begannen am Ende ihres Arbeitstages die modischen Anzüge gegen Freizeitkleidung einzutauschen, etwas, das sich die meisten industrial workers nicht leisten konnten. Auch Veblen hatte bemerkt: „No class of society, not even the most abjectly poor, forgoes all customary conspicuous consumption.“ (2001 [1899]: 64). Er aber kritisierte damit die verqueren gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen selbst die Ärmsten der Gesellschaft versuchten, sich, wie vom Priester aus Yonkers verteidigt, an die Konsumregeln zu halten, anstatt für eine gerechtere Verteilung des Wohlstandes zu kämpfen. Gerade wegen der Notwendigkeit der Adaptation der industrial workers und durch ihre Anerkennung der Rituale der Amerikanisierung mit amerikanischen Flaggen und in schicker Kleidung bestätigten sie die bestehende Gesellschaft. Die Proteste waren nicht auf eine Abschaffung der conspicuous consumption ausgerichtet, sondern verfestigten diese. Das war es unter anderem auch, was Veblen daran kritisierte, wenn er schrieb, die Ärmsten würden relativ ärmer gemacht und das auch noch in ihren eigenen Augen (Veblen 1891: 349). The existing system has not made, and does not tend to make, the industrious poor poorer as measured absolutely in means of livelihood; but it does tend to make them relatively poorer, in their own eyes, as measured in terms of comparative economic importance, and, curious as it may seem at first sight, that is what seems to count. (Veblen 1891: 349).

Mit der Anerkennung der conspicuous consumption durch die industrial workers war das Ende des ‚immer besser und immer billiger‘ vollzogen. Die leisure class hatte schon zu Beginn der Industrialisierung in den 1870er-Jahren und damit vor der zweiten großen Einwanderungswelle begonnen sich zu differenzieren und Rituale zu akzeptieren, an die sich auch die industrial workers anpassen mussten, um Anerkennung in der amerikanischen Gesellschaft zu erlangen. Die industrial workers in den USA waren vor allem Einwanderer, deren Ziel es zu allererst war, sich in die amerikanische Gesellschaft zu integrieren. Das

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gelang über die Annahme der von Veblen kritisierten Konsumregeln, die aber eben keine Konsumgrenzen waren. Die Möglichkeiten des gesellschaftlichen Aufstiegs und der Akzeptanz versperrten sich den amerikanischen Arbeitern nicht, anders als den deutschen oder englischen Kollegen. Im Gegenteil, das Versprechen war im Alltag allgegenwärtig, auch wenn es nicht oft eingelöst werden konnte. Deshalb orientierten sich die amerikanischen industrial workers an den white-collar workers, der leisure class. Anders als in England oder Deutschland, konnte sich in den USA deshalb beim Großteil der industrial workers kein einendes, sie gegenüber anderen strikt differenzierendes, Klassenbewusstsein und damit keine übergreifende einaber auch ausschließende Arbeiterkultur ausbilden (siehe dazu Truninger 2010). Ab 1891, nach dem Ende der Zeit der frontier, als es im Westen kein freies Land mehr gab, zogen die Neueinwanderer in die Städte, nach Boston, New York, Chicago und Milwaukee, um in den Fabriken zu arbeiten (Whiteclay Chambers 1980: 12). In New York konzentrierte sich der Reichtum räumlich und persönlich bei den Fifth Avenue millionaires und die Armut in Manhattans Lower East Side. Um die Jahrhundertwende gab es in New York rund 43.000 Mietskasernen, in denen mehr als 1,5 Millionen Menschen hausten, die halbe Stadtbevölkerung (Sautter 1994: 257). Weil die Mieten in New York extrem hoch waren, lebten manchmal über vierhundert Menschen in einem Gebäude, das für vielleicht fünfzig geplant war (Whiteclay Chambers 1980: 14). New Yorks Lower East Side war dunkel, stinkend und schmutzig und hatte eine der höchsten Selbstmordraten der Welt. In den Tenement Houses wurde weiterhin ein großer Teil der Bekleidung gefertigt. Tausende starben in der ganzen Stadt an Typhus, Diphtherie oder Tuberkulose, weil die Krankheitserreger mit der in dunklen, engen Nähstuben gefertigten Kleidung in die besseren Viertel gebracht wurden (Whiteclay Chambers 1980: 14). Diese Wohngegend wurde zum berüchtigten Elendsviertel (Raeithel 2002: 63). Straßenkriminalität war normal und Feuer zerstörten immer wieder große Gebiete der Städte. Bekannt geworden ist das Feuer in der Triangle Shirtwaist Company Factory nahe des Washington Squares. Dort starben im März 1911 146 junge Arbeiterinnen, meist Jewish-Americans und Italian-Americans, weil der Arbeitgeber die Türen verschlossen hatte, um den Diebstahl von Stoffen zu verhindern. „Ironically, the Triangle factory was no tenement sweatshop but a modern factory, in a ‚fireproof‘ loft building.“ (Soyer 2005: 10).310 Gewalt und Streiks gehörten zum Alltag, harte Kämpfe um bes310 Es findet sich eine Gedenktafel an dem dort später gebauten Gebäude. Dieser Ort ist heute noch für Arbeiterinnen aus der Bekleidungsbranche eine wichtige Anlaufstelle, um ihren Protest gegen unwürdige Arbeitsbedingungen öffentlich zu machen. (Eigene An-

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sere Arbeitsbedingungen zur immer wiederkehrenden Erfahrung. Aber trotz der erschwerten Bedingungen des Aufstiegs in der Gesellschaft war es etwa Familien, die ihre Einkommen zusammenlegten, durchaus möglich Eigentum zu erwerben. Für den Historiker Whiteclay Chambers erschien das etwa als eine Möglichkeit, das Trauma der Industrialisierung zu mildern (1980: 23). Allerdings wird in der 1918 erstmals erschienenen Arbeit von William Thomas und Florian E. Znaniecki zum Polish Peasant311 im Rückblick deutlich gezeigt, wie viele Konflikte schon die Forderung der Elterngeneration an die nachfolgende Generation für diese an der Familie orientierten gemeinsamen Unternehmungen dann hervorrief. Die Adaptation in die amerikanische Gesellschaft, auch über die Teilhabe am Konsum, wurde meistens heftiger begehrt als die Schaffung von Gesamteigentum. Zwar wollten auch die amerikanischen industrial workers sich nicht damit abfinden, unten zu bleiben, sondern den Traum from-rags-toriches leben, aber das taten die meisten im Bemühen als Amerikaner. Auch in den USA hatten sich damit in den 1870er-Jahren die Klassenspannungen verschärft, aber – und hier sieht man wieder, wie wichtig die Unterscheidung der amerikanischen Entwicklung von der in England oder Deutschland ist, – das beinhaltete nicht, wie Kocka schreibt, „deutliche Grenzen der Verallgemeinerbarkeit der bürgerlichen Kultur“ (1988a: 33, Herv. A. M.). E pluribus unum wurde von den amerikanischen industrial workers immer wieder eingefordert. Die Uniformierung im standardisierten Anzug erschien den Einwanderern als Möglichkeit der Amerikanisierung, d.h., wer einen suit trug, konnte Amerikaner sein, darum bestand das Bedürfnis nach ready-to-wear-suits in der Zeit in der vom melting pot gesprochen wurde, weiter. „In contrast, however, to the ‚greenhorn‘ look of the immigrants arriving at Ellis Island, the dress seen here proclaims that these people are now Americans.“ (Kidwell/Christman 1974: 90). Hatte bis in die 1840er-Jahre vielleicht für viele Männer noch die Chance bestanden, sich im ready-to-wear-suit nicht nur als Gentleman anreden zu lassen, sondern auch akzeptiert zu werden, konnten wegen der mit der spätestens seit dem Ende des Bürgerkriegs begonnenen Entwicklung die Einwanderer, sprich die industrial workers, nur noch Quasi-Gentlemen werden. 

schauung einer Kundgebung mit Kranzniederlegung von Näherinnen aus Südamerika im Jahr 2010.) 311 Thomas und Znaniecki veröffentlichten zwischen 1918 und 1920 fünf Bände ihrer Studie The Polish Peasant in Europe and America (1996), eine grundlegende soziologische Arbeit zum Thema Migration (Zaretsky 1996: ix).

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Die transatlantische Geschichte der Klassengesellschaften hat gezeigt, dass der in der deutschen Debatte verwendete Begriff Bürgerlichkeit nicht ausreicht, um die Transformationen der Bourgeoisie und die Dynamiken der Klassengesellschaften zu begreifen und dass im Bourgeoisen etwas steckt, das in der deutschen Diskussion nicht mitgedacht wird. Die Uniform der Bourgeoisie hatte sich aus den Bedürfnissen nach bourgeoisen Freiheitspotentialen durchgesetzt. Diese Entwicklung begann, lange bevor die Industrialisierung einsetzte, bei den englischen merchants. Eine uniforme Außendarstellung war hier gewünscht, um kulturelle (ethnische, religiöse) Differenzen verschwinden zu lassen. Diese merchants brachten die in England gebildeten bourgeoisen Freiheitspotentiale in ihre amerikanischen Kolonien.312 Dort wurden sie transformiert und einer größeren Bevölkerungsschicht zugänglich als in England selbst. Die bourgeoisen Freiheitspotentiale wurden in der amerikanischen Gesellschaft als Uniform der Masse am weitesten verwirklicht und es schien, als ob sie sich bei der Männerkleidung mit der Entwicklung der Massenproduktion und der durchgreifenden Standardisierung weiter durchsetzen könnten. Aber wegen der Weiterentwicklung der maschinellen Produktionsweise und ihrer immer konsequenteren Durchsetzung ab der Mitte des 19. Jahrhunderts gewannen sowohl in der englischen als auch der amerikanischen Gesellschaft die manufacturers innerhalb der herrschenden Klasse an Einfluss. In England wurde durch die Erfindung (invention) der Uniform der Gentlemen die Beschränktheit bourgeoiser Freiheit deutlich sichtbar, weil sich die Bourgeoisie über Erziehung und Einhaltung strenger Bekleidungsregeln im tailor-made-suit privilegierte und von den industrial workers abgrenzte. Klassengrenzen, die jede Klassengesellschaft ausmachen, traten nun stärker hervor. Auch in den USA versuchten die an gesellschaftlichem Einfluss verlierenden Männer der old order mit einiger Verspätung ihre Bekleidungsgewohnheiten zu privilegieren. In der amerikanischen Minderheitengesellschaft konnten und brauchten die big business men sich nicht über Abstammung, Religionszugehörigkeit oder Erziehung und Bildung zu privilegieren. Vielmehr bot die neue flexible Massenproduktion die Möglichkeit, standardisierte Bekleidung in verschiedenen Preisklassen herzustellen. Soziale Unterschiede wurden in der amerikanischen Gesellschaft nun an unterschiedlich teurer Männerkleidung

312 Es waren die englischen merchants, die diese gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt hatten (siehe dazu Kapitel 2.1). Ihre Traditionen waren die bourgeoisen, die dann weitergeführt wurden.

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sichtbarer.313 Aber anders als in England bildete sich bei den industrial workers in den USA kein starkes Klassenbewusstsein aus. Vielmehr entwickelte sich die amerikanische Gesellschaft zur klassenlosen Klassengesellschaft, in der die Einwanderer weiterhin durch individuelle Adaptation der ready-to-wear-suits die Anerkennung als Amerikaner und innerhalb der herrschenden Klasse die Anerkennung als Teil derselben durch ausreichenden Besitz erlangen konnten. Betrachtet man die deutsche Gesellschaft jener Zeit, so ist vor allem erstaunlich, dass das 1871 gegründete deutsche Kaiserreich zwar neben den USA und England eine der größten Wirtschaftsmächte war, aber trotzdem keinen Einfluss auf die Bekleidungsgewohnheiten in anderen Gesellschaften hatte. Vielmehr gab es auch hier durch die Einflüsse aus Europa und Amerika mehr Träger von Anzügen, die als Anzugträger in den aktuellen Betrachtungen im Vergleich für ein Merkmal von Bürgerlichkeit herangezogen werden. Damit scheint sich die Annahme der Gleichzeitigkeit der Entwicklung in dieser Hinsicht im Vergleich mit anderen Industriegesellschaften (gern mit den beiden schärfsten Konkurrenten, den USA und England) für die Historiker zu bestätigen. An der Veränderung der Bekleidungsgewohnheiten kann gezeigt werden, dass die weitere Entwicklung der deutschen Gesellschaft am Ende des 19. Jahrhunderts kein „lack of modernization“, wie die englischen Historiker Blackbourn und Eley schreiben (1984: 3), kein Schwanken zwischen Moderne und Tradition, war, sondern Ergebnis moderner gesellschaftlicher Konflikte. Auch im deutschen Kaiserreich standen sich nicht das „Spirituelle“ und das „Materielle“ gegenüber (1984: 3), sondern die ideellen Werte drückten sich materiell in der Bekleidung aus. Obwohl es immer mehr Anzugträger im Wilhelminischen Kaiserreich gab, blieb ihnen die gesellschaftliche Anerkennung weiterhin verwehrt. Es wurden Männer in der deutschen Gesellschaft anerkannt, die einen Beruf hatten, und aus der vorher anerkanntesten Männerbekleidung, der Uniform der Offiziere, wurde jetzt: Die Uniform der Berufe.

3.3 Die Uniform der Berufe

In dieser Arbeit hat sich gezeigt, wie wichtig Männer wie die merchants für die Entwicklung des Anzugs gewesen sind, vor allem, bevor mit der Industrialisierung die manufacturers in die herrschende Klasse aufgenommen wurden. Bei den 313 Für USA -Besucher aus Europa war es schwer möglich, diese feinen Unterschiede zu bestimmen, daher erschienen vielen von ihnen die Amerikaner weiterhin uniformiert und gleichförmig, hervorgerufen durch die in Massen produzierten standardisierten Waren (siehe dazu Kapitel 2.3).

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deutschen Historikern wird aber die Bourgeoisie in Deutschland überwiegend unter den Aspekten der Industrialisierung betrachtet, weshalb sie mit ihren Analysen erst im 19. Jahrhundert ansetzen, weil erst hier eine Vergleichbarkeit mit anderen Gesellschaften möglich scheint. Die Industriellen werden von ihnen als Bourgeois oder eher noch als Industrie- oder Wirtschaftsbürger bezeichnet und den Bildungsbürgern, als ehemaligen Stadtbürgern, gegenüber gestellt. Richtig ist, dass in den deutschen Staaten im 18. und frühen 19. Jahrhundert Stadtbürger keine wagemutigen, risikobereiten frühen Industrieunternehmer waren. Bei ihnen überwog eine „traditionelle Beharrungsmentalität“, so dass sie dem neuen industriellen Produktionskapitalismus ablehnend, ja feindselig gegenüberstanden (Wehler 1986: 3). Aber weder die alten Stadtbürger noch die Industriellen waren an den Veränderungen der Bekleidungsgewohnheiten beteiligt, und damit an der Bürgerlichkeit, deren Merkmal auch der Anzug sein sollte. Der Soziologe und Ökonom Werner Sombart hatte das erkannt, als er schrieb, dass in den Anfängen die Volkswirtschaft in Deutschland nichts mit den alten Stadtbürgern zu tun gehabt hatte (1913: 112). Seine Untersuchung ging von einer Bourgeoisie aus, die die Großhändler einbezog und deren Handel mit Luxusgütern zur Forderung nach Waren, zur Kapitalbildung und dann zur Industrialisierung geführt hatte. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren die wenigen im internationalen Handel tätigen Händler eher in den Küsten- und Hafenstädten, wie Hamburg und Bremen, zu finden oder hatten im Ausland investiert, während sich die meisten handelnden Stadtbürger in einem kleinen und vertrauten Umfeld bewegten. Und wenn der Historiker Hans-Ulrich Wehler schreibt, dass die traditionalen, handelskapitalistisch orientierten Stadtbürger industriefeindlich waren (1987: 248), so gilt es zu ergänzen, dass sie mehr noch feindlich gegenüber in- und ausländischen merchants blieben (siehe Kapitel 1.3). Darum kann die Darstellung der Entwicklung in der deutschen Gesellschaft im 19. Jahrhundert nicht aus dem Vergleich von Industriellen und Stadtbürgern bestehen. Vielmehr müssen einmal mehr gesellschaftliche Differenzen herausgestellt werden. Zwar gewannen mit der Industrialisierung, wie in den USA oder in England, die Industriellen auch in Deutschland an gesellschaftlichem Einfluss. Aber hier, in Deutschland, vereinigten sich Produktion und Handel schon bevor die Großhändler und Kaufleute eine herrschende gesellschaftliche Stellung hatten erringen können. Diese spezifische gesellschaftshistorische Differenz muss in die Analyse einbezogen werden. Aber nicht die Praktiken der Bourgeois made in Germany (also der Industriellen) waren für die weitere Entwicklung der Bekleidungsgewohnheiten verantwortlich, sondern die Bürger, die als Bildungsbürger bezeichnet wurden. Dadurch

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nahm die Entwicklung der Männerkleidung im Wilhelminischen Kaiserreich einen anderen Verlauf als in den Vereinigten Staaten oder England. Weil das Freiheitspotential der Uniform, ob als dress coat, morning coat oder lounge suit – es hätte auch eine von der Militäruniform abgeleitete eigene Uniform oder eine ganz neue Bekleidung sein können314 – nicht als Befreiung von den Unterschieden in Konfession oder Herkunft gesehen wurde, konnte die Uniformierung in verschiedenen Uniformen in der deutschen Gesellschaft weiter vorangetrieben werden. Hier wurden die Männer, die keine Berufsuniform trugen zu Fremden, denen so die Anerkennung in der Gesellschaft verweigert wurde. Dazu gehörten auch die Arbeiter, die eine Sonderklasse im Anzug wurden. Im Kaiserreich war die ganz eigene Uniformierung ein Ausdruck anderer gesellschaftlicher Konflikte als in der in dieser Arbeit beschriebenen Entwicklung um 1800 (siehe dazu Kapitel 1.3). Nur durch die Analyse der konkreten historischen Konstellation am Ende des langen 19. Jahrhunderts (long century, Hobsbawm) kann aufgezeigt werden, warum bis heute in Deutschland auf der Trennung von Industriellen (manchmal Bourgeois oder Wirtschaftsbürger genannt) und Bildungsbürgern beharrt wird und wieso die spezifische bourgeoise Tradition dadurch weiterhin defizitär bleibt. Bourgeois Made in Germany In Deutschland war die von Bismarck militärisch herbeigeführte Einigung des Deutschen Reiches von einer Periode der sehr schnellen Industrialisierung von oben begleitet gewesen (Giddens 1981: 129). Damit kam das Investitionskapital nach 1871 zu einem großen Teil vom Staat und nicht von unabhängigen merchants als Kapitalgebern. Die Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung war gewaltig (Blackbourn 2004: 307), denn die deutsche Industrie war aufgrund ihrer durchgängigen Rationalisierung und Mechanisierung derjenigen anderer europäischer Länder überlegen (Marcuse 1998: 49). Die mit der schnellen Industrialisierung verbundene wirtschaftliche Dynamik drängte über „nationalökonomische Kreisläufe hinaus“ (Osterhammel/Conrad 2004: 9), der Export war notwendig, weil der eigene Markt für die produzierten Industriegüter nicht ausreichte. Anders als in den USA, die mit den in der eigenen amerikanischen Industrie produzierten Waren zuerst auf dem gut ausgebauten Markt die eigene Nachfrage befriedigten. In Deutschland war die Kaufkraft der eigenen Bevölkerung noch gering und weder die Textilindustrie noch die Konsumgüterindustrie wurde vom deutschen Staat gefördert, sondern andere industrielle Produktionen, 314 Wie es etwa die russischen Konstruktivisten nach der Oktoberrevolution 1918 mit dem Overall versuchten, vgl. dazu beispielsweise von Pape (2008: 81).

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wie für Stahl und Maschinen. Durch die Orientierung am Export weitete sich der Handel so schnell aus, dass schon 1870 Deutschland drittgrößter Warenexporteur der Welt geworden war, seit den 1880er-Jahren zusammen mit den USA die zweite Stelle im Weltexport einnahm und auch England zunehmend die Führungsrolle streitig machte (Nipperdey 1994: 276).315 Von Hamburg und Bremen aus hatte sich ein globales Netzwerk deutscher Schiffsmakler aufgebaut, mit Hapag und Norddeutscher Lloyd als den bekanntesten (Blackbourn 2004: 306). Vor der Einführung der standardisierten Produktionsweise beruhten erfolgreiche Handelstätigkeiten auf Vertrauen, Toleranz und Kosmopolitismus. Die merchants in Manchester waren aus vielen Regionen zusammengekommen, um vom Handel zu profitieren. Auch die amerikanischen merchants waren seit den Kolonialzeiten Händler gewesen und hatten ihre eigenen Handelstätigkeiten schon länger erfolgreich ausgeweitet, vor allem auf den inneramerikanischen Markt. Hier lernten sie, was sich ziemt, um sich richtig in die Sphäre des Kollektivverhaltens einzuordnen (Löwenthal 1990: 153) wozu auch das notwendig falsche Bewusstsein von Freiwilligkeit gehörte (siehe dazu Teil 1 und 2). Für den Handel mit standardisierten industriellen Produkten war das nicht mehr unbedingt erforderlich, Waren konnten einfacher über den Preis verkauft und alte Handelsnetze und Kundenverbindungen abgelöst werden.316 Eisen, Stahl und Maschinen wurden für Deutschland wichtige Exportwaren, die teilweise zu Dumpingpreisen auf dem Weltmarkt verkauft wurden (Blackbourn 2005: 250). Das erfolgreiche deutsche Eindringen in den Weltmarkt nährte in der deutschen Gesellschaft einen „protzigen Stolz“ auf die ökonomischen Leistungen, und der Welthandel wurde vor allem danach beurteilt, ob er die nationale Einheit in der Heimat förderte (Blackbourn 2004: 305 ff.). Deutsche Politiker, Geschäftsleute, Imperialisten genauso wie ihre marxistischen und liberalen Gegner redeten über Weltwirtschaft, Weltpolitik und Weltmächte, zwischen denen eine Rivalität natürlicher Art zu bestehen schien.317 Basis des Erfolgs war 315 Noch 1880 hatte die deutsche Handelsflotte weniger Tonnage als die spanische umfasst, war aber bereits 1910 viermal so groß wie die amerikanische. Im Jahr 1914 wurde der Handelswert der im Hafen von Hamburg umgeschlagenen Waren nur von dem in New York und Amsterdam übertroffen (Blackbourn 2004: 306). 316 Auch den amerikanischen Textilindustriellen war es über die konsequentere Standardisierung der Waren und die dadurch billigere Produktion gelungen, mit den englischen Einfuhren auf dem amerikanischen Markt zu konkurrieren (siehe dazu Kapitel 2.3). 317 In England wurde wenig darüber geredet, obwohl es ein Weltreich besaß, und die USA fanden erst mit dem Präsidenten Woodrow Wilson (Amtszeit 1913–1921) ihren globalrhetorischen Tonfall. Und nur in Deutschland gewann der Begriff der Weltpolitik eine besonders herausfordernde und aggressive Note (Osterhammel/Conrad 2004: 10).

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in diesem Exportgeschäft nicht mehr das Vertrauen in die Händler oder ein toleranter Umgang. Nicht als abenteuerliche Individuen, einzelne manufacturers, die ihren Produktionen einen brand, einen Markennamen geben, sondern mittels der Referenz auf die Nation, mit Produkten Made in Germany, erschienen die deutschen Exporteure als neue Konkurrenten auf dem Weltmarkt.318 Mit dem Bezug auf die ökonomischen Leistungen wurde das Verdienst an diesem erfolgreichen internationalen Handel nicht den merchants, den men of trade (Blackbourn) zugeschrieben – wer kennt heute die Namen der Besitzer der großen Handelsunternehmen aus Bremen und Hamburg –, sondern den Industriellen im deutschen Kaiserreich. Der Begriff Bourgeoisie wird vom deutschen Historiker Wehler gewählt, um eine „offene, geradezu klassische“, die „goldenen“ Jahre erlebende, wilhelminische Bourgeoisie zu beschreiben, zu der die durch die Veränderung der Produktionsweise fünfzig vermögendsten Bourgeois-Unternehmer gehörten. Kein alter Stadtbürger sei unter diesen Bourgeois gewesen, geschweige denn hätte ein Bildungsbürger mithalten können (1987: 248 f.). Wehler beschreibt als Bourgeois damit weder Stadtbürger noch merchants, sondern Industrieunternehmer. Für ihn ist der Bourgeois derjenige Unternehmer in der Industrie, im Eisenbahnbau und im sie finanzierenden Bankwesen, der in seinem Betrieb finanzielle Ressourcen, technologisch-maschinelle Ausrüstung und freie Lohnarbeit kombiniert, strategische Entscheidungen über Investitionen, Produktspezialisierung, Markterkundung und -wahl sowie Risikokalkulation, Expansionen usw. trifft. Er leitet das Unternehmen nicht nur als ökonomische Einheit, sondern übt zugleich auch die variierenden Herrschaftsrechte aus, weshalb sein Unternehmen nicht nur Produktions-, sondern auch Herrschaftsverband sei (1986: 5). Und Herrschaftsverband, das war auch auf den geografischen Raum bezogen, weil Industriebetriebe mit einem festen Standort verbunden waren. Damit unterschieden sich diese Unternehmen von Handelsunternehmen, die ihren Sitz in New York, Amsterdam oder auch Hamburg hatten, ihre Handelsgüter in die ganze Welt schickten, aber sie nur selten vor Ort zu sehen bekamen. Mit der Standortgebundenheit unterschieden sich die Industrieunternehmen aber auch vom Kapitalmarkt, auf dem Geld leicht über die Finanzplätze zu verschieben war. Da die Industriebetriebe auf deutschem Boden standen, waren es deutsche Produkte, auch wenn sie in die Welt verkauft wurden. So sah einer der 318 „Many German exhibits at the centennial exposition at Philadelphia in 1876 were denounced by critics at home as cheap and nasty. But within two decades the trademark ‚Made in Germany‘ became an international symbol of high quality, discussed by anxious editorial writers of The Times and other British commentators.“ (Blackbourn 2005: 237).

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Abbildung 28: Kaiser Wilhelm II. mit dem Firmeninhaber Gustav von Bohlen und Halbach beim Besuch der Krupp-Werke 1912.

erfolgreichsten deutschen Industrieunternehmer des 19. Jahrhunderts, Alfred Krupp, „in seiner Fabrik ein ‚Nationalwerk‘, und wenn er auch seine Kanonen in alle Welt verkaufte, so hat er doch nach Frankreich nur solange geliefert, wie Preußen zu Napoleon III. in einem freundschaftlichen Verhältnis stand.“ (Goldbeck 1968: 74). Bis in die aktuellen Debatten für das 19. Jahrhundert wird die Entwicklung der Klassengesellschaft und der herrschenden Klasse vom Industriebetrieb her gedacht. So war es eine national-staatliche Expansion, die damit nicht auf der individuellen Leistung der einzelnen betriebsam denkenden merchants oder entrepreneurs beruhte. Die Verbindung von Industrieunternehmern und Staatsmacht für den Aufstieg der Industriemacht war bezeichnend (siehe dazu Abbildung 28), denn damit konnte die Industriegesellschaft im Kaiserreich anerkannt werden und nicht die bürgerliche oder bourgeoise Gesellschaft. Es war eine Bourgeoisie Made in Germany. Die enge Verbindung von Staatsmacht und Industrie wurde schon im 19. Jahrhundert als Besonderheit lobend hervorgehoben. So etwas wie „a closure of the German mind“ begann vor 1914, schon damals hat man dies einen „Sonderweg“

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genannt.“ (Osterhammel/Conrad 2004: 9).319 Zu Recht kritisieren die englischen Historiker Blackbourn und Eley die Beibehaltung dieses Arguments in der Debatte bei den deutschen Historikern Kocka und Wehler, wenn letztere schreiben, dass – bei allen Defiziten an Bürgerlichkeit – die starke Mo­narchie des Kaiserreiches sehr erfolgreich war, eine militärische Macht, eine funktionierende Bürokratie, ein erfolgreiches Bildungssystem und eben den industriellen Erfolg herbeigeführt hätte (zit. n. Blackbourn/Eley 1987: 4). Dadurch wird Nationalismus, nicht Kosmopolitismus, als ein wichtiger Bestandteil bei der Entstehung von Bürgerlichkeit bestimmt. Wehler schreibt dazu, dass sich im 19. Jahrhundert trotz aller Widrigkeiten ein von ihm als liberal bezeichneter Nationalismus durchgesetzt habe, als Resultat einer Revolution [wenn auch nicht der eigenen]. „In den deutschen Ländern ist er eine Folge der Auswirkungen der Französischen Revolution und des Zusammentreffens schwerer Modernisierungskrisen mit der Erfahrung von Fremdherrschaft.“ Der allmählich entstehende deutsche Nationalismus hätte eine neue Legitimationsbasis versprochen: die nationale Volkssouveränität. Dabei sei eine einheitstiftende Integration und ein Identitätsgefühl erzeugt worden. Weil vertraute Orientierungen verloren gegangen seien, sei die Vergangenheit glorifiziert und die Zukunft mit dem Mythos der „nationalen Erneuerung“ verbunden worden (Wehler 1987: 269 f.). Trotz der ‚Demagogenverfolgung‘, des Verbots der Burschenschaften und der Turner, der Repressionsgesetze des Deutschen Bundes entwickelt sich der liberale Nationalismus vor allem seit den [18]30er Jahren zu einer Massenbewegung: Er dringt über das Vereinswesen, durch Hunderttausende von Turnern und Sängern, durch Germanisten, Juristen, Historiker und ihre ‚gesamtdeutschen‘ Kongresse, durch Bildungsvereine der Handwerker, ‚Nationalfeste‘ und Denkmäler in die Gesellschaft und das öffentliche Bewußtsein ein. (Wehler 1987: 270).320 319 Kritische Theoretiker, wie Herbert Marcuse, sahen Deutschland nicht als bizarres Modell eines Sonderweges, sondern als eine „historisch spezifische Form am Ende der liberalkapitalistischen Ära“. Schon sie mussten sich mit „verzerrten ideengeschichtlichen Begründungen des deutschen Sonderweges auseinandersetzen, die heute wieder beliebt sind.“ (Claussen 1998: 16 ff.). 320 Dieser Zeitraum wird als Zeit der Durchsetzung vom Liberalismus interpretiert, obwohl hier der deutsche chauvinistische Nationalismus begann. Diese Bewegungen, wie Turnerbewegung oder Nationalfeste, setzten keine bourgeoisen Freiheitspotentiale frei. Wehler setzt mit der kritischen Betrachtung später an. Durch die Depression [Gründerkrise] und das Scheitern der liberalen Marktwirtschaft habe der Staat die Protektion, mit Schutzzöllen etc. übernommen. Es sei zur „Zerstörung der einheitlichen Schwungkraft des deutschen Liberalismus“ gekommen, weswegen ein neuer Reichsnationalismus entstanden sei. Dieser hätte den erreichten Status als europäische Hegemonialmacht verherrlicht, er sei

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Aber der deutsche Nationalismus war von Anfang an ein vom Ausschlussgedanken geprägter und wenig liberaler Nationalismus, wie in dieser Arbeit an der Uniformierung der Jahn,schen Turner gezeigt.321 (siehe dazu Kapitel 1.3.) Wenn, wie bei den erwähnten Historikern Kocka, Wehler, Nipperdey üblich, mit dem Gesellschaftsvergleich erst in der Zeit der Industrialisierung um 1871 begonnen wird, dann werden Bourgeois als Industrielle unter nationalen Aspekten betrachtet. Wenn man früher ansetzt, wie in dieser Arbeit, und es unter der Veränderung der Bekleidungen betrachtet, dann hatte die Nationalbewegung die Unformierung in unterschiedlichen Uniformen verstärkt. Die Jahn,sche teutsche Tracht war abgeleitet von der Militäruniform, nicht der Uniformierung im Anzug. Die bourgeoisen Anzugträger waren gerade diesen Wirtschaftsbürgern verdächtig gewesen und damit auch das Freiheitspotential, das eine Gesellschaft, wenn sie eine Klassengesellschaft ist, überhaupt erreichen konnte. Im 19. Jahrhundert wurden immer mehr Anzüge getragen, aber die Anzugträger nicht unbedingt anerkannt. So trugen die deutschen Revolutionäre von 1848 Fräcke. Sie bildeten bürgerliche Schutzkommissionen, machten sich mit weißen Armbinden als Schutzbeamte kenntlich und patrouillierten im Frack durch die Straßen. Vor dem Dienst in dieser Bürgerwehr drückte sich, wer irgend konnte. Sehr angesehen waren diese Frackträger nicht, sie wurden von anderen Bürgern verhöhnt, man riss ihnen die Armbinden weg, zerbrach die Stöcke und schlug expansionistisch, imperialistisch, pangermanistisch, teilweise schon rassistisch, antiliberal und noch vehementer antiproletarisch aufgeladen worden. [Antisemitisch erwähnt Wehler allerdings nicht.] Erst jetzt hätte sich der neue Nationalismus gegen die äußeren Gegner nicht als Konkurrenten gerichtet, sondern als Feinde. Und erst jetzt hätten sich Feindbilder dominierend in den Vordergrund gedrängt: die deutsche „Kultur“ solle gegen die von außen andrängenden Einflüsse der verderblichen westlichen „Zivilisation“ geschützt und im Inneren der Status quo behauptet werden (1987: 271 f.). Auch bei dem Historiker Nipperdey schwächte sich der Liberalismus ab, allerdings soll aber auch die antisemitische Grundstimmung ab 1895 zurückgegangen sein (Nipperdey 1994: 405). Und bei Osterhammel und Conrad wird von einer „Abkehr von der ‚liberalen Ära‘ nach 1879“ und dem „Beginn des ‚Sonderwegs‘“ geschrieben (2004: 26). 321 Vgl. auch Marcuse, der den deutschen Nationalismus einen Aufstand gegen die christliche Zivilisation aus dem Geist der Ernüchterung nennt. „Dieser Aufstand äußert sich auf unterschiedliche Weise: als Antisemitismus, Terrorismus, Sozialdarwinismus, Antiintellektualismus, Naturalismus. Sie alle sind Ausdruck einer Rebellion gegen die schrankensetzenden, transzendentalen Prinzipien der christlichen Morallehre – gegen die Freiheit und Gleichheit der Menschen, gegen die Unterordnung der Macht unter das Recht, gegen die Idee einer universalistischen Ethik. Diese Rebellion hat in Deutschland Tradition und wirkte in allen typischen deutschen Bewegungen: in Luthers Protestantismus, in den ‚faustischen‘ Elementen der deutschen Literatur, Philosophie und Musik, in den Aufständen der Befreiungskriege, bei Nietzsche und in der Jugendbewegung.“ (1998: 26).

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ihnen die Hüte vom Kopf (von Boehn 1926: 45 f.). Sie hielten nicht lange aus, noch im Jahr 1848, nach dem Scheitern der Revolte, wurde die Polizei eingeführt, um für Ordnung auf den Straßen zu sorgen und mit ihr kam eine eigene Uniform. Diese anfängliche Polizeibekleidung war noch teils militärisch, teils zivil, weil die Kopfbedeckung aus einem Zylinder mit einer schwarz-rot-goldenen Kokarde bestand (von Boehn 1926: 48 f.). Auch diese drei Farben gingen auf das Lützow,sche Freikorps (Zierer 1970: 177) zurück (siehe dazu Kapitel 1.3). Als die Reaktion herannahte und sich durch Maßregelung der Presse, der Wahlen usw. deutlich genug ankündigte, da wurde auch die Uniform der Schutzleute ganz unverhohlen nach militärischem Muster umgestaltet, auch die letzten Überbleibsel zivilistischbürgerlicher Kleidung folgten über Bord. (von Boehn 1926: 50).322

Die Staatsmacht blieb unverändert und jetzt schlossen sich Unternehmer (sie waren eben keine abenteuerlustigen entrepreneurs) der Seite der Mächtigen an. „Manche Unternehmer [...] lehnen den smithianischen Wirtschaftsliberalismus ab, fordern staatliche Protektion.“ (Wehler 1986: 17). Auch diese reaktionären Unternehmer trugen Fräcke als Bekleidung (siehe dazu Abbildung 29) und enttäuschten in diesen die revoltierenden Bürger, weil sie ihnen die Unterstützung verweigerten. Nach der gescheiterten Revolution wird beginnend um 1848, spätestens aber seit 1870 die wirtschaftliche Entwicklung als von den Industriellen bestimmt betrachtet, hier wurden die manufacturer nicht auf die Seite der merchants gezogen. merchants waren schon in den deutschen Staaten nicht sehr angesehen gewesen und ihnen wurde auch mit dem Aufstieg der Industriellen die Anerkennung in der herrschenden Klasse, wie in England oder den USA, weiter verweigert. Während Osterhammel und Conrad dazu schreiben, dass die ökonomische Macht in den Händen weniger Großindustrieller, wie dem Krupp-Vorsitzende Gustav von Bohlen und Halbach, lag, die vom Kaiser hofiert wurden (2004: 19), sehen andere, wie der Historiker Wehler, das Verhältnis zwischen den wirtschaftlich mächtigen Gruppen und der Staatsmacht ambivalent. So wuchs in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Macht der Großunternehmen, aber es mussten immer Kompromisse mit den Großagrariern [Junker], der Bürokratie, 322 Im Jahr 1850 musste der Zylinder dem Helm weichen, das Militärische setzte sich wieder stärker durch (von Boehn 1926: 49). Man wollte den Helm durch ein Filzkäppi ersetzen, der Kronprinz, der eine Vorliebe für englische Einrichtungen hatte, empfahl den Hut der Londoner Konstabler. Das fand vor den Altpreußen keine Gnade, es war ihnen zu zivilistisch. In Preußen wurde die Pickelhaube eingeführt, im Jahr 1866 fand sie die Form, die bis zur Revolution im November 1918 im wesentlichen blieb (von Boehn 1926: 53).

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Abbildung 29: Wie ein Reactionair im Lindenklub eine [...] demokratische Färbung bekommt, um 1848.

der Reichsleitung gemacht werden. Bismarck habe die Großunternehmer in die Reichskanzlei in der Wilhelmstraße bestellt und dezidiert seine Wünsche genannt. Noch zwanzig Jahre später hätten mächtige Direktoren der Deutschen Bank und Großindustrielle vor den bürgerlichen Räten des Auswärtigen Amtes gekatzbuckelt, was teils Hohn ausgelöst habe, teils als Selbstverständlichkeit hingenommen worden sei. Wenn Wehler weiter schreibt, dass sich die Industriellen mit den „Repräsentanten des amerikanischen ‚Big Business‘ und dem Einfluss des ‚Corporation Capitalism‘ auf Politik und Gesellschaft“ nicht ernsthaft vergleichen ließen (1987: 248 f.), dann hat er damit Recht. Aber der entscheidende Unterschied lag im Vergleich viel weniger darin, dass die deutschen

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Industriellen nicht so mächtig waren, sondern darin, dass die amerikanischen big business men die Tradition der Bourgeoisie aufrechterhielten, die auf den farmer merchants der vorindustriellen Produktion beruhte (siehe dazu Teil 2). Auch die big business men waren weniger wagemutige und risikobereite entrepreneurs, sondern bildeten gerne große corporations. Sie setzten mit Vorliebe auf den Zusammenschluss statt auf die Konkurrenz. Das hieß dann letztendlich für viele, eine Einschränkung der eigenen Machtbefugnisse hinzunehmen und geschah auch nicht immer freiwillig (siehe dazu Kapitel 3.1). Wenn allerdings die deutschen Industriellen als vor der Aristokratie und Bürokratie katzbuckelnde Männer dargestellt werden, wird den zu Bourgeois erklärten Industriellen damit eine überlegene und anerkannte gesellschaftliche Rolle abgesprochen. Die dann davon getrennt betrachteten Bildungsbürger erscheinen in einem positiveren Licht und werden als die freien, individuellen und liberalen Hoffnungsträger der deutschen bürgerlichen Gesellschaft dargestellt – von Goethe über Thomas Mann bis zu Joachim Fest.323 In der Industriegesellschaft, wo es jetzt, im Gegensatz zu den vorindustriellen deutschen Gesellschaften, viele Besitzende gab, wird weiterhin der einen Gruppe der Besitz von individueller Freiheit und Bildung zugesprochen und bei ihnen der Besitz von Besitz nicht mitgedacht, der für die Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft doch von größter Bedeutung ist. Den Industriellen, die Besitz haben, wird hingegen wegen ihrer engen Verbindung zur und Abhängigkeiten von der Staatsmacht die freiheitliche Betätigung abgesprochen. Damit kann weiterhin das in Deutschland schon im 18. Jahrhundert betonte Ideal gebildeter Bürger gezeichnet werden, die nicht vom betriebsamen unternehmerischen Wollen und Leisten getrieben waren. Marktwirtschaft und Marktgesellschaft werden negativ dargestellt, denn mit dem Kauf menschlicher Arbeitskraft als Ware, die auf vielfältigen Arbeitsmärkten erworben werden konnte, sei, so Wehler, eine deprimierende Abhängigkeit und menschliche Degradierung verbunden gewesen (1987: 255). Die deutschen Unternehmer, die den „Herrn im Haus“ spielten, seien dabei einem traditionalen Führungsstil gefolgt (Wehler 1987: 267). Insgesamt sei es eine „Dialektik von Fortschritt und Entartung [sic!]“ bürgerlicher Modernisierung gewesen (Wehler 1987: 268). Auch hier schwingt wieder die Ambivalenz mit, die in der deutschen Gesellschaft die modernen Entwicklungen begleitet hat. Einerseits sollen die deutschen Unternehmer abhängig vom Kaiser und den Beamten gewesen sein und andererseits autoritär ihre Unternehmen geführt haben. Ambivalent ist auch beschrieben, 323 Vgl. Rehberg zu seiner Kritik an der Bürgerlichkeitsdebatte, wenn er schreibt, Thomas Mann hätte die Entgegensetzung von „Bürger“ und westlichem Bourgeois verschärft (2010: 60).

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dass die „liberalen Unternehmer“ entschlossen für den Verfassungsstaat gekämpft hätten, und dann im eigenen Betrieb eine ungeschmälerte, antikonstitutionelle Autokratie ausübten (Wehler 1987: 255).324 Durch das Beschreiben solch ambivalenter Industrieller kann einerseits die Entfaltung des Industriekapitalismus als eine bürgerliche Leistung bezeichnet werden, weil sie den Siegeszug bürgerlicher Wirtschaftsrationalität brachte (Wehler 1986: 5). Dadurch können die im Deutschen Kaiserreich stattgefundenen Entwicklungen zu denen anderer Gesellschaften gleich erscheinen. Andererseits aber kann im Vergleich zu anderen Gesellschaften ein Grund für das Defizit an Bürgerlichkeit festgemacht werden, weil von der „Großbourgeoisie“ nicht die Faszination eines Vorbildes ausging (Wehler 1987: 249). Die deutschen Bourgeois seien weder liberale Bürger gewesen noch ein Vorbild für die Bürger, die davon getrennt betrachtet als Bildungsbürger bezeichnet werden und die wirklich liberalen Bürger gewesen seien. Dieser deutsche Bildungsbürger soll sich vor allem über den Beruf, die Berufsausübung ausgezeichnet haben und bis heute auszeichnen. Äußerlich sichtbarstes Zeichen dafür ist die Berufskleidung, an welche die Männerkleidung in Deutschland noch lange gebunden war. Erst in der weiteren Entwicklung, spätestens in der Nachkriegszeit des Zweiten Weltkriegs, wurde der Beruf von seiner spezifischen Bekleidung gelöst, aber auch die Bekleidung von den meisten spezifischen Berufen. Über den Beruf wurde und wird bis heute eine besondere Lebensführung der Bürger hervorgehoben. Dieser Begriff bleibt bis in die aktuellen Debatten wichtig für die Auseinandersetzungen zu den gesellschaftlichen Konflikten um Mitte und Masse, Fremde und Einheimische, Einwanderer, Migranten etc. (einerseits im nationalen Rahmen, aber auch darüber hinaus im globalen), die auch über Bekleidungsgewohnheiten ausgetragen werden.

324 Diese autoritären Strukturen waren auch in Industriebetrieben anderer Länder üblich, wenn auch vielleicht nicht mehr in dem Ausmaß wie im Deutschland der Jahre um 1870. Das mag damit zusammenhängen, dass beispielsweise in England, wie der englische Historiker Thompson schrieb, die Entwicklungen von peasants zu industrial workers langsam, über mehrere Generationen abliefen (siehe dazu Kapitel 3.1). In der deutschen Gesellschaft ging das viel schneller, zumal vorher die Manufakturbetriebe wenige waren und viele Arbeiter es bevorzugt hatten, in der Landwirtschaft zu arbeiten. Man könnte darüber nachdenken, ob vielleicht gerade der freiheitsliebende Zug deutscher Arbeiter der Grund war, warum hier so strenge Maßnahmen ergriffen wurden.

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Die Fremden Das deutsche Kaiserreich war als Nationalstaat ohne Vorläufer, so schreiben Osterhammel und Conrad, insularer als die deutsche Welt der vorausgehenden Epoche. Erstmals war klar, was Deutschland war und wo seine Außengrenzen lagen, und die nationale Zugehörigkeit bestimmte sich darüber. Der internationale Waren-, Kapital- und Nachrichtenverkehr rückte die kapitalistischen Länder in ein engeres Verhältnis (2004: 8 f.), so dass das Kaiserreich „fast gleichzeitig mit den Kräften der Globalisierung, der Vernetzung und des Imperialismus die historische Bühne betrat.“ (Blackbourn 2004: 303 f.).325 Für Osterhammel und Conrad wurde durch die erfolgreiche Grenzziehung in der Beziehung zu anderen Ländern die mentale Grundhaltung insular. „Fremdes und Kosmopolitisches geriet als ‚undeutsch‘ unter nationalen Verdacht“ und der Stolz auf das Geleistete konnte sich im Ausland zu Überheblichkeit, Germanozentrismus und Chauvinismus steigern (2004: 4). Ob es tatsächlich allen Deutschen so klar war, wo die Außengrenzen des Landes lagen, bleibt fraglich,326 nach Innen aber waren die Herausforderungen durch die schnelle Industrialisierung unter nationalen Vorzeichen enorm; auch hier musste eine erfolgreiche Grenzziehung gelingen. Fremdes und Kosmopolitisches gerieten nicht nur als aus anderen Nationen kommend, sondern auch im eigenen Land unter Verdacht. Jetzt war die eine Nation gebildet, die sich einige deutsche Dichter und Denker des 18. Jahrhunderts herbeigesehnt hatten, aber auch im 19. Jahrhundert lebten noch breite Schichten in feudal geprägten Lebensformen. Das hieß, Herrschafts- und Abhängigkeitsverhältnisse wurden viel direkter erlebt, als in einem von Warenproduktion und Marktwirtschaft bestimmten System (Marcuse 1998: 39).327 Wenn Unternehmer weiterhin pat325 Das sollte nicht über die Ungleichzeitigkeit hinwegtäuschen: Die deutschen Staaten tauschten noch untereinander Gesandte aus, während sie in anderen Ländern überall konsularische Vertretungen hatten (Blackbourn 2004: 304). 326 Bis 1990 war das für viele unklar und bis heute gibt es heftige Debatten in der Öffentlichkeit darüber, wenn Parlamentarierinnen wie Erika Steinbach nicht anerkennen, wo diese Außengrenzen liegen. 327 Der Soziologe Herbert Marcuse stufte daher den deutschen Charakter eher „antibürgerlich“ ein, wobei er die bürgerliche Welt gemäß ihrer Geschäftsordnung als eine Welt ausbalancierter Rechte und Pflichten beschreibt, in der alle subjektiven Werte in entschiedenster Weise den objektiven Maßstäben von Angebot und Nachfrage, Austausch und Vertrag untergeordnet sind (1998: 39). Marcuse nennt das dann Mentalität, auch antikapitalistische Einstellung (1998: 49). Er schreibt: Der „deutsche Charakter“ soll nicht die Vergegenständlichung einer besonderen natürlichen Eigenschaft sein, die dem „deutschen Menschen“ zukommt, sondern das „deutsche Volk“ hat „im Verlauf seiner Geschichte und unter den spezifischen Bedingungen bestimmte Denkweisen und Gefühle entwickelt, in

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riarchale Einstellungen hatten, und sehr autoritäre Strukturen in den Fabriken bestanden (Wehler 1987: 248 f.), gab es keine große Veränderung im Erleben von Abhängigkeitsverhältnissen für die neuen Industriearbeiter. Dazu kam, dass der Unmut über die Veränderungen im Leben vieler Deutscher nicht den Verursachern zugeschrieben werden konnte. Gerade weil die schnelle radikale Industrialisierung unter nationalem Getöse gepriesen wurde, und Deutsche Stolz auf die neueste maschinelle Produktionsweise in deutschen Industriebetrieben sein sollten, mussten sie diese radikalen Veränderungen anders abwehren. Das war eine Herausforderung, bei der auf all das Fremde, Neue, die Vernetzungen und den internationalen Verkehr, auch mit einem veränderten Bekleidungsverhalten reagiert wurde. Das Wilhelminische Deutschland wurde Ende des 19. Jahrhunderts zu einem Schnittpunkt des kulturellen Verkehrs (Blackbourn 2004: 319), es gab eine „alltägliche Weltbürgerlichkeit im Kaiserreich [...] dank seinem unbewußten Internationalismus wurde ihm die Vitalität anderer kultureller Bewegungen in der europäischen Geschichte zuteil.“ (Gay 1987: 25). Aber es war nicht nur der kulturelle Verkehr, sondern ein Schnittpunkt des gesellschaftlichen Verkehrs, der sich innerhalb kürzester Zeit entwickelte. Die Städte wuchsen, Eisenbahnen wurden gebaut, um das ganze Reichsgebiet zusammenzuschließen und Kanäle, um den Schiffstransport zu erleichtern (Osterhammel/Conrad 2004: 24). Jetzt mussten alle Deutschen zu Deutschen werden, und sich in diese modernen Strukturen einfinden und das genau in der Zeit, in der Fremde in einem Ausmaß kamen und gingen, das alles vorher Dagewesene überstiegen haben soll. Die Deutschen hatten vorher vor allem selbst Erfahrungen als Fremde in anderen Gebieten gemacht, als Saison- und Wanderarbeiter, oder solche Erfahrungen vermittelt bekommen von Auswanderern, z.B. nach Amerika, über die ihnen Fremde, Familienmitglieder, Nachbarn oder Freunde erzählten (Kamphoefner 1997: 87 ff.). Gerade als die deutsche Auswanderung nach Amerika nachließ, zogen viele ausreisewillige Fremde, die „Ostjuden“ und Polen, durch deutsches Gebiet, um auf den großen Auswandererschiffen der Lloyd in Bremen und/oder der Hapag in Hamburg in die USA zu kommen, auch wenn sie es nicht immer leicht hatten, überhaupt ein- und durchreisen zu dürfen (Blackbourn 2004: 314). Neben den Menschen, die nur durch das deutsche Staatsgebiet reisen wollten, wurde nun das deutsche Kaiserreich selbst zum Einwanderungsland; es stand in seiner Abhängigkeit von den ausländischen Arbeitskräften gleich an zweiter Stelle hinter den USA (Blackbourn 2004: 313). So kamen nach Deutschland denen sich die der deutschen Kultur eigenen Charakterzüge niederschlagen.“ (Marcuse 1998: 36).

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englische Techniker und industrial workers nach Deutschland, die angeworben worden waren, um hier moderne Industrien aufzubauen (Goldbeck 1968: 73).328 Andere Männer gingen in die Industriegebiete im Ruhrgebiet, einige auch in die Argargebiete, um als Landarbeiter zu arbeiten; darunter vor allem Polen und Ruthenen aus dem Habsburger Reich und „Kongresspolen“ (Blackbourn 2004: 313). Obwohl in Deutschland genauso dringend Arbeitskräfte benötigt wurden wie in den USA, war der Umgang mit den Fremden anders als in der amerikanischen Gesellschaft (siehe dazu Kapitel 3.1). Die Polen und Ruthenen etwa wurden nur als Saisonarbeiter zugelassen und die Kontrollen waren scharf. „Zugleich wurde jedoch die deutsche Strategie, Fremde auszuweisen, die Not leidend waren oder als ‚bedenklich‘ oder als ‚Bedrohung der Ordnung‘ angesehen wurden, auch im Westen durch eine Reihe von Übereinkünften mit benachbarten Ländern in den Jahren 1890–1906 straffer gehandhabt.“ (Blackbourn 2004: 314). Als Entschuldigung für die Überwachung an den deutschen Grenzen wurde Hygiene angegeben, auch wenn sie wohl eher durch Abneigung gegen die ausländischen Einwanderer motiviert war: die „Slawische Flut“ (Blackbourn 2004: 315). Neben den ausländischen Fremden kamen aber auch aus den jetzt deutschen ländlichen Gebieten immer mehr Menschen in die Städte, wo sie auch Fremde waren. Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts setzte die Wanderung der Landarbeiter in die großgewerblichen Bezirke ein, weil die Erwerbsmöglichkeiten der Verlags- und Manufakturarbeiter rapide schrumpften. Wehler spricht von einer tödlichen Krise der Heimindustrie in den 1840er-Jahren, die die arbeitsfähigen Mitglieder „verlegter“ Familien dazu zwang sich Arbeit zu suchen, wo immer sie konnten; in den überfüllten Städten mit ihrem abschreckenden Zuzugsgeld und abweisenden Heimatrecht (1986: 18 f.). Diese ungeheure Mobilität, dieses Kommen und Gehen zum Ende des 19. Jahrhunderts war für die meisten Menschen befremdlich. Und die Ambivalenz zwischen der nationalen Erhöhung der wirtschaftlich erfolgreichen Monarchie mit den Veränderungen im eigenen Leben sorgte für ein Unbehagen über das Fremde durch die Fremden. Der Soziologe Hans Speier schreibt zwar, dass es in Deutschland keine soziale Wertschätzung gegeben habe, die als Grundlage sozialer Geltung aller Gesellschaftsschichten gesehen werden konnte (1977: 21), aber sie findet sich doch: in der nationalen Wertschätzung; 328 Die anscheinend auch gleich mit dem „Haß“ von deutschen Technikern bedacht wurden. Das Misstrauen gegen ausländische Arbeitskräfte war so groß, dass man englische Arbeiter verdächtigte, einen großen Brand im Hamburger Hafen verursacht zu haben (Goldbeck 1968: 73).

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problematisch war daran nur, dass dieser Nationalismus ein „Einschluss durch Ausschluss“ war (Blackbourn 2004: 315). Um diesen Einschluss, die eine Nation, hinzubekommen, stellte sich für viele die Frage: Wer war Deutscher und wer nicht, mit wem konnte der Stolz auf das Geleistete geteilt werden, das ja gerade nicht einzelnen Männern, sondern dem gesamten Reich zugeschrieben wurde. Darum wurde jetzt auch über neue Bekleidungsgewohnheiten versucht, sich richtig in diese neue deutsche Gesellschaft einzuordnen. Während in den USA die Einwanderer sich einen guten ready-to-wear-suit kaufen mussten, um sich als Amerikaner zu uniformieren, wurde in der deutschen Gesellschaft die ständische Uniform zur Berufsuniform und damit der vorher anerkanntesten Männerbekleidung, der Uniform der Offiziere, eine neue Bedeutung gegeben. Man uniformierte sich weiter in verschiedenen Uniformen, obwohl das Streben nach der Vereinheitlichung sich endlich erfüllt hatte. Jetzt hieß es: Kleider machen Deutsche Die Männerkleidung war auch in der deutschen Gesellschaft im Vergleich zu früheren Zeiten unauffälliger, zweckmäßiger, einfacher geworden. Vereinheitlicht, oder wie Nipperdey schreibt: vielleicht langweilig, weil weniger farbig. Seit 1860 gab es einfarbige Anzüge, bei denen die Farbe Grau dominierte (1994: 133). Es trugen also auch in Deutschland immer mehr Männer Fräcke (tail coats), Gehröcke (frock coats und morning coats), kurze Anzugjacken und Anzüge aus demselben Stoff für Hosen und Jacken (lounge suits oder business suits). Andererseits schreibt Richard Sennett, dass in den Zeiten der Standardisierung von Männerkleidung das Straßenbild weiterhin sehr uneinheitlich geprägt war. Da gab es Handwerker, mit an zünftige Kleidungsvorschriften erinnernder Bekleidung, Staatsbeamte, die ihre Berufskleidung auch auf dem Weg von und zur Arbeit trugen, Dienstleister, wie Hausmeister oder Gepäckträger, die ihre Arbeiten gerne in eigenen Dienstuniformen ausführten und das Militär (Sennett 1986: 310 ff.), das in diversen Uniformen im Alltag der Deutschen präsent war. Das Militär war die prägende Kraft vorindustrieller Macht und vorkapitalistischer Wertvorstellungen gewesen. Auch in der industriellen Gesellschaft stand diese Schicht an der Spitze einer abgestuften Hierarchie, mit kleinen Bürgern und niedrigsten Beamten am unteren Ende, während die Lohnarbeiterschaft nicht dazu gehörte: Arbeiter standen außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft. Ein einziges Infanterieregiment brachte durch die Gehälter der Offiziere, Ärzte, Beamten, Löhnungen der Unteroffiziere und Gemeinen, durch die Zulagen, die Wirtschaftsbetriebe, die Küchen und Offiziersspeiseanstalten unmittelbare Geldwerte. Vom stehenden Heer profitierte also nicht nur die Industrie, sondern auch der Mittelstand (Speier 1977: 16 f.). Repräsentanten der jungen

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Nation fanden sich im Militär viele. Nicht nur für die Industriebetriebe konnte daher der adlige Gutsherr mit seinem paternalistischen Regiment und auch die Militärkaserne mit ihrer straffen Organisation zum Vorbild der sich verändernden Gesellschaft werden (Wehler 1986: 5), sondern auch für die Bekleidungsgewohnheiten. Durch die Öffnung der Offizierslaufbahn für Bürgerliche, zeigte die Uniform des Offiziers immer weniger den Stand als einen achtbaren Beruf an, durch den auch bürgerliche Männer Anerkennung erringen konnten. War im aristokratisch-feudalen Stand in deutschen Staaten und Fürstentümern die ständische Uniform des Offiziers anerkannteste Männerbekleidung gewesen, bekam sie nach 1870 eine neue Bedeutung. Sie war nicht mehr die vorrangig standesgemäße Bekleidung des Aristokraten, sondern wurde eine Berufsuniform. Die Hauptaufgaben des Militärs in Friedenszeiten waren Wache stehen, Paraden abhalten und Honneurs machen (von Boehn 1926: 42). Die Soldaten trugen Uniformen mit Tressen, Troddeln, Quasten, Schnüren in bunten Farben, was bei den Paraden ganz hübsch aussah, sonst aber im Ernstfall eher nicht zu gebrauchen war (von Boehn 1926: 67). Im Alltag konnte damit im Straßenbild jedoch unzweifelhaft demonstriert werden, dass sie einen Beruf ausübten und welcher das war. Unternehmer dagegen trugen keine spezifische Berufsbekleidung, weil die morning coats, dress coats und lounge suits nicht als solche betrachtet wurden. Auch viele Fremde, Händler, Techniker und andere Männer trugen diese Bekleidung. Sie war nicht spezifisch deutsch, und es waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weiterhin weder der Beruf des Großhändlers, Kaufmanns oder Bankers angesehen noch der des Industriellen. Immerhin schon zwanzig Jahre nach dem Beginn der erfolgreichen Industrialisierung in Deutschland verglich der Nationalökonom Schulze-Gävernitz die Lage mit England: Wo die bürgerliche Gesellschaft die erste im Staat ist, wo die industriellen Berufe gesellschaftlich hoch geschätzt werden, wenden sich ihnen auch ohne den Reiz ausnahmsweise hoher Gewinne die besten Kräfte zu, welche sonst teils im Beamtenstande Ehre und Ansehen suchen, teils der Industrie anderer Länder ihre Kräfte zur Verfügung stellen. (1892: 204).

Diese andere gesellschaftliche Anerkennung der gewerblichen Berufe in England wurde als Stärke der dortigen Industrie empfunden. „Hier in Deutschland ist etwas, was einen großen Einfluß gehabt hat; das ist der Umstand, daß die Handels- und Industriegewerbe nicht sehr geehrt sind. Man geht nur in Industrie und Handel, häufig wenn man keinen andern Beruf findet. In England ist das anders.“ (zit. n. Schulze-Gävernitz 1892: 204 f.).

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Der aufmerksam beobachtende Schriftsteller Heinrich Mann (1871–1950), von deutschen Historikern und Feuilletonisten im Gegensatz zu seinem Bruder Thomas meist nicht als Bürger aufgelistet, beschrieb im Roman Der Untertan den um die Jahrhundertwende lebenden Bürger im Kaiserreich, Diederich Heßling, einen Unternehmer mit Doktortitel, der eine Papierfabrik in einer Kleinstadt besitzt. „Die Männer trugen Gehröcke: nur wenige in Verbindung mit schwarzen Hosen, wie Diederich, aber viele mit Strohhüten.“ (1918 [1914]: 24). Das war die Bekleidung der Unternehmer, wie sie z.B. auch Krupp und Siemens und Schiffsmakler der Hapag oder der Lloyd trugen. Auch in Kleinstädten waren englische Einflüsse auf die Männerbekleidung zu bemerken.329 Wiebel war Jurist, was ihm allein schon Diederichs Unterordnung gesichert hätte. Nicht ohne Selbstzerknirschung sah er die englischen Stoffe an, in die Wiebel sich kleidete, und die farbigen Hemden, von denen er immer mehrere abwechselnd trug, bis sie alle in die Wäsche mußten. (Mann 1918 [1914]: 34).

Anerkennend wird bemerkt, dass ein Jurist durchaus englische Stoffe und bunte Hemden tragen konnte, weil er einen Beruf hatte, in dem das zulässig war. Trotzdem war es der prestigeträchtigere Beruf des Juristen gebenüber der Stellung eines Fabrikbesitzers, der ihm die demütige Unterordnung des Letzteren sicherte – nicht seine Bekleidung. Wenn Wehler daher schreibt, dass in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts die Bevölkerung einen schichtspezifischen Aufwandkonsum betrieben habe (1986: 3), dann geht das nicht ganz auf. Denn einen höheren Aufwand im Konsum zu haben, also mehr Geld auszugeben und damit den Besitz von Besitz zu demonstrieren, das reichte im Wilhelminischen Kaiserreich, anders 329 Sich wie Heßling auf eine neue Bartmode einzulassen – nach 1870 wurde der ältere Demokratenbart vom Kaiserbart verdrängt (Nipperdey 1994: 134) –, war schon eine Handlung, die eine Illusion von Macht erzeugen konnte, wie die amerikanischen white-collar workers, die sich einen abknöpfbaren Hemdkragen umlegten, der dem ihres Vorgesetzten ähnelte. „ein Bahnbrecher zu sein für den Geist der Zeit. Um diesen Vorsatz auch äußerlich an seiner Person kenntlich zu machen, begab er sich am Morgen darauf in die Mittelstraße zum Hoffriseur Hahn und nahm eine Veränderung mit sich vor, die er an Offizieren und Herren von Rang jetzt immer häufiger beobachtete. Sie war ihm bislang nur zu vornehm erschienen, um nachgeahmt zu werden. Er ließ vermittels einer Bartbinde seinen Schnurrbart in zwei rechten Winkeln hinaufführen. Als es geschehen war, kannte er sich im Spiegel kaum wieder. Der von Haaren entblößte Mund hatte, besonders wenn man die Lippen herabzog, etwas katerhaft Drohendes, und die Spitzen des Bartes starrten bis in die Augen, die Diederich selbst Furcht erregten, als blitzten sie aus dem Gesicht der Macht.“ (Mann 1918 [1914]: 106).

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Abbildung 30: Karikatur An ihren Hüten sollt Ihr sie erkennen, um 1848.

als in den USA, nicht aus, um anerkannt zu werden. Der Historiker Speier weist darauf hin, dass es nicht immer um wirtschaftliche Vorteile ging, sondern Anerkennung (soziale Geltung), gewonnen werden konnte, so dass „nobilitierte und hoffähige Großindustrielle oder Bankiers ebenso reichen, aber nicht nobilitierten Mitbürgern den Rang abliefen.“ (1977: 16 f.). In der deutschen Gesellschaft war auch nicht die Bildung ausschlaggebend, studiert hatte auch Heßling, aber er war nur Unternehmer. Es war der Beruf, und der war gesellschaftlich noch anerkannter als der Besitz. Da die Unternehmer nur den Gehrock tragen konnten, also keine anerkannte Berufsuniform hatten, war ein Ausweg für sie das Tragen der Uniform des Reserveoffiziers. Dazu noch einmal aus Der Untertan: Er selbst war nur Mensch, also nichts; jedes Recht, sein ganzes Ansehen und Gewicht kamen ihm von ihr. Auch körperlich dankte er ihr alles: die Breite seines weißen Gesichts, seinen Bauch, der ihn den Füchsen ehrwürdig machte, und das Privileg, bei festlichen Anlässen in hohen Stiefeln mit Band und Mütze aufzutreten, den Genuß der Uniform! Wohl hatte er noch immer einem Leutnant Platz zu machen, denn die Körperschaft, der der Leutnant angehörte, war offenbar die höhere; aber wenigstens mit einem Trambahnschaffner konnte er furchtlos verkehren, ohne Gefahr, von ihm angeschnauzt zu werden. (Mann 1918 [1914]: 38).

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In die Reservearmee aufgenommen zu werden, war im Deutschen Kaiserreich nicht jedem Mann möglich, ebenso wie die militärische und die Beamtenlaufbahn oder die Nobilitierung weiterhin vielen verschlossen blieb. Nur wer in der Gesellschaft etabliert war, wer nicht fremd war oder anders auffällig, dem gelang es so, eine akzeptierte Uniform zu bekommen und seine Zugehörigkeit zu demonstrieren. Während Unternehmer den Gehrock trugen, wurde für Honoratioren und städtische Politiker der Frack zur Berufskleidung. Fräcke waren von den 1848erRevolutionären getragen worden, im Roman Der Untertan von Herrn Buck dargestellt. Die Revolutionäre waren mit ihren politischen Forderungen gescheitert. Da die politische Macht weiterhin nicht beim Parlament lag, sondern beim Kaiser und seiner Regierung, versuchten die Parlamentarier über die tagsüber ansonsten nur noch von wenigen Männern getragenen Fräcke Ansehen und Würde auszustrahlen. Der alte Herr Buck [einer, der schon 1848 dabei gewesen war und Vater eines Schulkameraden, A. M.] trug keinen steifen Kragen, sondern eine weißseidene Halsbinde und darüber einen großen weißen Knebelbart. Wie langsam und majestätisch er seinen oben goldenen Stock aufs Pflaster setzte! Und er hatte einen Zylinder auf, und unter seinem Überzieher sahen häufig Frackschöße hervor, mitten am Tage! Denn er ging in Versammlungen, er bekümmerte sich um die ganze Stadt. [...] Alle, auch Herr Heßling, entblößten vor ihm lange den Kopf. (Mann 1918 [1914]: 11).330

Schon der deutsche Kulturhistoriker Max von Boehn hatte geschrieben, dass die Deutschen in allen möglichen Situationen den Frack anzogen, wie die gut angezogenen Engländer das tagsüber nie getan hätten (1963 [1901]: 194). Diese Männer der herrschenden Klasse in England legten vor allem Wert auf den Wechsel der Kleidung im Tagesablauf und hatten strenge Bekleidungsvorschriften für jede Tageszeit (siehe dazu Kapitel 3.1, vor allem S. 157 f.). Während englische Gentlemen über den Wechsel der Bekleidung die Feinheiten ihrer Erziehung belegten, und damit die schwieriger werdende Uniformität, also das „sich richtig einordnen“ (Löwenthal) zu erreichen suchten, wurde in Deutschland über die uniformen und den ganzen Tag getragenen Fräcke demonstriert, welchen Beruf man ausübte. Männer in Berufsuniformen waren angesehener. Und doch 330 Der steife Zylinder wurde durch den weicheren breitkrempigen Hut, der 1848 noch „Demokratenhut“, später dann „Homburg“ genannt wurde, ersetzt. Mit dem Hut war die Grußsitte des Hutabnehmens verknüpft, das verstärkte seine Status-Symbolfunktion (Nipperdey 1994: 133, siehe dazu auch Abbildung 30).

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wurde auch in der deutschen Gesellschaft die äußerliche Erscheinung sehr genau beobachtet, man musste die Feinheiten in der Bekleidung kennen, die sich bei den Berufsuniformen in Dienstgraden, Litzen, Bordüren, Abzeichen zeigten. „Soldiers were not the only men who wore uniform in Imperial Germany; so did customs officers, postal workers, state mine officials, railwaymen and foresters“ (Blackbourn 2005: 289), dazu kam die allgegenwärtige Polizei. „Braid [Litze] and piping [Sterne, Rangabzeichen] were as commonplace as titles.“ (Blackbourn 2005: 289); vielleicht waren die Uniformen sogar begehrter als die Titel. Männer, die keine Berufskleidung anlegen konnten, versuchten die gesellschaftliche Anerkennung durch das Tragen von Quasi-Uniformen zu erlangen, über Reserveuniformen oder Vereinskleidung, so wie schon die Studentenkorps, Turnervereine und andere, auch über Trachten, weswegen sich kleine städtische Trachtenvereine gründeten (Nipperdey 1994: 132).331 Auch dabei zeigten sich wieder sehr moderne Strukturen, wenn es in den Städten einen „halbkonfektionierten Folklorismus“ gab. Ob der allerdings, wie Nipperdey weiter schreibt, „nach oben ausstrahlt“ (1994: 132), was wohl heißen soll, in die besser gestellten Kreise, ist fraglich. Gerade in den Städten konnte über das Tragen von Trachten demonstriert werden, woher man kam oder herkommen wollte, dass man fest verankerte deutsche Wurzeln hatte. In den Dörfern, wo die Leute Einheimische und Fremde kannten, kleideten sich die großen Bauern städtisch (Nipperdey 1994: 133) und das hieß nicht in Trachten, sondern im Anzug. Durch diesen „Ausschluss durch Einschluss“ (Blackbourn 2004: 315), der auch über die Bekleidung stattfand, waren die mobilen, die abenteuer- oder unternehmungslustigen Individualisten ausgegrenzt. Dazu gehörten einerseits die Fremden, aber auch jeder, der den sich als etabliert verstehenden Mitgliedern der Vereine und Vereinigungen sowie bestimmter Berufe nicht passte. Die Zusammenarbeit von Gebildeten und Beamten lief dabei sehr gut. Sie waren, neben dem Militär, die prägenden Gruppen, stolz auf ihre Berufskleidung und stolz auf ihren Beruf.332 Wenn Wehler schreibt, dass sich diese Bürger von einer innerweltlichen Pflichterfüllung und dem Aufgehen im Beruf – „der für keinen 331 Der Historiker Harald Brost schreibt in seiner Kulturgeschichte zur Mode, dass Uniformität als „Tracht geronnene Mode“ sei (1984: 12 f.). Das ist insofern richtig, als die Tracht nach der Mode kam. Trachten waren aber nicht geronnen, d.h. unveränderlich, wenn sie erfunden/eingeführt (invented) waren. Sie wurden weiterentwickelt und abgeändert, genauso wie Uniformen und Anzüge. 332 Die Politisierung der Gelehrten wurde von den Konservativen abgelehnt, Professoren sollten „zweckneutral und gesellschaftsfrei“ sein, „wie die Regierung, deren Ratgeber sie sein wollten.“ Es wurden vor allem konservative Wissenschaftler dadurch begünstigt, auch durch Rückhalt in der Bürokratie gegen Anfechtungen (Krüger 1983: 19).

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echten Bürger je ein ‚Job‘ werden kann“ –, hätten leiten lassen (1987: 252), dann zeigt das auch, dass es weiterhin weniger um Geld oder Profit, also den Besitz von Besitz zu gehen schien.333 Da die gesellschaftliche Anerkennung nicht über den Wohlstand oder Reichtum erreicht wurde, konnten Unternehmer, die nobilitiert waren und damit zum Tragen von Uniformen berechtigt, mehr Anerkennung erfahren als andere, mochten sie auch unternehmerisch erfolgreicher sein. Es ist richtig, dass in der Gesellschaft des Kaiserreichs Bildung vor Besitz ging (Wehler 1986: 5). Aber nicht so, wie Nipperdey es versteht, wenn er Prestige durch Bildung im Bürgertum gegen den wirtschafts- und erfolgsbetonten Zeitgeist und den Wertewandel stellt (1994: 187). Das verweist wieder auf die Trennung von Industriellen (Wirtschaftsbürgern) und Bildungsbürgern. Wenn allerdings die Aussage gemacht wird, dass alle jungen Bürgerlichen dieselben Universitäten, in denselben Verbindungen und Burschenschaften als „Lebensbünde“ erlebten, sich in denselben Vereinen, Casinos, Verkehrskreisen bewegten (Wehler 1987: 250), waren doch viele dieser jungen Männer weiterhin ausgeschlossen. Obwohl einige außerordentlich gebildet waren, wurde ihnen in der deutschen Gesellschaft die Anerkennung verweigert, anderen Männern wurde der Zugang zu einem akademischen Bildungsweg verwehrt. Die Universitäten, mit denen sich die Deutschen voller Stolz brüsteten, waren Brutstätten eines wirrköpfigen militaristischen Idealismus und Mittelpunkte des Widerstandes gegen alles Neue in Kunst oder Sozialwissenschaften. Juden, Demokraten und Sozialisten, mit einem Wort, die Außenseiter, wurden dem geheiligten Bezirk der höheren Bildung ferngehalten. (Gay 1987: 19).

Weil es trotzdem einige von diesen Außenseitern gab, denen sich der Zugang zum akademischen Bildungsweg öffnete und die einen Universitätsabschluss erreichten, war Berufskleidung wichtig für die hierarchische Strukturierung und die Anerkennung in der Gesellschaft.334 Da die Anerkennung in der deut333 Die Welt des Inneren, der Berufung, war auch eine Abwehr gegen die Arbeiter. Beamte durften nicht streiken, auch hier gilt der Erkauf von Wohlstand und Sicherheit auf Kosten der Freiheit (Marcuse 1998). Der Beruf sollte wichtiger sein als das Geld, das in dem Beruf verdient wird. Damit wird das Scheitern im Beruf nicht auf die Aufgabe gelegt, sondern in den Menschen selbst. 334 Auch der Soziologe Rehberg, der im Aufsatz Kanonsehnsucht und Unterschichten-Abwehr als Zeichen neuer Bürgerlichkeit (2010: 55) den Bildungskanon kritisiert, liegt damit für die heutige Gesellschaft richtig, aber nicht für die vergangene im Übergang zum 20. Jahrhundert (2010: 59). Und wenn auch Wehler schreibt, der neuhumanistische Bildungsgedanke sei im 19. Jahrhundert verwässert worden (1987: 272), so gilt es festzuhalten, dass

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schen Gesellschaft über den Beruf lief, der wichtiger war als Besitz und Bildung, konnten gebildete Männer (und Frauen), wie es viele jüdische Mitbürger waren, ausgeschlossen werden. Diese Gebildeten, die auch als Anzugträger aus heutiger Sicht oft als in der Gruppe der Bildungsbürger integriert dargestellt werden, wurden, weil ihre Berufe nicht die nötige Anerkennung fanden, damals aus der Gesellschaft wieder ausgeschlossen oder waren den Bildungsbürgern wieder verdächtig. Anfang des 19. Jahrhunderts hatte Ludwig Börne die Verweigerung der Emanzipation der Juden damit beschrieben: „Ihr haßt die Juden nicht, weil sie es verdienen; ihr haßt sie und sucht, so gut ihr es könnt, zu beweisen, daß sie es verdienen, weil sie verdienen.“ (zit. n. Claussen 2005: 117). Den Antisemiten und Nationalisten waren bourgeoise Anzugträger als jüdische verdächtig gewesen (siehe dazu Kapitel 1.3). Dieser Verdacht konnte in der deutschen Gesellschaft nach 1870 nicht mehr aufrechterhalten werden. Es gab jetzt viele Träger von Fräcken, Gehröcken und anderen Anzügen und von diesen Männern verdienten einige sehr viel Geld. Wehler beschreibt es so, dass sich im Kaiserreich jetzt die Alltagsmaxime: „Bildung vor Besitz“ abschwächte und sich aus der Verachtung des „vulgären Materialismus“ der erfolgreichen Wirtschaftsbürger eine respektvolle Koexistenz mit den Bildungsbürgern entwickelte (1987: 247). Aber selbst wenn es so war, wie Wehler beschreibt, entwickelten die Bildungsbürger gegenüber den Industriellen (Wirtschaftsbürgern) diesen Respekt, ließen ihn aber weiterhin bei gewissen Kaufleuten, Großhändlern, Bankern vermissen. Das zeigt sich daran, dass jetzt raffendes und schaffendes Kapital unterschieden wurden. Durch diese spezielle Trennung wurde den Juden nicht die Bildung abgesprochen, im Gegenteil, es wurde ihnen nachgesagt, besonders gebildet zu sein.335 er das seit dem Ende des 18. Jahrhunderts war (siehe dazu Kapitel 1.3). Zur Kritik von Bildung und Kultur als Deutungsmuster vgl. auch Bollenbeck (1996). 335 Der Historiker Nipperdey schreibt, es habe eine bestimmte analytische Schärfe jüdischer Intellektualität und Traditionskritik gegeben, die bei Journalisten und Schriftstellern, bei generalistischen Geistes- und Sozialwissenschaftlern auffiel, auch wenn sie keineswegs spezifisch jüdisch war. Das klingt bei Nipperdey sehr widersprüchlich, vor allem, wenn er weiter schreibt, dass die Juden sich nicht einfach von den eigenen Traditionen emanzipierten, sondern zu Musterschülern von Bürgerlichkeit und Bildung wurden. Das konnte dann gelegentlich den leicht negativen Eindruck des Forcierten, Künstlichen, Nicht-ganzSelbstverständlichen erwecken: Musterschüler sind nicht geliebt. Die Juden überschritten die eigentlich erstrebte Normalität, die Distanz zu den Nichtjuden wurde gerade nicht aufgehoben. Die assimilierten wohlhabenden Juden wurden Protagonisten einer neuen Modernität, die der Normalbürgerlichkeit der Deutschen, auch in ähnlicher sozialer und kultureller Lage weit voraus war (1994: 407). Das sind Argumente, die auch im 19. Jahrhundert gebracht worden waren. Den Juden wurde die Schuld dafür gegeben, dass die an-

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Aber der Zugang zu vielen Berufen, auch zur militärischen Laufbahn und der des Beamten, blieb ihnen versperrt. Und es gab Berufszweige, die als jüdisch-bourgeois gekennzeichnet wurden und denen die gesellschaftliche Anerkennung verweigert blieb. Dazu gehörten die Banken336, die Warenhäuser und die Kleidungsindustrie.337 deren Bürger, die „Deutschen“, sie nicht mochten. Bei Nipperdey ist zu lesen, die jüdischen Familien hätten weniger Kinder gehabt, einen schnelleren Abbau des Patriarchalismus und den Frauen eine bessere Stellung innerhalb der Familie gegeben und diese ausgeprägte „Modernität“ von Lebensformen habe die Juden unterschieden (Nipperdey 1994: 407). Hier zeigt sich wieder das Problem in der deutschen Gesellschaft, wenn Assimilation für die Anerkennung in der Gesellschaft gefordert wird. Wer die geforderte Lebensform zu ausgeprägt lebte, konnte genauso wieder ausgeschlossen werden, wie der, der sie nicht lebte. Assimilation kann nicht gelingen, denn es können immer neue Kriteren gefunden werden, wenn Menschen ausgeschlossen werden sollen, anders die Forderung nach Adaptation, die schon im Begriff auf beiden Seiten die Anpassungsleistung einfordert. Dass die alten Ressentiments in aktuellen Debatten wiederholt werden, kann dem Erkennen des vorhandenen Defizits an bourgeoisen Traditionen in der deutschen Gesellschaft nur im Weg stehen. 336 Dem Kapital konnte kein Made in Germany zugesprochen werden, aber den Banknoten schon: die Deutsche Mark. Vielleicht war es deshalb umso enttäuschender, als sich dieses deutsche Geld mit der Inflation 1923 verflüchtigte. 337 Und die jüdische Beteiligung war darauf zurückzuführen, dass die Erfahrungen in diesem Wirtschaftszweig in den ihnen vor der Einführung der neuen Produktionsweise im Bekleidungssektor zugewiesenen Erwerbsmöglichkeiten jetzt nützlich waren (Westphal 1992: 100). Schon im Mittelalter war der von Juden betriebene Handel mit Kleidern von den seit dem 13.  Jahrhundert im deutschen Gebiet bestehenden Schneiderzünften bekämpft worden. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begannen die Auseinandersetzungen heftiger zu werden. Fertige Bekleidung durften Schneider nur außerhalb vom Zunft- und Gildensystem herstellen (Westphal 1992: 13) und weil die jüdischen Schneider nicht in die Zünfte aufgenommen wurden, werden vor allem sie damit Geld verdient haben. Auch im Textilhandel waren viele Juden tätig, die in Konkurrenz zu den vor Ort befindlichen Stoffhändlern lebten. Durch das Emanzipationsedikt von 1812 kamen nach Preußen, vor allem nach Berlin, viele Juden, um dort zu arbeiten (Westphal 1992: 15). Der Anteil an der Bevölkerung betrug zum Ende des Jahrhunderts 4,15  % (Westphal 1992: 26). Darunter gab es Schneider, die für die aufstrebende Berliner Konfektion von Bedeutung waren (Westphal 1992: 115). Seit 1837 in Berlin die erste Firma für Konfektionswaren gegründet worden war, wuchs die Branche in Berlin beständig an. In Berlin gelang einigen Juden der Aufstieg im Bereich der Konfektion. Es wurden hier allerdings hauptsächlich Mäntel gefertigt und später Damenkonfektion, auch war die Branche sehr auf den Export ausgerichtet. Der deutsch-französische Krieg bedeutete auch hier eine gute Gelegenheit für Exporte, weil die Einkäufer aus Amerika und England von Paris abgeschnitten waren, und in Berlin einkauften (Westphal 1992: 17 ff.). Dabei handelte es sich aber um hochwertige Damenbekleidung, nicht um Männerbekleidung. Mit der Gründerkrise 1873 begannen die Kleingewerbetreibenden und Handwerker den Aufstieg

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Die Bekleidungsherstellungsbranche war wegen des hohen Anteils an jüdischen Inhabern eine Zielscheibe des Antisemitismus. Aussagen wie, die Mode sei „verjudet“ und werde von „den Juden diktiert“, wurden Ende des 19. Jahrhunderts üblich (Westphal 1992: 27 f.).338 Hier konnte die im 18. Jahrhundert begonnene, aus der antifranzösisch-antifeudalen entwickelte antisemitisch-antibourgeoise Debatte weitergeführt werden, die die Ablehnung von Massenproduktion und Mode beinhaltete (siehe dazu Kapitel 1.3). Die Bekleidungsbranche nahm auch in Deutschland die Produktion von Ready-to-wear-Anzügen auf, die Fertigung beruhte, wie überall, auf der standardisierten Ware. Die Skepsis vor der Nivellierung der Anzugträger, der Fremden, war groß, denn sie unterlief das Prinzip der Uniformierung in der Berufskleidung, das Beständigkeit und Immobilität verlangte. Mode war als ständig wechselnde Kleidung, wie das Kapital, verdächtig mobil, und dagegen wurde antisemitisch argumentiert. Die flüchtige Modebekleidung unterschied sich als Ware deutlich von den in den anderen Industriebetrieben hergestellten Produkten, wie Stahl, Kanonen und Maschinen. Die Juden wurden als „Schrittmacher des Kapitalismus und des revolutionären Sozialismus“ angesehen, die durch eine „internationale Verschwörung des Judentums“ zum Untergang des Staates führten (Westphal 1992: 26 f., Herv. A. M.). Logik war nicht die Sache der Antisemiten. Zum antisemitischen Stereotyp gehörte, dass die jüdische Intellektualität [nicht einmal Bildung genannt] eine zersetzende, wurzellose sei (Nipperdey 1994: 407).339 Juden wurden Wurzeln aberkannt, ihnen der jüdischen Geschäftsleute und Unternehmer zu beneiden (Westphal 1992: 26). Erst um die Wende zum 20. Jahrhundert eröffneten im Berliner Zentrum Firmen für Herrenkonfektionen (Westphal 1992: 29). Insgesamt war immer nur rund die Hälfte der Konfektionsgeschäfte in jüdischem Besitz (Westphal 1992: 100), aber die in der Bekleidungsindustrie und auch in der Konfektionsbranche durchweg miserablen Arbeitsbedingungen wurden vor allem den jüdischen Konfektionshausbesitzern angelastet (Westphal 1992: 26). So richtig es war, die schlechten Zustände in der Herstellung und im Verkauf von Bekleidung den Unternehmen anzulasten, so falsch war es, diese Zustände den Unternehmensleitungen anzukreiden, weil sei vermeintlich jüdisch waren. 338 Der Verein zur Abwehr des Antisemitismus in Berlin versuchte in seinen Mittheilungen (in der Ausgabe vom 29. Juni 1899) auf die Unlogik der antisemitischen Argumentation einzugehen und machte darauf aufmerksam, dass Burschenschafter berichtet hatten, an den Universitäten müssten sich die Korps, Landsmannschaften und Burschenschaften schon nach der jüdischen Mode richten. In der Mitteilung wurde daher gefragt, ob tatsächlich bei den wenigen in den Vereinigungen zugelassenen Juden, „jüdische Kouleurstudenten einst den tausenden christlichen Kommilitonen ihren Geschmack aufgezwungen haben?“ (zit. n. Westphal 1992: 28). 339 Bei Nipperdey heißt es: „Die Brillanz jüdischer Journalisten-Kritiker, die besondere Rolle in neuen Wissensgebieten, etwa in den vom Unterschied von Fremden und Anderen zehrenden Disziplinen Psychologie und Soziologie, sind Beispiele. Das antisemitische Vor-

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wurde Internationalismus und Kosmopolitanismus zugesprochen, die als vermeintlich fremdes Verhalten in der deutschen Gesellschaft wenig anerkannt waren, sie wurden zu Fremden gemacht. Und da ihnen häufig die Aufnahme in die Verbindungen, Turn- oder Trachtenvereine verweigert wurde, blieb ihnen nicht einmal diese Quasi-Uniformierung, um ihre Sesshaftigkeit, Beständigkeit und tiefe Verwurzelung zu beweisen.340 Damit wurde Deutschen, selbst wenn sie eine hohe Bildung genossen und Intellektuelle waren, weiterhin von den Männern, die heute Bildungsbürger genannt werden, in der deutschen Gesellschaft urteil hat solche Phänomene gewaltig hochgesteigert und in den Alltag hineinprojiziert. Aber hier entstand eine neue Distanz.“ (1994: 407). Eines dieser neuen Wissensgebiete interessierte auch den Soziologen Georg Simmel, hier betrieb er seine bis heute einflussreiche Forschung. Gerade weil er in seiner deutschen Gesellschaft wenig Anerkennung bekam, stieß er auf gesellschaftliche Phänomene, die er in seinen immer noch aktuellen Essays behandelte: Der Fremde oder Die Großstadt und das Geistesleben. In der schon von modernen Entwicklungen eingeholten deutschen Gesellschaft hat er ein anderes Bild von den Fremden zu zeichnen versucht und dabei das bourgeoise Freiheitspotential dieser Fremden und das mögliche Freiheitspotential des Lebens in einer Großstadt eingefangen. Obwohl schon seine Eltern getauft waren, wird er bei Nipperdey wieder zum Juden, aber auch bei der Soziologin Elisabeth Lenk findet sich das Argument: „Der Name Georg Simmel steht für eine sorgfältig dosierte deutsch-jüdische Mischung aus intellektuellen, moralischen und geselligen Fähigkeiten, für die Atmosphäre eines gleichermaßen strengen und lustbetonten Lebens, eines Lebens, das völlig modern ist und doch mit der Tradition kommuniziert, für eine nicht bloß äußere, sondern innere Eleganz, mit einem Wort für eine Kultur, die sich in Deutschland einst in einigen wenigen Exemplaren ausgeprägt hatte und längst versunken ist.“ (1986: 432). Doch auch wenn sie hier versucht eine positive Bestimmung zu machen, müsste kritisch hinterfragt werden, warum er als deutschjüdischer Autor galt und gilt. Denn es waren seine Erfahrungen als Ausgeschlossener, als Außenseiter, die seine Schriften geprägt haben und ihn zu einem Kritiker seiner, der deutschen, Gesellschaft werden ließen, nicht die Tatsache, dass seine Eltern einstmals Juden waren. Und seine Analysen standen in der deutschen Tradition, weil auch er, wie in seinen Schriften zur Mode zu sehen, sich mit den Herausforderungen des Individuums in der sich – trotz aller Differenzen im deutschen Kaiserreich – standardisierenden Gesellschaft auseinandersetzte. Er wollte die Persönlichkeit gerettet sehen, indem die Leute mit der Mode, d.h. den neuesten Bekleidungsgewohnheiten, gehen und im Inneren individuell bleiben könne. Er wollte nicht, dass sie in antimodischen Uniformen verblieben. Mit dieser Betonung der Persönlichkeit und der individuellen Freiheit ist er beeinflusst gewesen von Autoren der vorherigen Generationen, wie Goethe, Kant, Hegel, Nietzsche u.a. 340 Im 19. Jahrhundert wurde die „Allgemeinzugänglichkeit“ der Vereine immer weiter behindert, seit 1873 war diese Einschränkung in vollem Gang (Mommsen 1987: 288 ff.). Es verwundert nicht, wenn der Historiker Hans Mommsen schreibt, dass die antisemitischen Vereine vom städtischen Bürgertum und den Intellektuellen bevorzugt wurden, die nicht in gesicherte Positionen kamen. Die Juden mussten sich meistens in eigenen Vereinen zusammenschließen.

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als Folge der Forderung nach Assimilation die Anerkennung in ihrer Gesellschaftsgruppe verweigert. Man kann an diesen feinen Differenzierungen in der Anerkennung von Bildung und Besitz sehen, dass nicht galt: „Bildung geht vor Besitz“ (Wehler 1986: 5), wie aus heutiger Sicht gern angenommen; Bildung sollte für viele Bürger vor Besitz gelten, aber das entscheidende Kriterium, was noch davor galt, das war der Beruf. Der Beruf wird bis heute als Ursache für bürgerliche Lebensführung begriffen, wie von dem Medienwissenschaftler Norbert Bolz [der immerhin im Sammelband von Bude/Fischer/Kauffmann, 2010, aufgenommen wurde und sich damit an der Debatte zur Bürgerlichkeit sehr wirkungsvoll beteiligen darf ]: „Mein Beruf steht für das, was ich sein soll. Er ist die Aufgabe meines Lebens, markiert meine soziale Stellung und den Ort meines Seins. […] Arbeit im Beruf aus einem Mittel zum Zweck wird. […] Beruf, als Berufung“. Und über den Beruf zu argumentieren, heißt eben auch immer, eine Chancenreduzierung für den Einzelnen zu bestimmen. Bolz erkennt schon zu recht, dass „das bürgerliche Zeitalter von Goethe bis Max Weber den Einzelnen auf die Forderung des Tages verpflichtet“ hat. Womit bei ihm gemeint ist: „Die Welt, in der er sich bewährt, ist die Welt des Üblichen, der Routine, der Pensums, der Pflichten und Gewohnheiten, also die Welt der nächsten Dinge.“ (2010: 73 ff.). Um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert hingen solche Forderungen für Soziologen wie Max Weber mit den Veränderungen in der sich schnell entwickelnden und damit verändernden deutschen Gesellschaft zusammen. Das Problem dabei war aber für viele (und ist es bis heute), dass diese richtige, und das heisst routinierte, Lebensführung und die dazugehörende anerkannte Berufsbekleidung nur in einem Beruf arbeitende Bürger erreichen konnten.341 Damit wurden nicht nur mobile, unternehmungslustige Männer, sondern alle kosmopolitischen, toleranten, 341 Heute sind Uniformen und Berufsbekleidung in vielen Bereichen aus dem Alltagsbild deutscher Städte und Dörfer verschwunden, der Beruf aber ist immer noch wichtig. Flexibilität ist verlangt, aber nicht erlaubt. Mit der Lebensführung, die nur durch einen Beruf erreicht werden könne, wird gegen Menschen argumentiert, die nicht nur versuchen, in der Fremde ihr Glück zu machen, sondern durch den in Deutschland seit 1989 alternativlos und radikal umgreifenden Kapitalismus und den Verlust von immer mehr sozialen Sicherungen durch den Staat in sich weiter verschlechternden prekären Verhältnissen leben. Ihnen wird vorgeworfen, dass sie nicht pflichtbewusst sind, sich nicht bewährten, keinen Beruf hätten, anstatt die gesellschaftlichen Verhältnisse zu kritisieren, die diese Menschen dazu zwingen, mehrere Jobs zu haben, oder, ohne es vorausahnen zu können, innerhalb von Wochen zu Tausenden gekündigt zu werden. Das argumentative Ausruhen auf dem Beruf ist wenig empatisch, es ist zynisch. Da verwundert es nicht, dass Bolz mit Arnold Gehlen, Hans Freyer und Helmut Schelsky drei im Nationalsozialismus erfolgreich wirkende und diesem verbundene Wissenschaftler nennt, anstatt darauf hinzuweisen, dass mit der von

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liberalen, bourgeoisen Kritiker, Künstler und alle anderen diskreditiert, die dieser auf Stabilität und Immobilität ausgerichteten Gesellschaft nicht passten. Um die eigene anerkannte Stellung der Bildungsbürger genannten Männer in der bestehenden deutschen Gesellschaft zu sichern, wurde die Etablierung in einem Beruf durch langjährige Ausübung von ihnen erfolgreich für notwendig erklärt. Die immobilen Sesshaften bekamen im Deutschen Kaiserreich in der Uniform der Berufe hohe gesellschaftliche Anerkennung zugesprochen. Sonderklasse im Anzug Der Ökonom Werner Sombart sah Mobilität als Befreiung vom Druck des Kapitalismus (1969 [1906]: 136), sie habe in den USA zu einer anderen Gesellschaft geführt. In der amerikanischen Gesellschaft war es die Forderung nach profitorientierten, eigene interests verfolgenden Bürgern, die, in Anerkennung der Mobilität, ihre eingeschränkten Arbeitsmöglichkeiten in Europa hinter sich gelassen hatten (siehe dazu Kapitel 2.3). Hier wurden Gelegenheiten ergriffen, um sich ein besseres Leben zu erarbeiten, die über den Markt zugänglich waren. Einen Beruf, den man für immer hatte, davon ließen sich in den USA weder die Bourgeoisie noch andere Gruppen der Gesellschaft leiten. Daher schreibt Sombart, dass der Arbeit respektvoll begegnet werde, in dem Land zähle nicht, was man sei, weniger noch das, was man selbst oder die Eltern gewesen wären, einzig die Wertung des Einzelnen, das, was er heute leiste. Weil in den USA „Standesdünkel“ fehlten, konnte die Arbeit in ihrer abstrakten Form ein Ehrentitel werden. Und damit sei auch dem Arbeiter respektvoll begegnet worden, er „fühlt sich dadurch natürlich anders als sein Kollege in einem Land, wo der Mensch wenn nicht beim Baron, so doch beim Reserveoffizier, beim Doktor, beim Assessor überhaupt erst anfängt.“ Die soziale Stellung unterscheide den industrial worker von seinen europäischen Genossen. „‚Freiheit‘ und ‚Gleichheit‘ (nicht nur im formal-politischen, sondern auch im materiell-sozialen Verstande) sind für ihn nicht leere Begriffe, vage Träume wie für das Proletariat in Europa, sondern zum guten Teil Wirklichkeiten.“ Den amerikanischen Arbeitern fehle das „Stigma der Sonderklasse [...] Auch im Auftreten, im Blick, in der Art der Unterhaltung sticht der amerikanische Arbeiter grell vom europäischen ab. Er trägt den Kopf hoch, geht elastischen Schritts und ist frei und fröhlich in seinem Ausdruck wie nur irgend ein Bürgerlicher. Das Gedrückte, das Submisse fehlt ihm.“ (Sombart 1969 [1906]: 126 ff.). Und selbst die englischen Arbeiter seien „erstaunt über den respektvollen Ton, den Unternehmer und Werkmeister in ihm hochgelobten „preußischen Pflichterfüllung“ (Bolz 2010: 72) schon Adolf Eichmann versucht hat, seine Taten zu entschuldigen.

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den Vereinigten Staaten dem Arbeiter gegenüber einschlagen“ (Sombart 1969 [1906]: 130). Der gesellschaftliche Aufstieg war in der amerikanischen Gesellschaft nicht an den Beruf gebunden, wie in Deutschland, sondern an ein individuelles Suchen nach Glück. Und da die gesellschaftliche Anerkennung ab den 1870er-Jahren in den USA über den Konsum geregelt wurde, waren die Voraussetzungen dafür leicht zu erfüllen, etwa durch den Kauf von Anzügen konnte das überall gelingen (siehe dazu Kapitel 2.2). Der Soziologe Hans Speier (1977: 17) hatte in der Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs die kleinen Bürger und Beamten am unteren Ende der Kleinstadthierarchie gesehen und die Lohnarbeiter außen vor. Den gezwungenermaßen berufslosen Arbeitern konnte die Anerkennung in der deutschen Gesellschaft des Kaiserreichs verweigert werden; hier war Arbeit an sich kein Wert, wenn sie nicht für einen Beruf eingesetzt wurde. Arbeiter hatten keine Berufsuniformen, sondern trugen wie die Industriellen, die Warenhausbesitzer, Banker, Großhändler und Kaufleute (merchants) Anzüge und teilten insofern das Schicksal als Anzugträger. Arbeiter waren verdächtig als Fremde, gerade weil durch den hohen Bedarf an Arbeitskräften viele aus anderen Gesellschaften kamen. Aber auch wegen ihrer Mobilität, weil bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts viele Arbeiter auf der Suche nach besseren Arbeitsmöglichkeiten, höheren Löhnen etc. umherzogen.342 Die im deutschen Kaiserreich an die Berufsbekleidung ortsgebundene gesellschaftliche Anerkennung richtete sich damit nicht nur gegen die Fremden, die Nicht­ etablierten, Gastarbeiter, sondern auch gegen die Arbeiter, die versuchten, aus der kapitalistischen Gesellschaft das für sie Beste herauszuholen. Weil zusammen mit der zunehmenden Immobilität der Arbeiter ab den 1840er-Jahren die organisierte Arbeiterbewegung stärker wurde, wurde die Sesshaftigkeit von Arbeitern für die herrschende Staatsmacht und die Industriellen zu einem Problem.343 Wehler schreibt, dass die Sozialdemokratie auf 342 Genauso wie in den USA bestimmten Mobilität und Wanderbewegungen lange Zeit das Leben der Arbeiter (Nipperdey 1994: 291, auch Blackbourn 2005: 273). 343 Die Heimatanbindung an ein Viertel setzte erst langsam ein, z.B. in den Bergarbeitersiedlungen im Ruhrgebiet, und führte zu Angleichung und Vereinheitlichung (Nipperdey 1994: 71). Es gibt manche objektiven Tatsachen, die für die Einheit der Klasse sprechen, ihr Zusammengehörigkeitgefühl, ihre Abgrenzung. Die spezifischen Arbeiter-Wohnviertel, die Verkehrskreise, Sprach- und Stilgemeinsamkeiten, die Heiratskreise (Nipperdey 1994: 317). Auch Blackbourn schreibt, dass die Arbeiter zwischen mobilen und sesshaften, als „rough“ und „respectable“ unterschieden wurden. Die zunehmende Sesshaftigkeit führte dazu, dass jetzt die zweite oder schon dritte Arbeitergeneration heranwuchs und man sagen konnte, zeig mir wo du wohnst und ich sage dir wer du bist. Wohnquartiere der Arbeiter boten informellen Austausch von Dienstleistungen und Unterstützung (2005: 273  f.). Darum war die Sozialdemokratische Partei neben den Gewerkschaften

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der einen Seite ihre Emanzipation wahrgenommen hätte, sich aber auch ihre Absonderungstendenz verstärkt habe (1980: 89).344 Arbeiter konnten sich aber kaum emanzipieren und die Aufstiegsmobilität war im Ganzen gering. Es gab vor allem kleine Aufstiege, die Arbeiter blieben jedoch vornehmlich in der sozialen Position, in der sie begonnen hatten (Nipperdey 1994: 316). Und doch ging es dabei weniger um eine Absonderungstendenz der Arbeiter, wie Wehler meint (1980: 89), als vielmehr um deren täglich wiederholte Erfahrung, von der Gesellschaft ausgeschlossen zu sein. Überall und offen bestätigte sich die Ausgegrenztheit „von denen da oben“. Schule und Armee, Polizei vor allem und oft auch Verwaltung, Gerichte, Staatsbetriebe (wie die Eisenbahn) wurden von den Arbeitern als feindliche oder zumindest fremde Autoritäten erlebt (Nipperdey 1994: 318) – aber auch die Fabriken gehörten dazu. Im Kaiserreich erfuhren die Arbeiter alltäglich, dass Kleider Leute machen, sie mussten ihre Mützen ziehen und sich verbeugen, vor den Uniformträgern, vor einfachen Trambahnschaffnern, Postbeamten, Polizisten und Offizieren, aber auch vor den Bürgern im Gehrock oder Frack. Gerade weil noch der in der

und Kooperativen zum größten Einzelmoment der organisierten Arbeiterbewegung aufgestiegen. Als 1890 das Sozialistengesetz fiel, hatte die SPD 100.000 Mitglieder, 1907 eine halbe und 1914 über eine Millionen Mitglieder. Von 1909–10 hatte die SPD 720.000 Mitglieder, das waren mehr als die großen sozialistischen Parteien in Österreich, Belgien, Dänemark, Frankreich, Italien, den Niederlanden, Norwegen, Schweden, der Schweiz und Großbritannien zusammen. Es gab kein Äquivalent zur SPD in der Welt: eine unabhängige, klassenbasierte, explizit sozialistische Partei der Arbeiter mit einer massenhaften Mitgliederzahl. Das Verbot durch Bismarck hatte die SPD nicht zerstört, sondern stärker gemacht und zu einer stärkeren Einheit unter den Proletariern geführt. Die SPD war trotz ihrer Größe im Alltagsleben ihrer Mitglieder, in der Nachbarschaft der Proletarier, angesiedelt (Blackbourn 2005: 313). Die Partei gab dem Leben von Millionen eine Struktur, durch die Presse, deren einflussreichstes Blatt der Vorwärts war, Treffen und Erholungsorganisationen, aber auch Vereine, wie die Sängervereine, Gymnastikvereine, Sportklubs, Theatergruppen und Arbeiterbibliotheken. Der 1. Mai wurde ein festes Ritual der Arbeiterfamilien (Blackbourn 2005: 275 und 313, Wehler 1980: 89). Ihre Fahne war die rote, anders als bei amerikanischen Paraden oder Protesten (siehe dazu Kapitel 2.3). 344 Auch für Nipperdey ist es zuerst die Sozialdemokratie, die selber durch Abgrenzung der Arbeiter für diese Situation der Ausgrenzung gesorgt habe. Und er verweist auf vorbürgerliche deutsche Traditionen, wie ständische Vorstellungen, für die es auf Herkunft und Bildung ankommt, auf Berufstraditionen und Lebensstil sowie auf ein Selbstverständnis (1994: 377), nicht auf die Klassenlage, die Stellung der Arbeiter im Produktionsprozeß, ja nicht einmal auf die Einkommensunterschiede.

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Hierarchie niedrigste Uniformträger herumschnauzen durfte, versuchten viele Männer eine Uniform zu bekommen.345 Die fortgesetzten Versuche der Unterdrückung, Gegnerschaft, die Schikanen und Drohungen – das hielt den Gegensatz zum Staat fest, keine Fortschritte konnten daran etwas ändern (Nipperdey 1994: 318). Für die Arbeiter war es daher von wenig Bedeutung, ob die Industriellen vom Kaiser hofiert wurden oder vor ihm katzbuckeln mussten. Der Staat wurde als autoritärer Obrigkeitsstaat und als Instrument der herrschenden Klasse erfahren. Wer sich gegen Krupp auflehnte, tat das auch gegen den kaiserlichen Gesamtkapitalisten und wer das tat, durfte kein Bürger des deutschen Kaiserreichs sein. Da ihr sowohl die Gleichberechtigung in der bürgerlichen Gesellschaft als auch seit dem Anschluß an die Internationale (1869) die nationale Loyalität bestritten wurde, kapselte sie sich ab und bildete die Sozialdemokratie eine eigene Subkultur in der Gesamtgesellschaft aus. (Wehler 1980: 89).

Für Wehler war es die gemeinsame Erfahrung von Abhängigkeit, Diskriminierung, Immobilität, auch Unsicherheiten, die Ausgrenzung der Arbeiter im Betrieb, in ihren Wohnquartieren, das eigene Abkapseln und das wachsende Selbstbewusstsein, das auf dem „Eigenleben einer Subkultur“ beruht habe (1986: 21). Schon das Wort „Subkultur“ beschreibt eine untergeordnete Kultur, die nicht der – ja, welcher? – herrschenden entsprach. Wenn es eine eigene gewesen wäre, dann hätte sie wenigstens in der aktuellen Debatte auch etwas Eigenes gehabt haben müssen. An anderer Stelle schreibt aber auch Wehler davon, dass man nicht von einer „klar identifizierbaren ‚Arbeiterkultur‘“ sprechen könne (1986: 23). Und bei Nipperdey heißt es, dass die Arbeiter bei der Bekleidung im allgemeinen nach bürgerlichen Gepflogenheiten gekleidet waren, wobei der bürgerliche Hut besonderen Gelegenheiten vorbehalten war und Arbeiter ansonsten 345 Daher war, wer in den Genuss einer Uniform kommen konnte, wie der Reserveoffizier Diederich Heßling, besser gestellt. Der demokratische Zuschnitt des öffentlichen Lebens in den USA bedeutete im Vergleich dazu, dass dem Arbeiter nicht ständig vor Augen geführt wurde, dass er einer niedrigeren Klasse angehörte. „Der Gewerkschaftsführer, der an einem Festbankett teilnimmt, bewegt sich ebenso sicher auf dem Parkett wie in Deutschland irgend eine Exzellenz. Er trägt aber auch einen brillant sitzenden Frackanzug, Lackstiefeln [sic], elegante Wäsche nach der neuesten Mode, so daß ihn auch äußerlich wiederum niemand vom Präsidenten der Republik zu unterscheiden vermag.“ (Sombart 1969 [1906]: 128). Bei dieser Aussage von Sombart muss man wieder die deutsche Erfahrung berücksichtigen, er als Besucher sah die tatsächlich bestehenden feinen Unterschiede nicht so, wie sie etwa Thorstein Veblen sehen konnte (siehe dazu Kapitel 3.2).

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Mützen trugen (Nipperdey 1994: 133). Was für die Bekleidung der Arbeiter im deutschen Kaiserreich der 1890er-Jahre der Zeitgenosse und Nationalökonom Schulze-Gävernitz beschreibt, unterscheidet sich davon deutlich. In den meisten bekannt gewordenen deutschen Arbeiterbudgets decken die Einnahmen die Ausgaben kaum; sehr häufig bleibt ein Minus, das durch Wohlthätigkeit und Armenpflege, in vielen Fällen durch Prostitution, stets durch Elend und Not gedeckt wird. […] Der Hausrat der deutschen Arbeiterfamilien wird fast nie neu gekauft, sondern, wie in zahlreichen Fällen auch die Kleidung, vom Trödler, oder durch Wohlthätigkeit erworben. (Schulze-Gävernitz 1892: 244 f. und 247, auch Olberg 1896: 35 ff.).

Eine Leipziger Buchdruckerfamilie, die damals zu den besserverdienenden Arbeiterfamilien gehörte, konnte sich für die Kinder nur Schuhe im Winter leisten, in der wärmeren Jahreszeit mussten sie barfuß laufen. Vom Familienvorstand einer Frankfurter Arbeiterfamilie heißt es: „Er kauft wohl einmal eine Arbeitshose oder ein derart unentbehrliches Kleidungsstück, hat aber seit 15 Jahren keinen neuen vollständigen [Anzug] mehr sich angeschafft.“ (Schulze-Gävernitz 1892: 247). Verglichen mit den Bekleidungsgewohnheiten der amerikanischen Arbeiter fällt dabei auf, dass diese nicht in einer Alt-Kleiderhandlung kauften, häufig die Bekleidung wechselten und abgetragene Anzüge ausrangierten (Sombart 1969 [1906]: 120).346 Selbst die billigsten Kleidungsstücke kosteten mehr in den Vereinigten Staaten als in Deutschland, „so wesentlich wohl deshalb, weil kein Mensch in Amerika, auch der Arbeiter nicht, solchen notorischen Schund kaufen mag.“ (Sombart 1969 [1906]: 110). Auch in Deutschland war das Tragen von Bekleidung mit Geldausgaben verbunden, mit dem Preis der Bekleidung, dem Besitz von Besitz. Es wurde aber gerne als kulturelle Praxis beschrieben und damit ausgeblendet. Durch das Tragen von Berufsbekleidung und Trachten gab es nur wenig Nachfrage nach guter, billiger Ready-to-wear-Bekleidung und die Berufsbekleidung diente der 346 Sombart schreibt, dass der amerikanische Arbeiter absolut dreimal soviel für Kleidung ausgibt wie der deutsche, relativ etwa einhalbmal mehr als dieser. Sein freies Einkommen, trotz des höheren Gesamteinkommens, bildet keinen höheren Prozentsatz als bei seinen deutschen Kollegen (1969 [1906]: 121). „Manche tragen Maßanzüge. Sie gehen nie ohne Kragen und Kravatte, Manschetten und weißes Hemd, Nadel, Knöpfe, goldene Uhr mit Kette, und selten ohne goldenen Ring. […] Sie kaufen nie in einer Alt-Kleiderhandlung. Im Gegensatz zu den frisch Eingewanderten, wohl auch der älteren Generation der Einheimischen, wechselt ‚young America‘ mächtig oft die Kleidung. Ist ein Anzug abgetragen, wird er ausrangiert. Der Hut von vorigem Jahre wird heuer nicht mehr getragen. Kragen und Kravatte werden nach den Anforderungen der Mode gewechselt.“ (Roberts, zit. n. Sombart 1969 [1906]: 119 f.).

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Abbildung 31: Gas- & Wasserwerker aus Essen, 1898.

Unterscheidung zu den Arbeitern und nicht deren gesellschaftlicher Angleichung. Dadurch, dass viele Arbeiter gebrauchte Waren kaufen mussten, fehlten sie aber der deutschen Industrie als Abnehmer von Massenartikeln. Im deutschen Kaiserreich hatte zwar die Industrialisierung gleich bei der Serienfabrikation eingesetzt (Nipperdey 1994: 268), denn die deutsche Produktion war gerade wegen der durchgängigen Rationalisierung und Mechanisierung anderen europäischen Ländern überlegen gewesen (Marcuse 1998: 49). Für die Textilindustrie galt das aber noch nicht, die gesamte Konsumgüterindustrie hinkte bei der Produktivität hinterher.347 Wenn für die Arbeiter billige Produkte hergestellt 347 Die Bekleidungs- und Konfektionsindustrie hatte ihre Schwerpunkte in Berlin, Frankfurt, Aschaffenburg, Bielefeld und Breslau (Nipperdey 1994: 233). Während in anderen Industriebereichen die Industriebetriebe nicht aus der Protoindustrie hervorgingen, verschwammen in der Textilindustrie die Konturen (Wehler 1986: 10), hier wurde weiterhin in der Haus- oder Heimindustrie gearbeitet, in dezentralisierter Produktion. Im industri­ ellen Sektor waren auch 1913 noch fast die Hälfte der gewerblich Beschäftigten für die Grundbedürfnisse Nahrung, Bekleidung und Wohnung tätig. Dass die Wachstumsrate in der Textilindustrie geringer war als in Industrie und Gewerbe insgesamt, lag auch daran, dass hier zu Beginn des Zeitalters noch altmodisch – etwa im Vergleich zu England –

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wurden, dann waren diese Ready-to-wear-Anzüge von so schlechter Qualität, dass sie als Schund erkennbar waren. Damit wurde die Ready-to-wear-Bekleidungsbranche im Kaiserreich assoziiert, sie hatte einen schlechten Ruf. Aber auch bei den besseren Anzügen blieb es im deutschen Kaiserreich bei der Unterscheidung zwischen dem vom Schneider gefertigten guten Anzug und der Konfektion (dem Anzug von der Stange), der im Verlagswesen, auf Bestellung von großen Warenhäusern, hergestellt wurde. Arbeiter trugen Arbeitskleidung, mit der Zeit oft schon Konfektionsanzüge und es gab für den Sonntag daneben den „guten Anzug“ vom Schneider (Nipperdey 1994: 133). Aber auch wenn die Arbeiter Anzüge trugen, waren sie sofort deutlich unterscheidbar von den Bürgern: an ihrer alten und abgetragenen oder billigsten Bekleidung (siehe dazu Abbildung 31). In der aktuellen Debatte wird als Merkmal von Bürgerlichkeit die feine Lebensführung genannt, zu der auch der bürgerliche Anzug gehört, und daher wurden Anzugträger auch für den Untersuchungszeitraum des deutschen Kaiserreichs als Merkmal gesucht und gefunden.348 Auch Arbeiter hatten sich danach offensichtlich bürgerlich gekleidet, also im Anzug. Aber diese Anzüge waren schäbigst gefertigt. Doch anstatt die Ursache für diese einfache Bekleidung der Arbeiter in der fehlenden Qualität oder dem hohen Preis für gut gemachte Bekleidung produziert wurde, Handweberei, Heimarbeit des Verlagswesens spielten noch eine große Rolle. „Hier war im Unterschied zum Montan- und Metallsektor die Rückständigkeit des Spätkommers Deutschland noch sehr deutlich.“ (Nipperdey 1994: 233  f.). „Dieser Doppelvorgang des Zurückfallens und des Ein- und Überholens hat komplexe Gründe. Einmal war das eine Folge des englischen Frühstarts und des deutschen Spätkommens; Deutschland hatte (noch) nicht das Problem der Modernisierung der älteren Industrie, ja – über Zulieferer und Abnehmer – einer ganzen Volkswirtschaft. Deutschland hatte, im Unterschied zu heutigen Entwicklungsländern, hohe Struktur- und Bildungsinvestitionen, und der Vorteil technisch-wissenschaftlicher Bildung kam allmählich mehr zur Geltung.“ Zu den Beständen noch traditionellen Wirtschaftens gehörten die Hand- und Heimarbeit im Textil-, Leder- und Spielzeugsektor (Nipperdey 1994: 278 f.). 348 Und diese Verbürgerlichung wird gleich wieder gegen die Sozialisten gewendet. „Es ist romantisch-intellektuelle Antibürgerlichkeit und Proletarier- und Revolutions-Nostalgie, sich darüber kritisch zu ereifern. Diese Bürgerlichkeit, Verbürgerlichung und Einbürgerung und Entproletarisierung zugleich war ganz normal, wenn es einem besser ging. Daß diese Einstellung politisch eine Basis des sozialdemokratischen Reformismus werden konnte, steht auf einem anderen Blatt.“ (Nipperdey 1994: 315). Dennoch blieb das Unbürgerliche bei aller Verbürgerlichung. Die Übernahme des bürgerlichen „Erbes“ [Von Erbe, nicht von Neuem wird hier geschrieben, als ob die bürgerliche Gesellschaft sich nicht gerade durch die beständige Ersetzung von Altem durch Neues auszeichnen würde.] und bürgerlicher Verhaltensweisen blieb selektiv (Nipperdey 1994: 315). Hier wird die gesellschaftliche Entwicklung vom Standpunkt des vermeintlichen Bürgers aus betrachtet.

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Die Uniform der Berufe

zu sehen, werden den deutschen Arbeitern andere Konsumprioritäten als den Bürgern unterstellt. Die Bürger hätten den Zug zum „Feinen“ gehabt (Nipperdey 1994: 312), das, was Wehler den „schichtenspezifischen Aufwandskonsum“ nennt (1986: 5). Dieses Feine definiert sich fälschlicherweise über selbst gewollte persönliche Vorlieben, nicht über gesellschaftliche Ursachen. Sombart argumentierte anders, weil er den historischen, politischen, ökonomischen und allgemein sozialen Gründen nachspürte (1996 [1906]: 35). Seine national-ökonomische Sicht des Vergleichs führte dazu, wirtschaftliche Gründe für die Lebensführung der Arbeiter zu finden und darüber mehr herauszufinden als heute gern angeführte kulturelle Gründe für die unterschiedliche Lebensführung. Und dabei war die wirtschaftliche Lage des „amerikanischen Proletariats“ besonders interessant (Sombart 1996 [1906]: 109), denn der amerikanische Arbeiter „wohnt besser, kleidet sich besser, nährt sich besser als sein deutscher Kollege.“ (Sombart 1996 [1906]: 115). Der amerikanische industrial worker stand damit den deutschen „besseren Mittelstandskreisen viel näher“ als der Lohnarbeiterklasse, was sich am deutlichsten an seiner „feinen Kleidung“ zeigte (Sombart 1996 [1906]: 118). Da in den USA die anerkannteste Männerbekleidung die bourgeoisen suits waren, die zudem noch in guter Qualität massenhaft hergestellt wurden, konnten sich die industrial workers in der Alltagskleidung fein anziehen und damit uniformieren (auch wenn die white-collar workers versuchten, sich über die Freizeitkleidung abzugrenzen, siehe dazu Kapitel 3.2). In der amerikanischen Gesellschaft trugen, wie Sombart einen Zeitgenossen zitiert, der über eine Fahrradfabrik berichtet, viele sogar gestärkte Hemden; die Kragen wurden während der Arbeit abgeknöpft und die – übrigens durchweg festgenähten – Manschetten bis zum Ellbogen zurückgeklappt. Wenn es dann wißelte (pfiff!) und die Leute sich aus den Overalls schälten, sah man ihnen den Arbeiter kaum an. (Sombart 1969 [1906]: 118 f.).

Den Arbeitern in Deutschland war das nicht möglich, man sah ihnen auch nach der Arbeit immer noch an, dass sie Arbeiter waren.349 Aber selbst wenn sie sich am Feierabend aus der Arbeitskleidung in bessere Anzüge hätten werfen 349 Die deutschen Arbeiter konnten nicht dem heroischen Image der Arbeiter als muskelbepackte Proletarier entsprechen. Sie waren schmächtiger, häufiger krank und starben jünger als andere Gruppen der Gesellschaft (Blackbourn 2005: 273). Die von August Sander aufgenommenen Fotos von Arbeitern um die Jahrhundertwende bis in die Zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts belegen eindrucksvoll, wie es in Deutschland um die Arbeiter stand. Aber selbst auf den Portraits, also den gestellten Einzel- und Familien- oder Gruppenbildern, für die die Abgebildeten sicher ihre beste Kleidung aussuchten, fällt bei den Bildern der Arbeiter, wenn sie Anzüge trugen, die Einfachheit dieser Anzüge auf.

Die Uniform der Herren

können, wäre dies nicht die anerkannteste Bekleidung für Männer gewesen. Weil Arbeit nicht in ihrer abstrakten Form anerkannt wurde, sondern weil sie sich an den Beruf band, bestimmte im deutschen Kaiserreich die Uniform der Berufe die Bekleidungsgewohnheiten und damit die Anerkennung als Deutsche in der Gesellschaft. Die Arbeiter bekamen 1914 ihre Uniformen, um damit für Deutschland in den Ersten Weltkrieg zu ziehen, um an dessen Ende dann erfolgreich die Feudalherrschaft in ihrer veralteten Form in Deutschland mit abzuschaffen. Doch jetzt begannen noch gewalttätigere Kämpfe um Macht und Herrschaft, die dann neue Uniformträger zu den anerkanntesten Männern in der deutschen Gesellschaft aufsteigen ließen. 

Es hat sich in dieser Arbeit gezeigt, dass alle hier verglichenen Gesellschaften: England, Frankreich, Deutschland und die USA, in ihrer Entwicklung zur kapitalistischen Industriegesellschaft immer aufeinander bezogen und doch sehr unterschiedlich waren. Von einem deutschen Sonderweg kann dabei nicht gesprochen werden. Besonders zeigt sich in diesem Vergleich die Kategorie Bürgerlichkeit als ein deutsches Konstrukt, das deutsche Historiker immer wieder neu ausschmücken, anstatt die bürgerliche Gesellschaft im langen 19. Jahrhundert zu analysieren. Die von einigen deutschen Wissenschaftlern geforderte Untersuchung der Merkmale von Bürgerlichkeit, um einen Mangel oder ein Defizit in der deutschen Gesellschaft im Vergleich zu anderen zu bestimmen, ist für die Erkenntnis der historischen Verhältnisse nicht fruchtbar. Fruchtbar ist hingegen, die Entstehung und Verbreitung bourgeoiser Traditionen zu verfolgen, wie hier gezeigt. Auch in der deutschen Gesellschaft lagen die gesellschaftlichen Unterschiede nicht in einer besonderen Berufsausbildung oder -ausübung, einer feinen Lebensführung und damit verbundenen Konsumprioritäten, also der conspicuous leisure, sondern zunächst einmal, wie es der amerikanische Soziologe Veblen erkannt hatte, darin, wieviel diese Lebensführung kostet, am demonstrativen Konsum, der conspicuous consumption. Dazu muss, wie sich in dieser Arbeit auch gezeigt hat, der Besitz von Besitz und die Verteilung des Kapitals für das Erkennen der Differenzen in der Gesellschaft mitgedacht werden. Nur dann kann davon weggekommen werden, den Bildungsbürger genannten Bürgern die Deutungsmacht für die Bestimmung der gesellschaftlichen Differenzen über Kultur, Lebensstil und -führung, Beruf und Bildung zu überlassen. Um wenigstens heute die bourgeoisen Freiheitspotentiale freizulegen, die in allen hier verglichenen Klassengesellschaften stärker ausgeprägt sein könnten, aber in der deutschen doch am wenigsten Anerkennung finden, müssten die Gemeinsamkeiten der Mitglieder einer Gesellschaft mehr berücksichtigt werden und damit nicht Assimilation und Nachahmung gefordert werden, sondern Adaptation.

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Schluss: Kein Ende der Geschichte In diesem Buch wurden die nationalen historischen Perspektiven durch die Sicht auf grenzüberschreitende Prozesse erweitert. Dafür kamen verschiedene Disziplinen, wie die Geschichte – als Industrie-, Arbeiter-, Migrations-, Gender-, Technik-, Konsum- und Begriffsgeschichte –, die Soziologie, die Ökonomie oder die Genderforschung zur Anwendung. Der Männeranzug hat eine Geschichte, eine andere, als sie in vielen Modebüchern steht, wo geschrieben wird, dass er sich verändert, ohne zu fragen, warum sich Männerkleidung verändert. Die Gründe für die Veränderungen liegen auch in seiner Produktion als Ware. So fing dieses Buch damit an, wie die individuelle handgearbeitete Produktion von Männerbekleidung in eine standardisierte Produktion übergeht. Dabei stand das maschinelle Spinnen am Anfang einer neuen Textilindustrie, von den betriebsamen, an eigenen Profiten interessierten merchants in England begonnen, woraus sich die kapitalistische Produktionsweise entwickelte. Eine bourgeoise Klasse entstand, die weder nach Religion, Herkunft noch Kultur unterscheiden wollte und sich deshalb in Männeranzügen uniformierte. Wie die neue kapitalistische Produktionsweise beeinflusste auch die moderne Bekleidung der Bourgeoisie Männer in anderen Gesellschaften. Weiter hat sich gezeigt, dass nicht Frankreich, nicht die französische Revolution, die weitere Entwicklung der Männerbekleidung entscheidend beeinflusste. Viel länger als in England wurde in Frankreich die Luxusgüterproduktion gefördert, die immer noch in individueller Handarbeit für wenige Reiche und nicht in der standardisierten Mengenproduktion bestand. Erst mit dem Ende der Herrschaft Napoleons konnten die Bourgeois in Frankreich sich durchsetzen und die durchgreifende Industrialisierung beginnen. Darum setzten sich auch die uniformen Männer­ anzüge in Frankreich später als in England in der herrschenden Klasse durch. Und weiter konnte gezeigt werden, dass in den deutschen Ländern dieser Zeit die Produktionsweisen so rückständig waren, dass auch der Einfluss der Männerbekleidung aus England noch sehr gering blieb. In den deutschen Fürstentümern blieben die Aristokratie und mit ihr die verschiedenen Militäruniformen noch lange die wichtigste Bekleidung der Herrschenden und ihrer Untertanen. Anders war es in den USA, in denen sich die neuesten Produktionsweisen und -kräfte aus England nicht nur ohne Widerstand durchsetzen ließen, sondern schnell auch weiter modernisiert wurden. Zuerst in der Herstellung von Männeranzügen, die in den USA durch die Entwicklung einer standardisierten Produktionsweise als Massenprodukt gefertigt und auf dem gesamten USamerikanischen Markt verkauft wurden. Hier entwickelten manufacturers aber auch das maschinelle Weben, so dass die Produktion von Stoffen von nun an

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Schluss: Kein Ende der Geschichte

in allen Arbeitsschritten standardisiert war. Und genau so, wie die neue Produktionsweise aus England andere Gesellschaften beeinflusste, geschah es jetzt auch mit der US-amerikanischen Massenproduktion, die den Weg zurück über den Atlantik fand. Dadurch kam es zu neuen Klassenkämpfen in England und als Reaktion darauf zur Erfindung/Einführung einer neuen und moderneren individuellen handwerklichen Produktion von Männeranzügen für eine neue herrschende Klasse, die die einflussreicher werdenden manufacturers mit aufnehmen musste. Während in England noch versucht worden war auf die neue standardisierte maschinelle Produktionsweise mit der Aufwertung des Handwerks zu reagieren, wurde in den USA neben der modernen Produktionsweise auch die modernste, die flexible Massenproduktion eingeführt. Es wurden nicht mehr nur Mengen an gleichen Waren immer billiger hergestellt, sondern jetzt wurden Waren in immer neuen Varianten und zu unterschiedlichen Preisen produziert. Das hatte auch Auswirkungen auf die Herstellung von Männeranzügen in unterschiedlichen Preiskategorien. Darum konnte sich jeder Amerikaner einen Anzug kaufen, die neueste herrschende Klasse trug einfach die teuersten Anzüge. Doch wie sehr sich die Einführung neuester Produktionsweisen in den Gesellschaften unterscheiden kann und wie viel das mit der Geschichte ihrer Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu tun hat, konnte am Ende dieser Arbeit am anschaulichsten im Vergleich der Entwicklung in den USA und dem Deutschen Reich gezeigt werden. Obwohl beide Gesellschaften zur selben Zeit die Produktionsweisen modernisierten und zur standardisierten Produktion von Waren übergingen, blieb die Geschichte der modernen Männeranzüge, ihre Bedeutung in der Gesellschaft, höchst verschieden. Im Deutschen Reich traten nur wenige Herren im Anzug auf. In diesem Buch stand die Entwicklung im langen 19. Jahrhundert im Mittelpunkt, trotzdem ist diese Geschichte von Männerkleidung keine vergangene Geschichte. Durch diesen Zugang konnte die unterschiedliche Genese der Klassengesellschaften aufgezeigt werden, die zur historischen Gewordenheit unserer heutigen Gesellschaften gehören. Darum kann die Freilegung dieser Geschichte auch für aktuelle Debatten hilfreich sein. Da sich Klassengesellschaften immer wieder neu formieren, lassen sich durch den hier angelegten Ansatz neue gesellschaftliche Kämpfe um Macht und Anerkennung analysieren, weil auch über die Bekleidung die Teilhabe an der herrschenden oder der beherrschten Klasse bestimmt wird. Bekleidung, und eben auch Männerkleidung, so hat sich gezeigt, ist keine unbedeutende Nebensache. Sie ist das äußerliche Kennzeichen, an dem wir erkennen können, mit wem wir es zu tun haben. Kleidung zeigt den Stand oder die Klasse ihrer Träger und Trägerinnen an, ermöglicht es, die Menschen einzuordnen. Die Sicherung von Herrschaftsverhältnissen

Schluss: Kein Ende der Geschichte

heißt auch, eine bestimmte Bekleidung zu akzeptieren. Lange Zeit können die gesellschaftlichen Verhältnisse stabil sein und sich Schichten oder Milieus oder andere vermeintliche Abstufungen in der Gesellschaft herausbilden. Wenn Herrschaftsverhältnisse sich verändern, wenn es gesellschaftliche Kämpfe gibt, dann wird die Bekleidungsfrage wieder zu einem zentralen Thema. So war in Deutschland erst mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Sieg über den Nationalsozialismus die Uniform nicht mehr die anerkannteste Männerbekleidung, vielleicht gerade weil die Offiziere der Besatzungsmächte in ihren Militäruniformen jetzt die dort herrschende Klasse waren. Seit dem Zweiten Weltkrieg schien weltweit die Zahl der Anzugträger zunächst anzuwachsen und nivellierte Mittelschichten (Schelski 1954: 218) hervorzubringen. Doch schon in den 1970er-Jahren ging die Zahl der Männer, die Anzüge trugen, zurück, ohne dass die verbleibenden Anzugträger (in teuren Anzügen) ihre privilegierte Stellung eingebüßt hätten. Heute, Anfang des 21. Jahrhunderts, treten die Klassendifferenzen im Bekleidungsverhalten wieder stärker hervor. Und gerade in der Bekleidung zeigt sich die Durchsetzung des grenzenlosen Kapitalismus deutlich: Auch die herrschenden Klassen Kubas, Russlands oder Chinas haben in den letzten 20 Jahren die Militäruniform abgelegt. Auch diese Männer sind heute Herren im Anzug. Es war Honoré Gabriel Victor de Riqueti, Marquis de Mirabeau, der 1789 im revolutionären Nationalkonvent forderte, in einer Zeit, die Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit auf ihr Banner geschrieben habe, auch in der Kleidung keine Privilegien zu dulden. Davon sind wir bis heute weit entfernt, es setzte sich die vermeintliche Freiheit ohne tatsächliche Gleichheit durch. Die Sansculotten hatten die Durchsetzung ihrer eigenen schlichteren Bekleidung gefordert. Auch das wäre jedoch letztendlich keine Befreiung vom Zwang der Anpassung gewesen – sondern Gleichheit ohne Freiheit. Und weil in den letzten über 200 Jahren weder Freiheit noch Gleichheit noch Brüderlichkeit (wobei in dieser Forderung für eine bürgerliche Gesellschaft ganz klar und ohne Frage die Frauen mit einbezogen sind) in unseren Gesellschaften verwirklicht wurden, kann bis heute daran, wer wann welche Bekleidung warum trägt, immer noch die weitere Transformation moderner Klassengesellschaften abgelesen werden. Denn die Geschichte der Bekleidung ist mehr als eine Modegeschichte. Sie sollte sehr ernst genommen werden.

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Abbildungsnachweis

Abbildung 23  https://heights.edu/five-lessons-sons-can-learn-teedie-roosevelt/, abgerufen am 17.12.2015, courtesy of Library of Congress, Washington DC Abbildung 24  http://www.silenthollywood.com/rudolphvalentino.html, abgerufen am 17.12.2015 Abbildung 25  ullstein bild, Berlin Abbildung 26  Collections of The Henry Ford, Dearborn Abbildung 27  http://www.antiwarsongs.org/canzone.php?id=49464&lang=en, abgerufen am 17.12.2015 Abbildung 28  Historisches Archiv Krupp, Essen Abbildung 29  http://www.zeitreisen.de/1848/kap1/thema5_dok4_image.htm, abgerufen am 17.12.2015 Abbildung 30  http://www.zeitreisen.de/1848/kap1/thema4_dok6_image.htm, abgerufen am 17.12.2015 Abbildung 31  Stadtwerke Essen AG Trotz intensiver Recherche konnten nicht alle Rechteinhaber zweifelsfrei ermittelt werden. Sollten hier berechtigte Ansprüche bestehen, bittet die Autorin um Kontaktaufnahme.

Sach- und Ortsregister Sach- und Ortsregister A Adaptation adaption, being adapted  18, 64, 67, 92, 94, 109, 117, 130, 132, 157, 193, 229, 235, 244, 284, 288, 290, 292, 315, 327 Ägypten  38, 45 american system  siehe dazu |Maß­ system| Amerika  siehe dazu |USA| Amerikanisierung  24f., 27, 135, 208, 242, 244, 288, 290 Anerkennung gesellschaftliche, Akzeptanz, Kampf um  12f., 17f., 22ff., 31, 42, 47, 55, 62, 68f., 73f., 79, 93, 95, 104, 106, 110f., 118ff., 130, 132, 134f., 142, 205, 208, 214, 223, 228, 240ff., 250, 254, 256, 259f., 265f., 269, 279f., 282, 284, 288, 292, 294, 300, 308, 310, 312ff., 317ff., 327, 330 Anglomania  209ff., 213, 231, 238 Antwerpen  45ff., 192 Anzug, suit –– lounge suit, working suit, black suit  162, 210f., 220, 230f., 236, 240, 242, 262, 270, 278, 294, 307f. –– business suit, konservativ  159, 162, 210, 230, 262ff., 269, 270f., 276, 278, 307 –– tailor-made-suit, Maßanzug   16f., 26, 154, 159, 207, 214, 223f., 226, 231, 238, 240, 255, 260, 265, 323  siehe auch |Bekleidung, tailor-made|

–– ready-to-wear-suit   24f., 130, 132, 135f., 151, 157, 162, 164, 174f., 177f., 196, 199, 202, 204ff., 238ff., 283, 290, 292, 307  siehe auch |Bekleidung, ready-towear| Anzugjacke, tuxedo, smoking  siehe dazu |coat| Arbeitskräfte –– Mangel, Knappheit, Bedarf  25, 60, 115, 141, 152, 173, 177, 181, 187f., 189, 215, 305f., 320 –– Ausbeutung für Näharbeiten  50, 152, 177, 181, 183, 190 –– Einfluss Maschinen, Fabrikarbeit, Aufstiegserfahrung, Abstiegser­ fahrung  42, 87, 129, 132, 181, 183, 198f., 214f. 215, 217, 219f., 239, 242, 244, 260, 267, 269f., 278, 284ff., 289f., 320, 321 –– Zusammenschluss, working class community, Arbeiterklasse, ­Gewerkschaften, friendly societies, unions, Streiks  183, 189, 216ff., 233, 287ff., 313, 320, 322 assembly line  153, 156, 158, 164f., 175f., 179, 188 Assimilation, Assimilierung  95, 117ff., 124, 132, 208, 314f., 318, 327

B Baumwolle, Rohbaumwolle   35, 45ff., 51ff., 57ff., 66, 76, 80, 124, 140f., 152, 165, 167f., 173, 184, 190, 194, 196, 204  siehe auch |Textilindustrie|

Bekleidung –– bequem, unbequem  13, 35, 52ff., 108, 262, 278  siehe auch |coat, riding coat|

348

Sach- und Ortsregister

–– prunkvoll, aristokratisch, prachtent­ faltend, feudal, luxuriös, standes­ gemäß  12f., 23, 32, 34ff., 40, 42f., 51, 54, 67ff., 72, 75, 86, 90, 103, 108, 111, 124, 133, 137, 142f., 146, 151, 162ff., 176, 213, 222, 233, 235f., 253ff., 260, 265, 308  siehe auch |Spanische Mode| –– schlicht, simple, pure, fein, uniform, bourgeois, ohne Prunk  23, 25, 27, 29, 31, 43, 51, 54ff., 62, 65ff., 81, 102f., 110, 118, 121f., 124f., 143, 145, 157, 159, 164, 170, 208, 213, 219, 224, 229, 234, 239, 272, 291, 299, 314, 326, 331 –– slop, billigste, cheap, nasty, einfach, grob  50, 62, 130, 153f., 157, 160, 170, 173, 179, 205, 218f., 229, 247f., 274, 323ff. –– gebrauchte, second hand  153f., 160, 202, 205, 324 –– ready-to-wear, qualitativ gut, bezahl­ bar, billiger und besser  24ff., 75, 130, 132, 135f., 151, 155, 157f., 162ff., 174ff., 196, 199, 202, 204f., 213, 238ff., 278, 283, 290, 292 –– tailor-made, handwerklich gefer­ tigt  26, 154, 220, 225, 238, 254f., 291 –– vormoderne Alltags- und Arbeits­ kleidung, Bekleidung einfacher Leute  13, 32ff., 43f., 153, 200, 211 –– sportlich, Sportbekleidung, sportswear, Freizeitbekleidung, casual  174f., 219, 235, 243, 262, 265, 270, 272, 276ff., 281, 288, 326 –– Demokratisierung  207f., 238, 240, 242, 272, 273 ––Turner, Turnen  95, 124ff., 128, 146, 298f., 312, 317 –– konservativ  siehe |dazu Anzug, business suit|

–– Frauen  15, 22, 34, 37, 39f., 54f., 60, 62, 64, 69f., 76, 78, 80, 88, 93, 123, 135, 144f., 147, 153f., 158, 163, 175, 180, 182, 184, 192, 212, 216, 218, 237, 248f., 267, 271, 273, 331 ––Vorbilder  254, 280, 303, 308 −− antike Statuen  158 −− Prince of Wales, tailor, Gentleman  211f., 228, 231f. −− Filmstars, Idole der Freizeit  280f. −− Cowboy  263f., 282 –– Berufe  27, 40, 66, 76, 208f, 240, 243, 276, 278, 286, 292, 294, 303, 307ff., 318ff. –– Uniformen 90 ––Trachten  13, 82, 90, 103, 127f., 146, 299, 312, 317, 323 –– als Statussymbol  siehe dazu ­|conspicuous consumption| Bekleidungsgewohnheiten, Kleidungs­ gewohnheiten  23, 26, 30ff., 52, 62, 64, 67ff., 75, 77f., 81, 94, 134ff., 142, 151, 157, 164, 199, 204f., 209, 211, 235, 238, 291ff., 303, 307f., 317f., 323, 327 Bekleidungsregeln, Kleiderordnungen, Kleidungsvorschriften  11, 12, 16, 40ff., 67, 69, 82ff., 117, 123, 230f., 235, 254, 259, 261, 279, 291, 307, 311 Bequemlichkeit  siehe dazu ­|Bekleidung, bequem| und |Land| Berufskleidung, Dienstkleidung  siehe dazu |Bekleidung, Beruf| bespoke, besprochen  siehe dazu ­|Verlagswesen| Betriebsamkeit, betriebsames Denken, eigener Profit, Fleiß  22f., 29, 35, 37f., 49, 56, 61, 71f., 79f., 96, 106ff., 110, 113, 118, 122, 127ff., 131, 134ff., 141ff., 149, 151, 155, 157, 164f., 186f., 198, 213f., 241, 255f., 266ff., 275, 280, 297, 302, 329  siehe auch |interests| und

Sach- und Ortsregister

|Produktion| und |Sphäre des ­Kollektivverhaltens| brand  60f., 273, 275, 296

Brokat  11, 32, 35, 51, 53, 63 Bücher, Buchhandel, Buchdrucker, Drucker  siehe dazu |Mode, Bücher|

C carmagnole  13 casual  siehe dazu |Bekleidung, sportlich| Citoyen  14, 20 Club, Salon, male culture  54f., 64, 70, 85, 108, 112, 200, 216, 218, 223, 229, 231, 250f., 256, 258, 261f., 276, 298, 312f., 316f., 321 coat –– dress coat  23ff., 53ff., 67, 69, 81f., 86, 94, 102f., 110, 118, 121f., 124, 126, 128, 131f., 134, 138, 142f., 145, 151, 157, 159, 162f., 170, 199, 202, 213, 224, 227, 230f., 235, 259f., 269, 294, 308 –– tail coat  23, 162, 170, 224, 250f., 261, 307 –– frock coat   23, 162, 224, 307 –– morning coat  162, 220, 230f., 251, 261, 294, 307f. –– riding coat  53, 83, 157, 162

–– Frack  23, 53, 102, 108, 224, 230, 251, 261, 265, 299f., 307, 311, 314, 321f. –– Stresemann 230 –– Gehrock  23, 124, 224, 230, 307, 309ff., 314, 321 –– tuxedo  250f., 259ff. –– smoking jacket, dinner jacket, Monte Carlo  251, 261f. Code Napoléon  87, 115 conspicuous consumption, ­demonstrativer Konsum, Prestige, feine ­Unterschiede  234f, 244, 247, 255f., 258, 260f., 266, 269ff., 275f., 278f., 281f., 287f., 291, 309, 313, 327 –– Status  104, 110, 215, 218, 220, 242, 243, 272f., 276ff., 298, 311 conspicuous leisure, demonstrative Muße  242f., 252, 256, 261f., 264ff., 276ff., 327

D Dampfmaschine  57f., 177, 225  siehe auch |Produktion| Dandy, Brummell  133, 163, 176, 203, 211f., 229 décors  73, 75  siehe auch |Molière| demonstrativer Konsum  siehe dazu |conspicuous consumption| demonstrative Muße  siehe dazu |conspicuous leisure| Deutsches Reich, Wilhelminisches Kaiserreich, deutsche Länder  21, 27, 95, 113, 121, 127, 207f., 292, 294, 296ff., 303ff., 309, 311, 313f., 317, 319ff., 327

–– Deutschland, Idee von Deutschland, Deutsche Staaten  18f., 21, 24, 27, 36, 40, 75, 79, 93ff., 102, 104f., 107ff., 111ff., 118ff., 127f., 130, 132, 138, 146, 153, 163, 169, 189f., 208f., 229f., 234, 239, 261, 268, 289f., 293ff., 298f., 302ff., 311, 316ff., 320, 322f., 325ff., 331 Distinktion, distinction  79, 93, 224, 286  siehe auch |Habit| und ­|Unterschiede, feine| Don Quijote  35, 72 Dorf  siehe dazu |Stadt, Provinz|

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350

Sach- und Ortsregister

E Erfindungen, Erfinder,  57f., 89, 93, 156, 160, 162, 165, 180, 192, 195, 210, 215, 234, 236  siehe auch |Maschinen|

F face-to-face-Kontakte 78 Färberei, Färber, färben, Farbindus­ trie  33, 38f., 42, 44f., 89, 96, 110, 115, 125, 225 Farbe, unauffällig, auffällig, farbig, farbenfroh, bunt  12, 14, 23, 38, 43f., 49, 53, 62ff., 69f., 89f., 102, 110, 125, 140, 170, 172, 224f., 230f., 234, 245, 300, 307f., 308 fashion, facere  65, 75, 164, 174, 200, 209f., 217, 225, 230, 273, 277, 279f. Fertigkleidung, Fertigbekleidung  siehe dazu Bekleidung, |ready-towear| feudal, Feudalgesellschaft, Feudalsys­ tem, feudale Allüren  20, 23f., 29f., 34ff., 41ff., 66ff., 71f., 75, 90, 96, 100, 103, 108, 111, 131, 136f., 143, 151, 163f., 174, 212f., 225, 235, 243, 253ff., 265, 304, 308, 327 –– Ständegesellschaft, ständische Ordnung, Stand  11ff., 24, 29f, 35, 37, 42ff., 47, 56, 66ff., 74, 81, 82f., 100, 116, 131, 213, 308, 319 –– antifeudal  103f., 111, 113, 120, 164, 265, 316 –– quasi-feudal  255, 265 –– feudale Bekleidung  siehe dazu |Bekleidung, prunkvoll| und ­|Spanische Mode|

Flachs  32, 62, 96 Fließband  siehe dazu |assembly line| Frack  siehe dazu |coat| Frankreich –– Französische Revolution, Revolu­ tionszeit, Juli-Revolution, Natio­ nalkonvent, Generalstände  12ff., 21, 23, 30, 40, 51, 64, 68f., 81ff., 92ff., 98, 103, 134, 146, 209, 211, 220, 298, 329 –– französische Bekleidung, ge­ sellschaftliche Einflüsse  30, 54, 63, 68f., 70ff., 78f., 80ff., 92ff., 95, 98, 103f., 111ff., 131, 142, 145, 182, 199, 201, 209, 211, 229, 234, 262, 329 –– unter und nach Napoleon  88f., 92, 209, 225, 229, 234 –– antifranzösisch  104, 113, 120, 124, 128, 164, 233, 316 Frauen  siehe dazu |Bekleidung, Frauen| Fremder, Fremde  24, 37, 42, 45f., 60, 66, 75, 95, 106, 118, 121, 208, 275, 294, 303ff., 320  siehe auch |Migranten| french dogs  64, 81  siehe auch |Paris, französische Mode| frontier  140, 151, 155, 164f., 167, 174, 187, 198, 202, 248, 263, 268, 282, 289

Sach- und Ortsregister

G Gebrauchtkleidung  siehe dazu |Bekleidung, gebrauchte| Geschäfte, Bekleidungsläden  siehe dazu |Warenhäuser|

Gewerbeordnung 46  siehe auch |Produktion, Grenzen der| Gewobener Wind  43, 51f., 144  siehe auch |Baumwolle|

H Habitus, habits  17, 20, 74, 183, 210, 256, 259f, 277  siehe auch |Distinktion| und ­|Unterschiede, feine| Handarbeit  siehe dazu |Produktion| Handel, mittelbar, unmittelbar, persön­ lich, unpersönlich, profitabler  22, 29, 37, 42, 49, 56, 59f., 97, 108, 113, 118, 122, 129, 131, 134, 138, 142, 169f., 199, 213, 241, 255, 274f., 295f., 308 –– Fernhandel, Exporthandel  31, 38ff., 45ff., 49, 51, 57, 60ff., 97, 139f., 213, 293, 295f. –– Freihandel  37, 48f., 66, 80, 100, 112, 128, 136f., 145ff., 155, 196 –– Ausweitung Markt, Transportsys­ tem, Handelswege, Handelszentrum, Kanäle, Eisenbahn  38ff., 42, 44ff., 53, 56, 60, 66, 80, 97, 100, 107f.,135, 138,

149ff., 164ff., 171ff., 182, 186, 189, 243, 247, 251f., 293, 295f. Hemd, shirt,  34, 46, 145, 171, 176, 178, 190, 225, 270, 272ff., 277f., 287, 289, 309, 323, 326 –– Kragen, collar  53, 86, 90, 102, 108, 162, 225, 270, 272ff., 287f., 309, 311, 323, 326 Holland, Niederlande, holländisch, Amsterdam  43ff., 65, 70, 76, 82, 107, 143, 295f., 321 homespun  144ff., 149, 176, 274 Hose, baggy pants, pantalons, pantaloons, culottes, Kniehosen  13, 17, 31f., 34, 62, 64, 68, 83, 85f., 90, 92, 102, 108, 124f., 128, 145, 153, 159, 162, 170, 175, 200, 225, 230, 235, 259, 261, 277, 307, 309, 323 Hut  53, 86, 90, 112, 123, 134, 287, 300, 309ff., 322f. Hugenotten, Edikt von Nantes  siehe dazu |Migration|

I Incroyables  84, 86f. Indien, indisch, India, indische Konkurrenz  38, 45, 50ff., 56f., 61, 82, 88, 140, 144, 147, 191, 196, 204, 284 indiennes 82 Indigo, Färberwaid  siehe dazu |Farbe| Individuum, Individualist, Individua­ lität, Pseudoindividualismus, innere Freiheit  29, 37, 43, 49, 54f., 69, 72ff., 81, 86f., 95, 100, 102, 104ff., 119f., 126f., 129, 132, 174, 211, 223, 233, 235, 239, 244,

255f., 271, 280, 282, 292, 296f., 302, 312, 317, 320  siehe auch |Betriebsamkeit| und |Molière| Industrialisierung  18, 21, 23, 25f., 45, 50, 53, 56, 58f., 70, 87, 89, 92, 94, 97, 115, 128, 131, 135f., 150, 152, 159, 167, 169, 174, 180f., 189, 191, 200, 205, 207f., 214ff., 221, 226, 232, 238, 241, 245ff., 255, 261, 270, 285ff., 290ff., 299, 304f., 308, 324, 329  siehe auch |Produktion|

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Sach- und Ortsregister

interests, Interessen  22, 29, 36f., 42, 49, 66, 70, 74f., 79, 108, 110, 124, 145, 147ff., 166, 192, 195f., 213, 221f., 228, 255, 262, 266, 269, 282, 319, 329

invention of fashion tradition, invention of Gentlemen  26, 143, 145, 205, 207, 212, 215, 222, 231f., 235, 237, 251, 265, 291 invention of tradition, Erfindung/Ein­ führung von Traditionen  27, 208, 219, 222, 226, 232, 253, 265

J Jacke  siehe dazu |coat| und |Anzug| Jeans  174f., 282

Journale  siehe dazu |Mode, Bücher|

K Kalikos  50, 52, 57, 140 Kameralismus, Camera  96, 107 Kapital, Kapitalisten  44, 46, 59f., 66f., 71, 74, 87, 102, 115, 126, 130, 139, 150, 152, 158, 166ff., 172, 177, 186f., 195, 198, 209, 221, 241, 245f., 249ff., 253, 261, 293f., 296, 298, 303f., 318, 322, 327, 331 –– raffendes, schaffendes, verdächtig 314ff. Kavallerie  siehe dazu |coat, riding coat| Kenntnisse, Fähigkeiten, skills  35, 39, 44ff., 78, 105f., 144, 155, 160, 163, 180, 184f., 188, 189, 192, 194f., 216, 226, 228, 229, 248f., 267, 270, 285 Kitsch  90, 159  siehe auch |Prachtentfaltung| Klassengrenzen  131, 207, 238, 291 Kleiderordnung  siehe dazu |Beklei­ dungsregeln|

Kolonien, englische  siehe dazu |USA| Konfektion  siehe dazu |Verlags­ wesen| Konkurrenz, Ausschaltung von, Klagen, Wettbewerb  50, 60, 68, 96, 133, 147, 174, 187, 199, 223, 252, 254, 258f., 275 Konsum  34, 37, 40, 41f., 78, 126, 138, 153, 172, 181, 204, 208, 212f., 243f., 252f., 255, 259, 261, 269, 271ff., 276, 278, 281f., 285, 288ff., 309, 320, 326f. –– Konsumgüter  22, 152, 169, 239, 245, 294, 324 –– Konsumgrenzen  41, 208, 289, 326f. –– Konsumhürden  27, 208 Kontinentalsperre  88f., 114f. Kragen  siehe dazu |Hemd| Kultur, kosmopolitische, bürgerliche, kulturell  19f., 23ff., 29ff., 60, 66, 94, 118, 126, 126, 130, 132f., 158, 207, 238f., 289ff., 299, 305, 314, 317, 322f., 326f., 329

L Lancashire  siehe dazu |Manchester| Land, Landpartien, Landsitze, Reiten, Jagen, Pferderennen, Rennbahn, ­Ascot, Fuchsjagden  47, 52ff., 66, 76,

78, 81, 108, 131, 134, 138, 182, 195, 215, 224f., 228, 237, 251, 256, 306 Langes 19. Jahrhundert, long ­century  29, 94, 294, 327, 330 Leinen  32, 39, 43f., 50, 96, 114, 124, 139f.

Sach- und Ortsregister

leisure  242, 252, 262, 264f., 276ff. Lesen, Leserinnen, Leserkreise, Lek­ türe  siehe dazu |Mode, Bücher| Liverpool  siehe dazu |Manchester| London  39, 46, 52, 55, 64f., 76, 78, 93, 138f., 141, 143, 154, 157, 161f., 165f., 171, 204, 210ff., 218, 225f., 231ff., 236ff., 251, 254f., 300

long century; siehe |Langes 19. Jahr­ hundert| Luxus, luxuriös  16, 23, 34f., 42, 51, 69, 71f., 76f., 88, 92, 96f., 103, 107, 111, 115, 137f., 213, 218f., 223, 226, 242, 254, 293, 329  siehe auch |Produktion|

M Macaroni  64f., 133f., 163 Made in Germany  siehe dazu |Brand| Manchester, Lancashire, Liverpool  21, 23, 45ff., 50, 53, 56ff., 62, 88, 97, 138, 165f., 168, 171, 181, 192, 195, 198f., 204, 295 Manufakturen, Manufaktur­ periode  25, 50, 57, 62, 71f., 75ff., 80, 85, 88, 92, 95ff., 109, 130, 140f., 147f., 151, 155ff., 161, 177, 180f., 188, 192, 216, 245, 277, 303, 306  siehe auch |Produktion| Marke, Markenartikel, Markenzeichen  siehe dazu |Brand| Maschinen, Webmaschinen, ­Spinnmaschinen, Spinning Jenny, maschinelles Spinnen  57ff., 88f, 97, 136, 140, 152f., 165, 177, 177, 180f., 188ff., 198f., 204, 214ff., 221, 225, 245, 295f., 316, 329  siehe auch |Erfindungen| und ­|Produktion| und |Manufakturen| Maskenball, Maske, Verkleidung, Kostüme  12, 76, 91, 101, 254f., 258, 261, 284 Maßanzug  siehe dazu |Bekleidung| und |coat| Maßsystem, Messen, Messung, Maße, Meßmethoden, Maßeinheiten,

Proportionen, american system  16, 74, 77, 158ff., 170, 175f., 181, 199, 214, 218f., 232, 265 Merkantilismus, Merkantilpolitik  46, 70, 72, 80, 87, 107, 116, 147 Migration, Migranten, Auswan­ derung, Immigration, Einwanderung, Einwanderer, Emigration, Flücht­ linge, Flucht, Wanderungsbewegung, Abwanderung  22, 44ff., 60, 55, 70, 82f., 90, 109, 115, 121, 132f., 138, 177f., 185f., 190, 192f, 199, 201f., 215, 244, 248f., 266, 268f., 274, 283ff., 288, 290, 303, 305f., 329  siehe auch |Arbeitskräfte| Militär, Militärbekleidung, Militäruni­ formen, Offiziere, military  11, 23, 27, 31, 53, 67, 80, 90f., 94f., 109ff., 113, 115, 118ff., 126ff., 142, 155ff., 163, 181, 208f., 225, 235f., 260, 263, 270, 294, 298ff., 307f., 311ff., 329, 331  siehe auch |coat, riding coat| Mode, modisch, à la mode, modus, Modeliteratur  22, 32f., 36, 41, 43, 51f., 64, 67, 74ff., 78ff., 82, 93, 95, 99, 101ff., 110, 112f., 118, 121f., 130, 132, 134f., 162f., 199f., 207, 209, 211f., 220, 228f., 237, 239f., 242, 244, 277, 278f., 309, 312, 316f., 322f., 329, 331

353

354

Sach- und Ortsregister

–– Bücher, Lesen, Büchermarkt  70, 79ff., 93, 98f., 101ff., 111, 129f., 170 Modejournale  siehe dazu |Mode, Bücher|

Motto des Kaufmanns  73f., 76, 105f.  siehe auch |Betriebsamkeit|

N Nachahmung, nachzuahmen, nach­ geahmt, kopieren  41, 70, 78ff., 101, 104ff., 110, 117, 142, 211, 327 Nähmaschinen  76, 156, 180f., 188, 216f.  siehe auch |Produktion| Nationalkleidung, Teutsche Tracht, nationale Bekleidungen  146f., 229f.

Natur, zurück zur, Natürlichkeit  13, 53ff., 101, 117, 138, 174, 188, 212, 295, 299, 304 New York  25, 59, 135, 150ff., 165ff., 177f., 181ff., 190, 196f., 199ff., 235, 245ff., 258ff., 262, 264, 268, 280, 283, 286, 289, 295f.  siehe auch |USA| notables  68, 71, 74f., 78, 90ff., 107  siehe auch |Versailles| und ­|Frankreich|

P Paris, französisch, französische Mode  13f., 39f., 62, 64, 67f., 69f., 75ff., 80, 83, 85, 87, 90, 93f., 98ff., 111f., 142, 153, 163, 165, 170, 182, 200, 209ff., 225, 229, 233, 315  siehe auch |Frankreich, ­Französische Revolution| und |Bekleidung, Frauen| Philadelphia-System, moderne Manu­ faktur  155ff., 169, 175, 179, 196, Preußen, preußisch  88, 92, 95ff., 100f., 103, 107, 109f., 112, 114f., 116f., 119f., 125, 128, 141, 155ff., 297, 300, 315, 319 Privilegien, gesellschaftliche  12, 26, 29f., 41, 82, 113, 116, 119, 131, 138, 143, 147, 164, 239ff., 243, 255, 261, 269, 271, 274, 281, 331 Produktion, handwerkliche, individu­ elle, Handarbeit, Luxus  33ff., 37, 39, 46, 51, 56, 69, 70f., 76ff., 92f, 96f., 115, 153, 155, 163, 185, 189, 192, 213ff., 218f., 223, 225ff., 244, 248, 265, 293, 329f.

–– kapitalistische, standardisierte  22, 31, 33, 60, 62, 131, 136, 151, 158, 160, 162, 170, 181, 188, 195, 205, 207239, 242, 244, 265, 290ff., 295, 316, 329f. –– Mengenproduktion   62, 71, 97, 129f., 164, 329 –– Massenproduktion  25f., 79, 132, 135f., 156, 161f., 164, 175ff., 180, 188f., 191, 194f., 197, 199, 204, 208, 212f., 219, 239, 241, 244, 272, 282ff., 316, 329f. –– flexible Massenproduktion  208, 213, 241, 244ff., 249, 261, 265, 269, 272, 282ff., 330 –– Grenzen der  39, 49, 141 Provinz, provinziell, Stadt-Land-Ver­ gleich  siehe dazu |Stadt| und |Paris| Puritaner, Roundhead  43, 47ff., 65 public schools  108, 223, 228f., 235, 264

Sach- und Ortsregister

R redingote  siehe dazu |coat, riding coat| Religion, religiös, Religionsgemein­ schaft, Religionskämpfe  37, 47, 49, 126, 132, 143, 239, 243, 268, 281, 291, 329

Renaissance  36, 42, 54f., 69, 72  siehe auch |Spanische Mode| Roundhead  siehe dazu |Puritaner|

S Salons  siehe dazu |Clubs| Samt  11, 32, 51, 63, 78, 82 Sansculotten, Culotten  13ff., 21, 23, 30, 68, 83ff., 92, 153, 331 –– culottes oder Kniehosen  siehe dazu |Hosen| Schwarz, schwarze Bekleidung   11, 43f., 70, 82, 84, 93, 125, 170, 220, 224f., 230, 234, 250, 309  siehe auch |Farbe| Secondhandware  siehe dazu ­|Bekleidung, gebrauchte| Seide  11, 14, 32, 38, 45, 53, 63, 68f., 71, 76, 78f., 82, 88ff., 108, 124, 164, 167, 170, 253, 311 Seidenmanufaktur, Seidenindustrie, Seidenwebstuhl, Jacquard  46, 69, 71, 88f., 96 Sklaven, Sklaverei, Sklavenhandel   50, 62, 85, 154, 165ff., 170, 172ff., 175, 202  siehe auch |Bekleidung, billigste| slop, Slop-Kleidung|  siehe dazu |Bekleidung, billigste| Spanische Mode, spanische Monarchie, spanische Aristokratie, Spanisches Reich  32ff., 37f., 42f., 48f., 51f., 64ff., 74, 100, 128, 136ff., 143, 175, 213, 225, 263, 268, 295 Sphäre des Kollektivverhaltens   73, 75, 108f., 120, 142, 295  siehe auch |Betriebsamkeit|

Spinnerei, Handspinnen, mechanisches Spinnen  58f., 96, 144, 154, 165, 180, 191, 194f., 215, 224, 329  siehe dazu auch |Erfindungen| und |Maschi­ nen| und |Produktion| sports, sportsmen  66, 108, 134, 223, 228, 235 Sport,  54, 108, 223, 230, 235, 242f., 276ff., 282, 321  siehe auch |Beklei­ dung, sportlich| Stadt, städtisch, Städter, Großstadt, Großstädter, Handelsstädte, Hanse­ städte, Industriestädte  37, 39, 40ff., 45ff., 50f., 53ff., 60, 66f., 70, 76ff., 80f., 93, 95ff., 103, 107f., 112, 119, 126, 131, 153, 156, 157, 160, 165, 168, 176, 216, 224f., 247f., 262, 272, 289, 305f., 317f. –– fehlendes Zentrum in Deutschland, Enttäuschung, Kleinstädte,  99, 102, 107f., 142, 154, 309, 311, 312, 320 –– Stadtbürgertum, stadtbürgerliche Tra­ dition  20, 24, 29, 36, 42, 47, 100, 104, 115, 120, 131, 226, 293, 296 –– Stadt-Land-Unterschied  20, 29, 138, 170, 173, 182, 190, 224, 228, 248, 260, 278, 282, 312 –– Provinz   77f., 169f., 172, 182, 229 –– Ghetto  117f., 123, 131 Ständegesellschaft, ständische ­Ordnung, Stand  siehe dazu ­|feudal| suit  siehe dazu |Anzug und Jacke| sweatshop  18, 177, 184f., 190, 217, 248f., 289

355

356

Sach- und Ortsregister

T Textilien, Stoffe  22, 25, 32f., 37ff., 43ff., 50ff., 60ff., 66, 69, 75, 79, 82, 88ff., 95f, 109, 114, 124, 128f., 136, 140f., 144f., 149, 151f., 155f., 159f., 162, 167, 169f., 174, 177, 179, 184f., 191f., 194ff., 200, 204, 214, 224, 245, 262, 289, 309, 329 Textilindustrie  58, 60, 66, 69, 115, 135, 141, 149, 151ff., 167, 169, 177, 186, 190f., 197, 199, 204, 215, 245, 287, 294f., 324, 329

––Textilherstellung 46 –– Baumwollindustrie  45f., 50, 56ff., 89, 114, 165, 168, 194 Trickle-down-Theorie  211, 214 Turnen, Turnbewegung, Turnvater Jahn  24, 30, 94f., 124ff., 146, 298f., 312, 317  siehe auch |Bekleidung, Turner| tuxedo  siehe dazu |coat|

U Unterschiede, feine  siehe dazu ­|conspicuous consumption| USA –– Nordstaaten  167, 174, 187, 190 ––Westen, Mittlerer Westen, Wilder Westen  165, 167ff., 177ff., 187, 198, 246, 263, 267f., 280, 289, 306 –– Südstaaten, Süden  59, 138, 141, 144f., 152, 154, 165ff., 170ff., 196, 202, 246

–– Unabhängigkeit, amerikanische Revolution  25, 59, 64ff., 112, 134, 144, 148ff., 164, 183, 187, 191, –– englische Kolonien   50, 112, 133ff., 136ff., 148, 154, 159, 174, 187, 204, 223, 229, 291 –– Bürgerkrieg  152, 165, 170, 172ff., 187, 190, 194f., 197f., 237f., 240f., 244ff., 254, 265, 267ff., 290

V Verein  siehe dazu |Club| Verlagswesen, Verleger, verlegt  71, 158, 182f., 218, 306, 325 –– bespoke, wholesale bespoke tailoring 154, 218f. –– Konfektion  24, 162, 210, 312, 315f., 324, 325

Versailles  11, 68ff., 74ff., 78, 103, 134, 254, 258 Versandhäuser  siehe dazu ­|Warenhäuser| Von der Stange  siehe dazu ­|Bekleidung, ready-to-wear| und |Verlagswesen, Konfektion|

W Warenhäuser, department stores, Beklei­ dungsgeschäfte, Versandhäuser, Warenhausketten  22, 24, 60, 171, 176, 182, 199, 245ff., 266f., 272, 274f., 278, 282, 315, 320, 325 Warenmuster  siehe dazu |Brand| Weberei, Webmaschine, Webstuhl, Seidenwebstuhl  siehe dazu

|Maschinen| und |Erfindungen| und |Produktion| Werbung, Werbeträger  163, 205, 212, 236, 246, 249, 266, 275, 277ff. wholesale bespoke  siehe |Verlagswesen| Wolle  11, 13, 32, 39, 45f., 53, 58, 60, 62f., 76, 96, 108, 152, 170, 184, 224

Personenregister

Z Zeremonien, Zeremonialkleidung  11, 67, 136, 222, 233ff., 283

Zunft, Innung, Gilde, zünftisch  39f., 42, 46f., 50, 67, 76f., 87, 96, 113, 141f., 153, 161, 189, 216, 307, 315

Personenregister Personenregister A Adams, Abigail (1744-1818)  144 Adams, John (1735-1826)  144, 146 Adams, John Quincy (1767-1848)  144, 146

Arkwright, Richard (1732-1792)  57, 58, 177, 193 Arndt, Ernst Moritz (1769-1860)  124

B Börne, Carl Ludwig (1786-1837)  117f., 120, 122ff., 127, 314

Brummell, George Bryan (1778-1840) 211f.

C Carnegie, Andrew (1835-1919)  241, 250, 252, 259, 260, 285 Cervantes, Miguel de (1547-1616)  35, 72

Charles I. (1600-1649)  47, 53 Crompton, Samuel (1753-1827)  59 Cromwell, Oliver (1599-1658)  47, 139

D David, Jacques-Louis (1748-1825)  146

De Staël, Anne Louise Germain (1766-1817)  79, 99, 105, 111

E Edward III. (1312-1377)  45 Edward VII., Prince of Wales Albert Edward, genannt Berti (1841-1910)  234ff., 251

Elisabeth I. (1533-1603)  34, 38, 47, 52, 163

F Ford, Henry (1863-1947)  244f., 283f. Fox, Charles James (1749-1806)  64, 84 Franklin, Benjamin (1706-1790)  64f., 73, 112, 144f. Friedrich I. (1657-1713)  96, 100f., 107

Friedrich II., der Große (1712-1786)  96, 110, 119 Friedrich Wilhelm I. (1688-1740)  96, 107, 109f.

357

Personenregister

Z Zeremonien, Zeremonialkleidung  11, 67, 136, 222, 233ff., 283

Zunft, Innung, Gilde, zünftisch  39f., 42, 46f., 50, 67, 76f., 87, 96, 113, 141f., 153, 161, 189, 216, 307, 315

Personenregister Personenregister A Adams, Abigail (1744-1818)  144 Adams, John (1735-1826)  144, 146 Adams, John Quincy (1767-1848)  144, 146

Arkwright, Richard (1732-1792)  57, 58, 177, 193 Arndt, Ernst Moritz (1769-1860)  124

B Börne, Carl Ludwig (1786-1837)  117f., 120, 122ff., 127, 314

Brummell, George Bryan (1778-1840) 211f.

C Carnegie, Andrew (1835-1919)  241, 250, 252, 259, 260, 285 Cervantes, Miguel de (1547-1616)  35, 72

Charles I. (1600-1649)  47, 53 Crompton, Samuel (1753-1827)  59 Cromwell, Oliver (1599-1658)  47, 139

D David, Jacques-Louis (1748-1825)  146

De Staël, Anne Louise Germain (1766-1817)  79, 99, 105, 111

E Edward III. (1312-1377)  45 Edward VII., Prince of Wales Albert Edward, genannt Berti (1841-1910)  234ff., 251

Elisabeth I. (1533-1603)  34, 38, 47, 52, 163

F Ford, Henry (1863-1947)  244f., 283f. Fox, Charles James (1749-1806)  64, 84 Franklin, Benjamin (1706-1790)  64f., 73, 112, 144f. Friedrich I. (1657-1713)  96, 100f., 107

Friedrich II., der Große (1712-1786)  96, 110, 119 Friedrich Wilhelm I. (1688-1740)  96, 107, 109f.

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Personenregister

Friedrich Wilhelm II. (1744-1797)  96, 112

Friedrich Wilhelm III. (1770-1840)  100, 115, 119, 125, 128

G Gandhi, Mahatma (Mohandas Karamchand) (1869-1948)  144 Goethe, Johann Wolfgang von (1749-1832)  95, 99, 101ff., 108, 112, 119, 120, 125f., 128ff., 239, 302, 317f.

Grimm, Gebr. Jakob (1785-1863) und Wilhelm (1786-1859)  96, 103

H Hamilton, Alexander (1755-1804)  145, 150 Hargreaves, James (1720-1778)  58 Hauff, Wilhelm (1802-1827)  122

Heine, Heinrich (1797-1856)  117, 124, 127 Herder, Johann Gottfried (1744-1803)  98, 101, 103

J Jacquard, Joseph-Marie (1752-1834)  89 Jahn, Friedrich Ludwig (1778-1852)  24, 30, 94f., 124f., 127f., 299

James I., auch Jakob (1566-1603)  32f. Jefferson, Thomas (1743-1826)  145

K Karl V. (1500-1558)  32, 34 Kotzebue, August von (1761-1819)  128

Krupp, Alfred (1812-1887)  129, 297, 309, 322 Krupp, Friedrich (1787-1826)  129

L Louis-Philippe I. (1773-1850)  30, 92 Ludwig XIV. (1638-1715)  76, 80, 95, 101, 116, 163, 253f.

Ludwig XVI. (1754-1793)  76, 85

M Marat, Jean Paul (1743-1793)  85 Mirabeau, Honoré Gabriel de Riqueti, comte de (1749-1791)  12, 82ff., 331

Molière (1622-1673)  72ff., 78f., 101, 104ff. Morgan, J. P. (1837-1913)  249f., 252, 257ff.

Personenregister

N Napoleon (1769-1821)  69, 87f., 90ff., 101, 111ff., 119ff., 124f., 127, 150, 152, 159, 225, 234, 297, 329

Newcomen, Thomas (1664-1729)  58

P Philipp II. (1527-1598)  34, 43

R Robespierre, Maximilien de (1758-1794)  13, 85 Rockefeller, John D. (1839-1937)  249, 252f., 259

Roosevelt, Theodore (1858-1919)  262ff., 271, 282, 287

S Saint-Just, Louis Antoine (1767-1794) 13 Sand, George (1804-1876)  147 Sand, Karl Ludwig (1795-1820)  128 Sander, August (1876-1964)  326 Schiller, Friedrich (1759-1805)  111

Shakespeare, William (1564-1616)  31, 36f., 45, 49, 101 Simmel, Georg (1858-1918)  102, 118, 126, 317 Sombart, Werner (1863-1941)  60, 107, 115f., 126, 161, 275, 293, 319, 322, 323, 326

T Tönnies, Ferdinand (1855-1936)  102, 126

V Voltaire (1694-1778)  79, 82, 99

W Washington, George (1732-1799)  144f., 149f. Watt, James (1736-1819)  57f., 89, 177 Weber, Max (1864-1920)  41, 74, 102, 318 Whitney, Eli (1765-1825)  156, 165 Whittemore, Amos (1759-1828)  165

Wilhelm II. (1859-1941)  236, 297, 300, 302, 311, 322 Worth, Charles Frederick (1825-1895)  76, 163

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UWE LINDEMANN

DAS WARENHAUS SCHAUPLATZ DER MODERNE

Das Warenhaus ist ein zentrales Symbol der Modernisierungsprozesse des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Es revolutioniert nicht nur den Einzelhandel, sondern es ist ein Ort, an dem die Moderne in ihrer ganzen Heterogenität, Komplexität und Ambivalenz erfahren werden konnte. Das Buch widmet sich aus transnationaler Perspektive den Debatten, die zeitgenössisch über das Warenhaus geführt wurden. Wenn über das Warenhaus gesprochen wurde, ging es immer ums Ganze: die ganze Wirtschaft, das ganze Volk, den ganzen Staat. Das Buch zeigt, dass das Warenhaus mehr ist als nur ein Symbol. Es muss vielmehr als integraler Schauplatz der Moderne verstanden werden, an dem die Möglichkeiten und Bedingungen der modernen Kultur sowohl praktisch als auch theoretisch verhandelt wurden. 2015. 377 S. 5 S/W-ABB. GB. 155 X 230 MM | ISBN 978-3-412-22534-6

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